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Der eine zählt des anderen Tassen

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17.06.20 12:44
16 Ab 16 Jahren
In Arbeit

 

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Dr. Gottfried Curio

in aufrichtiger Anteilnahme gewidmet

youtube.com/watch?v=kjhPUPxg73I

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Das erste Mal sah sie ihn in einem Konzert, das sie in der kleinen Kirche der Hallig besuchte. Ein wenig ausspannen und genießen, das hatte sie wollen. Deswegen war sie hierher auf dieses Eiland gekommen, extra am Ende der Saison, um zu vermeiden, dass allzu viele Gäste ihren Weg kreuzten. Aber da hatte man ihr gleich gesagt, dass diese Angst unbegründet sei. Wer hierherkäme, wolle die Ruhe genießen, wolle allein sein. Abschalten, herunterfahren. Die Natur erleben. Und da man auf der Hallig im Grunde nicht mehr tun konnte, als mit nackten Füßen durch das weiche Wollgras auf dem Sommerdeich zu laufen und dabei die Augen zu schließen und sich der noch immer wärmenden Sonne, dem leichten Wind und dem Möwengekreisch hinzugeben, war es klar, dass nicht viele hierherfanden. Jedenfalls nicht jene, die einen Abenteuer-Urlaub bevorzugten. Denn, wie hatte es ein Besucher im Gästebuch der Hallig so treffend formuliert? Am Morgen stünde nur eine Entscheidung an, nämlich die, wohin man sich wende – ob nach links oder nach rechts – um die Hallig zu ergründen. Ja, genau das wollte sie für ganze drei Wochen tun – mit sich allein sein und wann immer sie Lust hatte, einfach stehenbleiben, tief Luft holen, die Augen schließen, lächeln. Ach, wie gut das tat! Und wenn sie auf einem ihrer Spaziergänge einem Strandkorb begegnete, ließ sie sich in ihm nieder, nahm ihr Buch hervor und las eben … Sie hatte sich extra einen dicken Schmöker mitgenommen – auch das eine bewusste Entscheidung, weil sie sich hier die Zeit nehmen wollte, endlich einmal wieder in einer Geschichte zu versinken, ohne, dass sie groß nachdenken musste. Sie hatte sich für einen Sommerroman entschieden, der im Südwesten der USA spielte. Sie hatte ihn schon seit langem lesen wollen – doch die Zeit, die liebe Zeit … Aber wenn sie da so im Strandkorb saß, geschützt vor dem bisweilen aufkommenden Wind, dann meinte sie – ungeachtet der Tatsache, dass sie sich an der Nordsee befand – die Hitze des im Buch beschriebenen Sommers zu spüren und so ging sie mit der Heldin die lange, von Maisfeldern gesäumte Straße entlang, atmete den Staub ein, ja, spürte ihn förmlich auf ihrer Haut kleben und war zugleich froh, hier an der Nordsee zu sitzen und zu wissen, dass sie um 15 Uhr, wenn die Flut heran war, ins Wasser würde gehen können, um sich abzukühlen. Und wieder lächelte sie, legte das Buch kurz beiseite und sah hinaus aufs Wattenmeer, bemerkte Vögel weit draußen, die sich in Scharen zusammenfanden, wusste auch um die Priele, die sich bei Flut als erstes wieder mit Wasser füllten und als äußerst gefährlich galten.

 

Am Abend dann lockte das Kulturprogramm – einmal das Bernsteinschleifen im Wattenmeerhaus, einmal ein Lichtbildervortrag über den Klimawandel, zu dem sie sich viele Notizen machte. Und dann eben auch das Barockkonzert, zu dem doch so einige gekommen waren. Vor allem Touristen, Gesichter, die sie auf ihren Rundgängen oder bei der Erkundung der hiesigen Flora und Fauna bereits gesehen hatte. Und wenn man sich traf, grüßte man mit einem knappen Moin, was ihr auch sehr gefiel. Bloß kein Wort zu viel, denn in ihrem Job musste sie immer sprechen.

 

Nun aber hockte sie in einer der Bänke der kleinen Halligkirche, lauschte der Orgelmusik, die ihr in die Ohren träufelte, lehnte sich dazu ans harte Holz, schloss die Augen, versuchte sich die einzelnen Töne vorzustellen, bis sie plötzlich, herausgerissen aus ihrem Dämmer, die Augen wieder öffnete. Ein Ruck war durch sie gegangen, ein einziger, kleiner, und sie sah sich erstaunten Gesichtern gegenüber, die, so erfasste sie es sogleich, nicht sie fixierten, sondern die Orgel in ihrem Rücken. Ihre Musik hatte zarten, hohen Klängen Platz gemacht, und so wandte auch sie den Kopf und erkannte einen Geiger, den sie, wohl angezogen von seiner Kunst, einige Momente beobachtete. Da er jedoch recht steif hinter seinem Notenständer stand und auf sie eher den Eindruck machte, als wolle er seine Geige zersägen statt sie zu streicheln, wandte sie sich wieder um, schloss erneut die Augen und ließ die Musik, die er dem Instrument dennoch zu entlocken fähig war, auf sich wirken. Ihn, den leicht ungelenk Wirkenden, hatte sie alsbald wieder vergessen, denn sein Bild störte die Harmonie der Töne. Sie war zum Entspannen gekommen, und nicht, um sich diesen Genuss durch irgendetwas zerstören zu lassen.

 

Also legte sie den linken Arm auf die Lehne, streckte die Beine aus und versuchte sich wieder daran, die einzelnen Töne beim Werden und Schweben zu beobachten. Das machte sie gern – auch daheim, wenn sie sich am Sonntagmorgen Konzerte anhörte. Doch hier war es etwas Anderes – herausgerissen aus ihrem alltäglichen Trott, konnte sie sich der Musik in dieser kleinen Halligkirche viel mehr öffnen als daheim im Sessel oder auch in der Philharmonie oder im Konzerthaus, wohin sie ab und an entweder allein oder mit Freundinnen und Kolleginnen ging. Sie lächelte wieder. Das Geigenspiel war gar zu schön. Diese kleinen, zarten Töne umschmeichelten ihr Ohr, ließen sie tief Luft holen. Wie gut das tat …

 

Insgesamt war es ein schöner Abend gewesen. Und als sie sich auf den Heimweg begab, sie in die untergehende Sonne sah, meinte sie sich selbst ganz leis sagen hören, dass sie es keinen Moment bereute, hierher, auf die Hallig gekommen zu sein. Entgegen ihrer eigenen Befürchtungen und denen ihrer Freundinnen und Kolleginnen. So frei und friedlich wie sie sich fühlte. Es war ein Geschenk, das sie bereit war, anzunehmen.

 Am nächsten Tag war sie von diesem Konzert noch immer so gepackt, dass sie entgegen ihrer eigenen Vorgabe, hier im Urlaub alles sein zu lassen, noch einmal an der Kirche vorbeiging, um zu sehen, wie der Geiger hieß. Doch der Aushang, der das Konzert angekündigt hatte, war bereits verschwunden. An seiner Stelle befand sich nun der Hinweis auf eine Meditationsgruppe, die sich allmontäglich, also heute, treffe und auch für Urlauber offenstehe. Sie blieb einen Moment stehen, fixierte diese Einladung und überlegte, ob es irgendetwas brächte, zu versuchen, den Namen des Geigers auf andere Weise herauszubekommen. Vielleicht sollte sie beim Gemeindevorstand nachfragen? Schließlich entschied sie sich dagegen. Was sollte das bringen? Letztlich nur die Konzentration auf Gedanken und Dinge, denen sie doch hier, auf der Hallig, gerade entkommen wollte. Und überhaupt hatte sie in ihrem nun 45jährigen Leben schon so einige Musiker erlebt, deren Namen sie sich notiert hatte – gerade in der Annahme, sie würde sie wieder einmal hören können. Und ja, bei dem einen oder anderen war ihr das sogar gelungen. Doch der Zauber des sogenannten ersten Mals war immer geschwunden und hatte einem: Ja, er oder sie kann es eben!, Platz gemacht. Kunst blieb Kunst – sie äußerte sich in vielerlei, aber vor allem im Hier und Jetzt. Mit diesen Gedanken wandte sie sich ab und nahm den Umstand, des Namens nicht mächtig zu sein, als Zeichen, die Kunst auf sich zukommen zu lassen, wann immer sie sich dazu gemüßigt fühlte, und nicht nach ihr zu suchen, ihr gar hinterher zu laufen.

 

Und so machte sie sich auf den Weg, hinunter von der Kirchwarft, blieb erneut kurz stehen und ließ ihren Blick hinüber zu den benachbarten Warften gleiten, die sich, die eine näher, die andere ferner, deutlich als kleine Hügel abzeichneten – gerade so, wie es Siedlungshügel im Alten Orient taten. Und zwischen ihnen nichts als flaches Land. Das wohl berühmteste Tor von Babylon, das der Ischtar geweihte, konnten herannahende Truppen bereits aus 30km Entfernung sehen – ein einnehmender, gar einschüchtern wollender Anblick. Doch hier nun auf der Hallig wollte nichts einschüchtern. Die Warften, 10 – ursprünglich 11 – an der Zahl und das weite, weite Land, das sich bis zum Horizont ausspannte und dem Betrachter, der es wagte, den Blick in den Himmel zu heben, von der unfassbaren Größe dieses so kleinen Eilands flüsterte. Das Gefühl der Grenzenlosigkeit hatte sie an den ersten beiden Tagen geradezu unruhig werden lassen. Ja, wann immer sie auf den Deich der heimischen Warft hinausgetreten war, starrte ihr eine schier unendliche Weite entgegen. Und sie, nirgends Halt finden könnend, taumelte und ließ ihren Blick unter Herzrasen den nächsten Baum hochjagen, um sich an ihn zu klammern. Mittlerweile hatte sich das fade Gefühl in ihrem Magen gelegt und sie konnte sich der Hallig Schritt um Schritt nähern. Da die Sonne – wie an den vorangegangenen Tagen auch – vom fast wolkenlosen Himmel schien, das jedoch nicht so warm, verspürte sie kaum Verlangen, sich direkt an die Nordsee zu begeben. Viel lieber wollte sie heute die übrigen Warften erkunden, denn so vermutete sie, besaß jede von ihnen ihr ganz eigenes Flair. Es gab größere, kleinere – und eben auch eine, die, das erfuhr sie erst von ihrem Gastvater, nach einer Sturmflut in den 60ziger Jahren so stark beschädigt worden war, dass man sie einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Zu dieser wollte sie heute, sie erkunden. Sie war gespannt und lenkte ihre Schritte auf die asphaltierte Straße, auf der ihr einige Fußgänger, jedoch noch mehr Radfahrer entgegenkamen. Kaum Autos. Und das lag daran, dass es einzig den Bewohnern der Hallig vorbehalten war, mit Autos zu fahren – und wenn, dann besaßen diese Wagen einen Elektromotor, sodass sie im Grunde immer wieder tief Atem holen konnte. Und es auch tat. Sie liebte diese würzige, nach Meer schmeckende Luft, die so frisch war, da von Westen her immer ein Wind wehte.

 

Die Warft, die einst bewohnt, nun menschenleer war, begrüßte sie als ein weites, aus Wiesen und Prielen bestehendes Feld. Kuhfladen verrieten ihr überdies, dass hier vor nicht allzu langer Zeit noch Rinder gegrast hatten, Rinder, die von ihren Besitzern nun weitergetrieben worden waren. Ein Glück auch, denn sie hätte sich bei aller Liebe wohl nicht auf dieses Eiland getraut, wenn sie Rinder um sich gewusst hätte. Wie schnell konnte es geschehen, dass diese Tiere, durch irgendetwas erschreckt, in Panik gerieten und dann einfach losrannten und alles, was sich ihnen in den Weg stellte, niedertrampelten. Schon allein der Gedanke hinterließ in ihr ein ungutes Gefühl, dessen sie sich jedoch erwehren konnte, denn sie wollte diese Warft ja erkunden – irgendwie in sie eintauchen. Hinein in dieses Grün, das dem Auge wiederum eine Weite suggerierte, der jedoch, so wusste sie, nach höchstens 500 Metern das Meer eine Grenze setzte. Aber was sollte es, was bracht es, das zu wissen? Sie ging drauflos, ließ ihren Blick schweifen, gewährte ihm diese Weite, die sich ihm ja tatsächlich auch bot – und zum ersten Mal wurde ihr vollkommen bewusst, dass sie in jede Himmelsrichtung ungehindert sehen konnte. Sie hatte das gesamte Firmament über sich, ohne dass ein Haus oder etwas anderes ihren Blick gestört hätte. Und das war einfach wunderbar. Am Morgen konnte sie dem Sonnenaufgang beiwohnen, am Abend ihrem Untergang. Sie ging noch weiter heran an diese Warft, erspähte den kleinen Hügel, der einst von einem Haus bekrönt war, nun jedoch verlassen dalag. Dicht neben ihm der Fething, das ehemalige Wasserreservoir der Warft. Er war fast auftrocknet. Und dort, wo es noch winzige Wasserstellen gab, hatten sich die Tapsen von Enten, Gänsen und, wie sie vermutete, Möwen tief in den lehmhaltigen Boden gegraben.

 

Sie stand wohl eine Weile, sah hinab auf das alte Wasserloch, dann wandte sie sich ab, sah sich um. Es war noch recht früh am Tag, der Mittag kaum erreicht, aber sie spürte, wie an den vorangegangenen Tagen auch, Müdigkeit in sich und so lag es nah, dass sie sich ein Fleckchen suchte, um sich zuerst zu setzen, dann zu legen. Das Buch, ihren Schmöker, zog sie hervor, begann zu lesen, ließ ihn jedoch alsbald liegen. Vielmehr Freude bereitete es ihr, in Gedanken immer und immer wieder die von Maisfeldern gesäumte Straße in Gedanken mit der Protagonistin zu laufen, als dem Abenteuer, das sich zweifelsohne ankündigte, zu folgen. Sie hatte ja Zeit, niemand trieb sie. Und so schloss sie die Augen, sah sich in der Weite des amerikanischen Südwestens stehen, auf dieser Straße und schmunzelte unwillkürlich. Die Weite, die hatte sie ja auch hier, hier auf der Hallig. Hier in diesem Moment. Und der wollte, der konnte sie sich einfach ergeben, indem sie ihre Arme ausstreckte und das Gras neben sich ertastete. Ganz egal, dass sie dabei auch an eine Stacheldistel geriet.

 

Sie meinte nur einige Minuten lang geruht zu haben, doch als sie die Augen wieder aufschlug, stand die Sonne bereits weit im Westen. Hinzukam, dass sich ihre Arme, Beine und vor allem das Gesicht ziemlich heiß anfühlten, sodass sie sich doch, von einem leichten Schreck getrieben, rasch erhob und sich an die Wangen griff. Es bestand kein Zweifel: sie brannten etwas – und das konnte nur eines bedeuteten: das nächste Mal würde sie an Sonnenschutzmittel denken müssen. Jetzt galt es indes, erst einmal nach Haus zu kommen, um sich zu duschen und einzucremen.

