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Maji - Dunkle Zeiten

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30.06.24 09:54
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Ein gewöhnlicher Mensch wäre ertrunken.
Sie erwachte, weil Wasser ihr in Nase und Mund lief. Hustend schlug sie die Augen auf.
Um sie herum tobte das Meer. Aus schwarzem Himmel fielen schwere Tropfen. Sie trommelten auf ihren Kopf, schäumten das Salzwasser auf. Alles Licht war hinter Wolkengebirgen verschwunden, alle Wärme von Wellentälern verschluckt. Unmöglich, die Tageszeit auszumachen, doch die Regenstürme setzten in dieser Jahreszeit gewöhnlich am späten Nachmittag ein. Wie dumm von ihr, im Meer einzuschlafen.
Die Natur bestrafte Dummheit. Sie geriet in Zorn, so wie jetzt, entfesselte ihre Kräfte. Sie peitschte das Meer auseinander, entfachte die Winde, lud die Luft auf.
Donner grollte über sie hinweg, Blitze zuckten über den Horizont. Kaltes Wasser hüllte sie ein. An Land hätte sie die Abkühlung als erfrischend empfunden nach den langen Stunden der Hitze, doch in der Nässe begann sie schnell zu frieren. Sie musste ans Ufer, bevor die Kälte ihre Gliedmaßen betäubte, Wirbel sie in die Tiefe sogen, ein Blitz in ihrer Nähe einschlug. Bevor sie sich in den wütenden Elementen verirrte.
Schon jetzt fiel es schwer, den Kopf oben zu halten. Die tanzenden Brecher verzerrten die Wirklichkeit, raubten die Sicht. Immer wieder schluckte und atmete sie Wasser.
Sie reckte den Kopf in den Nacken, trank das Regenwasser, um das Salz zu verdünnen, wandte ihn anschließend in alle Richtungen, die Arme ausgebreitet, um den Wogen standzuhalten. Der Strand war nicht zu sehen.
Ein gewöhnlicher Mensch wäre ertrunken. Spätestens jetzt. Orientierungslos auf dem Meer. Panik, Kälte und Erschöpfung würden ihn umbringen, Wellenberge ihn fortspülen, hinaus in die Weiten des Ozeans. Möglicherweise würde auch sie ertrinken. Die Natur bestrafte Nachlässigkeit.
Angst spürte sie nicht. Angst entstand, wenn man sich hilflos fühlte; Panik, wenn man sie nicht kontrollierte. Sie war kein gewöhnlicher Mensch. Das Wasser war Teil ihres Lebensraumes. Sie vertraute ihrem Verstand, ihren Instinkten.
Hustend und spuckend befreite sie ihre Atemwege von Wasserresten, saugte Luft in ihre Lungen, tauchte zum Meeresgrund.
Auch hier unten tobte der Sturm, lautlos und gespenstisch. Wellenwirbel kreiselten über den Sand, Algen schwankten geistergleich. Sie hielt die Augen geöffnet, die Pupillen bis auf einen winzigen Punkt zusammengezogen, die Iriden verschwunden hinter einem Überzug, der ihr Sehvermögen auf Grautöne reduzierte.
Sie schwamm über den Grund, vermied es jedoch, ihn zu berühren, um nicht noch mehr Sand aufzuwirbeln. Ein gewöhnlicher Mensch wäre verloren gewesen in der stillen Dämmerung. Nach wenigen Minuten hätte er entkräftet auftauchen müssen, zurück in die aufgewühlte See. Sie glitt über den Meeresboden, verglich die Muster des Sandes, hielt Ausschau nach Quallen und Fischen, überprüfte das Schwingen der Meerespflanzen, die Öffnungen der Riesenmuscheln, den Bewuchs auf den Kalkformationen.
Die Schatten stoben von zwei Seiten auf sie zu. Ihr erster Gedanke war, sie zu rammen, doch dann sah sie langes Haar wie einen Schleier im Wasser schweben, entspannte sich, ließ sich in die Mitte nehmen.
Die beiden waren im Meer zu Hause. Ihre Arme gestikulierten, dass sie ihre Richtung korrigieren musste, nicht viel, nur wenige Meter. Sie folgte ihnen, ohne zu zögern. Sie flogen wie auf unsichtbaren Linien. Zielstrebig und ohne sichtbare Anstrengung trieben sie dem Strand zu, anders als sie, deren Lungen zu brennen begannen.
Als der Mangel an Sauerstoff überwältigend wurde, schoss sie durch die Wasseroberfläche, schlang regenschwangere Luft in sich. Noch immer konnte sie kein Ufer ausfindig machen, doch sie war nicht beunruhigt. Sie spürte das Wasser flacher werden.
Dann stieß sie erneut nach unten.
Sie langte als Letzte am Strand an, ließ sich auf das feuchte Sandbett spülen, blieb liegen, bis ihr Atem wieder regelmäßig ging. Ihre Begleiter saßen neben ihr, stumm, ohne Anzeichen von Erschöpfung.
Schließlich setzte sie sich auf, schüttelte Wasser aus Ohren und Haaren und blickte hinaus aufs Meer. „Wie habt ihr mich gefunden?“
„Wärst du im Wald gewesen, wärst du bei den ersten Vorboten des Unwetters zum Lager gekommen. Wir haben gewartet, dann haben wir uns gesorgt. Es blieb nur das Wasser.“ Gillok sprach ruhig, ohne Vorwürfe.
„Wie habt ihr mich inmitten des Meeres gefunden?“
„Ciycain wusste, wo sie suchen musste. Ich bin ihr gefolgt.“
Sie wandte sich an ihre Tochter. „Woher wusstest du, wo ich bin?“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Ich sehe es, wenn ich die Augen schließe.“
Syriakin erwiderte nichts, nickte nur zum Zeichen ihrer Dankbarkeit.
„Du warst weit draußen“, sagte Gillok. Er sprach eindringlicher als vorhin.
Sie wandte ihm den Kopf zu. Seine Augen glänzten trüb, anders als ihre, die bereits ihr dunkles Grün wieder angenommen hatten, wenngleich es noch matt schimmerte; bewölkt wie der Himmel über ihnen. „Ich war nicht auf der Flucht“, zerstreute sie seine Befürchtungen.
„Was ist geschehen?“
„Ich war in Gedanken.“
„So tief, dass du das Unwetter nicht herankommen sahst?“
Sie rollte sich auf die Füße. „Offenbar. Wo sind meine Stiefel?“
„Im Lager. Das gab uns einen weiteren Hinweis auf das Meer. Im Wald hättest du sie getragen.“
„Schlaukopf“, murmelte sie, mehr zu sich selbst, und ging zu den Steinen, die noch Sonnenglut gespeichert hatten. Der Schauer ließ bereits nach, so schnell, wie er über sie gekommen war. In Kürze würden Körper und Kleidung trocknen.
Gillok und Ciycain hockten sich links und rechts neben sie. Ciycain legte einen Arm auf ihr Knie, schmiegte sich an sie. „Ich wollte dich warnen, aber du warst schon weg.“
„Mir war heiß in der Mittagshitze. Ich brauchte Abkühlung.“
„Ich hatte Angst um dich.“
Sie strich dem Mädchen über das lange Haar. „Das musst du nicht. Ich kann auf mich aufpassen.“
„Du hättest ertrinken können“, mischte Gillok sich ein. „Du solltest nicht immer allein aufbrechen.“
„Ich werde in Zukunft sagen, wohin ich gehe“, versprach sie. „Nicht mehr so weit hinausschwimmen. - Das Wasser überlasse ich besser euch“, fügte sie hinzu und betrachtete die Finger ihrer Tochter, zwischen denen hauchdünne Schwimmhäute trockneten.
„Du warst heute nicht jagen“, sagte Gillok. „Ich werde Fische fangen. Nach Stürmen verbergen sie sich in Scharen bei den Korallen. Übernachten wir am Wasser?“
„Wenn ihr mögt“, versetzte sie und machte Anstalten, sich zu erheben.
Ciycain drückte sie zurück. „Ruhe dich aus. Ich hole unsere Sachen. Es ist nicht weit.“
„Ich muss mich nicht ausruhen.“
„Bitte. Du siehst müde aus.“
Sie setzte zu einer Entgegnung an, verstummte jedoch angesichts der flehenden Blicke ihrer Tochter. „Ich werde hier warten.“
Sie hielt Wort. Blieb auf den Steinen sitzen, sah Ciycain nach, die den Strand entlang rannte, beobachtete Gilloks Körper, der vom Wasser verschluckt wurde, streckte ihr Gesicht in die Sonne, die sich durch die Wolkenschichten schob und ihre Iriden in leuchtende Smaragde verwandelte. Sie spürte, wie angenehme Trägheit in ihre Glieder kroch, Müdigkeit sie einspann, ihr die Augen zufielen. Gleich darauf zuckte sie heftig zusammen, weil sie glaubte, dass das Wasser erneut über ihr zusammenschlug. Dann war das Gefühl vorbei und sie fand sich auf dem Stein wieder. An Land. Trocknend in der Sonne. Erwärmt von ihren Strahlen, die wie warme Finger über ihr Gesicht krabbelten.
Krabbelten?
Irritiert tastete sie nach ihrer rechten Gesichtshälfte. Mehr als zwei Jahre, und ihre eigene Wange kam ihr immer noch fremd vor, zerklüftet, taub unter Berührungen. Verwirrt blinzelte sie das Blut auf ihren Fingern an und schlagartig setzte die Erinnerung ein. Blut, das auf den Boden tropfte. Blut, das brannte. Das durchsetzt war mit schwarzem Geifer.
Zweieinhalb Jahre waren sie fort gewesen, nicht mehr als ein sachtes Pochen unter der Oberfläche. Der Riss war verheilt, hatte sich verschlossen, und mit ihm die Erinnerungen. Nun hatte er sich geöffnet und die Vergangenheit strömte heraus.
Sie sprang auf und rannte ans Meer. Es war noch aufgewühlt; ihr Spiegelbild ein Durcheinander aus Ringen und Kreisen. Sie schöpfte Wasser in ihr Gesicht, eine Handvoll nach der anderen, begrüßte das scharfe Brennen, mit dem das Salz die Wunde auswusch.
Allmählich ließ das Bluten nach, kam ihr Herz zur Ruhe. Doch sie wusste, dass die Vergangenheit sie eingeholt hatte, hier, eine ganze Welt entfernt, am äußersten Zipfel ihrer Insel, wo niemand sie finden würde, wenn sie nicht gefunden werden wollte. Die Erinnerungen hatten sie aufgespürt. Und sie ahnte, dass es noch nicht vorbei war, im Gegenteil. Es fing gerade erst an.
Renengu kinu. Dunkle Zeiten.

Mannero mochte der hässlichste Kerl unter der Sonne sein, aber er verstand sein Handwerk. Von der Matte aus beobachtete Jonoy den stämmigen Burschen, der sich mit den Blasebälgen abmühte. Manneros nackte Brust und sein haarloser Kopf glänzten vor Schweiß, obwohl es noch Morgen war. Auch ohne die sommerliche Hitze, die bald schon durch die offene Schmiede fegen würde, war der Raum aufgeheizt durch die essha.
„Mehr Luft. Die Kohle ist noch nicht heiß genug.“
„Ich weiß, Meister, Ihr sagt es mir jeden Tag.“ Manneros Ton blieb respektvoll und sein Vollmondgesicht strahlte freundlich weiter. Dennoch hörte Jonoy Verdruss aus den Worten und schalt sich selbst einen unverbesserlichen Knurrkopf.
„Verzeih einem alten Hornochsen. Diese Hitze bringt mich um den Verstand.“
„Ihr seid sie doch gewohnt“, erwiderte Mehlau, der mit einem Korb Holzkohle zwischen den Pfählen der offenen Wand hereintrat. Er ging gebückt, seiner schweren Last und ungewöhnlichen Körpergröße wegen.
Oi“, bestätigte Jonoy, sich die Hüfte reibend. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Hitze eines Schmiedefeuers und der Sonnenglut in dem heißesten Sommer seit Menschengedenken.“
„Ich weiß nicht“, entgegnete Mehlau, sich auf ein Bein knieend und den Korb vom Rücken stemmend. „Beides ist schweißtreibend. Ich sehe aus wie ein Tampeodon.“
Jonoy und Mannero blickten zu dem jüngeren Gesellen und lachten. Der Schweiß hatte Streifen über Mehlaus rußbedeckten Körper gezogen. Das lange Gesicht mit den tief liegenden Augen erinnerte tatsächlich an das scheue Steppentier. Die struppigen Haare, die sich hinter den Ohren wegrollten, verstärkten die Ähnlichkeit.
Mehlau schaufelte zwei Hände voll Holzkohle auf die Glut, die unter Manneros behutsamen Balgstößen hellrot aufflackerte. In wenigen Minuten würde das Feuer die erforderliche Temperatur erreicht haben. Gerade genug Zeit, um einen Krug Wasser zu trinken.
„Ist dies wirklich der heißeste Sommer aller Zeiten?“, fragte Mannero zwischen zwei durstigen Schlucken.
„Ich lebe noch nicht lang genug, um das zweifelsfrei zu bestätigen“, gab Jonoy augenzwinkernd zurück. „Auch wenn ich so aussehe und mich manchmal so fühle. Aber es ist ein verflucht heißer. Kaum auszuhalten. Wir werden heute erneut die Arbeit bis zum späten Nachmittag unterbrechen müssen.“
„Fein. Zeit zum Schwimmen“, freute sich Mehlau.
Mannero wischte sich Wasser vom Mund. „Das ist alles, woran du denkst?“
„Nein. Aber der Gedanke an ein kaltes Bad ist verführerisch.“
„Was ist mit unserer Arbeit?“
Mehlau winkte ab. „Brandzeichen für die Jungtiere in Rottos Herde. Die Viecher laufen uns nicht weg.“
„Die Brandzeichen, zwei Sätze Hufeisen für Enols Pferde, ein Messer für die Hochzeit seines Sohnes, daneben Nägel und Gatterstäbe. Reichlich Arbeit.“
„Dann müssen die Nägel warten. Wir haben nur vier Hände.“
„Sechs“, entgegnete Mannero scharf mit einem Blick auf den alten Mann in der Hängematte.
„Du weißt so gut wie ich, dass der Meister…“
„Dass der Meister was?“, fragte Jonoy.
Mehlau zögerte, die Augen gesenkt unter Manneros ungehaltenem Blick.
„Nun sprich schon, Junge. Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen.“
„Dass Ihr nicht mehr schmiedet.“ Nun stand Trotz in Mehlaus Antlitz. Trotz und Mitleid.
Jonoy hasste Mitleid.
„Mehlau! Wie kannst du nur so undankbar sein!“, herrschte Mannero den Freund an. „Meister Jonoy hat uns alles beigebracht. Siehst du nicht, dass die Hüfte ihn schmerzt? Wie soll er den Hammer schwingen?“
Jonoy zuckte zusammen und nahm die Hand von der Hüfte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie noch immer dort lag. Bei allen Schmiedefeuern! Womöglich hatte er dazu ein klägliches Gesicht gezogen. Kein Wunder, dass Mannero ihn für einen Weichling hielt.
Mühsam hievte er sich aus der Hängematte. Sofort standen beide Gesellen an seiner Seite. Mannero reichte ihm die Hand, doch Jonoy wischte sie brummend beiseite und richtete sich vor Mehlau auf, der ihn um fast zwei Haupteslängen überragte. Der dürre Kerl schrumpfte in sich zusammen, als der weißbärtige Meister ihn fixierte, aber er wandte die Augen nicht ab.
Wohltuend, befand Jonoy im Stillen. Nicht so besorgt wie Mannero. Leider auch nicht so begabt.
„Du hast recht“, sagte er mit fester Stimme. „Ein Schmied, der nicht mehr schmiedet, ist kein Schmied mehr. Noch weniger darf er sich Meister nennen.“
Mehlaus Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Ihr wollt uns doch nicht entlassen? Nur wegen einer dummen Bemerkung von mir? Es tut mir leid. Natürlich habt auch Ihr zwei Hände, die nützlich sind.“
„Gleich redest du dich um Kopf und Kragen“, knurrte Jonoy. „Hör sofort auf! Und entschuldige dich nicht! Ich sagte, dass du völlig recht hast. Ich habe mich gehenlassen.“
„Ihr wart verwundet“, wandte Mannero sanft ein. „Schwer verletzt. Ihr habt Euch nicht gehenlassen. Ihr habt Euch erholt.“
„Ja, nun, vielleicht“, räumte Jonoy brummig ein. „Trotzdem: Damit muss Schluss sein. Ich kann wieder stehen und laufen. Krumm und schief zwar, aber immerhin. Es zwackt hier und zwickt da, doch welcher Mann meines Alters kennt das nicht? Ich brauche eine Aufgabe. Stillstand ist der Tod. Ich könnte mich genauso gut in ein Grab legen.“
„Was habt Ihr vor?“ Manneros graue Augen glitten über Jonoys gebeugte Gestalt. Er gab sich Mühe, den Zweifel aus seiner Miene herauszuhalten, aber Jonoy sah die gerümpfte Nase deutlich.
„Ich brauche eine Aufgabe“, wiederholte er und blickte in der Schmiede umher. „Vielleicht bediene ich den Blasebalg. Erledige kleinere Arbeiten.“
Mannero nickte zustimmend, doch Mehlau nahm die Lederkappe von seinem Kopf und kratzte sich an der rußigen Stirn. „Das scheint mir unziemlich. Diese Tätigkeiten sind eines Meisters unwürdig.“
„Alle Arbeiten in der Schmiede sind wichtig“, belehrte Jonoy den Jüngling mit den ascheverklebten Haaren. „Und du, lieber Mehlau, solltest langsam anspruchsvollere Dinge tun. Mache dich mit dem Feuer vertraut. Schmilz Metall! Bearbeite es! Schmiede! Du weißt längst, wie es geht! Mannero mag missmutig schauen, weil er auf das Vorrecht des Älteren pocht, aber das ist Unsinn. Alle Arbeiten zusammen ergeben ein gutes Stück Eisen.“
„Also entlasst Ihr uns nicht?“ Kleinlaut zog Mehlau die Kappe zurück auf den Kopf.
Jonoy hieb ihm lächelnd die Faust in den Bauch. „Im Gegenteil. Ab morgen geht es richtig zur Sache. Heute beugen wir uns der Hitze. Ich befehle Schwimmen am Mittag.“
Der Lehrling grinste. „Das trifft sich gut. Die Mädchen werden am Fluss sein. Ciana!“ Verzückt verdrehte er die Augen.
„Freie Zeit und Frauen“, grummelte Mannero. „Mehr hast du nicht in deinem dummen Schädel.“
„Von wegen dumm. Nur, weil du noch nie eine Frau angefasst hast. Und das bei deinen dicken Brüsten. Oh, ich vergaß deine Mutter und deine Schwestern. - Aua!“ Mehlau brüllte auf, als Manneros Pranke ihn in die Rippen traf. „Das war Spaß. Sei nicht so empfindlich.“
„Sei du nicht so empfindlich. War doch nur ein Streicheln.“
Die beiden maßen sich mit aufgebrachten Blicken. Jonoy humpelte zu ihnen, die Arme beruhigend erhoben. „Kinder“, setzte er an, aber er sollte seinen Satz nie beenden, denn in diesem Augenblick glitten vier Männer und eine Frau in die Schmiede, leise wie Schlangen und genauso tödlich, wie er sofort feststellte.
Sie trugen dunkelgraue Lederkleidung, die so eng an ihren Körpern anlag, dass sie wie eine zweite Haut wirkte. Ihre Gesichter waren mit Tüchern verhüllt. Die fünf traten von allen Seiten an ihn und die Gesellen heran, rasch, geschmeidig, ohne überflüssige Bewegungen. Mannero und Mehlau erhielten einen Stoß in die Kehle, gefolgt von einem Schlag auf den Hinterkopf. Sie kippten um, ohne auch nur ein Stöhnen von sich zu geben. Zwei der grauen Männer fingen sie auf, ließen sie lautlos zu Boden gleiten; eine beachtliche Leistung angesichts von Manneros Körpermasse und Mehlaus Größe. So beängstigend, dass Jonoy entsetzt die Augen schloss.
In diesem Moment bekam auch er einen Hieb in die Kehle, der ihm den Atem nahm. Während er nach Luft rang, traten zwei Männer hinter ihn und hielten ihn fest. Ihr Griff war eisern. Selbst früher, als die Muskeln in seinen Armen noch nicht geschrumpft waren, hätte er Mühe gehabt, sich aus einer solchen Klammer zu befreien.
Die Frau und ein weiterer Mann drängten ihn zurück an die Wand, an der die essha stand; die Kohle nunmehr schwimmend in den Flammen.
„Was wollt ihr?“, brachte er heraus.
Statt einer Antwort legte sich eine behandschuhte Faust um seinen Mund. Eine zweite drückte den Kehlkopf zusammen, bis seine Gedanken blubberten und fauchten wie die Holzkohle.
Hände rissen das Hemd entzwei und über die Schultern zurück, entblößten die weißbehaarte Brust.
„Narben“, raunte einer der Grauen unterdrückt. „Viele.“
Jonoy meinte, Respekt aus der Stimme herauszuhören. Die anderen sagten nichts. Ihre Augen blickten ohne jedes Gefühl.
Seine eigenen begannen zu tränen, als der Mann, der unmittelbar vor ihm stand, ein Messer aus dem Ärmel zog; schmal und biegsam wie sein Besitzer. Spitz und barbiermesserscharf, erkannte Jonoys geschultes Auge auf Anhieb. Ein hervorragender Schmiedemeister musste es gefertigt haben. Gewiss ein Meisterstück, eine Sonderanfertigung, unbezahlbar, unersetzlich, geraubt vermutlich von einem Höfischen.
Die Spitze senkte sich auf die Brust, bohrte sich mühelos in sein Fleisch. Er biss die Zähne zusammen, schnaufte durch die Nase. Ruhig bleiben, ermahnte er sich. Die Luft reicht nicht für Panik.
„Warte“, zischte die Frauenstimme. Der Mann hielt sofort inne und wandte sich zu ihr um. Die Frau wies mit dem Kinn auf die Haken neben dem Schlot, an denen verschiedene Werkzeuge hingen. „Der Stempel rechts.“
Jonoy stöhnte unter der Faust auf, während der Mann sein Messer wieder in den Ärmel schob und das Brandeisen von der Wand nahm.
„R“, sagte er leise.
„R“, wiederholte sie.
Jonoy schauderte. Er hatte genug Zeit, sich das Kommende in allen grausigen Einzelheiten auszumalen, während Rottos Brandeisen im Feuer zu glühen begann. Als das Eisen sich auf seine nackte Brust zubewegte, fing er an, verzweifelt mit den Beinen zu strampeln. Doch er zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Frau und drei Männer hielten ihn fest, dieweil der vierte sich zu ihm hinunterbeugte.
„Mehr Narben“, sagte er.
Jonoy wich vor dem bitteren Geruch, den der Mann ausströmte, zurück. Die Wand stoppte ihn. Dann senkte sich das glühende Eisen. Brusthaare kräuselten sich, als sie versengten, und seine Haut platzte auf, noch bevor das Metall sie zerbiss. Er schrie nicht lange. Der Schmerz war so gewaltig, dass er beinahe sofort das Bewusstsein verlor.


Kaltes Wasser spritzte ihn zurück ins Leben.
„Meister?“, hörte er eine angstvolle Stimme.
Er schlug die Augen auf und war erstaunt, dass sie noch immer tränten. Dann verschluckte er Wasser und bemerkte, dass er im Fluss lag. Er prustete und würgte. Starke Arme richteten ihn auf. Gleich darauf sah er in Mehlaus rehbraune Augen.
Der Geselle hatte einen Bluterguss am Hals, wo die Handkante ihn getroffen hatte. Er war klatschnass. Asche und Ruß liefen an Körper und Gesicht hinunter, bildeten schwarze Schlieren im seichten Flusswasser. Haare klebten in der Stirn, die Kappe trieb einige Meter neben ihnen am Ufer.
„Geht es ihm gut?“, ertönte Manneros dunklere Stimme. Jonoy hörte, wie er hinter ihm durch den Fluss watete und sich zu ihm hinunterbeugte.
„Er lebt“, antwortete Mehlau.
„Natürlich lebt er, Dummkopf“, gab Mannero barsch zurück. „Er war nur ohnmächtig.“
„Ich weiß“, murmelte der Jüngere, offensichtlich unter Schock stehend.
Mannero setzte sich neben ihnen in den Fluss. Sein nackter Oberkörper glänzte rot und rauchte. Auch er hatte einen Bluterguss am Hals. An den Armen entdeckte Jonoy frische Brandblasen und Striemen.
„Was ist passiert?“, ächzte er.
„Die Kerle haben die essha umgestoßen“, stieß Mannero aus. Seine Zähne mahlten wütend. „Die Glut hat die Schmiede in Brand gesetzt. Vorher haben sie die Werkzeuge ins Feuer geworfen. Einige haben sie mitgenommen. Sie sind verschwunden. Außer uns hat niemand sie gesehen. Außer Euch, vielmehr. Für mich ging alles viel zu schnell.“
„Es war gutes Werkzeug. Bringt eine Menge Gold auf den Märkten.“
„Ja“, knirschte Mannero. „Die Schmiede ist zerstört. Was sollen wir nun tun?“
„Das ist doch unwichtig“, sagte Mehlau leise. „Wir sind noch am Leben. Habt Ihr Schmerzen, Meister?“
„Es … geht“, stöhnte Jonoy.
„Wer waren die Leute? Was wollten sie von Euch?“ Mehlaus sanfte Augen glommen mitfühlend.
„Darauf weiß ich keine Antwort.“
„Habt Ihr Euch Feinde gemacht?“
„Jeder Mensch macht sich Feinde, vor allem, wenn er ein so langes Leben geführt hat wie ich. Allerdings fällt mir niemand ein, der zu solch extremen Maßnahmen griffe. Helft mir auf, ja?“
Die Lehrlinge zogen ihn auf die Füße. Tropfend und mit wackligen Knien stützte er sich auf sie und sah zu der rauchenden Schmiede hinüber. Dorfbewohner rannten aufgeregt schreiend zwischen dem Fluss und der Werkstatt hin und her. Sie schwenkten Eimer mit Wasser. In der Schmiede selbst gab es nur wenige Gegenstände, die brannten, aber der Waldrand war nahe, Bäume und Gras trocken wie Zunder.
„Geht es euch gut?“, fragte er mit vor Durst und Rauch geschwollener Zunge. „Seid ihr verletzt?“
„Mir brummt mein Schädel“, erwiderte Mannero. „Die haben ganz schön zugehauen.“
„Ärgere dich nicht. Gegen diese Hinterhalttaktik kann man nicht viel ausrichten. Egal, wie dick deine Muskeln sind.“
„Wir hätten uns Schwerter schmieden sollen.“
„Du bist doch kein Kämpfer“, entgegnete Mehlau.
„Jeder vermag mit einem Schwert zuzuhauen.“
„Unsinn! Du kannst vielleicht auf einen Amboss dreschen oder Männern deine Fäuste in den Magen. Ein Schwert zu führen ist etwas anderes.“
„Aber du? Du kannst es? Du konntest uns auch nicht retten. Oder die Schmiede.“
„Du denkst immer nur an die Schmiede. An Dinge. Gegenstände.“
„Ich habe Meister Jonoy zum Fluss getragen.“
„Ich wohl nicht?“
„Schluss“, sagte Jonoy entschieden. „Hört auf zu streiten. Ihr habt mir das Leben gerettet. Meinen Dank dafür. Ihr seid selbstlose Menschen, so unterschiedlich ihr sein mögt. Gute Handwerker. Baut euch die Schmiede wieder auf.“
Damit machte er sich los und stapfte mühsam ans Ufer.
„Was habt Ihr vor?“, rief Mehlau ihm nach.
„Weggehen.“
„Wohin?“
„Zu einem Freund.“
Er spürte, wie die Gesellen sich anschauten.
„Zu welchem? Wo ist er?“ Manneros Stimme.
„In der Wüste.“
„Welche Wüste?“
„Die auf Berlen, Trottel. Wo sonst?“ Mehlau stapfte, viel Wasser aufspritzend, hinter ihm her. „Ihr wisst, dass die Sande ziemlich groß sind, Meister?“
„Sicher. Ich war bereits in ihnen. Mehrfach.“
„Geht Ihr dort immer hin, wenn Ihr für Tage verschwindet? Wo genau werdet Ihr Euern Freund finden?“
„Wenn ich großes Glück habe, in Puard. Wenn ich weniger Glück habe, auf dem Weg nach Puard. Wenn ich Pech habe, irgendwo zwischen Ranand, Prant, Yruish und der Langen Küste.“
„Das ist ein weites Gebiet.“
„Hm.“
„Warum wollt Ihr zu Eurem Freund?“
Jonoy blieb stehen und wandte sich um. Mannero und Mehlau sahen ihn neugierig an. Plötzlich spürte er, dass er sie vermissen würde, und lächelte innerlich. Normalerweise raubten sie ihm nach höchstens zwei Stunden den letzten Nerv.
Er riss sein Hemd auseinander und streckte die verschandelte Brust in die Sonne. „Deswegen.“
Die Gesellen rissen den Mund zu einem stummen Entsetzensschrei auf. Es war das erste Mal, dass sie die Wunde so offen sahen. Schwarz verbrannte Haut auf rohem Fleisch.
„Hat Rotto etwas gegen Euch?“, fragte Mehlau schließlich.
„Rotto hat nichts damit zu tun. Das Eisen war Zufall. Aber es passte ihnen gut in den Kram.“
„R“, überlegte Mannero laut. „Weshalb R?“
„Das weiß ich nicht. Ich kenne niemanden, dessen Name mit diesem Buchstaben beginnt. Zumindest niemanden, den ich so verärgert hätte.“
„Dann ist es eine Abkürzung“, schlug Mehlau vor.
„Logisch, Halbhirn. Was sonst? Doch wofür? Und in welcher Sprache?“
„Vieles kommt in Betracht“, sagte Jonoy. „Und da ich nichts Genaueres weiß, gehe ich.“
„Ihr flieht“, stellte Mehlau richtig.
„Er ist doch nicht feige.“ Manneros flaches Gesicht war aufgebracht, das freundliche Vollmondantlitz verschwunden.
„Ich fliehe“, kam Jonoy Mehlaus Antwort zuvor. „Ich kenne die Angreifer nicht. Ihren Beweggrund. Ich möchte niemanden in Gefahr bringen. Ich gehe.“
„Jetzt gleich?“ Mehlau war bestürzt. „Einfach so? Ruht Euch wenigstens noch bis morgen aus. Meine Tante packt Euch Proviant ein. Und Umschläge für die Wunde.“
Nach kurzem Nachdenken nickte Jonoy. „So soll es sein.“
„Was ist mit der Schmiede?“, fragte Mannero. „Mit Eurer Aufgabe?“
„Ich habe eine neue, scheint es.“
„Euern Freund finden?“
„Ja.“
„Und Euer Freund - bei dem seid Ihr in Sicherheit?“
„Ich glaube nicht, Mehlau.“
„Kennt er die Antwort auf das, was heute passiert ist?“
„Ich denke nicht.“
„Warum, bei allen Schmiedefeuern, wollt Ihr dann den Weg auf Euch nehmen?“
„Weil wir uns das geschworen haben. Wenn einem von uns etwas zustößt, egal was, warnen wir die anderen.“
Die anderen? Gibt es mehr als diesen einen Freund?“
Jonoy lächelte. „Du kannst ja zuhören, Mannero. Ja. Die gibt es. Ich muss sie warnen. Mit Akim fange ich an.“
„Es hat etwas mit der Reise in den Norden zu tun, nicht wahr? Der Reise auf die Insel?“ Mehlau war ganz leise geworden.
„Ich hoffe nicht.“
„Was ist damals passiert? Man hört die ungeheuerlichsten Geschichten. Nur von Euch hört man nie ein Wort.“
„Es ist viel zu viel geschehen, um alles zu erzählen.“
„Jetzt habt Ihr ja Zeit dafür.“
Qa?“ Verwirrt strich Jonoy über den nassen Bart.
„Denkt Ihr, wir ließen Euch allein gehen? Meine Tante würde mir den Hintern versohlen, bis er stärker qualmt als die essha. Und Ciana würde mich nie wieder ansehen. Ta tu luo e, Meister.“
„Nein, Mehlau. Deine Tante würde mir den Hintern versohlen, wenn ich ihren einzigen Neffen in Gefahr brächte.“
„Dafür bin ich ja da. Die Gefahren sollen nur kommen.“ Mannero rieb sich die schwieligen Fäuste, als könne er es kaum abwarten.

Im Norden war der Sommer ein Besucher auf der Durchreise. Gewöhnlich schleppte er sich im Anschluss eines verregneten Frühlings herbei, verweilte zwei oder drei Wochen in der Stadt, bevor er sich nach Westen und Süden verzog und dem stürmischen Herbst das Feld überließ. Von den Einwohnern wurde er jedes Jahr wie ein lange vermisster Freund begrüßt, doch wenn er sich über Nacht davonmachte, atmeten sie auf, öffneten Fenster und Türen, ließen stickige Luft ins Freie und hofften, dass die Hitzeglocke über den Straßen rasch in Richtung Meer verwehte.
Seit fünf Tagen weilte der Sommer in der Stadt und heute war der erste gewesen, an dem er seine unangenehme Seite gezeigt hatte. Bereits am frühen Vormittag war es so heiß, dass die Einwohner sich in ihre Häuser zurückzogen, die Werkstätten schlossen, die Märkte verwaist lagen, die Bettler im Schatten Zuflucht suchten, Hunde und Katzen hechelnd nach Luft schnappten. Die Hitze flimmerte über den Gassen und ein Gestank nach Fäulnis und Urin breitete sich aus. Einzig die Fischer verrichteten ihr Tagwerk. Ihre Boote schaukelten auf den Wellen, sanft bewegt von einer Brise, die von den ersten Häuserreihen erstickt wurde. Kinder rannten halb nackt zum Meer, warfen sich in die Fluten. Er hatte ihr Lachen bis auf den Hügel gehört und Neid verspürt. Doch der Weg zum Wasser führte durch die gesamte Stadt, die menschenleer in der Hitze dampfte. Zu gefährlich für einen Jungen wie ihn.
„Die nächsten Wochen werden ein Albtraum.“
Yvain drehte sich um. Thrageshs Büffelschädel ragte durch die Luke. Schnell rutschte er hinüber und nahm ihm den Beutel ab, sodass sein Leibwächter sich durch die enge Öffnung zwängen konnte.
„Wieso Albtraum?“, fragte er zurück, während er den Beutel durchwühlte und zwei Äpfel zutage förderte, von denen er einen an seinen Freund weiter reichte.
„Die Hitze, was sonst?“ Thragesh verschlang die Hälfte der Frucht mit einem Biss. „Sie wird noch mehr zunehmen. Ich schwitze schon bei dem Gedanken daran.“
„Geh doch schwimmen. Dir ist es erlaubt.“
„Sehe ich aus wie ein Frâgg?“, nuschelte der Braunschopf mit vollen Backen.
„So zottig? Nein, wahrlich nicht.“ Der Knabe lachte. „Liebe Güte, Shesh, wann hast du zuletzt einen Barbier aufgesucht?“
Thragesh schüttelte sich und stieß ein Schnauben aus, das Apfelstückchen durch die Hütte schickte. „Ich lasse keinen Mann mit einem scharfen Messer an meinen Kopf.“
„Kein Wunder, dass du schwitzt unter all dem Fell.“
„He!“ Shesh stupste ihn an, dass er zur Seite kippte. „Keine Beleidigungen. Du weißt, wie eitel ich bin.“
„Der hässlichste Eitle, den ich kenne“, gab der Junge lachend zurück und ächzte, als der massige Leibwächter sich auf ihn warf und ihn in einen Kampf verwickelte, der damit endete, dass sein Haar zerzaust wurde, bis es ihm vom Kopf abstand.
„Im Ernst. Du solltest schwimmen gehen“, sagte er, als sie sich wieder beruhigt hatten.
„Ich kann nicht schwimmen“, brummelte Thragesh.
„Ich bringe es dir bei.“
„Ich bin nicht so verrückt nach Wasser. Gegen einen kräftigen Regenguss hätte ich allerdings nichts einzuwenden. Er würde die Hitze hinfort spülen.“
„Schimpfe nicht. Es ist so selten warm hier. Immerfort Regen und Wind und Schnee. Genieße den Sommer.“
„Ah!“ Der Leibwächter schüttelte sein langes Haar. „Ich mag die Sonne nicht. Zumindest nicht so viel davon. Die Hitze weicht mein Hirn auf.“
„Welches Hirn?“, fragte Yvain und fing sich einen Hieb in die Seite ein, dem er nur teilweise ausweichen konnte. „Nun, ich glaube, ich kann dir eine Freude machen. Es wird regnen.“
„Wann? Im Herbst?“
„Heute Nacht noch. Ein Gewitter.“
In Sheshs Augen stand Skepsis. „Dann muss es sich aber beeilen, denn die Nacht ist bald vorbei. Was mich zum Grund meines Besuches bringt.“
„Du bist nicht meinetwegen gekommen?“, gab Yvain mit gespielter Empörung zurück.
„Weshalb sollte ich sonst hier heraufklettern? Dein Bett war unberührt. Geh schlafen. Es ist spät.“
„Ich bin nicht müde.“
„Das dachte ich mir.“ Thrageshs gutmütiges Gesicht wurde ernst. Seine nussbraunen Augen glitten besorgt über das Antlitz des Jungen. „Es ist nicht der Gedanke an ein kommendes Unwetter, der dich wachhält.“
„Nein“, gab Yvain zu. Er schlang die Arme um die Knie und stützte das Kinn auf. „Hat Mutter dich geschickt?“
„Du weißt, dass sie sich sorgt.“
„Ich bin kein Säugling mehr.“
„Aber ein Kind. Kinder muss man beschützen. Dich besonders.“
„Ich kann auf mich aufpassen.“
„Dennoch.“
„Will sie, dass ich in meine Gemächer zurückkehre?“
„Das hat sie nicht ausdrücklich gesagt, doch es stand in ihren Augen.“
Er erwiderte nichts, vergrub das Kinn in seinen Armen.
Thragesh stupste ihn an, legte einen Arm um ihn. „Du verstehst das?“
„Ja, ich verstehe es“, grummelte der Blondschopf. „Ich verstehe sie. Meine Gemächer sind sicher. Verstärkte Wachen, verschlossene Fenster und Türen.“
„Ganz richtig.“
„Aber hier draußen ist die Luft angenehmer. Ich kann die Sterne sehen und später dem Regen lauschen. Vielleicht wird er mich müde machen.“
„Der Blitz könnte einschlagen.“
„Wird er nicht. Die Bäume rund herum sind höher.“
„Sie könnten auf dein Baumhaus stürzen.“
„Ja, das Leben ist voller Gefahren.“
„Hör auf“, bat Shesh. „Zeig dich besonnen. Sei…“
„…einsichtig. Ich weiß.“ Yvain seufzte und nickte. „Ich werde gleich kommen. Wartest du in meinem Zimmer?“
„Warum kommst du nicht sofort mit? Deine Mutter ist noch wach. Es würde sie beruhigen, wenn sie dich in der Sicherheit deiner Gemächer wüsste.“
„Gleich.“
„Warum? Was ist los? Du warst schon den ganzen Tag so seltsam.“ Plötzlich wirkte Thragesh alarmiert.
„Es ist nichts. Nur das Unwetter.“
„Unsinn“, widersprach der Braunschopf, sprang auf die Füße und spähte durch das ausgelassene Stück Bretterwand. „Wenn ich eins gelernt habe während der Zeit mit dir, dann, deinen Vorahnungen zu trauen. Oft genug liegst du richtig.“ Er zuckte vor dem grellen Blitz zurück, der gleich darauf die Nacht erleuchtete.
„Zu früh“, hauchte der Knabe.
„Also? Klärst du mich jetzt auf? Was befürchtest du noch? Warum suchtest du Zuflucht in dem Baumhaus?“
„Zu zeitig.“ Yvains Stimme klang abwesend, verwundert.
„Ein Versteck“, begriff Shesh. „Ein gutes. Alt, seit langer Zeit unbenutzt, überwuchert, weit genug von der Residenz entfernt, nah genug am Waldrand. Hoch oben, über den Dingen.“ Thragesh wandte sich um, musterte den Blondschopf. „Wovor verkriechst du dich?“
„Es ist nur eine Ahnung“, wich Yvain aus. „Mehr nicht.“
„Sprich endlich.“
„Ein Gefühl von Gefahr. Eine Bedrohung.“
„Welcher Art?“
„Das vermag ich nicht zu sagen. Ich bin nicht hellsichtig, Shesh.“
„Könnte es tatsächlich nur das Unwetter sein? Ein außergewöhnlich heftiges möglicherweise?“
„Das Gefühl war … ist stärker“, flüsterte Yvain.
„Dann sollten wir die anderen warnen. Deine Mutter vor allem.“
„Wovor denn? Ich dachte, wenn ich hier oben sitze, kann ich Ausschau halten. Nach allem Möglichen.“
„Glaubst du, dass dir Gefahr droht?“
„Ist das nicht immer so?“ Der Junge sprach mit tauben Lippen. Beherrscht, gefasst.
„Gut“, beschloss der Leibwächter. „Wir halten gemeinsam Ausschau. Das sollte uns leichter fallen, jetzt, da wir Licht haben.“
„Licht?“
„Die Blitze. Wir gewöhnlichen Sterblichen sehen nicht so gut im Dunkeln.“
„Was ist das?“, rief Yvain in Thrageshs Satz hinein.
Shesh schob zwei dicke Finger zwischen die Ritzen der Holzwand und duckte sich. Gleichzeitig drückte er seinen Schützling zu Boden und legte den Zeigefinger vor die Lippen. „Sh! Kein Mucks!“
„Was ist das?“, murmelte der Junge trotz des Verbotes.
Thragesh fluchte still und lugte weiterhin nach draußen. Weiße Blitze zuckten in schneller Folge über den Himmel, so grell, dass sie ihn blendeten und er von der Umgebung kaum mehr wahrnahm als in stockfinsterer Nacht. Nur mit Mühe erkannte er die Feuerbälle, die an ihnen vorbei, über sie hinweg, rasten, geradewegs auf die Residenz zu.
„Brandpfeile“, zischte er. Dröhnender Donnergroll verschluckte das Wort, zerriss es in der aufgeladenen Luft.
„Wir müssen die anderen warnen!“, rief der Junge, der ihn trotz des Donnerns verstanden hatte. „Schnell!“
Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch Thragesh drückte ihn erneut in die Ecke hinunter. „Bleib, wo du bist. Und höre! Die Glocke läutet bereits. Die Soldaten deiner Mutter wissen, was zu tun ist. Im Augenblick bist du hier sicherer.“
„Aber…“
„Der Palast besteht aus Steinmauern. Brandpfeile können ihnen nichts anhaben.“
„Das Dach! Und die Fenster!“
„Ich weiß. Die Soldaten wissen es auch. Sie passen auf.“
„Wo es Pfeile gibt, gibt es Schützen. Wir werden angegriffen.“ In Yvains Augen stand mehr Verwunderung als Schrecken.
„Dies ist das am besten gesichertste Haus im Norden. Vermutlich auf der gesamten Insel. Die Angreifer sind entweder tollkühn oder dumm. Sie hätten sich besser ein Bürgerhaus für ihren Raubzug gewählt.“
„Was, wenn es keine Räuber sind? Wir müssen helfen, Shesh. Bitte!“, flehte der Junge.
„Nein.“
„Aber ich kann kämpfen. Ich bin dafür ausgebildet.“
„So wie ich. Doch die Befehle deiner Mutter sind unmissverständlich: deine Sicherheit vor allem. Wir bleiben.“
„Shesh!“
„Runter! Verbirg dich in der Ecke! Sollten wir hier oben angegriffen werden, kannst du immer noch kämpfen.“
Thrageshs bärbeißiges Gesicht hatte sich in die Fratze eines Raubtieres verwandelt. Um Augen und Mund wehten Zorn und Entschlossenheit. Yvain wusste, dass weiterer Widerspruch an ihm abprallen würde und gab nach. Er duckte sich in die Ecke neben der Leiter, befühlte den kalten Stahl an seinem Gürtel, verschmolz mit der Dunkelheit, beobachtete den Freund und Leibwächter, der seine widerspenstige Haarpracht in einen Zopf zwang und abwechselnd durch Wandlücke und Bodenluke starrte, kampfbereit auf den Beinen wippend, während draußen die Welt unterging.
Donner, Blitz und Regen prasselten auf das Dach der Hütte. Äste und Zweige schlugen gegen die Wände, Kieferzapfen explodierten. Das Baumhaus schwankte und knarrte erbärmlich. Durch den Lärm hindurch hörten sie das Zischen weiterer Pfeile, die warnenden Rufe der Soldaten und Bediensteten.
Yvain hockte am Boden und starrte mit trockenem Mund auf die Luke. Unbewusst leckte er sich über die Oberlippe, schmeckte Salz. Normalerweise schwitzte er nicht, höchstens nach einem besonders anstrengenden Übungstag im Kampfrund. Furcht brachte Menschen zum Schwitzen. Er war kein Angsthase, hatte Gefahrensituationen überlebt, wusste, was er in solchen Zeiten empfand. Nervosität. Anspannung. Erschrecken. Aber keine Angst. Er vertraute auf sich, seine Ausbildung, seinen Verstand. Seinem Leibwächter. Dem Schicksal. Er schwitzte nicht. Die Hitze kam nicht aus seinem Inneren.
Vorsichtig richtete er sich auf. Auf Thrageshs Gesicht stand der Schweiß. Feuerschein spiegelte sich auf Wangen und Stirn.
„Das sind keine einfachen Brandpfeile“, murmelte Yvain.
„Nein. Sie verwenden irgendein Dämonenzeug, um das Feuer zu verstärken. Die Residenz steht in Flammen.“
„Ein Brandpulver?“
„Das Dach ist weg. Als hätte ein Sturm es hinweggefegt. Die Gemächer brennen.“
„Wir müssen hinunter!“
Kreischende Schreie brachten den Jungen zum Verstummen. Mit weit aufgerissenen Augen lauschte er in die fauchende Nacht, kroch zur Wandlücke und starrte hindurch.
Augenblicklich bereute er seine Neugier.
Über den Rasen, der an die Rückseite der Gebäude grenzte, taumelten Menschen. Sie hatten die Arme in die Luft gestreckt und schrien, wie Yvain noch niemals jemanden hatte schreien hören. Reflexartig drückte er beide Hände vor die Ohren, aber das unmenschliche Gebrüll hatte seinen Geist längst berührt. Auch die Augen schloss er zu spät. Er hatte sie gesehen.
Sie brannten lichterloh.
Thragesh war versucht, einen Arm um den Jungen zu legen, doch er unterließ es. Er musste gewappnet sein. Seine Fäuste umklammerten die beiden Kurzschwerter an den Hüften, während er beobachtete, wie die lebenden Fackeln wahnsinnige Tänze auf dem Rasen vollführten, bevor sie zusammenbrachen und verrauchten. Die Baumhütte lag ein gutes Stück entfernt, aber der Geruch verbrannten Fleisches zog bereits eine unsichtbare Spur bis hinauf in die Wipfel.
Der Junge neben ihm wiegte sich hin und her, die Hände auf den Ohren, die Augen fest zusammengepresst. Selbst jetzt wirkte er beherrscht, unterdrückte die Regungen, die jedes andere Kind in dieser Situation verspürt hätte. Er weinte nicht, er schrie nicht, er jammerte nicht. Wiegte sich nur still hin und her.
„Yvain“, flüsterte der Leibwächter. „Du musst dich vorbereiten. Vergiss nicht: Du bist Soldat.“
Der Junge hielt augenblicklich inne, schluckte. Dann öffnete er die Augen, nahm die Hände herunter. „Meine Mutter“, sagte er langsam. „Wir müssen sie da herausholen. Es ist unsere Pflicht.“ Seine Stimme zitterte leicht.
„Nein. Es ist genau das, worauf sie warten. Sieh hin! Sie haben alles in Brand gesetzt. Wer nicht drinnen in Qualm und Hitze erstickt oder verbrennt, rennt nach draußen.“
„Und?“, fragte Yvain tonlos.
„Pass auf. Wappne dich.“
Weitere Menschen kamen aus dem Palast gelaufen. Männer, Frauen, Kinder. Bedienstete. Soldaten. Yvain erkannte die roten Uniformen der Lakaien. Ein Hagel von Pfeilen streckte sie nieder, sobald sie aus dem Schatten des Gebäudes traten.
„Sie löschen uns aus.“ Yvain sprach laut und überdeutlich. „Bis zum letzten Mann.“
Thragesh zuckte zusammen, als er die Stimme des Knaben hörte. Sie klang tiefer als sonst, fast wie die eines Erwachsenen. Er biss sich auf die Innenseite der Unterlippe. „Ja“, sagte er schließlich.
„Wo sind sie? Die Angreifer? Wo lauern sie?“
Der Leibwächter überlegte. Durch den Schlitz hatte er nur einen sehr begrenzten Ausschnitt von der Umgebung. Er versuchte, sich das weitläufige Gelände rund um die Residenz in Erinnerung zu rufen und gleichzeitig die Reichweite der Pfeile zu berechnen. „Überall und nirgends. Mein Eindruck ist, dass sie das Gelände von verschiedenen Seiten aus beschießen. Selbst von der Straße aus. Bestimmt haben sie sich auf den Dächern verschanzt und auf den Bergen ringsum. Vielleicht hocken sie in den Bäumen. Deshalb bleiben wir hier. Dein verwittertes Baumhaus ist im Moment der sicherste Platz.“
„Sie verbietet mir ständig, hier herauf zu klettern“, sagte Yvain dumpf.
„Ich weiß.“ Thrageshs Augen schauten mitleidig.
„Die Hütte ist alt und baufällig. Sie findet sie gefährlich, hat immer Sorge, ich breche mir den Hals.“
„Leise jetzt! Sie haben aufgehört zu schießen.“
„Und nun?“
„Beobachten wir.“ Thragesh senkte die Bassstimme zu einem kaum wahrnehmbaren Flüstern. „Nimm dein Schwert. Wir werden nicht kampflos aufgeben.“
Der Junge gehorchte und lauschte. In die Nacht genauso wie in sein Inneres. Er horchte auf sein galoppierendes Herz und auf die Trauerstimmen, die sich in ihm erhoben hatten. Seine rechte Hand umfasste das Schwert, die linke klammerte sich an Thrageshs muskulösen Unterarm.
Sehr lange Zeit geschah nichts. Das Feuer prasselte, zischte und dampfte, als das Gewitter sich in strömenden Regen ergoss. Blitze beleuchteten grell, was die Flammen in flackerndes Licht tauchten: leblose Körper auf dem Rasen, viele von ihnen unförmig verkrümmt, das Glas zerborstener Fenster, zersplitterte Tore, das zerstörte Dach. Darunter brennende Räume. Über den lärmenden Naturgewalten lag eine gespenstische Ruhe. Niemand schrie mehr. Niemand stöhnte oder rief um Hilfe und die Trauerstimmen flüsterten dem Knaben zu, dass es keine Seele gab, die überlebt hatte. Keine einzige.
Tränen liefen seine Wangen hinab. Er wischte sie nicht ab, schniefte leise, schluckte die Gram hinunter.
Shesh wagte es nicht, den Jungen anzuschauen. Auch in seinen Augen brannten Tränen, doch er musste stark bleiben. Später würde er Zeit finden zu trauern.
Sanft fasste er nach Yvains Schulter, zog ihn von dem Loch weg und drehte sich nach der Bodenluke um. Yvain wehrte sich, schüttelte den Kopf, riss sich los. Thragesh blieb stehen, plötzlich hilflos. Das Trösten eines Neunjährigen gehörte nicht zu seinen Aufgaben.
Doch Trost war es nicht, was Yvain wollte. Mit tränenüberströmtem Gesicht hob er den Zeigefinger. „Horch! Die Bürger kommen, um zu helfen. Sie wollen den Brand löschen.“
Undeutlich vernahm Thragesh die Stimmen von Männern und Frauen, das Getrappel von Hufen auf der Straße, das Rumpeln der schweren Wasserwagen. Die Fedaj-i des oberen Stadtviertels lebten entfernt vom Meer und hatten bereits vor langer Zeit eine Brandwache gegründet.
Shesh atmete auf. „Das ist gut. Wir mischen uns unter sie.“
Yvain hielt ihn zurück. „Nein. Vielleicht warten die Angreifer. Beobachten weiter.“
„Sie würden uns nicht inmitten der vielen Menschen angreifen“, setzte Shesh entgegen.
Yvain fasste nach seiner Hand. „Sie hatten keinerlei Skrupel, die gesamte Residenz auszurotten. Wir verschwinden heimlich“, befahl er ohne Schärfe in der Stimme. „Durch den Wald. Sobald es auf dem Gelände vor Menschen wimmelt. Die Angreifer werden abgelenkt sein, sich vielleicht als Helfer tarnen, nach uns suchen. Mit ein wenig Glück werden sie glauben, wir sind unter den Verkohlten.“
„So willst du nicht nachsehen? Deine Mutter suchen? Abschied nehmen?“
Yvain sah ihn traurig an. „Sie ist tot, Shesh. Ich möchte sie als Lebendige in Erinnerung behalten, als Mensch. Mein Zuhause ist weg. Jemand trachtet uns nach dem Leben. Ich bleibe nicht hier.“
„Was hast du vor?“
„Wir müssen Ylaiy in Kenntnis setzen. Wenn wir in Gefahr sind, sind die anderen es vielleicht auch.“
„Welche anderen?“
„Meine Freunde. Ich erzähle dir alles unterwegs. Wir müssen nach Südwesten. Dort setzen wir nach Staleph über.“
„Warum so weit?“
„Weil, wenn wir kein Glück haben, sie uns verfolgen werden. Und Bantafej wäre die nächste logische Wahl.“
„Dazu müssen wir durch die Sümpfe.“
„Und zwar unerkannt. Wir kennen unsere Angreifer nicht. Besser, wir trauen niemandem.“
Thragesh musterte den Blondschopf, der ihn betrübt anblinzelte. Dann nickte er schwer. „Ich habe geschworen, dein Leben zu schützen. Ich komme mit dir.“
Statt einer Antwort drückte Yvain die behaarte Hand des Leibwächters. Dieser verzog die Lippen und warf einen letzten Blick durch die Bretterwand. „Schau!“, flüsterte er. „Dort! Auf dem Rasen!“
Yvain schob sich neben ihn. „Was ist das? Ein Symbol?“
„Ein R? Sieht es nicht aus wie ein R? Wie geht das?“
„Irgendein Brennstoff“, murmelte Yvain, jählings kreideweiß. „Sie haben das Symbol auf den Rasen gemalt. Mit Pech oder etwas Ähnlichem. Was beweist, dass sie schon einmal hier waren. Das Ganze war von langer Hand geplant.“

Den Kopf an ihre Brust geschmiegt, schlummerte er ein, geborgen unter einem Tuch, welches ihn gegen Hitze und Insekten abschirmte.
Die Frau, die ihn auf dem Arm trug, lächelte. Ihn an ihrer Schulter wiegend, ging sie weiter. Sie genoss das Gefühl der Wärme, die duftende Pracht der Blumen, das Erdreich unter ihren Füßen. Am meisten genoss sie den Duft ihres Enkels. Sie hielt ihre Nase an seinen Kopf und atmete ihn ein, diesen betörenden Säuglingsduft. Bald würde er anfangen zu plappern und die Welt erkunden. Er krabbelte jetzt schon schneller fort, als ihr lieb war. Der Geruch würde schwinden und mit ihm die Unschuld. Doch noch war Zeit.
Die Wiese, die unter ihren Leinenschuhen federte, schimmerte in saftigem Grün. Drei, vier Wochen noch, bis der Spätsommer einsetzte. Drei Wochen, um die unbeschwerte Süße zu genießen, über die Weiden und Felder zu wandern, mit Talin zu planschen, unter rauschenden Baumkronen zu ruhen, an nichts zu denken. Dann rückte die Erntesaison heran und Zeit würde knapp werden. Die erste Ernte auf Vanstetten. Im nächsten Jahr konnte Talin bereits mithelfen.
Das Plätschern des Baches lenkte sie ab. Um diese Jahreszeit führte er wenig Wasser, aber Ivson sorgte dafür, dass der Damm aus Steinen, Moos und Ästen unversehrt blieb, sodass sie in dem aufgestauten Wasser sitzen und sich abkühlen konnten.
Ihre Füße eskortierten sie wie von selbst zum Wassergraben. Am Ufer angekommen, legte sie den Tochtersohn höher an ihre Schulter, damit sie einen Arm frei behielt. Am schlammigen Ufergelände wuchsen hauptsächlich Nesselgewächse, an denen sich schlecht Halt finden ließ. Vorsichtig tastete sie sich über die schlüpfrigen Stellen.
Die wenigen Meter ins Wasser strengten an, dafür belohnte sie erfrischende Kühle. Minutenlang stand sie still da, ihren schlafenden Enkel auf der Schulter, mit dem Arm Libellen verscheuchend, bis ihre Knöchel von der Kälte zu schmerzen begannen. Sie konzentrierte sich auf die wohligen Schauer, die Wärme und Kälte gleichermaßen durch ihren Körper schickten; verwundert, wie wenig es brauchte, glücklich zu sein.
Als ihre Füße gefühllos wurden, erklomm sie die gegenüberliegende Uferseite. Dort betrat sie eine Wiese, die einer Insel glich, denn sie war eingeschlossen von dem Bächlein, das einen weiten Bogen um das Grasland zog, und dem Fluss, von dem es abzweigte.
Der Strom trug den Namen Bene. Evart hatte ihr erklärt, dass er aus dem Dialekt der hiesigen Bauern stamme und „Grün“ bedeute. In der Tat schimmerte das Wasser drei Viertel des Jahres in Grüntönen, hervorgerufen von den Spiegelungen der Baumreihen an den Ufern und den Mineralien, die sich im Flussbett abgelagert hatten. Auch die Ausscheidungen einer Krebsart, die nur in den Westländern Yruishs beheimatet war, trugen zur Färbung bei.
Für gewöhnlich ging sie nicht bis zum Bene. Der Bach markierte die Grenze des Anwesens. Es war nicht verboten, sie zu übertreten, aber man hatte das Gefühl, sich auf fremdes Territorium zu begeben. Ihrer Tochter machte das nicht viel aus, doch sie selbst beschlich stets eine leise Empfindung von Unheil, wenn sie das Bächlein hinter sich ließ, obwohl die Gegend als ungefährlich galt. Eine Handvoll Bauern hatte das Land seit Urzeiten unter sich aufgeteilt und bestellt. Sie lebten in Frieden miteinander, was leicht erschien angesichts der Tatsache, dass sie mehrere Wegstunden voneinander entfernt siedelten. Die Wälder waren klein, licht und wildarm, die Gewässer zwar reich an Krebsen und Fischen, doch zu weit im Westen, abgeschnitten von Äckern. Ein zu langer Weg für Wilddiebe. Hin und wieder stahlen Fremde von den Feldern, aber wegen eines ausgehungerten Landstreichers nahm niemand die Reise in die Hauptstadt auf sich, um vor Gericht zu erscheinen. Die Bauern und ihre Knechte, auch ihre Frauen und Töchter, waren stark von der Knochenarbeit, wortkarg und sonnenverbrannt, bewaffnet mit Sensen und Beilen. Erwischten sie einen Dieb, verprügelten sie ihn oder lasen ihn auf, damit er sein Essen mit ehrlicher Arbeit verdiente. Nicht wenige Stallburschen, Mägde und Bauersfrauen waren auf diese Weise auf die Höfe gelangt.
Ihrer Tochter hatte sie geraten, den Kleinen vom Fluss fernzuhalten. Schließlich war der Bene ein ausladender Strom, der vor allem im Frühling beachtliche Wassermassen mit sich führte. Unter der träge wirkenden Oberfläche verbargen sich Stromschnellen und tückische Strömungen.
Jetzt, in den letzten Tagen des Hochsommers, sah der Bene aus, als wäre er unbeweglich; ein langer See mehr denn ein Fluss, umrahmt von Spalieren hoher Bäume, deren Kronen Schatten spendeten und flirrende Muster auf das Wasser zauberten.
Ein gleichmäßig klatschendes Geräusch ließ sie innehalten und die Ohren spitzen. Weitere Töne mischten sich unter das Platschen, leiser und ungleichmäßiger. Töne, die sie sofort erkannte.
Seufzend setzte sie sich in Bewegung. Nach wenigen Schritten erreichte sie die Baumreihe am Flussufer. Die Geräusche waren nun unmittelbar vor ihr. Dichtes Buschwerk verbarg ihre Ursache.
Behutsam zerteilte sie die Sträucher, Talin schützend an sich gedrückt, damit er von den stacheligen Zweigen nicht zerkratzt wurde.
Wie aufgescheucht fuhr die junge Frau herum, sprang auf die Beine, die Augen aufgerissen, tropfende Wäsche wie eine Waffe vor sich gestreckt.
„Willst du mich mit einem Hemd erschlagen?“
„Himmel! Wieso erschreckst du mich so?“
„Das war nicht meine Absicht.“
„Mein Herz ist fast stehengeblieben.“
„Ich dachte, meine nassen Schuhe schlappten laut genug, um uns anzukündigen.“
Rana hielt ihrer Tochter das schlafende Bündel hin. Augenblicklich verwandelte sich der entsetzte Ausdruck in Liebe und Fürsorge. „Schläft er?“
„Endlich. Ich musste lange mit ihm laufen und summen, bis er sich beruhigte.“
„Wahrscheinlich bekommt er ein Zähnchen.“
„Oder hat Bauchkrämpfe. Obwohl er über die Koliken hinaus sein sollte.“
Sila lächelte, während sie ihr Kind betrachtete. Die Wäsche tropfte auf ihre bloßen Füße. „Wird er dir nicht langsam zu schwer?“
„Ach was. Er macht mir nichts aus.“
„Wirklich nicht? Wenn es dir zu viel wird…“
„Damit du ihn ganz für dich hast? Nein, nein, ich genieße mein einziges Enkelkind. Sorge du dich um deine Aufgaben, ich kümmere mich um Talin. - Ich wusste gar nicht, dass heute Waschtag ist.“
Der abrupte Themawechsel überraschte ihre Tochter. „Nein. Ja. Ich meine, es ist keiner. Aber mir war danach.“
„Du hast geweint.“
Sila senkte die Augen zu Boden. „Ich war wütend.“
„Hast du die Wäsche gewaschen oder entzweigeschlagen?“
„Beides.“ Sila sah auf und lächelte, doch frische Tränen schimmerten in ihren Augen.
„Und auf was warst du wütend?“
„Weiß nicht. Auf mich. Ihn.“
„Ylaiy?“
Ihre Tochter zog die Nase hoch. Dann schleuderte sie das nasse Hemd zu Boden, ungeachtet der Tatsache, dass es wieder schmutzig wurde.
„Das gehört Ivson. Er kann doch sicherlich nichts für deinen Kummer“, rügte Rana.
„Ich bin nicht traurig. Ich bin wütend.“
Rana seufzte und ließ sich vorsichtig auf einem Flecken Gras nieder. „Ach, Kind, das ist doch dasselbe. Mit Wut können die meisten nur besser umgehen.“
Sila kaute eine Weile auf dieser Antwort herum, bevor sie neben ihre Mutter sank. Sie bettete ihren Kopf auf ihre verschränkten Arme. „Es ist so lange her. Talin wird seinen Vater nicht mehr erkennen.“
„Das wohl nicht.“
„Wahrscheinlich würde Ylaiy ihn auch nicht erkennen. Als er ihn das letzte Mal gesehen hat, hatte er noch nicht einmal Haare und war so lang wie sein Unterarm. Ist das nicht furchtbar?“ Neue Tränen quollen aus Silas Augen. Sie machte sich nicht die Mühe, sie wegzuwischen.
„Du weißt, dass er nicht kommen kann.“
„Ja, ich weiß. Seine Heirat und all das.“
„Er hat eine Gemahlin“, sprach Rana sanft, aber eindringlich. „Sie ist die zukünftige Kaiserin, Herrscherin über die Inseln. Sie trägt sein Kind in sich.“
„Ich habe auch sein Kind in mir getragen! Bedeutet das nichts?“ Brocken von Uferschlamm landeten im Wasser, geschleudert aus ungebremstem Zorn.
„Nicht in dieser Welt“, sagte Rana ernst. „Und das musst du begreifen. Er ist der Thronfolger. Du warst seine Kammerzofe.“
„Ich war mir sicher, er liebt mich.“ Sila schluchzte.
„Er braucht eine Frau an seiner Seite, die die Hohen Häuser gutheißen. Liebe hat damit nichts zu tun. Sie wird seinen Erben zur Welt bringen. Talin ist nur sein Bastard.“
„Mutter!“
„Er hat ein gutes Leben hier, Sila. Auch ohne Vater. Ein besseres als am Hof. Intrigen, Verleumdungen, Spott. Ylaiy wollte seinem Sohn das alles ersparen.“
„Ich hasse ihn dennoch dafür.“
„Er tat, was er konnte. Du erwartest zu viel. Das hast du immer.“
„Ich hatte gehofft, dass…“
„Was denn? Dass der Kaiser eine Dienstmagd zur Frau nimmt? Mit ihr regiert? Kinder zeugt, die nicht von Hohem Blut sind? So naiv kannst du nicht gewesen sein.“
Silas Mund presste sich fest zusammen. Auf ihren Wangen glitzerten Tränen. Rana ergriff sie am Arm und zwang sie, sie anzusehen. „Du hast enormes Glück gehabt. Du hast überlebt. Einen Sohn zur Welt gebracht. Du lebst ein schönes Leben. Genieße es. Nutze die Gelegenheiten, die Ylaiy dir gab. Verschwende sie nicht.“
„Ich vermisse ihn. Schrecklich.“
„Du wirst über ihn hinwegkommen.“
„Niemals.“
Rana lächelte wehmütig und streichelte Silas Wange. „Ganz sicher. Das tun wir immer.“
„Und dann?“
„Bist du wieder frei.“
„Frei wofür?“
„Das Leben.“
„Glaubst du, ich sehe ihn jemals wieder?“
Rana schob Talin behutsam in ihre andere Armbeuge, während sie über eine Antwort nachdachte. „Nein“, sagte sie schließlich.
„Er könnte uns besuchen. Trotz seiner Verpflichtungen und seines … Rufes.“ Das letzte Wort schleuderte sie so zornig von sich wie den Schlammbatzen.
„Nicht in dieser heiklen Zeit.“
„Später?“ Sila klang verzagt wie ein Kind.
„Er leidet unter der Trennung genau wie du. Stärker. Er wird versuchen, euch zu vergessen, Halt in seiner Familie zu finden. Versuche das auch. Du musst ihn verdrängen, Sila, verbannen aus deinen Gedanken. Ylaiy hat getan, was er tun konnte. Du solltest darauf hoffen, ihn nicht wiederzusehen.“
„Wie kannst du so etwas sagen?“
„Es würde alte Wunden aufreißen, neue schaffen. Es ist besser, wenn du ihn vergisst. Wenn die Leute dich vergessen. Es ist sicherer so.“
Ein heller Schrei zerriss die Nachmittagsstille. Talin war erwacht.
„Er ist Thronfolger“, murmelte Sila und nahm ihrer Mutter das Kind ab, um es an ihre Brust zu schieben. „Das ist mir gerade aufgefallen. Talin ist Thronfolger. Nach Ylaiy.“
„Schlag dir das gleich aus dem Kopf“, tadelte Rana, die Wange ihres Enkels tätschelnd. „Er ist ein Bastard. Er hat keine Rechte. Verstehst du? Keine.“


Auf dem Rückweg zum Gut ruhte Talin schlummernd an Silas Brust. Rana hatte sich den Korb tropfender Wäsche auf die Hüfte geschoben und beneidete im Stillen ihre Tochter, die das leichtere Gewicht trug.
Nachdem sie den Bach durchquert hatten, wandten sie sich nach Süden, der abgemähten Kleewiese zu. Die Sonne würde noch einige Stunden auf die Wiese scheinen, unbehindert von Bäumen und Sträuchern, und die Wäsche vor dem Abend trocknen.
„Sie stehen immer noch da“, brummte Sila, während ihre Mutter damit begann, die Wäschestücke auf dem Boden auszubreiten, sorgfältig die Stellen vermeidend, auf denen die Schafe gegrast hatten. „Sie sind immer da.“
Rana richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf. „Warum klingst du so ungehalten? Sie sorgen für unseren Schutz.“
„Ich fühle mich von ihnen beobachtet. Und unwohl, so lange ich weiß, dass ich beschützt werden muss. So viel zu deiner Freiheit.“
„Sie werden dich nicht aufhalten, egal, in welche Richtung du gehst.“
Nur verfolgen.
Der Gedanke behagte ihr nicht. Bestimmt hatte einer der Männer sie auch am Fluss gesehen. Im nächsten Monat machte die Geschichte vom heulenden Prinzenliebchen vermutlich am Hof die Runde.
„Ylaiy hat sie ausgewählt“, sagte Rana, als wolle sie die Befürchtungen ihrer Tochter zerstreuen. „Sie sind diskret. Ich nehme sie kaum noch wahr, so sehr halten sie sich im Hintergrund.“
„Wo nächtigen sie?“ Sila bückte sich nach Steinen, um die Wäsche zu beschweren.
„In einem Zeltlager.“
„Woher weißt du das?“
„Ida und ich bringen ihnen bisweilen Brot, Käse und Äpfel. Ein Fässchen von Evarts Rotem zu den Festtagen. Um Fisch und Fleisch kümmern sie sich selbst.“
„Mhm.“ Ihre Mutter, die noble Seele.
„Sie patrouillieren rund um das Gut“, fuhr Rana fort und stemmte die Hände in den Rücken. „Ein größeres Gebiet, als man denkt.“
„Tatsächlich?“
Langsam drehte Sila sich im Kreis. Ausgedehnte Wiesen und Felder, einige brachliegend, die meisten mit buschigem Gemüse bewachsen. Koppeln für die Pferde, Ställe, ein Hof, der immer schlammig zu sein schien. Um ihn herum in einem unregelmäßigen Halbkreis das Wohnhaus, die Scheunen, die Werkstätten. Weitläufig, ja. Und über allem hingen die Ausdünstungen der Tiere. Anfangs hatte sie sie als durchdringend empfunden, mittlerweile nahm sie sie nur noch an Regentagen wahr, und an den Tagen, bevor ihre Monatsblutung einsetzte. Dann sank ihre Stimmung und alles störte sie. Die Gerüche. Die Fliegenschwärme um die breiten Hintern der Rinder, das Blöken der Schafe, das Gackern der Hühner. Sie war nicht zur Bauersfrau geboren, so viel stand fest. Der Palast fehlte ihr.

„Meine Tante und mein Vetter sind wohlauf.“ Der Thronfolger schloss den Brief und betrachtete das gebrochene Siegel.
„Das sind erfreuliche Nachrichten.“
Er warf seiner Gemahlin einen prüfenden Blick zu. Sie schien sich ehrlich zu freuen. Noch immer war er verwundert über ihre unverstellte Art.
„Ihr ahnt nicht, wie erfreulich“, erwiderte er.
„Nun, Ihr scheint jedes Mal von Grund auf erleichtert, wenn die Nachrichten aus Fedaj gute sind. Eure Verwandten liegen Euch am Herzen.“
„Ihr seid eine tüchtige Beobachterin. Muss ich mir Sorgen machen?“, scherzte er.
„Ist es nicht Aufgabe einer Gemahlin, die Belange ihres Gatten im Blick zu behalten? Auf seine Befindlichkeiten einzugehen?“, fragte sie ernst zurück.
Ylaiy seufzte innerlich. Sie war so brav. Nüchtern, bemüht bis zur Verbissenheit, angepasst. „Ihr macht Euch zu viele Gedanken, Paíre. Entspannt Euch. Genießt die Sommertage. Ich kümmere mich um die gewichtigeren Angelegenheiten.“
„Ich möchte nur helfen, von Nutzen sein.“
„Das werdet Ihr. Ich verspreche es. Es gibt etliches zu lernen, aber alles zu seiner Zeit, nach und nach. Gewöhnt Euch ein. Lernt alles kennen. Lernt mich kennen.“
„Ich kenne Euch doch. Mehr als die meisten“, gab sie zurück. Ein Hauch von Anzüglichkeit hing in ihren Mundwinkeln.
Er warf einen Blick auf die deutliche Wölbung ihres Bauches. Ein Herbstkind. Gezeugt in einer der ersten Nächte, möglicherweise in der Hochzeitsnacht. Sie verlor keine Zeit.
„Ihr wisst, was ich meine. In etwa einem Monat wird das Kind zur Welt kommen. Schont Euch. Ruht Euch aus.“
„Schonen?“ Sie schob ihre Unterlippe vor. „Ihr wisst so gut wie ich, Ylaiy, dass das nicht meine Art ist. Bereits mein Vater musste das einsehen. Das geruhsame Leben einer höfischen Gemahlin liegt mir nicht.“
„Bislang gebt Ihr eine hervorragende Ehepartnerin ab.“
Sie nahm das Lob hin, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ylaiy.“
„Ich meine das ernst. Ihr seid klug, wortgewandt, interessiert und - ganz nebenbei – eine wunderschöne Frau. Die Kaiserin schätzt Euch als Schwiegertochter, die Räte habt Ihr bezaubert. Mehr kann ein Mann sich nicht wünschen.“
„Ihr seid zu gütig.“ Sie verneigte sich unbeholfen, da die Rundung des Bauches ein natürliches Hindernis bildete. Doch es waren nicht Komplimente gewesen, die sie im Sinn gehabt hatte. Er sah es an ihrem Mund. Enttäuschung kerbte sich um ihn.
Er seufzte. „Also gut. Wie kann ich Euch glücklich machen?“
„Lasst mich an Eurer Vergangenheit teilhaben.“
Argwohn stieg in seine Karamellaugen. „Warum?“
„Sie macht Euch zu dem, was Ihr seid. Ich möchte Euch besser kennenlernen. Schließlich sind wir vermählt, sind bald eine richtige Familie. Leider sprecht Ihr nie über frühere Zeiten. “
„Das Vergangene ist unwichtig. Das Jetzt zählt.“
„Ihr seid unvollständig ohne eine Geschichte.“
„Meinen Werdegang kennt jeder.“
„Die offiziellen Daten, ja. Sie sind in den Palastdokumenten festgehalten, Punkt für Punkt. Ich habe sie gelesen.“
„Seht Ihr.“
„Glaubt Ihr wirklich, ich interessiere mich für Euer erstes Wort? Euren ersten Zahn? Eure Erfolge an der Akademie?“
„Was wollt Ihr dann? Den Hofklatsch? Die Gerüchte über mich sind delikater und saftiger, das könnt Ihr mir glauben.“
Sie winkte ab. „Ich weiß von Eurer ehemaligen Zofe, Eurer Liebschaft zu ihr. Den anderen Frauengeschichten.“
„Andere Frauengeschichten?“, fragte Ylaiy, ehrlich erstaunt.
„Ihr seid ein Mann. Habt Euch – wie sagt man so schön? – die Hörner abgestoßen. Es spielt keine Rolle. Und natürlich weiß ich von der Großen Reise in den Norden, Euren Heldentaten, Euren Abenteuern. Ihr habt die Kinder aus den Fängen dieses Wahnsinnigen befreit, Euren Stiefvater ins Gefängnis gebracht, Mittäter enttarnt. Den Krieg auf Kânegg beendet. Nun seid ihr dabei, Reformen durchzuführen.“
„Wenn Ihr das alles schon wisst, was wollt Ihr dann noch hören?“
Paíre schritt zu den mannshohen Fenstern, äugte auf den Palasthof hinunter. Ihre Hand spielte mit dem Samtvorhang. „Die Wahrheit. Seht Ihr, all diese Dinge kursieren nur über Euch. Die Dienerschaft tuschelt, die Dokumente sind lediglich Protokolle, die Große Reise ein Gemisch aus Heldendichtung und Halbwahrheiten derer, die mit den Schiffen zurückkehrten, die Berichte über Vei unvollständig.“
„Befragt Euren Vater. Er hat ihn und seine Komplizen verhört.“
„Mein Vater spricht nie über die Arbeit. Auch mein Bruder hüllt sich in Schweigen.“
„Gut“, sprach Ylaiy seinen Gedanken laut aus. „Das macht beide zu vertrauensvollen Untergebenen, ganz so, wie meine Mutter und ich gehofft – geahnt – hatten.“ Er biss sich auf die Lippen, bevor er zu seiner Frau trat und über ihre Schulter nach draußen starrte. „Urdat Vei ist ein schlechter Mensch. Was auch immer Ihr über ihn hört, stimmt vermutlich. Er hat Menschen getötet, für Einfluss und Reichtum gemordet, Frauen geschändet, Leben zerstört. Ich hoffe, er verfault in der Boragha.“
„Lebt er noch?“
„Nach allem, was meine Boten mir zutragen, ja.“
„Sind nicht viele Gefangene von ihm eingekerkert worden?“
„Er hat Freunde, alte Verbündete. Vergesst nicht, dass er der Befehlshaber aller Militärs war, also auch der Wachen auf Kaadaa. Sicherlich fürchten ihn immer noch viele. Kommandant te Sant war ihm einst unterstellt. Der Kodex der Soldaten sitzt tief. Sie verraten keinen ihrer Leute.“
„Er ist keiner der ihren mehr.“
„Einmal Soldat, immer Soldat.“
„Man hätte ihn hinrichten sollen.“
„Das Dran’bara bestraft. Es richtet nicht hin. Außerdem ist das Leben hinter Gittern eine fortwährende Demütigung für Vei, schlimmer als der Tod. Genauso wie die Furcht vor Anschlägen, die ihm ständig im Nacken sitzt. Vei ist gestraft. Härter als ein Richterschwert es vermocht hätte.“
„Ein sauberer Kopfstreich scheint mir menschlicher.“
Ylaiy betrachtete ihren Hinterkopf, das glatt anliegende, glänzende Haar. „Mit diesem Gedanken seid Ihr nicht allein“, sagte er und dachte an Adiv.
Langsam drehte sie sich zu ihm um, blickte erst auf seine Brust, dann in sein Gesicht. „Ich hoffe, das Kind sieht Euch ähnlich. Ihr seid ein attraktiver Mann, Ylaiy.“
„Oh, das sind nur die prunkvollen Kleider und die Aura von Macht, die mich umgibt.“
„Glaubt Ihr?“ Sie beherrschte den neckischen Tonfall nicht. Aus ihrem Mund klang alles ernst, unverstellt und ehrlich.
„Genug Wahrheiten für heute?“, umging er die Antwort und wich ihrem Blick aus.
Sie betrachtete ihn eine Weile schweigend, bis er sich räusperte und ihr zu verstehen gab, dass das Gespräch unangenehm zu werden drohte.
„Eure Zofe“, sagte sie gedehnt. „Seht Ihr sie noch?“
Flammende Röte kroch seinen Hals hinauf. „Eine der Bedingungen Eures Vaters war, dass ich meine Beziehung zu ihr einstelle.“
„Das fiel Euch schwer, nicht wahr?“
Er tauchte die Zunge in die Wange. „Sila“, erwiderte er langsam, jedes Wort betonend, „war mir eine gute Freundin.“
„Eine Gespielin“, stellte sie fest, die Stirn gerunzelt.
„Mehr als das. Sie war mit meinem Leben verbunden.“
Ihre Augen wurden eine Spur dunkler. „Wie das?“
„Ihre Mutter - meine Amme - rettete mir das Leben, als ich noch ein Säugling war. Sila wurde bereits als Mädchen meine Zofe.“
„Und später mehr.“
„Ich nahm es als gegeben. Erst als ich sie beinahe verlor, wurde mir klar, dass sie nicht selbstverständlich war.“
„Ihr verliebtet Euch in sie?“, hakte sie nach, die Stimme eine Spur tiefer.
„Hört, Paíre, ich respektiere Euren Wunsch, mehr über mich zu erfahren, doch ich möchte Euch nicht verletzen. Sila war ein wichtiger Mensch in meinem Leben, aber sie gehört der Vergangenheit an.“
„Was ist mit Eurem Sohn?“ Sie stieß die Frage aus wie ein Stück verdorbenes Fleisch.
„Talin.“ Ylaiy fuhr sich durch das schmutzigblonde Haar. Innerlich ächzte er. Sila war wie ein Dorn, der in seiner Haut saß. Talin war der Pflock durch sein Herz.
„Er ist Euer Erstgeborener.“
„Das bedeutet nichts für die Thronfolge“, entgegnete Ylaiy schroff. „Euer Kind ist das rechtmäßige. Genug Wahrheiten für einen Tag. Ich muss mich um die Geschäfte kümmern. Speist Ihr mit meiner Mutter?“
Sie nickte. „Wir sehen uns beim Abendmahl?“
„In der Haupthalle. Der Leitende Inquisitor ist zurück. Möglicherweise bringt er Neuigkeiten aus Kaadaa und Kânegg.“

Sie war schön. Nicht hübsch wie das Balg der Magd. Nicht anziehend wie die Magd selbst. Nicht attraktiv, wie seine Schwiegertochter es gewesen war. Diese Frau war auf eine atemberaubende, spektakuläre Art schön.
Ihr Gesicht erinnerte ihn an die Reliefs der Göttinnen, die die Tempelmauern in der Stadt zierten. Ausgeglichen, harmonisch, von nahezu vollkommener Symmetrie. Ihre Haut hell und ohne Makel. Selbst die Sommersprossen auf ihren Wangen fanden die Menschen entzückend, genau wie sie ihre Art, die Nase zu rümpfen oder den Mund trotzig zu verziehen, entzückte. Ihre Augen, von einem strahlenden Blau, umkränzt von kräftigen Brauen und dichten Wimpern, zogen andere in ihren Bann. Zu allem Überfluss verfügte sie über sinnliche Lippen, ein schadloses Gebiss, ein sanft geschwungenes Kinn und kleine Ohren, an denen so mancher Mann Perths lustvoll geknabbert hatte. Oder zumindest damit prahlte, es getan zu haben. Rotgoldene Locken fielen über Schultern und Rücken. Wenn sie im Licht stand, so wie jetzt, verfing sich die Sonne in der Mähne und es schien, als stünde ihr Kopf in Flammen.
Er hasste sie.
Von ihrer Wirkung auf andere, Männer und Frauen gleichermaßen, ahnte sie nichts. Das machte sie über alle Maßen begehrenswert. War das nur Schein? Gleichgültigkeit? Er tippte auf Letzteres.
Als sie ins Haus gekommen war, sie anstelle seines Sohnes und seines Enkels, war sie verschreckt gewesen, gefangen in Erinnerungen, erstickt in Gram, benommen von unbekannten Menschen und einer neuen Heimat. Doch es lag nicht in ihrer Natur, sich zu vergraben. Bald schon fand sie Freunde; die Magd und ihr Balg, den Jungen, den sie mitgebracht hatte. Sabyns Enkel. Sohn der Tochter, die es nicht hatte geben sollen.
Danach waren die Männer gekommen, einer erst, dann noch einer, dann eine ganze Reihe von ihnen, im Abstand von wenigen Wochen, manchmal nur Tagen. Sie trugen keine Namen, hatten keine Gesichter. Sie kamen und gingen.
Zweifellos war sie erblüht in diesem Jahr und schnell zur Frau gereift. Gleichzeitig hatte sie etwas Verwelktes, Überreifes an sich. Sie wirkte älter, als sie war. Bisweilen hörte man es in den Liedern, die sie vor sich hin summte. Plötzlich veränderte sich die Melodie, verlor sich das Heitere in dunklen Tönen.
Er betrachtete sie, wie sie dort im Sonnenlicht stand, inmitten des Tanzsaales, dessen Geruch nach Holzpolitur, Schweiß und Duftwasser er verabscheute, beäugte ihren Körper, der sich unter der eng anliegenden Kleidung überdeutlich abzeichnete und sich auffallend von dem kindlichen Leib des Balgs unterschied. Das war nicht mehr das abgemagerte Mädchen, das vor über einem Jahr zu ihnen gestoßen war. Dies war eine Frau, die alle Attribute von Weiblichkeit aufzuweisen hatte, welche die Dichter besangen. Sanft gerundete Hüften und Schultern, eine schmale Taille, Brüste, die wie dafür gemacht waren, sich in Männerhände zu schmiegen. Kein Wunder, dass jeder Kerl in der Stadt sich nach ihr umschaute.
Er fragte sich, ob sie noch immer mit den Männern schlief. Die Besuche von Studenten, Stallburschen und Gesellen waren seltener geworden. Es schien, als hätte sie genug von ihnen. Früher waren sie morgens in der Halle aufgetaucht, zerknitterte Burschen, die eine Entschuldigung murmelten und beschämt verschwanden. Andere hatten sich wortlos aus dem Staub gemacht, wieder andere wie Sieger in die Runde geschaut. Einer, ein unverschämter Kerl von einem Wagnerlehrling, war mit offenem Hemd an den Tisch getreten, hatte sich Gebäck in den Mund gestopft und war mit Krümeln im Mundwinkel und einem schmierigen Grinsen aus der Halle gestolpert.
Da war ihm der Kragen geplatzt. Er hatte missbilligend die Magd angeschaut, die kaum weniger glücklich zurückgestarrt hatte. „Das muss ein Ende haben“, hatte er gefordert.
„Das wird es.“
„Dieses Haus ist kein Freudenhaus.“
„Natürlich nicht.“
„Sie benimmt sich wie eine Hure.“
„Sie ist keine. Das wisst Ihr so gut wie ich.“
„Sie hat unentwegt Männer bei sich.“
„Sie versucht, Trost zu finden. Wärme. Vielleicht Liebe.“
„Sie hat den Jungen.“
„Das ist nicht dasselbe, Maxim.“
„Am Ende bekommt sie noch Kinder.“
„Sie kennt Methoden, um Schwangerschaften zu verhindern.“
„Auch, um unerwünschte Sämlinge wieder loszuwerden?“
„Davon wollte sie nichts hören. Doch, ja, ich vermute schon. Letztlich ist sie eine sehr gute Schülerin, die mich oft genug begleitet hat. Sie hat einen wachen Verstand.“
„Das bezweifle ich.“
„Weil sie eine Frau ist, Maxim? Oder weil sie nicht von hoher Geburt ist?“
Seine wässrigen Augen hatten sich in ihre gebohrt. Früher hatte er andere Menschen niederstarren können, und manchmal gelang ihm das im Alter noch. Doch Ardanna hatte sich von ihm nie einschüchtern lassen. Darin war sie Cledent sehr ähnlich.
„Sorg dafür, dass sie mit der Hurerei aufhört“, hatte er gesagt, bevor er aufgestanden war.
„Gewiss. Ich bin sicher, dass Adiv sich Euren Einwand zu Herzen nehmen wird. Doch vergesst eines nicht.“
„Was?“
„Ihr erteilt mir keine Befehle. Dies hier ist mein Haus.“
„Früher hätte man aufsässige Bedienstete wie dich bestraft!“
„Beschwert Euch bei Eurem Sohn. Er hat über sein Erbe verfügt.“
„Das Pergament ist gefälscht. Du hast ihn verhext.“
Ardanna hatte gelacht. „Glaubt mir, wenn ich hexen könnte, würde ich die Leute mit Zauberkraft heilen, anstatt mit Kräutern und Gewürztränken. Ihr könnt das Pergament anzweifeln, solange Ihr wollt. Der Prinz und sein Meister haben es für echt befunden.“
„Ihr habt meinen Sohn mit Eurer Weiblichkeit verhext!“
„Ihr meint mit Liebe und Zuneigung? Ja, da habt ihr wohl recht.“ Trauer hatte ihre Worte überlagert, doch sie hatte sich schnell gefangen. „Nun schaut nicht so angewidert, Maxim. Sicher habt auch Ihr einst Gefallen an Liebe und körperlichen Freuden empfunden.“
Immerhin hatte sie ihr Wort gehalten. Wenn Adiv sich weiterhin mit Männern einließ, dann tat sie es heimlich. Zum Haupthaus gehörte eine Reihe von Nebengebäuden: Ställe, Scheunen, Dienstwohnungen, Lagerräume, Küchentrakte, Krankensäle, Waschkeller, Verhaue mit Feuerholz, Schuppen für die beiden Kutschen, Werkstätten, das Backhaus. Die Perther Residenz war nicht annähernd so groß wie der Kaiserpalast, beileibe kleiner als die ausgedehnten Besitzungen der einflussreichsten Adelshäuser auf Yruish und Prant, kleiner auch als die Tempel und Gotteshäuser der Gläubigen, kleiner als die Militärakademie, Studienhäuser und Bibliotheken, kleiner als das Hohe Haus der Gilden, kleiner selbst als das Stammanwesen in Korth, aber sie bot genug Ecken und Winkel, in die man schlüpfen konnte, wenn man nicht gesehen werden wollte.
Ein ärgerlicher Laut riss ihn zurück in den Tanzsaal und seine Lippen zu einem höhnischen Lächeln auseinander.
Sie hatte einen Körper wie eine Göttin und wusste so wenig mit ihm anzufangen. Sie konnte mit ihm betören, auf ihre natürliche, unbefangene Art, aber sie vermochte nicht, damit zu locken. Sie konnte nicht verführen. Nur anbieten, nehmen lassen, geben, ohne zu bekommen. Er hatte sie nie im Bett gehabt, doch er wusste, dass er recht hatte. Sie war Fleisch. Männer nahmen sie, genossen sie, kehrten für eine weitere Mahlzeit zurück, aber sie waren sie bald über.
Welche Verschwendung.
Er kicherte, als er ihr beim Tanzen zusah. Sie, die gern sang und den Kranken Melodien vorsummte, konnte keinen Takt halten. Was bei Sphita anmutig aussah, verwandelte Adiv in ein Bauernweib. Sie stolperte durch den Saal, verhedderte sich in den eigenen Füßen, verwechselte Schritte, wusste nicht, wohin mit Armen und Kinn, verlor das Gleichgewicht, wenn sie auf Zehenspitzen stand.
Sie blickte zu ihm hinüber und stellte ihre armseligen Versuche ein. „Was glotzt Ihr?“, rief sie ihm zu, alle Regeln der Höflichkeit ignorierend.
Sie war zauberhaft, wenn sie verärgert war.
Er verneigte sich und klatschte spöttisch in die Hände. „Ich bestaune lediglich Eure Anmut, Frau.“
„Seid nicht so …“
„… herablassend“, fiel Sphita ihr ins Wort und stupste sie in die Seite.
„… ein alter Drecksack“, sagte Adiv und blitzte ihn an.
„Ihr vergreift Euch im Ton, Weib!“
„Und Ihr Euch an Frauen, die weniger als die Hälfte Eures Lebensalters erreicht haben“, konterte sie. „Und Männern“, setzte sie süßlich hinzu.
„Vorsicht“, warnte er. „Ihr geht zu weit.“
„Ich berichte nur, was man sich auf den Straßen erzählt. Ihr solltet vorsichtiger sein, Baraten. Irgendwann trefft Ihr auf einen erzürnten Vater oder Bruder oder einen gehörnten Gatten. Mir scheint, Eure Verfassung lässt Euch dann recht alt aussehen.“ Die letzten Worte zog sie in die Länge.
Mit einem Satz war er an ihrer Seite. „Meine Verfassung dürfte Eure Fähigkeiten im Tanzsaal weit in den Schatten stellen.“
„Maxim!“, rief Sphita erschrocken. „Steckt den Säbel wieder ein! Meine Mutter erlaubt keine Waffen im Haus.“
„Noch so eine hirnrissige Idee“, sagte er verächtlich. Dann schnalzte er mit der Zunge und vergrub sein Gesicht in der Lockenpracht Adivs, die in dem Moment erstarrt war, in dem der kalte Stahl ihre Kehle berührt hatte.
Als sie spürte, wie sein dürrer Männerkörper sich anzüglich an ihrem rieb, erschauerte sie vor Ekel und die Starre verschwand. Sie hob den Zeigefinger und drückte den Säbel beiseite. „Ausnahmsweise sind wir uns in diesem Punkt einig“, raunte sie.
„Oh, Ihr glaubt nicht, wie sehr der Gedanke an einen Kampf mit Euch mich erregt“, flüsterte Baraten zurück.
Mit einem Ruck schob sie ihn von sich. „Träumt weiter. Und lasst mich meine Übungen fortsetzen.“
„Aus Euch wird niemals eine Höfische“, versetzte er. Der Säbel glitt zurück in die Scheide. „Vielleicht solltet Ihr lieber Kampfesübungen absolvieren, anstatt zu tanzen.“
Sie zuckte mit keiner Wimper. „Droht Ihr mir?“
„Ihr habt den Krieg begonnen.“
„Und ich beende ihn“, tönte eine Frauenstimme vom Eingang des Saales.
„Mutter!“, rief Sphita mit sichtlicher Erleichterung.
„Was ist hier los?“
„Nichts“, erwiderte Adiv mit einem Blick auf ihn.
„Wir unterhalten uns nur“, erklärte er.
„Das ist nicht wahr.“ Ein stämmiger Junge schob sich neben Ardanna durch die Tür. „Er hat sie bedroht.“
Ardannas Augen zuckten durch den Saal. „Bedroht? Wie?“
„Er hat den Säbel gezogen“, berichtete Sphita.
„Nur, um Eurer Ziehtochter die Gewandtheit zu demonstrieren, die beim Tanzen notwendig ist“, entschuldigte er sich. „Vergebt einem alten Haudegen. Der Säbel gelangte wie von selbst in meine Hand. Es scheint, als wäre ich unbelehrbar.“
„Geht nicht zu weit, Maxim.“ Ardannas Stimme änderte ihren Klang, wurde hart und drohend. Sein Sohn hatte genauso geklungen, wenn er Verbrecher einschüchtern wollte.
„Sagt das Eurem Mündel. Sie verhielt sich mehr als unverschämt mir gegenüber. Ich verdiene Respekt.“
Adiv hob ihr Kinn. „Womit? Ihr streicht wie ein Dieb durch das Anwesen, schleicht mir nach. Beobachtet mich und Arlen. Ihr sät Missgunst, stellt mich vor Bediensteten und Besuchern in ein schlechtes Licht. Rügt Arlen ständig wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, vermutet hinter jedem Fehler ihn. Ihr macht Euch über uns lustig und über dies Haus. Wenn es Euch hier nicht gefällt, unter all uns Frauen und Kindern und Kranken, dann geht. Verschwindet von hier. Soweit ich weiß, besitzt Eure Familie mehr als ein Anwesen.“
„Dahergelaufenes Gesindel!“ Er zitterte vor Zorn. „Sei dankbar für meine Gnade, dich in mein Haus zu lassen.“
„Es ist mein Haus, Maxim. Ich bin es, die Euch duldet. Wie lange noch, steht auf einem anderen Blatt.“ Ardanna wuchs vor ihm in die Höhe, bis sie ihm geradewegs in die Augen schauen konnte. Ihre Stimme und ihre Haltung hatten alles Liebliche, Gutmütige verloren. Adiv warf Arlen einen schnellen Blick zu, den dieser mit einem kaum merklichen Augenaufschlag erwiderte.
„Hört auf, mich einzuspinnen“, grummelte er und wandte sich um. „Ihr werdet mich nicht los. Ihr alle nicht. Mein Sohn hat dies Haus bauen lassen. Sein Geist lebt hier fort.“
„Sein Geist und sein Geld“, konterte Ardanna ungerührt. „Es ist das Einzige, was ganz allein Cledent gehörte. Alle anderen Anwesen habt Ihr verspielt oder vertrunken. Die Gläubiger sitzen Euch im Nacken. Ich werde Euch nicht schützen, Maxim. Ich gewähre Euch lediglich ein Obdach. Indes: Auch meine Geduld hat Grenzen.“
Er wandte sich um und ging, nicht ohne ihnen noch einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen.
„Danke“, würgte Adiv hervor. „Für Euer Eingreifen.“
„Arlen holte mich von der Bettstatt eines Mannes weg, der in einem fortgeschrittenen Stadium der Fieberpocken ist“, erwiderte Ardanna ungehalten. „Er befindet sich bereits im Delirium. Wenn er stirbt, dann womöglich deshalb, weil du einen sinnlosen Streit mit einem unverbesserlichen Eiferer suchen musstest.“
„Er hat mich ausgelacht. Mich gereizt. Seitdem ich dies Haus betrat, ist er mir auf den Fersen.“
„Steh über solchen Dingen. Lerne, dich zu beherrschen. Er ist alt, verbittert, verarmt. Und sehr allein.“
„Aber…“
„Genug“, schnitt Ardanna den Satz ab. „Ich muss an meine Arbeit. Ich erwarte dich nach der Tanzstunde in den Krankenräumen. Ich brauche jede Hilfe. Die Pocken grassieren besonders schlimm in diesem Sommer. Wir müssen sie eindämmen, bevor sie in der ganzen Stadt wüten.“
Adiv senkte den Kopf. „Sicher.“
Ardanna warf ihr einen letzten Blick zu und eilte davon.
Sphita zupfte Adiv am Ärmel. „Komm. Lass uns weitermachen.“
Resigniert seufzte Adiv. „Sag mir noch einmal, warum ich tanzen lernen muss.“
„Mutter sagt, es tut dir gut an Körper und Seele. Mit solchen Dingen kennt sie sich aus. Außerdem: Möchtest du ewig eine Diebestochter bleiben? Dies Haus hat ein gewisses Ansehen. Bei Kranken und Gesunden.“
„Meinst du, sie mögen mich mehr, wenn ich tanzen kann?“
„Nur, wenn du Freude dabei empfindest“, mischte sich Arlen ein. „Denn das kann das Tanzen in dein Leben zurückbringen. Unbeschwertheit, Leichtigkeit. Das spüren die Kranken. Es hilft ihnen mehr als dein Unglücklichsein.“
Wie so oft kam ihr keine Erwiderung in den Sinn, wenn der Knabe in Worten wie diesen sprach. Er war acht Jahre alt, aber manche Dinge verstand er besser als jeder Greis.
„Gut“, murmelte sie und wandte sich Sphita zu. „Ich werde mir Mühe geben, und sei es nur, um dem Alten eins auszuwischen. Ich hasse ihn seit dem ersten Tag hier.“
„Fang nicht wieder an“, stöhnte Sphita und zog Adiv in die Mitte des Raumes.
„Ich mag ihn auch nicht“, setzte Arlen leise nach. „Er hat ein böses Herz.“
Plötzlich fiel Sphita etwas ein. „Woher wusstest du, dass du meine Mutter holen musstest? Hast du an der Tür gelauscht?“
Der Knabe zuckte mit den Schultern, dann zog er eine schelmische Grimasse. „Ich habe das zweite Gesicht.“
Sphita lachte auf, drehte sich in einer vollendeten Pirouette um Adiv, tänzelte bis zu Arlen und stupste ihm auf die Nase. „Du bist wie meine Mutter. Irgendwie unheimlich, manchmal.“
Adiv ließ sich von Ardannas Tochter mitziehen. Im Spiegel sah sie den Jungen, dessen Lächeln gefror, bevor er sich umwandte und den Saal verließ. Rasch klopfte sie sich mit den zusammengelegten Fingerspitzen ihrer rechten Hand zweimal auf die Brust.

Der Vormittag verdampfte in gleißendem Licht. Gillok warf einen Blick auf den silbernen Himmel und seufzte. Die Hitze wogte um ihn wie ein unsichtbarer Vorhang. Schweiß kitzelte seinen Nacken.
Er überlegte, ob er zu den Sumpflöchern gehen sollte, um Wasser zu holen. Der Lederschlauch, den er in Fedaj gekauft hatte, war leer und Durst quälte ihn. Er könnte auch schwimmen. Sehnsüchtig schaute er zum Ozean. Das Wasser würde ihn abkühlen wie Ciycain, die seit dem Morgen über den Meeresgrund jagte.
Oder er könnte an den Moorlöchern vorüber die sanften Hügel hinauf steigen und Schutz im Schatten der Wälder suchen. Zwar kochte die Luft auch dort, aber immerhin wäre er der Sonne nicht ausgesetzt. Syra zog sich meist in die Gehölze zurück. Er wusste, dass sie gern auf einen Baum stieg und die Mittagshitze wie eine Raubkatze ausgestreckt auf einer Astgabel durchstand; eine Angewohnheit, die sie als Kinder geteilt hatten. Mittlerweile war ihm das Lagern im Geäst zu unbequem, der Aufstieg zu anstrengend. Sein Bein, aufgeschlitzt vom Schwert des Riesen, hörte nie ganz auf zu schmerzen. Er beschwerte sich nicht. Bei allen Göttern, er war froh, es noch zu haben.
Er verspürte keine Lust, auf Syra zu treffen. Sie war seit Tagen verschlossen wie eine Auster und würde seine Anwesenheit als zudringlich empfinden. Also überlegte er, doch lieber Ciycain Gesellschaft zu leisten, aber etwas ließ ihn zögern, hielt ihn ab.
Das Dorf. Grulorh. Ihre Heimat. Über zwei Jahre hatten sie gebraucht. Nun waren sie hier.
Er glaubte nicht an Spukgestalten. Syra hatte ihnen erzählt, wie Akim und Adiv die Geister ihrer Verwandten auf der Eisinsel gesehen hatten. Er hatte lächelnd den Kopf geschüttelt.
Ciycain hatte ihn ernst angesehen. „Wie könnt ihr nicht an höhere Mächte glauben? Nach alldem?“
Er hatte sie daran erinnert, dass Frâgg die Natur als das höchste Gut begriffen. Für sie war ihre Umwelt allerdings etwas zutiefst Irdisches. Pflanzen, Tiere und die Elemente waren erfahrbar und damit wirklich. Natürlich gab es jede Menge Aberglauben, aber er und ihre Mutter suchten lieber nach einleuchtenden Deutungen.
„Ich frage mich, wie ihr unsere Rettung einzig mit Vernunft erklären wollt“, hatte Ciycain entgegnet.
„Ich mich auch“, murmelte er jetzt und schüttelte den Lederschlauch.
Unschlüssig blickte er zwischen dem Meer und den Sumpfhügeln hin und her. Die Siedlung dazwischen war verschwunden. Ausgelöscht. Als hätte sie nie existiert. Ein Dorf. Klein, winzig. Seine Welt.
Er sah es immer noch. Die Fischer, die mit der Flut zurückkehrten, ihre Speere, an denen fette Stachler hingen, geschultert, Körbe zwischen sich, in denen sich die glänzenden Leiber von Neunaugen wanden. Er hörte das fröhliche Lachen, mit denen die Alten die Jäger begrüßten und ihnen halfen, das Fleisch zu verteilen, roch die schwere Süße der Sumpfbeeren in den Körben der Kinder, die leichte Bitterkeit der Nüsse, die würzige Samtigkeit von Pilzen. Er roch den Rauch, der aus den Hütten aufstieg, vernahm die Zurufe der Menschen.
Gillok glaubte nicht an Geister, wusste, dass Hitze, Durst und Erinnerungen ihm die Bilder vorgaukelten. Er wusste es, aber dieses Wissen ließ die Leere im Inneren nicht schrumpfen. Er wusste, dass er in der brütenden Sonne saß und auf ein Trugbild starrte, erkannte die verbrannten Holzstücke, die Syras Stiefel unter dem Sand hervor gewühlt hatten. Er glaubte nicht an Gespenster, und doch sah er die Verstorbenen so lebendig vor sich wie seine Tochter, die von den Algenbänken zu ihm herüberwinkte. Matt hob er den Arm und ließ sie wissen, dass sie unbesorgt sein könne.
Er stand auf, klopfte sich den Sand von der Hose und ging zu dem Platz, an dem seine Hütte gestanden hatte. Dort kniete er nieder.


Ein Schatten fiel über ihn. Sein Kopf zuckte hoch. Im selben Moment schoss ein Krampf die Schultern hinauf. Die schmerzende Stelle massierend, stand er langsam auf. Ihm war schwindlig vor Hitze und Durst und dem gestauten Blut in den Beinen. Er schüttelte sie aus, rieb über die Oberschenkel.
Sie beobachtete ihn schweigend, sah dann stirnrunzelnd auf den Haufen in der Mitte des Dorfplatzes. „Baust du ein Monument für die Toten?“
„Ich hatte das Gefühl, etwas für sie tun zu müssen“, versuchte er eine Erklärung. „Man kann sie doch nicht einfach hier liegen lassen. Immerhin kannten wir sie.“
Sie zog die Augenbrauen hoch und die Kapuze ihres Umhangs in den Nacken. Auf ihrer Stirn stand Schweiß. „Ciycain wartet am Waldrand.“
„Hat sie dich aufgestöbert?“, fragte er und registrierte, dass es Nachmittag war. Er hatte Stunden auf den Knien zugebracht.
„Ja“, gab sie knapp zurück und schritt um den Knochenhaufen.
„Es tut mir leid. Ich habe die Zeit vergessen.“
„Das Wetter wird die Knochen über kurz oder lang völlig zerstören. Dein … Grab. Vor allem die Herbststürme.“
Er nickte. Spürte, wie rote Hitze seinen Hals hinauf stieg. „Sie können nicht in Frieden ruhen. So weggeworfen. Das ist keine Art.“
„Du bist verrückt“, sagte sie.
Er sah sie an, zog eine Grimasse und bückte sich nach dem nächsten Skelett.
Syriakin schüttelte den Kopf, setzte ihre Kapuze wieder auf und ging zu Ciycain. Er hörte, wie sie ihrer Tochter einige beruhigende Worte zuwarf, sah, wie sie sich nach unten beugte und dann in den Wald lief.
Er zog die Nase hoch, wischte sich den Schweiß ab und sammelte weiter.
Kurz darauf hielt sie ihm den Lederschlauch hin. „Du bist verrückt. Die Sonne hat dich wirr gemacht.“
„Hilfst du mir jetzt?“, fragte er, nachdem er in großen Schlucken getrunken hatte.
„Nichts, was du tust, macht sie wieder lebendig.“
Er sank zurück auf seine Fersen. „Ich kann hier nicht bleiben. Nicht mit all den Toten.“
„Dann ziehen wir weiter.“


Am späten Nachmittag saßen sie auf einer Moorinsel im prasselnden Regen und schauten den Tropfen zu, die in den Sand einschlugen, sodass der Strand aussah wie ein Lebewesen.
Der donnernde Regen ließ ihre Gespräche verstummen und sie zusammenrücken. Ciycain kauerte zwischen ihren Eltern, lehnte sich mal an ihre Mutter, mal an ihn. Sie, die im Meer zu Hause war, mochte keinen Regen, spähte missmutig durch den Vorhang aus fallendem Wasser. Regen mache sie müde und wehleidig, gab sie unumwunden zu.
Gillok genoss das sanfte Klopfen auf seinem Rücken. Wenn er die Augen schloss, meinte er, Fingerspitzen zu spüren. Zwischendurch legte er den Kopf in den Nacken und ließ sich das erhitzte Gesicht kühlen.
Was Syra empfand, war schwer zu sagen. Sie saß mit weit geöffneten Beinen, die Füße aneinandergelegt, die Unterarme auf der Innenseite ihrer Oberschenkel. Ihren Kapuzenmantel hatte sie neben sich ins Moos geworfen, ihre Stiefel standen umgedreht in ihrem Rücken. Ihre Augen starrten blicklos in die Ferne.
Diran, dachte Gillok ansatzlos. Regentropfen. Eine Träne des Himmels. So war sie in die Welt gelangt.
Sie saßen schweigend, bis das Rauschen so plötzlich verstummte, wie es losgebrochen war, und der Donner sich verzog. Der Himmel riss auf und ließ die Abendsonne hindurch, die alle Feuchtigkeit augenblicklich in Dampf verwandelte, der das Atmen erschwerte.
Jetzt war der Tag am schwülsten, die Stickigkeit kaum auszuhalten. Dennoch war dies Gilloks liebste Stunde in den Hochsommerwochen, denn nun stieg der Nebel von den Oberflächen auf und spann sich sanft nach oben, zurück in den Schoß der Wolken, golden gefärbt vom Glanz der Sonne. Seit seiner Kindheit konnte er sich an diesem Schauspiel nicht sattsehen.
„Wohin wollt ihr nun gehen?“, erkundigte sich Ciycain mit einem herzhaften Gähnen.
Weder Syriakin noch er fragten, woher sie wusste, dass sie nicht bleiben würden.
„Das wissen wir nicht“, gab ihre Mutter zu.
„Können wir wieder zu den Menschen gehen?“
„Zu welchen?“
„Einerlei.“
„Sind wir zwei dir nicht Gesellschaft genug?“
„Sie braucht Leben um sich“, warf Gillok ein. „Andere Kinder. Jemanden zum Spielen.“
„Kinder wären schön.“ Ciycains Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
„Gut.“ Syriakin schlüpfte in ihre Stiefel, indem sie beide Hände zu Hilfe nahm. „Suchen wir Menschen.“
Auch sie drängt darauf, diesen Ort zu verlassen.
„Wir waren noch nicht an den Gestaden im Südosten“, sagte er. Syra schoss ihm einen ihrer langen Blicke zu. „Schau mich nicht so an. Dorthin wolltest du doch, seit wir uns kennen. Es ist einen Versuch wert.“
„Warum?“, wollte Ciycain wissen.
„Weil dort das Geburtsdorf deiner Mutter liegt.“
„Steht es noch?“, fragte das Mädchen mit runden Augen.
„Das wissen wir nicht“, erwiderte Gillok und drückte Syras Hand. Sie zog sie zurück.

Was war Furcht?
Eisige Stiche, die das Rückgrat entlangliefen. Lähmender Stillstand. Stoßweiser Atem aus enger Brust. Schweißausbrüche. Magenschmerzen. Der Eindruck einer übervollen Blase. Schwindel.
Heute fiel sie ihn in Form tauber Fingerkuppen und vibrierender Unterarme an. Ungewohnte Empfindungen. Er knetete die Finger und richtete den Blick auf den Weg vor sich, den die meisten Menschen nicht wahrgenommen hätten. Aufmerksamere unter ihnen mochten vertrockneten Kameldung sehen oder verwischte Hufabdrücke, doch niemals einen Weg. Für Akim war er so sichtbar wie eine gepflasterte Straße. Eine Straße, an deren Ende Puard lag.
Noch war die alte Oasenstadt nicht zu erspähen. Die Hitze hüllte sie ein, tränkte die Luft, verzerrte sie mit Flirren und Flimmern. Dunstschleier trübten die Sicht. Unter ihnen lag Puard mit Dattelpalmen, Gräsern und einem See, dessen Tropfen Akim bereits auf den Lippen schmeckte.
Er schüttelte die Arme aus, ließ die Schultern kreisen, verschränkte die Finger, rieb die Spitzen aneinander. Das Taubheitsgefühl blieb, nicht schmerzhaft, aber unangenehm. Dann schob er das Tuch, das den Kopf bis auf einen Augenschlitz verhüllte, zurecht und hielt die Hand vor die Stirn.
Nachdem er die Augen einige Sekunden auf die Ferne ausgerichtet hatte, sah er sie. Sie stand am Wegesrand, eine einsame Gestalt inmitten der Allmächtigkeit der Ödnis. Man hätte sie für eine Luftspiegelung halten können oder für einen der Pfähle, die auf Kânegg als Wegmarken für Reisende dienten. Auf Berlen allerdings gab es keine Markierungen, denn im stetig wandernden Sand waren sie nutzlos.
Die Gestalt wartete vollkommen reglos.
„Was ist?“, rief eine barsche Stimme von hinten.
Akim bemerkte, dass er stehen geblieben war. Die Kamele schnaubten ungeduldig, trampelten mit den Hufen. Sie rochen das Wasser, ganz so wie er. Ihre Besitzer hatten Mühe, sie zu halten.
Jaqi“, sagte Akim.
Ein Mann in der türkisfarbenen Tracht der Nordstämme schob sich neben ihn. „Ein Mensch? Ich sehe nichts.“
„Ich sehe ihn.“
„Nur einen?“
Aí.
„Dann los! Ein Mann bedeutet kaum eine Gefahr. Außerdem wird er nicht so dumm sein, uns so nah an Puard überfallen zu wollen.“
„Wer sagt, dass es ein Räuber ist?“
„Eben. Vielleicht ein Reisender, der Anschluss sucht.“
„Er ist doch bereits am Ziel.“
„In die Gegenrichtung“, gab der Kamelführer mit belehrender Stimme zurück.
Dann würde er in Puards Schatten Erkundigungen einziehen, anstatt im glühend heißen Sand zu stehen.
Akim sprach den Gedanken nicht aus. Stattdessen ging er ohne Ankündigung weiter.
Der Nordberlani kehrte kopfschüttelnd zu seinem Tier zurück, hob die Hand und gab das Zeichen zum Aufbruch.
Während der nächsten beiden Stunden rieb Akim mit den Fingerspitzen fortwährend über die Handflächen. Seine Augen flogen unentwegt durch die Umgebung. Er suchte die Dünen ab, den Boden, den Himmel. Lauschte nach verdächtigen Lauten. Vernahm die Bewegungen des Sandes, hörte Tiere flüchten und die Dattelpalmen rauschen, die sich allmählich aus dem Hitzedunst schälten. Das Riechen brachte nichts. Zu stark überlagerten die Ausdünstungen der Kamele und Menschen sonstige Gerüche. Er öffnete sogar den Mund, um die Umgebung zu schmecken, scheiterte aber wie die anderen Male zuvor. Der Geschmack zählte nicht zu den außergewöhnlichen Sinnen der Madif, ganz gleich, was Kian behauptete. Ihm zumindest war dieses Geschenk der Natur nicht gegeben worden.
Puards Palmen, Hütten und Gärten wuchsen vor ihnen in die Höhe. Akim hatte imposantere Orte gesehen: die Hauptstadt mit dem Kaiserpalast, die steinerne Feste Fedaj, die unendlichen Ausdehnungen der Boragha, einen Palast aus Eis und Stein unter der Erde. Dennoch stockte ihm jedes Mal der Atem, wenn die ausladenden Palmdächer das grenzenlose Gelb der Wüste endlich durchbrachen.
Mit jedem Meter wuchs Puard weiter, während die Gestalt am Wegrand schrumpfte.
„Ich sehe ihn“, rief der Kamelführer Akim zu. „Lass Vorsicht walten.“
Akim nickte, ohne sich umzusehen.
Kareem tauchte an seiner Seite auf. Gewöhnlich sicherte er die Flanken der Karawane. „Wie gehen wir vor?“
„Bislang zeigt er sich unverdächtig“, erwiderte Akim. „Wir sprechen ihn an. Halte deinen Speer bereit und bleibe hinter mir.“ Unbeirrt lief er weiter, während er unauffällig ein Messer aus dem Gürtel zog und es hinter dem linken Arm verbarg.
Die Hand, die das Messer hielt, begann zu zittern. Deutlich spürte er das Vibrieren der Nerven und Muskeln. Das Taubheitsgefühl in den Fingerspitzen setzte wieder ein. Und plötzlich schmeckte er etwas. Bitter, gallig.
„Akim“, rief Kareem von hinten. „Siehst du das?“
Die Gestalt war immer noch weit genug weg für böse Überraschungen. Verbündete aus dem Sand zu rufen, zum Beispiel. Aber sie tat nichts, außer zu … winken?
„Ist das ein Gefahrensignal?“ Der Fährtenleser schloss erneut zu Akim auf und warf diesem scheue Blicke zu. Kareem war mehrere Jahre älter, hatte Frau und drei kleine Kinder, doch immer vergewisserte er sich bei dem jüngeren Mann, als scheute er sich, eigene Entscheidungen zu treffen. Das geschah häufig auf den langen Reisen durch die Wüste. Meist marschierte Akim nach wenigen Tagen an der Spitze der Karawane. Mittlerweile kannten ihn viele Führer und stellten ihn sofort an vorderste Stelle.
„Nein“, erwiderte Akim, um dessen Mund ein Lächeln zuckte. „Kehre um. Sag Mah Naraam, er kann gefahrlos weiter ziehen. Ich treffe euch in Puard.“
„Bist du sicher?“, fragte Kareem argwöhnisch und betrachtete die Gestalt, die beide Arme in die Luft geworfen hatte und sie hin und her schleuderte. „Vielleicht ist der Mann gefährlich.“
„Das ist kein Mann. Geh nur. Meinen Gruß an deine Familie.“
„Und an deine“, warf Kareem ihm zu, drehte sich um und verfiel in Laufschritt.
Auch Akim beschleunigte. Mit ihm setzte die Gestalt sich in Bewegung. Nach einigen hundert Metern erkannte er die vertrauten Gesichtszüge unter dem Kopfüberwurf.
„Du hast mir einen Schrecken eingejagt“, begrüßte er den jüngeren Bruder kurz darauf.
Kian lachte und wies auf Akims linken Arm. „Das Messer ist unnötig. Du kannst es wieder einstecken.“
Akim ließ das Messer verschwinden. „Ich sollte das öfter üben.“
„Ein Räuber hätte die Bewegung nicht gesehen“, beruhigte ihn Kian und umarmte ihn.
Akim versank in den Armen seines Bruders. Dann schüttelte er sich frei und betrachtete ihn. Kian zog das Tuch herunter und grinste ihn an. „Ich dachte, ihr kommt nie an. Wenn ich noch länger hier gestanden hätte, hätte ich mich selbst in Sand aufgelöst.“
„Was um alles in der Welt machst du hier draußen?“
„Dich begrüßen. Jula war außergewöhnlich geschäftig heute und Langeweile überfiel mich. Jula erwartete dich zurück, also dachte ich, ich fordere mein Glück heraus.“
„Dein Glück“, schnaubte Akim. Er drehte sich nach Mah Naraams Karawane um und setzte sich in Bewegung, den Jüngeren am Arm mit sich ziehend. „Du wusstest, dass wir uns nähern.“
„Nennen wir es eine Ahnung.“
„Wie machst du das?“ Er stellte die Frage nicht zum ersten Mal.
„Ich höre auf meine innere Stimme. Anders vermag ich es nicht zu beschreiben. Horche auf Winke. Einflüsterungen.“
„Warum bist du in Puard? Jol erwartet mich erst nach dem Hochsommer zurück.“
Kian lächelte nur.
Akim stöhnte. „Eine weitere Ahnung?“
Sein Bruder wackelte mit dem Kopf, spielte mit dem Tuch. „Ranand im al. Erinnerst du dich daran?“
Akim runzelte die Brauen.
„Kaum Wasser, kaum Nahrung. Nur Gras und Erde. Nichts zu tun. Alle sind müde, ruhen sich aus, kaum einer geht jagen.“
„Dir war langweilig?“
„Über alle Maßen.“ Entschuldigend zog Kian einen Mundwinkel hoch. Gleichzeitig lächelte er und breitete die Arme aus; eine Geste, die Menschen unwiderstehlich fanden und Kian alles verzeihen ließen.
Akim war nicht mehr so leicht zu beeindrucken. „Du bist hier, weil du dich gelangweilt hast?“
„Bei dir hört es sich an, als hätte ich ein Verbrechen begangen.“
„Wissen Mutter und Jol, dass du hier bist?“
„Was glaubst du denn? Dass ich mich einfach aus dem Staub mache? Nach allem, was geschehen ist?“
Plötzlich schien die Luft zu gefrieren.
Akim zog den Bruder näher heran. „Früher hast du gespielt, auch im Hochsommer. Irgendetwas ist dir immer eingefallen.“
„Dafür wird man eines Tages zu alt.“
„Nicht mit neun.“
„Die anderen Jungen sind bereits in der Lehre.“
„Nicht die in deinem Alter.“
„Sie sehen sich nach Lehrmeistern um. Begleiten ihre Väter in die Wüste.“
„Du könntest Jol begleiten oder Adan.“
„Adan hütet Ziegen. Jol hat genügend andere Pflichten.“
„Du könntest viel von ihm lernen.“
„Was denn? Wie man einen Streit schlichtet? Leute vermählt? Schutzsegen spricht?“
„Jol ist der Viath. Er hat eine wichtige Aufgabe.“
„Aber sie interessiert mich nicht.“
Akim ergriff den Knaben an beiden Armen und drehte ihn zu sich. „Du darfst Mutter nicht allein lassen. Sie sorgt sich.“
Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung entwand Kian sich dem Älteren. „Dann bleib du doch.“
„Ich sorge für uns. Für die Familie.“
Kian schrumpfte unter dem vorwurfsvollen Blick. Erleichtert stellte Akim fest, dass er endlich wieder das Gefühl hatte, größer als sein halb so alter Bruder zu sein.
Kian senkte die Wimpern. „Verzeih. Ich hatte Sehnsucht nach dir. Ich werde zurückkehren, wenn du mit der nächsten Karawane aufbrichst. Ich verspreche es.“
„Einverstanden. Nun lass uns eilen. Ich sehne mich nach Puards süßem Wasser. Und nach Jula, dem alten Halsabschneider. Er schuldet mir nun die Vergütung für vier Handelsreisen. Wir werden ein Festmahl haben.“
Kian lachte. „Hoffentlich findest du noch Wasser. Ich kam vorgestern hier an und habe den halben See leer getrunken. Ich war durstiger als ein Kamel.“
„Hattet ihr kein Wasser dabei?“
„Rablan und Taan hatten so viel Durst, dass ich ihnen meine Ration gegeben habe.“
„Rablan? Er ist noch recht jung für einen Lehrmeister.“
„Er ist auch kein besonders guter. Taan übertrifft ihn bereits. Es war mehr ihm zu verdanken als Rablan, dass wir es bis hierher geschafft haben. Er ist ein bemerkenswerter Schüler, doch nicht so gut wie du.“
„Oder du. Musstest du helfen?“
„Ich wollte, aber ich hielt mich an deine Ermahnung, mich zurückzuhalten. Taan hat es selbst hinbekommen, wenngleich der Umweg gewaltig war. Deshalb das Wasserproblem.“
„Armer Taan.“
„Ach, er hat die Ausbildung abgeschlossen. Jetzt wartet er auf einen Platz in einer der Karawanen. Er wird einen ausgezeichneten Fährtenleser abgeben.“ Kian klang so überzeugt, dass Akim keine Sekunde an den Voraussagen zweifelte.
Das Laufen im kochenden Wüstensand war auch für die Brüder anstrengend, zumal die Gluthitze sich in ihren Rachen staute. Sie gaben das Reden auf und marschierten auf Puard zu. Bei jedem Schritt wurde Akim sich bewusster, dass die Schultern des Bruders auf selber Höhe wippten wie seine.
Acht Wochen. Neun allerhöchstens. Vor acht oder neun Wochen hatte er noch auf Kians Hinterkopf hinab schauen können. Nun waren sie beinahe gleich groß.
Wie fühlte Furcht sich an?
Er rieb die Finger an den Handflächen. Das taube Gefühl schwand nicht. Möglicherweise war dies seine innere Stimme.

Frei sein. Für das Leben.
Nachdenklich tunkte sie den Löffel in die Gerstensuppe und pustete auf die Flüssigkeit, bevor sie Talin davon kosten ließ. Der Junge verzog das Gesicht, schluckte aber tapfer alles herunter. Wie die meisten Kinder mochte er die Rübenstücke und Selleriewürfel nicht, die dem fleischlosen Eintopf Geschmack verliehen. Abwesend reichte Sila ihm den nächsten Löffel, streichelte mechanisch seinen Bauch. Die Koliken, die ihn das erste Jahr seines Lebens gequält hatten, waren allen noch lebhaft im Gedächtnis.
War sie nicht frei gewesen? Sie dachte zurück an die vergangenen Jahre. An die Ankunft in Fedaj, nachdem sie die Bestie besiegt hatten, an den schrecklichen Augenblick, in dem ihr enthüllt worden war, dass Urdat Vei ihr Vater war, dieser furchtbare Mann, der ihrer Mutter und anderen Frauen unaussprechliche Dinge angetan hatte. Die Tage in Fedaj und die anschließenden Wochen im Palast verloren sich im Nebel. Bis heute. Manchmal dachte sie daran, dass sie gelebt, etwas getan haben musste in jenen Monaten. Sie war aufgestanden, hatte gearbeitet, sich unter Menschen begeben, mit ihrer Mutter gesprochen, hatte gegessen und getrunken, doch über all diesen Dingen lag ein Schleier. Wie damals, als sie in Bantafej überfallen worden waren. An das lange Krankenlager, vor dem Rana um ihr Leben gebangt hatte, erinnerte sie sich genauso wenig.
Möglicherweise war es besser so.
Ylaiy war für sie da gewesen. Hatte sich um sie gekümmert, auch nach den vielen Wochen des Schweigens. Hatte akzeptiert, dass manche Wunden wirklich nur die Zeit heilen konnte. Hatte gewartet. Auf den ersten Schritt von ihr. Auf ein Signal, ein Zeichen. Inmitten des Trubels nach Veis Absetzung und Inhaftierung hatte er noch Zeit für sie gefunden.
Männer waren verhaftet worden, Freunde Veis. Auffallend wenige. Einige verschwanden spurlos. Andere leugneten. Ohne Beweise oder Geständnis durften sie ihr Leben weiterführen. Wieder andere wurden wochenlang verhört und beobachtet. Die Wärter in der Boragha. Jodanams Soldaten auf Kânegg. Posten wurden neu besetzt, Beamte ausgetauscht. Ylaiy hatte seine Finger in all diesen Angelegenheiten und in hunderten weiterer gehabt, kämpfte sich durch politische Verflechtungen, den bürokratischen Sumpf, jahrhundertealtes Protokoll. Verzweifelte beinahe. Wurde als Leitender Inquisitor einberufen und gab das Amt wieder auf, um es Remond tan Sayan zu übergeben, einem kühlen Denker, dessen Verbundenheit zur Kaiserin stets außer Frage gestanden hatte.
Wie befreit hatte er gelächelt, als sie ihn an diesem Abend in seinen Räumen aufgesucht hatte.
Dann kam die Zeit des Glücks. Ein privates Glück, denn sie gingen diskret vor, trafen sich nach den Tagesgeschäften in seinen Gemächern, manchmal in Ranas Häuschen. Die Menschen am Hofe wussten, dass Rana und sie ihn auf der Reise begleitet, Opfer gebracht hatten. Niemand konnte ihm vorwerfen, dass er sich zuweilen mit seiner alten Kinderfrau und deren Tochter zu einem Plausch traf. Natürlich ahnten alle von der Beziehung zu ihr, aber das war nicht dasselbe, wie sie ihnen auf die Nase zu binden. Das wäre politischer Selbstmord gewesen. Auch sie erkannte das. Die Situation war nicht zufriedenstellend, doch sie konnte mit ihr leben, solange Ylaiy an ihrer Seite war.
Schwierig wurde es, nachdem ihre Monatsblutung ausblieb und sie mit heißem Schrecken realisierte, dass sie ein Kind erwartete. Sie erzählte ihm nichts, schwankte zwischen freudiger Erwartung und Panikattacken, wälzte sich nachts auf ihrem Lager.
Schließlich war Ylaiy es, der es ihr sagte. „Du bist schwanger“, hatte er eines Morgens festgestellt. Sie sah keinen Sinn darin, es abzustreiten.
Sie hatte nie gefragt, woher er es wusste. Vielleicht hatte er die Veränderungen bemerkt. Sie war in sich gekehrter in diesen Tagen gewesen, launischer. Vielleicht hatte Rana ihm auch einen Hinweis gegeben.
Nächtelang hatten sie zusammen wach gelegen und geredet. Ylaiy hatte seine Hand auf ihren Leib gelegt. Sie hatte lächeln müssen, weil das Kind erst eine Andeutung von Mensch in ihr war. Etwas, das sie noch nicht spürte, kaum mehr als ein Gedanke, der in der Zukunft lag und mit ihrer Gegenwart nicht kollidierte.
Deshalb war es ein Schock, als Ylaiy ihr eröffnete, dass er sie wegschicken wollte. „Ich habe deine Mutter schon vor langer Zeit gefragt, wo sie künftig leben möchte. Sie will nicht am Hof bleiben.“
„Was hat das mit mir zu tun?“
„Du bist alles, was sie hat.“
„Uns geht es gut hier. Wir haben ein Auskommen.“
„Rana geht es nicht gut“, hatte er widersprochen. „Zu viele Erinnerungen, jeden Tag. Sie sehnt sich nach Veränderung. Nach Frieden und Ruhe.“
„Hat sie dir das gesagt?“
„Zum Teil. Sieh sie an. Du weißt, was sie durchgemacht hat. Sie kann das Hofleben kaum noch ertragen. Meinst du nicht, sie hat es verdient?“
„Was ist mit uns? Dir, dem Kind, mir?“
„Ihr seid mein. Immer.“
„Dennoch schickst du uns fort?“
Deshalb schicke ich euch fort. Am Hof wird es kein gemeinsames Leben für uns geben. Das weißt du so gut wie ich. Ihr hättet keine ruhige Minute mehr. Noch köchelt die Gerüchteküche. In wenigen Monaten würde sie brodeln.“
„Das stehen wir durch.“
Er hatte ihr lächelnd über das Haar gestrichen. „Du vielleicht. Aber das Kleine auch? Es wird gemieden werden, verspottet, gehänselt.“
„Du bist der künftige Kaiser. Sie werden es nicht wagen.“
„Ich bin nicht überall. Spott und Hohn sind wie Unkraut. Sie blühen allerorts und immer, egal wie oft man sie ausrottet. Denke an das Kind. Weit weg von hier wird man euch bald vergessen.“
„So wie du?“
Er hatte ihrem Blick standgehalten. „Ich vergesse euch nicht. Niemals. Ich werde euch besuchen, so oft es mir möglich ist. Ich sorge für euch.“
Er hatte Wort gehalten, hatte für sie gesorgt.
Gut Vanstetten lag weit entfernt vom Kaiserpalast. Wenn sie an klaren Tagen zu den Klippen spazierte, konnte sie die Küste Prants auf der anderen Seite der Meerenge sehen. Manchmal schimmerten sogar die Türme Korths zu ihnen hinüber. Sehnsüchtig beobachtete sie die Fährboote, die zwischen den Schwesterinseln verkehrten, wenn die See ruhig lag. Die Fähren waren nur auf vielerlei mühseligen Umwegen zu erreichen und Korth immer noch Tage von Yruish entfernt. Keine Reise, die man leichtsinnig auf sich nahm.
Talin quengelte, rutschte unruhig auf ihrem Schoß hin und her, griff mit den Händen nach dem Löffel, der vor seinen Augen schwebte. Flugs schob sie ihm eine Ladung Suppe in den Mund und musterte unter gesenkten Lidern die vier Erwachsenen, die mit ihr um den Eibenholztisch saßen.
Rana war wie so oft mit Ida in ein Gespräch vertieft. Worüber sie sich unterhielten, konnte Sila nicht hören, da die tiefen Stimmen Evarts und Ivsons die der Frauen übertönten. Vermutlich ging es um die Ernte, das Kochen oder eine andere Hausfrauenarbeit. Geisttötend für sie, doch nicht für ihre Mutter. Die genoss das schlichte Leben auf dem Gut. Gut sah sie aus. Rote Wangen, unbeschwertes Lächeln, Hände entspannt im Schoß, die noch weitgehend dunklen Haare aus der Stirn gebunden. Jünger als die gleichaltrige Bauersfrau mit ihrem von Wetter und Mühen zerpflügten Gesicht und der von Schwerstarbeit gebeugten Gestalt.
An der Seite Idas saß Evart, der großherzige Bauer, der ihnen ein neues Zuhause geschenkt hatte. Sila wusste, dass er von Ylaiy großzügig für ihre Verpflegung und Unterkunft entlohnt wurde, was seinem Weib und ihm sorgenfreie Altersjahre bescherte. Aber Evart und Ida waren nicht hinter dem Geld her. Tagein, tagaus trugen sie ihre groben Wollkleider und die Lederstiefel, die von Ackererde und Viehmist verhärtet und abends kaum von den Füßen zu bekommen waren. Ihr Haus war dunkel, klein und krumm.
Erst in den letzten Monaten hatte es sich verändert. Möbel waren unauffällig verrückt worden, Decken und Kissen aufgetaucht. Kräuter und Gemüse sprossen auf Fensterbänken, frische Blumen und helle Farbe machten die Räume freundlicher. Eine anheimelnde Bauernstube war entstanden, seit Rana sich um die tägliche Hausarbeit kümmerte, während Ida das Kochen und einen Teil der Feldarbeit übernahm.
Nach einem letzten Löffel und einem zufriedenen Rülpsen machte Talin es sich an ihrer Brust gemütlich. Er gurgelte etwas in seiner Kleinkindsprache, das sie nicht verstand, weil die beiden Männer sich noch immer lautstark unterhielten.
Evart und sein Sohn.
Ivson.
Ein Berg von einem Mann. Ein Bauersbursche wie aus dem Märchenbuch. Groß, gutmütig, mit Händen wie Fassdeckel und einer Stimme wie die Schiffshörner, die von der See aufs Land schallten. Ein Gesicht wie ein Kind, weich, verschmitzt und auf seltsame Art pausbäckig, völlig im Gegensatz zu den harten Schwielen in seinen Handflächen. Hellbraune Haare, die sich keiner Bürste beugen wollten und vom Hinterkopf abstanden wie ein Vogelnest. Graue Augen mit Spritzern von Braun darin und einem Kranz aus Lachfältchen um sie herum. Eine fleischige Nase, die ein winziges Stück himmelwärts ragte, und ein Mund, der zum Küssen aufforderte, umgeben von allgegenwärtigen Stoppeln borstigen Bartwuchses. Ein attraktiver Mann, ohne Zweifel.
Sila fand ihn reizlos. Er war mit zu vielen äußerlichen Vorteilen ausgestattet, um sie zu fesseln, abgesehen von den krummen Beinen, die ihm einen holprigen Gang verliehen.
Er war ein ausgezeichneter Gastgeber und ein guter Mensch. Arbeitsam, seinen Eltern zugetan, von offenem Wesen, humorvoll, auf eine unbeholfene Art zärtlich zu Talin. Der vollkommene ältere Bruder.
Und wie alle älteren Brüder ging er ihr furchtbar auf die Nerven. Er redete zu viel, lachte zu laut, riss schlechte Witze, roch nach Schweiß und Dung, wenn er von den Feldern heimkehrte, wusch sich mit nacktem Oberkörper mitten in der Küche. Er hegte und umsorgte sie, wich nicht von ihrer Seite, wenn er im Haus war. An den wenigen Feiertagen tanzte er wie ein Harlekin mit Rana und Ida. Sie hatte ihn nur düster angesehen und Talin wie einen Schutzschild vor sich gehalten.
Er würde sie und ihren Sohn mit seinem Leben schützen. Das war ein weiterer Grund, warum Ylaiy sich für Vanstetten entschieden hatte. Das Gut lag abgeschieden inmitten von Feldern, Wiesen, Bächen und Flüssen, nach Norden und Westen abgeschirmt von Klippen und Meer, abseits jeder größeren Straße. Und es war bewohnt von einem Mann mit Bärenkräften und einem reinen Herzen.
Ylaiys Geschenk an mich. Ein neuer Mann.
Das Lächeln, das um ihren Mund spielte, war bitter. Es war so offensichtlich. Ylaiys Besuche wurden seltener und seltener. Beim letzten hatte er von Paíre berichtet, der Frau, die vom Hohen Rat und der Kaiserin für ihn gewählt worden war. Er hatte bestürzt ausgesehen, aber gefasst und bereit, seine Pflicht als Thronfolger zu erfüllen.
Bevor er ging, hatte er Ivson zugenickt und ihn gebeten, sich um Sila zu kümmern. Und um Talin. Ivson hatte gelächelt. Ein kindliches Siegerlächeln, bei welchem ihre Eingeweide sich zusammenzogen.
Frei sein für das Leben.
War dieses Leben ihr Leben? War sie frei? War sie undankbar? Naiv?
Ihr Blick schwenkte zu Rana. Ihre Mutter hatte es verdient, glücklich zu sein. Sie war eine selbstlose Mutter, eine anständige Frau, die ihre Tochter voller Liebe aufgezogen hatte, obwohl sie sie jeden Tag daran erinnerte, auf welch grausame Weise sie gezeugt worden war.
Sie selbst hatte es auch gut hier. Talin entwickelte sich prächtig. Ein gesunder Junge, der in der Natur aufwuchs, ungebunden; ein Freier, ohne Verpflichtungen irgendwelchen Herren gegenüber. Das war gut. Das war sehr gut.
Vielleicht war sie eine schlechte Mutter. Eine schlechte Tochter. Sie sollte nicht so viel an sich denken.
Prüfend musterte sie Ivson erneut. Versuchte, ihn mit den Augen einer Fremden zu sehen, unbelastet von ihrer Vergangenheit. Vielleicht war sie wirklich nicht frei. Vielleicht war es an der Zeit, sich zu verabschieden.


Auf Vanstetten ging man mit den Hühnern schlafen und stand mit ihnen auf. Vor ihnen, dachte Sila, als sie gähnend aus dem Haus trat, die Futterschüssel unter dem Arm.
Die Hühner zu füttern und ihre Nester nach Eiern abzusuchen, gehörte zu den wenigen Aufgaben, die sie sich von Anfang an zugetraut hatte. Außerdem weckte Talin sie regelmäßig nach jeder dritten Stunde. So kam es, dass sie jeden Tag nach dem Stillen im Morgengrauen mit bleiernen Gliedern nach draußen wankte.
In der Regel machte die Morgenluft sie munter, doch heute hatte sie eine besonders kurze Nacht voller unruhiger Gedanken hinter sich, sodass sie sich zerschlagen fühlte. Nach dem Füttern würde sie Ida beim Anfeuern des Ofens und bei der Zubereitung des Morgenmahls helfen und sich danach noch für ein Stündchen zu Talin legen.
Bei dem Gedanken daran beschleunigte sie ihre Schritte und riss den Mund zu einem weiteren Gähnen auf. Im selben Augenblick verschluckte sie sich, hustete, ließ die Schüssel fallen und eilte zurück ins Haus.


Schweigend starrte Evart an die Wand des Hühnerstalls, die Fäuste tief in die Taschen seines Arbeitskittels gedrückt.
„War es gestern auch schon da?“, fragte Sila, obwohl sie die Antwort kannte.
„Ganz sicher nicht, als ich abends nach dem Rechten gesehen habe“, knurrte Ivson, während Evart stumm den Kopf schüttelte. „Das ist heute Nacht entstanden. Das Blut ist klumpig und braun. Kurz nach Mitternacht, würde ich schätzen.“
„Zur dunkelsten Stunde.“
„Richtig dunkel wird es um diese Jahreszeit nie. Aber ja, sie haben gewartet, bis alle fest schliefen und sie sich möglichst unbeobachtet bewegen konnten.“
„Es könnte sein, dass ich wach war, als das passierte.“
Ivson drehte sich zu ihr um. „Das ist nicht deine Schuld.“
Sila wich einen Schritt zurück. Das zerfleischte Huhn in seinen Händen bescherte ihr Übelkeit. „Ich weiß. Ich dachte nur“, murmelte sie.
„Das ist ernst“, sagte Evart. „Wir sollten uns vorsehen.“
„Meint Ihr wegen des Zeichens, Vater?“
„Das war kein Räuber. Ihm ging es nicht um Essen. Ihm ging es um diese Schmiererei.“ Sein graues Haupt nickte Richtung Stallwand.
„Es ist ein R, richtig?“, rief Rana von der Schwelle des Hauses hinüber, Talin sorgsam von der besudelten Wand wegdrehend.
„Sieht so aus“, erwiderte Sila und musterte die Bauersleute. Nichts in ihren Mienen wies darauf hin, dass sie um die Bedeutung des Zeichens wussten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte keiner von ihnen lesen und schreiben gelernt. Evart und Ivson starrten zornig auf die Stallwand, Ida hockte verstört am Küchentisch. Urplötzlich war die Gewalt in das Leben dieser unbescholtenen Menschen geschwappt.
„Was ist das?“, rief Ivson. „Wer tut so etwas?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Sila nach einem Blick zu ihrer Mutter. „Ich kann mit dem Buchstaben nichts anfangen. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er uns gilt.“
„Wieso?“, fragte Ivson nach einem Augenblick des Schweigens, während sein Vater mit den Füßen scharrte.
„Wie viel hat Ylaiy euch erzählt?“ Silas Blicke schwirrten über den Hof. „Von der Reise? Von unserer Vergangenheit?“
Evart stieß die Fäuste tiefer in die Taschen. „Nicht viel. „Hauptsächlich Andeutungen. Ich habe nicht weiter gefragt. War das ein Fehler?“
„Manchmal ist es gut, nicht zu viel zu wissen.“
„Ist unser Leben in Gefahr? Ist das da eine Drohung?“
„Vielleicht“, sagte Sila, während Angst ihre Kehle hoch schwappte. „Eine Warnung möglicherweise.“
„Wovor?“ Ivsons warme Augen hatten einen harten Glanz bekommen.
„Das weiß ich nicht.“ Sie wandte sich um. In Ranas Gesicht stand dieselbe Ratlosigkeit wie in ihrem. Und dieselbe Furcht. „Es könnte sich auch um einen dummen Streich handeln.“
„Sie haben einem Huhn den Kopf abgeschnitten und mit dem Blut ein Zeichen gemalt“, entgegnete Ivson fassungslos. „Sie wollten es nicht essen. Sie wollten ihm Leid zufügen. Das ist kein Streich. Was um alles in der Welt habt ihr getan, um jemanden zu so etwas herauszufordern?“
„Wir haben etwas getötet. Etwas sehr, sehr Böses. Wir taten es, um Menschenleben zu retten. Viele Leben.“
Ivson und Evart starrten sie lange an. Dann wandte Evart den Kopf ab. „Ich werde diesen Unrat beseitigen“, knurrte er und ging zu den Geräteschuppen.
Sein Sohn fixierte Sila noch länger, suchte in ihren Augen nach der Wahrheit, nickte schließlich. „Verständigen wir die Patrouillen. Mich interessiert, warum sie nichts bemerkt haben.“
„Sie können nicht überall gleichzeitig sein.“
„Das ist eine lahme Ausrede. Versuche du einmal, dich im Dunkeln an das Haus heranzuschleichen. Ohne die Tiere zu beunruhigen. Jemand wusste, dass hier Soldaten sind. Dass man kein Licht benutzen darf. Dass der Wind günstig stehen muss. Dass kein Vollmond ist. Jemand hat uns ausgekundschaftet. Und die Patrouillen haben nichts gesehen? Das stinkt. Ich hole meine Sachen.“

Der Tag hätte dunkler nicht sein können.
Innerlich seufzend betrachtete Ylaiy die Samtvorhänge, welche die mannshohen Scheiben verdeckten. Ein wirksamer Schutz vor neugierigen Zuschauern. Die schlimmsten Feinde indes lauerten nicht vor Fenstern oder horchten an Türen.
Verstohlen musterte er die Männer und Frauen, die sich mit ihm in den Privatgemächern seiner Mutter drängten. Konnte man ihnen trauen? Sie zählten zu den edelsten Häuptern des Reichs – ergeben, belesen, gebildet. Kluge Köpfe, Strategen. Der Hohe Rat. Die engsten Ratgeber der Dran’a. Allen voran Remond tan Sayan, von schmächtiger Gestalt, mit Gliedmaßen, die an die eines halbwüchsigen Kindes gemahnten. Als Ylaiy das erste Mal die Hand seines Schwiegervaters gedrückt hatte, war er erschreckt gewesen über die schmalen Finger und die Zartheit der Haut. Ein Mann, der schwach wirkte, beinahe verloren neben den mächtigen Räten, die ihn umgaben. Ein Irrtum. In tan Sayans zierlichem Körper wohnte ein Geist, der schon im Kindesalter über den Leib triumphiert hatte.
Neben Remond stand sein Sohn Theou. Auch er kein Riese, doch neben dem Vater geradezu aufragend. Ylaiy schätzte ihn auf etwa dieselbe Körperlänge wie seine Schwester Paíre. Die tan Sayans waren auf Yruish beheimatet, so lange die Geschichtsschreibung zurückreichte, aber die hochgewachsene Statur der Elboin war ihnen nicht in die Wiege gelegt worden. Möglicherweise hatte sich ihr Blut mit dem anderer Völker vermischt, aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem einer Sta-a. Er sann darüber nach, ob sein zukünftiges Kind – Paíre und er waren beide der Überzeugung, es würde ein Sohn – seine langen Glieder erben würde oder die der mütterlichen Seite. Lange würde er sich nicht mehr gedulden müssen. Wenn die hochsommerliche Hitze vorüber war, die Regierungsgeschäfte wieder stärker anliefen, würde seine Gemahlin sich auf die Geburt vorbereiten. Er stellte fest, dass er bei dem Gedanken daran Vorfreude empfand. Ein gutes Zeichen. Offenbar fanden Paíre und er allmählich wirklich zusammen.
Theou wies mehr Ähnlichkeiten zu seinem Vater auf als Paíre und ihre Schwestern. Die Töchter schienen der Mutter nachzuschlagen, worüber Ylaiy erleichtert war. Remond strahlte gewiss Würde und Weisheit aus, doch dachte man sich das leuchtend weiße Haar weg, das Kopf, Wangen und Kinn bedeckte, sowie den durchdringenden Blick und den durchgedrückten Rücken, blieb ein Mann übrig, dessen Äußeres man auch beim besten Willen nicht attraktiv nennen konnte. Ylaiy hoffte für Theou, dass das Alter ihn genauso gnädig verändern würde wie seinen Vater.
Die Mutter der Geschwister war im Kindbett verstorben, ebenso die jüngste Tochter. In einem Anflug von überwältigender Trauer, so hatte Paíre unlängst berichtet, hatte ihr Vater nicht nur alle Spiegel verhängen, sondern auch die Porträts ihrer Mutter verbrennen lassen, weil ihr Anblick ihn unerträglich schmerzte. Den Kindern hatte er befohlen, sich ihrer Erinnerung zu bedienen, um der Mutter zu gedenken. Paíre, die Folgsame, hatte, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, sich dem Befehl widersetzt. Ein Medaillon, kleiner als ihre Handfläche, hatte sie in einem Versteck verborgen und nach ihrer Vermählung mit in den Palast gebracht. Auch hier ruhte es, unangetastet von neugierigen Kammerzofen, hinter der Verkleidung ihres Ankleidezimmers. Das Bildnis der Mutter, erinnerte sich Ylaiy, war verblichen gewesen, die Züge verschwommen, beinahe unkenntlich. Sie hatte helles Haar gehabt, glatt am Kopf anliegend wie Paíres, im Nacken zu einem Knoten gebunden. Ihr Gesicht nichtssagend, emotionslos, beherrscht wie das ihrer Tochter. Andererseits galt das für die meisten hochhöfischen Frauen. Ein Bildnis bedeutete gar nichts.
Er wünschte sich, sein Sohn möge lachen und niemand würde ihn davon abhalten.
Wieder seufzte er unhörbar und wandte die Aufmerksamkeit den Gesprächen des Rates zu. Es gab Tage, da forderten ihm diese Debatten alles ab. Seine Augen wanderten sehnsüchtig die Vorhänge hinauf, auf der Suche nach Licht. Ein Spalt nur, ein winziger Spalt. Oder ein Riss, obwohl das so unwahrscheinlich war, dass er die Hoffnung sofort wieder aufgab. Er wusste, dass draußen die Sonne schien, dass ein Sommerhimmel über ihnen strahlte, dessen Blau intensiver leuchtete als Silas Augen.
Beim Gedanken an Sila setzte sein Geist einen Moment aus, während sein Herz zwei Sprünge gleichzeitig tat. Er schloss die Augen und zwang sich, ihr Bild, das sich so hinterrücks in seinen Kopf geschlichen hatte, zu verdrängen. Doch es war da und es schmerzte. Neben ihres schob sich ein weiteres Paar blaue Augen. Er hatte sie nur wenige Male gesehen, aber sie hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Möglicherweise – und bei diesem Gedanken schwindelte ihm – hatte Talin bereits eine andere Augenfarbe. Braun oder grün oder grau. Oder karamellfarben wie seine eigenen.
Ein leises Räuspern holte ihn zurück in die Gegenwart. Er öffnete die Augen, registrierte, dass seine Mutter mit Harun Damalles, dem Schatzmeister, sprach. Konzentriert tastete Ylaiy die unmittelbare Vergangenheit ab und konnte umgehend wortwörtlich rekapitulieren, was jeder Anwesende in den letzten Minuten gesagt oder ohne Worte kommentiert hatte. Mittlerweile beherrschte er es meisterhaft, mit den Gedanken abzuschweifen, sich für Augenblicke in eine Welt der Träume und Wünsche zu begeben, gleichzeitig in der Wirklichkeit zu verbleiben.
Erleichtert erwiderte er Theous Blick. Dessen Gesicht verzog sich zögerlich zu einem Lächeln, das keiner der anderen im Raum wahrnahm. Nicht zum ersten Mal fühlte Ylaiy sich mit dem Bruder seiner Frau verbunden.