 

Doch wie das immer so war, kam es auch diesmal anders: anstatt den schnellsten Weg zu wählen, lockten dann noch weitere Eindrücke. Plötzlich fand sie sich an der Kirchwarft wieder – und von ihr aus waren es doch nur noch ein paar Schritte hinüber zur Warft, die dem Hafen am nächsten lag. Dort sollte es ein ganz wundervolles Café geben. Es hieß, dass die Eigentümerin den allerbesten Kuchen der gesamten Hallig backte. Wollte sie sich das nun entgehen lassen? Selbst wenn sie mit einem roten Gesicht durch die Gegend zog. Und wenn schon. Sie fühlte sich plötzlich aufgeregt wie ein kleines Mädchen. Außerdem stellte sich bei ihr der nachmittägliche Kuchenhunger ein, dem sie unschwer widerstehen wollte. Schneller als sie es für möglich hielt, trugen sie ihre Füße hinüber auf diese noch zu erforschende Warft. Sie umrundete sie einmal, ehe sie den Abzweig zu dem in allen Reiseführern hochgerühmten Pesel fand. Und sie hatte Glück, es war noch immer geöffnet. Den Deich hinauf und in den Warftkessel hinein waren eins und schon fiel sie förmlich in dieses kleine Café hinein, das jedoch vollbesetzt war. Der Garten zumindest, so schien es ihr. Kein freier Platz mehr. Was nun? Sie ließ ihren Blick nochmals über die Menschen gleiten, die dasaßen – einige unter großen Sonnenschirmen fast vollkommen versteckt, andere an der Hauswand lehnend, das Gesicht gen Himmel gestreckt. Das waren die Sonnenhungrigen. Sie verstand sie nur allzu gut. Doch sie in ihrem Aufzug, der ganz arg an einen Indianer erinnerte, zog es lieber vor, unter einem Sonnenschirm Platz zu nehmen, wenn denn die Möglichkeit überhaupt noch bestand. Denn so, wie sie die Sache einschätzte, konnte ihr auch der zweite Blick keine Möglichkeit anbieten, sodass sie nun vor der Wahl stand, diesem erquicklichen Örtchen den Rücken zu kehren – und so auf ihren Kuchen zu verzichten – oder einfach durch die Menschen hindurch zu gehen, um sich vielleicht zu anderen Menschen zu setzen. Das war zwar keineswegs ihr erklärtes Ziel, lieber hätte sie … ja lieber, doch alles Zaudern nützte nichts und so gab sie sich einen Ruck und wollte sich gerade einen Weg durch die dichtgestellten Tische hindurch bahnen, als sie ihn sah, ihn, den Geiger von letztem Abend. Er saß ganz hinten in einem Strandkorb an einem Tisch für sich allein, vollkommen im Schatten. In der Tat war der Stuhl vor ihm frei. Oder? Einen Moment lang überlegte sie, ob sie es wagen durfte. Ja? Nein? Ganz sicher würde seine Begleitung sogleich auftauchen. Aber was brachte es ihr, hier stehen zu bleiben und umher zu starren. Also gab sie sich einen Ruck. Fragen schadete nichts. Und außerdem hatte sie wirklich Lust auf ein großes Stückchen Kuchen.

 

„Entschuldigen Sie bitte, ist dieser Platz noch frei?“

 

Ihr Gegenüber hob kurz den Blick, presste die Lippen fest aufeinander und nickte kaum merklich, ehe er sich wieder einem Buch, das er aufgeschlagenen in Händen hielt, zuwandte. Offensichtlich las er. Und sie nahm sich ein Herz, ließ sich nieder, wollte nach der Karte greifen, stellte jedoch fest, dass sie neben ihm im Strandkorb lag.

 

„Entschuldigen Sie bitte, könnte ich wohl die Karte haben?“, hörte sie sich fragen. Er, wiederum kaum den Blick hebend, griff neben sich und reichte sie ihr wortlos.

 

„Danke“, erwiderte sie knapp und versuchte sich auf die Speisen und Getränke zu konzentrieren, weniger auf den vor ihr sitzenden Mann, der in sein Buch vertieft schien – so sehr, dass sein Bier, der halbe Liter Flensburger, noch ganz unangerührt vor ihm stand – und das schon seit einiger Zeit, war doch der gesamte Schaum bereits verschwunden. Das stellte sie mit einem Blick fest, ebenfalls, dass er trotz der Wärme eine schwarze Cordjacke trug und darunter ein blaues Hemd. Und wenn sie unter den Tisch schauen würde, kämen da langbehoste Beine zum Vorschein. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er beides auch gestern schon angehabt, als er seiner Violine so wunderbare Töne zu entlocken vermochte, allerdings den Eindruck machte, als wolle er sein Instrument malträtieren. Und unwillkürlich musste sie, nun den Blick in die Karte senkend, lächeln, wenn nicht gar grinsen.

 

„Es empfiehlt sich rasch zu wählen, denn das Café schließt in 30 Minuten“, vernahm sie da plötzlich die Stimme ihres Gegenübers.

 

„Ach“, machte sie, ließ die Karte sinken und sah ihm für einen Moment in die Augen, ehe er seinen Blick erneut niederschlug. Diesmal allerdings nicht ins Buch, wie sie unschwer erkannte, sondern auf einen Punkt links neben ihr.

 

„Ja, dann …“, setzte sie wieder an und wandte sich erneut der Auswahl an Speisen und Getränken zu.

 

„Es empfiehlt sich ein Stückchen Kuchen …“

 

Wieder trafen sich beider Blicke, ehe er den seinen sogleich niederschlug, ein „Zwetschgenkuchen“ murmelnd.

 

„Gut, danke – und dazu nehme ich eine Tasse …“, überlegte sie laut.

 

„Es empfiehlt sich dazu ein Milchkaffee mit etwas Schokoladenpulver oben auf“, unterbrach er sie leise. Wieder flackerte sein Blick hoch und sie mühte sich um ein kleines Lächeln, doch ehe er es ausmachen konnte, hatte er sich schon wieder ab- und seinem Buch zugewandt.

 

„Es empfiehlt sich, Sahne zum Kuchen zu nehmen“, schob er hinterher, diesmal, ohne den Blick von seinem Buch zu erheben.

 

„Danke“, wiederholte sie.

 

„Der Zwetschgenkuchen ist frisch“, ließ er sich hierauf wieder vernehmen.

 

„Saftig?“, fragte sie.

 

Er hob den Blick, schien nachzudenken, ehe er kurz nickte. Und sie mühte sich wieder um ein Lächeln, das er mit zusammengepressten Lippen erwiderte. Und ehe er irgendetwas tun konnte, sagte sie leicht heraus: „Wissen Sie, das nehme ich. Ich habe nämlich einen Bärenhunger …“

 

Bei diesen Worten senkte er wieder den Blick ohne etwas zu erwidern. Sie aber wagte sich nun hervor, was im Grunde gar nicht ihre Art war, aber da sie ihn nun einmal hier vor sich zu sitzen hatte, kam sie nicht umhin, das Wort erneut an ihn zu richten und so begann sie: „Sie, entschuldigen Sie bitte, dass ich so dreist frage, aber Sie sind doch Geiger, der Geiger von …“

 

„Falsch“, kam’s so prompt von ihm, dass sie, als sich ihre Blicke wieder trafen, zurückzuckte. „Ich bin kein Geiger. Ich habe das nur getan, weil man an mich herangetreten ist von Seiten des Kirchengemeinderates.“

 

„Oh“, machte sie nur, „aber … ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich es gestern sehr schön fand.“

 

„Na ja“, erwiderte er reglos dasitzend. „Ich kann es eben.“ Und mit diesen Worten senkte er wieder den Blick und Stille trat ein, in der sie sich dabei ertappte, wie sie sich hinter der Karte zu verstecken begann und sich fragte, was sie von diesem Auftreten halten sollte.

 

Doch just in dem Moment sagte er wieder: „Es empfiehlt sich, recht rasch zu bestellten, da das Café in 25 Minuten schließt.“

 

Sie ließ die Karte sinken und zwang sich, dem falschen Geiger einfach in die Augen zu sehen, solange jedenfalls, bis dieser seinen Blick wieder senken würde. Doch diesmal hielt er dem ihrem stand. Und so sahen sie sich beide für einige Momente nur an, ohne etwas zu sagen. Ihrem geschulten Blick entging nicht, dass er ziemlich müde wirkte – Augenringe bezeugten das – und dass er sein Haar, das auf dem Kopf bereits sehr schütter wurde, in einem strengen Linksscheitel trug, so wie es einige ältere Herren taten, die ihre Tonsur zu verdecken suchten. So ließen sie das Haar auf einer Seite etwas länger wachsen, um es sich dann über die bereits entstandene Glatze zu legen. Doch ihn, der da vor ihr saß, schätzte sie auf höchstens Mitte 50, also keine 10 Jahre älter als sie.

 

„Das Café schließt bald“, ließ er sich unverhofft vernehmen und fuhr sich, so als ahnte er, dass sie soeben über sein schütteres Haupthaar nachgedacht hatte, durch eben dieses und zerschruwwelte es etwas. Nun hing ihm eine Strähne in die Stirn, die er wieder einzufangen suchte.

 

„Ich weiß“, erwiderte sie.

 

„Es empfiehlt sich also …“

 

„Ich weiß.“

 

„Also?“

 

Wieder sahen sie sich beide in die Augen, ehe er den Blick senkte, doch nicht, um sich wieder in sein Buch zu vertiefen, sondern, um es nach einem nochmaligen Also zuzuklappen und sich mit ihm unterm Arm zu erheben und an ihr vorbeizugehen. All das geschah so schnell, dass sie ihm nur nachsehen konnte. Er verschwand im Haus, wohl um das WC aufzusuchen, vermutete sie. 

 Kaum hatte sie sich wieder umgedreht und in die Speisekarte vertieft, überlegend, was sie denn nun tatsächlich nehmen sollte – ob sich zum Zwetschgenkuchen nun ein Milchkaffee anbieten würde oder nicht doch eher eine Tote Tante, denn sie verspürte Lust auf Schokoladiges mit einem Schuss Alkohol. Schließlich war sie ja zum Genießen hergekommen. Zum Ausspannen und Sich-Gehenlassen, zum … Also kaum dieser Gedanken innewerdend, nahm sie eine Bewegung neben sich wahr. Sie sah auf – und ihm, dem falschen Geiger, genau in die Augen. Er stand da, blickte ernst auf sie herab – das Buch noch immer – oder wieder? – unterm Arm. Er wirkte so, als warte er auf etwas. Jedenfalls war es diesmal sie, die den Blick niederschlagen wollte, als sein Zeigefinger plötzlich hochfuhr und sie, leicht erschrocken, dem Öffnen seines Mundes beiwohnte. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder verschreckt aufspringen sollte. Denn so bedrängt zu werden – noch dazu von einem Fremden, der, das war ihr in diesem Moment glasklar, ein wenig speziell zu sein schien –, das war unangehem. Wie er sie betrachtete, nein, das gefiel ihr ganz und gar nicht. Dennoch erinnerte er sie etwas an Lehrer Lämpel aus Buschs Max und Moritz und sie ließ alle negativen Gedanken fahren. Stattdessen fragte sie sich nur: Was kommt denn jetzt?

 

Nun, zuerst kam gar nichts. Er stand nur weiterhin vor ihr, zu Stein erstarrt schien’s, mit aufzeigendem Finger und leicht geöffnetem Mund. Gerade so, als wollte er sogleich mit einer Rede ansetzen à la Liebe Kinder habt gut acht, wenn’s draußen grollt und kracht, denn das hat schon den Stärksten um den Verstand gebracht …

 

So dachte sie und presste die Lippen fest zusammen, um sich nicht weiter in diesem Gedanken zu ergehen. Denn dass das böse enden konnte, davon konnten ihre Kolleginnen ein Lied singen. Ja, sie neigte zu Lachanfällen, gar -krämpfen, wenn es sie einmal gepackt hatte. Abgesehen davon wusste sie ja tatsächlich nicht, was dieser Mensch von ihr wollte – und wessen Geistes Kind er war. Gut, wäre ihr Gleiches in ihrer Heimatstadt geschehen, wohlmöglich in der vollbesetzen S-Bahn, hätte sie schon längst das Weite gesucht. Hier aber schien alles so friedlich und entspannt zu sein, dass sie sich zusammennahm und einfach abwartete, was ihr dieser Lehrer Lämpel denn nun so wichtiges mitzuteilen hatte. Und so, als hätte sie der Schabernack gepackt, hörte sie sich augenblicklich sagen: „Es empfiehlt sich …“, nur um ihn dann erwartungsvoll anzusehen. Und tatsächlich löste er sich aus seiner Starre, verengte die Augen leicht zu Schlitzen und tippte sie mit dem Zeigefinger ganz rasch an die Wange, hob ihn dann wieder und sagte dozierend ruhig: „Es empfiehlt sich etwas Salbe gegen den Sonnenbrand.“

 

Sie starrte ihn an – fassungslos. Das Aua! und Was bilden Sie sich ein, mich anzufassen? blieb ihr auf den Lippen kleben, denn schon war er an ihr vorbei, ließ sich wieder im Strandkorb nieder, legte das Buch neben sich, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte, so als wäre nichts geschehen: „Es empfiehlt sich darüber hinaus, alsbald einen Hautarzt aufzusuchen, denn ein etwaiges Melanom wird sich allein durch Creme nicht aufhalten lassen.“

 

„Na danke auch“, schnappte sie und spürte, wie ihr der Mund offenstehen blieb und sie ihn wie ein Tölpel anzustarren begann. Er schlug indes den Blick wieder nieder, griff nach seinem Buch, öffnete es, begann neuerlich zu lesen. Und sie zog vor, es dabei zu belassen und fortan zu schweigen. Doch sah sie sich zugleich nicht nur nach der Serviererin um, sondern auch nach einem freiwerdenden Platz irgendwo unter den Sonnenschirmen und zur Not auch in der Sonne. Doch wie das Lied immer so spielte, gab’s den nicht, sodass sie sich vor die Wahl gestellt sah, entweder zu bleiben und diesem komischen Menschen weiter Gesellschaft zu leisten oder so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Die Entscheidung darüber wurde ihr indes vom Erscheinen der Serviererin abgenommen. Doch gerade, als sie ihren Bestellwunsch äußern wollte, stellte diese einen Teller mit einem großen Stück Zwetschgenkuchen nebst Sahne und einen Milchkaffee vor ihre Nase.

 

„Äh“, machte sie nur und starrte zuerst die Serviererin, dann das große Stück Kuchen an.

 

„Das hatten Sie doch … bestellt?“, ließ sich die Serviererin vernehmen.

 

„Äh.“

 

„Es empfiehlt sich …“, schaltete sich da der falsche Geiger ein, „… sogleich mit dem Essen zu beginnen, da sonst die Sahne zerläuft. Bei diesen Temperaturen um mindestens 50 % schneller als bei milderen. Es empfiehlt sich also …“

 

„Ja, ja … Jakob, trink du mal endlich dein Bier aus, sonst fliegen Fliegen rein“, warf die Serviererin ein.