„Ein Goldstück für Eure Gedanken“, unterbrach eine samtene Stimme Ylaiys Grübeleien, während er zur Kleinen Halle schritt, in welcher das heutige Abendmahl serviert werden würde. Nach Ylaiys Rückkehr war man dazu übergegangen, die Mahlzeiten in wechselnden Räumen abzuhalten, genauso wie Besprechungen und Audienzen. Sicherheitsmaßnahmen wie so viele andere. Vorkoster. Stärkere Kontrollen an den Toren. Patrouillierende Wachen auf den Fluren und rund um die Gebäude. Überprüfungen der Bediensteten und ihrer Wohnungen. Besuche in den Handwerkerhütten. Ein Netz von Spitzeln in der Stadt.
Ylaiy kam nicht aus dem Takt, obwohl die Stimme ihn aufgeschreckt hatte. Der furchtsame Prinz Glück von einst hatte gelernt, sich zu beherrschen, seine Gesichtszüge in jedem Moment seines öffentlichen Lebens zu kontrollieren.
Er winkte ab. „Ihr würdet mir das Gold sofort zurückgeben, weil ich Euch nichts dafür bieten könnte.“
Theou lachte ein glockenhelles Kinderlachen. „Ihr sagt nicht die Wahrheit, Ylaiy, aber Ihr tut es auf so charmante Weise, dass man Euch nicht böse sein kann. Bei der Beratung vorhin wirktet Ihr dermaßen abwesend, dass sich sogar Frier Blands missmutige Miene verzog. Ich verstehe Euch. Damalles‘ewige Geldsorgen und Pien Davís Schwarzseherei die Reformen betreffend sind auf Dauer wirklich ermüdend.“
Wie so oft genoss Ylaiy es, dem unattraktiven Mann zuzuhören, einfach, weil dessen Stimme so bezauberte. „Ich bin ein großer Anhänger der Reformen, wie Ihr wohl wisst, und deshalb höchst interessiert an dem, was Daví zu berichten hat. Ebenso wichtig sind die Geldgeschäfte des Hofes. Schließlich fließen aus ihnen die Mittel, die für die Umgestaltungen notwendig sind.“
Theou seufzte mit einem entschuldigenden Lächeln. „Ihr habt natürlich recht. Ich wünschte nur, beide würden dann und wann ihre Sprachkunstkenntnisse auffrischen. Ich schwöre, Damalles hat nicht ein einziges Mal den Tonfall gewechselt und Daví spricht so gestenarm, dass ich manchmal glaube, seine Arme sind mit der Hosennaht verwachsen.“
„Ihr genießt Eure Rednerkurse, wie ich sehe.“ Ylaiy lächelte, während sie gemächlich weiter schlenderten, obwohl das Abendläuten eingesetzt hatte.
Theou warf den Kopf in den Nacken. „Ah, Zeitverschwendung! Vater hat mir die Grundlagen bereits im Kindesalter beigebracht. Ich lernte, ohne jemals die Kurse zu besuchen.“
„Bezahlte Euer Vater die Kurse nicht?“
„Er hätte das viele Gold auch zum Fenster hinauswerfen können. Die Bettler hätten sich gefreut.“
„War er nicht ärgerlich, dass Ihr den Unterricht schwänztet?“
„Wenn er es gewusst hätte, bestimmt“, gab Theou zu und schmunzelte wie ein Junge, den man mit der Hand im Honigtopf erwischt hatte. „Aber ich legte alle Prüfungen zur allgemeinen Zufriedenheit ab und die Lehrer waren sehr wahrscheinlich froh über die bezahlten Freistunden.“
„Niemand hat Euch verraten?“
„Ach was! Ich schwor ihnen, dass ich besser lernte, wenn man mich allein ließ. Sie glaubten es. Oder wollten es glauben. Ein gutes Arrangement für alle.“
„Sie haben Euren Vater betrogen!“
„Einen Inquisitor! Welche Schande!“ Theou hieb Ylaiy lachend auf die Schulter, bevor er zurücktrat, um dem Prinzen den Vortritt in den privaten Speisesaal zu lassen.
Ylaiys Laune hatte sich sichtlich erhellt. Er sah dem Schwager nach, der ihm ein letztes Mal zuzwinkerte. Dann eilte er an die Seite der Kaiserin und bot ihr formvollendet den Arm, während Remond ihren Stuhl heranzog. Anschließend begrüßte Ylaiy seine Gattin, die bereits an der schlicht gedeckten Tafel saß. Das Privileg einer Hochschwangeren, das sie lange abgelehnt hatte. Mittlerweile seufzte sie dankbar, wenn sie ihren Platz einnehmen durfte.
„Ihr seid spät heute“, raunte sie ohne Vorwurf.
„Ein erquickliches Gespräch mit Eurem Bruder.“
„Hat er Euch schon wieder belästigt?“
„Ganz und gar nicht.“ Er prostete Theou zu, der ihn schelmisch ansah und seiner Schwester einen frechen Kuss zuhauchte, als wüsste er ganz genau, dass diese abfällig über ihn redete. Danach wandte er sich seinem Vater zu, der ihm ein Verhör schilderte, dass kurz zuvor stattgefunden hatte. Theou wirkte interessiert, legte nach wenigen Sätzen sein Lächeln ab, ließ sich ins Gespräch ziehen.
„Euer Bruder ist sehr wandlungsfähig. Ein Rätsel zuweilen“, gestand Ylaiy zwischen zwei Bissen kalten Fleisches.
„Er ist ein Narr“, gab sie zurück. „Ein Hofnarr. Er sollte Schellen tragen und auf dem Tisch herumhüpfen. Das ist seine wahre Bestimmung.“
„Warum so übellaunig, meine Liebe? Ist Euch nicht wohl? Normalerweise versteht Ihr Euch besser mit ihm.“
„Verzeiht“, bat Paíre und unterdrückte ein Aufstoßen. „Es ist diese Masse an Körper. Ich fühle mich wie ein Walross.“
Ylaiy tätschelte ihre Hand. „Geduld. Bald habt Ihr es überstanden.“
Kläglich verzog sie das Gesicht. „Vier Wochen.“
„Und die werden wie im Flug vergehen.“
„Ich wünschte, ich könnte etwas tun.“
„Immer noch so rastlos?“
„Schlimmer denn je. Versteht mich nicht falsch: Ich schätze die Mahlzeiten mit Eurer Mutter und das Lesen bereitet mir Freude. Doch es füllt die Tage nicht aus. Und für Handarbeiten sind meine Finger zu geschwollen.“
„Kann ich etwas tun? Euch unterhalten?“ Ylaiy beugte sich vor und sah seiner Gemahlin ins Gesicht. Die geringfügige Bewegung erweckte das Interesse der Tischnachbarn. Schweigen legte sich über die Tafelgesellschaft.
Unter den fragenden Blicken der Anwesenden errötete Paíre. Sie kam sich wie eine dumme Gans vor. Was mochten sie nun von ihr halten? Die Kaiserin? Ihr Gemahl? Ihr Hoher Vater? Der Bibliothekar? Zum Glück speisten die anderen Räte heute Abend in ihren eigenen Häusern, sonst wäre das Ganze noch peinlicher geworden.
Doch Ylaiy lächelte ihr zu, drückte aufmunternd ihre Hand. Seine Augen schauten gütig und verständnisvoll. Ihr stockte der Atem. War sie tatsächlich dabei, sich in ihn zu verlieben?
„Ihr könntet tanzen“, schlug Theou vor und brach damit das angespannte Schweigen. „Ich könnte tanzen, wenn es dir genehm ist, Schwester.“
„Nein, danke“, würgte Paíre hastig hervor und hob abwehrend die Hand.
„Singen? Es wäre mir ein ausgesprochenes Vergnügen.“
„Theou“, fielen Vater und Schwester ihm gleichzeitig ins Wort.
„Eine Doppelrüge“, murmelte er, gespielt bestürzt. „Damit muss ich passen. Prinz, Ihr seid am Zug.“ Den missbilligenden Blick Remonds ignorierte er genauso wie Paíres Schuh unter dem Tisch.
Ylaiy verkniff sich ein Lächeln und sah alle der Reihe nach an. Frier Bland kehrte die Handflächen nach außen und schüttelte den Kopf. Die Kaiserin blickte aus müden Augen auf die Tafel, ohne jemanden direkt anzuschauen. Ihr silbergrauer Dutt wippte sacht, ihre Hände hatte sie unter dem Tisch auf die Knie gelegt.
„Nun“, begann Ylaiy, „ich nehme nicht an, dass langwierige Regierungsgeschäfte ein passendes Tischgespräch wären. Also muss ich Euch wohl mit einer Erzählung langweilen; es sei denn, Ihr legtet Wert auf eine Beschreibung meiner letzten Experimente.“
Paíre lächelte. „Ich wähle die Erzählung.“
„Oh gut.“ Gespielt dramatisch griff sich Ylaiy an sein Herz. „Denn ich muss gestehen, dass ich für Experimente und andere Ablenkung in den vergangenen Monaten kaum Zeit gefunden habe.“
„Ich bin mir sicher, Ihr erinnert Euch an jeden Versuch“, knurrte Bland.
„Besonders an die misslungenen“, gab Ylaiy schmunzelnd zurück und wandte sich erneut an die junge Frau an seiner Seite. „Also Verehrteste, mit welcher Geschichte darf ich Euch erfreuen?“
Paíre tupfte sich mit einem Tischtuch die Lippen ab, während sie nachdachte. „Erzählt von der Reise.“
„Die Lange Reise. Die Große Reise. Darüber könnt Ihr alles nachlesen“, erwiderte Ylaiy, der Kaiserin und Bland einen schnellen Blick zuwerfend.
„Nichts gegen Eure literarischen Ergüsse, mein Herr, aber ein Heldenlied ist wohl schwerlich die Wahrheit. Und die Wahrheit ist es, nach der ich suche.“
„Oh, in den Pergamenten steckt mehr Wahrheit, als man ahnt“, murmelte Ylaiy und trank von seinem Wein.
Der Bibliothekar räusperte sich. Seine wimpernlosen Augen starrten den Prinzen an. Ylaiy vermied den Augenkontakt, schüttelte jedoch unmerklich den Kopf.
„Es ist noch keine drei Jahre her. Da erschienen vor dem Palast ein Greis und ein junger Mann, der kaum dem Knabenalter entwachsen war“, begann er ohne weitere Überleitung. „Sie verlangten, die Kaiserin zu sehen, doch sie hatten die Rechnung ohne Urdat Vei gemacht.“
Bei der Erwähnung des Namens zuckte die Dran’a merklich zusammen und richtete sich auf. Ihre Augen gewannen einen Teil der Schärfe zurück, für die sie noch vor wenigen Jahren berüchtigt gewesen war.
„Man ließ sie nicht ein?“, fragte Paíre.
„Ohne Audienz wies man sie fort. Doch sie kehrten zurück.“
„In der Nacht. Wie gemeine Verbrecher. Was hätten wir tun sollen?“ Die Stimme der Kaiserin klang alt, aber fest.
„Sie anhören. Wenigstens das.“
Unter dem Blick des Sohnes sank Ylaiys Mutter wieder zusammen.
„Stattdessen warf man sie in die Boragha“, sagte Remond.
„Ohne Verfahren. Man steckte sie für einige Stunden in den Kerker und schaffte sie im Morgengrauen nach Kaadaa. Vei begleitete den Transport.“
„Warum so schnell?“, wollte Paíre stirnrunzelnd wissen.
„Das wussten wir damals nicht. Aber ich fand es seltsam. So seltsam wie die wirren Geschichten, die der Junge und der Alte erzählten. Bland und ich vergruben uns in den Schriften, suchten nach, ach, ich weiß nicht, Antworten, Hinweisen. Beweisen. Die Geschichten hatten etwas in mir aufgewühlt, ich konnte sie nicht vergessen, so unglaublich sie klangen.“
„Wahr gesprochen. Unglaublich“, bestätigte die Kaiserin. Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Weinbecher griff. „Niemand hätte sie geglaubt.“
„Welche Geschichten?“ Paíre klang neugierig. Ihre Augen funkelten. Auch ihr Bruder hatte sich vorgebeugt und lauschte aufmerksam. „Doch nicht die von den geflügelten Geschöpfen?“
„Ihr verzieht die Mundwinkel so geringschätzig wie wir damals. Bur-an-gnea. So nannte sie Akim. Alte Wesen aus der Mythologie seines Volkes. Die Dämonen der Wüste. Sie waren zu ihm gekommen, mitten in sein Dorf am Rand der Welt. Sie kamen nachts, aus dem Nichts, fielen vom Himmel geradewegs in Akims Hütte. Und sie nahmen seinen Bruder mit.“
Ylaiy trank einen Schluck Wein. Er hatte die Geschichte erlebt, sie hunderte Male geträumt, sie aufgeschrieben. Dennoch war es schwer, sie zu erzählen. Seine Mutter hatte die Wesen nicht gesehen, aber ihr Gesicht war weiß wie das Tischtuch. Sie hatte den Meister der Bur-an-gnea gesehen. Das reichte für ein Leben.
„Deshalb kam er zu Eurer Mutter?“
„Ich glaube, dass die Töchter und Söhne der Alten Völker die Dinge auf ihre Weise regeln. Dazu brauchen sie keinen Kaiserhof. Nein, Akim hatte sich aufgemacht, Kian zu suchen. Er und sein Lehrmeister folgten den Spuren in die Große Wüste. Eine Verzweiflungstat. Ein Stochern im riesigsten Heuhaufen unserer Welt. Aber das Schicksal meinte es gut mit ihnen. Oder auch schlecht, was den armen Gradh betrifft. Sie irrten durch die Sande und fanden einen Felsen. Oder der Felsen fand sie.“
„Der Blutfelsen?“
„Ich sehe, Ihr habt meine Schrift gelesen, Teuerste“, entgegnete Ylaiy. Für den Augenblick klang seine Stimme wieder froher.
„Ehrlich gesagt, fiel es mir schwer. Ich bin mehr der Wahrheit verpflichtet, denn der Fantasie.“
Er tätschelte ihre Hand. „Ich verstehe. Doch, wirklich. Auch ich bin ein Anhänger der Vernunft. Vielmehr war ich es. Heute bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. - Jedenfalls schwört Akim, dass der Felsen wie eine Halluzination vor ihnen auftauchte. Bei den Göttern, ich bekomme Gänsehaut, wenn ich an das schwarze Gestein nur denke. Es strömte so viel Böses aus. Akim und Gradh kletterten hinauf und erlebten das Grauen. Anders kann man es nicht sagen. Gradh starb fast augenblicklich. Die Wesen stürzten Akim in die Tiefe. Doch der Schmied war da und fing ihn auf.“
„Was?“, entfuhr Theou ein ungläubiges Lachen.
„Lacht ruhig. Aber es stimmt. Jonoy rettete dem Jungen das Leben. Gemeinsam schleppten sie sich in die nächste Oasenstadt. Dort fanden sie heraus, dass Jonoys Enkelin von denselben Wesen entführt worden war wie Kian. Im Traum. Deshalb kamen sie zu uns. Denn nun waren es zwei Kinder. Und das Böse war kein Traum. Keine Fantasie.“ Ylaiy hieb auf den Tisch.
Es war ein leichter Schlag, doch er sprengte das Hofprotokoll und die angestaute Spannung im Raum.
Ylaiy blickte in betretene Gesichter, entschuldigte sich zwischen zwei weiteren Schlucken Wein, atmete tief ein und lehnte sich zurück. Erst jetzt bemerkte er, wie seine Schultern sich verspannt hatten, sehnte sich nach Silas sanften Händen, die so oft den Schmerz aus seinem Körper massiert hatten. Er mahnte sich zur Ruhe. Die Reise war vorbei. Erinnerungen konnten gebannt werden.
„Wie ging es weiter?“, fragte Paíre. „Ihr machtet Euch auf den Weg. Aber Ihr wart nicht allein, nicht wahr? Wie habt Ihr Akim gefunden? Und die anderen?“
„Die Kinder führten uns zusammen. Anders kann ich es nicht sagen. Eine Reihe von Zufällen, glücklichen oder unglücklichen Vorkommnissen. Schicksalsfäden. Was auch immer. Wir haben nie genau ergründen können, wie eins zum anderen kam. Wir mussten einfach den Weg gehen, der uns vorgezeichnet schien. Akim und Jonoy wurden in die Boragha gebracht und zu einem grausamen Tod verurteilt. Zweifellos von Vei initiiert. Cledent Baraten, der Vorgänger Eures Vaters, sprach das Urteil. Ob er es reinen Gewissens tat, wird für immer ein Geheimnis bleiben. Baraten war loyal und unbestechlich, gleichzeitig Diener des Staates, dem Kaiseringemahl unterworfen. Wieder schlug das Schicksal zu Akims Gunsten aus. In Form einer Gefangenen, der Tochter einer Diebin. Adiv.“
Ein leichter Stich fuhr durch Paíres Herz, als sie den Frauennamen aus Ylaiys Mund hörte. Beinahe zärtlich. Das Lächeln, das sich über seine Lippen gelegt hatte, war liebevoll. Verwirrt gestand sie sich ein, dass sie eifersüchtig war.
„Wie so oft hat das Schicksal zwei Seiten. Adiv bekam gerade die grausame zu spüren. Sie fand ihre beste Freundin bestialisch zerstückelt. Der Täter, ein Wärter, war noch am Ort des Geschehens. Adiv sah ihn und er sie. Damit war ihr bisheriges Leben besiegelt. Sie versteckte sich, während die Wärter ihre Eltern umbrachten und ihr Heim zerstörten. Auf ihrer Flucht rettete sie Akim und Jonoy vor dem sicheren Tod. Ihnen gelang, was noch nie jemandem zuvor gelungen war: die Flucht aus der Boragha.“
„Wie?“
„Das bleibt ein Geheimnis.“
„Warum?“
„Weil die Welt ein sichererer Ort ist, solange die Boragha existiert“, warf Remond ein. „Kaum jemand weiß von der Flucht. Wüssten die Gefangenen von dem Schlupfloch, wäre die Revolte nicht aufzuhalten.“
„Aber der Prinz hat von der Flucht berichtet“, wandte Theou ein. „Sicher haben auch die Insassen davon erfahren.“
„In diesem Fall habe ich mich mehr als bedeckt gehalten. Ich weiß auch gar nicht, wo genau der Fluchtweg verläuft.“
„Ach, kommt schon!“, schnaubte Theou.
„Das ist die Wahrheit!“
„Dennoch werden hunderte Gefangene sich auf die Suche nach einem Durchstieg machen.“
„Wer sagte etwas von einem Durchstieg?“
„Mein Vater erwähnte ein Schlupfloch. Und auch ohne Heldenlied haben die Insassen etwas mitbekommen. Außergewöhnliche Vorkommnisse sickern immer irgendwie durch.“
„Deshalb haben wir umfassende Arbeiten in der Boragha vorgenommen“, gestand Remond mit einem Seitenblick auf Ylaiy.
Theous Stirn legte sich in Falten, was sein unregelmäßiges Gesicht nicht attraktiver machte. Dann hellte sich seine Miene auf. „Gewieft!“, rief er aus. „Bauarbeiten im Zuge der Reformen? An so vielen Stellen, dass niemand Verdacht schöpft?“
„Dazu sage ich nichts“, entgegnete Remond tan Sayan steif. Er wirkte unglücklich.
„Zweifellos hat Theou Euren Verstand geerbt“, tröstete Ylaiy lächelnd.
„Trotz alledem werden die Häftlinge nach Fluchtwegen suchen“, gab Paíre zu bedenken. „Adiv hat den Samen gelegt. Die Menschen werden denken, dass es weitere Wege geben muss. Die Boragha hat ihren Schrecken verloren.“
„Ganz so schlimm ist es nicht“, beruhigte Ylaiy sie. „Eine Weile brodelte und gärte es, zugegeben. Unter den Insassen und Wärtern gleichermaßen. Wir haben Wärter verhaftet, andere ausgetauscht, insgesamt verstärkt. Wir bemühen uns um bessere Bedingungen für die Häftlinge, um sie ruhig zu halten.“
„Bessere Bedingungen?“ Paíre rümpfte die Nase. „Womit hätten sie die verdient?“
„Nicht alle sind Verbrecher. Jahrzehntelang haben wir die Täter mit ihren Familien in die Boragha geschickt. Unschuldige. Manche hat die Not zu Dieben gemacht, die Gewalt zu Mördern. Es ist zu einfach, jedes Unrecht gleich zu strafen. Viele werden ein Leben lang bestraft für etwas, das in keinem Verhältnis zum Vergehen steht. Adiv ist so ein Fall. Sie ist im Gefängnis geboren, als Kind armer Eltern. Sie hat nie eine Straftat begangen. Aber genug davon! Dieses Thema gehört vor den Rat, nicht an den Tisch.“
„Dann fahrt mit der Erzählung fort“, forderte Paíre ihren Gemahl auf, erschrocken von dessen heftigen Worten.
Ylaiy besann sich einen Augenblick, bevor er fortfuhr. „Sie flüchteten über das Meer nach Kânegg. Adiv erfuhr von Akims geraubtem Bruder und berichtete, dass auch der Sohn ihrer ermordeten Freundin seither verschwunden sei.“
„Drei verschwundene Kinder“, sagte Theou.
„Zwei“, berichtigte Remond. „Die Enkelin verschwand nur im Traum.“
„Es waren drei“, konterte Ylaiy. „Vier sogar. Wie alle hier wissen, wurde Yvain in Fedaj entführt. Das war der Anlass für Baraten, sich auf den Weg zu machen. Er nahm seinen Sohn Videm und mich mit. Außerdem gab es noch Bada.“
„Das Sumpfkind“, sagte Paíre sinnend. „Das einzige Mädchen.“
„Bada war am helllichten Tag aus ihrem Dorf entführt worden. Von Soldaten, die zwei Dorfbewohnerinnen niederstachen. Das brachte Syriakin ins Spiel.“
„Also nähertet ihr euch aus verschiedenen Richtungen. Aus der Wüste, dem Palast, dem Sumpf, dem Gefängnis.“
„Und alle suchten wir Kinder. Es dauerte, bis wir aufeinandertrafen, uns austauschten. Unsere Spuren führten uns nach Norden auf die Eisinsel. Mittlerweile weiß wohl jeder, dass sie existiert.“
„Pien Daví lässt die Karten bereits umschreiben“, bestätigte Frier Bland. „Drahórsul ist als siebte Insel ins Dran’bara eingegliedert worden.“
Ylaiy schüttelte sich. „Kein Gewinn für das Reich. Kalt, unwirtlich, leer und einsam.“
„Mit wertvollen Rohstoffen. Mineralien hauptsächlich“, gab die Kaiserin zurück.
„Die ohne Flotte niemand wird bergen können.“
„Wir arbeiten daran.“
„Ihr und Eure Räte arbeitet daran. Ich habe keinerlei Interesse.“
„Deine Reformen wollen bezahlt werden. Das weißt du so gut wie ich.“
Ylaiy musste seiner Mutter zugestehen, dass sie weder hämisch noch besserwisserisch wirkte. Aber auch Ehrlichkeit konnte schonungslos sein. Die Reise nach Norden schien ihm plötzlich leichter als das Amt, das ihn im Griff hatte.
„Wochen später stieß Gillok zu uns. Damit waren wir zu siebt. Viel zu wenige. Eine Armee hätte nicht gereicht.“
„Aber es reichte“, wandte Theou ein. „Ihr habt den Wahnsinnigen besiegt, die Kinder befreit.“
„Wir waren vom Glück begünstigt.“
„Zweifellos wusstet ihr zu kämpfen.“
Ylaiy lachte trocken. „Nur einige von uns. Adiv und ich waren blutige Anfänger. Akim wusste mit Waffen umzugehen, aber er war unerfahren im Kampf. Gillok hasste das Töten. Der Blaukopf und seine Geschöpfe zwangen uns dazu. Immer wieder.“
„Und doch wart ihr erfolgreich.“
„Weil wir uns ergänzten, voneinander lernten. Weil wir verzweifelt waren, Akim und Syriakin am meisten. Bruder und Tochter - nichts hätte die beiden aufhalten können.“
„Ich muss gestehen, ich habe nicht alles verstanden“, gab Paíre leise zu. „Weshalb raubte der Inselherr die Kinder? Wie schaffte er es, Magie zu wirken?“
„Es waren nicht nur Kinder. Der Norogdún verschleppte viele Menschen, ließ sie zu sich bringen oder reiste selbst an entfernte Orte. Er war Sohn zweier Stämme, vereinte in sich Kriegerblut und magische Kräfte. Doch er war geschwächt, sein Volk dezimiert. Es gab keine Nachkommen oder sie waren zunehmend degeneriert“, erklärte Frier Bland.
„Weshalb?“
Bland musterte kurz ihren gewölbten Leib. „Blutschande. Eine abgelegene Insel mit einem isolierten Stamm.“
„Oh“, stieß Paíre aus. Ihre Wangen färbten sich rosa.
„Deshalb brauchte er ... Frischfleisch?“, fragte Theou, nachdem alle in nachdenkliches Schweigen versunken waren. „Weshalb überlebten dann die Kinder? Warum hat er sie nicht getötet? Wollte er mit ihnen ein neues Volk züchten?“
„Vorstellbar ist es“, antwortete Ylaiy, der es vermied, Paíre anzuschauen. „Er hatte vorher schon Frauen entführt, aber sie waren alle gestorben.“
„Das erklärt Bada. Doch wozu die Jungen?“ Theous Augen hefteten sich auf Ylaiys.
„Nun, der Blaukopf konnte keine Nachkommen zeugen, so viel ist sicher.“
„Woher wisst Ihr das?“
„Das erzähle ich Euch, wenn keine Damen anwesend sind.“
Theou nickte langsam. „Die Jungen also um ...“
„Das genügt!“, rügte Remond, ohne seinen Unmut zu verbergen. „Wir haben genug gehört für heute. Ich würde mich gern in meine Gemächer zurückziehen, wenn Ihr gestattet, Hoheit.“
Die Kaiserin senkte zustimmend den Kopf. Dann sah sie Ylaiy an. „Manche Geschichten bleiben besser unerzählt. Dein Buch hat bereits hinreichend Nahrung für hungrige Geister geliefert.“
„Geheimnisse hingegen können viel Leid hervorrufen“, gab Ylaiy zurück. „Einige töten sogar. Aber Ihr habt recht, wir alle hatten einen langen Tag. Paíre, Ihr müsst erschöpft sein. Erlaubt, dass ich Euch in Eure Gemächer geleite.“
„Gestattet mir noch eine letzte Frage“, bat Paíre.
„Fragt.“
„War er real? Der Norogdún? Der Riese?“
„Er stand vor mir, so wie Ihr eben.“
„Aber war er wirklich dieses Geschöpf? Oder war er doch eher ein solch grausamer Mensch, dass Ihr ihn in Eurer Erzählung ins Riesenhafte überhöht habt?“
„Er war, wie ich ihn schilderte“, sagte Ylaiy nach einem Blick in die Runde. „Jedes Wort ist wahr.“
„Ihr meint also tatsächlich, in unserem Reich gäbe es Magie? Zauberei? Ich hielt das immer für Aberglauben. Für Gruselmärchen.“
Ylaiy beugte sich vor. „Es ist alles so passiert. Das Heldengedicht ist wahr. Nur ist es so absonderlich, dass niemand es glaubt. Die Leute meinen, eine weitere Dichtung zu hören. Und vielleicht ist das besser so.“
„Ihr habt das mit Absicht gemacht“, sagte Theou nachdenklich. „Damit niemand es glaubt. Eure Erzählung ist eigentlich ein Stück Geschichtsschreibung. Wo ist der wirkliche Bericht? Die Reisebeschreibung? Das Dokument? In Eurer Bibliothek, Bland?“
Der Bibliothekar hüllte sich in sein graubraunes Hemd und in Schweigen. Für Theou tan Sayan Antwort genug. „Bei den alten Göttern, Prinz“, sagte er leise, das Kinn im Kragen verborgen, „das ist mal eine schöne Gutenachtgeschichte. Ich hoffe, der Blaukopf ist wirklich tot. Und mit ihm all seine Zaubergeschöpfe.“
„Ich versichere Euch, er ist tot. Einem Schwerthieb in den Kopf und einer verschluckten vergifteten Münze konnte auch er nichts mehr entgegensetzen. Mit ihm starben alle magischen Geschöpfe.“
Zumindest die auf Drahórsul.
Vor seinem geistigen Auge tauchten die Kinder auf. Eismassen, die sich zu Wasserfällen wandelten, rotäugige Priesterinnen, die zu Asche zerfielen, Wasser, das senkrecht im Freien stand, ein Wal, der darin schaukelte. Er dachte an Jonoys Träume, an Videms Visionen, an die alte Schamanin der Wüste, an Adivs Vater.
Plötzlich fror er.

„Du tanzt nicht, du kämpfst!“
„Was?“
„Gegen das da.“
Adivs Blick folgte Sphitas Arm, bis er an ihrem eigenen Spiegelbild hängen blieb. „Ich verstehe nicht.“
„Es ist, als würdest du gegen dich kämpfen. Gegen deinen Körper. Als hasstest du ihn. Dabei sollst du dich beobachten, dich lieben, deine Bewegungen verfolgen.“
„Ich soll mein Spiegelbild lieben? Das ist dumm. Und eitel.“
„Seid Ihr das nicht? Eitel?“
Adivs Kopf flog herum. Maxim Baraten stand auf der Türschwelle, ein überhebliches Grinsen im Gesicht.
Schon wieder.
„Es scheint Euch zu gefallen, Euch beständig anzuschleichen“, sagte sie, nachdem der Schreck abgeklungen war. „Gibt es keine dringenderen Geschäfte, denen Ihr nachgehen müsst?“
„Was gäbe es für einen Mann Dringenderes, als leicht bekleideten jungen Frauen beim Tanzen zuzusehen? Ihre Bewegungen zu bewundern, ihre Gelenkigkeit, ihre Biegsamkeit?“ Er sprach die Worte absichtlich gedehnt, ließ die Augen genussvoll über ihren Körper gleiten.
Adiv fröstelte innerlich. Sie wusste, dass der Alte sie provozieren wollte, aber ihr schauderte vor dem schmierigen Blick und den Händen, mit denen er sein langes Haar in den Nacken strich. Sphita ging es ähnlich; sie wich vor ihm zurück, verbarg sich hinter ihrer älteren Freundin.
Adiv straffte sich. „Sucht Euch jemand anderes für Eure Spielchen. Lasst uns in Ruhe.“
„Nicht doch.“ Er lächelte, eine Hand auf die Brust gelegt. „Ich bin besorgt. Sehe nach dem Rechten, stelle sicher, dass es den Angestellten an nichts mangelt. Wie man dies von einem guten Hausherrn erwartet. Immerhin verkehren hier viele Fremde, manch einer mit unlauteren Absichten. Ihr solltet mir danken.“
„Ich bin nicht Eure Angestellte, Ardanna und Sphita ebenso wenig. Lasst uns unsere Übungen zu Ende führen. Verschwindet.“
Er zog einen Schmollmund. „Nicht einmal ein Höflichkeitsbesuch ist mir in meinem Haus mehr gestattet? Die Welt ist ein furchtbarer Ort.“ Laut seufzend machte er auf dem Hacken kehrt wie ein Soldat auf dem Exerzierplatz und stolzierte aus dem Raum.
„Ich hasse ihn“, stieß Adiv aus, sobald sie sicher sein konnte, dass er sie nicht hörte. „Ich könnte ihn mit bloßen Händen erwürgen.“
„Man sagt, er sei ein guter Kämpfer.“
„Vor einem halben Jahrhundert vielleicht. Jetzt ist er alt und klapprig. Man könnte ihn umpusten.“
„Wenn du dich da mal nicht täuschst“, erwiderte Sphita nachdenklich. Sie massierte ihre Hände, als sei ihr kalt. „Ich habe ihn tanzen sehen, vor gar nicht allzu langer Zeit. Er tanzt ausgezeichnet.“
„Und?“
„Du hast es immer noch nicht verstanden“, entgegnete Sphita kopfschüttelnd. „Tanzen dient nicht nur dazu, auf einem Fest eine gute Figur abzugeben. Wenn Baraten tanzt, merkt man ihm das Alter nicht an. Er ist schnell und beweglich. Du würdest nicht mal in die Nähe seiner Kehle kommen, es sei denn, es wäre genau das, was er begehrte.“
Adiv fuhr zurück. „Sphita!“
„Ich meine ja nur“, meinte das Mädchen mit rotem Kopf. „Er sieht immer so ... lüstern aus.“
„Er ist ein geiler, alter Bock“, sagte Adiv laut in den Saal hinein. Die zornigen Worte nahmen den Druck von ihrer Brust. „Aber das meiste ist nur gespielt. Lass dir von ihm keine Angst einjagen. Er würde es nie wagen, dich anzufassen. Deine Mutter würde ihn aus dem Haus treiben. Außerdem gilt sein Hass mir.“
„Uns mag er auch nicht besonders.“
„Auf Euch ist er angewiesen.“
„Ich fürchte stets, dass er irgendwelche Gemeinheiten plant.“ Sphitas Handflächen rieben gegeneinander.
„Hm. Obacht ist in jedem Fall geboten. Er spielt hinterhältige Spielchen. Das Herumschleichen und Anpirschen gehört dazu. Er will uns mürbe machen. Das gelingt ihm gut. Ich gehe kaum mehr durchs Haus, ohne über meine Schulter zu blicken. Selbst auf dem Markt und im Spital schaue ich mich ständig um.“
Sphitas Augen wurden kugelrund. „Sei bloß vorsichtig.“
„Bin ich doch immer.“ Adiv versetzte ihr einen leichten Schlag auf den Hinterkopf. „Siehst du?“
„Autsch! Das war nicht sehr damenhaft!“
„Was hast du nur immer mit deinem damenhaft? Wir sind doch hier nicht bei Hofe. Oder träumst du davon? Möchtest du gern eine kleine Höfische sein?“
Schmollend zog Sphita den hochroten Kopf ein und schubste Adiv beiseite.
„Ach, komm schon! Sei nicht gleich eingeschnappt. Ich habe dich nur geneckt.“
Die Tochter ihrer Lehrmeisterin jedoch machte sich mit einer ärgerlichen Handbewegung los und stürzte aus dem Raum, einen verdutzten Arlen beinahe umrennend.
„Sphita! Es war doch nur ein Spaß. Ich entschuldige mich!“, rief Adiv ihr hinterher, während Arlen auf sie zuschritt und sie vorwurfsvoll musterte.
„Oh, du nicht auch noch! Es war nur ein Scherz. Sie nimmt immer alles so bitterernst.“
„Du hast sie verletzt.“
„Ach was.“
„Jetzt bist du sarkastisch.“
Adiv seufzte und verkniff sich eine weitere Antwort.
„Sie träumt von einem besseren Leben. Das solltest du respektieren.“
Arlen stand vor ihr wie ein Soldat: unbeweglich, die Hände an der Hosennaht, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Nur, dass er nicht auf Befehle wartete, sondern sie belehrte. Sie würde sich nie daran gewöhnen.
„Was ist falsch an diesem? Sie lebt in einem schönen Heim, kann den ganzen Tag tanzen und all die Dinge tun, die kleine Adlige auch tun. Sie müsste schreien vor Glück.“
„Sie ist einsam. Andere Mädchen in ihrem Alter sind bereits einem Mann versprochen oder schauen sich nach einem um. Sie haben Freundinnen, mit denen sie reden können.“
Adivs Augen glitten über ihren Ziehsohn. Arlen war sehr gewachsen im vergangenen Jahr. Er reichte ihr bereits bis zur Schulter. Statur und Aussehen waren die eines Kindes, aber aus seinen Worten und Zügen sprach ein Erwachsener. Ein reifer Erwachsener, der die Geheimnisse und Klippen des Lebens zu verstehen schien.
„Du meinst, sie sehnt sich nach einem Freund? Einem besonderen Freund?“ Bedeutungsvoll hob sie die Augenbrauen.
„Sie sehnt sich nach einem Jungen, der sie liebt.“
„Ah“, sagte Adiv ratlos. „Und was hat das mit Tanzen und Damenhaftigkeit zu tun? Mit schönen Kleidern und kunstvollen Frisuren? Glaubt sie, sie bekommt so einen Prinzen? Einen Märchenprinzen?“
„Möglicherweise“, erstickte Arlens ernste Antwort das verächtliche Schnauben in ihrer Kehle. „Warst du nicht so?“
„Darüber rede ich nicht mit dir, solange du noch Milchzähne hast“, sagte Adiv, während das Bild eines attraktiven, dunkelhaarigen Wärters durch ihren Geist huschte.
„Ich habe keine mehr.“ Zum Beweis entblößte er zwei Reihen weißer, gerade gewachsener Zähne.
„Hm“, stieß Adiv hervor. Vieles war ungewöhnlich an dem Sohn ihrer ermordeten Freundin. Man sollte meinen, dass sie mittlerweile daran gewöhnt war.
„Was wolltest du eigentlich?“, fragte sie.
„Du hattest Besuch.“
„Von wem? Wann?“
„Ein Bursche. Unmittelbar, bevor ich den Saal betrat.“
„Was für ein Bursche?“ Sie bückte sich nach ihrem Überwurf.
„Ein halber Knabe noch“, betonte Arlen, als er sah, wie sie ihr Haar hastig mit den Fingern in Ordnung zu bringen versuchte. „Abgetragene Kleidung, barfuß, schwielige Hände. Ein Arbeiterkind. In der Tasche klimperte Kleingeld. Die Entlohnung für den Botendienst.“
„Welche Botschaft brachte er?“
„Er suchte nach einem Heiler.“
„Schon wieder ein Pockenfall?“
„Nein, ein Mann ist gestürzt. Sein Bein ist verletzt, deshalb konnte er nicht zum Haus der Kranken kommen.“
„Wo ist er?“
„In deiner Kirche. Der Junge sagte, Obqo hätte ihn geschickt. Wer ist das?“
„Der Vorsteher. Er verwaltet die Kapelle, kümmert sich um sie. Was du wüsstest, wenn du mich öfter begleiten würdest.“
„Kaa ist dein Gott, nicht meiner.“
„Die Kapelle ist auch ein Ort zum Nachdenken. Ein Ort der Ruhe und des Friedens. Und nicht zuletzt ein Ort, um Gleichgesinnte zu treffen.“
„Meine Gemächer reichen mir. Und du sagtest, das Beten sei eine Angelegenheit zwischen Kaa und dem Menschen, der zu ihm spricht.“
„Ja, du hast recht. Ich wünschte nur, wir hätten mehr gemeinsam, das ist alles.“
„Darüber musst du dir nicht so viele Gedanken machen“, sagte Arlen, plötzlich mit mehr Wärme in der Stimme. Seine Hand griff nach ihrer.
„Aber du bist so oft allein.“
„Das stört mich nicht. Außerdem kenne ich zahlreiche Leute.“
„Erwachsene.“
„Das war immer schon so. Erinnerst du dich nicht?“
Vor Adivs Geist flackerten Bilder auf: unterirdische Gänge, Rohre, Kanäle, die Große Kloake. Zellen, Türe, Tore, Wärter. Allerorten Wärter. Die wilde Flucht durch die untere Welt. Ihre Mutter. Der versteckte Dachboden.
Ihr brach der Schweiß aus. Ihr Atem beschleunigte sich.
Arlen beobachtete sie. „Du hast immer noch Angst.“
„Oh ja“, brachte sie heraus und leckte sich die Oberlippe.
„Vor Jorgen?“
„Vor Jorgen. Den Wärtern. Der Gefangenschaft.“
„Hast du nicht auch Sehnsucht?“
Abgefallen war alles Ruhige, Gefasste, Altkluge. Die Stimme eines verlorenen Kindes hatte die letzte Frage gestellt. Eines Kindes ohne Wurzeln. Es war dieselbe Stimme, mit der Adiv in ihren Träumen sprach.
Sie gab keine Antwort. Drückte nur seine Hand.


Die Kapelle lag unauffällig am Ende der Gasse im Osten der Stadt, verborgen hinter einer scharfen Wegbiegung, ein wenig so, als wolle sie sich vor den geschäftigen Hauptstraßen verstecken. Dabei gab es nichts zu verbergen. Kaas Anhängerschaft war klein und unbedeutend, doch die Gemeinde wurde von der Bürgerschaft geachtet, nicht zuletzt, weil das Gotteshaus sich stets präsentierte, als wäre es für eine Feier herausgeputzt.
Schmucklos war es, das steinerne Gebäude. Im Gegensatz zu den Tempeln Perths zierten keine Ornamente die Außenmauern. Keine Bildnisse von Göttern oder Heiligen waren in den Stein gemeißelt, keine Statuen schmückten Wände oder Dach. Nirgendwo fanden sich religiöse Zeichen oder Symbole wie an den Gebetsstätten anderer Glaubensgemeinden.
Die Tempel in den nördlichen Vierteln gehörten verschworenen Bruderschaften, die ihren Glauben zur Schau stellten. Golden getünchte Gotteshäuser ragten über den Wohnblöcken auf. Vorbeter riefen heilige Worte von den verzierten Türmen. Östlich breiteten sich kleinere Glaubenszellen aus, einige von ihnen so winzig, dass ihre Anhänger oftmals gemeinsam in einer Straße lebten. Nicht selten spalteten die religiösen Ansichten Nachbarschaften, trennten Häuserreihen voneinander.
Adivs Glauben war friedlich und ohne Eifer, die Zusammenkünfte in der Kapelle zwanglos, ohne strenge Rituale und Regeln. Man traf sich zum Gebet und zum Austausch von Neuigkeiten. Adiv kannte Frauen, die täglich die Kapelle besuchten, in den Händen Körbe mit liebevoll zubereiteten Küchlein und duftenden Broten. Sie kamen um die Mittagszeit, breiteten saubere Tücher über die Gebetsbänke, aßen und tranken gemeinsam, tauschten Rezepte, handelten mit Gebrauchswaren. Der Vorsteher, ein rundlicher Schreiber namens Obqo del Zuina, gesellte sich oft zu ihnen, bat um Spenden für die Instandhaltung oder um Hilfe bei der Pflege der Anlage. Abends kehrten die Frauen mit ihren Männern zurück. Viele waren Handwerker, einfache Menschen mit goldenen Händen.
Adiv kam selten hierher. Ihre Arbeit für Ardanna und die Erziehung Arlens nahmen einen Großteil ihrer Zeit in Anspruch. Außerdem führte der Weg quer durch die Stadt. Dennoch wurde sie bei jedem ihrer Besuche freundlich begrüßt. Die Frauen schätzten die Heilkräuter und Tränke, die sie gegen Backwaren tauschte. Hin und wieder fragten sie sie um Rat, wenn eines ihrer Kinder erkrankt war. Bereits zweimal hatte Obqo ihr Bestellungen für Medikamente mitgegeben. Diesmal hatte er sogar einen Boten geschickt.
„Obqo?“
Ihre Stimme hallte durch den leeren Raum. Seltsam. Normalerweise kam der Vorsteher ihr aus einer neben dem Eingang versteckten Kammer entgegen, sobald sie die Kirche betrat. Plötzlich fiel ihr ein, dass an der Rückseite des Gebäudes Witterungsschäden ausgebessert werden sollten. Hoffentlich war der Mann nicht von einem Gerüst gestürzt. Sie hatte genug Sturzverletzungen gesehen, um zu wissen, wie langwierig die Behandlung war.
Eiligen Schrittes durchquerte sie die in düsteres Zwielicht getauchte Kapelle. Vor dem Altar blieb sie stehen, hob den Blick zur Decke, legte ihre Finger auf die Brust und stutzte.
Das Zeichen war ihr vorher nie aufgefallen. War sie so unaufmerksam gewesen bei ihren früheren Besuchen? Gewöhnlich nahm sie in der hintersten Bank Platz, direkt neben dem Eingang. Ließen ihre Augen sie etwa im Stich?
Verwundert trat sie an das seltsame Zeichen heran, das an der Wand hinter dem Altar prangte. Gehörte es zu ihrer Religion? Ihre Eltern hatten sie in Kaas Glauben erzogen, ohne allzu gläubig zu sein. Ihr Glaube hatte sich abgeschliffen in den Jahren unter der Erde. Bestimmt war vieles in Vergessenheit geraten, nicht mehr praktiziert worden.
Ein R. Wofür mochte es stehen? War es überhaupt ein R? Der Buchstabe kam in der Reichssprache vor. So weit sie wusste, auch in den Dialekten. Dort wurde er vielleicht anders gesprochen. In den alten Sprachen war das Schriftzeichen möglicherweise sogar ein Bilderwort und bedeutete etwas völlig anderes.
Nachdenklich glitten ihre Augen über das Symbol. Dann stutzte sie erneut, trat noch näher, bis sie es berühren konnte. Ihr Finger strich über eine schwarze Linie, prüfend, misstrauisch. Sie rieb die Fingerspitzen aneinander, hielt sie unter ihre Nase. Ruß. Zweifellos. Das Zeichen war erst kürzlich hier angebracht worden. Zu welchem Zweck?
In diesem Augenblick klapperte eine Tür und Adiv fuhr herum. Sie meinte, einen Schatten gesehen zu haben, doch der Raum war leer bis auf die einsamen Gebetsbänke mit den blank gescheuerten Sitzflächen.
„Heyda!“, rief sie mit mehr Mut in der Stimme, als sie tatsächlich empfand. „Seid Ihr das, Obqo? Wo ist der Verletzte?“
Sie hörte die lautlosen Bewegungen erst, als es schon zu spät war. Ein dunkel gewandeter Mann glitt unter dem Altar hervor und wuchs in die Höhe, während sie an die Wand zurückwich.
Akim hätte ihn längst gespürt, dachte sie und setzte zu einem Schrei an. Der Schatten erstickte ihn mühelos mit Händen, die sich warm und trocken um ihre Kehle legten.
Sie kämpfte gegen den Druck an, trat, fuchtelte, riss an der Kleidung, fuhr mit den Nägeln über sein Gesicht, das im Schatten einer weiten Kapuze lag, prügelte auf ihn ein. Sie ließ sich fallen und sprang wieder in die Höhe, um sich zu befreien, doch mit der Luft entwich auch ihre Kraft, schneller, als sie es für möglich gehalten hatte. Eine Erinnerung blitzte auf. Syra, die in der Armklammer des Riesen um Atem rang, das Gesicht weiß wie frisch gefallener Schnee. Schnee, der vom Himmel rieselte und sie mit Stille einspann. Stille und so viel Friede. Weißer Friede.

Es war ein seltsames Gefühl, die alten Wege zu gehen. Sie war über sie fortgelaufen und wieder zurückgekehrt, mal als erfolgreiche Jägerin, mal mit leeren Händen. Oft war sie sie entlang gestürmt, wütend auf jeden und alles. Sie war misshandelt ins Dorf geschlichen und einmal war sie mehr tot als lebendig von einem halbwüchsigen Jungen geschleppt worden. Ganz früher hatte sie die Hand ihrer Mutter gehalten, dann war sie ihr hinterhergelaufen.
Die Erinnerungen lauerten hinter jeder Biegung, jeder Kriechwurzel, jedem Sumpfloch, jedem Moorhügel. Sie schwebten wie Gespenster in den Baumwipfeln, sangen mit den Vögeln, summten mit den Insekten, zischten mit den Schlangen. Sie setzten einem zu, die schönen genauso wie die schrecklichen, gaben keine Ruhe. Leise nagend während des Tages, laut zuschnappend in der Nacht. Man konnte ihnen nicht entkommen, egal, in welche Richtung man flüchtete. Sie warteten überall. Es war zum Verrücktwerden.
Sie musste im Gehen eingenickt sein, eingelullt von ihren düsteren Gedanken und dem plätschernden Regen. Am Rand des Wawan-Sumpffeldes erreichte er sie nur tröpfelnd, da die ausladenden Kronen der Farnartigen den nachmittäglichen Wolkenbrüchen erstaunlichen Widerstand boten. Die Nacht hatte sie in fiebriger Unruhe verbracht. Offenbar holten Körper und Geist sich ihre Ruhe nun hinterrücks.
Jedenfalls schreckte sie hoch, als ein Madensucher schräg vor ihr aus dem Unterholz stob. Sie atmete den Schreck weg und konzentrierte sich wieder auf den schlammigen Weg. Glücklicherweise waren Gillok und Ciycain in eins ihrer langen Gespräche vertieft, sodass sie nicht bemerkten, wie ihr Herz wegen eines harmlosen Vogels bis zum Hals klopfte.
Unauffällig blickte sie sich um. Sie konnte nur kurz eingedöst sein, denn sie befand sich immer noch in der Mitte des Pfades. Die Wawan-Sümpfe, der riesige Laradh und der kleinere Mawawan, erforderten ihre ganze Aufmerksamkeit, auch wenn sie nur die Randzonen durchquerten. Die eigentliche Hölle aus Pechfeldern, Gasblasen und schwarzem Grund begann erst weiter im Norden. Dafür war das lockere Erdreich hier durchtränkt von trügerischen Feuchtwiesen, schwankenden Mooren und Auen, in deren Wärme sich giftiges Kleingetier zu Hause fühlte. Alligatoren und andere große Echsen suhlten sich gern in den seichteren Gewässern.
Es war Zeit, sich nach Osten zu wenden, bevor sie zu tief in die Sümpfe gerieten. Der Regenschauer war fast vorbei, bald würde die Nacht hereinbrechen. Trotz der Jahreszeit würde sie düster werden unter den knotigen Bäumen. Man verlief sich schnell in der Dunkelheit, selbst wenn sie Ciycains außergewöhnliche Sinne zu Hilfe nahmen.
Sie schätzte, dass sie noch fünf Stunden laufen konnten. Wenn sie sich hart nach Osten hielten, konnten sie bereits außerhalb des Sumpffeldes rasten. Dann hätten sie fünfzehn Stunden Fußmarsch hinter sich, konnten ruhen, eine Mahlzeit zu sich nehmen und mit der Dämmerung wieder aufbrechen. Bald sollten sie die Jagdgründe ihres Vaterstammes betreten.
Vaterstamm. Touim’o’tan. Ein unvertrautes Wort.
Sie pfiff Ciycain und Gillok den Richtungswechsel. Beide nickten und liefen ohne Einwände weiter. Plötzlich erinnerte sie sich an den Prinzen, der keine zehn Stunden laufen konnte, ohne sich zu beklagen, an den Schmied, der darauf gedrungen hatte, dreimal am Tag eine Mahlzeit zu sich nehmen. Sie dachte an Adiv, die sie oft gebeten hatte, die Geschwindigkeit zu drosseln, an Akim und Videm, die wegen dieser Hindernisse häufig Blicke mit ihr getauscht hatten. Erstaunlicherweise brachte die Erinnerung sie zum Lächeln und sie stellte fest, dass ihre Reisegefährten ihr fehlten.


Gillok blieb in dem Moment stehen, in dem Syriakin nach ihrem Messer griff und Ciycain mit einem auf die Lippen gelegten Zeigefinger bedeutete, sich ruhig zu verhalten.
Das Mädchen nickte und wies auf die dicht belaubten Bäume hundert Schritte vor ihnen. Gillok kniff die Augen zusammen. Nach wenigen Sekunden entdeckte er die kaum wahrnehmbare Gestalt, die sich von ihnen entfernte, augenscheinlich ohne sie bemerkt zu haben.
„Fraga‘i?“, fragte Ciycain flüsternd, das alte einheimische Wort für ihr Volk wählend.
„Ein Jäger“, bestätigte Syriakin. „Kein sonderlich guter. Seht dort! Das Saura hat er verfehlt.“ In der Tat sahen sie das erdbraune Schuppentier sich den Stamm eines Gummibaums emporwinden, wobei es seinen langen Schwanz zu Hilfe nahm.
„Möglicherweise haben wir es aufgescheucht“, gab Gillok zu bedenken, „und den Jäger gewarnt.“
„Saura sind blind und taub wie dein alter Arul. Sie spüren mit der Zunge. Es hat uns nicht wahrgenommen. Der Jäger hat es verfehlt und vor dem Gift das Weite gesucht.“
„Wir sollten dennoch vorsichtig sein“, sagte Ciycain, „und uns von dem Waldstück fernhalten, in das er verschwunden ist.“
„Unmöglich“, entgegnete ihre Mutter. „Es liegt auf unserem Weg.“
„Dann lass uns einen Umweg einschlagen.“
Syriakin schüttelte den Kopf. „Komm“, forderte sie ihre Tochter auf.
Gillok folgte den beiden. Sie blieben stehen, als der Weg abrupt endete. Zwei Schritte vor ihnen, unter einer überhängenden Felskante, tat sich eine tiefe Schlucht auf, verborgen von einem Netz aus Schlingwurzeln, Lianen und krumm gewachsenen Bäumchen.
„Die Klamm zieht sich über viele Meilen durch dieses Gebiet. Wenn wir sie umlaufen wollten, bedeutete das einen Umweg von mehreren Tagen. Dabei würden wir erneut die Sümpfe passieren. Es ist schneller und sicherer, die Schlucht zu überqueren.“
„Wie denn?“, fragte Ciycain.
„Über denselben Weg, den der Jäger gegangen ist: die Brücke.“
„Die Punji‘goyain“, fiel Gillok ein. „Du hast mir von ihnen erzählt. Existieren sie noch?“
„Lebende Brücke?“, vergewisserte sich Ciycain.
„Seht selbst.“ Syriakin führte sie zu einem riesigen Gummibaum, der sich so weit zur Seite neigte, dass die Zweige beinahe bis zum anderen Ende der Schlucht reichten. „Die Brücke ist nur zum Teil natürlich gewachsen. Menschenhände haben geholfen, sie zu errichten.“
„Sie haben die Luftwurzeln miteinander verflochten.“ Staunend berührte Ciycain die biegsamen, knolligen Stränge, die der Baum nach allen Seiten hin ausstreckte. Diejenigen, die unmittelbar am Stamm sprossen, waren breiter als die drei Sumpfleute zusammen, die letzten Ausläufer kaum dicker als ein Finger.
„Immer und immer wieder. Die Menschen verflochten die jungen Wurzeln, verknoteten sie mit den älteren, verzweigten Strang um Strang, zwängten sie durch ausgehöhlte Lianen, richteten sie so aus, dass sie über die Schlucht wuchsen.“
„Wie lange dauerte das?“
„Viele Menschenleben lang. Andere Brücken sind kleiner, kaum mehr als Stege. Die wachsen in wenigen Jahren. Es fällt eine Menge Regen hier. Die Gummibäume wuchern innerhalb eines Jahrzehnts so sehr, dass die Gegend sich ständig verändert und neue Pfade angelegt werden müssen.“
„Du bist weit gewandert.“
„Deine Großmutter nahm mich mit, um sie mir zu zeigen. Später kam ich allein hierher.“
„Was liegt auf der anderen Seite?“
Syriakin zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter hielt an dieser Stelle an.“
„Hat sie dir verboten, die Brücke zu betreten?“
„Nein. Aber es war etwas in dem Blick, mit dem sie sie betrachtete. Sie hatte Angst.“
„Warst du drüben?“
„Ich kannte meine Mutter nicht ängstlich. Normalerweise erklärte sie mir, wo Gefahren lauerten und wie man sie überwinden konnte. Dass sie hier stand und nicht weiter ging, war Verbot genug. Für mich war die Brücke eine Grenze.“
„Du hast sie nie passiert?“
„Einmal. Auf ihrem Arm. Von der anderen Seite aus.“
Syriakin verstummte und studierte den Verlauf der Punji’goyain. Gillok und Ciycain taten es ihr nach. Sie erkannten, dass hinter der Klamm eine weitere liegen musste, da die Brücke zwischenzeitlich auf dem Boden auflag, bevor sie als dünnes Band wieder in luftigen Höhen schwang.
„Das gefällt mir nicht“, murmelte Gillok.
„Du bist doch schwindelfrei“, versetzte Syriakin.
„Er meint, dass wir nur hintereinander gehen können“, erklärte Ciycain. „Die Brücke wird sehr schmal dort hinten.“
„Ich weiß, was er meinte, Am’ret. Sie ist wie eine Falle. Wir werden vorsichtig sein.“
Ciycain genoss den lobenden Blick ihrer Mutter. Am’ret. Eigentlich machte sie sich nichts aus der Jagd und dem herben Geschmack der Wildtiere. Andererseits war Syriakin äußerst sparsam mit Lob. Kleine Jägerin genannt zu werden, war beinahe die höchste Form der Anerkennung, die sie zu vergeben hatte.


Die Brücke gab Geräusche von sich wie ein Sterbender, schwankte schlimmer als die betrunkenen Soldaten in Fedaj. Die ersten Meter schoben sie sich noch Fuß für Fuß nach vorn, die Hände um die Wurzelstränge gekrampft, die in Hüfthöhe als eine Art Geländer verliefen.
Syriakin war die Erste, die mehr Mut fasste. Sie stellte die Beine auseinander, brachte die Brücke zum Schaukeln, sprang schließlich in die Höhe, kam federnd auf und nickte. „Sie wird halten“, sagte sie und ließ das Geländer los. Dann ging sie breitbeinig weiter, um das Schwanken auszubalancieren. „Ihr schaut besser nicht nach unten.“
Danach brachten sie den größten Teil der Überquerung rasch hinter sich.
Ciycain lief zwischen ihren Eltern, bemüht, nicht nach unten zu schauen. Irgendwann siegte die Neugier und sie reckte den Hals. Ihre Mutter hatte nicht übertrieben. Die Schlucht war bodenlos.
Ein falscher Schritt genügt.
Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie gegen den Rücken ihrer Mutter prallte, sich an dem hölzernen Bogen die Stirn stieß und aus dem Tritt geriet.
Gillok fing sie auf. Sie sah ihn mit bleichem Gesicht an, auf eine Rüge gefasst, doch weder er noch ihre Mutter achteten weiter auf sie. Ciycain schielte an Syriakin vorbei und sah die Gestalt eines Mannes seitlich des Weges verschwinden.
„Ist es der Jäger?“, fragte sie.
Statt einer Antwort drehte sich Syriakin nach hinten und bedeutete ihnen, ruhig zu stehen. „Runter!“, rief sie dann und sprintete los.
„Aber der Jäger!“, schrie Ciycain aufgeschreckt.
Gillok stieß sie an. „Auf der Brücke sind wir ein leichteres Ziel!“
Am Ende der Brücke drehte Syriakin sich nach ihrer Tochter um, ergriff sie am Arm, schleuderte sie in die Büsche, die den Weg zu beiden Seiten einfassten, sprang ihr hinterher und brachte ihren Bogen in Anschlag.
„Ich behalte die Brücke im Auge“, rief sie Gillok zu, dessen große Gestalt der Robub nur notdürftig verbarg. Sofort lag Gillok auf dem Bauch und schob sich echsengleich durch Strauchwerk und Wurzelschlingen. Nach wenigen Metern war er verschwunden.
Mutter und Tochter warteten unbeweglich. Syriakins Bogen war gespannt, der Pfeil lag auf der Sehne. Ciycain hielt die Schleuder im Anschlag, ein Gebilde aus zwei faustgroßen Steinen, die mit einem geflochtenen Lederband verbunden waren. Sie hoffte, dass es nicht zu einem Kampf kam. Sie war Am’ret, die Jägerin, nicht Am’kahat, die Kämpferin.
Nach einer Weile begann die Brücke zu schwanken. Winzige Erschütterungen, von bloßen Füßen auf die Reise geschickt. Soldaten und Siedler trugen Stiefel wie sie selbst, die sie Strecken zurücklegten, die zu lang waren, um sie barfuß zu gehen. Der Verfolger hingegen kam auf nackten Zehen, denn sie hörten nur die knarrenden Geräusche der Brücke und die Regentropfen, die von den Ästen perlten. Ein Frâgg, kein Zweifel.
„Er ist schlau“, flüsterte ihre Mutter dicht an ihrem Ohr. „Die Fußtritte sind verstummt, dennoch schwankt die Brücke. Er kommt näher, ohne dass man ihn sieht.“
Ciycain nickte. „Ich fühle ihn.“
„Er hat sich unter sie gehängt. Hangelt sich herüber.“
Wieder warteten sie, atemlos und gespannt. Dann sahen sie ihn auf der anderen Seite, hinter demselben Farn, den auch Gillok als Deckung benutzt hatte.
„Bleib stehen“, rief Syriakin plötzlich laut. Der Verfolger erstarrte. „Mein Pfeil zielt auf deinen Kopf. Er trifft dein Herz, wenn du beschließen solltest, dich aufzurichten.“
Geduckt schlich sie auf die Mitte des Weges, vergewisserte sich, dass kein weiterer Jäger sich über die Brücke näherte, als Gilloks Ruf sie für weniger als einen Lidschlag lang ablenkte. Der Verfolger reagierte umgehend, sprang aus dem Gebüsch und versuchte, sie mit vorgestrecktem Bein aus dem Gleichgewicht zu bringen, während er gleichzeitig nach Pfeil und Bogen griff. Ciycain quiekte, doch Syriakin überrumpelte den Angreifer, indem sie alles fallen ließ, um seinen Nacken langte und ihn mit einem scharfen Ruck zu sich zog. Er strauchelte mit der Kehle in ihre Handkante.
Dann war Gillok heran. Er warf sich zwischen die Kämpfenden, ohne Rücksicht auf Syras Messer, das durch die Luft zischte und sein Ohr nur verfehlte, weil sie es im letzten Moment nach oben riss.
„Bist du von Sinnen?“, raunte sie und drehte sich in die Richtung, aus der der zweite Mann herankam, realisierte jedoch nach zwei Herzschlägen, dass er als Gefangener kam und keine Bedrohung darstellte. Sein Gesicht wies noch keinerlei Bartspuren auf, die Gliedmaßen waren zu lang für den Körper, in den Augen standen Schrecken und Furcht. Ein Junge, kaum größer als Ciycain.
Ihre Arme senkten sich, während ihr kampfgeschwängerter Verstand die Situation analysierte und ihr Atem sich normalisierte.
„Er hat den Jungen beschützt“, murmelte Ciycain, die neben sie trat, die Schleuder am Handgelenk baumelnd. „Sicherlich sein Lehrer.“
„Eine Prüfung“, schlussfolgerte Syriakin.
„Die er nicht bestanden hat“, ächzte der Verfolger, die Hände vor der Kehle. „Das Saura zu erschrecken! Und vor ihm davon zu laufen!“
Der Junge verzog das Gesicht und erschrak im selben Moment, weil der große Fremde, der ihn ohne Schwierigkeiten überwältigt hatte, mit einem fassungslosen Aufschrei auf seinen Lehrer zustürzte. „Nou!“
Ehe Ciycain oder Syriakin reagieren konnten, hatte Gillok den Verfolger in die Arme geschlossen. Der schlanke Mann schob ihn verdutzt von sich und musterte ihn. Gleich darauf erschien ein Strahlen auf seinem Gesicht. „Gill! Wir dachten, du seist längst bei den Fischen!“
„Nou?“, flüsterte Ciycain. „Ich erinnere mich an ihn.“
„Kanouepe“, sagte Syriakin langsam, nachdem sie den Mann genauer in Augenschein genommen hatte. „Tarolfs jüngster Sohn. Ein Freund deines Vaters.“
„Ich dachte, Vater mochte den Ältesten nicht sonderlich.“
Syriakin warf ihrer Tochter einen schrägen Blick zu. „Du solltest lernen, dass Gespräche unter Erwachsenen genau das sind: Gespräche unter Erwachsenen.“
„Wem sonst sollte ich zuhören?“, gab Ciycain zurück.
„Die Natur hat Kanouepe wie Gillok gemacht, nicht wie seinen Vater. Dein Vater schleppte ihn überall hin mit, lehrte ihn fischen und kämpfen, die Sprache der Soldaten. Er behandelte ihn wie einen Bruder. Kanouepe bewunderte ihn.“
„Das hat dir nicht gefallen.“ Die Feststellung klang altklug aus dem Mund einer gerade Neunjährigen.
„Ich war wohl ein wenig eifersüchtig“, entschloss sich Syriakin zur Wahrheit. „Davor war dein Vater mein Lehrer gewesen.“
„Freust du dich, ihn wiederzusehen?“
Syriakin zögerte mit der Antwort, während Ciycain lächelnd die Männer betrachtete, die sich immer wieder um den Hals fielen. „Ich hege keinen Groll gegen ihn. Ich freue mich für deinen Vater.“
Das war keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Die Gefühle, die sie beim Anblick der beiden anfielen, konnte sie kaum in Worte kleiden. Kanouepe war ein anderer Mensch als Tarolf, doch er sah diesem so ähnlich, dass die Vergangenheit sie einholte und zurück in das Langhaus schickte. Vor Tarolf und die Alten, mit lächerlichen Fußlappen an den Füßen und Mauern der Abneigung um sich. Sie sah Tarolfs herumirrenden Blick, die erhobene Hand, die anklagende Stimme.
Was willst du? Deinen eigenen Stamm ins Verderben stürzen?
Und so war es gekommen. Sie hatte Ciycain wieder. Gillok als Gefährten. Ein ungeheures Geschenk. Und doch vergaß sie nie, wie brüchig ihre kleine Gemeinschaft war; wie anfällig, so reduziert auf sie drei. Gillok sehnte sich nach anderen Menschen. Ciycain brauchte Gleichaltrige um sich. Wenn sie ehrlich war, war selbst ihr die Einsamkeit mitunter zu viel.
„Bada“, drang Kanouepes Stimme in ihre Gedanken. Tarolf hatte auch so geklungen. Weich. Hoch für einen Mann. Charmant, wenn er es gewollt hatte. Fürsorglich. Eine Stimme, der sie stets misstraut hatte.
Der schlanke Mann hatte sich aus Gilloks Umarmung befreit und schritt zu Ciycain, die ihn mit offenem Blick empfing. „Das ist nicht mehr mein Name“, korrigierte sie sanft. „Ich heiße jetzt Ciycain.“
„Walruferin? Wie bist du zu diesem Namen gekommen?“
„Das ist eine lange Geschichte, die ich dir gern erzählen werde.“
„Ich freue mich darauf.“ Kanouepe lächelte und wandte sich Syriakin zu.
Das Lächeln gefror, als er sie erkannte. Helle Augen glitten forschend über sie. Wieder wähnte sie sich im Langhaus. Sein Vater hatte sie mit einem ähnlichen Ausdruck angestarrt, einer Mischung aus Abneigung und Verachtung und einer Prise Furcht. Allerdings musste sie dem Sohn zugestehen, dass seinem Blick die Gier fehlte, die so oft in Tarolfs Zügen gestanden hatte.
Sie nickten einander stumm zu.
Danach drehte Nou sich zu Gillok und Ciycain. „Kommt. Ich bringe euch ins Dorf. Ihr seht aus, als könntet ihr eine Rast gebrauchen.“
Syriakin zerschnitt die Baststricke um die Hände des Jungen, schob ihn vor sich und trottete den anderen nach. Sie hatte es nicht eilig.