 

Hierauf erwiderte er nichts, klappte allerdings das Buch zu und griff, den Kopf gesenkt, tatsächlich nach seinem Glas Bier. Sie indes nutzte die Gelegenheit, der Serviererin einen Blick zuzuwerfen. Diese verstand wohl, denn sie zuckte leicht resignierend mit den Schultern, nickte in seine Richtung und sagte etwas leiser: „Jakob.“ Dazu nickte sie noch einmal, als wäre dadurch alles erklärt, um sich dann wieder an den Genannten zu wenden: „Nicht wahr Jakob, alles ist gut.“

 

Dieser sah auf, verzog den Mund und fletschte plötzlich die Zähne. Sollte das ein Grinsen, gar ein Lächeln darstellen? Ihr wurde bei diesem Anblick ein wenig Bange, wirkte ihr Gegenüber doch wie einer, der, gelinde gesagt, erschreckende Gedanken hegte. Hinzukam noch, dass er sie unverwandt – nun mit weit aufgerissenen Augen – anstarrte und sein Gesicht dadurch wie eine Maske wirkte. Gut nur, dass die Serviererin noch immer neben ihr stand, sonst hätte sie in diesem Moment tatsächlich das Weite gesucht. Und als er dann auch noch mit just dieser Miene sich wiederholend sagte: „Es empfiehlt sich, recht rasch zu essen“ und dazu abwechselnd auf das vor ihr stehende Stückchen Kuchen und sie stierte, wollte sie nicht wissen, was in seinem Kopf los war, was da gerade geschah. Von Geilheit mochte sie nicht sprechen. Aber auch total verrückt und durchgedreht wären zu erschreckend für sie gewesen. Eines jedoch stand für sie fest: begegnen wollte sie diesem Typen nicht noch einmal. Und so, als könnte sie die Serviererin nur durch die Macht ihrer Blicke bannen, hob sie den Kopf. Die verstand tatsächlich. Leicht nickend sagte sie zu ihr: „Sie sehen so aus, als würden Sie frieren. Möchten Sie sich nicht dort drüben hinsetzen?“

 

Der Chance gewahr werdend, schnappte sie augenblicklich nach Luft, erhob sich und wollte ihren Teller nebst Milchkaffee nehmen, doch die Serviererin schüttelte nur mit dem Kopf. „Das mache ich. Sie setzen sich dort hinten hin …“

 

Sie deutete hinter sich auf ein Sonnenplätzchen an der Mauer, das just in diesem Moment freigeworden war. Und schneller, als sie denken konnte, hatte sie dort Platz genommen, gefolgt von der Serviererin, die ihr Kuchen und Milchkaffee vor die Nase stellte und ein geflüstertes: „Bitte verzeihen Sie, aber er ist im Grunde harmlos“ nachschob.

 

Ungeachtet der Tatsache, dass er sie noch immer beobachten konnte – und das auch tat, wie sie unschwer feststellte – mühte sie sich zu fragen, was mit ihm los sei. Und er, dort quer über den Gang in seinem Strandkorb sitzend, starrte herüber, nun wieder ernst, dafür aber irgendwie seltsam wirkend. So … Verdammt, sie konnte es nicht in Worte fassen. Die Serviererin flüsterte indes: „Sie müssen keine Angst haben.“

 

Verwundert löste sie den Blick von ihm, dem falschen Geiger, dieser schwarz-becordeten Gestalt, die sich, so meinte sie, mit dem Schatten in der Ecke zu verweben begann. Und doch wusste sie seinen Blick noch immer auf sich gerichtet. Bohrend, beißend … einfach unangenehm.

 

„Er ist Mathematiker und Physiker.“

 

Das Was? blieb ihr im Hals stecken. Hätte nur gefehlt, dass die Serviererin gesagt hätte: „Er ist nur Mathematiker und Physiker“ – und keine Chimäre, die gerade wieder die Zähne fletschte, um ihr zu zeigen, dass … Nein, das war zu gräulich. Der Appetit war ihr gänzlich vergangen. 

Gott sei Dank sah sie den Typen in den nächsten Tagen auch nicht wieder. Diesen Jakob. Diesen … Sein zähnefletschendes Grinsen konnte sie jedoch nicht vergessen, aber es begleitete sie nur dann in ihren Gedanken, wenn sie es zuließ. Wenn sie sich hingegen der Natur anheimgab, auf die Weiden hinauslief, um mit einem Feldstecher bewaffnet, den vielen, vielen Vögeln nachzustellen und in ihrem neuerworbenen Vogelkundlichen Begleiter nachzuschauen, um welche Art es sich handelte, dann vergaß sie all diese Unschicklichkeiten.

 

Keine Frage, das Café mied sie, die Warft ebenfalls, denn sie ahnte, dass dieser Jakob bei der Serviererin Quartier bezogen hatte: so gut, wie sie ihn zu kennen schien. Hatte sie ihn doch recht unverfänglich, fast leger angesprochen. Und er hatte ja auch entsprechend reagiert – jedenfalls nicht so, als würde er fragen wollen, was dieses Duzen zu bedeuten hätte. Obwohl: bekam der überhaupt mit, wenn sich etwas entgegen der Norm verhielt?

 

Egal.

 

Sie war hier auf den Fennen, hockte, ja lag bisweilen sogar auf dem Bauch und sah durch ihren Feldstecher, den ihr der Hausvater geliehen hatte. Ein netter Mensch. Groß, blond, breitschultrig und immer freundlich lächelnd. Als sie ihm am Dienstagabend gesagt hatte, dass sie des Nachts die Milchstraße so überdeutlich gesehen hätte, lachte er nur verhalten und meinte: „Hier herrscht ja auch nicht so eine hohe Lichtverschmutzung wie bei dir in der Stadt.“ Sie nickte und fragte ihn, vom Zauber dieser vielen, vielen funkelnden Sterne am Himmel gepackt, ob es denn neben Bernsteinschleifen und Lichtbildervorträgen am Abend nicht auch eine Sternwanderung hier auf der Hallig gäbe. Das biete sich ja geradezu an.

 

„Ja sicher“, sagte er hierauf, „aber der Mann, der das alljährlich macht, ist gerade wieder gefahren. Aber wenn du möchtest, kannst du meinen Feldstecher haben. Liegt im Auto. Musst ihn dir nur holen.“

 

Das tat sie dankend und lag in den nächsten Nächten tatsächlich draußen auf der Deichwiese und sah in dieses funkelnde Lichtermeer hinein. Sie glitt dabei von Stern zu Stern und brachte es bei einigen sogar fertig, die Augen zu verengen, so hell strahlten sie selbst aus dieser Entfernung. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie hell sie tatsächlich waren.

 

„Wahnsinn“, murmelte sie und konnte sich gar nicht sattsehen. Mehr und immer mehr wollte sie erkunden, bis sie bei einer an einen Kleiderbügel erinnernden Sternenkonstellation hängen blieb und vor Überraschung beinahe das Glas hätte fallen lassen. So was? So was Akkurates? Und schon musste sie lächeln und war zugleich so überwältigt, dass sie aufstand, um all das genauer betrachten zu können, bis ihr einfiel, dass es keinen Unterschied machte, ob sie lag oder stand. Nur der nicht unerhebliche Schmerz im Genick mahnte sie, sich wieder hinzulegen. Und das tat sie auch und jagte in dieser und anderen Nächten Sternen und Schnuppen nach. Sich in diesen kosmischen Weiten zu ergehen, sich auf sie überhaupt einlassen zu können – welch wundervolles Geschenk das war. Dazu die Stille, die sie erst nach und nach zu würdigen wusste. Das Schweigen, das nicht Redenmüssen, das Bei-sich-Sein – herrlich, einfach herrlich.

 

Manche Nacht lag sie im Gras, ließ den Feldstecher sinken und sah einfach nur so hoch in den Himmel. Ebenso am Tag, da sie mit ihrem Vogelkundlichen Begleiter in der Tasche über die Fennen kroch und Ringelgans nebst Seeschwalbe im Flug oder beim Fressen beobachtete. Der Schmöker, der eigentlich gelesen werden wollte, geriet mehr und mehr in Vergessenheit. Zu viel gab es auf dieser Hallig zu sehen und zu erleben. Als sie dann noch an einem Erkundungsgang über die Salzwiesen teilnahm und erfuhr, dass sich die eine oder andere Pflanze gut in Salat, Spaghetti-Sauce und Rührei machte, konnte sie nicht an sich halten und eben das auszuprobieren, des Abends in der Küche ihrer Ferienwohnung, deren Tür stets offenstand, da sich Percy, der Kater ihres Wirts mit ihr angefreundet hatte und Einlass begehrte. Und während dieser kleine rote Kerl ihre Wohnung erkundete und schließlich auf einen der Sessel sprang, kochte sie sich ein leckeres Essen. Allein das bescherte ihr ein gutes Gefühl.

 

Was sollte sie bei all dem noch an diesen Typen, diesen Jakob, denken, der ihr jetzt im Nachhinein, wie ein riesiger zerzauster Rabe vorkam. Seine Nase, so wollte sie sich gar nicht erinnern, war lang und raubvogelhaft gebogen. Die Augen saßen tief in den Höhlen seines schmalen Gesichts und hatten so verdammt verrückt auf sie gestarrt. Furchtbar. Nie wieder!

 

Nun, wie das Spiel aber so spielte, hielt dieses Nie wieder! nicht lang, denn auf einer kleinen Hallig wie dieser grenzte es an ein Wunder, wenn man sich als Urlauber nicht wenigstens zweimal über den Weg lief. Und da half es auch nicht, bestimmte Orte zu meiden, an denen sich dieser Jakob aufhalten könnte, ja, da half es noch nicht einmal, einen Ausflug zur Nachbarhallig Gröde, der kleinsten Gemeinde Deutschlands, zu machen, um sich auch einmal andere Luft um die Nase wehen zu lassen und die dortige Kirche nebst Fething zu besichtigen. Nein, das half alles nichts, wenn er sich eben zu dem gleichen Ausflug mit dem Fischkutter, inklusive einer Demonstration des hiesigen Fischfangs, entschieden hatte und, obwohl die ganze Zeit unten am großen Aquarium stehend, ihrer gar nicht gewahr wurde. Er hinderte sie dennoch daran, sich auf sich zu konzentrieren und die Fahrt über die Nordsee zu genießen. Denn anstatt ans Heck des Schiffes zu gehen, um dort Ruhe zu haben, stand sie weiterhin an der Reling neben der Kapitänskabine und sah hinab auf ihn, der mit einem Fotoapparat bewaffnet in die Gegend blickte und ab und an Fotos machte – doch nicht etwa von der Nordsee, sondern stets vom allzu mageren Innenleben des Aquariums. Dazu beugte er sich jedes Mal über das Wasser, schob gleichzeitig seine Hüfte hervor, presste sich mit dem Unterleib an die Scheibe. Sie sah genau, dass er sein linkes Auge zukniff, bisweilen sogar zuhielt, wenn er fotografierte, sah auch, wie sich eine allzu große Falte zwischen seiner Nasenwurzel und dem Stirnansatz bildete. Bemerkte ebenfalls, dass er wohl unter einer Art Hautreizung oder Akne litt – und das vor allem an den Wangen und über den Augenbrauen. Und sie ertappte sich sogar dabei, auf seinem Kopf nach Spuren eines Ausschlags, eines endogenen Ekzems, gar einer Schuppenflechte zu suchen. All das durchs Fernglas – und sie fragte sich keineswegs, was sie hier eigentlich tat. Warum sie ihn beobachtete. Sie tat es einfach. Und so geriet der Ausflug zur Gröde zu einem Unterfangen, das nicht anders als mit Observation, gar Stalking zu bezeichnen war. Erst im Nachhinein griff sie sich an den Kopf. Was hatte sie sich dabei nur gedacht, dieser Vogelscheuche im schwarzen Cord so sehr nachzustellen? Konnte man es tatsächlich so sehen, dass sie von seiner augenscheinlich abstoßenden Erscheinung angezogen wurde, ja, dass von seiner Hässlichkeit ein Reiz ausging, der sie fast fiebrig werden ließ? Und dabei blieb sie selbst immer im Verborgenen. Denn auch auf der Gröde achtete sie peinlichst darauf, ihn stets in einem gewissen Abstand vor sich haben, um nötigenfalls reagieren zu können. Zwar gab es weder Baum noch Strauch, doch das Abwenden und so-tun-als-ob galt ihr als Notlösung. Und so folgte sie ihm den Deich hinauf und besichtigte eben Kirche und Fething, während er in sicherer Entfernung auf dem Deich entlangging, den Fotoapparat schussbereit vor der Brust tragend.

 

Aber es blieb natürlich nicht aus, dass er doch einmal in hastigen, ja, geradezu zackig-strengen Schritten auf sie zukam, nämlich, als sie das Boot wieder bestiegen und sie ihn bereits an Bord wähnte, er jedoch wie ein Kistenteufel auf dem Tableau erschien – allerdings ohne ein Zeichen des Erkennens zu geben. Was war sie da erleichtert, dass er an ihr vorbeiging, jedoch und zugleich erregt, weil sie nicht verstand, wie er sie, da sie ihm ja förmlich im Weg stand, übersehen konnte, obwohl er ihr doch genau in die Augen sah. Es war ihr so, als ginge er mitten durch sie hindurch, ja, gerade so, als sei nicht er, sondern sie die Chimäre.

 

Auf der Heimreise postierte sie sich wieder neben der Kapitänskabine und sah hinab auf ihn, der da unten eben an der Reling stand, den Fotoapparat an einem Riemen um die Schulter tragend und diesmal aufs offene Meer blickend, während ihm der Fahrtwind durchs schüttere Haar fuhr und seine zweifelsohne jeden Morgen neu gerichtete Frisur zerzauste und er sich, bald seines strengen Linksscheitels verlustig, ein blaues Basecap aufsetzte.   

 

Erst, als sie daheim in ihren sicheren vier Wänden war, beruhigte sie sich ein wenig, auch von dem, was sie an diesem Tag noch erlebt hatte. Dieser Menschen, den sie nach all dem nicht einmal mehr den falschen Geiger, geschweige denn bei seinem Namen nennen konnte, hatte, als der Fischfang eingefahren war, etwas getan, was sie nie würde vergessen können. Sie stand noch immer oben an der Reling, sah hinab, wie der erste Offizier eine vollgefüllte Kiste mit Meeresgetier in das Aquarium entleerte, hörte, wie der Kapitän die Aufforderung an die Kinder gab, jetzt selbst wühlen zu dürfen, bemerkte ihn zwischen all den Kleinen, wie er sich selbst am Aquarium erging. Ab und an hielt er etwas hoch, um es sogleich wieder ins Wasser zu geben. Immer und immer wieder tauchte er seine Hände ins Wasser, suchte, fand, holte heraus, besah es sich, legte es zurück. Wie die Kinder neben ihm auch. Doch plötzlich, ganz plötzlich holte er einen größeren Fisch herauf und aller Augen richteten sich auf ihn. Rufe wurden laut. Und er hielt den nach Luft schnappenden Fisch wie eine Trophäe hoch über den Kopf, während sich das Tier in seiner Hand wandte und krümmte – und ganz augenscheinlich einen Todeskampf focht. Dazu fletschte dieser Kerl wieder die Zähne.

 Er ließ das Tier in seiner Hand sterben, ehe er es achtlos ins Wasser warf und sich wieder dem Aquarium zuwandte. Die Kinder um ihn her zeigten kaum eine Reaktion darauf, vielmehr taten sie es ihm gleich, wohl angetrieben von ihm, der nun mit beiden Händen im Wasser umhertastete, suchte, hervorholte, besah und … Nein, dem Ganzen wollte und konnte sie nicht länger beiwohnen. Und so wandte sie sich endlich ab, begab sich ans Heck und suchte sich dort einen Platz. Der Anblick der schwindenden Gröde lenkte sie kaum ab, doch ließ sie ihren Blick bewusst übers Wasser gleiten, holte auch bewusst tief Luft – und das immer und immer wieder. Sie hatte es in den letzten Jahren gelernt, sich zu sammeln und negativen Gedanken nicht nachzuhängen und doch kamen sie immer wieder hoch – auch später noch, da sie bereits daheim in ihrer Ferienwohnung war und Percy auf dem Schoß hatte. Er schmiegte sich an sie, schnurrte leise und forderte sie durch leichtes Stupsen dazu auf, ihn zu streicheln. Doch sie, ganz bei dem, was sie erlebt hatte, konnte ihn nur halten, sodass er schließlich von ihrem Schoß sprang und zur Tür hinaus verschwand.

 

Keineswegs war sie überempfindlich – jedenfalls würde sie sich nicht als solches bezeichnen – doch das, was der Typ getan hatte – und ihrem Begriff nach hatte er den Fisch ganz bewusst sterben lassen, ja, er hatte ihm sogar noch in sein vom Tod entstelltes Gesicht gesehen – erschütterte sie so sehr, dass sie in sich eine Unruhe spürte, die, wenn sie nicht aufpasste in eine Art Erregung übergehen konnte, die sie außerstande war zu steuern. Das Beste war, hinauszugehen und sich zu bewegen. Sich abzulenken. Den Blick über das weite Land schweifen lassen und dazu einfach einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das wollte sie, das tat sie und fand sich wenige Minuten später an einer der Fennen wieder, streckte ihre Hand über den Elektrozaun und ließ sich von allzu neugierigen Kühen beschnuppern, die jedoch bei jeder ihrer Regungen zurückzuckten. Kaum konnte sie die Tiere beruhigen, geschweige denn sie streicheln. Allerdings spürte sie immer wieder feuchte Nasen an ihren Händen, sie spürte auch den warmen Atem dieser großen Tiere, sah ihnen dabei in die braunen Augen und begann mit ihnen zu sprechen, ihnen zu erzählen. Was? Nun, als sie selbst erfasste, was sie da sagte, kniff sie den Mund fest zusammen und wünschte sich, dass diese Hallig nur ihr allein gehören würde. Nur ihr. Nahm sich jedoch sogleich zurück und beschränkte sich darauf, leise gegen den Wind zu murmeln: „Diesen Kerl möchte ich nie wiedersehen. Und wenn doch, dann werde ich ihm auf den Kopf hin zu sagen, dass er ein ekelhafter Mensch ist.“

 

Nun, dass sie die Gelegenheit dazu erhielt, soll an dieser Stelle nur erwähnt werden. Auch, dass sie das Schicksal eines neuerlichen Zusammentreffens bereits in den kommenden zwei Tagen traf. Vorerst allerdings wünschte sie sich, all diese Gedanken weg, denn sie war nicht auf die Hallig gekommen, um sich zu grämen, sondern um sich zu erholen, ja, Spaß zu haben, sich treiben zu lassen und einfach einmal an nichts Spezielles denken zu müssen. Von ihrer Arbeit war sie bereits so überspannt, dass sie es manchmal gar nicht hinbekam, abzuschalten. Und wenn es im ersten Kapitel noch geheißen hat, dass sie des Sonntagmorgens in ihrem großen Ohrensessel saß, um beispielsweise den Brandenburgischen Konzerten von Bach zu lauschen, dann ist das zwar korrekt, aber ihre Gedanken um die Arbeit und ihr Leben an sich konnte sie nicht wegdrücken, die blieben. Und ausgerechnet hier, auf der Hallig war ihr eben dieses Meisterwerk – ja, sie nannte es ein Meisterwerk gelungen, dass sie ihren Blick nur schweifen lassen konnte, um den Vögeln im Flug zu folgen oder eben die Sterne des Nachts zu beobachten und sich immer wieder in die Tiefen der Milchstraße zu begeben, in diese schier unendlich wirkende Weite. Diese unzähligen leuchtenden Punkte, die ihr Licht über Millionen gar Milliarden von Kilometern weit ins All hinausschickten, ehe es die Erde traf. Eines nachts blieb sie gar so lang auf der Deichwiese liegen, bis sich weit im Westen bereits Orion, eines der wenigen Sternbilder, die sie (er-)kannte, zeigte und sie richtete ihren Feldstecher auf den rechten der Schultersterne, Beteigeuze, einen roten Überriesen, der sich, so wusste sie, in 600 Lichtjahren Entfernung befand. Sein Licht benötigte also 600 Jahre bis zur Erde – unvorstellbar. Noch mehr spürte sie die Grenzen ihres Fassungsvermögens angesichts der Tatsache, dass dieser Stern starb, sich also irgendwann in einer riesigen Supernova erging – oder es bereits getan hatte. Nur sahen wir es nicht, weil das Licht, das von dieser Katastrophe kündete, noch nicht bei uns eingetroffen ist … Und in dem Moment, da ihr das bewusstwurde, erhob sie sich und ungeachtet ihrer wieder aufkommenden Genickschmerzen, presste sie den Feldstecher an ihre Augen, fixierte diesen uralten Stern, der, befände er sich in unserem Sonnensystem, die Umlaufbahn Jupiters vollkommen einnähme.

 

Sie war glücklich, diese Gedanken denken zu können, denn das hatte man sie gelehrt, nachdem sie gemeint hatte, dass nichts mehr einen Sinn hätte, alles in einer trüb-grauen Suppe zerlaufen würden, auch und vor allem das eigene Leben. Damals – das war schlimm gewesen. Wann immer sie daran zurückdachte, wie sie eines Abends im Winter in ihrer kleinen Küche am Tisch gesessen hatte, vor sich nur eine Kerze in der ansonsten dunklen Wohnung, dann traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte in die leicht flackernde Flamme gestarrt und war mit dem Mittelfinger der linken Hand durch sie hindurchgefahren, zuerst rasch, doch dann immer langsamer, um schließlich in ihr zu verharren. Damals war sie gerade 40 Jahre alt geworden und hatte sich verflucht, so ausgesprochen schwach zu sein.

 

„Lene, du feiges, feiges Schwein“, hatte sie sich selbst geschimpft, ihre Hand zurückgezogen und nur wieder in die Flamme gestarrt, während die Wehen des Schmerzes abebbten. Doch in ihrem Inneren rumorte es und es schien sie ihr so, als verhöhne sie diese kleine Flamme durch ihr munteres Geflacker.

 

Am nächsten Morgen war sie zum Arzt gegangen.

 

Dorthin, an diesen Abgrund, wollte sie niemals wieder zurück. Doch als sie vor einem Jahr in Südtirol war und erfuhr, dass manche Täler in den Wintermonaten kaum Sonne abbekamen, die dortigen Menschen demnach in einem ewigen Zwielicht lebten, überkam es sie kalt und sie musste mit sich kämpfen, nicht wieder ihres eigenen tiefen Tals, das sie überwunden geglaubt, ansichtig zu werden.

 

Mittlerweile arbeitete sie wieder und versuchte ihr Leben in den Griff zu bekommen. Und diesen Urlaub, den hatte sie sich extra ausgesucht, weil sie spürte, dass diese Flamme, die in ihr selbst brannte, wieder zu verlöschen drohte. Deswegen diese drei Wochen auf der Hallig, um dann für die nächste Zeit gewappnet zu sein. Deswegen auch das Mühen darum, nun bei den Kühen auf der Weide Ruhe zu finden. Sie brauchte sie so dringend, ebenso wie das Schweigen, die Stille. Sie schloss kurz die Augen, schluckte und atmete ganz bewusst. Wegatmen, hatte ihr Therapeut gesagt, wegatmen. Bewusstsein gegen fast übermächtige Gefühle, die sie auszuhöhlen suchten – und die Flamme in sich bewahren.

 

Um dies zu unterstützten, entzündete sie an diesem Abend auch eine Kerze, löschte das sonstige Licht, setzte sich an den Wohnzimmertisch, sah in die Flamme und schickte alle negativen Gedanken in sie hinein. 

Die kommenden zwei Tage nutzte sie dazu, tiefer in die Hallig einzudringen, denn noch immer hatte sie das Gefühl, nur an der Oberfläche gekratzt zu haben. Zwar gab ihr der Vogelkundliche Begleiter die Möglichkeit, die von ihr entdeckten Vögel zu benennen, doch wollte sie mehr, einfach mehr, wollte über die Fennen laufen – und das mit nackten Füßen, um das Gras zu spüren, wollte auch in wenigstens einen, auf der Hallig so zahlreichen Priele steigen – was sie dann jedoch nicht tat, weil es ihr nicht recht geheuer war. Sie wollte weitere Orte finden, an denen sie verweilen konnte, ohne, dass ihr Menschen begegneten. Bisweilen fand sie sich dann neuerlich bäuchlings im Gras liegend wieder und mit jedem Atemzug wurde ihr bewusster, dass sie frei war, ja, dass sie bereit war loszulassen, was sie bisher gehalten hatte – es trieb sie hinaus, immer wieder hinaus. Manchmal lief sie einfach nur über den Sommerdeich, breitete dabei die Arme aus, sah dann auf die Nordsee und hinauf in den blauen Himmel und schlug sich die Hände vor den Mund. Tränen traten ihr in die Augen. So etwas hätte sie schon damals vor 5 Jahren gebraucht. So etwas … aber damals war ihr der Gedanke an diese Hallig nicht gekommen. Damals war sie nur vor sich selbst geflohen, unfähig, sich selber einmal ins Gesicht zu sehen. Doch jetzt war es anders. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte, bis sie rannte, zuckte jedoch zurück, als sie einen lauten Schrei vernahm, ehe sie verstand, dass er sich ihrer Kehle entrungen hatte und noch einem weiteren Platz machte. Ja, plötzlich schrie sie so laut und so ungeniert, dass sie ein großes, herzhaftes Lachen hinterherschickte – und das so lang, bis sie krächzte und husten musste. Es fühlte sich gut an, so gut, dass sie weiterrannte und brüllte und schrie und lachte. Alles hinauslassen, was sie vormals in sich behalten hatte. Diese ganzen Erinnerungen, die Probleme im Job. Sie rannt, sie schrie, sie breitete ihre Arme aus, fuchtelte mit ihnen wild herum – und das, obwohl sie wusste, wie sie auf einen unbeteiligten Beobachter wirken mochte. Sie tat es dennoch – oder gerade deswegen. Solange, bis sie nicht mehr konnte und stehenbleiben musste, um nach Luft zu schnappen. Sie war nicht gut trainiert, war schon lang nicht mehr gelaufen – Sport? Na ja. Das, was sie konnte, war ein Relikt vieler Jahre harten Trainings in ihrer Jugend. Sie war geschwommen, gerne, oft und später eben auch im Leistungskader, bis sie mit dem Stress nicht mehr klargekommen war. Sport. Sie sollte ihn wieder treiben. Das sagte sie sich, als sie sich auf ihre Knie stützte und ihren Herzschlag wie einen Trommelwirbel in den Ohren hörte. Aber obwohl ihr der Lauf den Atem geraubt hatte, wollten ihre Beine weiter und schon spürte sie auch, wie sich in ihr ein neuerlicher Schrei aufbaute, der hinausdrängte. Und ohne zu überlegen, entließ sie ihn in die Freiheit. Das ging so lang, bis sie ein Urlauber ganz unvermittelt fragte, ob es ihr gut ginge und ob man ihr helfen könne. Und sie, in diesem Moment ganz schlagfertig, erwiderte heiser: „Ja, alles okay. Ist nur eine Stimmprobe. Ich trainiere, ich übe mich im Schreien. Ich brauche das für meinen Job. Ich bin Schauspielerin.“ Und im Grunde stimmte das auch – irgendwie.

 

Der Urlauber schien’s zufrieden, jedenfalls ging der nickend und schulterzuckend davon, drehte sich jedoch noch einige Male nach ihr um. Aber sie kümmerte sich nicht weiter um ihn, winkte ihm nur. Peinlich war’s ihr nicht. Warum auch? Sie hatte begriffen, dass sie sich hier so zeigen konnte, wie sie gerade sein wollte. Das hatte ein wenig von Pippi Langstrumpf, fand sie. Dieses starke Mädchen hatte es ihr in ihrer Kindheit angetan. So zu sein wie sie. Warum nicht auch als Erwachsene ein wenig von ihr in sich tragen? Warum nicht ab und an die Grenzen übersteigen. Und hatte ihr das nicht auch ihr Therapeut geraten, sich ab und zu etwas Außergewöhnliches zu gönnen. Sie grinste. Früher hatte sie nicht gewusst, was er meinte, jetzt aber war ihr klar, dass sie ihre Fesseln nur selbst zerreißen konnte. Wen störte es also, wenn sie ihren so lang angestauten Emotionen freien Lauf ließ? Sie jedenfalls nicht. Und das war die Hauptsache.

 

Am Abend dann spürte sie ein leichtes Kratzen im Hals, glaubte auch, leicht heiser zu sein, doch das kümmerte sie wenig. Sie kochte sich unter vielen Räuspern ein schönes Essen, nebst einem warmen Tee mit Honig, nahm beides am Wohnzimmertisch ein, während Percy im anderen Sessel lag und zu schlafen vorgab. Aber schlief er tatsächlich? Sein Schwanz ging ab und zu. Sie schmunzelte, murmelte unter neuerlichem Räuspern: „Ach, Kerlchen, du Kerlchen …“, erhob sich, räumte ab, um sich dann wieder die Kerze anzuzünden und das restliche Licht zu löschen. Wieder sah sie, nun mit Percy auf dem Schoss, in die leicht flackernde Flamme und versuchte, Ruhe zu finden, sich zu entspannen. Und es gelang. Alle negativen Gedanken waren fort und sie spürte eine Leichtigkeit in sich aufsteigen, die sie zuvor nicht gekannt hatte.