Am Rande Puards trennten sich die Brüder. Kian gestand, noch eine Reihe Besorgungen erledigen zu müssen. Akim sah ihm halb belustigt, halb verärgert hinterher, führte die Kamele an die Tränke, half beim Abladen, bedankte sich bei den anderen Fährtenlesern, klärte Preise und anstehende Reisen mit den Händlern, verabschiedete sich von Helfern und machte sich auf den Weg zu Julas Palme.
„Diesmal müsst Ihr mir das Geld geben. Vier Karawanen sind es nun“, begrüßte er wenig später den Alten, nahm das weiße Tuch ab und wedelte sich damit Luft zu. Er visierte das verbliebene Auge des Kamelführers an, das trüb zwischen Falten hervor blinzelte.
Akim ließ sich davon nicht täuschen. Jula sah runzeliger aus als die Stämme der Dattelpalmen, war vermutlich der älteste Bewohner der Oasenstadt, doch auch einer der gerissensten und erfolgreichsten. Nach Akims Maßstäben war er unermesslich reich.
Jula grinste aus zahnlosem Mund. „Geld verdirbt nur.“
„Dabei hockt Ihr auf dem Euren. Gebt zu, Ihr habt es unter Eurer Palme vergraben. Deshalb sitzt Ihr den lieben langen Tag auf demselben Fleck.“
Jula lachte, erhob sich mühsam, klopfte seine Kleider ab und trat zu Akim, um ihn zu umarmen. „Ich bin froh, dich gesund und munter zu sehen. Bei den Göttern! Das Reisen bekommt dir. Du wirst immer kräftiger.“
„Ihr immer klappriger. Ihr solltet mehr essen. Eure Kamele versorgen Euch doch mit allerlei leckeren Dingen.“
„Ach, weißt du, das Essen ist mühselig geworden. Aber für einen guten Tee wäre ich bereit, mein letztes Auge zu opfern. Darf ich dich zu einem einladen? Wie ich meinen Lehrling kenne, siedet das Wasser schon. Auf ihn ist Verlass.“ Der Alte zwinkerte.
„Ihr hättet ihn sofort zurückschicken sollen.“
„Er bat mich. Du weißt, wie er sein kann.“ Es war, als husche ein Sonnenfleck über Julas Antlitz. Von einem Augenblick zum nächsten glätteten sich die Falten.
„Er versprach mir, sich nicht in Gefahr zu bringen.“ Ärgerlich stapfte Akim zu Julas Unterkunft, einer Mischung aus Jurte, Zelt und Hütte, hob den schweren Vorhang aus Kamelfell und schlüpfte ins Innere.
„Ich bin nicht in Gefahr. Jula sorgt für mich“, rief Kian ihm zu. Er saß in der Mitte an einem Feuer, über dem ein Kessel brodelnden Wassers hing, in den er eben grüne Blätter warf. Sofort stieg der kühlende Duft frischer Minze auf. „Wir haben alles besprochen, während du dich um die Kamele gekümmert hast. Jula hieß mich Taan holen und bat ihn, Mutter auszurichten, dass ich bis zum Jahresende hierbleibe. Morgen schon bricht er auf. Er gab ihm eine großzügige Entlohnung für Mutter mit und stellte ihm einen Platz in einer seiner Karawanen in Aussicht. Wenn man es recht bedenkt, ist es für mich sicherer so. Niemand vermutet mich hier.“
„Außer ganz Ranand.“ Akim fühlte, wie sein Ärger sich mit dem Duft der Minze und Kians strahlenden Augen auflöste. Resigniert seufzte er und ließ sich an Kians Seite nieder, während Jula hinter ihm den Vorhang raffte, um ein wenig Frischluft in die Behausung zu lassen.
„Also gefällt es dir hier?“, fragte Akim, nachdem Kian mit einem tiefen Löffel geschickt Tee in schmale Becher geschenkt und diese herumgereicht hatte.
„Sehr. Jula überträgt mir Aufgaben. Hier leben viel mehr Menschen als in Ranand. Mittlerweile kenne ich eine Menge. Und dann die Reisenden! Sie erzählen aufregende Geschichten.“
„Du solltest nicht mit Fremden sprechen“, sagte Akim mit deutlich bewölkterer Miene.
„Ich weiß. Jula warnt mich ständig. Meist kleide ich mich in die Gewänder anderer Stämme und verhülle mein Gesicht. Lege mir eine andere Mundart zu. Mich erkennt niemand.“
„Du bist zu abenteuerlich.“
„Liegt wohl in der Familie“, gab sein Bruder lächelnd zurück und hob den Becher an die Lippen.
Mitten in der Bewegung hielt er inne. Sofort stellte Akim den Becher ab und sprang auf die Füße. Jetzt hörte auch er das leichte Scharren von Schuhen und bückte sich nach seinem Speer.
„Nicht.“ Julas Hand legte sich auf seine Schulter.
„Jemand nähert sich Eurer Hütte.“
„Ich habe keine Feinde.“
„Geschäftspartner empfangt Ihr unter der Palme. Alle wissen das.“
„Leg ihn weg.“ Kian klang noch gelassener. Seine Augen funkelten lausbübisch über die dampfende Teetasse hinweg.
„Du wirst doch keine Speerspitze in diesen Körper treiben wollen?“, polterte eine gutmütige Stimme.
Sekunden später fühlte Akim sich von mächtigen Armen erdrückt.

„Wo sind sie? Sollten wir nicht längst einen von ihnen gesehen haben?“
Ivson schwieg. Sein Gesicht verschloss sich zusehends. Besorgnis flatterte in seinen Augen. Alle paar Schritte blieb er stehen und schaute sich um.
Mittlerweile waren die Gutsgebäude wenig mehr als Schemen im Frühnebel und in Sila regte sich Furcht. Zwar wusste sie Talin gut aufgehoben hinter Steinmauern, verschlossenen Türen und Fensterläden, bewacht von Evart, Ida und ihrer Mutter, doch gegen das mulmige Gefühl vermochten alle Vorsichtsmaßnahmen der Welt nichts auszurichten.
„Am besten gehen wir zu ihrem Lager“, überlegte Ivson laut, nachdem er sich erneut in alle Himmelsrichtungen gedreht hatte. „Vielleicht nehmen sie ein Frühmahl ein.“
Sila sparte sich die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, dass die Soldaten, die vom Thronfolger höchstpersönlich zu ihrem Schutz abgestellt worden waren, schwerlich gleichzeitig von ihren Posten abgerückt wären, um gemeinsam zu essen.
„Weißt du, wo sie ihr Lager haben?“, fragte sie und versuchte sich an den Vortag zu erinnern. Hatte ihre Mutter erwähnt, wohin sie und Ida den Proviant brachten?
„Im Nordwesten, in der Nähe des Baches, unter den Bäumen.“
„Gut versteckt, hm?“
„Damit wir ihre Gegenwart wenig spüren. Vater und Mutter sind Menschen zugetan, aber ständig von fremden Uniformierten beobachtet zu werden, gefiel ihnen nicht.“
„Tut mir leid“, murmelte Sila.
„Sie hatten die Wahl und haben sich entschieden. Der Prinz hat uns vielleicht die genaueren Gründe verschwiegen, aber wir wussten, dass unser Leben sich ändern würde.“
Seine Worte waren ehrlich gemeint. Sie minderten das Schuldgefühl dennoch nicht.
„Also. In der Regel patrouilliert einer hinter dem Rübenfeld bis zur Rückseite der Scheune und wieder zurück. Ein zweiter läuft vom Feld aus nach Westen bis zum Bach und ein Stück an diesem entlang. Wir sind jetzt seit einer halben Stunde unterwegs. Mindestens einen von ihnen hätten wir mittlerweile treffen müssen.“
„Du hast ihre Routen im Kopf? Hast du unsere Beobachter beobachtet?“, fragte Sila.
„Ihre Routen ändern sich. Meist wöchentlich, manchmal täglich, manchmal mehrfach innerhalb eines Tages. Auch ihre Patrouillenzeiten schwanken. Schlaue Burschen, deine Soldaten.“
„Es sind nicht meine Soldaten.“
„Sei nicht so empfindlich.“
„Ich bin nicht…“, begann Sila, verstummte aber angesichts seiner beschwichtigend erhobenen Hände und riss sich zusammen. „Wenn sie ihre Zeiten und Wege ändern, ist es vielleicht gar nicht schlimm, dass wir noch keinen gesehen haben.“
„Sie decken immer das gesamte Gut ab, egal, wie und wann sie laufen. Sie sollten etwas von dem Aufruhr vorhin mitbekommen haben, meinst du nicht?“
„Nicht, wenn sie sich fernhalten, um uns nicht zu stören. Sie sind ja nie direkt am Hof.“
„Doch, das sind sie“, widersprach Ivson.
„Wirklich? Ich habe nie einen näher als an den Rainen gesehen.“
„Was zeigt, dass sie ihr Handwerk verstehen. Genau deshalb mache ich mir Sorgen. Einen Dummkopf zu überlisten ist leicht. An diesen Burschen da draußen vorbei zu schleichen und unsere Hühner zu massakrieren, ist etwas anderes. Und jetzt? Kein Mensch weit und breit. Von den Angreifern keine Spur, von den Soldaten keine Spur. Das ist unheimlich.“
„Sollten wir nicht lieber zum Haus zurück?“ Neue Angst presste Silas Kehle zusammen, ließ sie flüstern.
„Es ist helllichter Tag.“
„Menschen sind schon tagsüber überfallen worden. Das bedeutet gar nichts.“
„Doch. Man sieht besser. Mein Vater ist nicht mehr der Jüngste, aber er hat gute Augen. Er wird die Frauen rund um die Fenster postieren und Ausschau halten.“
„Das soll genügen?“
„Er hat Kraft und weiß mit Werkzeugen umzugehen.“
„Er ist ein unbescholtener Mann. Ein gutmütiger, großherziger Mann, kein Soldat.“
Graue Augen bohrten sich in ihre. „Man hat seinen Hof besudelt. Das ist, als hätten sie Hand an ihn selbst gelegt. Seine Gäste und sein Weib fühlen sich bedroht. Unterschätze ihn nicht. Er wird sich zu wehren wissen. Und jetzt lass uns zum Lager gehen. Ich hoffe für die Kerle, dass sie auf anderen Routen unterwegs sind oder die Angreifer bereits geschnappt haben, anstatt in ihrer Unterkunft zu hocken und sich ihre Eier zu schaukeln. Sonst garantiere ich für nichts.“
Ivson stapfte los, ungestüm wie ein Bullenjunges. Sila sah ihm hinterher. Wenn er das Temperament von seinem Vater geerbt hatte, waren Talin und die Frauen nicht in den schlechtesten Händen. Das war bestimmt auch so eine Sache, die Ylaiy von vornherein bedacht hatte. Niemals hätte er sie Leuten anvertraut, die beim ersten Problem zeternd den Schwanz einzogen. Sie fühlte sich ein bisschen besser.


Sie brauchten nicht lang, um die Kleewiesen hinter sich zu lassen und dem Bach in nördlicher Richtung zu folgen, während die aufsteigende Sonne die Tautropfen glitzern ließ. Es war, wie über eine silberne Decke zu gehen. Eine kühle Decke allerdings. Silas Leinenschuhe waren bald von Feuchtigkeit getränkt und ihre Füße begannen zu schmerzen. Sie schenkte dem keine Beachtung. Die Schuhe würden trocknen und die Bewegung vertrieb Müdigkeit und Schmerz gleichermaßen.
Es war so still. Der Frühnebel hing tief über den Feldern, erstickte viele Laute. Bis weit nach Winterbeginn würde er sie morgens begrüßen. Manchmal würde er erst gegen Mittag aufziehen. Gedämpfte Geräusche und Windstille waren seine Begleiter. Aber war es sonst auch so still? Sie horchte, lauschte nach Vogelgezwitscher, dem Gezänk der Krähen, dem Gackern der Hühner, dem Wiehern der Pferde. Sie schienen weit fort. Nur das Rauschen des Baches war so wie immer.
Ohne es zu merken, griff sie nach Ivsons Arm. Evarts Sohn sah kurz zu ihr, nickte grimmig und stapfte weiter. Die wachsende Sorge hatte einen senkrechten Strich zwischen seine Brauen gezogen.
Fast wären sie an dem Feldlager vorbei gelaufen, so unauffällig lag es am Rand eines von wuchernden Beerensträuchern bewachsenen Feldes.
„Ein guter Platz, um nicht aufzufallen“, murmelte Ivson, während er zu den Zelten hinabkletterte. „Die Beeren wachsen wild und hoch. Wir kümmern uns nicht um sie, außer um sie abzuernten. Von der anderen Seite schützen die Bachnesseln, es gibt Wasser und Nahrung. Aber ein schlechter Platz, um zu lagern.“
„Wieso?“ Sila nahm Ivsons Hand, um die Böschung nicht hinunter zu rutschen.
„Wenn es regnet, läuft das Wasser den Hang hinab in die Zelte. Vielleicht schlagen sie das Winterlager woanders auf.“
„Ihr könntet sie in einer eurer Scheunen schlafen lassen“, schlug Sila vor und trat näher an die Zelte heran. Sie rochen nach Feuchtigkeit und Insektenkadavern. Schwer und schlaff hingen die Zeltwände herunter, bedeckt mit Blättern, Wurzelwerk und Blütenstaub. Spinnen und Käfer hatten sich auf ihnen niedergelassen. Alles in allem eine perfekte Tarnung. Die Halteleinen steckten noch im Boden, doch sie mussten nachgezogen werden. Die Eingänge waren verhangen. Bis auf den schwarzen Ring einer Feuerstelle war der Platz auffallend aufgeräumt. Keine Essensreste, keine zum Trocknen aufgehängte Wäsche, kein Kochgeschirr, keine Kisten oder anderen persönlichen Gegenstände. Nur einige größere Baumstümpfe lagen wie zufällig verstreut unter den Nesselpflanzen. Das Lager wirkte verlassen.
Sie bückte sich zu den Überresten eines Feuers. „Erkaltet. Ich glaube nicht, dass heute Morgen ein Frühmahl hier stattgefunden hat. Zumindest kein warmes.“ Mit einem Stock stocherte sie in der Asche, ohne zu wissen, was sie zu finden hoffte.
„Heyda! Ist jemand hier?“ Ivsons Stimme hatte sich erhoben wie ein Signalhorn, doch ihr Schall wurde nicht weit getragen. Nebel und Sträucher fingen ihn ein. Dennoch hieb Sila dem großen Kerl vor Schreck mit dem Ast auf das Bein.
„Au!“
„Hör auf, so zu brüllen!“
„Pst! Hörst du das?“
Sila hielt die Luft an. Ein halblautes Stöhnen drang durch eine der Zeltwände.
Gleichzeitig sprangen Ivson und sie auf das Zelt zu, zerrten an dem gewachsten Leinentuch, das den Eingang verhängte.
Der Geruch, der ihnen entgegenschlug, eingefangen von wasserundurchlässigen Planen, konserviert von der Kälte der Spätsommernacht, nahm ihnen den Atem. Ivson kamen sofort die Ställe in den Sinn; kalbende Muttertiere, die sich durch Geburten quälten, bis ihre Jungen auf das Stroh stürzten, eingehüllt in den Gestank dampfenden Blutes. Sila dachte an sterbende Männer und an den Geruch ihres eigenen Blutes, in dem sie einst geschwommen war.
Aus dem Halbdunkel erhob sich ein Arm. Klebrige Finger griffen nach ihnen. „Helft uns.“
„Hol ihn raus! Hol ihn raus! Hol ihn aus dem Zelt raus!“
Ihre unterdrückten Schreie erreichten Ivson nicht. Er kauerte unbeweglich im Zelteingang, die Augen groß wie die Korkuntersetzer, die Ida im Winter geschnitzt hatte.
Sie schubste ihn aus dem Zelt, begegnete seinem verschwommenen Blick, bückte sich, griff nach den klebrigen Fingern.
„Helft uns“, gurgelte die Stimme und jetzt erkannte Sila ein bartloses Gesicht und flehende Augen.
„Ja“, stieß sie aus. „Ja. Ja doch. Wir helfen dir. Wir helfen dir. Raus. Raus. Komm raus hier. Nicht hier drin bleiben.“ Sie merkte nicht, dass sie alles wiederholte, was sie vor sich hin haspelte. Sie sprach weiter, irgendetwas. Worte, die nur beruhigen sollten, den Soldaten, Ivson, sie; die aus ihr heraussprudelten, ihr die Kraft verliehen, den stöhnenden Mann ins Freie zu zerren, weg von dem Kupfergeruch, weg von den Leinenwänden, auf denen Blut in braunen Bröckchen festgeklumpt war, weg von den zerschnittenen Körpern.
Mit leerem Blick glotzte Ivson auf die Beine des Soldaten. Das linke war grotesk nach innen verdreht, das rechte Schienbein gebrochen. Der Knochen ragte durch den Uniformstoff. Krampfhaft schluckend kroch Ivson zum Kopf des hemmungslos schluchzenden Mannes an Silas Seite.
„Helft uns“, murmelte der junge Uniformierte immer und immer wieder. Es klang wie ein Gebet.
Sila nickte, sprach beruhigend auf ihn ein, streichelte und tröstete, strich blutiges Haar aus der Stirn, wischte Tränen ab. Ivson kauerte mit taubem Entsetzen neben ihr. Als der Soldat zu heulen begann, lang gezogen und unkontrolliert, versetzte sie ihm einen Schlag mit der flachen Hand, vor dem Ivson mehr zurückzuckte als der Verletzte.
„Hör auf!“, herrschte er Sila an. Dann bemerkte er, dass der Soldat mit dem Schlag verstummt war und sie beide ansah, als wäre er soeben aus einem Traum erwacht.
Sila beugte sich zu ihm, brachte ihren Mund an sein Ohr. „Es tut mir leid“, flüsterte sie, während eine Träne ihre Wange hinunter kullerte und auf der des Soldaten zerplatzte.
„Ihr könnt mir nicht helfen“, sagte dieser mit klarer Stimme.
„Nein. Wir kommen zu spät.“
„Sind es… sind es meine Beine?“ Er hob sein Kinn.
Sila schob ihn zurück. „Shht. Euren Beinen geht es gut.“
„Sie schmerzen.“
Sila drückte ihre Hände auf seinen Unterbauch. „Das kann nicht sein, Soldat. Sie sind unversehrt. Der Schmerz ist in Eurem Herzen.“
„Kelraig“, stammelte er.
„Ist das Euer Name?“
„Ja.“
„Von welchem Geschlecht?“
„Dessel“, brachte er heraus. „Kelraig von der Familie der Dessels. Wir … wir sind kein großes Geschlecht. Nur Vater, Mutter, zwei Söhne. Wir … sind nicht bedeutsam, versteht Ihr?“
„Kelraig von den Dessels“, wiederholte Sila. „Ich werde dafür sorgen, dass man den Namen nicht vergisst. Eure Familie wird erfahren, dass Ihr Euer Leben für andere gabt.“
„Ich … war zu langsam. Zu … überrascht. Sie kamen aus dem Nichts, versteht Ihr? Erst … nichts und plötzlich … waren die anderen tot. Sie schrien nicht einmal. Elin. Garbse. Sie schliefen. Und dann waren sie tot. Ich … habe versagt.“ Sein Kopf sank auf die Seite.
„Ihr habt überlebt, um zu berichten, Kelraig Dessel. Der Prinz hat Euch ausgewählt. Er ist ein schlauer und weitblickender Mann. Er hat Euch gewählt. Ihr habt überlebt, um zu berichten. Berichtet. Was ist geschehen?“
Ivson rutschte unruhig über den Boden. „Sollten wir ihm nicht lieber helfen?“, raunte er.
Silas Augen lösten sich nicht von Kelraig, doch sie hob die Hände von dessen Unterbauch. Stahl ragte aus den Gedärmen, vermutlich Kelraigs eigenes Schwert. Ivson erfasste trockener Husten, als er ein Würgen unterdrückte.
„Elin, Garbse - Ihr werdet auch ihre Namen nicht vergessen, nicht wahr? Wir drei hätten die nächste Wache übernehmen sollen. Wir schliefen, Pies sicherte, Kopret und Einan waren auf Kontrollgang rechts, Tikt und Jeffels links.“
„Links?“
„Von hier aus gesehen. Zwei gingen nach Nordosten, zwei nach Südwesten, trennten sich nochmals, trafen sich unweit der Koppeln, kamen zurück. Sie müssen Pies ausgeschaltet haben. Ich habe nichts gehört. Plötzlich waren sie in meinem Zelt.“
Kelraig verstummte und verzog das Gesicht, als ein Sonnenstrahl sich durch die Wolkendecke stahl und ihn blendete. Sila betrachtete das kalkige Gesicht, den Schweißfilm auf Stirn und Nase. Ein angenehmes Gesicht. Jung, energisch, schneidig, klar. Offene Züge, auch wenn der Schmerz sich an ihnen zu schaffen gemacht hatte.
Kurz schwenkte ihr Blick zu Ivson, der fast genauso blass aussah. In seinen Augen hing Entsetzen. Seine Bauernhände lagen über den Gedärmen, als wollten sie sie vor dem Sommertag abschirmen. Gut. Die Fliegen würden nicht lange auf sich warten lassen. Und der Tod war nicht viel geduldiger.
„In Eurem Zelt? Gehörte es Euch allein?“, kehrte sie zu Kelraigs Bericht zurück.
Er lächelte mit blutleeren Lippen. „Schaut Euch um. Vier Zelte, acht Männer.“
„Aber in Eurem Zelt liegen noch zwei Männer.“
Sein Kopf ruckte herum. „Das stimmt so nicht.“
„Vertraut mir. Ihr wart zu dritt.“
„Nicht, als wir uns schlafen legten.“
„Männer legen sich manchmal zu Männern.“
Trotz der Leichenblässe erschien ein flüchtiges Rosa auf den Wangen. „Nicht hier. Ich schwöre es. Und selbst wenn. Dann hätten sie doch ein freies Zelt genommen. Es ist nicht, wie Ihr denkt.“
Sila befeuchtete ihre Lippen und sah erneut zu Ivson. Der hielt den Kopf gesenkt. Offenbar tat das Landvolk sich schwer mit gewissen Vorstellungen.
„Ich teilte mein Zelt mit Elin“, brachte Kelraig hervor. Offenkundig war er so durstig wie sie. „Ein schlaksiger Kerl. Dünn wie eine Vogelscheuche.“
Sila nickte Ivson zu, der mit weichen Knien aufstand und in das Zelt spähte. Anschließend ging er zu den anderen Unterkünften, zog die Wände auf. Nachdem er das letzte Zelt inspiziert hatte, stolperte er seitlich in die Nesseln.
Sila blieb bei Kelraig hocken, strich dessen Haar zurück, nahm die klammen Hände in die ihren. Sein geschundener Körper zuckte, trieb ihn in ein halbbewusstes Dämmern.
Ivson kehrte zurück, blass, aber gefasst. „Im ersten Zelt liegen ein schlaksiger Kerl und ein gedrungener mit wenig Haaren. So weit ich das erkennen konnte.“
„Pies“, murmelte Kelraig. „Die Wache. Sie haben ihn überwältigt und zu uns geworfen.“
Ivsons von Nesseln zerkratzter Zeigefinger wies nach Süden. „In diesem liegt nur ein Mann. Groß, schlank, schlechte Haut. Narben überall im Gesicht und auf den Händen.“
„Einan. Als Kind hat er eine schlimme Erkrankung überlebt. Aber das ist seltsam.“
„Warum?“, fragten Ivson und Sila wie aus einem Mund.
„Weil Einan auf Patrouille sein sollte. Das dort ist Garbses Zelt. Garbses und Pies‘.“
Sila drehte sich zu Ivson. „Sind in den anderen Zelten auch Männer?“
„Nur noch einer. Er sah am schlimmsten aus.“ Ivson griff sich an die Kehle. „Ein bärtiger Mann, sehr behaart. Man konnte das gut erkennen. Er war ... halb nackt.“
„Jeffels“, rief Kelraig schwach. „Der älteste von uns. Erfahren. Hat sich in vielen Scharmützeln bewährt.“
„Hat ihm nichts genützt“, murmelte Ivson.
„Wenn er so schwer verletzt war, wie du sagst, hat er sich mit aller Macht gewehrt“, entgegnete Sila.
„Bestimmt hat er das“, sagte Kelraig mit einem Lächeln, das Sila und Ivson erschreckte, denn es war ein Lächeln, das zu einer Maske gefror. Kelraigs Hände krampften sich um Silas. Sein Atem kam sacht wie ein Flüstern aus den schlaffen Lungen.
Sila neigte sich zu seiner Halsbeuge. „Wer fehlt, Kelraig? Garbse, der eigentlich hier sein sollte, schlafend im Zelt. Wer sonst? Es sind keine acht Männer hier. Draußen auch nicht.“
„Keine draußen?“, brabbelte Kelraig verwaschen. Er war nur noch schwer zu verstehen.
„Wir haben niemanden gesehen. Jemand war auf dem Hof heute Nacht.“
„Das … ist … schlecht.“
„Schlecht, ja. Wer fehlt? Kelraig. Sprich schnell, ich bitte dich.“
„Garbse. Rundlich. Ungewöhnlich für einen Elboin. Still. Dachte viel, aber … langsam. Hatte immer das Gefühl, dass er vieles nicht verstand beim ersten Mal. Kopret. Mann wie ein … Brett. Hart. Gerade. Hölzern. Kein freundlicher Mann. Abweisend. Und Tikt. Wir nannten ihn Tikotun.“
„Wie die Weidenstöcke, die am Palast wachsen?“
„Ja“, stöhnte Kelraig. „Weil er immer aussah, als hätte er einen von den Dingern im Arsch, versteht Ihr? Aber er ... konnte Humor vertragen. Machte über sich selbst Scherze. Meinte, sein Vater hätte ihn als Kind an den Beinen an einen Dachbalken gehängt, wenn er etwas angestellt hatte. Das hätte ihm einen Wirbel verknackst, deshalb lief er so steif … Ist alles in Ordnung, Herrin? Ihr schaut, als hättet Ihr einen Geist gesehen.“
„Ich bin keine Herrin“, sagte Sila, bemüht, nicht unwirsch zu klingen. Sie blickte zu Ivson, der sie gespannt musterte, schluckte, riss sich zusammen, lächelte.
„E…entschuldigt. Der Prinz nannte Euch so.“
Wehmütig wandte sie den Blick ab. Sie betrachtete den Bach, der zwischen den Sträuchern glitzerte, während der Soldat mit einem Seufzen unter ihren Händen starb.
„Danke, Kelraig Dessel“, sagte sie leise und küsste ihn auf beide Wangen. Dann raffte sie hastig ihr Kleid zusammen, kroch von dem erschlafften Körper weg und machte sich unverzüglich daran, die Böschung hinauf zu klettern.
„Was hast du vor?“, rief Ivson, ihr hinterher stolpernd.
„Wir müssen so schnell wie möglich zum Hof zurück!“
„Sollten wir uns nicht zuerst um die Männer kümmern? Wir können sie doch nicht einfach liegen lassen.“
„Für eine Bestattung ist jetzt keine Zeit.“
„Aber…“
Sie fuhr herum. „Mein Kind ist in Gefahr! Meine Mutter. Deine Eltern. Also rede nicht, komm! Beeil dich!“


Der Hof lag so verlassen wie am frühen Morgen. Die verbliebenen Hühner flatterten verstört auf, als sie sich gegen die Eingangstür warf, die im selben Moment von innen geöffnet wurde, sodass sie an Evart vorbei stolperte und erst in der Stube zum Stehen kam.
Besorgt erhob sich Rana aus dem Korbsessel, den sie vor ein Fenster geschoben hatte. „Was ist passiert? Wir haben euch längst zurückerwartet! Wo wart ihr?“
„Ist Talin wohlauf?“, stieß Sila hervor.
„Ja. Er ist außergewöhnlich ruhig heute.“ Rana reichte ihr den Jungen, den Sila aufatmend an sich drückte.
Rana wandte sich an Ivson, der zögernd sein Elternhaus betreten hatte und die Hände knetete. „Was ist geschehen?“
„Sprich, Junge“, bat Ida leise.
„Es ist … es war furchtbar“, brachte er heraus, bevor er sich von seiner Mutter in den Arm nehmen ließ.
Evart betrachtete seinen vor Muskeln und Jugend strotzenden Sohn schweigend, dann ging er zur Tür und verriegelte sie. „Es waren keine Hühnerdiebe“, stellte er fest.
Sila brach in ein Kichern aus, das sie sofort mit dem Handrücken erstickte. „Nein.“
Rana nahm die Hand ihrer Tochter, hob prüfend deren Kinn an, strich das wirre Haar, in dem allerlei Schmutz haftete, beiseite. „Bist du verletzt? Ich sehe Blutflecke. Du bist blass.“
Die ehemalige Amme wirkte besonnen, aber ihre Stimme zitterte. Sila wusste, dass sie an den Winter vor zwei Jahren dachte, den kalten Winter in Fedaj. Ein Winter, den sie beinahe nicht überlebt hätte.
„Es ist nicht mein Blut“, erwiderte sie. „Wir müssen fort. Noch heute. Jetzt!“
„Wohin? Weshalb?“
„Zum Palast. Die Soldaten liegen am Bach. Ermordet.“
Ida schrie auf. Ihre knorrigen Hände hoben sich vor ihren Mund. Evart kniff die Lippen zusammen, rammte die Fäuste in die Taschen. „Das wisst ihr genau?“
„Eindeutige Verletzungen. Durchschnittene Kehlen. Gebrochene Knochen.“
„Wie? Das … das … Wer war das?“, stammelte Rana.
„Fünf Männer sind tot. Mit einem konnten wir sprechen. Er berichtete von einem Überfall. Drei fehlen. Möglicherweise sind sie die Mörder.“
„Das wissen wir nicht“, mischte Ivson sich ein. „Er hat davon nichts erzählt.“
„Einer von ihnen hätte im Lager sein müssen. Garbse.“
„Vielleicht hat er den Dienst getauscht. Du stellst nur Vermutungen an! Er ...“
„Sie könnten dort draußen sein“, zerschnitt Sila den Satz in der Luft und drückte Talin ihrer Mutter an die Brust. „Uns auflauern. Wir müssen weg. Ich packe zusammen.“
„Sie könnten auch verletzt da draußen liegen und auf Hilfe hoffen“, fuhr Ivson sie an. „Echte Hilfe. Nicht nur Fragen.“
Er war zornig, doch unter dem Zorn brodelte die Angst. Die Hilflosigkeit im Angesicht des Todes, die Trauer.
„Ich habe einige Verletzte gesehen, Ivson“, sagte sie so sanft wie möglich. „Glaube mir. Ein Heiler hätte vielleicht etwas ausrichten können. Aber wir beide - du und ich - konnten diesem Mann nicht helfen.“
„Dann hätten wir Rana holen sollen“, stieß er hervor. „Meine Mutter ist auch gut mit Kranken.“
„Kranken Tieren“, wandte Ida ein.
Sila atmete tief ein. „Der Soldat hatte eine Bauchverletzung, die mehrere Stunden alt und mit Sicherheit bereits entzündet war. Seine Gedärme lagen offen.“
„O weh“, seufzte Ida. „Das hätte ich nicht gekonnt, Junge.“
„Rana vielleicht.“ Störrisch wie ein Knabe stand Ivson vor den Frauen.
„Ich habe seine Organe gesehen!“, sagte Sila laut. „Seinen Kot gerochen. Den in seinem Körper. Es ging zu Ende mit ihm und nichts hätte es aufhalten können. Aber er war hier, um zu helfen. Das war sein Dienst. Also half er uns mit Informationen, die möglicherweise unser aller Leben retten.“
„Deswegen können die fehlenden Soldaten trotzdem ebenfalls verletzt sein“, beharrte Ivson.
„Unwahrscheinlich, was Garbse anbelangt.“
„Und den anderen, nicht wahr? Diesen Tiki. Tiko. Der mit dem Stock im Arsch.“
„Tikotun.“ Ihre Replik kam reflexartig.
„Man konnte sehen, dass der Name dir was sagt. Wer ist er?“
„Tikt ist ein gewöhnlicher Name. Viele heißen so.“
„Du lügst.“ Zornig baute Ivson sich vor ihr auf, sein sonst so freundliches Gesicht verkniffen. Die senkrechte Falte war wieder da.
„Willst du die Wahrheit aus mir herausprügeln?“ Sila stemmte ihre Arme in die Seiten und hob ihr Kinn zu ihm auf.
„Muss ich das?“, herrschte er zurück.
Tumult brach aus, als Ida, Rana und Evart auf ihre Kinder einredeten, sie um Besonnenheit anbettelten.
„Ich kenne den Kerl nicht“, sagte Sila schließlich mit beherrschter Stimme. „Aber ich kann mit einiger Sicherheit sagen, dass er nicht hier ist, um uns zu beschützen.“
„Was?“ Evarts Augen starrten sie an.
„Ich denke, dass er einer von Veis Männern ist. Einer seiner Bastarde, um genau zu sein.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Ivson.
„Mutter und ich“, sagte Sila mit einem Blick in die Runde, „haben viel geredet in den letzten Monaten. Sie hat mir eine Menge erzählt über früher. Dinge, die ich oft genug nicht hören wollte. Das ist eins davon. Das Aufhängen am Dachbalken. Das macht er nämlich. Er hängt sie an den Füßen auf, wenn sie nicht gehorchen, wenn sie ihm widersprechen. Vei!“ Sie spie den Namen aus.
„Oh Himmel.“ Schwer sackte Rana in den Korbsessel, Talin in ihrem Schoß.
„Wen?“
Sila streckte Ivson ihren Fuß hin. „Seine Kinder.“
Um ihre Fessel, von der Schuhkante verdeckt, verlief ein schmaler Streifen. Hätte sie ihn nicht darauf hingewiesen, wäre ihm die dünne Narbe niemals aufgefallen. „Feuchte Lederschnüre. Ziehen sich zusammen, wenn sie trocknen.“
„Hat es wehgetan?“, fragte er erschrocken.
Sie zuckte die Achseln. „Ich war zu jung. Frag Mutter.“
Die Augen aller drei Vanstettens irrten zu Rana, die wie erschlagen in dem Korbsessel saß, ihr Enkelkind an sich gedrückt, als hinge ihr Leben davon ab.
„Du bist die Tochter des Kaiseringemahls? Kein Wunder, dass der Soldat dich Herrin nannte.“ Wie betäubt schüttelte Ivson den Kopf.
„Ich bin keine Herrin. Und sein Name war Kelraig Dessel. Fünf Soldaten, die uns bewachen sollten, wurden ermordet, sehr wahrscheinlich von ihren eigenen Kameraden, die sehr wahrscheinlich in Veis Diensten stehen. Vei hasst uns. Also könnten wir jetzt bitte, bitte von hier verschwinden?“, flehte Sila.
„Warum dann die Hühner?“ Idas Großmütterleingesicht glänzte rot vor Verlegenheit, als die anderen sie anstarrten. „Wenn er euch vernichten wollte, hätte er das heute Nacht tun können. Vom Hof hinein in ein Haus schlafender Menschen ist nun kein so großer Unterschied, finde ich. Stattdessen malen sie nur ein Zeichen an die Wand? Das scheint mir nicht viel Sinn zu machen.“
Unbehagen kroch in die Stube wie ein weiterer Feind.
„Vei liebt es, Menschen zu quälen.“ Rana wippte in ihrem Korbsessel vor und zurück, Talins Kopf an ihre Schulter gedrückt. „Grausamkeit bereitet ihm Lust. Nur zu töten, ist nicht befriedigend, noch weniger, sie töten zu lassen. Sie in Angst und Schrecken zu versetzen schon.“
„Du denkst, er spielt mit uns.“ Unsichtbare Fingerspitzen pressten sich von innen gegen Silas Schädeldecke. „Will uns einschüchtern.“
„Es würde zu ihm passen.“
„Wie um alles in der Welt konnte er uns finden?“
„Verräter gibt es allerorts. Es wimmelt von ihnen im Palast. Vei hatte viele Freunde.“
„Die mit ihm im Gefängnis verrotten.“
„Du weißt, wie es ist. Es gibt viele Wege, Menschen für sich arbeiten zu lassen. Die Aussicht auf eine Belohnung, eine Schuld, ein Gefallen, ein Druckmittel. Erpressung. Drohungen.“
Die Erwachsenen verfielen in bestürztes Schweigen, das nur von Talins Schnaufen unterbrochen wurde.
„Also?“ Sila sah alle der Reihe nach an. „Was tun wir? Wir können unmöglich hierbleiben. Wir sollten fliehen.“
„Mutmaßlich ist es genau das, was sie wollen“, gab Evart zu bedenken und zog die Nase hoch.
„Glaubst du, die hocken da draußen und warten darauf, was wir machen?“ Ivson klang ungläubig.
„Wonach sieht es denn sonst aus? Niemand greift an. Niemand lässt sich blicken.“
„Vielleicht sind sie geflohen.“
„Das ist mir egal!“, rief Sila. „Hier drin zu kauern und abzuwarten, macht mich verrückt. Ylaiy muss erfahren, was vorgefallen ist. Wir müssen die anderen warnen.“
„Hast du vor, mit uns Alten und einem Kind quer über die Felder nach Yruish zu rennen?“, erkundigte sich Rana.
„Ich weiß nicht.“ Sila sank gegen die Wand, rieb sich über die Stirn. Ihre Finger zitterten. „Ich weiß gar nichts mehr.“
„Ich aber“, sagte Evart in seiner schleppenden Sprechweise und wandte sich an Ida. „Frau, lass uns die Pferde holen. Ivson, du fährst den Wagen in den Hof. Den großen.“
„Packen wir?“, erkundigte sich Rana.
„Laut, auffällig, panisch. Hievt Truhen und Säcke auf den Wagen.“
„Panisch, eh?“, sagte Sila. „Das wird meine leichteste Übung.“

Seufzend klappte Paíre den schmalen Band zusammen, legte ihn neben sich und stemmte sich aus dem hohen Sessel, auf dem sie in letzter Zeit oft ruhte. Viel zu oft, wie sie sich missmutig eingestand. Die Schwangerschaft verlief ohne Komplikationen, aber ihre Leibesfülle war so beträchtlich, dass sie ihre Beweglichkeit einschränkte. Außerdem waren Hände und Füße geschwollen und bereiteten ihr Schmerzen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mehrmals am Tag in dem Sessel Platz zu nehmen und die Beine auf den Hocker zu legen, auf dem sich Kissen türmten. Sie trug die weitesten Schuhe, die sie besaß, aber wenn sie weiterhin zu lange auf den Beinen stand, würde sie demnächst barfuß gehen müssen. Eine Zumutung für die Gemahlin eines Prinzen.
Das Geklapper der Tür ließ sie aufhorchen. „Ylaiy, seid Ihr es?“, rief sie. Rasch warf sie einen Blick in den Spiegel, ordnete Haar und Kleidung und watschelte hinüber in den Wohn- und Empfangsraum.
„Es ist später geworden als gedacht“, begrüßte Ylaiy sie.
„Ein weiteres Ratstreffen?“, erkundigte sie sich und musterte ihren Gemahl. „Ihr seht erschöpft aus.“
Ylaiy lockerte den Kragen seines Hemdes. „Das Lamentieren bei den Treffen ermüdet mich, zumal bei dieser Hitze. Ich wünschte, ich könnte in Hemd und Kurzhosen herumlaufen wie die Handwerker und Bauern.“
„Das zierte sich nicht für den zukünftigen Kaiser.“
„Mag sein.“ Ylaiy zerrte sich die Uniformjacke von den Schultern und warf sie über einen Stuhl. „Aber ich wäre weniger erschöpft. Dieser Sommer setzt mir zu. Die Arbeitsräume sind allesamt stickig und überhitzt.“
„Man könnte doch wenigstens nachts die Fenster öffnen lassen. Dann finden keine Gespräche statt.“
„Papiere lagern dort. Wichtige Dokumente. Ich bin lieber vorsichtig. Der Sommer wird nicht ewig dauern. Im Winter werden wir wieder frieren in den hohen Räumen. Ein verlockender Gedanke.“
Paíre lächelte. „Im Winter werdet Ihr schimpfen.“
„Wahrscheinlich.“ Eine Grimasse schneidend schritt er zu dem Tischchen in der Ecke und goss sich aus einem Krug Wasser ein, das er mit großen Schlucken trank. Den Rest schüttete er über sein Haar.
„Ylaiy! Ihr ruiniert den Teppich!“
„Mein Kopf juckt von dieser höllischen Hitze.“
„Warum lasst Ihr Euer Haar nicht kürzen? Niemand zwingt Euch, es lang zu tragen. Und Eure Schreibarbeiten verlegt in die Bibliothek. In den Kellern ist es kühler als hier oben.“
Er seufzte. „Ich sollte Euch öfter um Rat fragen. Wie habt Ihr den Tag verbracht?“
Sie verzog das Gesicht. „Wie üblich. Mit Belanglosigkeiten. Wenn Eure Geschichte über den Norden nicht wäre, hätte mein Geist bereits aufgegeben.“
„Muss ich mir Vorwürfe machen, dass ich Euch so viel erzählt habe?“ Ylaiy goss seiner Gemahlin einen Becher Wasser ein und reichte ihn ihr.
„Gratuliert Euch lieber. Ich kann nicht genug davon kriegen. So bin ich wenigstens mit Nachdenken beschäftigt. Im Gegensatz zu Euch bin ich froh über das Grübeln.“
„Worüber genau grübelt Ihr?“
„Über die losen Enden überall“, sagte Paíre, trank einen Schluck Wasser und rülpste leise hinter vorgehaltener Hand. „Dieses Aufstoßen. Verzeiht.“
„Habt Ihr die Geschichte noch einmal gelesen?“
„Zweimal.“
„Obwohl Ihr Fantastisches und Übernatürliches ablehnt?“
„Sagen wir, ich habe mich darauf eingelassen. Ihr seid Wissenschaftler und doch behauptet Ihr, all die Dinge erlebt zu haben. Was bleibt mir übrig, als Euch zu glauben?“
„Manchmal denke ich, ich hätte mir alles nur eingebildet. Es geträumt.“
„Wärt Ihr allein gewesen, ja. Aber es liegt auf der Hand, dass auch Eure Mutter mehr weiß, als sie sagt.“
„Ihr habt sie befragt?“
Paíre lachte. „Und wie! Sie gab mir den Rat, in die Fußstapfen meines Vaters zu treten.“
Ylaiy fiel in ihr Lachen ein. „Demnach scheint Ihr Talent im Befragen von Menschen zu haben.“
Sie strich sich über ihr streng zurückgebundenes Haar. „Sie hat nichts zugegeben. Nichts, was über die offizielle Version hinausreichte.“
„Was hat sie denn erzählt?“, fragte Ylaiy, plötzlich gespannt, und ließ sich neben Paíre auf dem niedrigen Sofa nieder. Er fischte nach einem Samtkissen und half ihr, es in ihrem Rücken zu verstauen.
„Nur Einzelheiten zu Dingen, von denen ich bereits wusste. Sie berichtete vom Verschwinden Eures Vetters, den Untersuchungen Eurer Tante und dem Auftrag, den sie dem früheren Inquisitor erteilte.“
„Baraten“, presste Ylaiy heraus.
„Sie erzählte, dass Ihr darum batet, ihn begleiten zu dürfen. Ihn und Videm. Dass Ihr einen Verdacht hattet, nachdem der Junge am Palasttor aufgetaucht war mit der bizarren Geschichte von geflügelten Wesen.“
„Bur-an-gnea“, murmelte Ylaiy tonlos. „Bland erinnerte sich an sie.“
„Das Skelett aus der Bücherei?“
„Er hat mehr Schriften gelesen als jeder andere Mensch im Dran’bara.“
„Einschließlich Euch?“
„Er ist eine wandelnde Bibliothek, vertraut mir.“
„Er ist mir unheimlich“, gestand Paíre und zog die Arme um sich. „Ich meine, er lebt dort unten. Vergraben in staubigen Schriften.“
„Ihr selbst erfreut Euch am Lesen. Solltet Ihr nicht mehr Verständnis für seine Leidenschaft hegen?“
„Ich hocke nicht in unterirdischen Gewölben, umgeben von Spinnen und Kellerasseln. Man bringt mir die Bücher herauf.“
Als Ylaiy schwieg, hielt sie inne und schüttelte schließlich über sich selbst den Kopf. „Ihr müsst mich für ein verwöhntes Balg halten. Verzeiht, vielleicht ist es an der Zeit, ein eigenes Abenteuer zu erleben. Ich könnte mit der Kellertreppe anfangen.“
„Wartet damit, bis das Kind auf der Welt ist. Die Treppen sind steil.“
„Die Gänge feucht und vermodert“, setzte sie hinzu.
„Nicht in der Bibliothek. Bland würde seine Lieblinge niemals den Elementen aussetzen. Er hat wahre Schätze dort unten. Ohne ihn und seine Schriften hätten wir kaum die Verbindung zur Eisinsel gezogen, ohne seine Angaben, so spärlich sie auch waren, niemals dorthin gefunden.“
„Ich glaube, da irrt Ihr.“
Ylaiy schaute seine Gemahlin verdutzt an. „Wie das?“
„In Eurem Reisebericht erwähnt Ihr den Fischer. Er wusste von der Insel; seine Frau kannte sogar den Weg.“
„Nun ja.“
„In Fedaj wusste man von der Insel. Sie schrieben ihr Wissen nur nicht auf.“
„Das tun die Wenigsten. Gäbe es mehr Schriften, wären Spuren und Hinweise leichter zu verfolgen. So versandet vieles im Bereich von Spekulation und Mythos.“
„Nur, wenn man davon ausgeht, dass alle immer die Wahrheit schreiben“, versetzte Paíre. „Und das habt nicht einmal Ihr getan. Auch Euer Reisebericht verschweigt vieles, scheint mir.“
„Was denn?“
„Zum Beispiel die Namen Eurer Gefährten. Ihr habt ihnen andere gegeben oder gar keine. Es wimmelt von Ungereimtheiten.“
„Ich wollte sie schützen.“
„Hm. Jedenfalls gab es Hinweise auf die Eisinsel. In den anonymen Dokumenten des Palastes, in den Legenden Berlens, bei den Fedaj-i und auch in den Schriften des Mädchens.“
„Adiv.“
„Ihr schreibt, ihre Eltern hätten sie besessen. Doch woher hatten sie sie? Wer hat sie verfasst? Auf welcher Grundlage?“
„Adiv sagte, ihr Vater wäre gelehrt gewesen. Eine Art halb verrückter Forscher und Erzieher. Irgendwo hat er eine Ausbildung erhalten. An einem Gelehrtenhof oder in einem Tempel. Adiv ist eine Anhängerin Kaas. Viele Kapellen, Klöster und Kirchen beherbergen Bibliotheken. Ganz so abwegig ist der Gedanke nicht, dass er dort auf Informationen stieß.“
„Wir werden es nie herausfinden ohne sie.“
„Ihr wollt Adiv befragen?“
Sie klopfte auf ihren Bauch. „Nach der Entbindung. Wir könnten sie besuchen. Eine Reise nach Perth ist nicht so anstrengend. Oder seid Ihr auf ein Wiedersehen nicht erpicht?“
„Ich würde mich freuen“, gestand Ylaiy. „Doch ob Adiv sich aushorchen lässt, kann ich Euch nicht garantieren. Ich glaube, sie will dieses Kapitel ihres Lebens lieber hinter sich lassen. Wie wir alle.“
„Ihr wisst, dass man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Vielleicht hat sie den Tod ihrer Eltern überwunden und ist nun bereit.“
„Es sind eher die Geheimnisse, die sie stören.“
„Ich jedenfalls würde sie gern kennenlernen. In Eurem Lied ist sie eine energische, aber liebenswürdige Person.“
„Gegen einen freundschaftlichen Besuch spricht nichts, wenn Eure Gesundheit und meine Geschäfte es zulassen.“
„Meiner Gesundheit geht es gut.“
„Manche Geburten sind schwer. Auch die Zeit danach wird nicht leicht.“
„Frauen gebären ständig Kinder. So ist das nun einmal.“ Paíre boxte ihm lachend in die Seite und wurde gleich darauf rot. „Verzeiht. Das war unangemessen.“
„Ihr müsst Euch nicht für alles entschuldigen. Das Protokoll gilt in unseren eigenen vier Wänden nicht. Ich habe vorhin geflucht und Wasser auf dem Teppich verschüttet.“
Beide schwiegen einen Moment.
„Was mich stört, sind die Zufälle“, begann Paíre dann von Neuem. „Diese Verbindungen zwischen Euch und den anderen.“
Ylaiy rieb sich über das Kinn. „Die Verbindungen, ja. Ich konnte sie nie genauer ergründen.“
„Euer Geburtstag in derselben Nacht wie der von Arlens Mutter, welche zufällig die Krönungsnacht Eurer Mutter war und zufällig die Nacht, in der Schnee in der Wüste fiel und der Schmied eine Affäre mit der Schamanin einging. Zufällig dieselbe Nacht, in der das Sumpfkind getötet werden sollte…“
„Ich weiß“, unterbrach Ylaiy den immer hitziger gewordenen Monolog seiner Frau. Er nahm ihre Finger, an denen sie die Ereignisse abgezählt hatte. „Diese Dinge haben wir dutzende Male wiedergekäut.“
„Was ist Eure Theorie? Abgesehen vom Zufall?“
„Der Blaukopf nannte es einen kosmischen Plan. Die Kriegerin ebenfalls. Und das war es auch, zumindest das, was der Norogdún mit seinen Anhängern schmiedete.“
„Den Raub der Kinder.“
„Nur, dass alles viel größer war, als wir ahnten.“
„Mir kommt es so vor, als sei etwas eingetreten, was von Anfang an hatte eintreten sollen. Als ich ein Kind war, brachte mein Lehrer eines Tages eine Karte des Dran’bara mit. Sie war entlang der Inselgrenzen zersägt worden. Man musste sie richtig wieder zusammenlegen.“
„Worauf wollt Ihr hinaus?“
„Jeder von euch war wie eins dieser Teile. Alle passten ineinander, ergaben zusammen das große Ganze. Adiv mit den Karten ihrer Eltern, Akim mit den Legenden seiner Schamanengroßmutter, Jonoy mit den Fähigkeiten eines Sehers, Videm mit seinen Visionen. Die Sumpffrau mit ihren Kampfkünsten, Ihr mit Euren Versatzstücken aus Büchern und Schriften. Auch Rana und Sila waren Teile. Selbst sie waren nicht zufällig dort!“
„Aber wir sind freiwillig gegangen.“
„Vielleicht wollten sie gar nicht die Kinder. Vielleicht wollten sie euch! Die Gefährten. Euch mit den Kindern dorthin locken. In die unterirdische Festung.“
„Wer sind sie?“
„Menschen, die etwas von euch wollen.“
„Was denn? Wir sind nicht besonders!“
„Adiv wirft eine Münze in den Rachen eines Monstrums. Ein Mann fängt einen Jungen aus der Luft. Der Wüstensohn hat die Sinne eines Tieres. Ihr bündelt Energiestrahlen mit einem Stein. Die Sumpffrau gewinnt unmögliche Kämpfe. Videm pendelt an einem Schild über einem Abgrund. Der Sumpfmann durchwandert die Insel von unten. Wenn das nicht besonders ist, was dann? Immer vorausgesetzt, dass alles in Eurem Lied sich tatsächlich so zugetragen hat.“
„Das hat es, glaubt mir endlich. Nur behaltet es für Euch. Nur Einzelne kennen die Namen und Ereignisse.“
„Ja doch“, sagte Paíre aufgekratzt. „Trotzdem sage ich Euch, dass Ihr und Eure Gefährten nicht zufällig ausgewählt wurdet. Es hat mit euch allen zu tun, mit eurem Erbe, eurem Blut. Ihr solltet Nachforschungen zu euren Ahnen anstellen, eure Blutlinien ergründen, denn irgendwo in eurer aller Vergangenheit hat es angefangen. Ihr seid die frühere Generation, eine Art Vorbereiter. Die Kinder sind ihr in Perfektion.“
„Blutlinien”, murmelte Ylaiy, sich die Schläfen massierend. „Yvain und ich sind Elboin. Unsere Vorfahren gründeten das Reich, über das unsere Dynastie noch immer herrscht. Zweifellos sind wir mächtig, aber sind wir deshalb besonders? Meine Tante ist eine normale Frau.“
„Was ist mit Yvains Vater?“
„Tja, hier schweigt sich der Hof aus. Gerüchte besagen, dass meine Tante in ihren Jugendjahren lebensfroh und abenteuerlustig gewesen sei. Sie schloss Bekanntschaften mit vielen Männern, besonders gern mit solchen, die als Gäste im Palast weilten. Man verzieh ihr die Jugendsünden, solange sie nicht in aller Öffentlichkeit stattfanden. Sie war die Zweitgeborene, unbelastet von den Bürden des Amtes. Bestimmt spielte auch Rebellion gegen das Protokoll und ihre gestrenge Schwester eine nicht unerhebliche Rolle. Als sie jedoch schwanger wurde, änderte sich dies.“
„Warf man sie aus dem Palast?“
„Man übertrug ihr die Aufsicht über die Sicherung der Reichsgrenzen und die Durchsetzung elboischen Rechtes im Norden.“
„Man schob sie ab.“
„Zum Teil. Zum Teil ging sie freiwillig. Sie und Vei standen miteinander auf Kriegsfuß. In Fedaj herrscht sie über ihr eigenes kleines Reich. Die Kaiserin hat die Oberhoheit, aber Yruish ist fern. Es ist besser so.“
„Niemand kennt demnach Yvains Vater?“
„Außer sie selbst. Und sie wird sich hüten, den Namen zu nennen. Wer weiß, wen sie bloßstellen würde.“
„Am meisten sich selbst, wenn er von niederem Rang war.“
„Ihr sagt es. Und damit unsere ganze Familie.“
„Was ist mit dem Wüstenjungen?“
„Kian? Er gehört zum ältesten Stamm der Wüste. Madif haben besonders ausgeprägte Sinne. Überdies ist er der Enkel der mächtigsten Schamanin Berlens. Die Wüstenvölker geben eine Menge auf ihre Seher und Propheten, anders als wir. Seine Mutter ist eine gewöhnliche Frau, soweit ich weiß, sein Vater unbekannt.“
„Ist sein Vater auch Akims?“
„Akim hat nie etwas erzählt.“
„Seine Mutter könnte heimlich schwanger geworden sein. Solche Dinge passieren“, sagte Paíre mit rotem Kopf. „Vielleicht ist es ihm peinlich.“
Ylaiy ließ den Gedanken kreisen. „Ja. - Arlen ist der Sohn der unehelichen Tochter von Baratens verstorbener Frau. Ihr Name steht bestimmt in den Palastdokumenten. Der Inquisitor hat mit Sicherheit die Ehe mit einer Hohen Familie geschlossen. Das sollte sich herausfinden lassen.“
„Habt Ihr das noch nicht veranlasst?“
„Über die Abstammungsverhältnisse habe ich bislang kaum recherchiert. Ich habe mich auf die Erzählung konzentriert. Es war nicht leicht, während der Wirren alles niederzuschreiben. Eure Gedanken geben neue Anregungen.“ Ylaiys Müdigkeit verflog, je mehr er sich von der Aufregung seiner Frau anstecken ließ.
„Und wer war Arlens Vater?“, fragte Paíre, ihren Gemahl betrachtend, der aufgesprungen war und im Zimmer herumlief, mit dem Zeigefinger gegen seine Lippe klopfend.
„Das kriegen wir niemals heraus. Über Aan, die Mutter, gibt es keine Aufzeichnungen. Wir wissen, dass Rana sie gemeinsam mit mir stillte und sie einige Jahre großzog, bis mein Stiefvater sie zwang, das Mädchen wegzugeben. Ihre Spur verliert sich. Erst in der Boragha taucht sie wieder auf.“
„Habt Ihr Rana befragt?“
„Sie weiß nichts. Sie gab das Kind Fahrendem Volk mit, von dem sie dachte, es würde Aan gut behandeln. Vermutlich ist sie mit diesen Leuten umhergezogen.“
„Als Schauspielerin?“
„Wenn sie Glück hatte. Adivs Mutter lebte auch einst bei solchen Leuten. Als Diebin. Das Fahrende Volk beherbergt nicht nur Künstler. Manche sind regelrechte Räuberbanden, andere zwingen bereits Kinder zur Hurerei. Da Aan in der Boragha landete, schwanger und allein, hatte sie wohl nicht viel Glück. Sie selbst hat nichts von ihrem Leben vor der Boragha erzählt, sagt Adiv.“
„Das bedeutet“, fasste Paíre zusammen, „dass die Nachforschungen für Yvain, Arlen und Kian schon mit den Vätern im Sand verlaufen. Was ist mit dem Sumpfmädchen?“
„Wir kennen Ciycains Eltern. Aber auch das war merkwürdig. Als Gillok zu uns stieß, wirkte er nicht wie ein Vater, der verzweifelt sein Kind sucht. In dieser Angelegenheit indes werde ich nicht weiter graben.“
„Warum nicht?“
Sie würde mich umbringen.
Ylaiy zuckte mit den Achseln. „Es ist ihre Sache.“
„Wie Ihr meint. Doch ich bleibe dabei. Ihr habt eine Schlüsselrolle, ihr Gefährten. Ihr müsst mehr über euch selbst herausfinden. Denn ihr alle bringt etwas mit, das sich zu einem Ganzen fügt. Ihr gemeinsam seid wie ein Organismus. Wie diese Morrhim.“
„Ein seltsamer Vergleich, aber ich verstehe, was Ihr meint. Allein hätte niemand von uns eine Chance gehabt, nicht einmal die Kriegerin.“
„Sie wäre an dem Fieber gestorben ohne euch“, stimmte Paíre zu.
„Ich glaube dennoch, es geht um die Kinder, nicht um uns. Syriakin nannte sie eine Waffe, bestand darauf, sie zu trennen. Sie war eine furchtlose Anführerin, aber vor den Kindern wich sie zurück. Ich weiß noch, wie oft sie sie betrachtete auf der Rückfahrt, immer mit diesem sonderbaren Blick, sogar ihre eigene Tochter. Vor allem sie.“
„Wenn man bedenkt, was sie getan haben, würde ich sagen, sie tut gut daran, sich zu fürchten. Himmel! Ich würde vor ihnen davonlaufen!“
„Nein, Ihr würdet sie in Euer Herz schließen. Sie haben diese Wirkung auf andere. Sie sind nicht seltsam oder furchterregend, sie sind … süß. Niedlich. Einnehmend. Altklug vielleicht und zu ernst, aber abgesehen davon sind sie Kinder wie aus einem Bilderbuch. Glaubt mir, es geht um sie. Es ging immer nur um sie.“
„Dennoch. Ich könnte die langen Stunden des Müßiggangs nutzen, um mehr zu erfahren. Lasst mich stöbern, Ylaiy. Ich bitte Euch!“
„Tut mit Eurer Zeit, was Ihr wollt. Nur achtet darauf, dass Ihr Eure Nachforschungen geheim haltet. Die Kunde von den Kindern und ihrer Magie sollte nicht nach außen dringen. Die Welt ist nicht bereit dazu. In dieser Hinsicht haben meine Mutter und Bland nicht unrecht.“
„Meint Ihr, Bland gewährt mir Einsicht in sein Wissen?“
Ylaiy wiegte den Kopf. „Er hat altmodische Vorstellungen, was Frauen anbelangt. Ich werde mit ihm reden. Doch nun entschuldigt mich noch einmal. Ich lasse einen Barbier rufen. Haare und Bart müssen ab. Dieses Jucken macht mich verrückt. Vielleicht habt Ihr später Vergnügen an einem Spaziergang?“
„Mitten in der Nacht?“, fragte sie erstaunt.
„Dann ist es kühler.“
„Aber es schickt sich nicht, nachts über den Palasthof zu schleichen.“ Ihre Empörung war nicht gespielt, wie er bedauernd feststellte.
„Ich hatte nicht vor zu schleichen“, betonte er und merkte selbst, wie gereizt sein Unterton klang. „Ich wollte einen Spaziergang an der frischen Luft machen.“
„Seid mir nicht böse“, bat sie mit zusammengelegten Handflächen, „aber ich muss meine Füße hochlegen. Wie wäre es mit dem frühen Morgen? Vor dem Mahl? Dann ist es schon hell, doch immer noch kühl.“
„Sicher.“ Er zwang sich zu einem Lächeln und dachte an Sila.

„Wach auf! Adiv! Komm zu dir!“
Die Worte drangen gedehnt in ihren Geist, hohl, so als säße Sphita in einem Fass. Wieso saß Sphita in einem Fass? Und warum rüttelte Arlen sie am Arm und schlug ihr immer wieder ins Gesicht?
„Hey.“ Sie versuchte, nach Arlens Hand zu greifen, doch ihr Arm pendelte kraftlos durch die Luft, landete auf ihrem eigenen Unterleib.
„Au“, sagte sie und ihre Sicht klärte sich. Jählings kehrte die Wirklichkeit zurück.
Der Schattenmann.
Ruckartig setzte sie sich auf. „Ist er weg?“
„Er verschwand durch die Hintertür, sobald er uns vorn hörte. Ist alles in Ordnung mit dir?“ Arlens Miene drückte Besorgnis aus.
„Es geht schon“, gab sie zurück und lehnte sich kurz gegen Sphitas Arm, der ihren Rücken stützte. „Nur schwindelig.“
„Du solltest doch wissen, dass man sich nicht so schnell aufsetzt“, sagte Sphita tadelnd, während sie die Wangen aufblies.
„Ist dir übel?“, erkundigte sich Adiv.
„Nein“, erwiderte Sphita schroff. Ihre Finger nestelten an Adivs Rücken herum.
Adiv kannte das. Man fühlte sich hilflos, wenn man den Umgang mit Verletzten nicht gewohnt war, wollte etwas tun, aber wusste nicht genau, was.
„Reich mir deine Hände“, bat sie. „Ich könnte Hilfe beim Aufstehen gebrauchen.“
Als sie aufrecht stand, verschwamm die Umgebung und sie klammerte sich an Arlen und Sphita.
„Was tut ihr hier?“, fragte sie, nachdem der Schwindel vorüber war.
„Arlen hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war“, sagte Sphita. „Er konnte Mutter nicht finden, also scheuchte er mich hierher. Was ist das eigentlich mit deinen seltsamen Vorahnungen?“, fuhr sie ihn plötzlich an, riss sich los und rannte aus der Kapelle.
Arlen und Adiv hörten sie draußen schluchzen und gleich darauf die beruhigende Stimme Obqos.
„Es war der Bote“, sagte Arlen. „Er war nicht aufgeregt, sondern ganz ruhig. Wenn ich Hilfe für einen Verletzten holte, wäre ich nicht so gefasst, meine Antworten nicht so … einstudiert.“
„Hm. Also keine Vorahnung. Keine richtige zumindest.“
„Ich habe versucht, es Sphita zu erklären. Sie hörte nicht hin.“
„Sie verdient die Wahrheit. Sie ist kein Kind mehr.“
„Auch über ihre Mutter.“
„Als ob sie die nicht längst wüsste.“
„Wer war der Mann?“
Sie schüttelte gerade vorsichtig den Kopf, als Obqo hereingestürmt kam und sie in die Arme schließen wollte.
Verlegen lächelnd entzog sie sich. Obqo war ein beliebter Mann, tatkräftig und von sonnigem Gemüt, doch ihr waren die sehnsüchtigen Blicke nicht entgangen, die sie bereits früher heimlich gemustert hatten. Blicke, die unter ihre Kleidung drangen, ihren Körper abtasteten. Besser, ihn auf Abstand zu halten.
Obqo verstand die Zurückweisung, ließ sie los. Seine tintenbekleckste Hand verharrte in der Luft. „Ist es wahr, was das Mädchen berichtet? Ihr wurdet überfallen?“
„Ja.“ Für eine Lüge war es ohnehin zu spät. Vermutlich sah sie so derangiert aus, wie sie sich fühlte.
„Hier? In Kaas Haus?“ Er klang fassungslos.
„Kaas Haus hat für diejenigen keine Bedeutung, die nicht an ihn glauben“, sagte Arlen freundlich.
„Dennoch. Ein Gotteshaus wird respektiert“, brachte Obqo aufgebracht heraus. „Wer, in Kaas Namen, war es? Was wollte er? Euch ausrauben?“
„Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen. Und ausrauben? Ich denke nicht, dass er an Heilsalben und Kräuterverbänden interessiert war.“
„Was wollte er dann?“
„Mich.“
Obqos Kopf lief rot an. Es war offensichtlich, dass der Gedanke ihm bereits gekommen war.
„Er hatte keinen Erfolg“, nahm Adiv die Frage des Vorstehers vorweg und sah, dass er erleichtert aufatmete.
Sie warf Arlen einen raschen Blick zu, den dieser mit einem unmerklichen Kopfschütteln erwiderte. Er hielt Obqo für ebenso unschuldig wie sie.
„Wir kamen hierher, weil jemand von einem Verletzten berichtete“, sagte Arlen. „Sphita und ich gingen um die Kapelle, während Adiv innen nachsah. Zum Glück waren wir in der Nähe.“
„Wir konnten den Mann verscheuchen“, bestätigte Sphita. Sie stand in der Eingangstür und knetete ihre Hände.
„Ein Verletzter?“, fragte Obqo. „Davon weiß ich nichts. Hier ist um diese Uhrzeit niemand. Die Frauen kommen erst zur Mittagszeit. Ich arbeite in der Schreiberstube.“
„Dann seid Ihr nicht wegen des Patienten hier?“ Arlen sah dem rundlichen Mann geradewegs in sein gutmütiges Gesicht.
„Ich komme manchmal um diese Zeit her. Bereite die Mittagsgebete vor, lüfte, räume Liegengelassenes beiseite, putze die Bänke und den Boden. Ich hoffe, ihr drei habt mich nicht in Verdacht“, sagte er erschrocken.
„Nein“, entgegnete Adiv. „Ich weiß, dass Ihr mich nicht angegriffen habt.“
„Ihr wisst, dass ich so etwas niemals könnte.“
Ich weiß, dass Ihr Euch niemals unter diesen Altar quetschen könntet.
Adiv erwiderte sein Lächeln, aber sie fühlte sich elend.


„Er könnte trotzdem etwas damit zu tun haben. Könnte dich hingelockt, die Falle gestellt haben.“ Sphita sprudelte vor unterdrückter Erregung.
Adiv schwieg und dachte nach. Natürlich hatte Sphita recht. Obqo könnte an dem Angriff beteiligt gewesen sein. Allerdings schienen seine Überraschung und Sorge echt.
„Schieben wir Obqos Beteiligung erst einmal beiseite“, schlug Arlen vor. „Was könnte der Angreifer gewollt haben?“
„Das hatten wir doch schon“, ermahnte Sphita ihn mit einem Seitenblick auf Adiv, die sichtlich mitgenommen neben ihnen ging.
„Es kommt mir nicht logisch vor, dass ein Mann einer Frau in einem Gotteshaus auflauert, in das in jedem Moment jemand hineinkommen kann. Er hatte Glück, dass gerade niemand da war.“
„Kein Bürger, der mir nur an die Wäsche wollte“, überlegte Adiv laut und schlug sich gleich darauf auf den Mund. „Verzeiht. Das war nichts für Kinderohren.“
„Ich bin kein Kind“, maulte Sphita.
„Aber auch noch nicht erwachsen. Arlen erst recht nicht, wenngleich ich das gern vergesse, wenn er wie ein Großvater daher redet. Wie dem auch sei: Der Mann war ein Kämpfer.“
„Ein Attentäter“, ergänzte Arlen. „Er trug dunkle Kleidung, hielt sich verborgen, lauerte dir auf.“
„Ich weiß nicht. Er lockt mich in die Kirche, zu einem seltsamen Zeichen, schlägt mich nieder, tötet mich aber nicht. Würgt nur. Wie, um mir einen Schrecken einzujagen.“
„Eine Warnung“, sagte Arlen nach einigem Nachdenken. „Oder eine Drohung.“
„Wovor? Von wem?“
„Muss ich es wirklich laut aussprechen?“, rief Sphita entnervt aus. „Maxim! Wer sonst?“
Der Verdacht lag nah, dachte Adiv. Tatsächlich hatte sie ihn fast augenblicklich hinter dem Angriff vermutet. Es zu beweisen würde allerdings schwer werden.
„Welches Zeichen meintest du?“, hob Arlen wieder an, nachdem sie den Viehmarkt hinter sich gelassen hatten und das Viertel betraten, in dem Ardannas Residenz lag. Im schattigen Grün der reich belaubten Orias verlangsamten sie ihre Schritte, als hätten sie die Betriebsamkeit des Geschäftsviertels wie einen Mantel abgelegt. Adiv reckte ihr blasses Gesicht in den Himmel und genoss die angenehme Stille, die nur vom Zwitschern der Vögel und einem gelegentlich vorbei rumpelnden Ochsenkarren durchbrochen wurde. Hinter dieser Allee würden sie in einen der Zufahrtswege zur Residenz einbiegen. Farbenfrohes Grün würde nüchternem Grau und sachlicher Funktionalität weichen. Perth war eine Stadt der Wissenschaften. Oft hatte man das Gefühl, sich auf einem Spielbrett zu bewegen, so gerade und rechtwinklig verliefen die Straßen. Zum Glück gab es immer wieder Wege und Plätze, die sich der Ordnung widersetzten; Stadtteile, die der Natur verbundener waren. Ohne diese besonderen Orte hätte sie Perth als abstoßend und kalt empfunden.
„Es war an die Wand neben dem Altar gemalt.“
Er runzelte die Stirn. „Das R?“
„Ja. Zumindest glaube ich, dass es eins sein sollte.“
„Natürlich war es ein R.“
„Was soll ein R an einer Kirchenwand bedeuten?“
„Du bist die Gläubige.“
„Ich habe noch nie von einem solchen Zeichen gehört.“
„Dann ist es am wahrscheinlichsten die Initiale der Person, die hinter dem Angriff steckt.“
„Maxim Baraten.“ Sphita blieb hartnäckig.
„Sein Name beginnt nicht mit einem R.“ Müde kniff Adiv sich in die Nasenwurzel.
„Vielleicht ein Spitzname. Ein zweiter Vorname. Ein Titel.“ Sphita zählte die Vorschläge an ihren Fingern ab. Sie erschrak, als Adiv sich plötzlich an ihren Ärmel klammerte.
„Mir ist schwindelig.“ Langsam ließ Adiv sich auf einem der hellen Steine nieder, welche die Allee markierten. „Kannst du vorauslaufen und einen Schlauch Wasser holen? Die Hitze setzt einem ganz schön zu, wenn einem der Kopf brummt. Außerdem ist mein Hals wund.“
Sphita stob davon. Wahrscheinlich war sie froh über die Gelegenheit. Menschen zu versorgen war nicht jedermanns Sache.
„Wir müssen die anderen verständigen“, sagte Adiv.
„Also glaubst du nicht, dass es Maxim war.“
„Zumindest hat er mich nicht persönlich angegriffen. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass er die Strippen zieht. Es passt zu seinem verschlagenen Wesen.“
„Denkst du, er hat den Angreifer angeheuert?“
„Er ist doch so ein armer Schlucker. Kosten Männer wie die beiden in der Kapelle nicht viel Geld? Woher sollte er das haben?“
„Die Männer?“, fragte Arlen, plötzlich alarmiert.
Adiv rollte ihre Unterlippe zwischen den Zähnen, bevor sie den Jungen eindringlich ansah. „Es könnte Einbildung sein, aber ich glaube, ich habe einen zweiten Mann gesehen. An der Eingangspforte. Er war schnell wie ein Windhauch und ebenso schwarz gekleidet wie der andere.“
„Grau. Seine Kleidung war ein dunkles Grau.“
„Bist du sicher?“
Arlen antwortete mit einem langen, stummen Blick.
„Gut. Grau. Er trug Handschuhe, aber keine Waffen.“
„Keine sichtbaren.“
„Richtig.“
„Das war kein Straßenräuber, Adiv.“
„Nein. Der hätte Syras Zwilling sein können. Wir müssen die anderen warnen. So war es abgemacht. Sobald einem von uns etwas passiert. Wir müssen Nachricht an Ylaiy schicken.“

Der Pfad schlängelte sich, gut verborgen unter Farnen und Wurzeln, einen sanft anschwellenden Hang hinauf. Die Gegend wurde hügeliger.
Ciycain fühlte sich unwohl. Das Meer war hier, inmitten des Waldes, nur eine ferne Ahnung. Es war stickig und feucht, obwohl das Unterholz lichter war als um Grulorh, der Boden gesprenkelt von Sonnenflecken, in denen in dichten Wolken Insekten tanzten.
Sie lenkte sich ab, indem sie zu Kanouepe und ihrem Vater aufrückte, die sich angeregt unterhielten. Trotz der greifbaren Spannung zwischen ihm und ihrer Mutter, zeigte sich Kanouepe als freundlicher Mann, gesprächig, unterhaltsam, von zuvorkommender Höflichkeit. Ciycain war nicht entgangen, dass Nou den Namen ihrer Mutter vermieden hatte. Das wirkte schon in der Welt der anderen Völker seltsam, unter den Frâgg, die sich ihre Namen durch Taten oder Besonderheiten verdienten, stellte es beinahe eine Beleidigung dar. Verwirrend, dachte Ciycain, denn der sanfte Plauderton ihres Führers ließ auf einen gutherzigen Menschen schließen.
Gern hätte sie Gillok gefragt, doch einem Kind stand es nicht zu, sich in die Gespräche Erwachsener einzuschalten. Sie warf einen Blick zurück auf ihre Mutter, die ein ganzes Stück hinter ihnen lief.
Ihre Mutter fing den Blick auf, reagierte jedoch nicht. Augenscheinlich hing sie tief in ihren Gedanken. Unmöglich, ihr jetzt Fragen zu stellen. Sie würde sich gedulden müssen, bis sie Yanois erreichten. Weniger als ein halber Tagesmarsch, hatte Kanouepe versprochen. Sie war das Laufen leid.
„Hier beginnt das Waldland“, verkündete Nou nicht viel später.
„Wir sind doch seit Tagen im Wald“, entgegnete Ciycain.
„Es wird anders werden hier. Du wirst sehen.“
Nur wenige Schritte weiter erkannte sie, was er meinte. Fast schlagartig endeten die Sümpfe. Moos ging in Gras über, der Untergrund wurde fester. Die Wasserlöcher waren schon halb versiegt, würden den Berg hinan völlig verschwunden sein. Die Bäume wurden höher, wuchsen gerade in den Himmel, mit Blätterdächern so weit über der Erde, dass selbst die gewandten Frâgg Mühe hatten, sie zu erreichen. Die Luft verbesserte sich. Weniger stickig, weniger heiß. Noch immer surrten Stechmücken und handtellergroße Libellen um sie, doch erleichtert registrierte Ciycain, dass sie in dieser Gegend ohne den stinkenden Schlamm oder das juckende Kadosos auskommen würden. Sie atmete tief ein und seufzte wohlig.
Kanouepe lachte. „So geht es mir auch immer, wenn ich aus den Sümpfen zurückkehre. Man hat das Gefühl, freier atmen zu können.“
„Nur Meeresluft ist noch besser.“
Sein Gesicht hellte sich noch mehr auf. „Das Dorf liegt nicht weit entfernt vom Meer. Allerdings ist es anders als in der Heimat. Man kann den Rauch der Hütten bereits riechen.“
Er setzte den Weg fort, Ciycain nun als Begleiterin an seiner Seite, da sie quer über die Grashügel gehen konnten, ohne Gefahr, sich in Gestrüpp zu verfangen oder in Wasserlachen zu stolpern.
Gillok wartete am Dorfrand, bis Syra herangeschlendert kam, augenscheinlich wenig begierig auf das, was sie erwartete. Er lächelte schief. „Keine Sorge. So schlimm wird es nicht werden. Möglicherweise lebt dein Vater ja noch.“
Awa’i’toai. Ich hatte vergessen, dass sie in ihnen leben“, murmelte sie.
Ciycain lachte. „Daher also deine Vorliebe für Bäume. Womöglich wurdest du in einer dieser Baumhütten geboren.“
Syriakin lächelte nicht. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und musterte die schiefen Behausungen, die in den Wipfeln kaum auszumachen waren.
Der Großteil des Dorfes lag allerdings um eine kreisrunde Lichtung, die nach allen Seiten leicht abfiel, sodass die heftigen Regenfälle der Sommerzeit die Hütten nicht überfluteten. Das untere Yanois war nur wenig größer als Grulorh. Zählte man jedoch die Baumbehausungen dazu, mochte die Siedlung etwa doppelt so viele Bewohner haben, wie das Dorf am Meer gehabt hatte. Katen aus Gras, Schilf und Holz drängten sich um das Haus in der Dorfmitte; die Wohnstätten der Ältesten und ihrer Familien. Die jüngeren, unter ihnen Kanouepe, lebten in den Wipfeln.
„Wohntet ihr unten oder oben?“, erkundigte sich Ciycain bei ihrer Mutter, die ihr die Antwort schuldig blieb, weil sie sich langsam im Kreis drehte und den Anblick der krummen Hütten in sich aufnahm. Gillok legte ihr die Hand auf das Kreuz, brachte sie dazu, Ciycain anzusehen.
„Ich weiß es nicht mehr.“
„Sie war noch sehr klein, als sie von hier fortging“, erklärte Gillok seiner Tochter.
Unterdessen war Kanouepe in dem großen Haus in der Mitte der Lichtung verschwunden, um den Dorfältesten zu holen. Eine Formalität, denn die Späher hatten sie bereits an den Rändern der Sümpfe ausgemacht. Syriakin hatte ihre Fußspuren gesehen, die Zweige über sich knacken hören. Sie wurden längst erwartet.
Sie spürte die neugierigen Blicke versteckter Bewohner. Ihr Gehör hatte auf der Großen Reise Schaden genommen, doch es funktionierte gut genug, um das Wispern der Menschen hinter den Hüttenwänden aufzuschnappen. Ganz sicher vernahm es die spitzen Rufe der Empörung.
Sie wandte sich um.
Sie hatte richtig vermutet. Da kamen sie.
Zu fünft. Ein Kind, zwei Frauen, zwei Männer. Sie kannte sie alle. Und während Gilloks und Ciycains Augen aufleuchteten, schlossen sich ihre. Sie konzentrierte sich auf ihre Hände, zwang sie ruhig an ihre Seiten, wappnete sich.
Es hörte nie auf.