 

Der nächste Tag ließ sich ebenso gut an wie der vorangegangene, nur hieß es im Wetterbericht, dass für den späten Nachmittag oder frühen Abend mit Regenschauern zu rechnen sei. Gut, das störte sie wenig, da es noch früh am Morgen war und die Sonne vom azurblauen Himmel schien. Alles war einträglich, ruhig. Sie beschloss, heute die Hallig zu umrunden. 11 Kilometer, das war in vier Stunden zu schaffen. Und im Anschluss daran wollte sie eines der Cafés auf ihrer Heimatwarft ausprobieren. So der Plan, dem sie auch folgte. Auf dem Sommerdeich entlang, mit den nackten Füßen im weichen Wollgras, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack, in den sie, da gut gefrühstückt, nur eine Halbliter-Flasche Wasser getan hatte. Sie war frei wieder Wind, den sie, auch zu dieser frühen Stunde bereits aus Nord-Nordwestlicher Richtung spürte, mehr noch als an den anderen Tagen. Und sie wusste, ahnte, dass etwas aufziehen würde. Doch noch blieb Zeit, sich an der frischen Luft zu ergehen. Und der Wind in ihrem Rücken trieb sie vorerst zu schnellen Schritten an. Sie lächelte, breitete wieder die Arme aus und ließ ihren Blick kreisen. Sie war jetzt fast eine Woche hier auf der Hallig und fühlte sich schon jetzt erholt, auch wenn sie noch immer Müdigkeit in sich spürte. Aber die, so sagte sie sich, hatte sie wohl dem Umstand zu verdanken, dass sie von morgens bis abends draußen war. Frische Luft, das wusste jeder, machte müde, sehr müde. Und obwohl sie manche Nacht unter freiem Sternhimmel verbrachte, konnte sie recht gut schlafen. Ja, sie hatte sich richtig entschieden, auf diese Hallig zu kommen, denn diese Abgeschiedenheit brauchte sie. Das Alleinsein mit sich und der Natur. Und so lief sie weiter und weiter, kam alsbald an der nächsten Warft vorbei, machte kurz halt, um das WC-Häuschen aufzusuchen und etwas zu trinken, ehe sie weiterging, sich umsah und daran erfreute, dass sie weit und breit keinen anderen Menschen sah. Wo gab’s das sonst noch?

 

So verging die Zeit – und da sie immer mal wieder stehenblieb, um sich an der sie umgebenden Weite zu erfreuen, hatte sie die letzte der Warften auf der Hallig gerade gequert, als sie von einer heftigen Böe gepackt wurde. Doch das machte ihr nicht viel aus, war es doch bereits die ganze Zeit schon recht windig gewesen. So lief sie einfach weiter, weil sie meinte, dass der Regenschauer noch etwas auf sich warten lassen würde. Jedenfalls verriet ihr der Himmel nichts Gegenteiliges. Überdies war es noch sonnig. Allerdings rechnete sie nicht mit der Geschwindigkeit der herannahenden Wolken und plötzlich brach es über sie herein. Einfach so. Unangekündigt. Jedenfalls für sie. Es war keine 15 Uhr, da sie von einem heftigen Regenschauer getroffen, nicht wusste, wohin. Sie allein auf dem Sommerdeich. Und über ihr türmten sich plötzlich tiefhängende, dunkle Wolken auf, die ihre Brut nur allzu gern ablassen wollten. Hinzukam, dass sich der Wind in einen Sturm zu verwandeln schien. Da war’s ihr fast unheimlich. Augenblicklich war sie klitschnass bis auf die Knochen und zitterte leicht, da die Temperaturen von sommerlicher Wärme um mindestens 10 Grad gefallen waren – und das innerhalb weniger Minuten. Und was blieb ihr? Sie musste weiter. Versuchen, die heimische Warft zu erreichen, da aber hörte sie hinter sich ein verräterisches Grummeln, wandte sich um. Regen peitschte ihr augenblicklich ins Gesicht und verunmöglichte ihr beinahe die Sicht auf das, was sich am Himmel abspielte. Sie erahnte mehr, als dass sie sie sah: schwefelgelbe Wolken – und dann spürte sie ein Zucken in sich. Ganz klar, die Luft war elektrisch aufgeladen und kündete vom nahenden Gewitter. Einen Moment lang starrte sie dieser Übermacht ins Antlitz, ehe sie sprichwörtlich die Beine in die Hand nahm und rannte, rannte, rannte, bis sie, kaum noch Kraft habend, ganz in der Ferne etwas ausmachte, das sie als Strandkorb zu identifizieren meinte. Schon grummelte es wieder hinter ihr – und sie, getrieben von der Angst, alsbald vom Blitz getroffen zu werden, jagte diesem rettenden Unterstand entgegen. Sie ahnte, dass ihr nur noch wenige Minuten blieben, bis sich das Gewitter über ihr erging, da meinte sie schon ein wetterleuchtendes Zucken quer über der Gischt speienden Nordsee zu erspähen, als sie den Strandkorb erreichte. Gott sei Dank, so dachte sie, steht er dem Regen abgewandt. Gott sei Dank. Schon war sie um ihn herum und wollte sich gerade in seinem Schutz fallen lassen, als ihr ein Schreckensruf entfuhr. Der Strandkorb war keineswegs leer, so, wie sie erwartet hatte. Drin saß dieser Kerl, der, wohl durch ihr Erscheinen ebenso aufgeschreckt, zu ihr hinaufsah, allerdings machte er keinerlei Anstalten zu rutschen, sodass sie ihn, vollkommen verzweifelt, anblaffte: „Nun bitte!“ Dazu fuchtelte sie ihm vorm Gesicht herum, um ihm zu verdeutlichen, was sie wollte. Er, noch immer zu ihr aufsehend, reagierte, allerdings widerwillig, wie ihr schien. Dass sie ebenso wenig neben ihm sitzen wollte, versteht sich, doch die Not war zu groß. Und so, als wollte sie das Wetter in ihrem Tun bestätigen, krachte es plötzlich so laut, dass sie sogar ein wenig in die Knie ging. „Nun machen Sie schon“, fauchte sie und zwängte sich, ungeachtet dessen, dass er seinen Rucksack auf der Sitzbank zu stehen hatte, ins sichere Versteck neben ihn. 

 Natürlich wollte sie nicht mit ihm reden, aber was blieb ihr denn anderes übrig, als ein Dankeschön zu murmeln, nur, um sich dann doch in die äußerste Ecke des Strandkorbs zu pressen, die Arme vor der Brust zu verschränken und zu hoffen, dass das Unwetter bald vorbeiginge. Doch mit dieser Taktik kam sie nicht weit, jedenfalls fühlte sie sich nach einer Weile des Schweigens dazu genötigt, erneut das Wort an ihn zu richten.

 

„Sie sind auch vom Regen überrascht worden?“

 

„Wie kommen Sie darauf?“, kam’s flugs von ihm. „Ich bin eigens hergekommen.“

 

„Was? Wirklich?“ Sie wusste nicht, ob er es ernst meinte, oder sich bloß einen schiefen Scherz erlaubte.

 

Als Antwort schickte er ihr indes einen Blick, den sie unmöglich missdeuten konnte: so von oben herab, mit leicht hängen Lidern. Sie hasste das, nahm sich aber zusammen und machte gute Miene zum bösen Spiel.

 

„Tja, dann wollten Sie das Gewitter erleben?“, fuhr sie fort.

 

„So wird es sich wohl verhalten“, kam’s ungerührt von ihm.

 

Und damit war das Gespräch vorerst beendet und sie hatte Gelegenheit, dem an die Rückseite des Strandkorbs klatschenden Regen zu lauschen, ebenso wie dem Pfeifen des Windes und dem immer wiederkehrenden Grummeln am Himmel, das sich noch im tiefen Wolkenmeer versteckte. Nach einer Weile spürte sie auch die Kälte wieder und sie musste sich schon sehr zusammennehmen, nicht mit den Zähnen zu klappern. Auch zwang sie sich, auf die vom Sturm gepeitschte Nordsee zu blicken. Doch nach einer Weile wandte sie wieder den Kopf und sah ihn von der Seite an. Er trug neben Gummistiefeln eine wasserabweisende Jacke nebst Regenhose und auf dem Kopf wieder dieses blaue Basecap unter dem sich eine hohe Stirn, tiefsitzende Augen und seine gebogene Nase bargen. Seinen Rucksack hielt er auf den Knien. Er selbst saß leicht vornübergebeugt, so als wolle er unmittelbar am Sturmregen teilhaben. Auch das immer wieder auftretende Grummeln schien ihn nicht zu schrecken. Vielmehr war es ihr so, als genieße er die Stimmung. Und so, als wollte er sie in ihrer Annahme bestätigen, holte er sich aus seinem Rucksack eine Thermokanne hervor, schraubte sie auf und goss sich eine dampfende Flüssigkeit ein. Und ohne auch nur von der stürmischen Nordsee abzulassen, führte er sich den Becher an die Lippen, nahm einen Schluck und ließ sogar ein leises – fast selbstvergessenes – Ah, hören, ehe er noch einen Schluck nahm und sie, durch ein neuerliches Grummeln aufgeschreckt, fragte: „Meinen Sie nicht, dass wir vom Blitz getroffen werden könnten?“

 

Er wandte den Kopf und wieder traf sie dieser leicht verhangene, von oben herkommende Blick, doch er sagte nichts. Vorerst zumindest. Und sie kämpfte dagegen an, sich bei all der nervlichen Anspannung auch noch klein wie ein Tier zu fühlen und setzte sich stattdessen aufrecht hin. „Meinen Sie nicht?“

 

„Wäre ich hier, wenn es sich so verhielte?“, war die Antwort.

 

Sie erwiderte nichts und auch er schwieg. Ganz offensichtlich weidete er sich an ihrem Anblick, denn seine Lippen kräuselten sich, was seinem Gesicht einen fast diabolischen Ausdruck gab. Im Moment war ihr das jedoch egal. Sie wollte Klarheit und beschloss, ihren Blick keineswegs niederzuschlagen. Und so kam es, dass sie sich einfach anstarrten und keiner nachgeben wollte – wie die beiden Ziegen auf der Brücke aus der berühmten Fabel von de La Fontaine. Schließlich wandte er sich doch ab und nahm noch einen Schluck, ehe er die Flasche wieder verschloss, sie jedoch nicht in seinen Rucksack zurücktat, sondern in den Händen behielt.

 

„Ich bin nicht zum ersten Mal hier auf der Hallig“, begann er plötzlich.

 

„Ach“, machte sie.

 

„Insofern weiß ich um die hiesigen Wettererscheinungen. Das Gewitter wird sich, gemessen an der Windrichtung weit draußen auf der Nordsee ergehen. Ob wir Blitze sehen werden ist fraglich. Und der Starkregen wird in Hinblick auf das Wolkenbild, noch gut eine Stunde anhalten.

 

„Na, großartig“, murmelte sie und presste ihre Arme ganz fest an ihren Körper. Wie hatte sie nur so dumm sein können, nicht an warme Kleidung zu denken? Sie fror ganz ordentlich. Und um sich abzulenken, wandte sie sich wieder an ihn, der nun ein Brotbehältnis aus seinem Sack holte und es öffnete.

 

„Gemessen an der Tatsache, dass ich eigens der Blitze wegen hergekommen bin, ist das nicht großartig“, sagte er, entnahm dem Behältnis eine Schnitte und biss in sie hinein. Sie spürte, dass er großen Hunger hatte, so schnell wie er aß. Er stopfte beinahe. Nur, um zwischendurch immer wieder einen Schluck aus der Thermokanne zu nehmen. Wohl, damit es besser rutschte?

 

„Aber vielleicht haben wir Glück und es ereignet sich doch ein Schauspiel über der Nordsee?“, hörte sie sich selber sagen.

 

Er schwieg, sah sie nur wieder an, sodass sie sich schließlich zu einem „Was?“ veranlasst sah und er ihr, sich selbst das letzte Stückchen Brot in den Mund steckend, das Behältnis hinhielt, kaute und dann leise fragte: „Mögen Sie eine Schnitte?“

 

Im ersten Moment war sie sprachlos. Da sie jedoch der Hunger bemerkbar machte und er sie geradezu aufmunterte, griff sie dankend zu. Und er lächelte – ganz ohne die Zähne zu fletschen. Auch wirkte sein Blick vollkommen normal. Einen Moment lang meinte sie, auch ihn anzulächeln und sagte nochmals: „Ich danke Ihnen“, ehe sie sich über das Brot in ihrer Hand hermachen wollte. Und er, noch immer lächelnd, bot ihr auch seine Thermokanne an. „Es ist nur Kamillentee“, sagte er fast entschuldigend. Wieder nickte sie und mühte sich um ein Lächeln. „Das ist wirklich nett, danke.“ Er nickte ebenfalls, lächelte, beobachtete sie beim Essen und fügte dann ganz leise, fast zärtlich hinzu: „Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Man kann es nicht mit letzter Gewissheit sagen, ob Blitze erscheinen, allerdings empfiehlt es sich, den Feldstecher heute in der Tasche zu lassen …“

 

„Was?“, hörte sie sich fragen.

 

„Nun, bisweilen beobachten Sie doch, wenn ich es recht in Erinnerung habe, sogar recht gern und intensiv.“

 

Augenblicklich überkam es sie siedend heiß. Hatte er … konnte es tatsächlich wahr sein … Sein Blick verriet ihr nichts. Und gerade das drehte ihr den Magen um, sodass sie vom nächsten Bissen absah. Ja, sie hatte ein schlechtes Gewissen, ein äußerst schlechtes.

 

„Ich …“, brachte sie nur hervor.

 

„Ja?“

 

Sie fühlte sich getroffen und das doppelt, denn sie war ihm, das konnte sie nicht leugnen, in die Falle gegangen. Doch zu Kreuze kriechen, das wollte sie nicht und so raffte sie sich zusammen, nahm schließlich einen Bissen vom Brot und auch einen Schluck aus der Kanne und fragte ihn dann: „Warum haben Sie den Fisch sterben lassen?“

 

„Sie sehen mich nicht überrascht“, setzte er an, „denn es war mir klar, dass Sie, sollten wir noch einmal aufeinandertreffen, eben jene Frage stellen würden.“

 

Wieder unterbrach er sich, griff sich an die Brust und fuhr dann fort: „Und es ist Ihr gutes Recht, danach zu fragen, schließlich wohnten Sie diesem Ereignis ja geradezu persönlich bei …“

 

Sie schluckte und meinte, an ihrem Bissen ersticken zu müssen, doch trinken wollte sie nichts. Also würgte sie leicht und verfluchte sich innerlich, nicht die Ruhe bewahren zu können.

 

„Nun denn“, fuhr er fort, „es verhält sich so, dass ich Sie Gleiches fragen könnte: Warum haben Sie mich beobachtet? Meinten Sie allen Ernstes, dass ich dies nicht bemerken würde?

 

Sie räusperte sich und wusste, dass es nun an ihr war, etwas zu sagen. Irgendetwas. Doch eine Entschuldigung, das spürte sie, wollte er nicht hören. Sie wäre ihr selbst auch zu lapidar vorgekommen.

 

„Na ja, ich kann nicht umhin, zuzugeben, dass ich Sie bei unserem ersten Treffen für recht … nun ja …“

 

Sie unterbrach sich, weil sie spürte, dass sie sich in ihrer Rede verrannt hatte. Nun war es ihr peinlich. Doch er kam ihr zuvor. „Sie meinen, ich hätte auf Sie einen seltsamen, um nicht zu sagen, gestörten Eindruck gemacht?“

 

Sie schwieg. Er aber fuhr fort: „Nun, wenn es sich so verhielte, dauerte mich das sehr. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen, so darf ich versichern, dass ich den Fisch nicht aus Absicht habe sterben lassen, vielmehr war es ein Versehen.“

 

„Ach so?“, fragte sie.

 

Er nickte und zupfte sich mehrere Male hintereinander ganz schnell an der Nasenspitze. „Ein Versehen. Doch was Sie betrifft, so ist mir noch immer nicht klar, warum Sie Ihren Feldstecher bemühten, um jede meiner Regungen zu beobachten.“

 

„Tja“, erwiderte sie matt, „das ... das …“

 

„Was hofften Sie in Erfahrung zu bringen?“, fragte er in ihr Gestammel hinein und ehe sie es sich versah, starrte ihr wieder dieses Zähnefletschen entgegen, sodass sie leicht zurückschreckte und ein: „Könnten Sie das bitte lassen? Es ist einfach schrecklich“, hauchte.

 

Sofort verschwand dieses Grinsen und machte wieder einem recht annehmbaren Lächeln Platz. „Was?“, fragte er leise.

 

Wieder räusperte sie sich und er hielt ihr die Kanne hin. Dass sie sich dadurch nur noch beschämter fühlte, machte es ihr nicht besser. Schließlich aber nickte sie, er verstand, öffnete sie, goss ein und reichte ihr den Napf. Sie nahm ihn, ein neuerliches „Danke“ murmelnd und da er nichts erwiderte, was denn auch?, fuhr sie fort: „Hören Sie, es war nicht meine Absicht, Sie zu observieren. Ich sah Sie nur und … ach … im Grunde möchte ich nur eines: Meine Ruhe haben. Aber als ich Sie da in diesem Café sitzen sah … Ach, bitte … belassen wir es dabei. Mir tut es sehr leid, das getan zu haben. Bitte vergessen Sie es.“

 

Er schwieg, sah sie aber weiterhin an und ihr war recht seltsam zumute. Neuerlich stieg ihr die Frage auf, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte, ihn zu observieren. Was war es gewesen? Sie wusste es nicht.

 

„Ich bin sonst nicht so. Und ich wäre Ihnen verbunden, wenn … wenn Sie es wirklich einfach vergessen würden.“

 

„Nun, vergessen werde ich es nicht können, aber ich kann es in der Tat dabei belassen. Sie versuchten mir, Ihren Standpunkt zu erläutern und ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht die Erste sind, die sich an meinem Verhalten stößt. Ebenso wollte ich keineswegs das erreichen, was ich ganz offensichtlich erreicht habe.“

 

„Wie?“, entfuhr es ihr, denn sie fühlte sich ob seiner bandwurm-artigen Schachtelsatz-Redeweise plötzlich recht schummrig. Oder war es der Tatsache geschuldet, dass ihr kalt war und sie sich wünschte, daheim zu sein und eine warme, gar heiße Dusche nehmen zu können? Stattdessen erging sie sich hier in einer seltsamen Unterhaltung mit dem Typen, den sie eigentlich nicht hatte wiedersehen wollen.

 

„Ich bin übrigens Lene … Lene Laux“, hörte sie sich zu allem Überfluss sagen und reichte ihm noch dazu die Hand. Er stutzte einen Moment lang, ehe er sie ergriff. „Gottfried Jakob Praetorius und, da Sie es zu ahnen scheinen, muss ich Sie leider enttäuschen, ich habe nichts mit dem ehemaligen Thomaner und jetzigem Dirigenten Friedrich Praetorius zu tun.“

 

Sie starrte ihn nur wieder an, das Wie bitte? einfach hinunterschluckend, so wie den Bissen, den sie neuerlich genommen hatte, und sagte dann: „Ach ja, das wäre tatsächlich meine nächste Frage gewesen, da Sie ja Geiger sind.“

 

„Falsch“, erwiderte er so prompt wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. „Ich bin kein Geiger. Ich bin Mathematiker und Physiker, doppelt diplomiert und habilitiert in Physik.“

 

„Ähm …“, machte sie nur und würgte an ihrem Brot. Er sah es und deutete auf den noch halbgefüllten Napf in ihrer Hand. „Ach so“, murmelte sie. „Ja dann …“

 

„Nun möchten Sie sicher wissen, was mein Schwerpunkt ist.“

 

„Ähm, ich fürchte, dass ich davon nicht viel verstehe“, erwiderte sie.

 

„So?“, fragte er und blinzelte einige Male. Sie nickte und spürte, dass ihr Herz zu rasen begann. „Na dann. Was könnte ich Ihnen noch erzählen, um Sie von meiner Integrität zu überzeugen?“

 

Sie verkniff sich jegliche Regung und nahm stattdessen wieder einen Bissen.

 

„Nun vielleicht, dass ich Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin bin, und zwar, wie Sie sich denken können, im Fachbereich Physik. Ich fahre also jeden Tag von Zehlendorf, wo ich wohne, nach Adlershof ins Schrödinger-Zentrum.“

 

„Ach … ach so … ja …“, machte sie und gab vor, kauen zu müssen, um sich einer direkten Antwort zu entziehen.

 

„Und Sie?“ Er musterte sie und wie sie fand, recht erwartungsvoll. Ganz klar, er wollte etwas von ihr hören. Doch ehe Sie darauf kam, was, vergingen einige Momente. Dann schließlich durchzuckte es sie: „Oh, bitte verzeihen Sie, ich arbeite an einer Grundschule – ich bin Lehrerin. Ebenfalls in Berlin.“

 

Nun war es an ihm, die Brauen hochzuziehen und ein „Ach“ hervorzubringen.

 

„Prenzlauer Berg“, fügte sie hinzu.

 

„Aber dann sollte Ihnen die Mathematik nicht ganz fremd sein, wenn die Prämisse stimmt, dass Grundschullehrer von Deutsch bis Mathematik alles unterrichten müssen“, fügte er hinzu.

 

„Nun, das stimmt zwar, aber ich bin Geschichts- und Biologielehrerin und unterrichte also die fünften und sechsten Klassen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich auch in den unteren Klassen ab und zu Vertretungsstunden gebe und somit auch Mathematik oder Deutsch unterrichte.“

 

Er nickte nur, erwiderte allerdings nichts und so fügte sie hinzu: „Manchmal tue ich aber nichts von alldem, sondern gebe nur den Clown für die Kinder.“

 

„Wie?“, fragte er, neigte sich leicht zu ihr, hatte seinen Blick aber schon wieder der Nordsee zugewandt.

 

„Ja“, erwiderte sie leise. „Das tue ich, den Clown geben.“ 

Irgendwie komisch fand sie das Gespräch, zumal dieser Gottfried-Jakob sie dann noch, vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen, nach ihrem Sonnenbrand fragte – das allerdings so beiläufig, dass sie Zweifel daran hatte, ob es ihn wirklich interessierte. Also zog sie es vor, ihm ein „Ganz gut“ zu erwidern.

 

„So? Ganz gut? Dennoch empfiehlt es sich, den Arzt aufzusuchen“, hatte er daraufhin bemerkt und sich kurz an sie gewandt.

 

„Das werde ich tun“, versicherte sie. „Allerdings zeigt sich ein etwaiges Melanom erst sehr viel später. Darum heißt es doch: Die Haut vergisst nicht.

 

„Ach, eine Metapher“, rief er da plötzlich – etwas unangemessen heftig, wie sie fand, nickte jedoch.

 

„Sie überträgt noch dazu menschliche Eigenschaft auf die Haut …“, fuhr er mit plötzlich erhobenem Zeigefinger fort, was sie leicht zusammenzucken ließ, zumal er sie mit leicht gerümpfter Nase und wiederum zusammengepressten Lippen ansah. Sollte das tatsächlich ein Grinsen darstellen, gar ein Lächeln? Sie selbst verkniff sich jegliche Regung und sagte so beiläufig wie nur irgend möglich: „Ja, es handelt sich in der Tat um eine Personifikation.“

 

Beide hatten sich daraufhin wieder nur angesehen, ehe er den Blick senkte und sie aufs noch immer tobende Meer hinaussah.

 

Im Nachhinein betrachtet, war es ja nicht schlimm gewesen, mit ihm über anderthalb Stunden im Strandkorb zu sitzen. Nein, keineswegs, denn in so unangenehmem Licht, wie zuvor, war er ihr nun nicht mehr erschienen, allerdings spürte sie, dass sie mit ihm auch nicht warm werden würde – gleichwohl er ihr so offen von seiner Arbeit erzählt und sich bemüht hatte, sie von seiner Normalität zu überzeugen. Und dadurch war sie in Zugzwang geraten, sich nun ihrerseits bei ihm zu entschuldigen für ihre Observationen. Nun ja. Zum Schluss hatte er sie doch allen Ernstes gefragt, ob sie aus dem Osten komme und sie hatte bejaht. Hierauf hatte er ein leicht verkniffen wirkendes Lächeln aufgesetzt, das die Falte zwischen seiner Nasenwurzel und dem Stirnansatz deutlich zum Vorschein brachte. So hatte er sie einige Momente lang gemustert, ehe er erwiderte, dass dann alles klar sei.

 

„Wie?“, hatte sie gefragt – tatsächlich vollkommen ahnungslos. Und er hatte daraufhin, die Arme vor der Brust verschränkend, noch verkniffener gewirkt, als er sagte: „Dann haben Sie ja Erfahrung im Observieren.“

 

Erst in diesem Augenblick fiel bei ihr der Groschen – sie verstand, zog es jedoch vor, auf diese doch sehr klischeehafte Äußerung nicht zu reagieren, zumal sie gar nicht wusste, wie er sie gemeint hatte. Aber war ihr nicht so, als bemerke sie eine Spur Verachtung für das System, das sich aus seiner Perspektive jenseits der Mauer befunden hatte. Jedenfalls fügte er wie zur Bestätigung hinzu, dass es ja lange geheißen hätte, die Ostdeutschen müssten erst einmal richtig lernen zu arbeiten.

 

„So?“, hatte sie erwiderte und ihre klammen Hände gefaltet.

 

„Möchten Sie noch ein Brot und etwas trinken?“, war es in diesem Moment – wieder ganz unverhofft – von ihm gekommen. Sie hatte überlegt und ihm dabei in die Augen gesehen. Dass er Grüne hatte, war ihr zwar in diesen Momenten aufgefallen, da sie in seiner Miene zu lesen versuchte, doch sogleich war es ihr wieder durch den Kopf geschossen, dass sie dieses Menschen wohl nicht habhaft werden könne. Aber wollte sie das überhaupt? Doch wohl nicht. Sie lehnte dankend ab und verwies darauf, dass Regen und Gewitter beinahe abgezogen seien und sie es doch sogleich wagen würde, den Heimweg anzutreten. Und zu ihrem großen Glück machte er nicht auch Anstalten, den Strandkorb zu verlassen, sodass sie sich Minuten später allein auf dem Sommerdeich wiederfand – und ohne sich noch einmal umzudrehen, ihren Heimweg antrat. Freilich hatte sie sich ordentlich von ihm verabschiedet und ihm dann auch noch einmal gesagt, wie sehr sie von seinem Geigenspiel entzückt gewesen sei und es noch immer wäre. Sie hatte es gesagt, weil sie meinte, dies tun zu müssen, sozusagen als Dankeschön für die empfangene Nettigkeit. Er jedoch hatte hierauf wiederum verkniffen gelächelt, dann den Zeigefinger in die Höhe gereckt und gemurmelt: „Aber nicht vergessen, ich bin kein Geiger.“

 

Sollte das witzig sein, gar in irgendeiner Weise charmant? Jedenfalls rang sie sich zu einem: „Ich weiß, Sie sind Physiker und Mathematiker“ durch, gab ihm die Hand, die er auch ergriff und nun seinerseits sagte: „Also, auf Wiedersehen dann, Frau Grundschullehrer.“

 

Sie nickte, lächelte jedoch nicht, obwohl es ihr so vorkam, als mühte er sich gerade darum, einen Witz zu machen. Sein Gesichtsausdruck sprach indes dagegen. Oder täuschte sie sich? Aber diese zu Schlitzen verengten Augen und die festzusammengepressten Lippen wirkten nicht so, als wollten sie an ein Lächeln erinnern. Dass sie es im Zuge ihrer Ausbildung auch gelernt hatte, Gesichtsausdrücke zu deuten, durfte sie an dieser Stelle wohl niemandem verraten. Allerdings war er bisher der Einzige, den sie nicht lesen konnte, was wohl auch daran lag, dass seine Mimik tatsächlich nicht seinen Gemütszustand zu spiegeln schien. Oder, sie hatte ihn einfach noch nicht zu verstehen gelernt? Nur, wollte sie das je können?

 

In ihren Augen war er noch immer dieser komische Kerl, den Ausdruck Tropf wollte sie nicht gebrauchen, denn in dem schwang doch etwas viel Verachtung mit. Sie aber verachtete ihn nicht, fand ihn nur seltsam, komisch, bizarr, aber eben auch zu wenig greifbar. Ja, sie hatte, wann immer sie an ihn dachte, das Gefühl, einen Fisch in der Hand zu haben. Irgendwie glitschig und ja, auch eklig.

 

So ihre Gedanken, als sie nach Haus lief. Die Schuhe schwappten derweil voll des Wassers und gaben bei jedem ihrer Schritte ein seltsam quietschendes Geräusch von sich. Auch fror sie ganz fürchterlich, zumal der noch immer feucht-kühle Wind sie nun teilweise von der Seite traf. Zwar brachte er frische Luft mit sich, doch bescherte er ihr auch eine Gänsehaut, sodass sie leicht mit den Zähnen zu klappern begann und sich dazu durchrang, das letzte Stück zu ihrer Heimstatt zu joggen. Und seltsamerweise fiel ihr das recht leicht. Jedenfalls spürte sie daheim weder ein Seitenstechen noch den Drang, husten zu müssen. Und da sie Percy bereits auf der Treppe erwartete, schob sich auch ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie nahm ihn hoch und sah sich mit ihm auf dem Arm noch einmal um. Wieder ergriff sie der Anblick der Weite. Und obwohl der Himmel noch immer wolkenverhangen war, fühlte sie sich wiederum seltsam leicht, frei. Ja, sie hatte den Tag genossen, irgendwie, auch wenn sie dieser komische Kauz doch recht verwirrt hatte.

 

Die warme Dusche war eine Erlösung und sie hörte sich nicht nur einmal seufzen. Und auch wenn sie etwas gegen Wasserverschwendung hatte, blieb sie solange unter dem Wasserstrahl, bis sie sich vollkommen aufgewärmt hatte – und den Rest bescherte ihr ein warmer Tee nebst einer Suppe, die sie sich, da doch recht müde und im Grunde satt, zubereitet hatte. Percy blieb bei ihr, auch als sie wiederum die Kerze anzündete und das übrige Licht in der Wohnung löschte, um sich beim Anblick der Flamme zu reinigen, wie sie es inzwischen nannte.