Die Alten stürzten hinter Kanouepe aus der Hütte, sobald das Raunen sich zum Tumult steigerte. Verständnislos sahen sie auf die drei Fremden und die Flüchtlinge, die sie seit Grulorhs Untergang beherbergten. Die Vertriebenen schienen außer sich vor Zorn. Die Frauen schrien und spuckten, die Männer fuchtelten drohend mit den Armen. Besonders die Älteste unter ihnen tobte schier vor Wut.
Schnell begriffen die Alten, dass die Verwünschungen der Frau unter den Neuankömmlingen galten. Der Dorfälteste wandte sich an Kanouepe.
Innuq“, sagte dieser und schirmte die Augen mit beiden Händen ab.
Die Flüchtlinge schrien und trampelten. Dorfbewohner kamen aus den Bäumen geklettert und aus den Hütten gelaufen, umringten die Fremden. Die Frau mit der vernarbten Gesichtshälfte hielt sich sehr aufrecht. Dann und wann zuckte ihr Wangenmuskel. Das hochgewachsene Mädchen verbarg sich halb hinter ihr. Der Mann hatte sich schützend vor sie geschoben und die Arme beruhigend gegen die Tobenden gestreckt. Er sprach zu ihnen, doch die Worte gingen unter in Flüchen und lauter werdendem Raunen.
Schließlich hob der Dorfälteste die Hand. „Genug.“
Das Dorf gehorchte sofort. Nur die Rufe der Flüchtlinge verebbten langsam.
„Ich bin Falokk“, stellte der Älteste, ein gebeugter Mann mit verrunzeltem Gesicht und grauen Haaren, sich vor.
„Gillok. Aus dem Dorfe Grulorh.“
Gilo Lokua, übersetzte Falokk im Stillen. Gut sprechen. Das passte. Der Mann sprach mit der Selbstverständlichkeit des geübten Redners. Er wies auf die Flüchtlinge. „Ihr seid Verwandte?“
„Kanouepes Vater war mein Vetter. Die Menschen dort drüben sind Teil meiner Sippe. Es freut mich, zu sehen, dass sie das Unglück überlebt haben. Dank der Hilfe Eures Dorfes.“
Falokk senkte bescheiden die Augen. „Wer sind Eure Begleiterinnen?“
Gillok schob das Mädchen vor. „Meine Tochter Ciycain.“
Sofort erhob sich erneutes Gemurmel unter den Flüchtlingen, zu denen Kanouepe langsam getreten war. Verwunderte Blicke hagelten auf das Kind.
„Meine Gefährtin Syriakin“, sagte Gillok dann, den Kopf herausfordernd gegen die Verwandten gehoben.
Diesmal war Falokk vorbereitet auf den Sturm der Entrüstung, nicht jedoch auf die alte Frau, die auf Innuq zustürzte und ihr einen heftigen Schlag auf die vernarbte Wange versetzte.
Der Dorfälteste fauchte missbilligend. Seine Krieger ergriffen die Alte, zogen sie von Innuq fort, die auf den Angriff kaum reagiert hatte und die helfenden Arme Ciycains und Gilloks abwehrte. Falokk beobachtete sie genau. Ihre Gelassenheit war beunruhigend, sie selbst wie ein Sumpfloch. Trügerisch ruhig an der Oberfläche, tödlich in der Tiefe.
Diesmal dauerte es länger, bis es wieder leise wurde. Falokk musste mehrfach die Hand erheben, unterstützt von Nou, der versuchte, seine Sippe unter Kontrolle zu bringen.
„Ihr verletzt die Gesetze unseres Stammes“, sprach Falokk anschließend zu den sechs Vertriebenen.
„Aber nicht die des Volkes“, widersprach Kanouepe laut. „Sie ist Innuq.“
Diesmal hielten alle den Atem an.
„Spricht er die Wahrheit?“, fragte Falokk.
„Ja“, antwortete Syriakin, ohne eine Miene zu verziehen.
Ciycain warf verwirrte Blicke nach allen Seiten, ergriff Gilloks Hand, klammerte sich an Syriakins Arm. Mit grenzenlosem Entsetzen musste sie ansehen, wie sämtliche Dorfbewohner, einer nach dem anderen, sich von ihrer Mutter abwandten, ihr den Rücken zukehrten, sie ausschlossen.
„Sie ist verderbtes Blut. Eine Ausgestoßene“, erklärte Nou ihr mit traurigen Augen.
„Aber … warum? Die anderen Frâgg haben sie nicht…“
„Die Kunde ist noch nicht zu allen Stämmen gelangt“, sagte Syriakin mit ihrer dunklen Stimme. „Der Krieg kam dazwischen. Die Überlebenden Grulorhs flüchteten ausgerechnet hierher. Wenn das nicht Ironie des Schicksals ist.“
„Das konnte ich nicht ahnen“, flüsterte Gillok.
Sie lächelte verzerrt. „Niemand konnte das. Ich werde am Wasser lagern.“
„Gehst du weg?“, fragte Ciycain bang. „Ich komme mit.“
„Du bleibst. Es gibt Kinder hier.“
„Die sind mir egal. Sie mögen dich nicht.“
„Sie befolgen nur die Worte des Ältesten. Das alles hat nichts mit dir zu tun. Ruht euch aus. Pou‘i.“
Ihre Mutter bat selten um etwas, so selten, dass Ciycain zurückschreckte und ihr Tränen in die Augen stiegen. „Du lässt uns hier?“
„Im Augenblick wärst du einsamer mit mir als ohne mich“, antwortete Syriakin leise. „Ich gehe nicht weg, Am’are, ich darf nicht hierbleiben. Das ist nicht dasselbe. Wir sehen uns wieder. Sehr bald. Ich verspreche es. Ich brauche nur ein wenig Zeit.“
„Musst du nachdenken?“
„Über vieles.“ Sie richtete sich auf, straffte ihre Gestalt und sah Gillok an. „Pass auf sie auf.“
„Ich werde Falokk alles erklären.“
„Es wird nichts ändern.“
„Das werden wir sehen.“
Sie nickte zum Abschied und betrachtete das Dorf. Eine schweigende Mauer aus Rücken. Außer Gillok und Ciycain wagten es nur drei Menschen, ihr ins Gesicht zu sehen. Falokk musterte sie nachdenklich. Sie forschte in den verrunzelten Zügen nach etwas Bekanntem. Kanouepe blinzelte mehr, als dass er schaute, aber er hatte die Arme von den Augen weggezogen, wirkte betreten. Sie waren keine Freunde gewesen, sie und er, doch zu ihren Feinden hatte er nicht gezählt. Sie hatte ihn nicht gesehen im Langhaus, zumindest nicht in der Nähe seines Vaters, der das Urteil über sie gesprochen hatte.
Die alte Frau starrte sie unverhohlen hasserfüllt an. Ihr bulliges Gesicht verzog sich, als Syriakin zu ihr trat und sich zu ihrem Ohr beugte. „Dein Mann war ein Schwächling, Herad, ein Feigling und ein Schwein. Ich habe ihm so oft den Tod gewünscht; es ist beinahe eine Erfüllung. Wenn du mich noch einmal berührst oder meine Tochter, stirbst du.“
Sie wandte sich ab, ignorierte das zornige Gemurmel der Umstehenden.

„Beide Brüder vereint in Julas armseliger Jurte. Wer hätte das gedacht?“, brummte Jonoy und legte die Hände auf den fassartigen Bauch, ein Rülpsen unterdrückend. Jula war dürr wie Akims Speer, aber er verstand es, ein schmackhaftes Mahl zuzubereiten, wenngleich er selbst kaum davon gegessen hatte, sich lieber an seine Datteln hielt.
„Welcher Wind hat Euch nun hierher geweht?“, entgegnete Akim und beobachtete Kian, der Kissen an sie verteilte, sodass sie sich auf dem Boden ausstrecken konnten.
Jonoy zuckte mit den Achseln. „Auch in Staleph lässt der Sommer sich in diesem Jahr lange nieder. Es ist zu heiß zum Schmieden. Die Felder verdorren. Alle legen sich deshalb möglichst viele Vorräte an. Nicht die richtige Arbeit für einen Nichtsnutz wie mich.“
„Sagt so etwas nicht“, bat Akim.
„Es stimmt doch. Ich kann schwerlich im Wald herumkriechen um Kräuter, Nüsse und Pilze zu suchen. Geschweige denn, einen Grabstichel oder Fischspeer benutzen. Oder jagen. Ich bin froh, es hierher geschafft zu haben.“
„Wie lange weilt Ihr schon hier?“
„Zwei Tage. Ich sah die Karawane ankommen, doch ich dachte, ich gebe dir erst Gelegenheit, deinen Bruder zu begrüßen.“
„Er ist gegen meinen Willen hier“, betonte Akim. „Hat Jula um den kleinen Finger gewickelt.“
Jonoy lachte dröhnend. „Das dachte ich mir. Am ersten Tag nach meiner Ankunft versuchte ich beständig, ihn zu schelten und eines Besseren zu belehren.“
„Gelang es Euch?“
„Was glaubst du denn?“
„Dass er Euch herumführte, Geschichten und Witze erzählte, Dienste abnahm und derart Euer Herz zum Schmelzen brachte.“
„Offenbar ist Kian nicht der einzige Hellsichtige hier im Raum.“
„Ich bin nicht hellsichtig“, meldete sich Kian zu Wort.
„Darüber sind wir uns noch nicht einig“, grummelte Jonoy und streckte sich mit einem wohligen Stöhnen auf der Seite aus.
„Wie geht es Euch?“, fragte Akim.
„Ich fühle mich alt. Als hätte ich bereits Sand in der Tasche.“
„In der Wüste hat jeder Sand in den Taschen.“
„Das ist eine Art Sprichwort bei uns. Es bedeutet…“
„Wir haben schon verstanden. Ihr wirkt allerdings immer noch rüstig.“
„Einiges an Kraft ist zurückgekehrt. Aber das Humpeln wird bleiben, fürchte ich.“
„Ich hätte Euch daran erkennen müssen. Meine Sinne sind wohl eingestaubt.“
Neugierig beugte der Alte sich vor. „Hat es eingesetzt?“
„Dass ich sie verschließe? Ja, ich ertappe mich immer häufiger dabei.“
„Du bist erwachsen.“
„Er hört wie eine Fledermaus“, warf Kian ein. „Sieht wie ein Adler. Macht Euch keine Sorgen. Ich wusste ja, dass Ihr im Dorf wart. Ich war im Vorteil.“ Er lächelte Akim an. Unbewusst lächelten Jula und Jonoy zurück.
Kians Zauber, dachte Akim und seufzte innerlich. Wie machtlos sie alle dagegen sind. Das sollte so nicht sein.
Als spürte er die Verstimmung des älteren Bruders, stand Kian auf und packte das Geschirr in einen Weidenkorb.
„Säubere es morgen“, schlug Jula vor. „Es ist dunkel.“
„Das macht mir nichts aus.“
„Es macht mir aber etwas aus, dich allein draußen zu wissen.“
„Mir wird nichts passieren“, versicherte der Neunjährige. „Hier gibt es nicht einmal wilde Tiere. Außerdem war ich schon nach Einbruch der Dunkelheit draußen.“
„An den Lagerfeuern, ja. Doch die Feuer sind längst gelöscht. Das Dorf schläft. Das solltest du auch.“
„Ich bin nicht müde.“
„Tu, was er sagt. Na los!“ Akim rutschte die Aufforderung frostiger heraus, als er beabsichtigt hatte, aber zu seiner Überraschung gehorchte Kian, die Unterlippe zwischen die Zähne gequetscht. Stumm bereitete er sich in der hinteren Ecke ein Lager aus Decken, murmelte allen eine gute Nacht zu und drehte sich zur Wand.
„Ich werde das Geschirr säubern“, erbot sich Akim nach einem Blick auf den widerspenstigen Bruder. „Ich wollte mir sowieso die Beine vertreten.“
Jonoy kam schwerfällig hoch. „Ich begleite dich. Die Natur ruft. Wartet nicht auf uns, Jula. Ihr wisst ja, wie das ist, wenn man sich nach langer Zeit wiedersieht. Man hat sich einiges zu erzählen.“
„Dann lege ich mich ebenfalls zur Ruhe“, sagte Jula. „Seid vorsichtig.“
„Immer“, entgegneten Akim und Jonoy wie aus einem Mund.


Die Nacht war stockfinster. Zwar strahlten die Sterne über ihnen, doch ihr Licht drang nur schwach bis zur Erde hinunter, sodass Jonoy sich nahe bei Akim hielt, dessen schärferen Sinnen vertrauend.
„Kian würde den Weg zum See so sicher gehen wie bei Tage“, sagte der Fährtenleser, behutsam einen Fuß vor den anderen setzend, Teetassen und Schüsseln in einem Korb balancierend.
„Er sieht tatsächlich noch besser als du?“
„Wie eine Katze. Ich habe ihn einmal gefragt und er meinte, nachts wäre alles grau und schemenhaft, aber durchaus zu erkennen. Aber es ist komplizierter. Er sieht nicht nur, er riecht und hört gleichermaßen. Schmeckt die Umgebung. Er geht mit allen Sinnen durch die Welt, kann sie gar nicht voneinander trennen.“
„Das machst du doch auch.“
„Nicht so. Offen gestanden habe ich nur eine sehr vage Vorstellung von der Art, wie er wahrnimmt. Ich weiß nicht, ob ich begeistert sein soll oder verängstigt.“
„In jedem Fall ist es beeindruckend“, brummte Jonoy nach kurzer Pause. „Auch wenn man es weiß und schon gesehen hat. Ich bin jedes Mal aufs Neue fasziniert. Hört er uns jetzt?“
„Wenn er wollte. Ich habe gelernt, meine Ohren zu verschließen, wenn ich schlafen will. Oder wenn ich das Gefühl habe, jemand möchte allein sein. Es scheint mir ungehörig, zum Lauscher zu werden. Selbst, wenn es unfreiwillig ist.“
„Das muss anstrengend sein. Da lobe ich mir fast mein schlechtes Gehör.“
„Ja, manchmal wünschte ich, ich könnte tauschen. Aber es gelingt mir recht gut, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Man lernt, damit umzugehen. Und Kian ist hoffentlich höflich genug, private Gespräche zu respektieren.“ Den letzten Satz sprach er lauter, den Kopf zurück zu Julas Hütte gewandt.
„Erinnerst du dich, als du zum ersten Mal hier gestanden hast?“, fragte Jonoy, als sie den See erreicht hatten, der schwarz und unberührt vor ihnen lag.
„Jedes Mal, wenn ich hier bin. Niemals zuvor hat mir Wasser so gut geschmeckt und niemals danach.“ Akim ging in die Hocke, schöpfte Wasser in die Tassen und Schüsseln und spülte sie sorgfältig aus. Das Schmutzwasser füllte er in eine Kalebasse um, um sich am nächsten Morgen damit zu waschen. Wüstensöhne verschenkten Flüssigkeit nicht leichtsinnig.
„Du bist mächtig gewachsen seit damals.“
„Das hört sich so an, als wären Jahre ins Land gegangen. Es waren noch nicht einmal drei.“
„Dennoch. Sieh dich an. Du bist nicht mehr das Zweiglein von einst.“
„Ich bin nicht so viel größer geworden. Ihr schrumpft.“ Akim richtete sich aus der Hocke auf. Seine Zähne blitzten im Dunkeln.
„Ah, na ja, vielleicht lässt mich die verbogene Hüfte krummer gehen“, grummelte Jonoy. „Doch du siehst gut aus. Gesund. Stark. Selbstbewusst. Das Leben bekommt dir.“
„Ja. Es geht mir gut an den meisten Tagen. Die schlimmen sind weit weniger geworden.“
Ein Fisch, der aus dem Wasser nach einer Insektenlarve sprang, ließ ihn herumfahren und nach dem Dolch fassen.
Jonoy beobachtete, wie er die Klinge zwei Herzschläge später in den Ärmel zurückschob, seinen Atem unter Kontrolle brachte. „Deine Reflexe sind immer noch so gut wie vor zweieinhalb Jahren.“
„Macht der Gewohnheit.“
„Ein kleiner Preis.“
„In der Tat. Es könnte mir weitaus schlechter gehen. Was ist mit Euch?“
„Miesepetrig die meiste Zeit. Aber alles in allem waren die vergangenen Monate gut zu mir.“
„Warum seid Ihr wirklich hier?“ Akims Augen waren nicht zu erkennen, doch der Schmied wusste, dass sie auf ihn gerichtet waren, forschend und besorgt.
Ächzend stützte er sich auf den Stab. „Du bist deinem Bruder ähnlicher, als du glaubst, mein junger Freund. Auch deine Ahnungen sind unheimlich.“
„Was ist es?“
Zu Akims Erstaunen öffnete Jonoy sein Gewand und wartete schweigend. Zögernd trat Akim einen Schritt näher und fuhr erschrocken zurück, sobald die kaum vernarbte Brust im Sternenlicht sichtbar wurde. „Baroosaalem! Was ist geschehen?“
„Wir wurden überfallen“, sagte Jonoy, sich jedes Wort abringend. „Vier Männer und eine Frau kamen über uns wie ein Unwetter aus heiterem Himmel. Schlugen uns nieder, zerstörten die Schmiede.“
Jonoy hörte, wie Akim erschrocken nach Luft schnappte, spürte, wie er den Arm ausstreckte. Er tätschelte die Hand des Fährtenlesers. „Es geht mir gut, wirklich. Das Ganze ist zwei Wochen her. Die Wunden heilen. Wir sind auf vielerlei Umwegen hierher gelangt.“
„Wir?“
„Meine Gesellen und ich. Grüne Jungs, aber anständige Kerle, die darauf bestanden, mich zu begleiten. Ein bisschen älter als du, doch ohne Erfahrung im Kampf und in der Wildnis. Ich hielt es für besser, sie in der Nähe der Furt zurückzulassen.“
„Traut Ihr ihnen?“
Jonoy zerrte sein Gewand wieder um sich. „Schon, aber ich hielt Vorsicht für angeraten, stahl mich nachts davon, hinterließ Wasser und Nahrung und eine Nachricht, sie sollten auf mich warten.“
„Was hatte es mit dem Überfall auf sich? War es ein Raubzug?“
Jonoy schüttelte den Kopf. „Sie haben uns nicht getötet. Es wäre ein Leichtes für sie gewesen. Das waren keine Räuber, die auf Beute aus waren. Dass sie das Werkzeug mitgenommen und die Schmiede zerstört haben, ist nur Täuschung. Sie kamen zielgerichtet, schlugen die Gesellen nieder und brannten mir einen Buchstaben in die Brust.“
Wieder schnappte Akim nach Luft.
„Es ist ein R. Mittlerweile glaube ich, dass er nicht für einen Namen steht.“
„Sondern?“
„Für Rache. R für Rache.“
„Ihr habt einen Verdacht.“
„Ich denke an unseren alten Freund Vei. Wer sonst sollte sich an mir rächen wollen? Auf diese Art?“
„Dann ist Vei frei?“
„Davon habe ich nichts gehört. Vei war nicht dabei, da bin ich sicher. Ihn hätte ich erkannt.“
„Er hätte Euch auch getötet.“
„Und zuvor meinen Schmerz ausgekostet.“
Beide schwiegen, starrten auf den See, hingen Gedanken nach, kämpften mit Erinnerungen.
„Haben sie Euch verfolgt?“
„Nach dem Überfall verschwanden sie spurlos. Wir sind im Geheimen aufgebrochen, Umwege gegangen, aber uns aufzustöbern ist keine Herausforderung für Kämpfer wie sie.“
„Kämpfer? Keine Soldaten?“
„Sie waren schnell, schlank und biegsam. Trugen Lederkluft und Nahkampfwaffen. Dolche, Messer, Faustringe. Nein, keine Soldaten.“
„Oder verkleidete.“
„Soldaten schwingen Schwerter, bewegen sich nach den Regeln ihrer Ausbildung. Diese waren besser. Sie kämpften, wie Syriakin und Gillok kämpfen würden. Leise, gewandt und sehr tödlich.“
Syriakin, dachte Akim. Sein Magen zog sich zusammen. „Habt Ihr von den anderen gehört?“, fragte er mit trockenem Mund.
„Vom Prinzen das ein oder andere. Doch seit Sila nicht mehr am Hof lebt, werden die Nachrichten spärlicher. Du bestimmt von Adiv?“
„Vor vielen Monaten zuletzt. Da ging es ihr und Arlen gut. Nur der alte Baraten hegt unversöhnlichen Hass gegen die Eindringlinge, wie er sie nennt. Aber sie hat ihre Arbeit als Heilerin. Das lenke sie ab, sagte sie.“
„Nichts aus Kânegg?“
Betrübt schüttelte Akim den Kopf.
„Sie wandern herum, sind schwer aufzuspüren. Wir wussten das.“
„Sie sagte, sie behalte Adiv im Blick. Vei. Fedaj.“
„Man hört generell wenig aus den Sümpfen. Die Frâgg seien vernichtet, heißt es. Hoffen wir, dass es nicht so ist.“
Der Schmerz in Akims Magengrube verstärkte sich. „Sind die Soldaten noch dort?“
„Einige Stützpunkte wurden aufgegeben. Die Kaiserin hat sich öffentlich beim Alten Volk entschuldigt, aber sie wird das Militär nicht von der Insel abziehen. Kânegg ist zu wertvoll, Fedaj eine bedeutende Stadt, Tor zum neu entdeckten Norden. Viele Einwanderer leben seit Generationen dort. Sie werden nicht in ihre Heimat zurückkehren. Sollte es noch Frâgg geben, bleiben sie verborgen. Syra und ihre Familie sind bestimmt bei ihnen.“
„Ich hoffe, es geht ihnen gut.“
„Sie sind stark. Alle drei. Sie sind zusammen.“ Jonoys Pranke knetete tröstend Akims Schulter.
„Ich hatte trotzdem gehofft, sie wiederzusehen.“
„Sei froh, dass die Kinder an sicheren Orten sind. Getrennt voneinander. Wir wissen nicht, was sonst passiert.“
„Das waren andere Umstände, ein besonderer Ort.“
„Von denen es noch mehr gibt, wenn wir die Karten richtig gelesen haben. Und die Kinder sind heute älter als damals. Vielleicht ist ihre Macht gewachsen.“
„Glaubt Ihr das? Ich sehe meinen kleinen Bruder. Wie Mutter ihm Geschichten erzählt. Bada, die so unschuldig schaute…“
„Sie haben die Priesterinnen mit einem Feuersturm niedergemäht, den Blaukopf von den Füßen gerissen.“
„Adiv hat ihn umgebracht.“
„Und Syra. Und du. Aber die Kinder haben das Eis geschmolzen.“
„Jonoy…“
„Sieh dir Kian an. Er ist nicht mehr klein.“
„Das ist Euch aufgefallen?“, murmelte Akim und spürte, wie ein Kribbeln in den Unterarmen einsetzte.
„Ich bin alt und schwerhörig, nicht blind. In wenigen Monaten überragt er uns beide. Bei allen Schmiedefeuern, ich glaube fast, er wird der größte Madif, den die Welt je gesehen hat. Er sieht jünger aus als du, aber nicht annähernd wie ein Knabe seines Alters. Flaum sprießt auf seinen Wangen. Nicht mehr lange und die Leute werden ihn für den älteren Bruder halten.“
„Sein Gebiss ist vollständig“, flüsterte Akim. „Makellos. Alle Milchzähne sind verschwunden. Aber das könnte ein Zufall sein, eine Laune der Natur. Es muss nichts mit den Kindern zu tun haben.“
„Rede dir nichts ein!“, rief der Alte plötzlich aus. „Sieh den Tatsachen ins Auge! Sie altern schneller, wachsen rasant, vielleicht, weil die Natur es so vorsah, vielleicht, weil ein Fluch gewirkt wurde, vielleicht weil das Zaubern etwas in Gang gesetzt oder beschleunigt hat.“
„Habt Ihr wieder Träume?“, fragte Akim erschrocken.
„Meine Tage als Seher sind vorbei. Chadas Vermächtnis erstreckte sich auf den Blaukopf. Meine Aufgabe ist erfüllt.“
„Möglicherweise nicht.“
„Was meinst du?“
Akim gab sich einen Ruck. „Das wisst Ihr doch. Deswegen seid Ihr hier. Wir müssen gehen. Eure Gesellen suchen, erstens. Die anderen warnen, zweitens. Vei unschädlich machen oder was auch immer sich da zusammenbraut, drittens.“
„Die Kinder finden, viertens“, ergänzte der Schmied, nachdem Akim abrupt verstummt war.
„Richtig. Ich muss sie sehen. Ich muss wissen, ob Kian der Einzige ist. Ich muss wissen, was mit ihnen geschieht.“
„Und dann? Was tun wir, wenn unsere Befürchtungen sich bewahrheiten? Wenn ihre Macht wächst, wie ihre Körper wachsen?“
„Dann müssen wir es aufhalten.“
„Wie denn?“
„Uns fällt etwas ein. Uns ist immer etwas eingefallen.“
„Ich bin nicht mehr, wer ich auf der Reise war.“
„Ihr seid Ihr“, sagte Akim, plötzlich wild entschlossen, obwohl die Furcht in ihm loderte. „Wir sind schon einmal zu zweit aufgebrochen. Lasst uns die anderen suchen, sie warnen. Die Kinder sind bei ihnen. Uns wird etwas einfallen. Uns gemeinsam.“
Jonoy hatte schweigend zugehört. Er ließ das Haupt kreisen, dachte nach. Registrierte, dass seine Entscheidung bereits gefallen war, als er beschlossen hatte, die Schmiede hinter sich zu lassen. „Mannero und Mehlau zuerst. Ich hoffe, sie sind wohlauf. Und dann?“
„Eine Karawane bricht in zwei Tagen zu den Schwesterinseln auf. Wir sehen nach Adiv und Arlen und Ylaiy. Ylaiy wird über Yvain Näheres wissen, uns vielleicht begleiten. Sind wir erst auf Kânegg, finden wir Syra, Gillok und Ciycain.“
„Du findest keine Sumpfleute, wenn sie nicht gefunden werden wollen.“
„Du vergisst, dass ich ihre Spuren lesen kann.“
„Seit wann planst du das Ganze bereits?“
„Seit meine Arme angefangen haben zu kribbeln.“
„Muss ich das verstehen?“
„Ihr müsst mich nur begleiten.“
„Was ist mit Kian?“
„Er bleibt bis zum Ende des Jahres hier. Jula wird für ihn sorgen. Er lebt hier unter falschem Namen. Niemand sollte ihn erkennen.“
„Mir ist nicht wohl dabei.“
„Mir auch nicht. Aber ich muss es tun.“
„Karawane, Boot, Proviant, wärmere Kleidung“, zählte Jonoy auf. „Bist du über Nacht zu Reichtum gekommen?“
„Eher über vier unbezahlte Karawanen“, entgegnete Akim und bückte sich nach dem Geschirr. „Lasst uns zurückkehren.“


Kian erwartete sie vor dem Eingang, verschmolzen mit der Dunkelheit. Jonoy sah ihn erst, als er auf sie zutrat. Akims Hand lag bereits am Gürtel, die Augen schossen umher wie die Grashüpfer in Jonoys Heimat.
„Keine Sorge. In Puard ist niemand“, flüsterte Kian. „Wir sind nicht in Gefahr. Noch nicht.“
„Du hast herumgeschnüffelt?“, fuhr Akim ihn an.
„Jonoy wirkte nicht wie sonst. Unter seiner Haut kribbelte es, das konnte man spüren.“
„Du vielleicht.“
Kian hob Nase und Mund zum Himmel. „Wir sollten aufbrechen, bevor etwas geschieht. Unheil liegt in der Luft. Der Sand flüstert von kommendem Übel.“
„Wie ich sehe, bist du bereits bestens gerüstet“, sagte Akim. Er betrachtete den Lederbeutel, den Kian sich über die Schulter geworfen hatte, die beiden Kalebassen, die an dem Hanfseil um seine Hüften baumelten. „Sogar an meinen Speer hast du gedacht. Vorausschauend. Dennoch solltest du lernen, deine Ohren zu verschließen.“
Kian reichte den Speer ohne Erwiderung an den Bruder und nahm dafür das Geschirr entgegen, das er in die Jurte trug. Als er zurückkehrte, war Jula bei ihm.
„Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einige Dinge habe, die ich auf Yruish verkaufen wollte“, sagte der Einäugige. „Es ist nicht viel und den Erlös brauche ich nicht dringend. Vier Kamele sollten reichen.“
„Besser fünf, alter Freund“, korrigierte Jonoy. „Wir lesen unterwegs noch zwei Bekannte von mir auf.“
Kian musterte den Nachthimmel. „Die Dämmerung setzt erst in sechs Stunden ein. Sind die Kamele schon wach?“
Jula kratzte sich am Hinterkopf. „Das wird kein Problem sein, aber die Tiere werden Krach machen. Auch das Beladen dürfte Lärm verursachen. Die Leute werden sich fragen, warum mitten in der Nacht eine Karawane aufbricht.“
„Viel zu beladen gibt es ja nicht“, entgegnete Akim. „Einige Säcke Salz und getrocknete Datteln. Wasserschläuche. Decken. Ein paar von Euren anderen Handelswaren. Beschränkt Euch auf Dinge, die nicht klimpern oder klirren. Um weiteren Proviant und Feuerholz kümmern wir uns morgen Abend, wenn wir die Furt überquert haben. Jonoy und ich werden packen. Kian begleitet Euch zu den Kamelen.“
„Mhm“, grummelte Jula. „Reichlich eilig habt ihr es.“
„Wir sind möglicherweise in Gefahr, wir alle. Jonoy hat die Bedrohung am eigenen Leib erfahren, Kian spürt sie. Seht ihn an! Er saugt sie geradewegs aus dem Sand.“
Jula warf einen Blick auf den jüngeren Bruder, der das Gesicht wieder gen Himmel gedreht hatte. Sternenlicht hüllte ihn ein, Sandkörner schienen um ihn zu tanzen. Er wirkte ruhig und der Erde entrückt. Als er den Blick des Kamelführers spürte, senkte er die Augen auf diesen und nickte. Wie unter Zwang nickte Jula zurück und wandte sich zum Gehen. Kian folgte ihm wie ein Schatten.
„Packen wir“, schlug Akim vor, nachdem die beiden gegangen waren. „Salz und Datteln lagert Jula in einem Zwinger neben den Pferchen. Er lässt Kamele und Waren von Männern bewachen, die seit Langem treu in seinen Diensten stehen. Er bezahlt ihnen ein fürstliches Gehalt. Sie werden den Mund halten und helfen.“
„Was ist mit den Tieren? Kamelen? Wachhunden?“
„Kian kann vielleicht keine Wale herbeirufen, nicht einmal eine mickrige Ziege, aber er kann sie beruhigen.“
„Wie das?“
„Ich habe keine Ahnung, doch ich habe gesehen, wie kläffende Köter verstummten und den Schwanz einzogen, wenn er die Hand ausstreckte. Wie die Ziegen beim Melken ruhig wurden, sobald er mit ihnen flüsterte. Er wird die Kamele einmal kurz streicheln, ihnen in die Nüstern pusten oder so etwas, und sie werden still hinter ihm her traben. Auf jetzt! Wir werden außerhalb Puards warten. Kian und Jula finden uns.“

Der Wagen verließ den Hof am frühen Nachmittag. Stundenlang waren die Gutsleute über das Gehöft gerannt, hatten die Pferde gefüttert und angeschirrt, die anderen Tiere versorgt, Ställe, Scheunen und Werkstätten verrammelt, Fenster und Türen verriegelt, Proviant nach draußen geschleppt. Ivson hatte den Wagen vor das Haus gewuchtet, die schiefen Räder begutachtet und repariert. Sila und Rana waren durch das Haus gehuscht, Talin abwechselnd auf dem Arm, hatten Wäsche in Sackleinen verschnürt, Geschirr in Truhen verpackt, persönliche Dinge in Kleidersäume genäht. Schließlich waren alle auf den Wagen geklettert. Evart und Ida nahmen auf dem Bock Platz, Rana und Sila kauerten sich mit Talin auf die mit Decken und Fellen gepolsterte Fläche zwischen Wasserfässchen und Hafersäcken, die Kleiderbündel unter dem Kopf. Ivson oblag die Aufgabe, den Pferden zu helfen, den Wagen aus dem Schlamm zu zerren, bis ihre Hufe Halt fanden. Erst als sie mit voller Kraft zogen, sprang er ebenfalls auf die Ladefläche.


Am Abend hielt der Nebel Einzug für die nächste Nacht. Ida döste auf dem Kutschbock, den Kopf an der Schulter ihres Mannes. Der Mond stand bereits am Himmel und Stille war eingekehrt auf dem Land. Längst hatten die Gutsleute die Grenzen ihres Besitzes hinter sich gelassen und die ihrer beiden Nachbarn. Feldwege waren zu breiten Wegen geworden, doch noch immer rüttelte der unebene Untergrund sie gehörig durch. Mitunter schaukelte der Bock so stark, dass Evart seinen Magen mit einer Portion Kautabak besänftigen musste.
Als Ida ein Schnarcher entfuhr, schaute Evart sich nach den Passagieren um, als hätte er Angst, das Geräusch würde sie wachrütteln. Aber auf der Wagenfläche blieb es ruhig.
Der Bauer wandte den Blick wieder nach vorn, schläfrig, doch zu aufgeregt, um sich zu entspannen, auch wenn ihre Flucht bislang ohne Hindernisse verlaufen war.
Im selben Augenblick stoben zwei Schatten auseinander. Im zunehmenden Nebel waren sie schwer auszumachen, aber Evart traute seinen Sinnen.
Er stieß Ida den Ellenbogen in die Hüfte. „Es geht los.“
Ida stöhnte, hielt die Augen jedoch weiterhin geschlossen. Evart bemerkte, wie ihre Hand unter ihr Brusttuch glitt und das Fleischmesser umklammerte, das sie normalerweise beim Entbeinen benutzte. Er ließ die Zügel in die rechte Hand rutschen und fasste mit der linken nach dem Beil zu seinen Füßen.
In diesem Moment scheuten die Pferde. Evart schaute nach unten und entdeckte eine riesige Giftborea mitten auf dem Weg. Die Schlange fand man häufig auf den Feldern, da sie weder Mäuse noch Kartoffelkäfer verschmähte, doch sie war extrem scheu und mied Menschen, weshalb es kaum zu Zwischenfällen kam. Brachte man sie jedoch in Bedrängnis, reagierte sie aggressiv und mit schmerzhaften Bissen, welche die Pferde soeben zu spüren bekamen. Es dauerte nur Sekunden, bis das erste durchging und das andere mit sich zog. Der Wagen machte einen Sprung. Evart ließ die Zügel fahren, klammerte sich an den Kutschbock, stemmte die Stiefel gegen die Fußablage.
„Halte dich fest, Alte“, konnte er seiner Frau noch zuraunen, bevor die rasenden Räder sich in dem Graben verkeilten, der quer über den Weg ausgehoben worden war.
Sie haben gewusst, dass der Weg uns hier entlang führt, dachte er. Haben den Tag ebenso gut genutzt wie wir.
„Kein Wunder, dass wir niemanden gesehen haben“, sagte Ida mit klappernden Zähnen, als hätte sie seine Gedanken erraten. Dreißig Jahre Zusammenleben machten so etwas aus zwei Menschen. Sie verschmolzen zu einem.
Die Räder knirschten und knackten, bevor sie brachen. Schlagartig verloren sie an Fahrt, verlangsamten so sehr, dass die aufgeschreckten Pferde aufgaben. Evart sah, wie ihr Schweiß als Wolke in die kühle Abendluft aufstieg. Sie zitterten vor Überanstrengung und Panik.
„Das mit der Schlange war schlau“, sagte Evart laut zu Ida und krümmte sich, als die Soldaten sich von beiden Seiten näherten, ihre Breitschwerter in den Händen.


Endlich war die Sonne untergegangen, versank das Land in einem Zwielicht, das Entfernungen verzerrte und Konturen fremdartig hervorhob.
Vorsichtig rutschten sie die Böschung hinunter in das Lager hinein, Rana und Ivson voran, damit sie Sila ihre Hände hinauf reichen konnten. Talin hing, warm eingepackt und fest verschnürt, wie ein Tornister auf ihrem Rücken. Rana hatte ihm einen Trunk aus Wacholbeeren und Binsenkraut eingeflößt, der ihn für Stunden schlafen ließ. Sila mochte es nicht, ihrem Sohn solch starke Medizin zu geben, war aber überzeugt worden, dass ein zur Unzeit schreiendes Kind eine Gefahr für alle darstellte.
„Denkt ihr, es hat geklappt?“, fragte Ivson mit unterdrückter Stimme.
„Ich hoffe es“, erwiderte Sila. „Für eine Umkehr ist es sowieso zu spät. Wenn sie uns jetzt noch finden, müssen wir kämpfen.“
Sie wunderte sich, warum sie viel entschlossener klang als in den Stunden zuvor. Als hätte die Geschäftigkeit, die mit Evarts Entscheidung eingesetzt hatte, alles Zaudern verbannt. Und mit ihm einen Großteil der Angst. Nur Vorsicht und eine verschärfte Wahrnehmung waren geblieben.
Sie atmete tief ein und aus, bevor sie das Lager in Augenschein nahm. Alles wirkte unverändert. Das Zwielicht blendete einen Teil der grausigen Einzelheiten aus, dafür schien der Ort geisterhafter als heute Morgen. Sie schluckte und starrte zu Ivson, der ihr einen verzagten Blick zuwarf.
„Der hier ist Kelraig.“ Sie blieb neben dem Soldaten stehen, dessen Gesicht eine Farbe angenommen hatte, wie nur der Tod sie hervorbrachte. Wächsern. Seelenlos. „Die anderen liegen drinnen.“
„Vergewissern wir uns“, sagte Rana. „Rasch.“
Jeder von ihnen stolperte zu einem Zelt und warf nervöse Blicke hinein.
„Alle da“, fasste Ivson Minuten später zusammen, sich die Handflächen reibend. „Unverändert. Bis auf die Bisse.“
„Die Natur verliert keine Zeit“, entgegnete Sila. „Morgen wird das Ungeziefer über sie herfallen.“
„Also. Alles wie besprochen“, kommandierte Rana. „Sila passt auf. Ivson fasst mit mir an. Wir beginnen mit Kelraig.“
„Ich kann das nicht“, murmelte Ivson.
„Du kannst“, erwiderte Rana scharf. „Na los.“
Der Bauersbursche schluckte, dann beugte er sich hinab, um nach Kelraigs Beinen zu greifen, zuckte zurück, als er den herausstehenden Schienbeinknochen berührte.
„Du kannst ihm nicht mehr wehtun“, sagte Rana, diesmal mit sanfterer Stimme. „Er spürt nichts mehr.“
„Was macht Euch da so sicher?“, raunte Ivson, packte jedoch beherzter zu. „Er ist leichter, als ich dachte.“
„Der Körper hat Flüssigkeit verloren und ist steif. Leicht ist er trotzdem nicht.“ Rana keuchte vor Anstrengung.
„Nehmt die Zeltbahnen zu Hilfe“, schlug Sila vor, nachdem Kelraig im Bach verschwunden war.
Nacheinander plumpsten die Toten ins Wasser. Die Strömung, so gering sie auch war, trug sie davon. Ihre Körper drehten sich gespenstisch, blieben an Steinen und Ästen hängen, gingen unter.
„In ein paar Tagen treiben die Gase sie wieder nach oben“, flüsterte Rana. „Dann schwimmen sie.“
„Hoffen wir, dass sie irgendwo angespült werden“, sagte Ivson mit aufeinandergebissenen Zähnen. Er wischte die Hände an den Hosenbeinen ab, ging zum Wasser, tauchte sie hinein und schrubbte sie ab. So einfach wurde man das Gefühl des Todes nicht los, dachte Sila.
„Es ist eine Absicherung. Eine kleine nur, aber immerhin“, antwortete Rana. „Hoffen wir, dass man sie findet und der Sache nachgeht. Wir machen uns jetzt besser auch auf den Weg. Ich will weit von hier weg sein, wenn die Sonne aufgeht.“
„Meint ihr, meinen Eltern geht es gut?“, fragte Ivson.
„Das wissen die Götter.“


Sie hatten die Uniformen unter dünnen Mänteln verborgen und die Helme abgesetzt. Dennoch wies sie jeder Zoll ihrer Körper als langgediente Soldaten aus. Evart vermutete, dass sie bereits als Kinder in den Militärdienst aufgenommen worden waren wie so viele Elboin. Beide gingen sehr aufrecht, mit sparsamen Bewegungen. Der Größere schritt steif herbei und beugte sich zu ihnen; der Kleinere hielt sich im Hintergrund. Evart verrenkte sich den Hals nach dem Dritten, sah jedoch niemanden sonst.
„Ich kenne euch“, begrüßte er die Soldaten. Er hoffte, alle Angst aus der Stimme heraushalten zu können.
„Und wir kennen Euch“, erwiderte der Größere freundlich. Er setzte ein Lächeln auf, während er Evart und Ida in Ruhe studierte. Sein Gesicht war auf eine herbe Weise attraktiv, obwohl das geschorene Haar, dessen Ansatz bereits nach hinten gewichen war, die Hagerkeit unterstrich.
„Ihr seid nicht gekommen, um Euren Schutz anzubieten“, riet Evart und musterte den korpulenteren Mann weiter hinten.
„Das wohl nicht“, seufzte der Hagere, ohne dass das Lächeln die Lippen verließ. Seine Augen leuchteten kalt.
„Soll ich nachsehen?“, fragte der Rundliche. Er schien nervöser als der Hagere mit den steifen Bewegungen.
Der lächelte und langte nach den Zügeln. „Wozu die Eile?“
„Lass uns die Sache hinter uns bringen“, drängte der andere.
Der Große fuhr herum. „Was glaubst du denn zu finden?“ Seine Stimme erhob sich so laut, dass Evart und Ida zusammenzuckten, die Pferde verschreckt wieherten.
Auch der rundliche Soldat erschrak. Seine Augen irrten zwischen dem Kameraden, dem Kutschbock und der verhüllten Ladefläche hin und her. „Du meinst…?“
„Nach all dem Auf und Ab sollte es ein wenig mehr Bewegung dort hinten geben, nicht wahr? Das Balg müsste schreien. Der Bauerntölpel hätte uns längst angegriffen.“
Augenblicklich hob der Rundliche die Waffe und musterte die schemenhafte Landschaft.
„Er ist nicht hier“, sagte der Große langsam. „Benutze endlich dein Hirn, geistloser Tropf! Sie fahren einen leeren Wagen spazieren. Seit der Schlange ahnte ich es. Seitdem die Pferde durchgegangen sind, weiß ich es.“
Der Angesprochene ging wortlos zum Ende des Wagens, hob das Schwert und stieß es in die Decken. Nichts rührte sich, kein Laut erklang.
„Hört auf damit, Garbse“, mischte sich Ida mit strenger Stimme ein. „Das ist unser Eigentum.“
„Eigentum“, wiederholte Garbse blöde.
„Ein Teil der Ernte. Wir sind auf dem Weg zu den Märkten im Osten und Süden. Es war ein gutes Kartoffeljahr. Wir haben Säcke voll wunderbar fester Kartoffeln, ganz ohne Fäule. Daneben mehrere Fässer mit Kartoffelschnaps, einer Delikatesse hier oben. Die hiesigen Leute trinken ihn lieber als den Wein…“
„Haltet den Mund!“, unterbrach Garbse die energische Frau, die ihn daraufhin anblinzelte. „Haltet mich nicht zum Narren!“ Er packte das Schwert fester und stiefelte um den Wagen herum.
Ida lehnte sich an ihren Mann, der seinen Daumen über ihre Hand rieb. Evart setzte zu einer Antwort an, doch das heisere Auflachen des Hageren unterbrach ihn.
„Deine Warnung kommt ein bisschen spät! Zum Narren gehalten haben sie dich längst. Uns beide, wie ich eingestehen muss. Wir sind einem alten Bauernpaar aufgesessen. Alle Achtung, der Prinz kann Menschen gut einschätzen.“
„Hör auf! Was sollen wir jetzt tun? Sie kennen meinen Namen! Sie wissen alles!“
„Tun sie das?“ Der Hagere fuhr herum. „Tut ihr das? Was wisst ihr?“ Seine Schwertspitze zielte auf Evarts Kehle, in der der Adamsapfel auf und ab hüpfte.
„Ihr solltet Euch schämen, ehrbaren Leuten Angst einzujagen, Tikotun“, rief Ida mit zitternder Stimme, die Hand ihres Mannes drückend.
Tikts Augen verengten sich, nahmen einen sonderbaren Ausdruck an. Sie strahlten Gefahr aus, während ein Kranz von Lachfältchen um sie erschien. „Meinen Namen kennt ihr auch. Meine Anerkennung. Scheint, als habe der gute Kelraig noch Zeit gehabt, alles auszuplaudern.“
„War das Eure Absicht?“, stieß Evart hervor. „Dass er lange genug überlebt?“
„Gewiss.“
„Ihr wolltet, dass wir fliehen.“
„Das war nicht wichtig.“
„Was wolltet ihr dann?“, fragte Evart verwirrt.
„Ein wenig spielen. Und natürlich das Mädchen und seine Mutter. Sowie den Knaben.“
„Weil sie halfen, Euren Vater ins Gefängnis zu bringen?“
„Weil sie halfen, ihn zu stürzen!“ Zorngetränkter Speichel sprühte Evart entgegen. „Weil sie seine Absichten ruinierten. Sie und die anderen Missgeburten. Und damit die Pläne von vielen.“
„Ihr wollt sie wirklich umbringen“, stellte Ida entsetzt fest. „Selbst ein unschuldiges Kind.“
„Vor allem das Kind“, zischte Tikt. Sein Kopf schoss vor wie der der Giftborea vorhin. Glühende Augen bohrten sich in die der alten Leute. Für einen Augenblick senkte sich Schweigen wie ein Leichentuch über sie.
„Ihr kommt zu spät“, sagte Evart dann. „Sie sind längst über alle Berge. Sie kennen Eure Namen. Garbse. Tikt. Kopret. Euer Verbrechen wird bekannt werden.“
„Wie denn?“, höhnte Tikt und richtete sich mit einer steifen Bewegung wieder auf. „Glaubt Ihr, wir lassen Euch am Leben?“
„Sie haben die Leichen in den Bach geworfen.“ Evarts Stimme holperte, setzte aus, doch er sprach unbeirrt weiter. „Fünf Soldaten treiben die Gewässer hinab. Irgendwer wird sie finden. Ermordete Soldaten, mitten auf Yruish. Der Prinz wird es erfahren, sich seinen Teil denken, handeln. Die Kinder und Rana sind längst auf und davon. Ihr könnt uns töten, aber nicht Euer Geheimnis. Urdat Vei wird in der Boragha verrotten. Und Ihr mit ihm!“
„Vei ist wie Stahl. Er rottet nicht. Er rostet nicht einmal“, zischte Tikt bösartig. „Er wird zurückkehren. Mit mehr Macht als zuvor. Denen, die sich ihm in den Weg stellen, ergeht es wie Euch!“
Er nickte Garbse zu. Ihre Schwerter zuckten gleichzeitig durch den nächtlichen Himmel. Evart und Ida starben schnell und nicht allein. Ihre Hände berührten sich noch, als sie vom Kutschbock sanken und in den Staub fielen.
Tikt und Garbse zogen sie wenige Meter weiter in eine verwilderte Wiese mit mannshohen Büschen. Die Pferde jagten sie in die Nacht. Sie würden zum Hof zurückfinden. Den zerbrochenen Wagen schoben sie in das Waldstück auf der anderen Seite des Weges. Bis zum Laubfall waren die Toten und ihr Wagen vor einer Entdeckung sicher. Mit ein bisschen Glück würde niemand je eine Spur der Vanstettens finden, hier oben in diesem entvölkerten Landstrich an der Grenze des Kernlandes.
„Suchen wir sie?“, fragte Garbse, sobald sie auf ihren eigenen Pferden saßen.
„Lass Kopret seinen Teil erledigen.“
„Und wenn er sie nicht findet?“
„Sie haben einen Säugling bei sich. Deshalb werden sie umsichtig sein. Sich verbergen, Umwege gehen, die Straßen meiden.“
„Schlecht für uns. Viel Arbeit.“
„Hm. Das Gute daran ist, dass sie lange zum Palast brauchen. Das gibt uns genug Zeit.“
„Was ist mit den Leichen?“
„Die dürfen wir nicht vergessen.“ Tikt rieb sich das glatte Kinn. „Wir behalten den Fluss im Auge. Los jetzt.“
„Himmel! Bin ich froh, wenn ich diesen närrischen Namen wieder ablegen kann“, stöhnte Garbse. „Du hättest deinen auch ändern sollen.“
„Ich bin, wer ich bin“, gab Tikt zur Antwort.

Paíre legte Ylaiy die Hand auf den Arm. „Ihr wirkt beunruhigt.“
Er schreckte aus seinen Gedanken. „Ist Euch kalt?“
Sie lachte auf. „Im Hochsommer? Nein. Frauenhände sind immer kalt, das wisst Ihr doch. Außerdem weiß ich, wann Ihr mich ablenken wollt. Also: Was beunruhigt Euch?“
„Nichts. War das Mittagsmahl bekömmlicher heute?“
„Hört Ihr endlich auf, Euch wie eine Glucke um mich zu sorgen? Es geht mir gut. Ich habe Euch und Eure Geschichten vermisst beim Mahl. Die Räte und Eure Mutter mögen charmant sein, aber besonders gesprächig sind sie nicht. Und wenn, dann dreht sich alles um die Regierungsgeschäfte.“
„Diese Dinge halten mich in Atem.“
„Habt Ihr deshalb auf das Essen verzichtet?“
„Ich habe eine Kleinigkeit in der Bibliothek zu mir genommen. Verratet es bloß nicht Bland! Er würde mir künftig den Zutritt verweigern.“
„Weitere Nachforschungen?“
„Register. Mehrere Soldaten sind verschwunden. Ich brauchte ihre Wohnorte, um die Angehörigen zu befragen.“
Paíre runzelte die Stirn. „Verschwunden? Einfach so?“
„Sie nahmen ihren Dienst nicht auf. Außerdem mache ich mir Sorgen um Sila.“
„Ach?“ Sie gab sich Mühe, unbeteiligt zu klingen, doch ihre Stimme piepte. „Was ist mit ihr? Gibt es schlechte Nachrichten?“
„Es gibt gar keine“, erwiderte er düster. „Seit Tagen nicht mehr.“
„So steht Ihr weiterhin in Kontakt mit ihr.“ Langsam nahm sie die Hand von seinem Arm.
„Ich stehe in Kontakt mit den Männern, die ich zu ihrem Schutz abstellen ließ. Sie übermitteln mir regelmäßig Botschaften zu ihrem Wohlergehen. Verzeiht, dass ich Euch angelogen habe. Ich wollte Euch nicht verletzen.“
„Gelogen habt Ihr im eigentlichen Sinne nicht, mir nur bestimmte Informationen vorenthalten.“ Sie lächelte ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte.
„Es war besser so. Bitte verzeiht.“
„Lasst Ihr Boten nach Vanstetten schicken?“
Er zuckte zurück. „Woher wisst Ihr von Vanstetten? Silas Aufenthaltsort ist geheim. Woher wisst Ihr von ihm?“
„Ich weiß nicht“, stotterte sie. „Ich muss es irgendwo aufgeschnappt haben. Ich weiß nicht mehr, von wem. Es könnte einer der Räte gewesen sein, Theou oder mein Vater, die Kaiserin. Ich weiß es wirklich nicht mehr. Ihr wollt mir doch nichts unterstellen? Nur weil Sila ... Ylaiy! Das kann nicht Euer Ernst sein!“ Der letzte Satz klang beinahe wie ein Aufschrei.
„Verzeiht“, stieß er aus.
Paíre tan Sayans Unterlippe zitterte. Sie rieb sich über die Arme, nickte schließlich.
Ylaiy ließ sich in einen Sessel fallen und fuhr sich durch sein frisch geschnittenes Haar. Zögernd trat seine Gemahlin neben ihn. „Bestimmt gibt es eine vernünftige Erklärung für das Ausbleiben der Boten. Ihr macht Euch zu viele Gedanken.“
Zerknittert sah Ylaiy zu ihr auf. „Auch Botschaften aus Fedaj bleiben aus. Aus Ardannas Haus ebenfalls. Dafür berichten Händler von einem Ausbruch der Fieberpocken auf Prant. Es gibt bereits hunderte Erkrankungen.“
„Nun, das erklärt zumindest das Ausbleiben von Nachrichten aus Perth“, schlussfolgerte Paíre nach einer Schrecksekunde. „Ardanna und Adiv werden alle Hände voll zu tun haben. Vielleicht solltet Ihr ihnen weitere Gehilfen schicken. Hier im Palast gibt es genug Heiler.“
„Das ist eine gute Überlegung.“ Ylaiys Gesicht hellte sich eine Spur auf. „Ich veranlasse das sofort. Entschuldigt Ihr mich?“
„Geht nur. Bland hat mich mit neuen Schriften versorgt. Mehr Lesestoff.“
„Doch nicht schon wieder unser Abenteuer im Norden?“
„Abhandlungen zu den alten Stämmen. Gleich treffe ich mich mit ihm und meinem Bruder zum Tee. Bland hat sich überreden lassen, uns einige Lektionen in Geschichte zu erteilen. Wir werden unsere Unterrichtsstunden auffrischen.“
„Theou hat dem zugestimmt?“
„Mein Vater und Ihr seid beschäftigt und ich kann mich schwerlich allein in der Gegenwart eines Mannes aufhalten. Das Geschwätz unter der Dienerschaft wäre unerträglich.“
Der Prinz lachte. „Bland und amouröse Abenteuer? Das werden wir nicht mehr erleben.“
„Ylaiy!“ Ihre Wangen flammten rosa auf.
Ylaiy schluckte sein Lachen hinunter. „Was habt Ihr Theou geboten, damit er sich mit Bland langweilt?“
„Ich habe ihn neulich in einer kompromittierenden Situation mit einer Palastdienerin erwischt.“
„Ihr habt ihn erpresst.“
„Nur erinnert, wie ungehalten Vater in solchen Belangen sein kann.“
„So sehr, dass er ihm das Taschengeld kürzte?“
Statt einer Antwort lächelte sie.
Amüsiert zog er die Augenbrauen hoch. „Ihr habt Euch wirklich in diese Angelegenheit verbissen. Vielleicht finde ich später die Zeit, zu euch zu stoßen.“
Er schüttelte ihr die Kissen auf, stellte Getränke und süßes Brot bereit. Paíre wehrte die übertriebene Fürsorge ab, doch als er gegangen war, lächelte sie.


„Wir Elboin glauben, das Reich gehöre uns. Halten Yruish für den Nabel der Welt, unsere Errungenschaften für Fortschritt.“
„Sind wir das nicht?“, fragte Theou, nachdem der Alte geendet hatte und die Decke anstarrte. „Fortschrittlich? Können wir nicht stolz auf die Verbesserungen sein, die wir erschaffen haben?“
„Nicht, wenn wir darüber die Ursprünge vergessen.“
Theou runzelte die Stirn.
„Vieles, was uns fortschrittlich erscheint“, erläuterte Ylaiy, „stellt für die Alten Völker eine Einengung ihrer Lebensweise dar. Eine Entfremdung zur Natur. Verschließbare Türen, Fenster aus Glas, Wasser aus Rohren in der Wand, Luftwirbler. Städte aus Stein.“
„Heißt das, Ihr zieht es vor, wieder im Freien zu nächtigen?“, stieß Theou belustigt hervor.
„Theou!“ Paíres Stimme zischte durch den Raum. Sie sah ihren Bruder tadelnd an.
„Es heißt, dass wir arrogant geworden sind. Dass wir unsere Lebensart über die der Madif, Frâgg oder Sta stellen.“
„Ach, kommt schon, Ylaiy. Ihr wollt mir doch nicht im Ernst erzählen, dass Ihr die Lebensweise irgendwelcher halb vergessenen Völker höher einschätzt als unsere? Schließlich seid Ihr es, dem eines Tages das alles hier gehört.“ Theou breitete die Arme aus und drehte sich in Viertelkreisen.
„Diese halb vergessenen Völker sind älter als die Elboin. Wir könnten viel von ihnen lernen.“
„Was denn? Wie man auf Bäume klettert?“ Theous Lächeln überspielte die Verachtung in seiner Stimme nur unzureichend.
„Theou!“ Die Zurechtweisung Paíres gewann an Schärfe.
„Warum nicht? In manchen Situationen kann das wichtig sein“, konterte der Prinz ruhig.
„Ihr veralbert mich.“
„Ganz und gar nicht.“ Ylaiy strich sich über die Stirn. Kopfschmerz kündigte sich an.
„Lasst uns nicht streiten“, lenkte Theou ein. „Ich gestehe ein, dünkelhaft zu sein. Ich bin kein Mann für die Wildnis, den Krieg, Abenteuer. Ich liebe Wohlbefinden, Müßiggang und Luxus. Oberflächlich? Bestimmt. Aber auch ehrlich, findet Ihr nicht?“ Er stieß Ylaiy mit dem Ellenbogen an. „Und während ich den Vormittag unter den sanft massierenden Händen einer scheuen Schönheit namens Elaida im Dampfbad verbrachte und danach ein exzellentes Mittagsmahl aus Wild zu mir nahm, wart Ihr in einer dieser öden Besprechungen, nicht wahr? Mein Vater hat mir bereits den Kopf zurechtgestutzt, weil ich sie vergessen hatte.“
„Eine Versammlung des Hohen Rates“, erwiderte Frier Bland an Ylaiys Stelle. „Eure Teilnahme war nicht zwingend erforderlich. Euer Vater maßregelte Euch zu Unrecht.“
Der Bibliothekar starrte den jungen Mann an, bis dieser lächelnd den Kopf senkte. „Ihr haltet mich für einen Tunichtgut.“
„Ich wollte lediglich anmerken, dass keine allgemeine Ratsversammlung stattfand.“
„Ging es um wichtige Themen oder obliegt das der Geheimhaltung?“
„Jedes Thema im Rat ist wichtig“, warf Paíre ein.
„Hör auf, mich zu belehren. Falls Frauen irgendwann etwas in der Politik zu sagen haben, bewirb dich.“
„Die Kaiserin ist eine Frau“, schnappte Paíre.
„Das zählt nicht. Sie wurde in ihr Amt geboren.“
„Zwei Botschafterinnen ebenfalls.“
„Repräsentantinnen, mehr nicht.“
„Es ging um die jüngsten Reformbeschlüsse betreffend der Boragha. Die Mitbestrafung von Familienangehörigen“, unterbrach Bland den Geschwisterstreit.
„Gibt es Ergebnisse?“
„Natürlich nicht“, seufzte Ylaiy. „Sie reden und reden. Reden ist ihre Stärke. Beschließen nicht.“
„Solche Dinge brauchen Zeit“, gab Paíre zu bedenken.
„Es gilt, jahrhundertealtes Recht außer Kraft zu setzen“, fügte Bland hinzu.
„Noch immer sind Unschuldige inhaftiert!“
„Und nicht alle von ihnen wollen die Freiheit, Ylaiy.“
„Ach?“, fragte Theou, ehrlich erstaunt. „Weshalb nicht?“
„Was sollen sie tun? Viele von ihnen sind seit Jahrzehnten eingekerkert oder waren noch nie außerhalb der Boragha. Wo sollen sie hin? Welches Handwerk ausüben?“ Frier Bland führte seine Tasse an die Lippen. Paíre bemerkte, dass das Alter die fleckigen Hände zittern ließ.
„Man müsste sie unterstützen. Ihnen eine Ausbildung geben, ein Heim, eine Anzahlung. Etwas in der Art.“
„Über all das wird seit Monaten beraten.“ Ylaiy kippte seinen Tee hinunter. „Das solltet Ihr wissen. Ihr wart oft genug dabei.“
„Tja, nun. Ihr kennt mich. Für Politik habe ich nicht viel übrig. Aber Euch bereiten diese Dinge Kopfschmerz, scheint es.“ Plötzlich wirkte er besorgt.
Wie so oft war Ylaiy überrascht von der Schnelligkeit, mit der Theou tan Sayans Gefühlswelt umschlug. „Das und die Hitze“, gab er zu. „Außerdem habe ich zu lange in die Schriften geschaut. Meine Augen verschlechtern sich, fürchte ich. Das war irgendwann zu erwarten.“
„Ihr habt studiert?“
„Recherchiert eher. Eine anstrengende und Zeit fressende Pflicht. Viel lieber hätte ich mich Eurer Schwester und Bland angeschlossen. Ihr habt gekniffen, hörte ich.“
„Eine Verabredung mit meinem Barbier“, rechtfertigte sich Theou. „Der Mann ist ein Künstler. Als er ausrichten ließ, dass sein eigentlicher Kunde die Stadt verlassen hat, musste ich zuschlagen. Es hat sich gelohnt, findet ihr nicht?“
„Eure Zähne strahlen und Euer Haar glänzt wie Gold“, versetzte Bland trocken.
„Wir hingegen haben uralten Staub in den hinteren Winkeln der Bibliothek aufgewirbelt“, scherzte Paíre. „Das war nicht besonders angenehm, aber spannend.“
Theou rollte mit den Augen. „Wenn du meinst.“
„In der Tat“, sagte Paíre, während Bland in seiner Tasse herumrührte. „Die Geschichte des Reiches. Besser gesagt, dessen Vorgeschichte. Sie beschäftigt Meister Bland und mich immer noch, wie du bemerkt hast.“
„Lernt man das nicht bereits als Kind? Die Kriege? Der Sieg der Elboin? Die Vereinigung der Inseln?“
„Das geschah alles später. Viel später“, betonte Bland. „Wir erforschten den Ursprung der Inselwelt. Lange, bevor es die Elboin überhaupt gab.“
„Aha. Irgendwelche spektakulären Entdeckungen?“
„Wie man es nimmt. Wie so oft entstanden die Niederschriften erst eine halbe Ewigkeit nach den eigentlichen Ereignissen. Seither sind sie mehrfach kopiert worden.“
Theou runzelte die Stirn. „Ihr wollt damit sagen, dass die Wahrheit nicht wirklich die Wahrheit ist?“
„Nicht so kategorisch“, entgegnete Paíre. „Möglicherweise ist sie an einzelnen Stellen verfälscht oder verwässert. Bevor es die Schrift gab, erzählten sich die Menschen Dinge. Ihr Gedächtnis muss phänomenal gewesen sein. Bei den Alten Völkern ist das noch immer so. Ihre Legenden und Mythen sind Geschichten, die tausendfach und über Generationen hinweg weitererzählt wurden.“
„Natürlich gab es irgendwann Abweichungen“, übernahm Ylaiy. „Jemand verstand ein Wort nicht richtig, ein anderer setzte Dinge in einen neuen Zusammenhang. Die Sprachen entwickelten sich, bildeten Dialekte und Mundarten, Wörter wurden falsch übersetzt und so weiter. Im Laufe der Zeit kamen Menschen auf die Idee, die Geschichten niederzuschreiben. Andere schrieben sie später ab, doch bis dahin war das Pergament möglicherweise zerstört, Tontafeln zerkratzt. Wachsflecken machten Sätze unleserlich oder die Tinte war ausgetrocknet. All dies muss man bedenken, wenn man sich der Wahrheit nähern will.“
„Und wie lautet Eure Wahrheit?“
Ylaiy beugte sich vor. „Dass alles ganz anders war, als die Menschen glauben.“
„Inwiefern?“
„Fangen wir mit Yruish an. Hauptinsel, Regierungssitz, Zentrum des Reiches. Heimat der kaiserlichen Dynastie seit vielen Generationen. Heimat der Elboin.“
„Aber?“
Ylaiy biss in ein Gebäckstück. „Aber Yruish ist gar nichts, historisch gesehen. Kaadaa ist es.“
„Die Gefängnisinsel?“
„Die Mutterinsel.“ Bland nickte, während Ylaiy sich Krümel aus den Mundwinkeln und vom Hemd wischte. „Kaadaa war das erste Land, das sich aus den Fluten erhob. Die frühesten Schriften berichten davon. Einhellig. Das Gebirge in Kaadaas Mitte schob sich zusammen und in die Höhe; so hoch, dass es beinahe den Himmel berührte, Tala in der Sprache der Ureinwohner. Sie nannten das Gebirge Talamales, Himmelsberge. Die Menschen, die ihm den Namen gaben und die Insel besiedelten, gelten als Urvolk des Reiches. Das Volk, von dem alle nachfolgenden abstammen. Unsere Vorväter.“
„Was geschah?“ Theous Desinteresse hatte sich verflüchtigt. Aufmerksam lagen seine Augen auf Blands Gesicht.
„Kriege. Um Land, um Besitz, um Rohstoffe. Stämme und Familien bildeten sich, verzweigten sich, bekämpften sich, schlossen Allianzen. Einige verschwanden, andere wucherten aus in Unterstämme. Familien zogen davon, besiedelten die jüngeren Inseln, veränderten sich, passten sich an. Manche kehrten zurück, bekriegten Kaadaa, eroberten es. Ein ewiger Kreislauf aus Siegen und Niederlagen, Entstehung und Untergang. Und irgendwann, nach tausenden von Jahren, schaffte es ein Stamm, die Vorherrschaft an sich zu reißen und die Inselwelt neu zu gestalten. Die Elboin. Vorläufiges Ende der Geschichte.“
„Wie ironisch“, murmelte Theou. „Die Gefängnisinsel als Ausgangspunkt allen Lebens. Gibt es das Urvolk noch?“
Eifrig übernahm Paíre die Antwort. „Seine Stämme haben sich immer wieder aufgespalten, abgespalten, in unterschiedliche Richtungen entwickelt, vermischt. Klar ist, dass die Alten Völker, die du als rückständig empfindest, näher mit den Urstämmen verwandt sind. Berlen, Staleph und Kânegg sind nach Kaadaa entstanden. Ziemlich sicher gehörten Kânegg und Kaadaa einst zusammen, vielleicht auch Berlen und Staleph, möglicherweise sogar alle vier. Anscheinend sind die frühesten Auswanderer Kaadaas nach Kânegg gewandert, bildeten die erste Generation der Frâgg. Diese spaltete sich auf, besiedelte neue Landesteile und so weiter. Das Aufregende ist, wie sie sich anpassten. Die Frâgg in Wassernähe leben zum Teil amphibisch, die im Landesinneren sind spezialisiert auf das Leben in Wald und Sümpfen.“
Ylaiy dachte an Syriakin, die neben der Janta hergeschwommen war wie ein Delfin.
Bland nickte Paíre anerkennend zu. „Ihr habt aufgepasst. Andere Teile der Urstämme wanderten nach Staleph und von dort nach Berlen.“
„Und Drahórsul“, warf Ylaiy nachdenklich ein. „So weit wir wissen, war die Eisinsel eine Schwester Berlens, bis sie sich abspaltete und in die Nordmeere driftete, ein Eispanzer sie bedeckte und Leben beinahe unmöglich machte.“
„So weit wir wissen“, bestätigte Bland. „Vergesst nie, dass wir uns im Graubereich der Überlieferung bewegen. Prant und Yruish entstanden erst viel später, wuchsen als neue Inseln aus dem Meer, wenn man den Überlieferungen glauben darf. Eine wissenschaftliche Untersuchung dieser Theorien steht noch aus.“
„Hmm“, murmelte Theou. „Klingt, als wären wir die Kinder der Alten Stämme.“
„Eher die Ururenkel“, gab Bland zurück. „Als Yruish und Prant besiedelt wurden, waren die Blutlinien schon derart verwässert, dass man von Verwandtschaft kaum mehr sprechen kann.“
„Puh.“ Theou wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn. „Also kein Familientreffen in den Sanden.“
Niemand lachte. Paíre nagelte ihren Bruder mit missmutigen Blicken fest.
Frier Blands trübe Pupillen stachen tan Sayan nieder. „Elboin, vor allem die Hohen Häuser, geben so viel auf ihre Herkunft. Sie erachten sich als privilegiert, weil sie einen berühmten Namen tragen, dabei sind es die namenlosen Söhne und Töchter der Wüsten, Sümpfe, Gebirge und Grasebenen, deren Ahnen diese Welt bewohnbar machten.“
Theou hob die Arme. „Kritik vermerkt. Ich verschwinde. Wappne mich bei einem Becher Wein für die Schelte meiner Schwester später. Gehabt euch wohl. Viel Vergnügen noch bei euren Disputen. Habt Dank für den Tee.“ Er grinste, verneigte sich und eilte er aus dem Gemach.
„Ich schäme mich für ihn“, murmelte Paíre, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. „Manchmal glaube ich, er wird nie erwachsen.“
Ylaiy tätschelte ihre Hand und reichte ihr ein Gebäckstück, in das sie so gereizt biss, dass Krümel sie bestäubten.
Bland schlürfte von seinem Tee. „Ein schwarzes Schaf gibt es in jeder Familie.“
Paíre errötete.
„Meist ist er amüsant“, relativierte Ylaiy. „Das macht manches leichter.“
„Das Dasein hat nichts mit Leichtigkeit zu tun“, blaffte Bland.
„Es gibt schlimmere Arten, mit dem Leben zurechtzukommen als mit Humor.“
„Unangemessene Worte für den zukünftigen Kaiser. Er sollte seine Pflichten ernst nehmen.“
Ylaiy rieb sich die Schläfen. „Aber nicht, bis sie einen begraben. - Paíre, Eure Idee mit den Blutlinien wird mit Euren neuen Erkenntnissen hinfällig, scheint mir.“
„Weshalb?“
„Die Kinder. Ihr hattet die Theorie, dass ihre Besonderheit mit ihrer Abstammung zusammenhängt. Kian und Ciycain sind Nachfahren der Alten Stämme, doch für Arlen und Yvain gilt das nicht. Ihr sagtet, dass die Blutlinien der Prant und Elboin zu verwässert seien, um noch von Verwandtschaft zu sprechen.“
„Ihr vergesst die Väter.“
„Das hieße, dass sowohl Arlens als auch Yvains Vater von den älteren Stämmen abstammen müssen. Dass sie von den wilden Inseln kamen. Wisst Ihr etwas über den Vater meines Vetters?“, wandte sich Ylaiy, einer Eingebung folgend, an den Bibliothekar.
Dessen runzliges Gesicht verschloss sich. „Klatsch und Tratsch interessieren mich nicht.“
„Hier geht es nicht um Gerüchte. Wir versuchen zu ergründen, was die Kinder so besonders macht, was sie befähigt, Zauber zu wirken. Magie.“
Bland zuckte zurück. „Es kann nicht sein. Sie kann nicht sein.“
„Aber sie ist. Sie existiert in vielen Manifestationen. Lawinen, die aus dem Nichts entstehen, Leichen, die sich ins Nichts auflösen. Ein Felsen, der bewegt wird!“
„Über sie wird nichts berichtet.“
„Das stimmt nicht. Sie begegnet uns allerorts.“
„In Märchen!“ Der Alte spuckte aus. „In Sagen und Legenden. In Glaubensschriften. Das ist keine Wissenschaft.“
„Und wenn doch? Ich habe ein Heldenlied geschrieben. Alles darin ist wahr. Was, wenn die alten Überlieferungen genauso wahr sind?“
„Dann würden wir sie sehen! Sie besitzen!“ Ärgerlich stemmte der Alte sich vom Stuhl hoch, stieß beinahe das Tischchen um, stapfte schwer atmend im Zimmer umher.
„Bland! Ihr müsst Euern Geist offen halten. Für alles. Das, was wir heute als Aberglauben betrachten, galt früher als Wahrheit. Das, was für uns selbstverständlich ist, war einst Hexenwerk. Wissenschaft ändert sich. Theorien und Ansichten ändern sich. Nur so gedeiht Fortschritt.“
Der Greis blieb stehen, strich sich über den kahlen Schädel. „Sie sind es wirklich, nicht wahr?“, wisperte er. „Die Kinder? Sie sind Zauberer? Hexer?“
„Auf Drahórsul waren sie es. Gillok nannte die Insel einen magischen Punkt. Ich weiß nicht, ob es eines solchen Ortes bedarf, um Magie zu wirken. Die Kinder hatten gar nicht gewusst, dass sie anders waren, erzählten sie uns auf dem Boot. Drahórsul änderte sie, formte sie.“
„Eine Quelle“, flüsterte der Alte.
„Schöpfen sie daraus die Magie?“
„In vielen Märchen und Sagen ist das so. Brunnen, Born, Spring - es wimmelt von Bezeichnungen wie diesen. Die wilden Stämme haben eigene Namen. Selbst sie haben Eingang in die Dichtungen gefunden. Balon, kiur, gíéng, cal und so weiter.“
„Namen für Wasserlöcher, nicht für Magie.“
„Vielleicht, weil Wasser Leben schafft wie etwas Magisches. Es kommt aus dem Himmel, versiegt nie.“
„Erzählt das den Bauern in Zeiten der Dürre.“
Bland ging nicht auf die Bemerkung ein. „Habt Ihr Euch je gefragt, warum der Norogdún einen Felsen zum Reisen brauchte? Warum flog er nicht einfach wie die Bur-an-gnea?“
„Worauf wollt Ihr hinaus?“
„Auf die Linien“, hauchte Paíre. „Der Sumpfmann erwähnte sie. Unsichtbare Kraftlinien. Sie fließen von Quelle zu Quelle. Der Felsen bewegt sich auf ihnen, ohne zu zerbrechen. Er ist eine Kutsche. Die Quellen sind die Raststellen. Dort lädt er sich auf. Die Geschöpfe mit ihm.“
Ylaiy runzelte die Stirn. „Dann müsste es mehrere Quellen geben, nicht nur die auf Drahórsul.“
„In der Wüste schlummert eine weitere unter dem Sand. Im Ki akku ninu, wo der Junge und der Greis den Felsen gesehen haben. Berlen und Drahórsul gehörten einst zusammen. Die Kraftlinie ist vielleicht die letzte Verbindung zwischen ihnen. Möglicherweise gibt es auch Linien zu den anderen wilden Inseln. Weil sie einst ein Land bildeten.“
„Dann können die Kinder überall dort ihre Zauber wirken? Magie schöpfen? Kraft sammeln?“
„Es hängt alles zusammen. Magie, alte Inseln, Urvölker. Sie ist etwas aus der Vergangenheit.“
„Kian. Altes Volk, alte Insel, Felsen, Quelle“, reihte Ylaiy Fakten aneinander. „Bada. Altes Volk, alte Insel. Gibt es eine Quelle auf Kânegg?“
Bland und Paíre zuckten die Achseln.
„Arlen. Alte Insel, Mutter uneheliches Kind von ...?“
„Sabyn Baraten“, half Paíre aus. „Aus Prant.“
„Yvain. Mutter aus dem Hause Yrvois, keine alten Inseln, unbekannter Stamm, keine Quelle, von der wir wissen. Unsere Theorien sind brüchig.“
„Unvollständig“, verbesserte Paíre. „Wir kennen nur nicht alle Fakten. Vermutlich konzentriert sich Magie also in der Nähe der Quellen. Mich interessiert, ob jeder Mensch sie spürt und aufnehmen kann.“
„Auf Drahórsul haben wir etwas gespürt. Magnetismus, Energie, negative Schwingungen. Der Obsidian schien aufgeladen. Zaubern konnten wir nicht. Nur die Kinder und die Drahór konnten es. Man muss also dazu geboren sein.“
„Und damit wären wir wieder bei den Blutlinien“, seufzte Paíre. „Wir drehen uns im Kreis.“
„Aber dann wären alle Kinder der Alten Völker besonders. Es muss mehr zusammenkommen oder alles ist bloßer Zufall.“
Ein längeres Schweigen setzte ein.
„Er kam aus Staleph“, sagte Frier Bland dann unvermutet. „Yvains Vater. Ihr müsst ihn getroffen haben, Prinz.“
„Das dachten meine Gefährten auch. Nur kann ich mich nicht erinnern.“
„Eure Tante brachte ihn zu zwei oder drei Banketten mit.“
„Ich war ein naiver Jüngling seinerzeit, absorbiert in meine Studien, verängstigt von den Veränderungen meines Körpers. Ich guckte kaum hoch, so schüchtern war ich.“
„Es sorgte für einigen Aufruhr. Manche sprachen schon damals von einem Skandal.“
„Inwiefern?“
„Er war weit unter ihrem Stand, ein Reisender im Geleit eines Händlers. Ein attraktiver und charismatischer Mann, doch fehl am Platz bei einem höfischen Mahl. Eure Tante störte das nicht. Sie lud ihn als Tischnachbarn ein, flirtete offen mit ihm.“
„Habt Ihr mit ihm gesprochen?“ Neugier funkelte in Ylaiys Augen.
„Nicht direkt, aber ich hörte ihn sprechen. Leise, sanft. Gar nicht wie ein Mann.“
„Er kam aus Staleph? Ich dachte, er sei ein glutäugiger Fremder gewesen. Irgendwie hatte ich ihn mir wie einen Berlani vorgestellt.“
„Er hatte dunkle, sanftmütige Augen und war gebräunt, doch sein Haar war hellbraun, Kleidung und Statur die eines Sta. Ein wenig größer als der Durchschnitt, jedoch kleiner als Eure Tante. Er kaschierte den Größenunterschied, indem er hohe Schuhe trug.“
Paíre rümpfte die Nase. „Klingt nach einem weibischen Mann.“
„Ja und nein. Sein Gesicht war glatt, das Haar schulterlang und lockig, die Kleidung fließend und farbenfroh. Ein schöner Mann mit feinen Zügen. Damen drehten sich heimlich nach ihm um. Wahrscheinlich war es diese Andersartigkeit, die Eure Tante anzog. Doch Schultern und Hüften waren breit, gedrungen, wie bei den Sta üblich.“
„Welchen Dialekt sprach er?“, erkundigte sich Ylaiy.
„Sta. Sein Yr war fehlerhaft und schwer verständlich.“
„Seltsam. Händler sprechen gewöhnlich gut Yr.“
„Er kam aus den mittleren Provinzen. Vermutlich ein Mischling. Ich denke mir, der Vater war Berlani. Ein Karawanenhändler, der sich mit einer Sta vergnügte. Verzeiht, Prinzengemahlin.“
„Schon gut“, murmelte Paíre. „Ich bin kein Kind mehr.“
„Was wurde aus ihm?“
„Die Gesellschaft, mit der er gekommen war, reiste ab. Er verbrachte ein Vierteljahr am Hof, genoss das Leben in vollen Zügen. Dann verschwand er über Nacht. Eure Tante fiel in Ungnade. Sie litt, grämte sich wochenlang, sprach nie wieder von ihm. Schließlich ging auch sie.“
„Weiß man seinen Namen?“
„Zojian. Seine Familie kennt niemand. Der Hof hat ihn für tot erklärt und die Drana’sora posthum mit ihm vermählt. Offiziell ist Yvain ein eheliches Kind. Belassen wir es dabei.“
„Er wirkt wie ein Betrüger.“
„Ein Frauenheld. Und wie alle Frauenhelden unwiderstehlich. Zumal für junge Damen, die für ihre Aufsässigkeit bekannt sind. Wenn Ihr mehr wissen wollt, befragt Eure Tante, Prinz. Ich habe genug geplaudert.“
„Bestimmt finden wir ihn in den Protokollen“, schlug Paíre vor.
„Ja, aber ziemlich sicher unter falschem Namen. Die Spur verläuft im Sand. Aber vielleicht haben wir so eine Verbindung zu den Alten Stämmen für Yvain. Staleph und möglicherweise Berlen. Gepaart mit einer der ältesten elboischen Linien.“
Plötzlich fuhr Bland herum. „Sten W’iles!“
Ylaiy brauchte einen Augenblick, um das Gesagte einzuordnen. „Der Anführer der B’shua?“
„Ihr wollt uns doch nicht weismachen, Sten W’iles wäre Yvains Vater?“, fragte Paíre belustigt.
„Seid nicht albern“, brummte Bland. „Aber die Kaiserdynastie stammt möglicherweise von ihm ab.“
Ylaiy kramte in seinem Gedächtnis. „Nein. Die Yrvois gab es schon. Eine B’shua vermählte sich mit einem Yrvois. Eine Verbindung von Kriegerblut und Kaiserblut, sozusagen. Die B’shua allerdings stammten von Sta ab. Was bedeutet, dass Yvain mehr als einen Tropfen Stablut in sich trägt. Nicht schlecht, Bland.“
„Fehlt nur noch Arlen“, sagte Paíre.

Ardanna und Sphita eilten ihnen entgegen, noch bevor sie das Tor erreicht hatten.
„Was ist geschehen?“, rief Ardanna schon von Weitem, sich im Laufen die Hände an einem Tuch säubernd. „Sphita berichtete von einem Überfall. Bist du wohlauf?“
„Es geht mir gut“, wehrte Adiv ihre Gastmutter ab, deren Gesicht verschwitzt und puterrot aussah. Ardanna trug trotz der Hitze einen wadenlangen Kittel, der zum Schutz gegen Krankheitserreger bis zum Kinn geschlossen war. Ihr Haar hatte sie unter eine Haube gestopft, das Gesichtstuch war hoch in die Stirn geschoben.
„Was ist geschehen? Du hast Wundmale rund um den Hals. Wurdest du gewürgt?“ Die Heilerin streckte einen Arm aus. Ihre Tochter reichte ihr den Schlauch. „Hier. Trink das.“
„Danke“, krächzte Adiv nach mehreren Schlückchen.
„Also?“ Ardanna stemmte beide Arme in die Hüften und blinzelte besorgt.
„Ein Mann überfiel mich in der Kirche. Als ich zu mir kam, war er weg. Die Kinder haben ihn vertrieben. Was auch immer er wollte, hat er nicht bekommen. Alles, was ich bei mir trug, ist noch da. Mir ist nichts passiert. Bis auf den Schrecken.“
„Hm.“ Ardanna schwenkte einen Zeigefinger vor Adivs Gesicht hin und her. „Scheint, als hättest du großes Glück gehabt. Ich werde Huisans zu Amon Gurbandat senden. Die Stadtwache soll die Augen offen halten. Kannst du den Mann beschreiben?“
„Es ging alles so schnell und er war maskiert. Wusste, was er tat. Wir sollten nicht nur die Stadtwache verständigen, sondern auch Ylaiy.“
Ardanna sah sie nachdenklich an. „Lass uns nichts übereilen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Die Zahl der Kranken wächst. Bald müssen wir Lager auf dem Boden bereiten. Ruhe dich aus. Einige Stunden. Danach reden wir.“
„Ich möchte Euch lieber helfen.“
„Das kannst du. Gern sogar. Aber zuerst legst du dich hin. Arlen, Sphita, ihr bleibt bei ihr. Seht zu, dass sie sich erholt.“
Sphita wandte sich an ihre Mutter. „Was ist mit Maxim? Vielleicht steckt er hinter dem Überfall. Er ist doch immer so komisch zu Adiv.“
„Es ist ein großer Unterschied zwischen seltsamem Benehmen und einem tätlichen Angriff. Du kannst Maxim nicht einfach beschuldigen.“
„Aber…“
„Hat er dich angegriffen?“, wandte Ardanna sich wieder an Adiv.
„Schwer zu sagen. Größe und Statur würden passen, aber ich bezweifle es. Der Angreifer wirkte jünger, gelenkiger. Außerdem glaube ich, ich hätte ihn erkannt, wäre er es gewesen. Am Geruch, an bestimmten Gesten.“
„Trotzdem könnte er dahinter stecken“, murmelte Sphita.
Ardanna seufzte. „Wir haben keine Beweise, Kind.“
„Wir könnten ihn fragen. Vielleicht verrät er sich.“
„Hör mir gut zu.“ Ardanna ergriff ihre Tochter an beiden Oberarmen; nicht gerade sanft, denn Sphita stieß einen Jammerlaut aus. „Lass den Mann in Frieden! Unternimm nichts!“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du Angst vor ihm hast!“
„Denk nach! Falls er wirklich dahinter steckt, was ich nicht glaube, ist er gefährlich. Dann möchte ich nicht, dass meine halbwüchsige Tochter ohne mich in seine Nähe gelangt. Also halte dich von ihm fern! Ihr alle. Ich schicke Huisans los, ihr drei bleibt zusammen und nachher besprechen wir alles.“
„Werdet Ihr ihn zur Rede stellen?“, fragte Arlen.
Ardanna sah den Jungen an und Adiv bemerkte, wie der Puls der Heilerin schlagartig ruhiger wurde. „Das werde ich“, versprach sie. „Aber im Augenblick gibt es Dringenderes. Außerdem weiß ich nicht, wo er steckt. Ich habe ihn seit dem Morgenmahl nicht mehr gesehen. - Ich muss los.“ Damit raffte sie ihren Kittel, zog sich das Tuch vor das Gesicht und eilte zurück zum Haus der Kranken.
„Nicht mehr gesehen“, stieß Sphita aus, sobald ihre Mutter außer Hörweite war. „Er schleicht doch sonst den ganzen Tag durch das Haus. Ich bin mir sicher, er beobachtet uns. Wahrscheinlich hat er überall Gucklöcher.“
„Nun übertreibe nicht“, ermahnte Adiv das Mädchen. „Deine Gefühle gehen mit dir durch. Wir sollten uns ausruhen, wie deine Mutter sagte. Einen klaren Kopf bekommen. Damit denkt es sich besser.“
Sphitas säuerliche Miene blieb, aber sie widersprach nicht mehr, stieß mit der Fußspitze einen Kiesel weg und stampfte dann auf das Haupttor zu.
Adiv und Arlen sahen sich an.
„Bestimmt hockt er in irgendeiner Schenke“, sagte Adiv. „Verspielt sein letztes Hemd, besäuft sich mit alten Kumpanen.“
„Mein Gefühl signalisiert etwas anderes.“
„Ja, das dachte ich mir schon“, seufzte Adiv. „Man sieht es in deinem Gesicht. Was genau sagt es dir?“
„Es spricht nicht. Nicht mit Worten. Es ist eher eine Ahnung. Wie etwas Dunkles.“ Arlens Augen wurden groß und leer. Adiv kannte den Blick, der sich nach innen richtete, als horche der Junge in sich selbst.
„Etwas stimmt nicht mit dem Überfall, nicht wahr? Der Botenjunge, der falsche Kranke, die beiden Männer. Das Zeichen. Jemand hat sich viel Mühe gegeben. Dahinter steckt etwas Größeres, Bedrohliches. Habe ich recht?“
„Und Maxim ist nicht da. Er ist nicht mehr an diesem Ort. Sein Abdruck, seine Signatur, ist verschwunden. Meine Ahnung sagt mir, dass er weg ist. Das ist kein Zufall.“
„Also steckt er doch dahinter?“
„Nur ein Bauchgefühl. Lass uns bis heute Abend warten. Gemeinsam. So sind wir sicherer.“
„Glaubst du, er plant weitere Anschläge?“
Arlen sah sie nur an. Unbehagen schnürte ihr die Kehle zu.


Das Abendmahl verrann weitestgehend schweigend. Gewöhnlich genoss Adiv das gemeinsame Essen. Ardanna bevorzugte eine leichte Kost mit frischen Zutaten, die Arlen auf dem Markt erstand. Es war eine einfache, schmackhafte Küche. Genauso einfach und unbeschwert verliefen in der Regel die Gespräche. Sie tauschten sich über die Geschäfte des Tages aus, lachten über Arlens Abenteuer in der Stadt, die er so lebendig erzählte, dass man das Gefühl hatte, dabei gewesen zu sein. Am lautesten lachten sie alle, wenn er die Leute nachahmte. Er war ein ausgezeichneter Beobachter und verstand es, Gestik, Mimik und Stimme täuschend echt zu imitieren. Manchmal stand er sogar vom Tisch auf und spielte ihnen Erlebnisse pantomimisch vor.
Heute saß er bedrückt vor seinem Teller, von dem er kaum gegessen hatte. Auch die Speisen der anderen waren so gut wie unberührt, obwohl Martila sich große Mühe gegeben hatte. Niemand schien Appetit zu verspüren.
Ardanna wirkte erschöpft. Violette Ringe lagen unter ihren Augen und ihr ansonsten rotwangiges Gesicht glänzte blass. Adiv entdeckte Fältchen an ihr, die ihr bislang nicht aufgefallen waren. Geistesabwesend nippte die Heilerin an ihrem Wasser. Es war nicht zu übersehen, dass hinter ihrer Stirn sorgenvolle Gedanken kreisten. Sphita, die an den Abenden über Tanzstunden und Vorführungen plapperte, Gerüchte, die sie von Bediensteten und Bekannten aufgeschnappt hatte, vor ihnen ausbreitete oder mit ihrer Mutter über dies und jenes stritt, spielte ungewöhnlich still mit ihrem Besteck.
Adiv fühlte sich ausgelaugt. Nach dem Angriff hatte sie versucht zu ruhen, umgeben von Sphita und Arlen, die sie mit Kräutertee versorgten und sich die Zeit mit Spielen vertrieben. Adiv hatte dagelegen und gegrübelt. Halsschmerzen und Unruhe hielten sie wach. Irgendwann hatte sie sich aufgerichtet und war, flankiert von den beiden, zum Haus der Kranken marschiert.
Ardanna hatte sie tadelnd angeblickt.
„Ich brauche Ablenkung“, hatte Adiv knapp gesagt. „Und Ihr braucht Hilfe.“
Ohne ein weiteres Wort hatte die Heilerin ihr einen Kittel, eine Haube und ein Gesichtstuch in die Hand gedrückt und auf die Fiebernden gewiesen, die im Eingangsbereich auf dem Boden hockten oder lagen. Ihre Angehörigen blickten angstvoll und flehend zugleich auf Adiv, die den Pflegern befahl, die bestehenden Lager näher zusammenzuschieben und neue zu errichten.
In den folgenden Stunden war sie nicht mehr zur Ruhe gekommen. Sie wischte Schweiß ab, legte Fieberverbände an, streichelte Kleinkinder und summte ihnen etwas vor. Sie bereitete Umschläge zu, verabreichte Wasser und Tees, rieb schmerzende Gelenke ein, strich Ochsenblutsalbe auf entzündete Körperstellen, schickte Kranke mit gebrochenen Gliedmaßen, Verrenkungen und Zahnschmerzen nach Hause, damit sie sich nicht ansteckten.
Arlen war kaum von ihrer Seite gewichen, half, wo er konnte. Auch Sphita hatte sich nützlich gemacht, doch ihr war anzusehen, wie unwohl sie sich in der Nähe der stöhnenden, weinenden, schwitzenden Menschen fühlte. Ihr Gesicht verzog sich vor Ekel beim Anblick der blasenartigen Pocken, die im Krankheitsverlauf auftraten und sich bald mit Eiter und Blut füllten.
„Wir sollten uns zur Ruhe begeben.“ Ardannas Worte fielen in das Schweigen wie Hammerschläge. „Morgen wird ein anstrengender Tag. Wir alle brauchen Schlaf.“
„Was ist mit Maxim?“, wollte Sphita wissen.
Adiv verspürte jähen Ärger in sich aufsteigen. War das alles, was das Mädchen interessierte? Gleichzeitig verstärkte sich das Unbehagen in ihrem Inneren. Der Überfall, den sie für einige Stunden vergessen hatte, loderte in ihrem Geist auf. Schlaf zu finden würde schwer werden in dieser Nacht.
Sie versuchte, die Gedanken abzuwehren, sah zu Arlen, der sie besänftigend anblickte und sich zu ihr beugte, während Ardanna sich auf ein Wortgefecht mit ihrer Tochter einließ. „Du hättest sowieso daran gedacht“, raunte er ihr zu. „Sobald du zur Ruhe gekommen wärst.“
Natürlich stimmte das. Sphita traf keine Schuld. Sie war ein Kind, zumindest ein halbes, und der Angriff auf ihre Freundin hatte sie aufgewühlt. Ihr Verhalten war verständlich.
Sie nickte Arlen zu und konzentrierte sich auf Ardanna, die mit müder Stimme erklärte, dass sie noch keine Zeit gehabt hatte, sich um Maxim zu kümmern.
Sphita blickte enttäuscht, Ardanna schuldbewusst.
„Ich weiß, dass das von heute Morgen dich sehr mitgenommen hat“, wandte Adiv sich an das Mädchen. „Aber erstens geht es mir gut und zweitens gibt es im Augenblick wichtigere Dinge für deine Mutter zu erledigen.“
„Sie hat es versprochen.“
Adiv setzte zu einer weiteren Entgegnung an, doch Ardanna hob den Arm. „Streitet nicht. Sphita hat recht. Wir sollten die Sache nicht herunterspielen. So ein Angriff ist ernst.“
„Mir geht es gut.“
„Körperlich, sicher. Du bist hart im Nehmen. Aber seelisch verkraftet man so etwas nicht so leicht.“ Ihr Blick wurde weicher, als er über Adiv glitt. Die Diebestochter begriff, dass Ardanna nun als Heilerin sprach. „Falls du Probleme beim Einschlafen hast oder du reden möchtest, weißt du, wo du mich findest.“
„Im Haus der Kranken?“, fragte Adiv, spitzer, als sie es beabsichtigt hatte. Sie atmete tief ein und sah Ardanna in die Augen. „Ich weiß Eure Fürsorge sehr zu schätzen, wirklich. Aber Ihr müsst Euch nicht um mich kümmern. Eure Kraft wird anderswo dringender benötigt. Ich habe gesehen, wie beansprucht Ihr seid. Die Kranken brauchen Euch.“
„Morgen wird es die ersten Toten geben“, prophezeite Ardanna und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme brach. „Ich habe getan, was ich konnte, doch zwei Patienten werden die Nacht nicht überleben. Deshalb muss ich dich bitten, zu warten. Ich werde mit Maxim sprechen. Bald. Amon Gurbandat ist bereits informiert. Jetzt muss ich mich für zwei Stunden hinlegen, danach zurück zu den beiden Kranken.“
„Sprecht Ihr von dem älteren Mann im linken Flügel und der jungen Frau im Sonnensaal?“ Arlen hatte das Besteck niedergelegt, die Hände auf dem Schoß gefaltet und sah Ardanna fragend an.
„Die Frau ist kräftiger, also hat sie vielleicht eine Chance, aber eine sehr geringe. Der Mann ist todgeweiht. Das Fieber wütet, er erbricht nur noch und seine Pocken eitern. Er ist von innen vergiftet.“
„Könnt Ihr etwas ausrichten? Mit all Euren Künsten?“
Ardanna starrte den Knaben an. Schließlich fiel sie in sich zusammen. „Nein. Ich habe alles versucht.“
„Dann habt Ihr Euch nichts vorzuwerfen. Begebt Euch zur Ruhe. Schlaft Euch aus. Andere brauchen Eure Kraft nötiger. Sie für diese beiden zu opfern, wäre sinnlos.“
„Wie kannst du so etwas sagen? Wie soll ich ruhig schlafen, wenn zwei meiner Patienten sterben?“ Ardanna wirkte empört und hilflos zugleich.
„Ihr könnt nichts mehr bewirken, Ihr habt es selbst gesagt. Ist es nicht schlauer, Eure Energie denen zu widmen, denen sie noch nützt?“ In Arlens Frage schwang ehrliches Interesse.
„Mag sein“, übernahm Adiv Ardannas Antwort, weil diese mit den Tränen kämpfte. „Wenn man es aus reiner Vernunft sieht. Doch gute Heiler haben auch Gefühl. Mitgefühl.“
„Wird sie das retten?“
„Nein“, gab Adiv zu. „Aber nicht allein zu sein in den letzten Stunden macht ihnen den Tod leichter. Begebt Euch zur Ruhe“, wandte sie sich an Ardanna. „Ich lasse den Tisch abräumen und die Kinder zu Bett bringen. Soll ich Euch wecken lassen?“
„Darum kümmere ich mich.“, Ardanna erhob sich wie eine alte Frau. „Morgen suche ich Maxim auf. Und wenn er etwas damit zu tun hatte, werfe ich ihn aus dem Haus.“
Sie winkte müde und verschwand.
Adiv sah die Kinder an. „Geht schlafen. Das war genug Aufregung für einen Tag.“
„Ich habe Maxim den ganzen Tag nicht gesehen“, sagte Sphita. „Seit dem Morgenmahl.“
„Lass es endlich gut sein.“
„Wenn es doch stimmt!“ Das Mädchen sah Arlen an. „Wir haben das gesamte Anwesen abgesucht, nicht wahr, Arlen?“
Der Junge sah auf das Tischtuch, nickte aber.
„Was? Ihr solltet euch heraushalten!“ Adivs Handfläche krachte auf den Tisch.
Arlen zuckte zusammen, doch Sphita ignorierte Adivs Zorn. „Er war nirgends! Niemand hat ihn gesehen. Er hat sich nichts zu Essen bestellt, weder zum Mittag noch zum Abend.“
„Was soll das beweisen? Er isst nie besonders viel. Abends speist er auswärts und mittags knabbert er einen Apfel. Wenn überhaupt.“
„Wir sollten in seinen Gemächern nachsehen! Vielleicht hat er gepackt und ist heimlich verschwunden! Wie ein Verbrecher, der sich aus dem Staub macht!“ Sphita verschluckte sich beinahe beim Reden. Haarsträhnen hatten sich gelöst und flatterten um ihre Stirn.
„Schlag dir das aus dem Kopf! Du kannst nicht einfach in seine Gemächer spazieren. Was, wenn er nur ein Nickerchen macht? Vielleicht hat er Besuch oder ihm ist nicht nach Gesellschaft. Dann gibst du ihm genau das, was er will. Er wird deiner Mutter und dir unlautere Absichten unterstellen, Zeter und Mordio schreien und zu Gurbandat stolzieren! Also lass es! Ich meine es ernst!“ Adiv blitzte Sphita so wütend an, dass diese den Kopf einzog.
„Vielleicht fühlt er sich auch nicht wohl“, sagte Arlen langsam. „Bei all den Fieberkranken wäre das nicht verwunderlich. Wir sollten einen Bediensteten nachsehen lassen. Aus Sorge.“
Auf Sphitas Gesicht erschien ein Grinsen, während Adiv ihren Kopf in ihren Armen verbarg und stöhnte.
Als sie ihn wieder hob, stand Entschlossenheit in ihren Augen. „Nein. Maxim meidet das Haus der Kranken wie die Pest. Er hasst Schwäche, macht einen weiten Bogen um jeden, der Hilfe bei uns sucht. Wahrscheinlich ist er unterwegs, eingehüllt in Gesichtstücher, Kräutersäckchen um den Hals. Vielleicht hat er sich wirklich aus dem Staub gemacht, um den Pocken zu entgehen. Ist auf dem Weg nach Korth oder sonst wohin. Wir sollten froh sein, dass er weg ist. Und jetzt würde ich gern mein Zimmer aufsuchen. Entschuldigt mich.“
Resolut erhob sie sich, schritt zum Trakt der Bediensteten und gab Anweisungen, das Haus für die Nacht herzurichten. Anschließend schleppte sie sich in ihr Gemach.

Am Waldrand blieb der junge Frâgg stehen und wies auf den mit Geröll übersäten Strandabschnitt. „Ab hier geht ihr besser allein. Ich glaube nicht, dass sie sich zeigt, solange ein Fremder dabei ist.“
„Du bist kein Fremder“, entgegnete Gillok.
„Du weißt, was ich meine. Ich warte auf der Anhöhe.“
Gillok nahm seine Tochter an die Hand und lief mit ihr Richtung Wasser. Es dauerte nicht lange, da zupfte Ciycain ihn am Ärmel. „Auf den Klippen.“
Er kniff die Augen zusammen, starrte auf die zu bizarren Formen geschichteten Felsen, die vor Urzeiten vom Waldrand abgebrochen und ans Meer gepoltert sein mussten.
„Hinter der verkalkten Tafel“, präzisierte Ciycain.
„Ich glaube, ich werde alt.“


Sie stand an der Tafel und wartete, schloss Ciycain in die Arme, sobald sie bei ihr angelangt waren, warf ihm ein halbes Lächeln zu, das schwer zu deuten war.
Er ächzte, als er sich auf dem porösen Stein niederließ, sich neben Syra und Ciycain an die Tafel lehnte. Anfangs fand er die Wärme des Steins angenehm, doch bald schon wurde ihm heiß in der sengenden Sonne. Syra schien sie weniger auszumachen. Ciycain hielt Hitze und Kälte gleichermaßen aus.
„Geht es dir gut?“, fragte Ciycain ihre Mutter.
„Es geht mir gut.“
„Konntest du nachdenken?“
„Ja.“
Das Mädchen rümpfte die Nase. „Du hast geraucht.“
„Einer der Vorteile des Alleinseins. Man kann tun und lassen, was man will. Wie ist es euch ergangen?“
„Die Dorfbewohner behandeln uns gut, die neuen genauso wie die alten. Sie sind zurückhaltend, aber gastfreundlich und interessiert an unserer Geschichte. Ich habe Nou und seinen Freunden allerhand erzählt. Sie staunten.“
„Es ist noch nichts bis hierher gedrungen?“
„Sie scheuen den Umgang mit anderen Menschen, wussten nicht einmal, dass der Krieg vorüber ist und sie die Soldaten nicht mehr fürchten müssen. Von den Dingen im Norden wissen sie nichts.“
Syriakin und Gillok tauschten einen Blick.
Ciycain entging er nicht. „Ihr glaubt nicht an das Ende vom Krieg, ich weiß schon. Ihr habt euch darüber unterhalten, mehr als einmal.“
„Du hörst und siehst zu viel“, gab Syriakin zur Antwort.
„Viele Soldaten sind abgezogen. Es gibt weniger Stützpunkte.“
Syriakin dachte an die Einwanderer, die die Insel als ihren Besitz betrachteten, den sie hartnäckig verteidigten. Gegen andere Zuwanderer und Einheimische. Besonders gegen Einheimische. „Sagen wir, wir verhalten uns abwartend und gehen ihnen solange aus dem Weg.“
Ciycain nickte und begann im Plauderton von den Ereignissen der vergangenen Tage zu sprechen. Sie wirkte entspannt und zufrieden, im Großen und Ganzen unbelastet von ihrer tumultartigen Ankunft. Sie hatte sich mit Baelis angefreundet, dem Mädchen, das den Überfall auf Grulorh zusammen mit seiner Mutter überlebt hatte, und ihre Spielgefährten kennengelernt. Die Kinder aus Yanois schwammen nicht so leidenschaftlich gern wie Baelis und sie, dafür hielten sie Tiere und spielten Verstecken im Wald. Dann schwärmte sie von Kanouepe, der ihr mehr von der Gegend gezeigt hatte, sie wie eine Erwachsene behandelte und begierig auf ihre Geschichten war.
Syriakin hörte aufmerksam zu, unterbrach ihre Tochter kein einziges Mal.
Nachdem sie geendet hatte, schaute Ciycain sehnsüchtig aufs Meer, das unter ihnen gegen die Klippe brandete.
„Geh schon“, forderte Syra sie auf. „Dein Vater und ich unterhalten uns indessen. Aber schwimme nicht zwischen diesen Felsen hier herum; die Strömungen sind tückisch.“
Gillok lächelte, weil er sah, wie seine Tochter die Augen verdrehte, bevor sie sich davonstahl. „Du warnst sie vor dem Wasser, dabei ist sie darin sicherer als an Land.“
Sie sah ihn stumm an. Ernster werdend räusperte er sich. „Du kannst nicht zurück. Noch nicht. Falokk ist jedoch zuversichtlich, das Dorf umstimmen zu können, das Urteil aufzuheben. Das dauert seine Zeit. Herad, Nou und die anderen Überlebenden sind Teil dieser Gemeinschaft geworden. Sie zu überzeugen ist die große Herausforderung.“
„Es wird ihm nie gelingen.“
„Nou steht doch schon mehr auf deiner Seite als auf der seiner Zweitmutter. Baelis wird sich Ciycains Einfluss schwerlich entziehen können und damit ihre Mutter umstimmen.“
Sie fuhr hoch. „Hast du Ciycain für meine Zwecke eingespannt?“
„Seit wann lässt sich Ciycain für irgendetwas einspannen?“, entgegnete er scharf. „Dafür hast du sie viel zu unabhängig erzogen. Nein, sie kennt Baelis einfach von früher. Die beiden sind im selben Alter.“
„Das Mädchen neben Herad? Das kann nicht sein!“
„Das dachte ich auch. Doch Nou bestätigte es. Ciycain sieht eben älter aus.“
Syra schwieg nachdenklich.
„Tolan und Matantyuch werden schwerer zu überzeugen sein. Beide waren dabei, als Tarolf dich verbannte.“
„Sie halten mich für schuldig an dem Überfall.“
„So wie Herad“, bestätigte er.
„Ihre Familien sind ums Leben gekommen. Ihre Frauen und Kinder. Nichts in der Welt wird sie dazu bringen, anders zu denken.“
„Unsinn. Wie könnte eine einzelne Frau einen Krieg entfachen? Es war nicht deine Schuld. Das werden sie irgendwann einsehen.“
„Das hat er auch gesagt“, murmelte sie.
„Wer?“
„Der Schmied. Unter der Erde, bevor wir die Kinder fanden.“
„Lass mich unsere Geschichte erzählen. Deine Taten werden für dich sprechen. Gesunder Menschenverstand, von dem Falokk im Übrigen genug hat, übernimmt den Rest. Du musst nur Geduld haben. Wenn du magst, ziehen wir zu dir ans Wasser.“
„Ciycain scheint glücklich in dem Dorf. Lass es sie genießen, sie hat es verdient. Und du wirkst auch nicht unzufrieden.“
„Ich bin gern von Menschen umgeben“, gab er zu. „Und ab und zu braucht ein Mann ein Gespräch unter Männern. Verzeih.“
Sie lächelte bitter. „Es ist fast so wie früher, findest du nicht? Bada im Dorf in deiner Obhut, ich außerhalb.“
„Nur diesmal kannst du nicht zurückkommen, wenn dir das Alleinsein zu viel wird. Wirst du es aushalten?“
„Sicher.“
„Herads Ohrfeige hat ganz schön gesessen, oder?“
Sie rieb sich die Wange. „Nicht schlecht für eine alte Frau.“
„Dein Vater ist tot, Syra. Seit vielen Jahren.“
Ihre Hand schwebte in der Luft. „Ja“, stieß sie nach langer Zeit den Atem aus und legte den Kopf an die steinerne Tafel.
„Die Alten suchten ihm eine neue Gefährtin.“
„Ein Tausch?“
„Nein. Sie holten sie aus einem Dorf weit im Nordosten.“
„Hatte sie Kinder?“
„Sie war blutjung. Kränklich, schwach, ein schlechter Ersatz für Paglongtoai. Sie kam ohne Kinder, doch sie gebar zwei. Eine Tochter und einen Sohn, Della und Raques.“
„Mhm.“
„Sie starb nach der Geburt des Sohnes. Dein Vater suchte sich eine neue Gefährtin, mit der er die Kinder großzog. Della kam nach der Mutter, berichtete Falokk. Sie gaben sie einem Verwandten von ihm zur Frau, der in Balalam lebte, sie dorthin mitnahm.“
„Balalam“, murmelte sie. „Wir waren dort.“
„Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie nicht überlebte.“
„Der Sohn?“
„Verließ das Dorf wegen eines Streits um eine Frau. Er war ein ausgezeichneter Jäger, sagt Falokk, und ein guter Mensch. Viele vermissen ihn. Niemand weiß, wo er lebt. Ob er lebt.“
„So ist das.“
„So ist das.“
Er studierte ihr Antlitz, das Müdigkeit ausstrahlte, aber ansonsten unberührt war von den Spuren des Alterns; die Narbe, die es auf einer Seite entzweiriss. Eine tiefe Falte stand auf ihrer Stirn, wie immer, wenn sie intensiv nachdachte.
Er strich ihr das störrische Haar zurück und konnte sich nicht vorstellen, es jemals ergraut zu sehen. Seine Augen glitten über ihre sehnigen Arme, sahen die Muskeln an Schultern und Nacken, die schlanken Finger, die hart wie Eisen waren, wenn sie es wollte, oder geschickt. Sogar zärtlich. Das Nomadenleben, so unstet es war, bekam ihr. Ob sie die Jahre spürte, die an ihnen vorüberzogen?
„Sonst gibt es …“, begann sie unvermittelt zu sprechen, nur um gleich wieder abzubrechen.
„Sonst gibt es eine Handvoll entfernter Verwandter, an die du dich kaum erinnern wirst. Falokk selbst beispielsweise war der Onkel deiner Mutter. Halbbruder deiner Großmutter, glaube ich. Er erinnert sich an seine Nichte, aber ohne Bedauern. Sie standen sich nicht nahe. Als ich ihm den Namen Diran nannte, erinnerte er sich sogar an dich. Du warst wenig mehr als ein Säugling, zu jung für das Gedächtnis des Dorfes. Abgesehen von Falokk hast du einige Großvettern und eine alte Frau, die Paglongtoai eine Art Elternteil war, nachdem ihre Mutter gestorben war.“
Sie schwieg eine Weile, stand auf, schüttelte ihre Beine aus und reckte ihre verkrampften Schultern. „Ich bringe euch zu Kanouepes Lager.“


Für Ciycain und Kanouepe wurde es ein schöner Tag. Zu viert verbrachten sie den Nachmittag am Rande des Waldes, angenehm gekühlt von der Brise, die vom Meer herauf wehte, und den Schatten der Bäume. Syra hatte süße Beeren gesammelt, die sie gemeinsam naschten. Nou und Ciycain tobten im Wasser herum, lieferten sich Wettstreits im Tauchen und Schwimmen und Krebse fangen. Natürlich war Nou als Spielgefährte viel zu alt, aber er schien die Gesellschaft des Mädchens wirklich zu genießen.
„Er sagte mir, dass ihm ihre Unbeschwertheit guttäte“, verriet Gillok Syriakin, während sie die beiden vom Waldrand aus beobachteten. „Er hat die Leute aus Grulorh herausgeführt, bei der Flucht einen Soldaten verletzt. Seither achten sie ihn als ihren Anführer. Du kennst ihn: Er ist eigentlich ein Kindskopf, konnte selten ernst bleiben. Das alles hat ihn verändert. Es ist schwer für ihn. Immer noch.“
Gillok redete viel. Mit Syriakin, mit Kanouepe, mit Ciycain. Er versuchte, die dunkle Wolke wegzureden, die über Syras Kopf hing. Äußerlich schien sie unbeeindruckt. Sie ließ sich auf Gespräche ein, hörte den Geschichten ihrer Tochter zu, setzte Nou gegenüber ein freundliches Gesicht auf. Doch Gillok merkte, wie sie sich in sich zurückzog.
Auch Ciycain fiel die Abwesenheit auf, aber sie begriff, wie wichtig es war, dass sie ihre Rolle weiterspielte, die Rolle des Kindes, das es zu beschützen galt. Ihre Mutter hielt ihr zuliebe den Nachmittag durch und Ciycain revanchierte sich, indem sie versuchte, ihr einige Stunden Normalität zu geben.
Als die Sonne Richtung Meer sank, entzündeten sie ein kleines Feuer. Ciycain sackte bald gegen Syriakins Schulter, später auf deren Schoß. Die Kriegerin strich über das Haar ihrer Tochter, bis diese eingeschlafen war. Gillok half ihr, sie auf ein Lager umzubetten, das sie kurzerhand aus Ästen und Laub errichtet hatten. Als er das Mädchen behutsam niedergelegt hatte und sich nach Syriakin umschaute, war diese verschwunden.
Nou wies auf den Fuß der Anhöhe, wo Syra soeben vom Schatten verschluckt wurde. Kurze Zeit später sah er sie quer über das Grasland laufen, welches sich in Richtung Westen als breiter Streifen vor dem Strand entlangzog. Er sah ihre Gestalt kleiner und kleiner werden, bis er sie gegen die untergehende Sonne nicht mehr ausmachen konnte.
Unentschlossen rieb er sich die Stirn. Erst als Kanouepe ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass er bei dem Mädchen bleiben würde, stieg er den Hang hinunter und folgte Syras Fährte zu einer Bucht, in der sich im Winter die Stürme verfingen.
Ihre Stiefelabdrücke waren leicht und flüchtig, im letzten Fingerbreit Abendsonne gut zu erkennen. Sie war über die Grasebene geflogen, ihre Schritte waren länger und länger geworden. Er folgte den Spuren bis zum Rand einer Gerölldüne. Über die Steine, die den Uferabschnitt säumten, musste er klettern, so hoch lagen sie aufgeworfen. Dahinter fand er ihre Stiefel, offenbar im Lauf von den Füßen gezerrt. Sie war gestolpert, verriet ihm der körnige Sand, sogar gestürzt. Danach war sie langsamer geworden.
Ihre Kleidung lag verstreut um einen flachen Schiefer. Er sammelte ihre Waffen zusammen, schichtete ihre Kleidungsstücke zu einem ordentlichen Stapel, schlüpfte selbst aus Hemd, Hose und Stiefeln.
Inzwischen war die Sonne am Horizont verglüht, das Wasser farblos und glatt wie ein Spiegel. Sie musste bewegungslos darin treiben, denn er sah keine Spur von ihr. Er schwamm dicht über dem Meeresboden, bis er die kalte Strömung der tieferen Gewässer spürte, schlug einen Bogen und ließ sich an die Oberfläche trudeln. Dort legte er sich auf den Rücken, reckte den Kopf in den Nacken und blickte auf die ersten blassen Sterne.
Er fröstelte bereits, als sie endlich von der Seite an ihn heranglitt und sich schweigend neben ihm ausstreckte.
„Das Wasser ist kälter hier im Ostmeer.“
„Die Leute meines Stammes leben im Wald genauso wie am Meer“, gab sie zurück, mit einer Stimme, die so ruhig war wie der Ozean um sie herum. Und ebenso trügerisch.
„Du hast schon immer lieber gejagt als gefischt.“
„Hmm.“
„Ist sie das? Dieses Stück Meer? Die Gerölldüne? Der Graswald? Ist das deine Heimat?“
Ihre Hand an seinem Unterarm war das Einzige, das verriet, dass sie noch da war, so lange schwieg sie. „Ich weiß es nicht mehr.“
„Du meinst, das Land hat sich verändert? Dein Stamm?“
„Ich meine“, sagte sie gedehnt, „dass ich mich nicht erinnere. In meiner Vorstellung sah alles anders aus, aber ich kann dir nicht sagen, wie.“ Mit dem Arm beschrieb sie einen Bogen. „Das hier könnte meine Heimat sein. Es könnte genauso gut jeder beliebige andere Ort sein. Ich habe es vergessen.“
Er blickte zur Seite und fragte sich, ob es nur Meerwasser war, das über ihr Gesicht lief. „Es ist mehr als dreißig Jahre her. Kinder vergessen irgendwann.“
„Ich weiß nicht, wie oft ich weggelaufen bin, weil ich hierher wollte. Ich bin nie hier angekommen.“
„Es ist ein weiter Weg, als Kind besonders. Gefährlich. Die Sümpfe, die Tiere. Die Soldaten.“
„Davor hatte ich keine Angst.“
„Ich weiß.“
„Als ich alt genug wurde, die Gefahren zu begreifen, hatte ich den Weg längst vergessen.“
„Bist du sicher?“
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und ließ das Wasser darüber schwappen. „Du bist zu schlau, Gill, weißt du das? Du schaust den Menschen in ihre Gedanken.“
„Du verbirgst sie ziemlich gut.“
„Und?“, fragte sie rau. „Was kannst du lesen?“
Er tauchte unter, schwamm um sie herum, griff mit beiden Händen ihre Arme und zog sie an sich. Ihre Haut war kalt. Er strich das nasse Haar beiseite und sah ihr in die Augen. Sie erwiderte den Blick, weder scheu noch herausfordernd, sondern auf eine besorgniserregende Art müde.
„Du frierst“, sagte er und schob sich enger an sie. „Die Kälte kommt nicht nur vom Wasser. Du frierst, weil du nichts hast, was dich wärmt. Das hast du schon als Kind begriffen, nicht wahr? Du hast schon vor langer, langer Zeit begriffen, dass du deine Heimat verloren hattest und mit ihr deine Familie. Du vergisst keine Wege, Syra. Du hättest hierher gefunden, aber du hattest Angst vor dem Moment, hier anzukommen. Denn was wäre geschehen?“
„Er hätte mich wieder weggeschickt. Sie alle hätten das. Oder mich wie eine Fremde aufgenommen, so wie ihr. Mich bestraft. Mich womöglich nicht einmal erkannt.“
„Du wärst nie die Frau geworden, die du bist, denn niemand hätte dich ausgebildet, nicht als Mündel, das man aus Gnade aufzieht. Sie hätten dich dem nächsten Fremden zur Frau gegeben. Mabaraoene hatte eine neue Familie. Jüngere Kinder.“
„Ich hätte sie beschützen können.“
„Das hättest du. Doch wer hätte dich beschützt?“
Sie biss sich auf die Lippen und senkte die Wimpern. Er zog sie in eine Umarmung, registrierte sofort die Hitze ihrer Wange an seiner Brust.
„Wer sagt, dass ich beschützt werden wollte?“, widersprach sie dumpf.
„Jedes Kind will beschützt werden. Jeder Mensch braucht Wärme. Dann und wann.“
„Und du wärmst mich?“, fragte sie matt.
„Dann und wann habe ich es versucht.“
„Das hast du. Ich glaube, ich bin sehr schlecht darin, Menschen Wärme zu spenden.“
„Du bist nur ein wenig außer Übung. Ich erinnere mich an die eine oder andere Begebenheit, bei der mir durchaus warm wurde. Heiß geradezu.“ Ein verschmitztes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, das sie an den Jungen erinnerte, der er früher gewesen war.
Sie zuckte nur leicht zusammen, als er sie wieder an sich zog. Ihr Körper war kalt, dennoch spürte er pulsierende Hitze unter ihrer Haut.
„Jetzt zum Beispiel ist mir sehr warm“, gestand er heiser.
Sie entgegnete nichts, schlang aber ihre Arme um seinen Nacken, ihre Beine um seine Hüften. Er wusste, dass sie sich nicht aus Erregung an ihn klammerte, dass es falsch war, sie in diesem Augenblick zu begehren, dennoch ließ er zu, dass Verlangen ihn übermannte.
Sie wehrte sich nicht, als er in sie drang, öffnete sich ihm weich und bereitwillig. Trotzdem glich das Liebesspiel mehr einem Kampf und dauerte nur wenige Minuten, bevor er erschauerte und sie an sich presste. Sie ließ auch das geschehen, überließ sich ohne zu zögern seiner Umarmung, aber sie schwieg, gab nicht zu erkennen, ob sie Vergnügen empfunden hatte oder Abscheu. Er wagte nicht, zu fragen, weil er jählings Scham empfand und Widerwillen gegen sich selbst.
Sie schaukelte eine Weile mit ihm in den Wellen, die der laue Nachtwind nun aufwarf, wirkte abwesend und müde. Mittlerweile war auch ihm kalt, doch sie schien sich nicht zu einer Bewegung aufraffen zu können.
Schließlich drückte er ihren Kopf unter Wasser, wie er es so oft als Junge getan hatte. Sie verschluckte sich, wehrte seine Arme ab und kam hustend wieder hoch. Er lächelte wehmütig, ergriff ihre Hände und zog sie Richtung Ufer. „Komm. Bevor wir erfrieren.“
„Gill. Ich kann nicht schlafen. Ich glaube, ich kann es vielleicht nie mehr.“
Dann fing sie ohne Vorwarnung an zu schluchzen.
Er brauchte ein wenig, um den Schreck zu verdauen, länger als sie benötigte, um sich Wasser ins Gesicht zu schütten und sich von ihm abzuwenden. Sie schien von ihrem Ausbruch erschrockener als er.
Er hielt sie zurück, streichelte ihre Wange. „Es ist der Norogdún, nicht wahr?“
„Seine Worte waren wie giftige Schlangen. Und sie leisten ganze Arbeit.“
„Nicht nur die Worte. Deine Narbe brennt wie Feuer.“
„Die Narbe ist mein geringstes Problem. Mein Verstand ist es, um den ich mir Sorgen mache. Die Gedanken lassen mich nicht mehr in Ruhe.“
„Das ist doch kein Wunder. Der Kampf, die Sorge um Ciycain, das ewige Herumziehen, die überstandenen Gefahren, der Krieg, die zerstörte Heimat. Uns alle bedrücken düstere Gedanken, schreckliche Erinnerungen. Das braucht eine Weile. Wir alle kämpfen mit Albträumen, Ängsten, schlaflosen Nächten. Ich wäre besorgter, wenn es nicht so wäre.“
„Ich dachte, ich hätte es längst überwunden. Aber seit wir wieder im Süden sind …“
Sie schüttelte den Kopf und brach mit vor Kälte steifen Gliedmaßen in Richtung Ufer auf.
Er schwamm ihr hinterher, beschleunigte mühelos, als sie schneller wurde, bis sie sich schließlich einen Wettkampf lieferten, der ihn als ersten an Land spülte. Beide waren außer Atem. Das wilde Kraulen hatte ihre Körper erwärmt.
Sie rollten sich im noch warmen Sand ein.
„Bedenke“, raunte er wenig später, „dass die Ereignisse im Norden eine Lawine ins Rollen gebracht haben. Sie haben dein Leben auf den Kopf gestellt, deine Vergangenheit ans Licht gezerrt, deine Geheimnisse offen gelegt.“
„Das ist Monate her.“
„Und?“
Sie rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf ihren Arm „Und ich dachte, danach würde es leichter. Ich dachte, es würde mich befreien. Ich habe mich geirrt. Nichts ist leichter geworden. Ich hätte nie etwas sagen sollen.“
„Eine Nacht, Syra. Eine Nacht lang warst du stark genug, dich der Vergangenheit zu stellen.“
„Mir die Seele aus dem Leib zu würgen. Sehr stark, ja.“ Ein verächtliches Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Ihre Finger hieben auf den Sand.
„Das gehört vielleicht dazu. Und es ist ein Anfang. Aber es ist nicht das Ende. Du wirst noch viele Nächte brauchen.“
„Was ist, wenn ich darüber den Verstand verliere?“
„Wir passen auf, dass das nicht passiert. Wenn du möchtest, bleibe ich mit dir wach. Wir könnten am Strand übernachten. Nou wird Ciycain nicht aus den Augen lassen. Es ist schön in dieser Bucht. Ich kenne viele Geschichten und sogar einige Lieder. Wenn ich mich anstrenge, erinnere ich mich vielleicht an Adivs Schlaflied.“
„Du kannst nicht singen.“
„Dann summe ich. Leise. Ich verspreche es.“
Er spürte ihr Lächeln mehr, als er es sah, und ihm fiel ein Stein vom Herzen.
„Gut.“ Er stieß sich vom Boden ab und angelte nach seinen Kleidungsstücken. „So sehr ich deinen Anblick auch genieße, glaube ich doch, du solltest dich anziehen. Es wird frisch werden. Wir brauchen ein Feuer. Ich kümmere mich um Essen. Dort hinten habe ich Muschelbänke gesehen.“


Als er zurückkehrte, flackerte ein Feuer, das angenehme Wärme verströmte und ihr Gesicht rot leuchten ließ.
Er lächelte, als er ihre geschlossenen Augen sah und die regelmäßigen Atemzüge, die ihre Brust hoben und senkten, warf die Muscheln neben das Feuer und setzte sich hinter sie. Sie schlief im Sitzen, so wie sie auf ihn gewartet hatte, die Stirn auf ihre um die Knie verschränkten Arme gelegt. Er zog sie vorsichtig nach hinten, sodass ihr Kopf an seiner Schulter ruhte.
Als er gerade eingedöst war, schlug sie nach ihm. Er sprang mit wild pochendem Herzen auf die Beine, stieß sie zu Boden. Erstaunt sah er, dass sie erst davon erwachte und wie gejagt um sich schaute. Es dauerte Sekunden, bis sie völlig zu sich kam, in den Himmel blickte und leise stöhnte, während sie ihre Schläfe massierte und dabei die Narbe berührte. Er sah deutlich, wie sie das Gesicht verzog.
„Lass es mich behandeln“, sagte er.
Sie schoss ihm einen langen Blick zu.
„Syra. Es ist eine Entzündung. Ich könnte …“
„Ich habe schon alles versucht“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Du bist nicht der Einzige, der sich mit Heilkräutern auskennt.“
„Dann sollten wir einen Kundigen aufsuchen.“
„Jouka ist tot, genauso wie die Heiler der Dörfer im Süden und Westen.“
„Dann gehen wir zurück nach Fedaj.“
Sie sah ihn an, als sei er wahnsinnig geworden, suchte nach ihren Stiefeln und schlüpfte hinein.
„Es ist Sommer, warm genug für das Ostmeer. Wir nehmen ein Boot, wären noch vor den Herbststürmen da.“
„Ich habe genug vom Norden.“
„Du wolltest den Kaiserneffen im Blick behalten. Wir könnten das eine mit dem anderen verbinden.“
„Ich habe genug vom Norden“, wiederholte sie störrisch.
„Dort sind die weniger schlimmen Erinnerungen.“
„Die Wunde war verheilt! Zweieinhalb Jahre lang.“
„Ist dir schon jemals in den Sinn gekommen, dass es die Narbe ist, die dich nicht schlafen lässt? Die Schmerzen? Auch sie können einen Menschen um den Verstand bringen.“
Sie gürtete sich und begann, ihre Waffen zu verstauen. „Schmerzen“, sagte sie wegwerfend.
„Stimmt. Du bist ja über Schmerzen erhaben.“
Grüne Augen durchbohrten ihn. „Ich gehe zu Ciycain.“
„Sicher. Das Weglaufen löst ja alle Probleme.“
„Weißt du was? Das tut es tatsächlich.“ Ihre Stimme klirrte wie Glas, auch wenn sie heiser vor Müdigkeit war.
„Unsinn. Es bewirkt gar nichts.“
„Es bewirkt, dass ich die Dinge nicht ewig in meinem Kopf wiederkäue wie ein Moorschaf.“
„So lass sie frei.“
Jetzt hob sie die Hände und zerschnitt zornig die Luft. „Davanas, Gill! Dein ... Reden funktioniert nicht bei mir.“
„Das sagst du nur, weil du nicht bei Sinnen bist. Du bist übermüdet und fieberst…“
„Hör auf“, fuhr sie ihm ins Wort. Dann holte sie tief Luft. „Du hast recht: Ich war nicht bei Sinnen. In jener Nacht in Fedaj nicht und nicht mehr, seit wir im Süden sind. Ich war nicht bei Sinnen, als ich die Vergangenheit wieder in mein Leben ließ. Dabei hatte ich sie längst beerdigt. Es war ein Fehler. Ein gewaltiger Fehler.“
Damit ließ sie ihn stehen.

Die Mittagsglut beugte ihre Schultern. Hitzeschwaden wehten über die körnigen Wege, brachten alles Leben zum Erliegen.
„Ein Schmiedefeuer könnte nicht heißer sein“, stöhnte Mehlau und nahm zum zwanzigsten Mal an diesem Tag seine Kappe ab. Darunter klebte sein Haar, dunkel vor Schweiß.
Mannero, der neben ihm her trottete, warf ihm einen mürrischen Blick zu, antwortete jedoch nicht. Sein barhäuptiger Kopf glänzte in ungesundem Rot.
Mehlau hielt ihm die Kappe hin. „Hier, setz sie auf. Du riskierst einen Sonnenstich oder Schlimmeres.“
Der Freund verzog das Gesicht und stapfte weiter.
„Trottel“, murmelte Mehlau, schüttelte die Kappe aus, pustete mit vorgeschobener Unterlippe Luft auf seine Stirn und stülpte die Mütze wieder über den feuchten Schopf.
Zu beiden Seiten der Straße lagen verdorrte Wiesen mit stachligen Gräsern. Totes Unkraut begrenzte den Weg. Büsche knisterten und gelbes Laub raschelte in der kaum wahrnehmbaren Brise, die vom Fluss hinüber kräuselte.
Letzte Nacht hatten sie am Ufer kampiert, gierig nach Kühle und Frische. Vorgefunden hatten sie eine schlammige Rinne, durch die weniger als ein Fußbreit Wasser floss. Ablagerungen abgestorbener Wasserpflanzen klebten an den Uferrändern und verbreiteten modrigen Gestank. Vertrocknete Kadaver unzähliger Fische, Krebse, Frösche und Kröten sprenkelten das Flussbett, jeder einzelne gehüllt in Fliegenwolken.
Seitdem verfolgte sie der faulige Geruch. Dennoch hielten sie sich weiterhin in der Nähe des Wasserwegs. Jonoy behauptete, er führe sie auf einer seiner ausgedehnten Schleifen bis an die Grenze zur Schwesterinsel Prant. Außerdem sorgte das Wasser, so wenig es auch sein mochte, für zumindest ein bisschen Erholung vor den sengenden Strahlen. Noch trugen die Bäume in Ufernähe Laub, welches Schatten spendete, noch konnte man einige Handvoll Wasser schöpfen. Sie wagten nicht mehr, es zu trinken, nicht einmal abgekocht, doch zum Waschen reichte es.
Mehlau reckte den Hals, um die verkrampften Schultern zu lockern, hob die Arme über den Kopf und zog sie sofort wieder herunter, als er die Schweißflecken unter den Achseln bemerkte.
„Ich stinke“, erklärte er laut. „Ranzig wie ein altes Stück Käse. Wir alle stinken. Wir brauchen frische Kleidung. Ein Bad. Eine Pause.“
Die Klagen verklangen, ohne dass einer der Weggefährten reagierte, und er seufzte leise.
„Hier.“ Eine Kalebasse erschien vor seiner Nase, schreckte ihn aus seinem Selbstmitleid.
Er winkte ab. „Es gehört dir.“
Kians schwarze Augen funkelten ihn an. „Nimm nur. Ich habe nicht so viel Durst.“
„Wirklich nicht? Ich habe Halsschmerzen, so trocken ist meine Kehle. Manneros auch, denn er redet nicht einmal mehr. Ich halte die ganze Zeit schon Monologe. Das macht keinen Spaß.“
„Die Zeit vergeht nicht.“
„Du hast es begriffen.“ Mehlau blinzelte dem Knaben zu, dann griff er nach der Kalebasse, nahm einen verhaltenen Schluck und verzog das Gesicht. „Warm. Und ein bisschen abgestanden. Wir sollten frisches auftreiben.“
„Im Augenblick ist es das beste, was wir haben.“
Mehlau hielt inne. „Du hältst mich bestimmt für einen Nörgler. Normalerweise bin ich eine Frohnatur, aber das ewige Laufen und diese Hitze schaffen mich. Ich hätte nie gedacht, wie anstrengend Gehen sein kann.“
„Vor allem, wenn man wenig im Magen hat“, stimmte Kian zu. „Es dauert nicht mehr lange. Bald haben wir es geschafft.“
„Woher weißt du das?“
„Ich weiß es eben.“ Der Knabe zuckte mit den Schultern und wickelte sein Tuch straffer um Haupt, Hals und Nacken.
„Ist es nicht unglaublich warm unter dem Tuch?“
„Es hält die direkte Sonne fern, schützt die Haut.“
„Schadet sie dir denn? Ich meine, Mannero, der Meister und ich sehen aus wie frischgekochte Krebse, aber dein Bruder und du? Ihr seid dunkel wie doppelt gebackene Brote.“
„Trotzdem kann die Sonne uns verbrennen, zu einem Hitzschlag führen. Dies hier ist nicht die Wüste, doch es kommt ihr ziemlich nahe.“
„Es ist noch heißer bei euch? Das muss die Hölle sein.“
„Wir sind daran gewöhnt.“
„Für euch ist das hier nicht mehr als ein Ausflug, oder? Ihr schwitzt nicht, ihr esst und trinkt kaum etwas, dein Bruder schläft mit einem offenen Auge, du hast noch Luft zum Plaudern und wirkst bei all dem gut gelaunt und nicht besonders erschöpft.“
„Wir schwitzen auch und unsere Beine schmerzen, denn feste Wege wie diesen gibt es nicht auf Berlen. Wir denken nur nicht so oft daran.“
„Mhm“, brummelte Mehlau. „Zurechtgewiesen von einem Kind.“
Kian setzte zu einem weiteren Lächeln an, stockte dann jedoch. Seine Blicke flogen umher und seine Körperhaltung verriet jählings Alarmbereitschaft.
„Was?“ Der jüngere Schmiedelehrling merkte auf und kniff sich gleich darauf die Nase zu. „Was bei allen Feuern stinkt hier so?“, stieß er aus und schaute zu Akim, der sich aufgerichtet hatte und wie sein Bruder in alle Richtungen gleichzeitig sah und horchte.
Sie wittern.
Kian drehte als erster den Kopf zum Fluss und rannte los, durch die knisternden Sträucher und halb belaubten Bäume hindurch, gefolgt von den anderen. Als er wie angewurzelt stehen blieb, prallten die Männer aufeinander.
„Geh weg!“, rief Akim scharf, trat vor die Kadaver und stemmte die Hand auf Kians Brust. „Du musst das nicht sehen.“
„Ich habe schon tote Tiere gesehen. Und tote Menschen.“
„Lass ihn nicht zu nah heran“, überging Akim den Einwand. Über Kians Kopf hinweg sah er Mehlau an.
Der Schmiedegeselle nickte und zerrte den Wüstenjungen sanft mit sich fort, sprach beruhigend auf ihn ein. Jonoy und Mannero hingegen traten an die Leichen heran.
„Es sind alles Männer“, sagte Akim.
„Und sie liegen nicht erst seit heute hier“, presste Jonoy heraus, die Faust vor den Mund gelegt.
Der Fährtenleser zog ein Messer und zerschnitt die brüchige Jacke eines Verstorbenen. Als er das Kleidungsstück auseinanderriss, um die Brust freizulegen, stieg ein weiterer Schwall übel riechender Ausdünstungen in ihre Nasen und zwang sie, durch die Zähne zu atmen.
„Hammer und Amboss“, keuchte Mannero, „das ist vielleicht widerlich!“ Er beugte sich zur Seite und hustete würgend.
„Sein Tod war gewaltsam“, sagte Akim leise. „Der Leib ist gespickt mit Schnitten und Abschürfungen. Und wenn ich mir die verdrehten und gebrochenen Gliedmaßen der anderen beiden anschaue, glaube ich, dass niemand von ihnen eines natürlichen Todes gestorben ist.“ Nachdem er gesprochen hatte, trat er mehrere Schritte zur Seite und holte tief Luft.
Jonoy musste daran denken, dass die Madif Gerüche erheblich intensiver wahrnahmen. „Ich dachte mir schon, dass sie nicht zu dritt beim Fischen ins Wasser gefallen sind“, brummelte er. „Und von neuen kriegerischen Auseinandersetzungen ist mir nichts bekannt.“
„Wollt Ihr behaupten, sie wurden gemeuchelt?“ Die Erkenntnis ließ Mannero den Ekel für einen Augenblick vergessen.
Jonoy und Akim tauschten einen stummen Blick.
„Wann sind sie gestorben?“, fragte Mannero.
Der Fährtenleser zögerte. „Schwer zu sagen. An Land verwesen Tiere viel schneller als im Wasser, am schnellsten, wenn es heiß und feucht ist.“
„Es ist ziemlich heiß. Ihre Körper sind ganz schwarz.“
„Das kommt nicht von der Sonne. Das passiert während der Verwesung, normalerweise nach etwa zwei Wochen. Das passt auch zu ihren Augen. Seht Ihr? Sie werden flüssig.“
Mannero riskierte einen Blick und verzog das Gesicht.
„Aber diese Toten lagen zuerst im Fluss und danach an Land. Seht euch die Uferlinie an. Gewöhnlich steht das Wasser hier viel höher. Wasser verzögert die Verwesung und verändert das Aussehen. Ihre Haut wird seifig und die Körper blähen sich auf. Das macht eine Schätzung schwierig.“
„Also kann man den Todeszeitpunkt nicht genau bestimmen?“
Nachdenklich schritt Akim um die Leichen herum. „Diese Männer wurden nach ihrem Tod in den Fluss geworfen. Vielleicht wollte man sie beseitigen. Der Fluss nahm sie mit. Sie sind hier angespült worden, als der Wasserstand immer niedriger wurde. Dann trocknete der Fluss unter ihnen weg und sie lagen in der Sonne. Ich würde vorsichtig schätzen, dass sie vor zweieinhalb Wochen zu Tode kamen.“
Jonoy wies mit dem Stab auf die Toten. „Siehst du ihre Kleidung?“
„Uniformen.“
„Sind es Soldaten?“ Mannero würgte beim Sprechen.
Das ließ Kian aufhorchen, der auf die Straße gestarrt hatte. Er machte einen schnellen Ausweichschritt um einen verdutzten Mehlau herum und spurtete die kurze Distanz zu den Männern.
„Bleib weg“, wiederholte Akim mit einem Ausdruck leichten Ärgers.
„Wir müssen weiter.“ Kians Gesicht zeigte Entschlossenheit. Verschwunden war der kindliche Schalk, der ihm so oft im Nacken saß.
Jonoy musterte den Knaben. „Warum? Weshalb bist du so besorgt?“
„Weil es sich schlecht anfühlt. Wie ein dunkles Vorzeichen. Meine Arme kribbeln.“
Akim fuhr zusammen. „Was sagst du?“
„Meine Arme kribbeln. Dieses Gefühl stellt sich immer ein, wenn etwas Schlimmes in der Luft liegt. Wir sollten gehen. Rasch.“
Akim dachte nur kurz nach. „Tun wir, was er sagt.“
„Halte ein“, befahl Jonoy. „Wir sollten sie mitnehmen.“
„Die Kadaver?“ Ungläubig starrte Mannero seinen Meister an. „Wozu? Und wie?“
„Vielleicht kann man sie identifizieren. Das könnte aufschlussreich sein. Wir wissen nur, dass sie irgendwo aus dem Norden kommen, denn der Bene entspringt dort.“
„Warum kümmert Euch das? Ist das Aufklären von Todesfällen nicht Aufgabe der Wachen und Inquisitoren?“
„Schon. Nur ist Kian nicht der Einzige mit einem unguten Gefühl. Auch mein Bauch schlägt Alarm. Erst der Überfall, dann ermordete Soldaten. Das gefällt mir nicht.“
„Da gibt es doch gar keinen Zusammenhang.“
„Hoffentlich nicht. Doch ich habe gelernt, auf mein Bauchgefühl zu hören. Und auf Kians Vorahnungen.“
„Wie lang ist der Fluss?“, erkundigte sich Akim.
Jonoy nahm den Hut ab und kratzte sich am Hinterkopf. „Tja, das ist das Problem. Er fließt in vielen Windungen durch den westlichen Teil Yruishs. Von Nord nach Süd. Vom Berlenmeer bis ins Mittlere Meer. Es gibt unzählige Orte, an denen den Soldaten etwas zugestoßen sein kann.“
Akim überlegte. „Wohin gehen wir nun? Nach Yruish oder nach Perth? Wir sind etwa auf halbem Weg zwischen beiden Städten.“
„Yruish“, sagte Kian sofort. „Ylaiy kennt die Soldaten vielleicht. Oder einer seiner Militärs. Er wird wissen, ob es irgendwo Krieg gibt.“
Mannero und Mehlau nickten, doch Akim schwieg und Jonoy wackelte mit dem Kopf, als schöbe er die Entscheidung von einer Gehirnhälfte in die andere. „Soldaten sind tot“, sagte er. „Das ist bedenklich. Gab es einen Aufstand? Ist Ylaiy in Gefahr? Wem können wir trauen? Vielleicht sind wir im Palast nicht sicher. Es wäre nicht das erste Mal.“
„Außerdem kennen Ardanna und Adiv sich mit Verletzungen aus“, fügte Akim hinzu. „Möglicherweise lesen sie aus den Wunden der Männer die Art ihres Todes heraus. Ardanna lebt nahe der Hauptstadt. Sie kann uns Neues berichten. Danach können wir immer noch nach Ylaiy schicken oder ihn selbst aufsuchen. Perth scheint mir sicherer zu sein.“
„Gut“, entschied Jonoy. Kian sah kurz zu den Leichen, dann nickte er.
Mannero und Mehlau blickten sich betrübt an.
„Perth wird euch gefallen“, versicherte Jonoy den Gesellen.
„Yruish ist die Hauptstadt“, maulte Mannero.
„Mit einem Palast aus Gold und Marmor“, sagte Mehlau.
„Für manche ist der Palast so gefährlich wie die Höhle eines Löwen“, entgegnete Akim mit düsterer Miene. „Riesig und unübersichtlich. Bevölkert von vielen Menschen, die uns nicht wohlgesonnen sind.“
„In Perth hingegen wohnen Freunde. Und vermutlich die schönste Frau, die euch je begegnen wird.“ Der Schmied zwinkerte.
„Schöner als Ciana?“, wollte Mehlau wissen.
„Das entscheidest du besser selbst.“
Mehlau hob eine Augenbraue und blickte seinen Freund an. Mannero zuckte mit den Schultern. „Na los“, seufzte er.
Gemeinsam machten sich daran, die erste Leiche aus dem Flussbett zu bergen.
„Der ist verdammt schwer“, stöhnte Mehlau und quiekte, als er auf dem Schlamm ausrutschte und der Kopf des Toten in seinem Schoß landete. Hastig strampelte er den aufgedunsenen Körper von sich.
„Wie sollen wir die transportieren?“, fragte Mannero. „Nicht nur, dass sie viel zu schwer sind. Sie stinken fürchterlich. Vor ihrem Anblick graust den Menschen.“
„Dann nehmen wir nur die Köpfe mit“, beschloss Jonoy.
Die Häupter der Gesellen flogen herum. Auch die Wüstenbrüder schauten entgeistert.
„Die Köpfe? Meint Ihr das ernst?“, erkundigte Mehlau sich. „Müssen wir sie etwa abschneiden? Ich glaube nicht, dass ich das durchstehe. Allein bei dem Gedanken daran dreht sich mir der Magen um.“
„Du bist erbärmlich“, schalt Mannero ihn. „Benimm dich wie ein Mann.“
„Bitte. Ich lasse dir gern den Vortritt.“ Schon rutschte Mehlau auf dem Hosenboden die Uferböschung hinauf. „Ruhm und Ehre gehören dir ganz allein.“
„Feigling“, brummte der kahle Bursche, bückte sich und zupfte Flussgras aus den verfilzten Haaren der Leiche. Dann griff er mit sichtlichem Widerwillen nach dem Kinn des Toten und legte die Kehle frei. „Ein Messer“, brachte er heraus und streckte den Arm aus.
„Ein Messer“, knurrte Jonoy. „Du bist doch kein Barbier. Geh beiseite.“
Der Schmied drehte am Knauf seines Stabes und zog behutsam. Eine lange dünne Klinge kam zum Vorschein, biegsamer als jedes Eisen, das Akim zuvor gesehen hatte. Eine meisterliche Anfertigung.
„Ich dachte, Ihr schmiedet nicht mehr“, sagte er zu Jonoy.
„Das ist nicht mein Werk. Der große Kahlkopf da drüben hat die Klinge unter meiner Anleitung geschmiedet. Lass uns sehen, wie gut sie wirklich ist.“ Jonoy grinste mit zusammengebissenen Zähnen und holte aus.
Die Wüstenbrüder und Mannero wandten sich ab. Mehlau legte zusätzlich den Arm vor die Augen. Womit er nicht gerechnet hatte, war das klebrige Geräusch, mit dem die Klinge durch Haut, Sehnen, Knorpel und Knochen malmte.
Oy“, würgte der lange Lehrling angeekelt, als der abgetrennte Kopf die Böschung hinab kullerte und drohte, wieder ins Wasser zu fallen, was Jonoy mit einer raschen Bewegung seines Fußes verhinderte.
„Meister“, sagte Mannero, die Augen auf den Torso gerichtet. „Vielleicht müssen wir das Haupt gar nicht mitnehmen. Seht hier.“ Er bückte sich nach einem schimmernden Gegenstand. „Eine Kette. Mit einem Anhänger. Seltsam für ein Amulett.“
„Ich Dummkopf“, schimpfte Jonoy. „Natürlich! Soldaten tragen Erkennungsmarken.“
„So steht der Name darauf?“ Akim streckte die Hand nach dem Anhänger aus.
„Name und Dienstgrad, so weit ich weiß. Vor vielen Jahren habe ich eine solche Plakette sogar einmal angefertigt, für einen Soldaten, der seine im Suff verloren hatte. Von dem, was er mir bezahlte, konnte ich mehrere Wochen gut leben. Zeig mal her.“
Er nahm die Plakette entgegen und hielt sie dicht vor die Augen. Seine buschigen Brauen kringelten sich zusammen wie zwei vollgefressene Würmer. „Ein einfacher Dienstgrad, glaube ich, kein Offizier. Kolan Pies, wenn ich nicht irre. Soldat Pies. Das war eine gute Entdeckung, Mannero. Sie erspart uns viele Mühen. Lasst uns die restlichen Plaketten einsammeln. Außerdem sollten die Verstorbenen hier nicht liegen bleiben. Wir sollten sie begraben.“
„In dieser Höllenglut?“; beklagte sich Mehlau. „Der Boden ist steinhart und wir haben keine Grabstichel oder Ähnliches.“
„Dort drüben liegt ein umgestürzter Baum“, sagte Kian. „Er ist morsch, trocken wie Zunder. Wir können Späne und Scheite aus ihm herausbrechen. Wir benutzen das Flussbett als Feuerstelle, so sollten die Flammen sich nicht ausbreiten. In wenigen Stunden ist alles restlos verbrannt.“
„Jemand könnte das Feuer sehen“, wandte Akim ein.
„Jemand hätte auch die Leichen sehen können“, hielt Kian dagegen. „Vielleicht wurden sie ja auch absichtlich in den Fluss geworfen. Damit man sie findet.“
Die vier Männer sahen sich gegenseitig an.
„Weitere Einwände?“, fragte Jonoy.
„Nein.“ Mehlau stemmte sich vom Boden hoch. „Besser als Köpfe abzuschneiden oder in knochentrockener Erde zu graben. Ich kümmere mich um die Planken. Mit Holz und Feuer kann ich umgehen. Prägt ihr euch alle Verletzungen gut ein. Eure Heilerinnen müssen ohne Anschauungsobjekte rätseln.“

Der Mond leuchtete dürftig, Nebelschwaden strichen geisterhaft um ihre Beine. Sträucher und Bäume verschwammen zu einer Form ohne genaue Grenzen.
Sie waren in angespanntes Schweigen verfallen, seit sie die Toten dem Bach übergeben hatten und anschließend durch diesen gewatet waren, sich gegenseitig an den Händen haltend. Jetzt schlappten sie seit geraumer Zeit über den Inselstreifen, den sie und Rana am Tag zuvor durchquert hatten. Heute Nacht kam er ihr fremd vor, wie unbekanntes Terrain, das es umsichtig zu erkunden galt. Doch der Fluss war nah. Sie konnte ihn hören und riechen, die mattgrüne Oberfläche zwischen den Bäumen glitzern sehen. Ohne es zu merken, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie wollte weg hier. Alles war zu still, zu erstickt von Nebel und Zwielicht.
Sie schrie auf, als Ivson sie grob zurückriss und zur Seite wischte, bevor er auf die Baumreihe zupreschte.
Erst jetzt sah sie den Mann, der regungslos unter den Bäumen wartete, beide Arme an den Hosennähten. Er machte keinerlei Anstalten, anzugreifen oder auszuweichen, doch Sila sah Stahl an seiner linken Seite aufblitzen.
„Vorsicht!“, schrie sie. „Er hat ein Schwert!“
Ivson blieb mitten im Lauf stehen. Nur noch wenige Meter trennten ihn von dem Fremden, der nun wie beiläufig herangeschlendert kam, hölzern und gerade wie ein Brett.
„Kann ich behilflich sein?“, fragte er mit knarrender Stimme. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Soldat Kopret?“, fragte Sila.
Er blieb stehen und wandte sich ihr zu. „Derselbe. Ist etwas passiert?“
„Was tut Ihr hier?“
„Ich versehe meinen Dienst.“
Verunsicherung schwappte über Sila. „Dann wisst Ihr noch gar nichts?“
„Wissen? Wovon?“ Neugierig kam Kopret einen Schritt näher, verharrte jedoch, als die Frauen und Ivson in Alarmstellung gingen.
Beschwichtigend hob er die Arme. „Wovon wissen?“
„Von Euren Kameraden“, sagte Sila. „Davon, dass sie überfallen wurden in der letzten Nacht.“
„Ach das“, erwiderte Kopret ohne Anzeichen von Überraschung, zog das Schwert und schwang es in einer ansatzlosen Bewegung. Zu schnell für Silas Auge. Die Klinge funkelte kurz durch das milchige Licht, dann fiel Ivson mit einem Aufschrei nach hinten.
Seelenruhig kam Kopret auf sie zu, als hätte er lediglich einen Passanten gestreift; entspannt, das Gesicht ausdruckslos. Wäre es eine verzerrte Fratze gewesen, hätte sie längst das Weite gesucht, so aber blieb sie stehen und beobachtete erstaunt, wie der Mann, der gekommen war, sie zu töten, sich ihr näherte.
„Lässt er sein eigen Fleisch und Blut tatsächlich umbringen?“, rief sie ihm entgegen. „Seine leibliche Tochter?“
„Gewiss“, gab Kopret zurück. „Und den Enkel dazu. So niederträchtig ist er.“
„Dennoch steht Ihr in seinem Dienst?“
„Gewiss. Ich habe ihm Treue geschworen. Vor langer Zeit schon.“ Er ging weiter, ohne sich um Ranas flehende Rufe zu kümmern.
„Er ist ein Verbrecher, ein Frauenschänder und Kindermörder“, schrie Sila. Unbeholfen wich sie zurück und tätschelte Talin, der erwacht war und zu brüllen begann.
„Unschön, gewiss“, erwiderte Kopret und hob das Schwert. „Aber ich habe einen Eid geleistet. Habe ihm Jahrzehnte gedient. Er schuldet mir.“
Sila zuckte zurück. „Was?“
„Einen Herrensitz. Ein Zuhause.“
„Dafür tötet Ihr? Für einen eigenen Palast?“
„Wenn Vei gewinnt, bin ich frei und unabhängig. Siegt der Prinz, habe ich nichts. So einfach ist das. Lebt wohl.“
Kopret holte aus, begleitet von Silas entsetztem Aufschrei, Talins Brüllen und Ranas Wimmern.
In dem Lärm ging das Geräusch des heranzischenden Taus unter. Eine Schlinge senkte sich über Kopret, schnürte sich um ihn, riss ihn von den Füßen.
Sila und Rana schrien gleichzeitig auf, streckten die Arme nacheinander aus.
Ivson wankte heran, die Haare wirr vom Kopf abstehend, Wams und Hemd von dem Schwertstreich zerfetzt, die rechte Körperhälfte voller Blut, die Hose durchnässt von Tau und Urin. Er sah Sila und Rana abwesend an, entwand Kopret mit einem harten Ruck das Schwert und stieß es in dessen Hals.