 

Der nächste Tag ließ sich ebenso an, wie der vorangegangene geendet hatte – wolkenverhangen, kühl, jedoch versprach er wenigstens trocken zu bleiben. Und so nahm sie rasch ihr Frühstück ein, begrüßte Percy, der an ihrer Tür gestanden hatte, besuchte kurz den Halligkaufmann, um sich für die kommenden Tage einzudecken, nahm auch ein Leckerli für ihren Rotschopf mit, ging wieder nach Haus, räumte ihren Vorratsschrank ein, verfütterte das Leckerli und besah sich den Buddelbreef. An diesem Abend sollte es neben einer musikalisch untermalten Multivisionsshow über das Halligleben auch wieder Bernsteinschleifen geben. Sie überlegte nicht lang und fand, dass sich beide Veranstaltungen lohnten. Sie fanden am Abend statt – Zeit genug also, um morgens einen Spaziergang zu machen, wenn auch einen kleinen, aber sie brauchte die frische Luft, die Freiheit, den Wind, der ihr ins Haar fuhr und sie an Ekke Nekkepenn erinnerte. Ja, dieser Sagengestalt war sie zum ersten Mal an der am westlichsten gelegenen Warft in Form einer Holzstatue begegnet. Sie hatte den Namen gelesen und nicht verstanden: was sollte das darstellen? Erst später erfuhr sie, dass es sich eben dem Volksglauben nach um eine Gestalt handelte, die bisweilen in Wind und Sturm gekleidet übers Land zog und den Menschen auf den Halligen und Inseln tröstliche und kraftgebende Worte ins Ohr flüsterte. Diesen Gedanken fand sie schön und sie beschloss, diesen kleinen Kerl in Gedanken einfach mitzunehmen, wenn sie die Hallig wieder verlassen musste. Doch noch war sie hier, drehte sich dem Wind entgegen und ließ sich einfach zausen. Sie schloss auch die Augen, breitete die Arme aus und neigte sich dem Wind entgegen – und er hielt kräftig dagegen. Ein wundervolles Gefühl war das. Mit Worten kaum zu beschreiben und so schwieg sie gedanklich einfach. Und dieses Schweigen fühlte sich ebenso gut an. Der Wind durchdrang sie förmlich, blies alles Lästige aus ihr heraus und ließ sie sogleich noch viel ruhiger werden. Ruhiger, besonnener und im Hier und Jetzt seiend. Und schon zog sie ihre Schuhe aus. Obwohl sie die Kälte spürte, wusste sie doch auch das weiche Wollgras an ihren Sohlen. Und das ganz bewusst, weil sie sich darauf konzentrierte. Ja, sie tat einen Schritt und spürte das Wollgras, so weich, so fluffig, so schmeichelnd. Einfach schön. Und da ihr das nicht genügte, ging sie einige Schritte, während sie die Augen wieder schloss. Hier lief sie ja nicht Gefahr, irgendjemanden anzurempeln – hier konnte sie einfach sein.

 

Am Abend dann bereitete sie sich ein kleines Mahl zu, küsste Percy auf den Kopf und machte sich dann für Multivisionsshow zurecht. Es sollte ein Lichtbildervortrag über das Halligleben gestern und heute sein. Sie war gespannt darauf, Neues zu erfahren und Anregungen zu erhalten. Und die erhielt sie auch – reichlich, nicht zuletzt deswegen, weil der Veranstalter meinte, dass er zwar seine Bilder zeigen würde, jedoch auf die musikalische Untermalung aus der Konserve verzichten wolle zu Gunsten eines, bereits seit Jahren immer wieder auf die Hallig kommenden Geigers, der bereits vor Jahren ein eigenes kleines Programm zur Untermalung der Bilder ausgearbeitet habe.

 

Sie konnte nicht sagen, dass sie diese Worte sehr ergriffen hätten, doch dagegen, dass ihr Herz einige Takte schneller schlug, konnte sie sich nicht wehren. Und auch nicht dagegen, dass sich ein seltsamer Druck in ihr aufbaute, als er mit Geige und Bogen in der Hand neben den Veranstalter trat, den Applaus abwartete, um sich dann verneigend als Gottfried-Jakob Praetorius vorzustellen und sogleich zu konstatieren, dass er mitnichten Geiger sei, ja nicht einmal Musiker – gleichwohl jahrelang Korrepetitor an der Akademie der Künste in Berlin gewesen. Und das betone er in voller Demut der Kunst gegenüber, die er längst nicht zu beherrschen meine. Man solle also Nachsicht mit ihm üben, wenn ihm der eine oder andere Ton misslinge. Ihr blieb förmlich das Herz im Leibe stehen … - und das nicht, weil sie um seine Kunst wusste, sondern weil, weil … Und, als er sich nochmals verneigte und dabei seinen Blick über die Zuschauermenge gleiten ließ und er bei ihr innehielt, ja, sie förmlich zu fixieren begann, da wäre sie am liebsten aufgestanden und gegangen. 

Nur mit Mühe konnte sie den Drang, sich zu entfernen, unterdrücken, wandte den Blick ab und sagte sich, dass sie eigenes des Bildervortrags gekommen sei, doch da hörte sie ihn sagen: „Es ist mir ein großes Vergnügen, heute, hier spielen zu dürfen.“ Wieder gab’s Applaus von allen Seiten. „Allerdings“, fuhr er fort, „muss ich gestehen, dass es mir darüber hinaus auch eine persönliche Freude ist, eine ganz bestimmte Frau unter den Gästen dieses Vortrags zu wissen.“

 

Noch während er sprach, spürte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog, ihr Herz zu rasen begann und sie rot zu werden drohte. Noch dazu wusste sie seinen Blick auf sich gerichtet. Sie selbst senkte den ihren und sah auf ihre sich verknotenden Hände. Warum?, schoss es ihr durch den Kopf und augenblicklich begann sie zu schwitzen – in letzter Zeit keine Seltenheit, wenn sie sehr erregt war oder sich in stickigen Räumen aufhielt. Manchmal überkam es sie auch einfach so. Dann stand sie sprichwörtlich unter Wasser. Jede Frau machte das ab einem bestimmten Alter durch, die eine früher, die andere später. Sie versuchte sich darauf einzustellen, so gut sie eben konnte. Lästig war es dennoch, wenn sie beispielsweise vor der Klasse stand, gerade dabei war, etwas zu erklären und dann diese aufsteigende Hitze spürte. Dann musste sie sich sehr stark zusammennehmen, um nicht einfach hinauszugehen. Eine Freundin, selber Lehrerin, hatte ihr geraten, sich einige Minuten lang ans geöffnete Fenster zu stellen. Manchmal half das tatsächlich, später in den Pausen, fühlte sie sich jedoch trotzdem wie durchs Wasser gezogen und hatte den Wunsch, die Kleidung zu wechseln, denn sie schwitzte, schwitzte, schwitzte. Ebenso wie hier und jetzt, da sie im Festsaal des Hallighus’ saß. Nicht besser wurde es, als er an ihr vorbei, nach hinten zu seinem Notenständer ging und sie wieder seinen Blick auf sich gerichtet wusste, wenn auch nur für einen Moment. Ihr schien es, als nickte er ihr lächelnd zu. Sie zwang sich dazu, nicht nach hinten zu sehen.

 

Was sie so plötzlich getroffen hatte, wusste sie nicht. War es sein doch recht selbstgefälliges Auftreten gewesen, die Betonung, im Grunde kein Geiger zu sein? Was wollte er damit erreichen? Dass ihm die Menschen nur umso mehr zujubelten, nachdem sie Zeugen seiner Kunst geworden waren? War es das? Und war ihr sein Auftreten nicht einfach nur peinlich gewesen? Hatte sie sich sozusagen fremdgeschämt? Da ihr dieser Gedanke gut einging, klammerte sie sich an ihn. Ja, genau, das war es. Sie hatte sich wieder einmal an seinem seltsamen Verhalten gestoßen.

 

Es galt indes, dass sie sich in jeder anderen Situation über diese außergewöhnliche Darbietung gefreut hätte, die ja geradezu eine Überraschung war. Denn, wo gab es das schon, dass ein Musiker eigens zur Untermalung von Impressionen geladen war? Gut, vielleicht bei der Eröffnung einer Vernissage, aber doch nicht zu einem einfachen Lichtbildervortrag. Aber da er auf der Hallig bereits bekannt war, bot sich das wohl einfach an, ihn, den falschen Geiger, auftreten zu lassen.

 

Sie starrte noch immer auf ihre Hände und fragte sich wieder und wieder, was sie plötzlich gepackt hatte. Warum die Heftigkeit der Reaktion? Es gab im Grunde keine Veranlassung dazu. Außer, dass er anwesend war und sie sich an seinem Verhalten stieß, das, wenn man einmal von all den gestanzten Phrasen, die er geprägt hatte, absah, im Grunde nur seine Großmäuligkeit und Selbstverliebtheit bezeugte. In der Schule hatte sie es überdies tagtäglich mit solchen Kindern zu tun. Da waren die Lauten, die, die immer nach vorne drängten und ihr Wissen preisgeben mussten. Das Ich, ich ich eines Christoph hatte sie ebenso im Ohr wie das ständige: Frau Laux, ich weiß es! einer Hannah. Doch dieser Gruppe gehörten auch jene Schüler an, die sich dem Schein nach stets zurückhielten und ein äußerst bescheidenes Wesen an den Tag legten. Kinder, die fast unsichtbar waren und ihr Wissen stets herunterspielten, gar verheimlichten, um sich dann, wenn es Zeit war, als die Opfer jener hinzustellen, die ihnen in Lautstärke überlegen waren. Gerade diese Kinder besaßen ein weitaus größeres manipulatives Potential als andere, weil sie aus einer Art defensiver Haltung heraus letztlich äußerst offensiv agierten. Sie besaß mindestens zwei kleine selbst ernannte Opfer in der Klasse, denen sie nicht nur einmal ein: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß, an den Kopf knallen wollte und es dann doch nur in Gedanken tat. Denn dieses, von Golda Meir stammende Wort, passte ihrem Empfinden nach perfekt, gleichwohl es ursprünglich eher eine selbstironische Betrachtung der Juden war, à la: Ihr müsst uns nicht klein machen, das schaffen wir schon ganz allein – und auch viel besser und zeigen euch damit, dass wir gewitzter sind als ihr. Doch besaß dieses Wort eben auch eine Mehrdeutigkeit, die jene kleinen Opfer und Menschen einschloss, die, um Aufmerksamkeit zu erhalten, dazu neigten, sich selber möglichst klein zu machen, indem sie Bescheidenheit und Demut heuchelten, hinter denen sich jedoch ein gerüttet Maß an Eigenliebe und Selbstvertrauen vielleicht sogar Selbstüberschätzung verbarg. Insofern galt es ihr als Möglichkeit, sich zu beruhigen, wenn sie von diesen um Anerkennung heischenden Kindern genervt und gestresst in die Pause ging. Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß. Und so begann sie es auch hier im Festsaal des Hallighus’ zu murmeln – immer und immer wieder. Nur, dass dieser Gottfried-Jakob Praetorius tatsächlich ein Großer war. Er hatte am letzten Sonntag bezaubernd gespielt – und so konnte sie es nicht verhindern, dass ihr Herz wieder schneller zu schlagen begann, als sie erste leise klopfende Töne in ihrem Rücken vernahm, jedoch sogleich wissend, dass er sein Instrument nur stimmte. Aber beinahe hätte sie es hingerissen und sie hätte sich umgewandt, um ihm bei seinem Werk zuzusehen, doch im letzten Moment hielt sie der Veranstalter davon ab, denn der löschte das Licht im Saal. Und augenblicklich fühlte sie sich etwas entspannter. Und sie holte tief Luft.

 

Die Bildershow begann und mit ihr das Geigenspiel – und sie konnte nicht anders, als sich einzugestehen, dass es diese leicht schwingenden, leicht hüpfenden Töne waren, die ihr das erste Bild, das einen Teil des Sommerdeichs im Frühling zeigte, so lebendig werden ließ, dass sie das weiche Wollgras tatsächlich unter den Fußsohlen zu spüren meinte. Und während sie in Gedanken über den Sommerdeich ging, war ihr zeitweilig so, als spielten zwei Geigen in ihrem Rücken, denn schon schien sich wieder ein sachtes Schwingen mit ebenso leichten, fast schüchtern anmutenden Hüpfern zu überlagern. Und als sie die Augen schloss, sah sie sich tatsächlich für Momente mit ausgebreiteten Armen tanzen, indem sie Schwingung und Hüpfer gedanklich nachzubilden versuchte. Gar nicht einfach – und doch … Ihr Herz raste. Sie ließ es zu, lauschte weiter auf diese scheinbare Zweistimmigkeit, die plötzlich in einen Dialog überzugehen schien. Hier eine recht tiefe, krächzende Stimme, dort eine hohe, leise fiepend, die sich jedoch in einem schrillen Schrei ergehen konnte und die tiefe gleichsam mit sich fortriss. Kein Zweifel, die Diskussion artete in einen Machtkampf aus. Und so als nähme sie selbst an diesem Schauspiel teil, ballte sie die Hände zu Fäusten und presste sie sich gegen den Mund. Auch meinte sie dann die Peitschenhiebe zu spüren, während er, das ahnte sie, den Bogen auf die Seiten niedergehen ließ. Sie holte wieder tief Luft, nahm sich zusammen und öffnete die Augen: zu sehen war eine Sturmflut, die die Hallig vollkommen in ihrem Griff zu haben schien. Die Wassermassen schlugen wütend an den Deich und jagten in Fontänen über ihn hinweg auf die Fennen. Und er, in ihrem Rücken, schlug dazu auf seine Geige ein, drosch förmlich auf die Saiten, so sehr, dass sie meinte, sie müssten unter der Belastung reißen. Auch hörte sie den Schmerz des Instrumentes, das körperlich so gepeinigt, ihm dennoch ergeben diente. Ihr Herz raste, raste so sehr, dass sie nach Luft schnappen musste. Und just in diesem Moment, da sie es nicht mehr auszuhalten meinte, wandte sie sich um. Fiebrig und vollkommen verschwitzt erwartete sie ihn rasend zu sehen, oder sich wenigstens in zackigen, abgehackten Bewegungen ergehend, doch er stand ganz still da und hielt, sie konnte es aufgrund des kleinen Lichts an seinem Notenständer erkennen, die Augen geschlossen, während er seinen Bogen noch einmal auf die wehrlosen Saiten niederfahren ließ und dann von seinem Instrument abließ, die Augen öffnete und sich, heftig atmend mit der, den Bogen haltenden Hand über die Stirn fuhr. Er war erregt, kein Zweifel, erregt, ebenso wie sie. Und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Sie fröstelte sogleich und wollte sich schon wieder umwenden, als er wieder ansetzte und den Bogen leicht, fast zärtlich auf die Seiten niedergleiten ließ, um ganz sacht über sie zu streichen, so als wolle er für die erlittene Pein um Verzeihung bitten.

 

Das nächste Bild zeigte die Kirchwarft bei Sonnenuntergang. Weich waren die Klänge, die derweil an ihr Ohr drangen und sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und konnte sich dazu bringen, etwas ruhiger zu werden. Sie versuchte sich vollkommen, auf dieses Bild zu konzentrieren: Bäume, Fennen, das Pastorat, das der Kirche vorgelagert war, erschienen dunkel, während sich die Strahlen der Sonne im Hintergrund golden auf den Priel ergossen – und dem Ganzen ein beinahe irreales Flair verliehen.

 

„Wunderbar“, hörte sie sich plötzlich murmeln und bemerkte augenblicklich eine Regung neben sich. Sie wandte sich zur Seite und wurde von einem Nicken ihres Nachbarn empfangen. „Tatsächlich wunderbar“, flüsterte dieser und deute kurz nach hinten, so als wolle er seiner Äußerung zusätzlich Gewicht verleihen.