Tief in der Nacht schaukelten sie auf dem Fluss, in sicherer Entfernung zu beiden Ufern. Die träge Strömung trug sie Richtung Süden. Vor Tagesanbruch würden sie eine Stelle zum Ankern finden müssen, verborgen vor neugierigen Blicken und Fragen, weil es besser war, niemandem zu trauen. Aber noch stand der Milchmond am Himmel, tunkte ihre Gesichter in weißes Licht.
Ivson saß abgewandt in der schmalen Bugspitze, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, dann und wann die Augen schließend. Doch sobald das Schwert auf ihn zu sauste und er über die Wurzel stolperte, riss er sie wieder auf. Eine Wurzel. Ein verdammter Knubbel am Wiesenboden. Unverschämtes Glück, nichts weiter. Vorsichtig rieb er über den Verband, den Rana angelegt hatte. Eine Fleischwunde. Schmerzhaft, aber nicht tödlich. Sofern sie sich nicht entzündete, hatte Rana gewarnt und eine Salbe über den Schnitt gestrichen.
Die Frauen waren wohlauf, saßen sich in der Mitte des Bootes gegenüber, Talin zwischen sich gebettet. Der Knabe schlief wieder, dank des Trankes, den Rana auf ihren Finger getröpfelt hatte. Der Junge hatte genuckelt und sich schnell beruhigt. Sie hatte ihm ebenfalls davon angeboten, doch er hatte abgelehnt. Er spürte den Schmerz sowieso kaum, dachte an seine Eltern und den Knubbel im Gras.
Sila war mehrmals zu ihm gekommen, hatte ihm gedankt, geweint, ihn wegen des Lassowurfs beglückwünscht, versucht, ihn zu trösten, ihm Essen und Trinken angeboten. Er hatte alles abgelehnt. Nahrung, Wasser, Trost, Dank. Er wollte allein gelassen werden.
Die Frauen redeten leise. Ihre Worte schwebten um ihn, schläferten ihn ein wie der sachte Schlag des Wassers gegen das Boot.
„Sein Name war nicht Kopret“, sagte Rana gerade. „Ich habe ihn ein paar Mal mit Vei gesehen. Aber er war ein tan, dessen bin ich sicher. Einer aus Veis Privatgarde. Hochadel. Ein verarmter jüngerer Sohn vermutlich, wenn er auf einen eigenen Palast aus war. Ich hätte ihn schon vorher erkennen müssen.“
Ivson ballte die Fäuste. „Was habt ihr bloß getan?“, sagte er, mehr zu sich selbst.
Rana wandte sich zu ihm um. „Wir haben geholfen, Vei seiner gerechten Strafe zuzuführen. Das war gut so. Richtig.“
„Es bringt Verderben über uns alle.“
„Hätten wir ihn gehen lassen sollen?“ Ranas sanfte Augen versenkten sich in seine.
„Schon möglich. Ja.“
„Deine Eltern haben sich heute vielleicht geopfert für eine gerechte Sache. Weil sie redliche Menschen waren. Beschmutze ihr Andenken nicht, indem du vor den bösen Menschen dieser Welt davon läufst.“
„Wir wollen nur in Ruhe leben.“
„Menschen wie Vei stiften Unfrieden. Lässt man sie gewähren, wird man keine Ruhe finden. Man muss sich ihnen stellen. Sie bekämpfen.“
Ivson blickte auf seine Pranken. „Die sind nicht zum Kämpfen gemacht.“
„Sie haben Silas Leben gerettet. Das werde ich dir nie vergessen.“
„Ich wünschte, ich hätte das nicht tun müssen. Ich wünschte, ich wäre zu Hause mit meinen Eltern und meinem langweiligen Hofleben. Ich wünschte, ich hätte euch nie kennengelernt.“ Er zog den Kopf zwischen die Schultern.
„Ich verstehe das“, sagte Rana traurig. „Es tut mir unendlich leid, Ivson.“

Adiv wühlte sich durch ihr Lager, rollte von einer auf die andere Seite, klopfte das Kissen zurecht, schob es unter ihren Kopf, stieß es beiseite, warf es gegen die Wand. Dann legte sie sich auf den Rücken, faltete die Hände auf ihrem Bauch, wie Ardanna es sie gelehrt hatte, versuchte, ihren Geist mit kontrolliertem Atmen in ruhigere Bahnen zu lenken. Doch das Kribbeln in ihrem Inneren brachte sie immer wieder zurück in die Wirklichkeit des schwach erleuchteten Schlafzimmers.
Gereizt bettete sie sich schließlich auf ihren Bauch, vergrub ihr Gesicht in dem zerknüllten Laken. Ihr war heiß, aber sie wagte nicht, ein Fenster zu öffnen, trotz des Messers unter ihrem Bett. Ein Andenken an die Jorgens und Norogdúns dieser Welt. Ihr Zimmer lag im oberen Stockwerk, aber sie wusste sehr gut, dass es Menschen gab, die sich aufs Klettern verstanden. Oder Wesen mit Flügeln.
In diesen Tagen war die Hitze kaum auszuhalten. Selbst die raffinierte Bauweise des Gebäudes versagte. Sie hatte überlegt, in eines der größeren Gemächer zu ziehen. In ihnen gab es ausgeklügelte Mechanismen zur Regulierung der Temperatur. Außerdem würde Maxim sie dort nicht vermuten.
Sie konnte sich nicht überwinden. Größere Räume bedeuteten mehr Verstecke, mehr Dunkelheit, mehr Ecken und Winkel, die sie vor dem Zubettgehen inspizieren musste. Bei dem Gedanken, die Nacht in einem unbekannten Raum zu verbringen, brach ihr der kalte Schweiß aus. Schlagartig sehnte sie sich nach einem Mann. Es gab kein Gesicht zu ihm, nur eine Vorstellung von einem Körper an ihrer Seite. Vor ihr, um genau zu sein. Zwischen ihr und der Tür.
Als sie merkte, wie Panik ihre Kehle kitzelte, setzte sie sich ruckartig auf. Das hier brachte nichts. Sie verfluchte den Angreifer. Sich selbst. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, eine andere Person zu sein. Eine stärkere.
Sie vergewisserte sich, dass Tür und Fenster wirklich verschlossen waren, bevor sie ihr Nachtgewand auszog und in ihr Sommerkleid stieg, leise die Tür öffnete und in den Korridor spähte.
Abgedunkelte Lampen spendeten gerade so viel Licht, dass sie ins untere Stockwerk gelangte, ohne sich den Kopf zu stoßen oder sich auf der Treppe die Beine zu brechen.
Auch das Erdgeschoss war menschenleer, doch aus dem Dienstbotentrakt hörte sie die beruhigenden Geräusche, die ihr so oft geholfen hatten, wieder in den Schlaf zu finden. Das Gekicher der Dienstmädchen, das unterdrückte Poltern und Scharren von Stiefeln und Stühlen in der Küche. Die Geräusche einer nächtlichen Residenz, die nie wirklich schlief. Tag und Nacht wurden Feuer am Leben gehalten und Speisen zubereitet, für Kranke, Alte und Bedürftige, die an der Hintertür auftauchten. Wäsche weichte in blubbernden Trögen, wurde geschrubbt und gewalkt, wieder und wieder gekocht, um Blut und Krankheitserreger abzuwaschen. Adiv wusste, dass männliche Bedienstete im Haupthaus und den Nebengebäuden nach dem Rechten sahen, in Schuppen, Scheunen und Ställe leuchteten. Dass die Stadtwache regelmäßig patrouillierte und zudringliche Bedürftige in Schach hielt. Dennoch spürte sie, wie die Härchen auf ihren Armen sich aufstellten, ihr Herzschlag sich beschleunigte.
Sie flüchtete aus dem Haus und eilte den Laubgang zum Haus der Kranken hinunter. Erst nachdem sie das flache Gebäude betreten hatte, normalisierte sich ihr Puls. Sie warf einen letzten Blick in die Dunkelheit, bevor sie den übernächtigten Pfleger, der den Eingang kontrollierte, begrüßte.
Er reichte ihr einen frischen Kittel. „Ihr wisst ja, wo Ihr alles findet“, brummelte er und gähnte.
Sobald sie den ersten Saal betrat, empfingen sie Geräusche. Stöhnen, Ächzen, Wimmern, Weinen. Dazwischen Schreie. Schnarchen, Schniefen, Aufseufzen, dann und wann ein lautes Darmgeräusch.
Wie eine Geistergestalt glitt sie an den Siechenden vorüber. Viele Menschen, die hier lagen, waren alt, die meisten gebrechlich. Einmal hier aufgenommen, verließen sie Ardannas Haus der Kranken nur noch selten. Sie starben hier, begleitet und umsorgt bis zum letzten Atemzug. In der Regel kannte Adiv die älteren Patienten. In den vergangenen Tagen jedoch waren so viele neue hinzugekommen, dass sie kaum ein bekanntes Gesicht erblickte. Fast alle wiesen Entstellungen in unterschiedlichen Graden auf. Ardanna hatte ihr erklärt, dass die Pocken spät im Verlauf der Krankheit auftraten. Zuvor litt man an heftigen Rückenschmerzen und Fieber. Nachdem die ersten Schübe abgeflaut waren, traten die Pusteln hervor, als unscheinbare Flecken zunächst, die sich nach und nach in die typischen Eiterbläschen verwandelten.
„Oft halten die Leute die Krankheit für eine Erkältung“, hatte Ardanna erläutert. „Die Betroffenen haben schwere Glieder, Schmerzen, die sie oft nicht lokalisieren können, Fieber, Schüttelfrost. Dann schwindet das Fieber und sie denken, sie haben es überstanden. Dabei geht es jetzt erst richtig los.“
„Was kann man tun?“
„Nicht viel. Die Symptome lindern. Schmerzen, Fieber und Pusteln behandeln.“
Nur wenige Patienten schliefen ruhig. Die meisten jammerten, stöhnten, krümmten sich, reckten Arme in die Luft oder wanden sich, weil sie glaubten, zu verglühen. Vor langer Zeit war die Kriegerin in den Schnee gekippt wie ein gefällter Baum, erinnerte sich Adiv so plötzlich, dass sie stehenblieb. Das Fieber in ihr hatte gelodert und sie hatten sich hilfloser gefühlt als in jedem Kampf.
Mittlerweile wusste sie besser, mit Erkrankten umzugehen. Man konnte sie heilen. Helfen. Sie konnte das.
Sie bog in den Sonnensaal ab. Augenblicklich entdeckte sie Ardanna, die schlummernd an einer Bettstatt saß, die Hand der Patientin auf ihrem Schoß.
Adiv trat näher und tippte Ardanna an.
Die Heilerin fuhr hoch.
„Ich bin es nur. Wie lange sitzt Ihr schon hier?“
Behutsam legte Ardanna die Hand der kranken Frau zurück auf deren Leib. Die Frau seufzte, bewegte sich kurz und war dann wieder still.
„Ich weiß nicht genau“, murmelte die Heilerin, sich den schmerzenden Nacken massierend. „Muss wohl eingenickt sein. Ist alles in Ordnung?“
Adiv wies auf die Kranke. „Sie schläft. Ein gutes Zeichen.“
„Ja.“ Ardanna lächelte müde. „Ich treffe ungern Voraussagen, doch ich glaube, sie hat es geschafft. Natürlich wird sie Narben zurückbehalten, aber ich habe sie vorhin untersucht und denke, sie wird Glück haben. Bis jetzt zeigen sich keine Folgeschäden.“
„Welche wären das?“
„Hirnschäden, Erblindung, Ertaubung, Lähmungen. Auch von Lungenentzündungen habe ich gehört. Doch sie scheint geheilt. Alles, was sie nun braucht, ist Erholung. Sie heißt Dani. Sie hat eine kleine Tochter namens Gordis und einen tüchtigen Mann. Ich hoffe, wir lernen ihre Familie nur als Besucher kennen.“ Ardanna rieb sich über die eingesunkenen Augen.
„Habt Ihr wenigstens ein bisschen geschlafen?“
„Zwei Stunden wie ein Neugeborenes. Es geht mir gut. Ich habe schon schlimmere Zeiten hinter mir. Manchmal muss man eben von seinen Reserven leben, sich kleine Pausen suchen. Wie geht es dir?“
„Die Dämonen jagen mich“, gab Adiv zu. „Hier bin ich nützlicher als wach auf meinem Lager. Während des Tages werde ich Schlaf nachholen. Dann sind Eure Pfleger und Bettfrauen hier.“
„Du schläfst lieber im Hellen.“
„Glaubt Ihr, den anderen geht das auch so?“
„Es würde mich wundern, wenn nicht. Wollen wir nach Bartam sehen?“
„Ist das der Mann im linken Flügel? Ist er noch am Leben?“
„Ich hoffe es. Der Pfleger hat mich nicht geholt bisher.“
Sie legten den Rest des Weges schweigend zurück, um die Schlafenden nicht zu wecken und die Dämmernden nicht aufzuschrecken. Zwei Bettfrauen, die systematisch die Lager abschritten und nach den Patienten sahen, warfen sie einen stummen Gruß zu. Dann bogen sie um die letzte Ecke und blieben wie angewurzelt stehen.
An der Bettstatt eines dünnen, von Pocken übersäten Mannes stand Arlen. Er hatte beide Hände auf den Kopf des Kranken gelegt und schaute an die Saaldecke. Seine Augen waren geschlossen, er stand still wie eine Skulptur. Nur die Lippen bewegten sich. Er sah aus, als ob er bete.
Adiv wusste, dass Arlen nicht zu Göttern sprach. Ihr Herz wurde zu einem Klumpen Eis. Sie stürzte nach vorn und riss den Jungen von dem Mann fort. Arlen leistete keine Gegenwehr. Er erschrak nicht einmal. Als er den Kopf senkte und sie ansah, war es, als würde er erwachen.
„Was in Kaas Namen tust du da?“
„Ihn begleiten“, gab Arlen erstaunt zurück.
„Was?“
„Du sagtest, ihr lasst sie nicht allein gehen.“
„Du wolltest Mitgefühl zeigen?“ Ardanna musterte den braungelockten Knaben, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
„Er wird sterben. Nicht so die Frau. Sie wird sich erholen.“
„Du warst bei Dani?“ Fassungslos starrte Adiv ihren Ziehsohn an.
„Ich berührte sie an ihrem Geist und habe einen Funken gespürt. Bei ihm spüre ich nichts. Nur Dunkelheit. Als verlösche ein Licht.“
Arlen wirkte zutiefst betrübt und Adiv merkte, wie ihr Ärger schwand. Schon lange hatte er nicht mehr so kindlich ausgesehen wie jetzt. Sie widerstand dem Impuls, ihn an sich zu drücken, weil sie wusste, dass er Berührungen wie diese seit dem Tod seiner Mutter nur schwer ertrug.
Ardanna trat zu Bartam, hob dessen Lider, fühlte nach dem Herzschlag. „Der Puls flackert nur noch. Wir sollten uns auf das Schlimmste gefasst machen.“
„Es ist nicht schlimm“, widersprach Arlen. „Die Dunkelheit, die ihn umgibt, ist sanft. Er ist zufrieden. Er wartet auf den Tod. Es ist seine Zeit.“
„Ich kriege Gänsehaut, wenn du so redest“, sagte Adiv.
Ardanna musterte den Knaben. Dann winkte sie ihn heran. „Zeig mir, wo du das spürst. Wie. Ich sehe, dass er sterben wird. An Körperreaktionen, Gesicht, Augen. Ich fühle seinen Puls, seine Atmung, registriere seine Temperatur, die Beschaffenheit seiner Haut. Ich habe diesen Mann tagelang beobachtet. Woran spürst du es?“
Arlen wies auf den Kopf Bartams. „Hieran.“
„Scharlatane sprechen so. Sie legen die Hand auf, fühlen etwas, äußern sich unbestimmt. Bist du ein Scharlatan?“
„Nein. Ich kann seinen Geist greifen.“
„Zeig mir, wie.“
Arlens Augen zuckten zu Adiv. „Erlaubst du es?“
Adiv rollte die Unterlippe zwischen den Zähnen und überlegte. „Ardanna“, sagte sie dann langsam. „Es gibt da Dinge, die während der Langen Reise passiert sind. Die wir verschwiegen haben, weil sie … nun ja, weil sie absonderlich sind. Dinge, für die man uns für verrückt erklären würde. Die gefährlich sind.“
„Dinge wie einen Knaben, der Gefahren vorausahnt und schneller wächst als jedes andere Kind? Der redet und sich benimmt wie ein Erwachsener? Der in den Geist eines Menschen greifen kann? Meinst du so etwas?“
„So etwas, ja.“
„Mach dir keine Gedanken deswegen. Arlen ist nicht der Einzige auf der Welt mit besonderen Gaben. Wollen wir anfangen?“
Der Junge nickte, trat zurück zu dem Sterbenden und legte seine Hände auf dessen Kopf.
Adiv hielt nach außergewöhnlichen Handgriffen Ausschau, doch Arlen berührte einfach nur den Schädel, knapp oberhalb der Stirn, in der Nähe der großen Fontanelle. „Hier“, sagte er.
Ardanna beugte sich über Bartam. Arlen nahm ihre Hand, presste sie auf das spärliche, verschwitzte Haar des Kranken, legte seine Hände auf die ihre.
Dann verklärte sich sein Blick. Seine Augen drehten sich nach innen, der Atem wurde schneller. Ardanna erstarrte. Ihre Augen schlossen sich. Adiv sah, wie winzige Schweißperlen auf ihre Stirn traten und an den Rändern ihres Gesichts hinunterliefen. Ihre Haut wurde rot und auch ihr Atem beschleunigte sich.
Die Diebestochter sprang hinzu, als die Hände der beiden zu wabern begannen. Als würden sie sich auflösen und miteinander verschmelzen. Deutlich sah sie die komplizierten Knochenmuster im Inneren. Dann riss sie Arlens Hände hinunter und der Spuk endete. Hastig inspizierte sie die Kinderhände und die ihrer Gastmutter. Nichts. Keine Verletzung, keine Verformung. Sie strahlten lediglich eine unangenehme Wärme aus.
„Puh.“ Die Heilerin wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das war … intensiv. Aber du hattest recht. Er stirbt in Frieden. Danke, Arlen.“
Ardanna lächelte den Knaben an, erleichtert, wie Adiv schien. Als hätte Arlen sie von einer Bürde befreit.
„Äh“, setzte Adiv an, doch in diesem Moment verbeugte Arlen sich, wünschte eine gute Nacht und entfernte sich so leise, dass sie nicht einmal seine Schritte hörte.
Ardanna fächerte sich mit beiden Armen Luft zu, bevor sie Adiv ansah. „Außergewöhnlich, wirklich. Außerweltlich. Als könnte ich in den Gedanken Bartams lesen. Sein gesamtes Leben auf einmal ... erleben. Überwältigend. Beängstigend, aber … puh!“
„Behaltet es für Euch, ja?“, bat Adiv.
Ardanna starrte ihre Gehilfin an. „Die anderen Kinder, die auch entführt wurden von diesem Verrückten: Sind sie wie Arlen?“
Adiv rang mit sich, gab nach langem Zögern nach. „Wir nennen sie Besondere Kinder. Wir wissen nicht genau, wie sie ihre Kraft einsetzen, was sie alles können, aber wir haben einen Vorgeschmack bekommen auf der Reise. Ihre Begabung, ihre ... Macht war der Grund, warum sie entführt wurden. Deshalb halten wir es geheim.“
„Ihr fürchtet, man könnte sie missbrauchen, die Macht.“
„Oh ja.“
„Aber man könnte sie auch nutzen! Der Junge könnte ein begnadeter Heiler werden! Er spürt Symptome. Noch ist es pure Intuition, doch wenn man ihn ausbildet, wenn er versteht, wie alles zusammenhängt, dann könnte er Gutes tun. Viel Gutes.“
„Er war im Geist dieses Mannes. Was ist, wenn er ihn beeinflusst? Daran herumpfuscht? Was ist, wenn andere ihn zwingen, es zu tun? Das hier muss unter uns bleiben!“

Thrageshs Missmut wuchs mit jedem Schritt, der sie weiter ins Herz der elenden Insel führte. Zuerst hatte sich Kâneggs Ostseite eher als bewaldetes Moorland entpuppt - den Göttern sei Dank. Der Weg nahe der Küste entlang war angenehmer gewesen, als er erwartet hatte, bis sein Schützling abrupt ins Landesinnere geschwenkt war. Von da an war der Untergrund nachgiebiger geworden, die Wälder dichter, die Mühsal größer. Seit sie in die fernab aller Pfade gelegenen Sümpfe eingedrungen waren, wandelte sich der Marsch zur Tortur.
Er wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Mittlerweile war die Luft so schwül, dass sein Körper keine Feuchtigkeit mehr abgeben konnte. Er vermisste den kühlenden Luftzug in der Nähe des Ostmeeres.
Yvain schien von all dem unbeeindruckt. Trotz der Anstrengung und der Trauer, die ihn einhüllte, wirkte er frisch und entschlossen. Ohne zu zögern stapfte er voran, als folgte er einem Faden, der ihn auf verschlungenen, nur für ihn sichtbaren Wegen nach Yruish führte.
In der letzten Nacht hatten sie unweit eines Dorfes gerastet, das so versteckt lag, dass Thragesh es erst wahrnahm, nachdem Yvain ihn auf den Geruch der Feuerstellen aufmerksam gemacht hatte. Shesh war so ehrlich, sich einzugestehen, dass er die Feuer inmitten der stinkenden Sumpfschwaden niemals bemerkt hätte. Ebenso wenig wie die Geräusche der Menschen, die von der Umgebung verschluckt wurden. Sie hielten sich von den Dorfbewohnern fern. Sumpfvolk, hatte Shesh verblüfft gedacht. So war es doch nicht vollständig ausgerottet.
Nach Einbruch der Morgendämmerung hatte Yvain ihn südlich in einem Bogen um das Dorf herumgeführt. Seit sie das Innere der Sümpfe betreten hatten, vermieden sie nächtliche Märsche. Das Gelände war so unwegsam geworden, dass selbst Yvain vor der Dunkelheit kapitulierte.
Erneut wischte Shesh sich über die Stirn. Ein hoffnungsloses Unterfangen, da sein Arm ebenso schweißbedeckt war. Er fühlte sich schmutzig. Schmierig. Die Kleidung klebte, stank und lag nachts klamm auf der Haut. Stechmücken schwirrten in Trauben um ihn, besetzten jede Körperöffnung, so winzig sie auch sein mochte. Selbst in offene Wunden stießen sie und von denen gab es an seinem Körper dank der dornigen Ranken und stacheligen Buschbäume in den Küstenwäldern viele. Unablässig wedelte er mit den Armen, um die Blutsauger zu verscheuchen, doch sie folgten ihm wie sein Schatten. Yvain schwitzte und schnaufte nicht halb so schlimm wie er, und so umschwärmten ihn die Insekten in weitaus kleineren Formationen.
„Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?“
Sie waren am Rande eines Gewässers angekommen. Einer der unzähligen Sumpfseen, von denen er gehört hatte. Der erste, der ihnen den Weg verstellte.
Yvain warf ihm lediglich einen stummen Blick zu.
Thragesh seufzte innerlich. Während der ersten Tage nach dem Überfall hatte er Yvain die Frage pausenlos gestellt und Yvain hatte versucht, ihm zu erklären, dass er den Weg nicht kannte, weil er ihn niemals zuvor gegangen war, dass er dennoch wisse, irgendein Teil in ihm, welche Richtung er einschlagen müsse.
Thragesh verstand ihn nicht. Schließlich hatte Yvain zur Erklärung Windrichtungen, Pflanzenbewuchs, Sonnenstand und Sternenkonstellationen bemüht. Natürliche Phänomene. Begreifbare Begründungen. Vernünftig. Erlernbar. Notlügen, die Shesh durchschaute, für die er aber dankbar war.
„Wohin nun?“, stellte er die Frage neu. „Ich hoffe, du willst nicht mitten durch.“
Yvain trat an den Rand des schmutzigbraunen Sees. Aus dem trüben Wasser ragten abgebrochene Baumstümpfe, deren Rinde so abgeblättert war, dass sie aussahen wie abgenagt. Zwischen den Baumkegeln wanden sich ineinander verschlungene Äste und Zweige, halb bedeckt von Wurzeln und schwimmendem Moos. Das Gewässer wirkte flach, aber Thragesh befürchtete, dass es trügerische Löcher unter der Oberfläche gab und dass das tote Geäst zu gefährlichen Stolperfallen werden konnte. Außerdem gab es eine Reihe von Reptilien und Amphibien, die sich in der Sumpfbrühe wohlfühlten, viele von ihnen giftig. Shesh, der Soldat, war beileibe kein furchtsamer Mann, aber bei dem Gedanken an schuppige Haut und zischelnde Zungen lief ihm ein Schauer über den Rücken.
Sein Schützling fischte einen langen, dünnen Stock aus dem Wasser und stocherte den Uferbereich ab. „Kaum mehr als knöchelhoch. Es ist der kürzeste Weg. In Minuten sind wir drüben.“
Unbehaglich kratzte Thragesh sich am Hinterkopf. „Durch diese Suppe? Wir wissen nicht, was darunter ist.“ Er stierte auf den aufgewirbelten Schlamm.
„Jeder nimmt zwei Stöcke. Sie geben uns Halt und verscheuchen Schlangen und andere Tiere. Die meisten von ihnen flüchten sowieso, wenn sich größere Wesen nähern.“
„Alligatoren auch?“
„Wahrscheinlich nicht“, entgegnete Yvain ehrlich. „Hoffen wir, dass sie schlau genug sind, sich nicht mit zwei Menschen anzulegen.“
„Mir wäre außen herum lieber“, gab Thragesh zu. „Selbst wenn es ein Umweg ist.“
„Aber auch dort gibt es Gefahren. Wasserlöcher, Schlingwurzeln, giftiges Gestrüpp. Und falls wir verfolgt werden, schütteln wir sie hier am wahrscheinlichsten ab. Sie werden nicht glauben, dass wir im wahrsten Sinne durch die Sümpfe gehen.“
„Das weißt du nicht.“
„Nein.“
„Denkst du, sie sind uns gefolgt?“
„Falls sie gemerkt haben, dass wir nicht unter den Toten sind, ja.“
„Spürst du sie?“ Thragesh stellte die Frage zögerlich. Er wusste seit Langem, dass Yvain ein ungewöhnliches Kind war, doch auf ihrer Reise wurde es Tag für Tag offensichtlicher und es verstörte ihn zunehmend. Yvain wurde ihm unheimlich. Der Knabe schien nicht nur über die Maßen ausdauernd; er sah auch durch Dunkelheit und Dickicht hindurch und litt weder unter der Hitze, noch unter Hunger und Durst, noch unter der Insektenplage.
Sein Schützling - Wer beschützte hier eigentlich wen? - sah ihn mit geschürzten Lippen an, als erwäge er, welche Antwort er geben solle. „Nein“, erwiderte er dann. „Ich spüre keine Verfolger. Das heißt aber nicht, dass sie uns nicht auf den Fersen sind.“
„Hm.“ Thragesh beschlich das Gefühl, dass Yvain nicht die Wahrheit sagte. „Trotzdem beharrst du auf dem kürzeren Weg?“
„Ich beharre nicht darauf. Ich sage nur, dass es der kürzere Weg ist. Und nicht gefährlicher als die anderen.“
„Aber auch nicht ungefährlicher.“ Thragesh bückte sich mit grimmiger Miene nach einem dicken Ast.
Yvain antwortete mit einem Lächeln, das wirkte wie eine Entschuldigung. Thragesh musterte den Jungen, der unter all dem Schmutz der letzten Woche immer noch auffallend erholt aussah. Blaue Augen mit goldenen Flecken leuchteten ihm entgegen, aus einem Gesicht ohne jeglichen Makel, einem Gesicht, das kaum einen Kratzer aufwies, während sein eigenes übersät war von Schrammen und Moskitobissen. Yvains blondes Haar war schmutzig und fiel ihm weit in die Stirn, aber es sah nicht annähernd so verdreckt aus wie Thrageshs. Der hatte seine schweißfeuchten Strähnen längst in einen Knoten gezwungen, damit der Nacken frei lag.
„Na los“, gab er nach. So war es immer. Yvain hatte sich durchgesetzt. Wie er das fortwährend schaffte, war Shesh ein Rätsel.
Vorsichtig setzte er einen Fuß ins Wasser, nachdem er mit dem Stecken im Uferschlamm gestochert hatte. Käfer und Fluginsekten folgten ihm.
Thrageshs Unmut wuchs, als er feststellte, dass das Wasser sich nicht einmal erfrischend anfühlte. Es war handwarm und roch abgestanden. Ungesund. Er meinte, förmlich zu spüren, wie Parasiten in die Stiefel schwappten und schleimige Egel sich an ihn hefteten, um sein Blut zu saugen. Immer wieder kniff er Augen und Lippen zusammen und verfluchte seine Einbildungskraft. Um sich abzulenken, konzentrierte er sich auf den Untergrund, der nur zu erfühlen war. Seine Fußspitzen tasteten den Boden vor ihm ab, bevor er sie aufsetzte. Den Stock in der linken Hand benutzte er als Stütze, mit dem anderen hieb er in Kreisen über das Wasser. Mit Erfolg: Kleinere Reptilien suchten überstürzt das Weite, schwimmend, schnellend, über das Wasser flitzend.
Sie erreichten das gegenüberliegende Ufer mit durchnässten Stiefeln und Hosenbeinen, jedoch ohne Zwischenfälle. Die Feuchtigkeit war unangenehm und würde ihre Füße aufweichen, da sie in der bleiernen Luft kaum verdunsten konnte, dennoch war Thragesh erleichtert. Sobald sie den Streifen trockenen Landes erklommen hatten, unterzog er seinen Körper einer schnellen Überprüfung. Keine Bisse, Stiche oder anderen Verletzungen. Keine Egel. Er atmete auf.
Doch die neu gewonnene Tatkraft hielt nur so lange vor, bis der nächste Tümpel vor ihnen auftauchte. „Oh nein“, stöhnte er halblaut. „Sieh dir das an! Nichts als Wasser. Sumpfseen, Gräben, Rinnen, wohin man auch schaut. Ein Albtraum!“
„Hilft nichts“, entgegnete Yvain. „Weiter.“
Thragesh blies die Wangen auf und setzte sich erneut in Bewegung. Nach wenigen Schritten fiel ihm auf, dass Yvain langsamer wurde und sich immer häufiger umsah. Thrageshs Herzschlag beschleunigte sich. Er reckte den Hals in alle Richtungen, aber er sah nichts. Keine sich windenden Tiere, keine Schuppenpanzer. Im Schleichtempo watete er weiter, während seine Augen über die Umgebung irrlichterten.
Plötzlich blieb Yvain ruckartig stehen. „Sie ist da.“
„Wer…“, setzte Thragesh zu einer Frage an, wurde aber von dem Jungen im selben Moment so heftig nach vorn gerissen, dass er ins Straucheln geriet.
Zum Glück. Ein faustgroßer Stein pfiff vorbei, verfehlte seine Schläfe nur um Zentimeter. Den zweiten Stein sah er kommen und konnte ihm ausweichen, indem er ungelenk auf ein Knie sackte. Er streifte ein Ohr, entlockte ihm einen überraschten Wutschrei. Shesh riss das Schwert aus der Scheide, doch Yvain fiel ihm in den Arm.
Ch’eo‘a! Haltet ein!“, schrie er aus voller Kehle in seiner hellsten Kinderstimme. „Astao’e a dawoanase‘i! Wir kommen als Freunde! Steck die Waffe ein, Shesh.“
Thragesh gehorchte. Seine tief liegenden Augen wurden groß, als gleich darauf eine Frau von einem der kaum belaubten, dürren Bäume ins Wasser sprang, einen dritten Stein wurfbereit in der Faust. Erneut fuhr seine Hand an den Schwertgriff, doch Yvain hielt ihn ein weiteres Mal zurück.
„Syriakin“, sagte er in der ihm eigenen, förmlichen Art. „Seid gegrüßt. Ich hoffe, Ihr seid wohlauf.“
„Yvain.“ Die schwarzhaarige Frau wirkte verblüfft, wenngleich sie dies rasch überspielte. Ihr Gesicht, gesprenkelt von Rindenstückchen, Harz und Überresten einer grauen Paste, verschloss sich so schnell, wie ihre Steine geflogen waren. Sie musterte abwechselnd den Jungen und Thragesh mit langen, intensiven Blicken, unter denen der Soldat sich unwohl fühlte. Ihr Körper, schlank und biegsam wie der Stecken, der vor ihm trieb, blieb in Habachtstellung.
Yvain nahm die Hand von Thrageshs Unterarm und trat einen Schritt auf die Frau zu. Er stieß einen tiefen Atemzug aus, sagte aber nichts, als wüsste er nicht, wie er anfangen sollte. Selten hatte er kindlicher gewirkt als in diesem Augenblick.
„Was ist geschehen?“, fragte die Frau mit rauer Stimme. Shesh war erstaunt. Sie sprach Yr. Nicht ganz frei von den Einflüssen ihrer Muttersprache, aber flüssig und gut verständlich. Dabei gehörte sie offensichtlich zum Sumpfvolk. Ihre Haut war noch um einige Schattierungen dunkler als seine eigene. Sie war größer und muskulöser als die meisten Frauen, die er kannte. Nicht weiblich genug für seinen Geschmack, wenngleich er ihre ebenmäßigen Züge auf eine herbe Art anziehend fand.
Yvains Unterlippe zitterte und seine Nasenflügel bebten, doch er behielt seine Stimme unter Kontrolle. „Wir wurden überfallen. Sie haben alles niedergebrannt. Alle sind tot. Wir sind geflohen.“
„Wer ist das?“ Ihre Frage klang schroff. Feindselig.
„Thragesh. Ein treuer Mann.“
Sie bedachte Thragesh mit einem weiteren bohrenden Blick. „Ein Soldat.“
„Ich vertraue ihm. Er beschützt mich.“
„Werdet ihr verfolgt?“
„Wissen wir nicht. Aber wenn, dann kennen sie unser Ziel.“
„Yruish.“
„Wir müssen Ylaiy verständigen. Die Kaiserin.“
„Kommt.“ Ohne weitere Worte wandte sie sich nach Osten.
Thragesh angelte nach dem Stecken, kam auf die Füße und sah seinen Schützling fragend an.
Yvain zögerte. „Wir gehen in die falsche Richtung. Ihr führt uns zurück.“
„Ich führe euch in Sicherheit. Vorerst.“
„In das Dorf?“
„Yanois.“
Thragesh erinnerte sich an den Geruch der Feuerstellen in der vergangenen Nacht. „Lebt Ihr dort?“ Es waren die ersten Worte, die er an sie richtete.
Sie blieb stehen, sah sich aber nicht nach ihm um. „Nein.“
„Werden sie uns willkommen heißen?“
„Nicht alle.“
„Ist sie dort?“, fragte Yvain.
Sie blickte kurz einem Schwarm winziger Vögel nach, der nicht weit von ihnen aus einer Baumkrone stob. „Bist du deswegen hier? Wegen ihr?“
„Nein.“
„Warum dann der Weg über den Osten? Er ist länger. Bantafej und Da’arc wären bequemer zu erreichen gewesen.“
„Und offensichtlichere Ziele. Quer durch die Sümpfe war der sicherste Weg.“
„Ist dir klar, was du sagst? Diese Tümpel sind nur der Anfang. Die Ausläufer. Die Randgebiete. Dahinter beginnen die Sümpfe. Dein Freund dort wird sterben.“
„Hey“, protestierte Thragesh, aber sie beachtete ihn nicht.
„Wenn wir über den Westen gehen, sterben wir beide“, konterte Yvain.
„Jede Garnison würde euch Geleit bieten.“
„Ich traue Euch mehr. Ihr habt mich schon einmal gerettet.“
Yvains Bestimmtheit ließ sie verstummen. Wieder musterte sie ihn lange, dann schüttelte sie den Kopf und setzte sich in Bewegung. „Bist du sicher, dass du nicht wegen ihr hier bist? Du weißt, was wir beschlossen haben.“
Thragesh schwirrte der Kopf. „Wer seid Ihr? Woher kennt ihr einander?“
„Das ist Syriakin“, sagte Yvain, als sie nicht reagierte. „Sie führte die Gruppe an, die uns damals rettete.“
„Als du entführt wurdest?“
„Ich und die anderen.“
„Die anderen?“
„Meine Mutter hat dir nicht viel erzählt, nicht wahr?“
„Offenbar ni…“ Abrupt hielt er inne, um nicht gegen die Sumpffrau zu stoßen, die ohne Vorwarnung stehengeblieben war und sich nach ihnen umdrehte.
„Ist sie tot?“
„Alle sind tot.“ Yvains Antwort kam dumpf. Unbeteiligt.
Zum ersten Mal entdeckte Thragesh in der unergründlichen Miene der Sumpffrau so etwas wie Gefühle. Ihre Augen umschatteten sich. „Deine Mutter war eine gute Frau“, sagte sie leise.
Yvain senkte den Kopf. Syriakin betrachtete ihn schweigend. Thragesh wartete auf eine Geste des Trostes, aber es kam keine. Sie stand nur da und sah auf den Jungen hinab.
Schließlich blickte Yvain auf. „Sie ist nicht in Yanois? Ich hatte gedacht…“
„Dass du sie gespürt hättest?“ Ihre Stimme wurde härter. „Also tut ihr es doch. Euch spüren.“
„Ich habe sie über zwei Jahre lang nicht gefühlt. Erst gestern Nacht, da war mir, als … ich weiß nicht. Ich weiß, es ist gegen die Abmachung, aber wir können es nicht ändern.“
„Wovon spricht er?“, fragte Thragesh.
„Von meiner Tochter. Die Kinder, die entführt wurden… Sie sind anders. Ist Euch das nicht aufgefallen?“ Ihre grünen Augen versenkten sich in ihn.
„Nun ja. Er ist irgendwie seltsam. Entschuldige, Yvain.“
„Ciycain ist auch so. Seltsam“, betonte sie und nahm ihren Marsch wieder auf.
„Wo ist sie? Habt Ihr sie zurückgelassen? Wo ist Euer Gefährte? Seit wann verfolgt Ihr uns?“, löcherte Yvain sie.
„So habt ihr Yanois passiert.“
„Wir haben Abstand gehalten, aber dort dachte ich, ich hätte sie gespürt.“
„So, wie du mich gespürt hast?“
„So ähnlich. Ich war mir sicher, dass jemand uns beobachtete an diesem Wasserloch. Irgendwann hatte ich dann eine Ahnung von Euch.“
„Du hast die Gefahr gespürt. Das nennt man Instinkte. Ich habe sie. Alle Sumpfleute haben sie. Ciycain hat die besten.“
„Es ist mehr als ein Instinkt. Irgendwann wusste ich, dass Ihr es wart. Es konntet nur Ihr sein. Und gestern Nacht, da dachte ich an Bada.“
„Wer ist das nun wieder?“ Thragesh gab sich keine Mühe mehr, seinen Unmut zu verbergen.
„So hieß Ciycain, bevor wir befreit wurden. Wo ist sie? Ich weiß, dass sie hier ist.“ Plötzlich klang Yvain aufgebracht und fordernd.
Thragesh erschrak, doch Syriakins Lippen umspielte ein Lächeln. „Du redest von deinen erstaunlichen Sinnen. Darüber vergisst du das Wesentliche.“
„Was meint Ihr?“ Yvains Zorn wich Verwirrung.
„Die Vögel. Du hast sie gesehen, deine Augen sind zweifellos besser als meine. Aber du hast sie nicht wahrgenommen.“
Yvain dachte nach, dann senkte er beschämt den Kopf.
„Ihr meint den Schwarm von vorhin?“, mischte Thragesh sich ein. „Den wir aufgescheucht haben?“
Wir haben ihn nicht aufgescheucht.“
„Was sonst?“
„Das da.“ Sie wies auf das schwarze Wasser eines größeren, tieferen Tümpels zu ihrer Linken. Dann steckte sie zwei Finger in ihren Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus, der klang wie die Schreie der Tiere, die man nachts vernahm.
Mit wachsender Anspannung sah Thragesh, wie zwei schaumige Rillen sich auf der Wasseroberfläche bildeten, die auf sie zuhielten. Seine Hände packten den Ast fester.
„Lasst ihn stecken“, befahl Syriakin.
Im nächsten Augenblick hob sich das Wasser. Noch bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, standen sie neben ihm, bedeckt von einer glänzenden Schlammschicht: ein Mann mit breiten Schultern und ein schlankes, hochgewachsenes Mädchen. Beide ähnelten der Sumpffrau. Das Mädchen hatte lange schwarze Haare, die ihr bis auf den Rücken fielen, der Mann trug das seine kinnlang. Nur ihre Augen unterschieden sich von denen Syriakins, denn sie waren von einem milchigen Grau.
„Ciycain.“ Yvain trat auf das Mädchen zu, ein Lächeln im Gesicht. „Ich wusste es!“
„Gestern Nacht“, bestätigte sie.
Ein knisternder Funke stob auf, als ihre Hände sich berührten. Die Luft zwischen den Kindern geriet in Bewegung, waberte, verdichtete sich, verzerrte die Sicht. Ciycain und Yvain schienen nichts zu bemerken, aber Thragesh sah, wie die Augenbrauen der Sumpffrau sich zusammenschoben und sie einen befremdeten Blick mit dem Mann tauschte.
Dessen Augen verharrten noch eine Weile auf der Frau, bevor er sich Thragesh zuwandte und ein freundliches Lächeln aufsetzte. Thragesh stutzte, als er bemerkte, dass die Augen nun in einem sanften Grün strahlten.
„Mein Name ist Gillok“, stellte der Mann sich vor. „Seid Ihr ein Freund Yvains?“ Die Stimme war warm und angenehm, die Worte mühelos gesetzt. Wie Syriakin und Ciycain beherrschte er die Reichssprache ausgezeichnet.
„Thragesh Mbek. Yvain nennt mich Shesh. Ich bin sein Leibwächter.“
„Auf Geheiß der Drana’sora? Oder hatte Ylaiy seine Hände mit im Spiel?“
„Ylaiy? Ihr meint den zukünftigen Kaiser?“
„Denselben.“ Gillok lächelte. „Ihr müsst keine Respektlosigkeit vermuten. Ylaiy hätte sicher nichts dagegen, dass wir ihn bei seinem Geburtsnamen nennen.“
„Er half, die Kinder zu retten“, fiel Thragesh ein. „Daher kennt Ihr ihn. So wart auch Ihr mit dabei.“
„Nicht von Anfang an.“
„Ah. Wohlan, Ihr habt recht. Der Prinz empfahl mich seiner Tante. Sie nahm mich in ihre Dienste.“
„Ihr wart Soldat?“ Bei dieser Frage verengten sich Gilloks Augen, wenngleich sein Gesicht unverändert freundlich blieb.
„Bin ich immer noch. Nur diene ich nicht mehr im Kaiserheer.“ Thragesh beobachtete, wie das Lächeln langsam aus Gilloks Zügen schwand und Syriakin sich zu ihnen umdrehte. „Ich war nie auf Kânegg stationiert, diente auf Prant und Staleph, half dabei, Brücken zu bauen, Dämme zu errichten, für die Sicherheit der Stadtbewohner zu sorgen. Ich habe häufiger einen Spaten geschwungen als mein Schwert.“
„Ihr müsst Euch nicht rechtfertigen“, beschwichtigte Gillok.
„Das sagt Ihr, aber wenn ich in Eure Gesichter schaue, vor allem in ihres“ - er nickte in Syriakins Richtung - „dann sehe ich Abneigung. Hass. Ich kann es Euch nicht verdenken. Die Leute sagen, der Krieg auf Kânegg war zu kurz, um ein echter Krieg zu sein, doch ich weiß, dass es unzählige Opfer gab. Viel Ungerechtigkeit. Dennoch werde ich mich nicht dafür entschuldigen, Soldat zu sein. Meine Eltern starben früh und das Heer wurde meine Heimat. Ich verdanke ihm eine Menge. Es ist nicht nur für Tod und Verwüstung verantwortlich.“
„Angesichts der jüngsten Ereignisse fällt es schwer, das zu glauben“, entgegnete Syriakin.
„Syra.“ Der Sumpfmann schüttelte missbilligend den nassen Schopf und starrte sie an, bis sie sich umdrehte.
Gillok wandte sich an Thragesh. „Meine Tochter ist seit gestern Nacht sehr unruhig, drängte mich, sie hierher zu begleiten. Ich sehe Yvain, ebenfalls beunruhigt und fernab seines Zuhauses, und Euch, seinen Leibwächter. Ihr bringt keine gute Kunde.“
In diesem Moment stieß Ciycain einen spitzen Schrei aus und fiel Yvain um den Hals.
Gillok wartete Thrageshs Antwort nicht ab, sondern ging zu dem Jungen, ließ sich vor ihm auf die Knie nieder und nahm ihn und seine Tochter gleichzeitig in die Arme.
„Er hat die ganze Zeit nicht geweint“, murmelte Thragesh. „Nicht einmal über sie geredet. Manchmal vergesse ich, dass er noch ein Kind ist.“
Syriakin trat neben ihn. „Manchmal hat man keine Zeit für Trauer. Er musste euch hierher führen.“
„Ist er hierher gekommen, um Euch zu treffen?“
„Er konnte nicht wissen, wo wir uns aufhalten. Wir haben kein festes Zuhause.“
„Ist das Dorf nicht Euer Zuhause?“
„Es ist … kompliziert. Die Dinge sind schwieriger geworden.“
„Es ist unser Zuhause.“ Langsam erhob sich Ciycain und kam mit traurigem Gesicht zu ihnen. „Die Dinge müssen sich nur einrenken.“
„Du hast noch immer nicht gelernt, dich aus den Gesprächen Erwachsener herauszuhalten.“ Syriakins Zurechtweisung klang halbherzig und verlor noch mehr von ihrer Schärfe, als sie Ciycain das Haar zurückstrich und ihr forschend ins Gesicht blickte. Ciycain hielt dem Blick stand und lächelte, als Syriakin sie an sich zog.
Ein Wiedersehen, durchzuckte es Thragesh.
„Begleitest du uns?“, fragte Ciycain.
„Bis zum Dorfrand. Sorgt dafür, dass beide gut versorgt werden. Morgen früh brechen wir auf. Der Marsch wird anstrengend.“
„Gehst du zu Ylaiy?“
„Wir müssen die anderen warnen. Das war der Schwur.“
„Du gehst aber nicht allein.“
„Ich muss mich mit deinem Vater beratschlagen.“
„Er wird dir sowieso hinterhergehen. Ich auch.“ Ciycain reckte ihr Kinn in die Höhe. „Und ich finde dich. Immer.“
Die Brust der Sumpffrau hob sich sichtbar, als sie tief Atem holte, ein Anblick, der Thragesh belustigte. Eine starrsinnige Tochter brachte sie offensichtlich an ihre Grenzen. „Wir werden sehen. Lasst uns aufbrechen.“
„Wir müssen auf sie aufpassen“, raunte Ciycain Thragesh zu, sobald ihre Mutter außer Hörweite war.
„Ich glaube, deine Mutter kann sehr gut selbst auf sich aufpassen.“
„Im Kampf, ja. Sie ist die beste Kämpferin.“
„Weshalb sorgst du dich dann?“
„Sie ist krank. Habt Ihr die Narbe gesehen?“
„Man kann sie schwer übersehen.“
„Sie vergiftet sie von innen. Ich habe die Dorfalten gefragt und meinen Vater. Es ist gut, dass Yvain zu uns gekommen ist, denn nun gehen wir in die Hauptstadt. Dort gibt es Heilkundige. Ylaiy wird sie kennen. Sie können ihr helfen.“

Der Wald nahm sie wieder in seine Arme. Aufatmend legte Sila den Kopf in den Nacken und sog den Duft von Eibennadeln, Laub und Harz ein. Sie spürte, wie die Waldluft ihre Sinne belebte und ihr Gesicht kühlte.
Flussjungfern und Prachtlibellen jagten auf der Suche nach kleineren Insekten über das grüne Wasser. Schmetterlinge stoben in Scharen an den Uferrändern auf, wo bunte Blumen mit nektargefüllten Kelchen sich zwischen hohen Gräsern reckten, wann immer die Bugwelle des Bootes die Stängel zum Schwanken brachte.
Träge ließ Sila ihren Arm ins Wasser gleiten und beobachtete die silbernen Fische, die Reißaus vor ihren Fingern nahmen. Der Bene barg einen Fischreichtum, der Rana und sie in Erstaunen versetzte. Bislang hatten sie keinen Hunger gelitten. In der Regel reichte es, wenn Ivson die Tücher, die Talin vor der Sonne schützen sollten, ins Wasser hängte und eine Weile hinter sich her zog. Die Fische waren klein, aber sie fingen sie im Dutzend. Ivson hatte ihnen gezeigt, wie man die Köpfe abbiss und den Darm herauszog. Danach konnte man sie umgehend verspeisen. Sie schmeckten frisch und salzig und wiesen kaum Gräten auf. Selbst in Talins Windeln, die sie zum Säubern an die Bootsränder hingen, hatten sich bereits fingerdicke Aale verbissen. Nur an trüben Vormittagen ließen sich die Fische nicht sehen. Dann lenkte Ivson den flachen Kahn an den Flussrand, kratzte im Schlamm nach Schnecken und Muscheln oder räuberte die Nester der Brutvögel aus, während Sila und Rana essbare Blumen sammelten oder nach Beeren und Nüssen Ausschau hielten. Es war eine einfache, bisweilen karge Nahrung, aber sie war gesund und von belebender Frische. Sila stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sie noch ausreichend Muttermilch besaß. Rana kochte regelmäßig Flusswasser ab und vermengte es mit zerstoßenen Fischen und Schnecken; eine Pampe, die unappetitlich aussah und die Talin nicht mochte, ihn aber sättigte.
Langsam zog sie ihren Arm aus dem Wasser und hielt ihn über ihre Stirn. Sie beobachtete die Tropfen, die auf dem Arm entlangliefen, bis sie sich an einer Stelle sammelten und nach unten fielen. Es war heiß, brütend heiß, viel zu heiß, selbst wenn man sich nur Zentimeter über der Wasseroberfläche befand. Nach einer Woche auf dem Fluss waren sie alle verbrannt. Ihre Gesichter schmerzten, als hätte die Haut sich zusammengezogen. Auf Silas Schultern, Armen und Wangen prangten unzählige Sommersprossen, die ihre Haut noch dunkler färbten, als die Sonne es bereits getan hatte. Ihr Nasenrücken pellte sich und hinterließ unschöne hellrote Flecken. Anfangs hatten sie Tücher und Kleidungsstücke getränkt und über die ungeschützten Körperstellen gebreitet, sich gegen Mittag in die Büsche und Unterwälder zurückgezogen, immer darauf bedacht, sich gut zu verbergen. Erst am späten Nachmittag hatten sie den Kahn wieder ins Wasser gewuchtet und waren den größten Teil der Nacht gerudert.
Doch die Tage schritten voran und die Nächte wurden dunkler. Der Fluss blieb breit und trieb sie vorwärts, sodass Ivson seine Kräfte schonen konnte, aber er wurde flacher, sein Untergrund tückischer. Irgendwann hatte der Wald aufgehört und sie waren durch Grasland und Röhrichtmatten getrieben. An vielen Stellen war der Bene so untief gewesen, dass sich Sandbänke gebildet hatten. Hier hatte es kein Unterholz gegeben, keinen Platz zum Verstecken. Also waren sie auf dem Fluss geblieben, wachsam, weithin sichtbar, aber dafür in Bewegung, schwerer zu treffen, schwerer zu fangen. Immer auf dem Wasser, das die Sonne reflektierte, bis ihre Augenhöhlen schmerzten. Zuerst hatten Sila und Ivson sich fast aller Kleidungsstücke entledigt, entgegen den Einwänden ihrer Mutter. Schon bald schälte die Sonne ihnen die Haut von den Gliedmaßen. Schließlich sprang Sila in ihren Kleidern in den Fluss und ließ sie anschließend am Körper trocknen. Ivson und Rana waren ihrem Beispiel gefolgt. Mittlerweile tunkten sie sogar Talin zweimal am Tag in den Fluss. Jedes Mal kreischte der Junge vor Vergnügen.
Sila betrachtete ihren Sohn. Wie so oft schlummerte er in Ranas Armbeuge. Für einen Augenblick überkam sie Eifersucht. Er kam nicht nach ihr. Seine Haare, die erst spät gewachsen waren, verfärbten sich bereits, das helle Blond verschwand. Vielleicht würde sein Haar dunkel werden wie Ranas. Er war ein sehr ruhiges Kind. Ausgeglichen, freundlich, unkompliziert. Er tat, was man ihm sagte. Sie selbst konnte kaum still sitzen. Das Dahingleiten auf dem Fluss war ihr schon früh auf das Gemüt geschlagen. Rana war immer in Gedanken versunken, Ivson beinahe verstummt. Und fast ununterbrochen brannte die Sonne am Himmel.
Sie rekelte sich, um die unangenehmen Empfindungen zu verscheuchen. Ihr Gesäß fühlte sich taub an nach all den Tagen auf der unbequemen Ruderbank. Mühsam richtete sie ihren Oberkörper auf und drückte ihre Hände in die Lenden.
Ivson musterte sie. „Sollen wir einen Anlegeplatz suchen?“
Sofort überkam sie schlechte Laune. Sie hatte nicht wehleidig aussehen wollen. „Nein. Es geht schon.“
„Wir rasten, wenn du dir die Beine vertreten magst. Hier gibt es genügend Seitenarme, in denen wir uns verbergen können. Bestimmt tut es uns allen gut, ein wenig herumzulaufen.“
Er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Ivson war ein guter Mann, ganz so, wie Ylaiy vorhergesehen hatte. Er sorgte sich um sie, hatte sie beschützt, ließ nicht zu, dass die Frauen das Rudern übernahmen. Er wachte die halbe Nacht über sie und brachte Talin mit Grimassen und Fingerspielchen zum Gluckern. Sie konnte sich glücklich schätzen, einen Mann wie ihn an ihrer Seite zu haben.
Doch er war nicht Ylaiy.
Überrascht stellte sie fest, dass Tränen in ihren Augen brannten. Rasch presste sie die Lider zusammen, bevor ihre Mutter oder Ivson es bemerkten, gab sich kurz, ganz kurz, der Erinnerung hin. Das erste Mal auf Ylaiys Lager. Sie war fast noch ein Kind gewesen, er einige Jahre älter. Ein Bursche, kein Mann. Dünn, schlaksig, kraftlos. Wenig beeindruckend. Ein kleinmütiger Jüngling, der gebeugt ging unter der Last von Verantwortung und Pflichten. Mitleid hatte sie für ihn empfunden und einen Hauch von Verachtung. Doch sein Verstand hatte sie gefesselt, immer schon. Die Bücher, die er las. Die Geschichten, die er erzählte. Die Art, wie er Zusammenhänge begriff, Konsequenzen abschätzte. Die Experimente. Die Überlegungen. Sie hörte ihm gern zu.
Irgendwie waren sie Freunde geworden, der Kaisersohn und sie. Irgendwann Liebende.
„Vielleicht sollten wir doch rasten“, sagte sie mit geschlossenen Augen. „Ich glaube, ich bekomme Kopfschmerzen.“
„Eine Meile weiter in den Wald hinein wird es dir besser gehen. Du solltest so lange deine Stirn kühlen.“
Er meint es gut, ermahnte sie sich stumm.
Doch er war nicht Ylaiy.


Eine Dreiviertelstunde später spürte sie, wie ihr Gemüt sich aufhellte. Der Wald war beeindruckend; ein Hain aus hohen geraden Alnoi, die Schatten und Kühle spendeten, aber die Sonne nicht ausschlossen. An vielen Stellen blitzte sie durch die Kronen. Dort, wo ihre Strahlen auf den Boden trafen, leuchtete es intensiv. Es gab kaum Unterholz, dafür türmten sich um sie herum bemooste Felsen auf. Ein Labyrinth imposanter graugesprenkelter Steinblöcke. Weitere Blutbuchen und Schwarzbirken wuchsen zwischen den Felsspalten, dazwischen ragten Nadelbäume in den Himmel. Einige von ihnen wucherten aus den Blöcken heraus, gehalten von armdicken Wurzeln, die sich über und um die Felsen zogen.
Der betörende Duft von Harz und Pilzen, das Zwitschern der Vögel, das Hämmern der Spechte, das Gluckern des Wassers und das raschelnde Laub unter ihren Füßen war wohltuend. Sie war herumgelaufen, hatte ihre verkrampften Muskeln gelockert, sich gestreckt, sich nach Bucheckern gebückt, die sie zwischen die Bäume warf, stets mit einem Ohr nach Talin und ihrer Mutter horchend, die in der Nähe des Bootes spielten. Das Lachen ihres Sohnes entlockte auch ihr ein Lächeln und für einen Augenblick genoss sie das Dasein.
Ihren Rock mit einer Hand raffend, kletterte sie auf einen der Steinblöcke. Das Moos war trocken, was ihr den Aufstieg erleichterte. Dafür stob eine Wolke aus Sporen und winzigen Insekten auf, die sie pustend davon wedelte.
Der Block war schnell erklommen. Dennoch betrachtete sie stirnrunzelnd ihren Rock. Nicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie untauglich Frauenkleidung sein konnte. Kurz erwog sie, ihn über den Knien abzuschneiden oder ihn an beiden Seiten aufzutrennen, doch sie verwarf den Gedanken sofort. Rana hätte sie mit bloßen Händen erwürgt. Wer wie sie die meiste Zeit des Lebens mittellos gewesen war, verurteilte Verschwendung.
Sila stemmte die Arme in die Hüften, richtete sich auf, drehte sich um die eigene Achse. Wald, wohin man schaute. Keinerlei Anzeichen menschlicher Besiedlung. Das überraschte sie, denn Yruish galt nach Prant als die am dichtesten besiedelte Insel, auch wenn ein großer Teil der Bevölkerung in der Hauptstadt lebte. Allein im Umfeld des Palastes mochten es tausende Menschen sein.
Verärgert über sich selbst kratzte Sila sich am Hinterkopf. Es gab so viele Dinge, die sie nicht wusste. Zum Beispiel, wo genau sie im Augenblick waren. Ylaiy würde es wissen. Er konnte in seinem Kopf alle möglichen Karten aufrufen. Hatte sie jemals eine Darstellung des Reiches gesehen? Sie strengte ihr Gedächtnis an. Während der Reise, fiel ihr dann ein. Ylaiy hatte Pergamente bei sich getragen, die er oft entrollt hatte. Auch nach der Reise hatte er, wenn seine knapp bemessene Zeit es erlaubte, den langen Weg in den Norden nachgezeichnet. Manchmal hatte sie hinter ihm gestanden, das Kinn auf seine Schulter gelegt, die Arme um seinen Körper geschlungen, die Hände neckend, spielend, streichelnd.
„Hör auf, dumme Ziege!“, schalt sie sich halblaut und wedelte sich Luft zu. Ihre Wangen brannten.
Die Karten. Yruish, bauchig, beinahe kugelrund. Daneben Prant, sehr viel kleiner, wie ein Zahn aussehend. Die beiden Schwesterinseln lagen im Herzen des Reiches, umgeben von den anderen Inseln, den wilden Inseln, wie die Hauptstädter sie nannten. Staleph, Berlen, Kaadaa und Kânegg. Die Eisinsel, riesiger noch und weit abgelegen.
Dort war sie gewesen.
Der Gedanke überfiel sie geradezu. Sie, Sila, Dienstmagd, Geliebte des Thronfolgers, Tochter einer Dienstfrau, Bankert eines Sadisten, gezeugt in Gewalt und Wahnsinn, sie war da gewesen. Am Ende der Welt. Außerhalb Yruishs, außerhalb der wilden Inseln, außerhalb des Reiches. Plötzlich kam sie sich sehr klein vor. Auch Yruish schrumpfte. Es war nichts. Ein kugeliger Haufen inmitten des Wassers. Und doch der Mittelpunkt ihres Lebens. Vieler Leben.
Sie blies die Wangen auf und nahm erneut ihre Umgebung in Augenschein. Bäume. Felsen. Keine Wege. Ein schöner Wald, beruhigend, beschützend. Wie viel Fläche mochte er bedecken? Würden sie ihn durchqueren müssen? Nein, fiel ihr ein. Der Bene floss quer über die Insel, von der nordwestlichen Küste bis in den Süden. Von Meer zu Meer. Damals waren sie in die entgegengesetzte Richtung gereist, auf Pferden und Kutschen, erst nach Norden, dann in einem scharfen Knick nach Osten bis zu jenem Hochplateau an der Steilküste Kâneggs. Bantafej. Sie erinnerte sich an den dichten Nebel, der alle Geräusche verschluckt und ihr die Sicht genommen hatte. Jählings waren sie aufgetaucht: Männer mit Schwertern und Bogen. Hier setzte ihre Erinnerung aus.
Sila schüttelte sich. Sie war nicht in Bantafej, war nicht einmal auf Kânegg, sondern immer noch auf Yruish, in ihrer Heimat. Wärme durchflutete sie, als ihr bewusst wurde, dass die Hauptstadt möglicherweise nicht mehr weit war, dass sie bereits ein gutes Stück Weg dorthin zurückgelegt hatten. Sicher, sie kamen langsam voran und der Bene schlängelte sich in vielen Windungen, aber sie waren seit einer Woche unterwegs. Yruish war nicht so ausgedehnt wie die wilden Inseln. Der Palast lag ziemlich genau in der Mitte, nicht am anderen Ende. Es konnte nicht mehr lange dauern.
In der Nähe des Palastes gab es einen Fluss, kam ihr plötzlich in den Sinn. Das Fischervolk, das an ihm lebte und arbeitete, brachte den Fang morgens zu den Toren. War das der Bene? Sie konnte sich nicht erinnern. Hatten die Palastbewohner überhaupt einen Namen für ihn gehabt? Rana oder Ivson würden es hoffentlich wissen. Am Ende fuhren sie am Palast vorbei und landeten an der Südküste.
Ein Knacken schreckte sie auf. Der Schrecken wich schnell Verärgerung. Natürlich kam er, um nach ihr zu sehen. Sie hatte kein Bedürfnis nach seiner Nähe, wollte allein sein. Auf dem Boot waren sie zu eng beieinander, sie alle.
Wieder knackte es. Rasch horchte sie zum Fluss hin, hörte Talins Lachen und die sanften Ermahnungen ihrer Mutter. Beiden ging es gut. Ivson konnte ihr noch ein Weilchen gestohlen bleiben. Sie ließ sich auf der anderen Seite des Felsblocks hinuntergleiten, erneut Sporenwolken aufwirbelnd, landete auf lockerem Waldboden, duckte sich.
Keinen Moment zu spät. Sie ahnte mehr, als dass sie es sah, dass er zwischen den Alnoi hervorgetreten war und nach ihr Ausschau hielt. Offenbar war er selbst im Hain herumgewandert, denn sie hörte seine Schritte vom Waldinneren her kommen. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zurück zum Kahn und wollte sie einsammeln.
Seufzend lehnte sie sich gegen den Felsblock und schloss die Augen, als könnte sie ihn so besser ausblenden.
Dann vernahm sie seine Stimme. Tief und laut, weithin schallend. Sie kam vom Flussufer. Sie rief nicht ihren Namen. Vielmehr klang es, als würde er Rana und Talin Scherzworte zuwerfen.
Eisige Furcht schoss ihre Adern hinauf. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf und in ihrem Nacken begann es zu kribbeln. Mit weichen Beinen glitt sie auf die Knie, rutschte an die Seite des Steines und lugte um ihn herum.
Ein Mann. Ein Waldarbeiter, redete sie sich ein. Ein Bauer oder Fischer. Ein Händler. Ein Pilger. Ein reisender Handwerker. Und doch schlug die Furcht über ihr zusammen, wusste sie instinktiv, dass er all das nicht war. Dass er gefährlich war. Dass sie sich in Acht nehmen musste. Dass sie die anderen warnen musste. Dass sie ihr Kind retten musste.
Die Gedanken spritzten durch ihren Geist. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Bislang hatte der Mann sie nicht gesehen. Er schaute nicht einmal in ihre Richtung, horchte zum Wasser hin, hörte die Stimmen.
„Nein“, hauchte Sila und senkte ihren Kopf auf das Laub. Sie zwang sich, langsam zu zählen, bis sich ihr Pulsschlag beruhigte, ihr Denken wieder einsetzte.
Er wusste nicht, dass sie hier war, nur wenige Meter von ihm entfernt. Erneut lugte sie um den Block. Der Mann war massig gebaut, seine Haltung verriet Kraft. Er wirkte nicht überrascht wie jemand, der plötzlich Stimmen im Wald vernimmt. Vielmehr sah Sila, wie er sich an einer dicken Alno abstützte und auf die Geräusche hörte, konzentriert, die Arme angewinkelt am Gürtel, wo sie ein Schwert vermutete, das vom Mantel verborgen wurde.
Schlagartig wusste sie, wer er war. Es passte alles zusammen. Bewaffnet, ein Mantel bei der Hitze, aufrechte Statur, eckige Bewegungen. Ein Soldat, ohne Zweifel. Ohne Helm und Uniform, ohne Kameraden.
„Danke, Kelraig Dessel“, murmelte sie in das Moos.
Kopret war tot. Tikotun war der Weidenstock. Der hier war rundlich. Garbse. Sie hatte Garbse gefunden. Oder dieser sie. Sie musste die anderen warnen. Denn Garbse war gekommen, sie zu beseitigen. Die Frage war, ob er allein war.