 

„Aber die Bilder sind auch wundervoll“, beeilte sie sich zu flüstern.

 

„Beides“, bestätigte ihr Nachbar und die neben ihm sitzende Dame, wohl seine Ehefrau, neigte sich etwas vor und nickte. „Ich bewundere solche Menschen“, flüsterte sie.

 

Lene nickte ebenfalls, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte sich wieder auf die Bilder zu konzentrieren – und weniger auf die Musik, denn die, so fürchtete sie, löste in ihr Emotionen aus, derer sie kaum frau werden konnte. Vor allem schwitzte sie noch immer.

 

Am Ende der Veranstaltung erhob sie sich – kaum, dass der Applaus verklungen war – unversehens von ihrem Platz. Sie bemerkte, dass zahlreiche Menschen nach vorn zur Bühne eilten, wo der Veranstalter nun zusammen mit diesem Gottfried-Jakob Praetorius stand, um dankende Worte, aber auch Lobeshymnen zu empfangen. Da sah sie ihre Chance gekommen, den Raum so schnell wie möglich zu verlassen. Doch als sie gerade an der Tür war und sich bereits in Sicherheit wähnte, klang ein Ruf an ihr Ohr: „Helena!“ Sie zuckte augenblicklich zusammen, wandte sich jedoch nicht um. „Helena, warten Sie doch!“ Wieder durchzuckte es sie und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Noch dazu stand ihr der Schweiß noch immer auf Stirn und Nase. Sie selbst fühlte sich wie aus dem Wasser gezogen. „Helena!“

 

Sie eilte in den Gang hinaus und die Treppe hinauf. Mochten die Leute, die plötzlich in ihre Richtung gesehen hatten, von ihr halten, was immer sie wollten. Sie jedenfalls wollte nur weg – und das so schnell wie möglich. Doch wieder erklang dieses Helena, diesmal dicht an ihrem Ohr und dann spürte sie eine Berührung an der Schulter. Einem inneren Impuls folgend drehte sie sich nun doch um und sah ihm ins ebenfalls gerötete Gesicht. Seine Augen, das konnte sie überdies erkennen, waren geweitet und besaßen wohl einen leicht feuchten Schimmer. Dazu war ihm eine Strähne in die Stirn gefallen.

 

„Helena“, wiederholte er. „Es ist schön, dass Sie gekommen sind.“

 

„Warum nennen Sie mich Helena?“, stieß sie hervor. „Ich heiße Lene.“

 

„Wie? Aber das stimmt doch gar nicht. Sie heißen Helena“, erwiderte er umgehend und kam ihr näher, ehe er flüsterte: „Und wissen Sie, ich mag diesen Namen. Sehr sogar.“

 

„Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich …“

 

„Würden Sie mir die Freude machen, Sie zum Abendessen einladen zu dürfen?“, unterbrach er sie hastig. Und sie erkannte auf seiner Nase und Oberlippe kleine Schweißperlen. „Ich würde Ihnen gerne danken.“

 

Sie entfernte sich einen Schritt von ihm, schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe bereits gegessen und jetzt würde ich gerne ...“

 

„Das ist sehr schade“, unterbrach er sie neuerlich, kam ihr wiederum näher, berührte sie am Oberarm, neigte sich leicht zu ihr hinab und sagte leise: „Sie müssen wissen, dass ich heute Abend nur für Sie gespielt habe.“

 

Sie drehte sich auf dem Absatz um.

 

„Helena …“

 

Erst als sie sich draußen in der sternklaren Nacht wusste, tief Luft holte und dann den Weg zu ihrer Ferienwohnung einschlug, eilte, ja raste, löste sich die Spannung etwas von ihr, machte jedoch einem Gefühl der Leere Platz, das sie seit langem überwunden geglaubt hatte. 

Sie hatte genau zwei Möglichkeiten: entweder versuchte sie sich daheim bei einer heißen Tasse Tee zu beruhigen und sah dabei wieder in die Flamme der Kerze oder sie machte kehrt und ging hinaus auf die Fennen, um sich dort durch den Blick in die Sterne abzulenken. Sie spürte, dass sich ihr Magen zusammenzog und sich der Herzschlag wieder beschleunigte – kein Zweifel, ihr Blutdruck stieg. Sie selbst fühlte sich fürchterlich: müde, abgeschlagen, doch gleichzeitig so unruhig, zapplig, nicht recht bei sich. Der Abend war ihr gar nicht gut bekommen. Dass sie allerdings in letzter Zeit ziemlich reizbar war und auch bei kleinsten Dingen ausflippte, war wohl auch so eine Sache, durch die viele Frauen ab einem gewissen Alter durchmussten. Und vielleicht lag ihre jetzige Erregung tatsächlich daran? Denn früher hätte sie wohl gelassener reagiert, wenn ihr so etwas zugestoßen wäre wie heute Abend. Nun aber hatte sie sich während dieser Veranstaltung emotional verausgabt, hatte sogar einmal mit Tränen zu kämpfen gehabt. Alles so Sachen. Und dazu schwitzte sie noch immer, zitterte gleichzeitig und meinte, tatsächlich in ihre Ferienwohnung gegen zu müssen, doch schon bei dem Gedanken daran, dann allein zu sein, überkam sie so etwas wie der Anflug einer Panikattacke. Sie hatte mit der Heftigkeit dieses Ausbruchs nicht gerechnet und musste sich erst einmal an die Hauswand lehnen, Luft holen und Percy, der vorbeikam, auf den Arm nehmen, um ihn einen Moment lang an sich zu drücken, ehe er wieder hinunterwollte. Nein, sie konnte nicht in ihre Wohnung. Noch nicht einmal die Stufen schaffte sie hinauf. Sie wollte – sie musste wieder umkehren und, auch wenn sie noch immer fror, auf die Fennen hinaus, um sich wieder zu finden. Über ihr war der Sternhimmel, so klar, so deutlich, allerdings sah sie nur einige Male hinauf. Sie konnte nicht – oder zumindest war es ihr unmöglich, sich auf diese unzählig vielen leuchtenden Punkte zu konzentrieren. Auch, dass die Milchstraße heute in einer Intensität über ihr erschienen war, nahm sie vorerst nur am Rande wahr. Indes vergrub sie die Hände in den Taschen ihrer Jacke, denn sie zitterte am ganzen Körper – auch das eine in ihrer Heftigkeit zuvor nicht gekannte Reaktion. Petra, ihre Kollegin und Freundin, hatte ihr gesagt, dass man sich zeitweilig wie ein in die Schleuder gestopfter Teddy vorkommen würde, wenn man diese Schwitz-Frost-Attacken hätte. Und bisweilen auch sonst, eben wie in der Pubertät. Sie hatte dazu gelächelt und mit den Schultern gezuckt. Ja, Petra hatte bisweilen ein Gemüt wie ein Schaukelpferd. Denn, dass sie auch etwas fülliger geworden war, störte sie wohl ebenso wenig, wie die Tatsache, dass auch ihr ab und zu die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand. Gereizt war sie jedoch nie, auch schlief sie nach eigenen Angaben nicht schlechter als früher. Nur Sport, den könnte sie wieder treiben, doch, tja, wer hatte schon Zeit dazu?

 

Aber daran wollte Lene nun nicht denken, auch nicht daran, dass dieser Abend … mein Gott! Und nun sah sie doch in den von funkelnden Punkten übersäten Himmel, holte noch einmal tief Luft und lenkte ihre Schritte dann hinaus auf eine der Fennen. Der Abend war … Und plötzlich bestürmten sie Fragen: Woher hatte er ihren Namen? Aus dem Internet? Sicher. Woher denn sonst? Also hatte er nach ihr gesucht? Und war auf der Homepage ihrer Schule gelandet? Warum? Warum hatte er das getan? Als Revanche für ihr doch sehr grenzwertiges Verhalten von vor einer Woche? Ja? Oder? Und seine Bemerkung, ganz besonders glücklich zu sein, sie unter den Gästen zu wissen … Und dann dieses Helena … Gerade das hatte sie sehr getroffen, denn diesen Namen, den hatte sie vor fünf Jahren abgelegt. Sie hieß jetzt Lene, einfach nur Lene.

 

Nein, es war zu viel für sie und so versuchte sie ihre Gedanken wieder einzufangen und ging weiter, beschleunigte gar ihre Schritte, um dann doch unverhofft stehenzubleiben. Es nützte ja nichts, vor allem wegzurennen. Auch ihr Therapeut hatte ihr dazu geraten, ab und an innezuhalten, vor allem dann, wenn der Drang des Wegrennens und Flüchtens zu groß wurde. Dem einfach standzuhalten – es wenigstens zu versuchen, auch wenn es nur wenige Momente waren. Schon allein das war ein Erfolg, der ihr ein gutes Gefühl bescheren sollte. Sie wollte sich ja beruhigen, irgendwo Halt finden und nun war es eben der Sternhimmel. Und über ihrem Kopf zog die Milchstraße ihr weißes Band, dessen Dreidimensionalität sie beinahe zu sehen glaubte. Es war einfach wunderbar. So unvorstellbar. Einzigartig. Ihr fehlten die Worte. Und so blieb sie stehen und sah weiter hinauf in diese schier unendliche Schar an Sternen. Wie lang, das wusste sie nicht zu sagen. Doch plötzlich meinte sie etwas zu hören, feine Töne, die sie, dem Himmelszelt vollkommen ergeben, von dort kommend vermutete. Es schien ihr alles möglich zu sein, sogar die seltsamsten Dinge. Warum sollten die Sterne, die so herrlich funkelten, nicht auch singen und klingen können? Na, warum nicht in einem riesigen Orchester musizieren? Und da fiel ihr Ronja ein, eine 9jährige, die zwei Klassen übersprungen hatte. Sie war in Lenes Klasse gelandet und hatte ihr einmal erzählte, dass sie die Sterne reden hören könnte. Was sie denn sagten, wollte Lene daraufhin wissen und die Kleine hatte in vollstem Ernst geantwortet: „Dass sie mich in einen Raum jenseits allen Seins und Verstehens mitnehmen würden.“ Lene war geschockt und hatte lange überlegt, wie sie damit umgehen sollte und sich schließlich dafür entschieden, die Eltern, beide Wissenschaftler, zu kontaktieren. Diese hatten jedoch die für ein Kind dieses Alters befremdlich anmutende Formulierung abgetan. Ronja sei schon immer so gewesen, so phantasievoll. Und sie wolle später sogar Astrophysik studieren – das wüsste sie schon seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie als Lehrerin müsse sich keine Gedanken machen. Ronja sei speziell, würde manchmal auch anecken, wäre jedoch wohl ein leicht zu nehmendes Kind – ganz im Gegensatz zu gewissen anderen Herrschaften in der Klasse, die, das hatte Lene zugeben müssen, nur allzu sehr den Unterricht störten. Ronja fiel tatsächlich nur wenig auf, doch Lene kam lange nicht über diesen seltsamen Satz hinweg: ein Raum jenseits allen Seins und Verstehens – dachte dieses Kind tatsächlich schon an den Tod? Beängstigend. Sie hatte lange gebraucht, um über dieses kindliche Geständnis hinwegzukommen und sich auch dabei ertappt, wie sie Ronja bisweilen zu ignorieren versuchte. Im Nachhinein tat ihr das leid, sehr sogar, denn Ronja konnte ja nichts für ihre Gedanken. Sie hatte sie eben … Und wenn die Sterne zu ihr sprachen …

 

Auch zu Lene sprachen sie nun, jetzt, da sie sie so unmittelbar über sich wusste. Aber sie wollten sie ganz bestimmt nicht in diesen Raum jenseits allen Seins und Verstehens mitnehmen, sondern schienen sie mit ihren hunderten, gar tausenden von zarten Stimmen trösten zu wollen. Und schließlich vernahm sie eben auch eine feine Melodie, der sie sich jedoch erst vollkommen bewusstwurde, als sie sich plötzlich mit der Frage konfrontiert sah, ob die Sterne tatsächlich Bach spielen könnten? Konnten sie? Für Ronja wahrscheinlich, ja, aber sie war nicht Ronja, sie war … und unwillkürlich wandte sie sich vom Himmel ab und ihr Blick blieb an einer schlanken Gestalt hängen, die wenige Meter von ihr entfernt auf der Fenne stand – vollkommen in Dunkelheit gehüllt, so, wie sie selbst. Aber sie konnte Geige und Bogen deutlich erkennen. Und obwohl sie der soeben erloschenen Aufregung wieder zu erliegen drohte, zwang sie sich, diesen klaren, reinen Tönen zu lauschen und dazu wieder in den Himmel hinauf zu sehen, so als wäre nichts. Und es war ja auch … nichts. Und nach einer Weile, die ihr gar nicht einmal als so lang erschien, war’s ihr so, als wäre dieses gesamte Sternzelt ein Abbild dieser so wundervollen Bach’schen Musik, die sich dieser einen Geige Ton um Ton entwand, um in den Himmel aufzusteigen und von dort, tausendfach reflektiert, wieder zur Erde hinab zu kommen. Tränen traten ihr in die Augen und sie ließ sie einfach laufen. 

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BerndMoosecker Am 06.08.2020 um 19:00 Uhr
Hallo Lehrbuchruine,

Deine Romanstory finde ich spannend und die ungewöhnlichen Gedankengänge Deiner Protagonisten steigern die Spannung darauf, wie es am Ende ausgeht.

Trotzdem habe ich recht lange gebraucht, bis ich das ganze Werk gelesen habe. Der Grund ist, dass ich Deine Satzkonstruktionen sehr kompliziert finde. Manchen Satz habe ich mehrmals gelesen, um ihn zu verstehen. Das ist jetzt mein ganz persönlicher Eindruck - andere empfinden das vielleicht ganz anders. Diese Anmerkung schmälert aber in keiner Weise, dass ich ausdrücken möchte, dass ich die Geschichte mit Freude gelesen habe.

Gruß Bernd
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Klatschkopie (Autor)Am 13.08.2020 um 10:04 Uhr
Hi Bernd,

vielen, vielen Dank für deine Rückmeldung. ;-) Ja, ich weiss, dass einige Sätze sehr verschachtelt sind, und ich denke, dass ich die auch bei einer nochmaligen Überarbeitung herausholen könnte. Danke, dass du dennoch drangeblieben bist, dass du dir die Mühe gemacht hast, es zu lesen.

LG
LBR

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Kapitel: 10
Sätze: 964
Wörter: 17.437
Zeichen: 102.059

Kurzbeschreibung

Er ist 55 und spielt wunderbar Geige, scheint aber autistische Züge zu besitzen, sie ist 45, sucht die Einsamkeit und knabbert an unverdauten Ängsten. Zum ersten Mal laufen sie sich während eines Hallig-Urlaubs über den Weg, kommen sich näher, nur, um dann festzustellen, dass sie zwei vollkommen verschiedenen Weltanschauungen anhängen. Vor allem sie stößt sich immer wieder daran, wird nachdenklich, will letztlich die Konsequenzen ziehen. Wird sie es schaffen? (slow burn)

Kategorisierung

Diese Story wird neben Nachdenkliches auch in den Genres Liebe, Drama, Entwicklung, Alltag und gelistet.