Ivson hatte sein nasses Hemd gerade wieder übergezogen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Wenige Meter vom Ufer entfernt ging der üppige Fagobewuchs in einen Mischwald über, von dem er vermutete, dass er bereits zu den Ausläufern des kaiserlichen Forstes gehörte. Falls er recht hatte, lag vor ihnen Diyumbyur-gha, das Feld der hohen Steine, ein weitläufiges Areal im Südwesten des Dran’bahraiy, der sich wiederum bis vor die Tore des Palastes erstreckte. Er war noch niemals so weit in den Süden gelangt, erinnerte sich aber an die Erzählungen der Tagelöhner. Das Felsenlabyrinth, so hatten sie einstimmig berichtet, war unzugänglich, an manchen Stellen gefährlich. Menschen wie Tiere fürchteten die Spalten und zerklüfteten Gebilde, die Löcher und Senken. Ein umgeknickter Knöchel konnte hier den Tod bedeuten. Deshalb war Ivson augenblicklich in Sorge, als er die Bewegung hinter den dicht wuchernden Erlengewächsen wahrnahm.
„Sila? Hast du dich verletzt?“, fragte er und schreckte damit Rana auf, die Talin auf ihrem Schoß schaukelte, während dieser mit Zapfen und Stöckchen spielte.
Als keine Antwort kam, schoss er Rana einen warnenden Blick zu, legte den Finger auf die Lippen und gestikulierte zum Boot hin, das er an das Ufer gezogen hatte. Rana erhob sich, Talins Proteste mit zärtlichen Worten erstickend, huschte zum Kahn und lockerte das Halteseil.
Indes drangen Ivsons Augen angestrengt durch das Fagowäldchen. Er sah und hörte niemanden. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Seit den Übergriffen fühlte er sich überreizt und angespannt. Möglicherweise sah er Gespenster, fürchtete sich vor einer Welle, die ans Ufer geschlagen war.
„Ist da jemand?“, rief er in den Wald hinein. „Wir kommen nicht in böser Absicht.“
Ivson wartete. Dann bückte er sich nach dem Schwert, das er Kopret abgenommen hatte und das Sila während der langen Stunden auf dem Fluss an einem Stein geschliffen und mit einem Tuch poliert hatte, bis es scharf geworden war wie ein Barbiermesser. Unentschlossen balancierte er es in der Hand, spürte den Schmerz der frisch verheilten Wunde.
Rana war unterdessen mit Talin in das Boot geklettert, hatte den Jungen auf den Boden gelegt, und eins der Ruder in die Hand genommen, bereit, sofort abzustoßen. Allerdings hielt sie das Paddel mehr wie eine Waffe. Ihr Gesicht war bleich und voller Sorge und Ivson verstand. Wo war Sila?


Mit angehaltenem Atem hockte sie hinter dem Felsblock. Als Garbse ein Schwert aus dem Gürtel zog und sich in Richtung Ufer in Bewegung setzte, trotz der Stiefel leise wie ein Raubtier, stand sie vorsichtig auf und folgte ihm.
Er sah nicht zurück, nicht einmal zur Seite. Hochkonzentriert starrte er auf den Boden, bemüht Äste, Zweige, Zapfen und Steine nicht zu berühren.
Dennoch blieb sie wachsam, ihre Nerven auf das Äußerste gespannt. Hinter den Blöcken huschte sie von Stein zu Stein, von Baum zu Baum. Die Angst um Talin toste in ihr.
Als er ihren Augen zu entschwinden drohte, kletterte sie erneut auf einen Felsen, den Göttern für den heißen Sommer dankend. Auf dem ausgetrockneten Moos konnte sie über die Kanten und Klüfte springen, ohne auszurutschen und sich dabei das Genick zu brechen.
Kurz darauf sah sie ihn wieder. Er war in den Erlengrund eingedrungen, einem vorgelagerten Wäldchen mit dünnen, geraden Bäumen am Flussufer.
Er blieb stehen. Die Fagoi verbargen ihn gut. Hinter ihnen lag das Boot, spielten Rana und Talin. Sila blickte auf die Felsblöcke unter ihren Füßen. Schroffes Gestein, scharfkantig und löchrig, aber aneinandergereiht wie eine Straße. Und sie führte zum Wasser.


Ivson zauderte, ließ das Schwert sinken. Seine Augen schweiften über die Roterlen, deren Stämme er mühelos umgreifen konnte. Die Bäumchen standen dicht an dicht, aufrecht, eins an das andere gereiht, wie ein Spalier. Erlenkätzchen, längliche und runde gleichermaßen, hingen vor seinen Augen, störten die Sicht.
Bislang hatte er keine weiteren verdächtigen Bewegungen wahrgenommen, nur Kleinstreptilien und Fische, die nach Insekten sprangen. Dennoch: Der Wald wirkte plötzlich bedrohlich. Rana und Talin waren verstummt, gefangen in demselben mulmigen Gefühl.
Unschlüssig sah er zu Rana. Sie starrte ihn an. Furchtsam. Besorgt. Dann machte sie mit dem Kopf eine auffordernde Geste.
Er zog die Nase hoch, spuckte aus, hob die Klinge wie einen Dolch vor den Körper und schob sich behutsam an den ersten Fagoi vorbei in das Flusswäldchen hinein.
Die Kätzchen knirschten und knackten unter seinen Bauernstiefeln. Wasser schwappte unter den Sohlen. Zweige zerbrachen. Ivson war nie zuvor aufgefallen, wie geräuschvoll es war, durch Gehölz zu gehen. Er hoffte, dass er sich getäuscht hatte, dass die Bewegung eine harmlose Ursache gehabt hatte, dass sie über seinen kläglichen Versuch des Anpirschens später lachen würden.
Als tatsächlich ein Mann hinter einem Stämmchen hervorschnellte, erschrak Ivson so sehr, dass er sich auf den eigenen Fuß trat, einen ungeschickten Ausfallschritt machte, das Schwert in den Boden rammte.
Absurderweise bewahrte ihn dieses Missgeschick vor einem schnellen Tod, denn Garbse hatte seinen Stahl mit der Routine des langgedienten Soldaten in kleinem Radius auf Kopfhöhe geschwungen.
Entsetzt vernahm Ivson das Singen des Metalls, fühlte den Luftzug der Klinge, die über den Scheitel fuhr. Er hörte den Angreifer einen unterdrückten Fluch ausstoßen und wusste, dass er keine zweite Chance bekommen würde. Ohne nachzudenken, ließ er sich fallen und rollte zur Seite weg. Im selben Augenblick stieß das Schwert des Gegners senkrecht in den Boden.
Ivson japste, stemmte sich hoch, taumelte rückwärts. Die Erlen versperrten ihm den Weg. So duckte er sich in eine lauernde Stellung, beide Arme abwehrend vorgestreckt, während der Mann auf ihn zukam.
Rundlich. Ungewöhnlich für einen Elboin. Garbse.
Wieder gelang es Ivson, dem Hieb auszuweichen, indem er im letzten Moment zur Seite sprang. Splitternd drang das Metall in den Erlenstamm. Er sah noch, dass es eine tiefe Furche ins Holz schlug, bevor er zu seinem eigenen Schwert spurtete, es aus dem Waldboden zog und damit herum schleuderte.
Es prallte mit einer Wucht auf Garbses Stahl, die Ivson nicht erwartet hatte. Die Klinge federte ab, Schmerz raste den Arm hinauf. Das Heft entglitt seinen Fingern. Fassungslos blickte er den Soldaten an, der die Oberlippe hochzog und sofort nachsetzte. Ivson fühlte die Schneide an der untersten Rippe entlangschrammen, wo sie Kleidung und Haut zerfetzte. Halb betäubt vor Angst und Schmerz packte er den Angreifer bei den Ohren und zog ihn mit einem Ruck an sich. Überrumpelt torkelte Garbse gegen Ivson, der ihn wie eine Puppe im Kreis drehte und mit dem Schädel voran gegen einen Stamm stieß. Garbses Stirn knackte auf wie eine Nuss. Ächzend prallte er auf den Boden. Blut strömte über sein Gesicht.
Ivson atmete zitternd ein. Sein Gesichtsfeld hatte sich verengt und sein Herz raste. Er beugte sich vor und stützte die Hände auf die Oberschenkel.
„Ivson?“, erscholl Ranas verängstigte Stimme vom Kahn her.
Plötzlich schlossen sich die Arme des vermeintlich Besinnungslosen um seine Knöchel und Ivson verlor das Gleichgewicht. Hysterisch trampelte er nach dem Gegner, bis dieser ihn losließ, drehte sich auf den Bauch und versuchte, außer Reichweite zu robben.
„Ivson? Rede mit mir!“
Garbse setzte ihm nach, blutverschmiert, unnachgiebig, mit verbissener Miene.
„Bist du wohlauf? Ivson?“
Ivsons Schädel hämmerte schneller als sein Herz. Erneut trat er nach dem Soldaten, wand sich von diesem weg, rappelte sich auf, kam auf die Füße, begann zu rennen. Weg vom Fluss. Weg vom Boot. Weg von Rana, blindlings in den Wald hinein.
Nach wenigen Schritten vernahm er keuchende Atemzüge im Nacken und beschleunigte. Er konnte mühelos den Flegel schwingen, einen ganzen Tag lang, eine Sense durch hüfthohes Getreide treiben, stundenlang, in glühender Sonne, wenn es sein musste. Schon als Knabe hatte er die Äcker gepflügt. Die Arbeit hatte ihm Muskeln und Ausdauer beschert, aber sie hatte ihn weder zum Kämpfer gemacht, noch zu einem Läufer. Er merkte, wie ein Ring sich um seine Brust legte. Die Blätter flimmerten, der Boden wankte, die Oberschenkel wurden hart. Der Schnitt unter der Rippe brannte, so oberflächlich er auch sein mochte, und die kaum verheilte Brustwunde begann zu schmerzen.
Er hetzte durch den Erlengrund. Weg vom Fluss, weg vom Fluss, skandierte er im arrhythmischen Takt seiner Schritte. Immer wieder stieß er gegen Bäume, schürfte sich Schultern und Handflächen an der Rinde auf.
Als die Fagoi endlich weniger dicht standen und größeren Alnoi und Birken wichen, wurde er langsamer, versuchte, Herr über seine Gedanken zu werden, einen Plan zu fassen. Er hatte einen Vorsprung errungen, doch ewig würde er nicht davonlaufen können. Seine Seiten stachen und seine Kräfte ließen rasch nach. Wenn der andere ihn einholte, würde er ihm nicht mehr viel entgegensetzen können. Garbse würde ihn niedermetzeln und sich danach die Frauen vorknöpfen.
Verzweifelt sah er sich um, sah den rundlichen Mann hinter den letzten Erlen auftauchen, hetzte weiter. Ihm musste etwas einfallen. Schnell.
Ein Pfiff riss seinen Kopf herum zu einer Gruppe mannshoher Gesteinsblöcke. Er kniff die Augen zusammen, machte eine Gestalt aus, die bäuchlings auf den Felsen lag und ihm zuwinkte.
Sila.
Sie presste sich in dem Moment wieder flach auf den Stein, als Garbse aus dem Erlengehölz brach. Schnaufend und keuchend, mit blutverzerrter Fratze, in jeder Hand ein Schwert.
Ivson schlug einen Haken, sprintete geradewegs auf die Felsengruppe zu. Am Fuß des Blockes bog er im rechten Winkel ab, rannte parallel zu den Felsblöcken entlang. Auf der anderen Seite tauchten neue Gesteinsformationen auf, versperrten ihm den Weg, zwangen ihn in eine Spalte, die zwischen zwei Felsreihen verlief.
Hier wurde der Boden unwegsam. Steine überall, bemooste Baumstümpfe, Efeugeflecht, Wurzeln.
Zeit zu handeln, bevor er sich die Beine brach.
Abrupt blieb er stehen, wandte sich um und spurtete zurück, Garbse entgegen. Aus dem Augenwinkel sah er Sila über die Felsblöcke hüpfen, in Wolken von Waldstaub gehüllt wie eine Feengestalt. Ihr Rock wehte um sie, wenn sie zu Sprüngen ansetzte, ihre Haare schwebten um ihren Kopf.
Garbse verlangsamte, kurz verunsichert. Doch dann hob er die Schwerter und ging in Angriffsstellung.
Er sah und hörte Sila zu spät. Sein Atem übertönte ihre Bewegungen, Blut klebte in seinen Augen und seine Aufmerksamkeit galt dem Bauersburschen, der wie ein Bulle mit gesenktem Schädel auf ihn zupreschte.
Sein Kopf zuckte kurz nach hinten, als Ivsons Blick nach oben abirrte, doch da hatte Sila sich bereits abgestoßen, die Arme nach vorn gestreckt.
Sie krachte so schwer auf ihn, dass er beide Schwerter gleichzeitig verlor. Eine Klingenspitze fuhr in sein Knie. Schreiend wehrte er die Frau ab, die wie tollwütig auf ihm hockte und sich an ihn klammerte.
„Nimm das Schwert“, stieß Sila hervor und hieb Garbse ihre Ellenbogen in den Nacken. „Mach schon! Ich kann ihn nicht halten. Er ist wie ein verdammter Fisch!“
Hektisch bückte sich Ivson nach der Waffe, verlor sie im Handgemenge, fand sie erneut, stieß sie schließlich schräg in Garbses Seite, woraufhin dieser sich heulend aufbäumte.
Sila rutschte ab, klammerte sich aber an Garbses Hüften, steckte ihre Finger unter seinen Gürtel und zog ihn zurück auf den Boden. „Los!“, brüllte sie Ivson an.
Der nächste Stich durchbohrte Garbses Kehle, nagelte ihn auf dem Waldboden fest. Arme und Beine wurden schlagartig schlaff. Er röchelte kurz, dann war Stille.
Sofort krabbelte Sila von Garbse weg und blieb, Speichelblasen ausatmend, einige Meter entfernt auf dem Laub hocken, während Ivson in die Knie ging, die Hand noch immer am Schwertgriff.
Die junge Frau fing sich als Erste, rappelte sich hoch, hob den Fuß und stupste gegen Garbses Kopf, der zur Seite rollte. Seine Augen standen weit offen, alles Leben in ihnen erloschen.
„Er ist tot“, sagte sie, zog mit einiger Mühe das Schwert aus Garbses Hals, reichte es Ivson, bückte sich nach der anderen Klinge.
Dann zupfte sie den Burschen am Ärmel. „Verschwinden wir zum Boot. Schnell.“
„Was geschieht mit ihm?“, murmelte Ivson benommen.
„Zum Boot“, wiederholte sie, ihre Ungeduld mühsam zügelnd. „Jetzt. Um ihn kümmern sich die Tiere.“
Er nickte, kam auf die Beine, musterte sie. „Geht es dir gut?“
Sie sah an sich hinunter, erstaunt wegen der Frage. Ihr Kleid war an mehreren Stellen zerfetzt, ihre Schuhe aufgerissen und verdreckt. Vermutlich hatte sie Blessuren davongetragen, aber Schmerzen spürte sie nicht.
„Beeil dich. Hier sind wir nicht sicher. Sie haben uns aufgestöbert.“ Rüde gab sie Ivson einen Stups und setzte sich in Bewegung.
Rasch verfielen sie in Laufschritt.
„Glaubst du, da sind noch mehr?“, fragte Ivson.
„Das war Garbse“, keuchte Sila. „Tikotun ist noch übrig.“
„Meinst du, er ist hier?“
„Weiß nicht. Wir müssen aufs Boot, bevor er uns findet.“
„Vielleicht hat er sich ja auch aus dem Staub gemacht.“
„Nicht, wenn er nach seinem Vater schlägt.“

Immer mehr Fiebernde erschienen vor dem Haus der Kranken, immer öfter sogar vor der Residenz, weil die Warteschlange vor dem Flachbau täglich anschwoll. Die Bediensteten scheuchten sie zurück zum Spital. Vorzugsbehandlungen gab es nicht. Stattdessen befahl Ardanna, Wasser und kühle Umschläge an die Wartenden zu verteilen.
Sie richteten Areale für die Angehörigen ein, die von weiter her gekommen waren. Die Familien, die in der Stadt lebten, schickten sie nach Hause, nachdem sie auf Symptome untersucht worden waren. Sie nahmen nur Platz weg und setzten sich dem Risiko einer Ansteckung aus. Stundenlang rissen und schnitten Adiv und Sphita alte Betttücher und Hemden in Vierecke und Streifen. Die Vierecke gaben sie den Angehörigen als Mundschutz mit, die Streifen behielten sie als Bandagen für die nässenden Pocken.
Weil Ardanna das Haupthaus nur noch zum Waschen, Essen und Ausruhen aufsuchte, oblag es Adiv, sich um den Haushalt zu kümmern. Sphita und Arlen halfen, wo sie konnten. Beide kannten die Dienerschaft, holten sich von ihr die nötigen Informationen und Instruktionen, die sie an Adiv weitergaben.
Daneben versuchte Adiv, Zeit mit ihrem Ziehsohn zu verbringen und auch Sphita nicht zu vernachlässigen. Sie begleitete Arlen auf den Markt, sah zu, wie er freundschaftlich mit den Händlern feilschte und Neuigkeiten mit den Gassenjungen austauschte. Sie begriff, dass die Straßen Perths Arlens Spielplatz waren. Das Gewimmel der Gassen hatte das Labyrinth der Boragha ersetzt. Er kannte Winkel, Schlupflöcher, Verstecke, Abkürzungen, hatte Bekanntschaften geschlossen, Freunde gefunden. Das freute sie, wenngleich es sie bedrückte, dass er sie aus diesem Teil seines Lebens ausgeschlossen hatte. Die Stadt hatte er erobert, während sie getanzt hatte.
Das Tanzen blieb ein leidiges Thema. Adiv verzog das Gesicht, sobald sie Sphita in ihrer Tanzkleidung ansichtig wurde. Das Mädchen war strenger als seine Mutter, wenn es darum ging, die Trainingsstunden einzuhalten. Jeden Nachmittag tauchte sie auf, die Haare in einen Zopf gewunden, an den Füßen unbequeme Holzschuhe.
Jedes Mal seufzte Adiv, schob Ausreden vor, die Sphita nicht akzeptierte, oder befahl sich einfach, es hinter sich zu bringen. Den Tanzrock jedoch, den Sphita ihr hinhielt, verweigerte sie resolut. Stattdessen schlüpfte sie in die weiche Lederhose, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und zog ein ärmelloses Hemd über ihr Untergewand.
In einer der Tanzstunden fiel ihr auf, dass Sphita und sie seit längerer Zeit ungestört geblieben waren. „Maxim hat sich also wirklich aus dem Staub gemacht?“, schnaufte sie, als sie sich gerade an einer der unsäglich komplizierten Figuren versuchte, die bei Sphita so einfach aussahen.
„Oh, jetzt willst du über ihn sprechen?“, attackierte sie das Mädchen wie eine Naturgewalt. „Ich versuche seit Tagen, mit dir über ihn zu reden, aber du hörst ja nie zu.“
„Es gab viel zu tun“, verteidigte sich Adiv.
„Die Kranken, ich weiß. Es geht immer nur um die Patienten. Ich weiß, ich klinge hartherzig. Natürlich sind die Pocken schlimm und ihr tut, was ihr könnt, aber es darf doch wohl erlaubt sein, auch ein Privatleben zu haben?“
„Das gibt sich bald wieder.“ Adiv hob die Arme und versuchte auf den hölzernen Schuhspitzen zu balancieren. „Au, das tut weh. Damit macht man sich die Zehen kaputt.“
„Bei dem Überfall warst du nicht so zimperlich. Dabei hätte alles Mögliche passieren können. Viel mehr als ein paar verstauchte Zehen. Wie kannst du da so ruhig bleiben? Hast du etwa alles schon vergessen?“
„Ich bin kaum dazu gekommen, darüber nachzudenken. Letztlich ist nicht viel passiert und es gab keine weitere Bedrohung. Vielleicht hat die Stadtwache den Kerl geschnappt.“
„Das wüssten wir doch. Amon Gurbandat hätte dich holen lassen.“ Sphita drehte sich in vollendeten Spiralen um Adiv. „Ich bleibe bei Maxim. Er hat dich in die Falle gelockt. Bestimmt hatte er Komplizen. Und jetzt ist er verschwunden. Seit dem Überfall hat ihn niemand mehr gesehen.“
„Hast du herumgeschnüffelt?“
„Ihr seid ja alle ständig unterwegs oder beschäftigt. Ich bin die ganze Zeit hier mit den Küchenmägden und Waschfrauen. Natürlich haben wir geschwatzt.“
„Haltlose Gerüchte, wie immer. Schenke nicht allem Glauben, was du hörst.“
Niemand hat ihn gesehen.“ Mitten in einer Drehung hielt Sphita sie am Arm fest. „Findest du das nicht auch merkwürdig? Überleg mal. Wo sollte er hin sein?“
„Vielleicht haben wir ihn verscheucht?“, scherzte Adiv, doch Sphita war stehen geblieben und sah sie ernst an.
Adiv seufzte. „Glaubst du wirklich, Maxim Baraten inszeniert einen Überfall auf mich, weil er mir eine Lektion erteilen wollte? Weil ich ihm lästig bin? Und danach verschwindet er spurlos? Das ist absurd.“
„Aber er ist weg“, beharrte Sphita. „Das ist kein Zufall.“
„Es könnte einen anderen Grund geben“, erklang eine Stimme vom Eingang her. Erschrocken fuhren Adiv und Sphita herum.
„Herrje, Arlen!“, rief Sphita. „Wie schaffst du es immer, dich so anzuschleichen? Wir haben dich nicht einmal im Spiegel gesehen.“
„Wir sollten der Sache auf den Grund gehen“, sagte der Knabe, die Zurechtweisung ignorierend. „Es wäre töricht, es nicht zu tun.“
„Mein Reden“, bekräftigte Sphita.
„Wir müssen Erkundigungen einziehen“, wiederholte Arlen und trat näher an sie heran. Er sprach mit seiner eindringlichen Stimme, mit der, die sich in den Kopf bohrte, sanft, aber unbeirrt. „Herausfinden, ob den anderen auch etwas geschehen ist. Ob es Übergriffe gab, absonderliche Vorfälle. Unfälle. Wir müssen Ylaiy benachrichtigen. Den Wüstenläufer, die Sumpfleute, den Schmied.“
„Außer Ylaiy werden wir niemanden auftreiben können.“
„Er soll Boten schicken.“
„In die Wüste? Die Sümpfe? Akim und die Frâga-i wissen sich zu verbergen.“
„Nennt man sie nicht mehr Frâgg?“, mischte Sphita sich ein.
„Frâga-i ist der Name, den sie sich gaben. Er bedeutet Freies Volk. Frâgg verunziert den echten Namen, ahmt die Laute von Kröten nach.“
„Das wusste ich nicht.“
„Das wissen nicht einmal die meisten Sumpfleute.“
Wir könnten gehen“, kam Arlen auf sein Anliegen zurück. Er wirkte ungeduldig. Als hätte etwas seine Nerven berührt.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen? Ardanna allein lassen? Jetzt?“
„Jemand muss zum Palast reisen.“
Adiv dachte nach. „Nein, noch nicht“, entschied sie dann. „Ardanna hat wichtigere Dinge um die Ohren. Ich will erst wissen, was mit Maxim ist, bevor ich sie belästige. Verflucht, nun habt ihr mich angesteckt mit eurer Hysterie. Folgt mir!“
Grimmig schüttelte sie die Tanzschuhe von ihren Füßen und tapste auf Strümpfen in den Flur hinaus.


Sphita rüttelte am Knauf der Tür, die zu Maxims Gemächern führte. „Wir hätten es wissen sollen.“
„Geht hinunter in den Garten“, befahl Adiv. „Schaut nach, ob die Fensterläden ebenfalls verschlossen sind.“
Kaum waren die Kinder verschwunden, sah sie sich nach allen Seiten um und hockte sich vor das Schloss. Prant galt als Zentrum der Tüftler und Erfinder, der Baumeister und Handwerker. Perth beherbergte die einfallsreichsten Menschen des Landes. In Baratens Anwesen wimmelte es von technischen Spielereien, die sie oft genug faszinierten, besonders die unterschiedlichen Türschlösser. An diesem hier gab es einen Bügel, der das eigentliche Schlüsselloch verbarg, ein Scharnier, das mit einem eigenen Schlüssel geöffnet werden musste. Einem Schlüssel, den sie ebenso wenig besaß wie den größeren für das Schloss. Maxim trug ein Schlüsselchen an einer Kette um den Hals, fiel ihr ein.
Schnell inspizierte sie das Scharnier genauer. Es war mit einfachen Schrauben am Holz befestigt.
„Schraubendreher“, murmelte sie zu sich selbst. Der sollte in irgendeiner der Werkstätten aufzutreiben sein. Notfalls würde das Werkzeug ihrer Diebesmutter ausreichen müssen. Das würde sie sowieso brauchen, um das eigentliche Schloss zu knacken.
Das Getrappel auf der Treppe ließ sie aufhorchen. Gespannt ging sie den Kindern entgegen.
„Es steht offen“, rief Sphita halblaut vom Ende des Ganges aus. „Er hat vergessen, es zu schließen.“
Adiv folgte den Kindern in den Wirtschaftstrakt hinunter und durch eine der Hintertüren hinaus in den Teil des Gartens, den Ardanna absichtlich verwildern ließ, um bestimmte Heilpflanzen besser gedeihen zu lassen, wie sie behauptete. Adiv vermutete seit Langem, dass das Gestrüpp eher als Sichtschutz gegen neugierige Blicke diente. Viele Pflanzen im Garten enthielten giftige Substanzen, aus denen Ardanna Medizin herstellte. Andere betäubten Menschen, wieder andere konnten töten. Hexenwerk. Die Bürger Perths waren aufgeschlossener als die Leute aus den Provinzen, in denen man Heilern mit Misstrauen und Argwohn begegnete. Nicht ganz zu Unrecht, wenn man an die vielen Scharlatane und Wunderprediger dachte, die sich Ärzte nannten.
Adiv sah hinauf zum oberen Stockwerk. Ein Fensterladen war nur angelehnt und klapperte leise.
„Es geht Wind“, flüsterte sie den Kindern zu.
„Er wird Regen und Abkühlung bringen“, bestätigte Arlen. „Aber erst in ein paar Tagen. Die Hitze hat bereits nachgelassen.“
„Findest du?“ Sphita schaute zum Himmel. Die Sonne stach ihnen in den Augen und vertrieb jeden in die Häuser, der nicht in der Stadt unterwegs sein musste.
Arlen nickte. Adiv wusste, dass ihm die Hitze nichts ausmachte. Genauso wenig wie Kälte, Trockenheit oder Regen. Arlen kümmerten die Elemente nicht.
Sie schätzte die Höhe des Fensters ab, begutachtete die Beschaffenheit des Mauerwerks, überlegte, wo sich eine Leiter auftreiben ließ.
„Du könntest das Rankengitter hinaufklettern und dich ein Stück am Regenrohr hochziehen“, schlug Sphita vor. „Dann stehst du schon auf dem Sims.“
„Wie soll ich an das Gitter gelangen? Die Stacheln der Ranken zerfetzen mir die Haut. Sie enthalten ein Gift, das dafür sorgt, dass die Risse sich entzünden, brennen und jucken. Deine Mutter war schlau, die Sträucher nicht zu entfernen. Einen besseren Schutz gegen Eindringlinge gibt es kaum. Maxim muss sich keine Gedanken wegen des Fensters machen. Vielleicht hat er es absichtlich offengelassen, um uns zu verhöhnen.“
„Der Mistkerl“, schimpfte Sphita.
Arlen wies auf die Dachluke. „Aber dann hat er nicht daran gedacht, dass man auch vom Inneren des Hauses zum Fenster gelangt. Der Dachboden liegt über seinen Gemächern. Möglicherweise kommt man von dort aus auf das Dach und kann sich hinunterlassen.“
„Nicht ganz ungefährlich“, murmelte Adiv.
„Ihr könntet mich an einem Seil hinablassen. Ich öffne die Tür von innen.“
„Das ginge. Der Schlüssel bewegt einen Riegel, der innen angebracht ist. Der Riegel kann mit der Hand gehoben werden. Dann muss ich nur noch das Scharnier entfernen. Dazu brauche ich einen Schraubendreher.“
„Macht ihr beide so etwas öfter?“, fragte Sphita.
„Wo gibt es ein Seil?“, ging Adiv über die Frage hinweg.
„In den Ställen für die Jungpferde und die Bullen.“
„Kannst du unauffällig eins besorgen?“
„Vielleicht, wenn die Dienerschaft zum Abendmahl geht. Dann ist dort kein Mensch.“
„Ich entwende den Schraubendreher“, sagte Arlen. „Warmuth hat welche in seiner Werkstatt.“
„Dann kundschafte ich den Dachboden aus. Hoffentlich gibt es dort eine Leiter.“
„Es gibt eine“, antwortete Arlen. „Direkt unter der Luke.“
„Ich will gar nicht wissen, woher du das weißt“, entgegnete Adiv. „Wir treffen uns heute Abend nach dem Zubettgehen. Es wird noch hell genug sein und Ardanna legt sich zeitig hin. Ich gehe jetzt zu ihr, bevor sie nach mir suchen lässt. Seid vorsichtig. Beide.“


Nervös blinzelte Adiv den Gang hinauf und hinab. Vor einer Stunde waren die Lichter gelöscht worden. Jetzt glomm nur die Notbeleuchtung in den Fluren, die erst in einigen Stunden ihren Zweck wirklich erfüllen würde. Noch herrschte eine Art Dämmerlicht, dunkel genug, um nicht sofort entdeckt zu werden, hell genug, um auf Licht zu verzichten. Die „grauen Stunden“ nannten die Prant diese frühe Nacht im Hochsommer.
Arlen und Sphita hatten draußen bereits auf sie gewartet, eng an die Hauswand gepresst, in dunkle Kleidung gewandet. Sphita hatte das Seil quer über den Leib geschlungen. Adiv trug die Lederkluft ihrer Mutter.
Sie hatten sich vergewissert, dass der Fensterladen noch immer offen stand und sich niemand im oder in der Nähe des verwilderten Gartens aufhielt. Dann waren sie auf den Dachboden geschlichen, vorbei an Dienstbotenwohnungen, hinter denen sie beruhigende Schlafgeräusche vernahmen. Hinter einer Tür hatte Adiv die unverkennbaren Laute zweier Liebender ausgemacht und die Kinder schnell weitergeschoben.
Auf der schmalen gewundenen Treppe, die zum Dachboden führte, hatte Arlen die Führung übernommen. Hier oben war es auch tagsüber viel dunkler als im Rest des Hauses, sodass Adiv und Sphita sich an der Wand abstützten.
Der Boden war ein Gewirr aus Gängen, Kammern und Bretterverschlägen, in denen ausrangierte Möbel, Erinnerungsstücke, Spiegel und Küchenutensilien verstaubten. In anderen stapelten sich Säcke alter Kleidung, Kisten mit Gartenwerkzeugen, Krüge und Fässer mit undefinierbarem Inhalt. Die Hinterlassenschaften mehrerer Generationen. Der Traum eines jeden abenteuerlustigen Kindes.
Arlen hatte sie zielsicher zu der Leiter geführt, die unter der Dachluke lehnte. „Wenn es Schäden am Dach gibt oder der Schornstein gereinigt werden muss, steigen Warmuth und Huisans hier herauf“, hatte er ihnen erklärt.
Dann hatte er Sphita um das Seil gebeten, es um die Hüfte geschlungen und mit komplizierten Knoten befestigt.
„Woher kennst du diese Knoten?“, hatte Adiv gefragt.
„Die Sumpfleute haben sie mir gezeigt. Auf dem Boot.“
Die Janta.
Erinnerungen hatten sie überwältigt, während sie auf die Stiege geklettert war und Arlen gehalten hatte, sodass er das Dach hinunterrutschen und in Maxims Zimmer gleiten konnte. Er hatte sich geschickt angestellt, lautlos und ohne Fehltritte seine Aufgabe ausgeführt. Sie hatte das Seil gehalten, die alten Schnitte auf ihren Handflächen gespürt.
Manche Erinnerungen waren ein Fluch.
Jetzt stand sie auf dem Flur, angespannt, sich die Hände reibend, auf die typischen Schließgeräusche wartend, mit einem Ohr nach Sphita horchend, die an der Treppe Wache hielt.
Um sich abzulenken, tastete sie nach den Schrauben in ihrer Tasche. Sie hatte das Scharnier kurz vor dem Abendmahl gelöst, als sie die meisten Bediensteten in der Küche, dem Haus der Kranken oder den Vorratskellern wusste. Zwei Schrauben hatte sie nur gelockert. Es war zwar unwahrscheinlich, dass jemandem so bald eine fehlende Schließe auffiel, aber sie hatte kein Risiko eingehen wollen.
Plötzlich hörte sie, wie der Mechanismus zum Leben erwachte. Flugs drehte sie die verbliebenen Schrauben mit den Fingern hinaus und verstaute den Bügel in ihrer Hosentasche.
Im selben Augenblick öffnete Arlen von innen die Tür.
„Das ging schnell“, flüsterte sie.
„Er hatte den Ersatzschlüssel auf dem Türrahmen versteckt. Ich brauchte dein Werkzeug gar nicht.“
„Hol Sphita. Ich sehe mich inzwischen um.“
„Du wirst hier nichts finden.“
„Hat er alles leer geräumt?“
„Ganz im Gegenteil.“


Er hatte alles verwüstet.
Maxim war ein Pedant; ein Mann, der Kontrolle ausübte. Über sich, über andere, über Dinge. Dies hier war Absicht. Die letzten Worte eines Menschen, der damit gerechnet hatte, dass man ihm auf die Spur kam, der wusste, dass er entdeckt werden würde. Der wollte, dass man das hier vorfand.
Adiv hatte mit leeren Räumen gerechnet, mit offen stehenden Schränken und Truhen, blank geputzt und ohne Inhalt. Was sie fand, waren die Spuren einer Zerstörungsorgie. Maxim verhöhnte sie mit Chaos. Die Schränke und Truhen standen offen, aber sie waren vollgestopft mit Mänteln, Hosen, Unterwäsche. Sämtliche Schubladen waren herausgerissen und umgekippt, teilweise zersplittert. Sein Schreibtisch lag auf dem Boden, alle vier Beine ragten in die Luft. Das, was auf ihm gelegen oder gestanden hatte, war in den Räumen verteilt: Bücher mit herausgefetzten Seiten, Spielbretter, Federn. Die Tintenfässchen hatte er gegen die teuren Seidentapeten geworfen, wo sie geborsten waren.
Fassungslos tapste Adiv ins angrenzende Schlafgemach, in dem sie die Überreste seines Bettes vorfand.
„Wie hat er das bloß geschafft?“, murmelte sie.
Sphita gesellte sich an ihre Seite. Die Augen des Mädchens standen weit offen. „Er ist darauf herumgesprungen, bis es zerbrochen ist.“
„Dann muss er hoch gesprungen sein. Die Betten sind ziemlich stabil.“
Sphita antwortete nicht. Vorsichtig schob sie sich in das Badezimmer, aus dem sie gleich darauf wieder mit ekelverzerrtem Gesicht herausgeschossen kam, zum Fenster rannte und die Läden aufriss.
Adiv musterte mit ahnungsvoller Miene Arlen. Der zog die Stirn hoch. Gemeinsam betraten sie das Badezimmer.
Zuerst sahen sie die Wände. Sie waren mit braunen und gelben Flecken und Streifen verunziert. „Örgs“, würgte Adiv. „Dieses Schwein.“ Auch auf dem Spiegel fanden sie verschmierte Fäkalien. Das Becken darunter war zerschlagen.
Sie gingen zurück in Maxims Schlafgemach. Sphita lehnte am Fensterrahmen, die Wangen aufgeblasen, als hielte sie die Luft an. „Bei den Göttern, wie das hier stinkt“, stieß sie hervor. „Seht euch das Bett mal genauer an.“
Wieder wechselten Arlen und Adiv einen bangen Blick. Dann schoben sie sich an das zerbrochene Bett heran, behutsam durch Berge voller Kleidung und Abfall pflügend. Adiv sah auch auf ihnen Urinflecken. Dort, wo der Teppichboden nicht vollgestellt oder mit Müll übersäht war, schillerten Pfützen. „Er hat alles vollgepisst“, zischte sie. „Bei Kaa, wie viel hatte er getrunken, um sich all das aus dem Leib zu pressen?“
„Und gegessen“, fügte Arlen tonlos hinzu und wies auf das Bett.
Erneut stieß sie einen Laut des Ekels aus. Gleichzeitig presste sie ihre Hände vor Nase und Mund. Bettlaken und Decken lagen als großer Klumpen auf der zertrampelten Bettstatt. In der Mitte formten sie einen Krater, der gefüllt war mit Maxim Baratens Darminhalt. Fliegen schwirrten um die Sauerei. Es stank entsetzlich. Neben dem Bett lagen umgekippte Eimer. Adiv begriff, dass er nicht einfach ins Bett geschissen hatte, sondern die Nachttöpfe ausgeleert hatte. Über Kleider, Papiere, Schmuck, über Teppiche und Tapeten. Sogar an der Zimmerdecke entdeckte sie Spritzer.
„Sein Nachtgeschirr. Er muss es tagelang nicht geleert haben. Seht euch diese Menge an. Er hat hier im Gestank gehaust und seine Ausscheidungen gesammelt. Nur, um das hier anzurichten. Was für ein kranker, widerlicher Mistkerl!“ Adiv heulte fast vor Wut. Wäre Maxim jetzt in der Nähe gewesen, hätte sie sich ohne Zögern auf ihn gestürzt und ihm die restliche Scheiße aus dem Leib geprügelt.
Langsam wichen sie in die Wohnstube zurück, noch mehr darauf achtend, wohin sie traten und sehr darauf bedacht, nichts anzufassen.
„Warum tut er so was?“, flüsterte Sphita. In ihren Augen standen Tränen.
„Das ist eindeutig als Gruß an deine Mutter gedacht. An uns alle. Uns Weiber. An mich, die sich ihm widersetzt. An die Frau, die seinen Sohn verhext hat. Die ihm das wegnahm, was seiner Meinung nach ihm zustand. All den Reichtum seiner Familie. An dich, weil du die Tochter dieser Frau bist. Ein gehässiger, alter Bastard.“
„Aber die Baratens waren gar nicht so wohlhabend. Das Meiste brachte Sabyn mit in die Ehe. Das war doch der Grund, warum die Ehe geschlossen wurde. Die Baratens strebten nach Macht und Reichtum.“
„Cledent auch?“
„Er war ehrgeizig bis hin zur Besessenheit“, ertönte Ardannas Stimme leise hinter ihnen.
Adiv und Sphita fuhren herum.
Ardannas Augen schossen durch den Raum. Die Heilerin wirkte um Gelassenheit bemüht, doch Adiv erkannte, dass auch sie fassungslos war angesichts der Verwüstung. „Natürlich suchte er seinen Platz in der Gesellschaft, vor allem, als er jünger war. Er schloss seine Ehe aus Kalkül. Cledent kam aus gutem Hause, aber es war keins der Hohen Häuser. Damit waren ihm viele Wege versperrt. Sabyn war eine Daví. Die männlichen Erben der Linie sitzen seit ewigen Zeiten im Rat der Kaiserin. Sie war eine ausgezeichnete Partie. Schön, schlau, von edlem Blut, reich, angesehen. Aber Cledent änderte sich mit den Jahren. Sabyn und er fanden zusammen. Sie verliebten sich, führten eine harmonische Ehe. Er änderte sich noch mehr, als Videm zur Welt kam und ganz bestimmt nach dem Tod seiner Frau. Seine Arbeit blieb ihm wichtig, die Suche nach der Wahrheit sein stetes Ziel. Doch das Schicksal lehrte ihn, dass es daneben noch anderes gab.“
„Cledent war aus gutem Hause“, stieß Adiv hervor. „Dass ich nicht lache!“
„Maxim war angesehen einst. Wie sein Vater vor ihm. Sie haben hart gearbeitet und geschickt geehelicht. Etwas ist passiert mit ihm in den letzten Jahren. Ich wusste, dass er verbittert war, aber so viel … Wut hätte ich nicht erwartet.“
Ardanna verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sphita trat zu ihr und umarmte sie. Die Heilerin zog ihre Tochter an sich. Sie spendeten sich gegenseitig Trost.
Adiv tippte eine zerbrochene Vase an. „Nach seiner Logik habt Ihr ihm alles genommen: seinen Sohn, sein Haus, sein Erbe.“
„Sein Sohn war ihm herzlich egal“, entgegnete Ardanna. „Es ging ihm nur um den Besitz. Materielle Dinge sind das, was in Maxims Welt zählt, nicht Menschen. Als Sabyn starb, trauerte er nicht. Seinen Enkel lehnte er rundweg ab nach dem Unfall. Er fand ihn abartig.“
„Ich finde das hier abartig.“
„Das hier ist das Werk eines gequälten, besessenen Geistes“, stimmte Ardanna zu. Dann atmete sie tief ein. „Eines kranken Mannes. Ich werde Amon Gurbandat rufen lassen. Er soll sich das hier ansehen und nach Maxim suchen. Es kümmert mich nicht mehr, ob er im Gefängnis verrottet.“
„Dazu muss er ihn erst einmal finden“, sagte Adiv düster.
„Glaubst du uns nun, dass er es war, der Adiv angegriffen hat?“, fragte Sphita.
„Es sieht sehr danach aus“, erwiderte Ardanna müde. „Ich lasse uns in der Küche Tee bereiten. Nach dem Schrecken können wir sowieso nicht mehr schlafen.“
Sie zog ihre Tochter mit sich.
Auch Adiv setzte sich in Bewegung, doch Arlen rührte sich nicht von der Stelle.
„Was ist?“, fragte sie.
Der Knabe schwieg.
„Arlen? Was ist? Woran denkst du?“
„Ich bin von seinem Blut.“
Adiv runzelte die Stirn. „Von Maxims? Nein. Cledent war nicht dein Großvater. Ein unbekannter Mann war es.“
„Videm muss sehr gelitten haben. Cledent bestimmt auch. Einen solchen Vater zu haben…“ Der Junge ließ den Satz unvollendet. Still und mit gesenktem Kopf ging er aus dem Zimmer.
Adiv entschied sich, ihrem Ziehsohn Zeit zu geben. Seine Bemerkung nagte an ihr. Litt er unter dem Gefühl, nirgendwo hinzugehören? Sie hatte alles getan, ihm ein Heim, eine Familie zu geben, doch reichte das? Seine Mutter war tot, der Vater unbekannt. Er wusste nicht, wo seine Wurzeln lagen. Und es gab niemanden mehr, den er fragen konnte. Hatte er gefragt? Die Angestellten? Ardanna? Sphita?
Wer war sein Vater?
Sie erinnerte sich, dass die Kriegerin dieselbe Frage gestellt hatte, damals. Was war mit den Vätern? Zum Glück für sie hatte Gillok sich als Ciycains Vater herausgestellt, doch was war mit den anderen? Mit Kian, Yvain und Arlen?
Ein böser Verdacht beschlich sie. Arlens Bemerkung hatte ihn herausgelockt. Er war weit hergeholt, aber er nistete sich in ihren Gedanken ein. Cledents Frau hatte ihn betrogen. Ganz am Anfang ihrer Ehe oder noch davor, da war sie sich nicht sicher. Einige Jahre vor Videms Geburt.
„Mein Großvater bestand darauf, das Kind zu beseitigen“, hatte Videm vor vielen Monaten erzählt. Unter der Erde, im heißen, stickigen Bauch der Eisinsel.
Maxim. Videms Großvater. Der Mann, der das ungeborene Kind töten lassen wollte, weil es die Karriere seines Sohnes schädigte. Den Ruf der Familie. Und damit all die Herrlichkeiten, für die Maxim lebte.
Steckte noch mehr dahinter?
Kannte Maxim den Vater? Kannte er Aans Vater?
„War er es selbst?“
Adiv schrak zusammen, als sie ihre eigene Stimme vernahm. Jetzt war der Verdacht ausgesprochen. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück.
„Würde er so etwas tun?“, flüsterte sie.
Maxim. Sabyn. Aan. Arlen. Das Besondere Kind am Ende einer langen Blutslinie. Er war mehr als ein Gefängniskind. Arlen Daví. Floss auch das Blut der Baratens in ihm? Das verderbte Blut Maxims?
Sie beschloss, in die Küche zu gehen und einen von Ardannas beruhigenden Tees zu trinken. Maxim war ein böser, innerlich verrotteter Mann. Ein Mann, der abscheuliche Dinge tat. Höchstwahrscheinlich lag sie falsch. Höchstwahrscheinlich war sie so erbost, dass sie ihm alles Mögliche zutraute. Höchstwahrscheinlich gingen ihre Gefühle mit ihr durch.
Dennoch. Sie musste mehr herausfinden.
Maxim hatte nichts hiergelassen außer Schmutz. Hier würde sie nichts finden außer noch mehr Unrat.
Doch was war mit den anderen Räumen?

Sechs Tage. Sechs Tage, seit sie eine Nacht in Yanois verbracht hatten, misstrauisch beäugt von dessen Bewohnern. Gillok und seine Tochter waren ins Dorf gegangen, Syriakin blieb beim ihm und Yvain. Er war ungeduldig im Kreis umher gewandert, während Yvain in sich gekehrt auf einem Stein gehockt hatte und die Sumpffrau an einen Baum gelehnt im Stehen zu dösen schien. Schließlich waren Gillok und Ciycain mit einem jungen Mann und einem Greis aufgetaucht, der sich als Dorfältester vorstellte.
Syriakin war nicht mit ihnen gegangen, als Falokk ihn und Yvain mit wenig Herzlichkeit ins Dorf einlud, augenscheinlich mehr, um Gillok und vor allem Ciycain einen Gefallen zu tun. Syriakin warf er lediglich schwer zu deutende Blicke zu, die sie nicht erwiderte.
Seither hatte er mehr als einmal feststellen müssen, dass sie nicht sonderlich gesprächig war. Er hatte ihr Fragen gestellt. Zu ihrem einsamen Lagerplatz weitab des Dorfes, zu den Dorfbewohnern, die ihnen mit unverhohlenem Argwohn begegneten, über Nou, der sich ihnen angeschlossen hatte, zu Gillok und ihr, zu Ciycains und Yvains besonderer Bindung, zu der Reise in den Norden.
Zu allen persönlichen Fragen hatte sie geschwiegen, zu allem anderen nur Weniges gesagt, und das ausgesprochen widerwillig.
Dennoch geschah es immer wieder, dass er in ihrer Nähe lief auf ihrem Weg, der sie nun nach Südwesten führte, am Rand der Sümpfe entlang, auf verschlungenen Zick-Zack-Pfaden, um etwaige Verfolger abzuschütteln, auf das Meer zu, um zumindest einen Teil der Strecke auf dem Wasser zurückzulegen. Ein Gedanke, der ihm nicht behagte.
Zumeist gingen Gillok und sein Freund Nou an der Spitze ihrer sechsköpfigen Truppe, die beiden Kinder in der Mitte und Syriakin und er hinten. Der Marsch war anstrengend, nicht zuletzt, weil die Sumpfmänner ein strammes Tempo vorlegten und kaum rasteten. Trotzdem fühlte er sich erleichtert. Die Frâgg kannten Wege, die er und Yvain nicht einmal wahrgenommen hätten, sie achteten auf Gefahren und warnten vor Tieren, noch bevor er sie sah. Das Leben war wieder leichter geworden, selbst wenn die langen Schweigestunden, in denen er den anderen hinterher trottete, ihm zusetzten.
Nach einem weiteren Vormittag verdrossenen Schweigens unternahm er einen neuen Versuch, sie zum Reden zu bringen. „Es tut mir sehr leid für Yvain. Ich habe das Gefühl, versagt zu haben.“
Zu seiner Überraschung antwortete sie. „Nicht als Leibwächter. Euer Schützling lebt.“
„Aber seine Mutter nicht. Ich hätte mehr tun sollen.“
„Was denn?“
„Irgendetwas hätte mir einfallen müssen. Man hätte sie aufhalten müssen.“
„Ihr hättet den Jungen in Gefahr gebracht.“
„Stimmt“, erwiderte Thragesh mit unverhohlenem Sarkasmus. „Hier ist er ja sicher.“
„Nichts ist jemals sicher. Ihr habt getan, was Ihr in der Situation für richtig hieltet. Bisher mit Erfolg. Außerdem solltet Ihr Yvain nicht unterschätzen.“
So viele Worte hatte sie bislang nie mit ihm gewechselt, auch wenn er den Verdacht nicht abschütteln konnte, dass sie es nur tat, um sich abzulenken. Er hatte sie beobachtet. Sie bat nie um eine Rast oder beschwerte sich, aber sie trank viel, aß wenig, lehnte sich bei jeder Gelegenheit irgendwo an. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von Blass zu ungesundem Rot. Ihre Wange war rund um die Narbe geschwollen. An den Wundrändern standen Blut und Eiter. Gillok und Ciycain warfen ihr besorgte Blicke zu, die sie ignorierte. Also hütete er sich davor, sie auf die Verletzung anzusprechen.
„Ist Euch aufgefallen, dass er im Dunkeln zu sehen scheint?“
„Sie alle können das.“
„Wie viele von Yvains Art gibt es?“
„Wir kennen vier. Möglich, dass es noch mehr gibt.“ Ihre Stimme war abweisender geworden, vorsichtiger.
„Ihr traut mir nicht“, stellte Thragesh fest. „Das kann ich Euch nicht verdenken. Ich bin ein Fremder für Euch. Doch bedenkt, dass der Prinz mich der Drana’sora empfohlen hat. Zählt das nicht? Er hat sein Vertrauen in mich gesetzt.“
„Er hat Euch nichts erzählt. Von den Kindern. Der Reise.“
„Danke, dass Ihr mich so schonungslos daran erinnert.“ Ärgerlich erhöhte er das Tempo.
„Seit er hier ist, sieht Ciycain im Dunkeln noch besser. Ihre Augen verwandeln sich, sobald die Nacht hereinbricht. Yvains ebenso.“
Erstaunt blieb er stehen. Sie schlenderte heran, als bräuchte sie Zeit, das Gesagte selbst zu verdauen. „Habt Ihr schon einmal Raubkatzenaugen im Dunkeln gesehen? Seht genau hin heute Nacht. Ihr werdet wissen, was ich meine.“
„Seit er hier ist? Was meint Ihr damit?“ Er hielt sie fest, eine unbedachte Geste, auf die sie wie auf einen Angriff reagierte, indem sie seinen Unterarm packte und grob zur Seite bog.
Er wich vor ihren lodernden Augen zurück. „Ahh.“
Sie zog ihre Hand ein, wandte sich ab.
Er stapfte ihr nach. „Sagt Ihr es mir? Oder soll ich Eure Andeutung selbst enträtseln?“
„Wenn sie zusammen sind, verdoppelt sich ihre Kraft.“
„Ihre Kraft?“
„Ihre Magie. So haben wir es am Ende genannt. Denn magisch ist es, was sie wirken. Unerklärlich.“
„Magie?“, wiederholte er verblüfft. „Zauberei? Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht?“
Erneut blieb sie stehen. „Ciycain rief einen Wal.“ Sie sah in die Gegend, sprach mehr zu sich selbst. „Auf der Eisinsel. Er schwamm vor uns im Wasser. In Wasser, das senkrecht stand. Sie ließen eine Eiswand schmelzen. Sie schufen eine Feuerwalze, die unsere Gegner niedermähte. Im Dunkeln zu sehen gehört zu ihren leichteren Übungen.“
Thragesh starrte sie mit offenem Mund an. Vielleicht hatte das Fieber ihren Verstand verbrannt.
„Gewöhnt Euch besser daran. Yvain und Ciycain sind besonders und deshalb immer in Gefahr. So wie die anderen beiden. Wir müssen sie warnen.“
„Warum sind sie gefährdet?“
„Weil sie etwas haben, das andere wollen. Ma’eth. Magie. Macht.“
„Das ist doch Hokuspokus.“
„Sie wurden schon einmal entführt. Um ihre Macht zu missbrauchen. Um sie als Waffe einzusetzen.“
Thragesh schüttelte den Kopf. „Das ist verrückt.“
„Das dachten wir auch. Bis wir sie kennenlernten, die magischen Geschöpfe. Bis wir sahen, was die Kinder wirkten. Ich habe sie gesehen. Gillok hat sie gesehen. Ylaiy ebenso. Die Drana’sora. Ich bin nicht verrückt. Oder wir alle sind es.“
„Ihr wollt mich zum Narren halten.“
„Nein.“
„Heißt das, Yvain ist ein Hexenmeister? Warum hat er den Angriff dann nicht abgewehrt? Wenn er so viel Macht hat, wie Ihr sagt. Ich fand ihn stets sonderbar, aber zaubern habe ich ihn nie sehen.“
„Wir wissen noch zu wenig über die Art und Weise, wie sie Magie wirken“, gab sie zu. „Sie wissen es selbst nicht. An manchen Orten ist ihre Macht größer als an anderen. Besonders stark war sie im Norden. Hier auf Kânegg scheint sie nur zu glimmen. Doch sie loderte auf, als Ciycain und Yvain aufeinandertrafen. Ihr habt es gesehen. Rauchlose Flammen.“
„Das ist verrückt. Völlig absurd.“
„Haltet einfach die Augen offen.“


Drei Tage später stellte Thragesh fest, dass ihm das Laufen leichter fiel. Vielleicht lag es daran, dass er sich an die Sümpfe gewöhnt hatte, und an die wortkargen Sumpfleute. Die meiste Zeit trottete er neben Syriakin her, aber während der kurzen Pausen und in den Abendstunden fand er sich bei Gillok und Nou ein, half ihnen bei der Zubereitung der Speisen und bei der Errichtung der kargen Nachtlager. Er stellte Fragen, die sie bereitwillig beantworteten, als sie merkten, dass er ehrlich an ihrer Lebensweise interessiert war. Manchmal wirkten sie fast schon wie eine richtige Gemeinschaft.
Yvain hingegen war ein anderes Thema. Er ertappte sich dabei, wie er den Knaben lange Minuten beobachtete und nach Anzeichen suchte. Nach Abnormitäten, Besonderheiten. Viel war es nicht, was er sah. Er und Ciycain wirkten wie normale Kinder. Sie spielten und lachten miteinander, rannten manchmal voraus, hüpften und sprangen, wenn es ihnen in den Sinn kam, schlenderten neben den Erwachsenen her, wenn sie sich langweilten, stoppten, wenn sie etwas Interessantes am Wegrand ausmachten, untersuchten Kleintiere und bizarre Pflanzen. Beide mochten groß sein für ihr Alter, aber weil der Vergleich mit anderen Kindern fehlte, vergaß man das rasch. Ungewöhnlich, doch nicht unheimlich, war, dass sie sich kaum beschwerten. Sie klagten weder über die endlosen Fußmärsche, noch über Temperatur und Feuchtigkeit, noch über Hunger und Durst.
Yvain verbrachte weniger Zeit mit ihm, aber das störte ihn nicht. Er hatte eine Gleichaltrige gefunden und für Thragesh war klar, dass die Kinder lieber unter sich blieben. Wenn er ehrlich war, dann war eher er es, der den Kontakt mied. Yvain und er unterhielten weiterhin ein herzliches Verhältnis; die Dinge waren nur nicht mehr ganz so unbeschwert zwischen ihnen wie früher.
Zauberei. Hexenkunst. Sein Mund verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln, wenn er daran dachte. Verrückt.
Abschütteln konnte er die Gedanken nicht. Wenigstens lenkten sie ihn von der Lauferei ab. Und von der Schwüle, die ihn langsam, aber sicher um den Verstand brachte.
„Wie haltet ihr das bloß aus?“, stöhnte er.
Syriakin, die mit halb geschlossenen Augen neben ihm lief, reagierte nicht. Sie schien seine Beschwerden nie zur Kenntnis zu nehmen.
„Warum schwitzt ihr nicht?“, fragte er gereizt.
„Wir schwitzen.“
„Aber nicht wie ich. Ich habe keinen trockenen Faden mehr am Leib.“
„Ihr habt Glück, dass Ihr während einer Regenzeit aufgebrochen seid.“
„Regenzeit? Es ist Hochsommer. Die Hitze kocht mein Gehirn weich.“
„Seit ein paar Tagen sind wir im Er-al.“
Al. Von wegen nasse Zeit. Für diesen Sommer müssten wir die Monatsnamen umbenennen. Wie wäre es mit fuorno? Er-fuorno. Die Mitte des Backofens. Das wäre passender.“
„Habt Ihr die Niederschläge am Nachmittag nicht bemerkt?“
„Die verdampfen, bevor sie auf der Erde ankommen.“
„Sie speisen die Gewässer im Sumpf. Im Yi-dor beginnt eine Trockenperiode. Die meisten Seen und Kanäle werden austrocknen. Nur die tiefsten Wasserlöcher nicht.“
„Klingt gut. Dann hätte man wenigstens ab und zu trockene Füße. Meine sind so aufgeweicht, dass sie beinahe ihre doppelte Größe erreicht haben.“
„So zieht die Stiefel aus.“
„Ihr seid wohl von Sinnen!“
„Das Sumpfvolk geht barfuß.“
„Ihr nicht.“
„Nur auf langen Märschen nicht.“
„Wie macht ihr das? Ihr Frâgg?“
„Unsere Haut ist anders. Wir sind die Feuchtigkeit gewohnt. Und das Laufen auf bloßen Füßen.“
Thragesh schwieg, während er über ihre Worte nachdachte. Die nächste Viertelmeile stapfte er hinter ihr her und bewunderte wie so oft die schwerelos scheinende Geschmeidigkeit ihres Ganges. Sie sah mit jedem Tag angeschlagener aus, aber sie bewegte sich mit beneidenswerter Leichtigkeit.
„Also“, begann er das Gespräch erneut. „Was ist so schlimm daran, wenn ein paar dieser Höllenlöcher austrocknen?“
„Die Reptilien flüchten. Kaimane, Krokodile, Echsen, Schlangen. Schildkröten. Sie alle brauchen das Wasser. Sie alle fliehen zu den letzten Wasserlöchern im Wawan.“
„Und?“
„Sie sammeln sich in den Gewässern. Hunderte, tausende Reptilien. Zuerst fressen sie die Fische. Danach die Frösche und Kröten. Die kleineren Echsen und Saura. Ihre schwächeren Artgenossen. Dann warten sie. Sie können lange hungern und unbeweglich ausharren.“
„Sie warten auf weitere Beute.“
„Säuger, Vögel, große Insekten. Als Mensch seid Ihr ein leichter Fang für einen Schwarm Reptilien. Ans Wasser müsst Ihr irgendwann. Wenn Ihr nicht wisst, wo Ihr sonst Flüssigkeit herbekommt.“
„Passiert das oft?“, fragte er beklommen.
„Menschen verschwinden immer wieder. Auch Fraga-í.“
„Wie könnt ihr hier nur leben?“
„Wenn man die Gefahren kennt, kann man sie umgehen. Die meisten Sumpfleute meiden die tiefen Sümpfe. Sie leben in den Wäldern und am Meer. Aber sie kennen die versteckten Orte. Deshalb überlebten sie bis heute.“
„Im Reich geltet ihr als ausgestorben, wusstet Ihr das?“
„Wie Ihr seht, stimmt das nicht.“
Beide verfielen in nachdenkliches Schweigen, bis Gillok und Nou stehenblieben und auf sie warteten.
Offenbar zwang ein Tier, das mitten auf dem dicht bewachsenen Pfad kauerte, sie zum Stillstand.
„Was ist das?“ Neugierig beugte Thragesh sich vor und beäugte das etwa handtellergroße Exemplar mit dem auffallend breiten Kopf und den langen Extremitäten. „So einen Frosch habe ich noch nie gesehen. Er hat mehr Haare auf dem Rücken als ich.“
„Fasst es besser nicht an“, warnte Gillok.
Thrageshs Hand zuckte zurück. „Ist es giftig?“
Statt einer Antwort sah Gillok sich um und hob einen verdorrten Zweig auf. Sobald er die Haut des Frosches berührte, richteten dessen Haare sich auf wie Stacheln. Gleichzeitig fuhren zentimeterlange Krallen aus den Vorderfüßen. Erstaunt sah Thragesh, wie der Frosch sich auf die Hinterbeine sinken ließ, sich aufplusterte und eine Angriffsstellung einnahm, dabei Laute ausstoßend, die irgendwo zwischen einem Fauchen und einem Bellen lagen.
Yvains Leibwächter lachte. „Ein Soldatenfrosch. Er hat Waffen, kann sich verteidigen und fürchtet sich nicht vor übermächtigen Feinden.“
„Es ist ein Haarfrosch“, entgegnete Syriakin. „Das meiste ist Aufschneiderei. Die Stacheln und Krallen sind ungiftig. Sie schmerzen, verletzen aber nicht ernsthaft. Es gibt kleinere Arten, die weitaus gefährlicher sind. Die sich besser zu tarnen wissen und die Euch töten können, wenn Ihr sie nur berührt.“ Mit der Stiefelspitze stieß sie das Tier an. Der Frosch fauchte ein letztes Mal, zog Krallen und Stacheln ein und krümmte sich. „Man kann ihn nicht einmal essen. Wenigstens vertilgt er Insekten.“
„Natürlich ist jede Wunde potenziell gefährlich“, widersprach Gillok seiner Gefährtin. „Der Frosch mag Euch nur oberflächliche Schnitte beibringen, aber in diese kann jederzeit Schmutz gelangen und sie entzünden. In den Sümpfen ist es stets besser, Vorsicht walten zu lassen.“
„Wir sind nicht mehr in den Sümpfen“, entgegnete Syriakin. „Haarfrösche gibt es nicht an stehenden Gewässern.“
„Wir haben die Sümpfe hinter uns?“, fragte Thragesh.
Gillok nickte. „Die letzten Ausläufer haben wir vor Kurzem passiert. Merkt Ihr nicht, wie der Untergrund sich verändert hat? Schaut Euch um. Die Farne und Wasserwurzler sind fast verschwunden.“
„Bäume. Tatsächlich“, sagte Thragesh. „Wo sind wir?“
„In der Nähe fließenden Wassers. Am Südwestzipfel. Hier gibt es kleinere, schnelle Flüsse, die zum Meer führen. Wir sollten es in weniger als einem halben Tag erreichen. Von dort aus ist es ein Katzensprung nach Staleph und Kaadaa.“
„Und wie kommen wir hinüber?“
„Wir schwimmen.“
Yvains Leibwächter zog den Kopf zwischen die Schultern. „Das kann ich nicht.“
Die Sumpfleute sahen sich an. „Ihr könnt nicht schwimmen?“, fragte Nou erstaunt.
„Für euch ist das wohl so, als könnte ich nicht laufen“, brummelte Shesh.
Ciycain legte ihm beruhigend ihre Hand auf den Arm. „Bald gibt es genug Holz und Schilf für ein Floß. Ihr müsst das Wasser nicht fürchten. Nou, meine Eltern und ich werden Euch anschieben. Yvain schwimmt sehr gut.“
„Nicht so wie du.“ Yvain lächelte. „Im Notfall ruhe ich mich neben Shesh aus.“
„So sei es“, entschied Gillok und setzte sich in Bewegung.
Thragesh zog sich die rutschende Hose hoch und wandte sich nach seinem Schützling um. Dieser war zu Ciycain getreten, die sich vor den Frosch gehockt hatte. Der Soldat sah, wie sie unhörbare Worte flüsterte. Dann legte sie beide Hände um den Leib der Amphibie und hob sie an. Ihre Finger streichelten das Haar auf dem Rücken. Thragesh hatte den Eindruck, das Tier würde sich entspannen. Nach wenigen Minuten setzte Ciycain den Frosch behutsam zu Boden und gesellte sich zu Yvain, der sie anlächelte.

Talin kreischte vor Vergnügen, als Sila ihn durch das seichte Wasser zog.
„Du solltest behutsamer mit ihm umgehen“, tadelte Rana sanft. „Er ist fast noch ein Säugling.“
„Sieht er aus, als ängstige er sich? Er ist seit zwei Wochen mit uns unterwegs. Gönne ihm das bisschen Spaß.“
„Vielleicht hast du recht“, seufzte Rana. „Er ist wirklich lieb, weint kaum, obwohl die Hitze uns martert und das Schlafen im Boot alles andere als bequem ist. Ich jedenfalls sehne mich nach einem Bett.“
„Ich mich nach frischen Kleidern und nach einer ordentlichen Mahlzeit“, sagte Sila und schwang Talin ein weiteres Mal durch die Luft. „Wenigstens haben wir genügend Wasser.“
„Wer weiß, wie lange noch“, meldete sich Ivson vom Ruder aus.
„Wird es flacher?“, fragte Rana.
„Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir aufsetzen. Einige Male sind wir schon über das Flussbett geschrammt.“
„Wir müssten sowieso bald an Land gehen“, überlegte Sila. „Hast du nicht gesagt, das Feld der Steine reiche bis in den Palastforst? Ich sehe kaum noch hohe Steine. Womöglich haben wir das Labyrinth bereits hinter uns gelassen.“
„Der Dran’bahraiy soll riesig sein. Vielleicht sind wir schon darin. Andererseits ist der Fluss der sicherste Weg.“
„Nicht, wenn wir auf Grund laufen“, gab Rana zu bedenken. „Außerdem ist es nicht klug, uns offen zu nähern. Tikt hat vielleicht Freunde im Palast, die auf uns warten. Uns abfangen wollen. Dann werden sie die Zufahrtswege kontrollieren. Also auch den Fluss.“
„Was glaubst du, wie weit wir noch entfernt sind?“, fragte Sila.
„Nicht weit. Die Bäume und Gräser sehen so aus wie die im Palastforst. Die Umgebung wirkt vertrauter.“
„In welcher Richtung liegt die Hauptstadt?“
„Oje.“ Rana schaute ratlos. „Ich erinnere mich, dass der Fluss bei Clarce einen großen Bogen schlägt und dann nach Osten fließt. Wir müssen auf jeden Fall ans linke Ufer. Rechterhand würden wir zur Küste gelangen.“
„Haben wir Clarce bereits passiert?“
„Vorgestern Nacht, würde ich sagen. In Clarce leben viele Gerber. Der Gestank hing in der Luft.“
Sila setzte zu einer weiteren Frage an, verstummte jedoch, als das Boot erzitterte und so ruckartig zum Halten kam, dass sie beinahe ins Wasser gestürzt wäre. „Herr im Himmel“, stöhnte sie und ließ sich auf eine der Ruderbänke sinken, ihr Schienbein massierend. Talin protestierte, als sie ihn auf ihren Schoß zog.
„Tja“, sagte Ivson nach einem erschreckten Japsen, „sieht so aus, als hätte man uns die Entscheidung abgenommen. Packt eure Siebensachen. Das Boot verbergen wir am Ufer. Man muss ja niemanden mit der Nase darauf stoßen, dass wir hier waren.“


Nach wenigen Stunden hatte Sila das Gefühl, nach Hause zu kommen. Sie spürte, dass sie der Wildnis entronnen waren, auch wenn die Gegend menschenleer blieb. Sie sahen keine Gebäude, rochen keinen Rauch, hörten keine menschlichen Geräusche. Doch die Anordnung der Bäume und Sträucher wirkte nicht mehr zufällig. Die Hölzer wuchsen gerade und die Wiesenränder verliefen in klaren Linien. Findlinge säumten schmale Pfade oder schmückten Hügel und Lichtungen. Auf einigen Steinen entdeckte sie eingeritzte Muster, an einem Baum ein brüchiges Seil mit Knoten. Vieles war verwildert, aber es gab keinen Zweifel: Dies war ein Park, angelegt vor Jahrzehnten und dann weitestgehend sich selbst überlassen.
Sila genoss das. Das Gefühl, etwas Vertrautes wiederzufinden. Die Ruhe, den Frieden, die Sonne, die unter den Bäumen weniger drückend war, den wolkenlosen Himmel, das Zwitschern der Vögel, das Summen der Bienen.
In absehbarer Zeit würden die Mauern der äußeren Palastanlagen vor ihnen auftauchen. Dahinter würde Ylaiy sie erwarten, sie in Sicherheit bringen.
Ihre Tagträumereien endeten schlagartig, als sie Ivsons Atem in ihrem Nacken spürte. „Lauft weg!“ Worte, leiser als ein Flüstern.
„Was?“, hörte sie sich sagen, dann erstarrte sie.
Er lehnte an einem Baum, mit dem Rücken zu ihnen, klein, dünn, unscheinbar, gegen die Sonne kaum zu erkennen.
Zweihundert Schritte. Vielleicht weniger. Viel zu nah.
„Tikt“, murmelte sie mit abgestorbenen Lippen. Furcht überflutete ihren Verstand.
„Los!“, wiederholte Ivson. „Leise! Zu der großen Eibe dort. Versteckt euch hinter ihr.“
Rana blickte auf den imposanten Baum, der weder Blätter noch Früchte trug und dessen helles Holz sich von dem der umstehenden Bäume abhob. „Reuysa malgiya“, murmelte sie. „Die traurige Riesin. Der Palast ist nicht mehr weit.“
„Macht schon!“, drängte Ivson. „Bevor er uns bemerkt.“
Silas Augen schwenkten zwischen dem schmächtigen Soldaten und der kolossalen Eibe hin und her. Sie zögerte, schwankte zwischen Angriff, Verteidigung und Flucht.
Talin entschied. Eine fleckige Kragenechse, die sich auf dem Stein neben ihnen sonnte, hatte sein Interesse geweckt. Er krähte los, als die Zunge der Echse sich an ein Insekt haftete und dieses im Maul des Reptils verschwand.
Tikts Kopf fuhr herum.
Sila hetzte los.
Der Weg war nicht weit, aber der abschüssige Untergrund und Talin auf ihrem Rücken brachten sie schnell an ihre Grenzen. Bald schon glichen ihre Atemzüge dem Stöhnen der brustkranken Alten, denen Rana früher mit Kräutertees und Breiumschlägen Linderung verschafft hatte.
Ihre Mutter rannte hinter ihr her, gab sich alle Mühe, mitzuhalten. Ihr Gesicht war hochrot, ihr Haar hatte sich gelöst. „Lauf!“, keuchte sie. „Bringt euch in Sicherheit! Ivson und ich halten ihn auf.“
„Wie denn?“
„Lauf einfach! Denk an deinen Sohn!“
Sila schüttelte den Kopf, beschleunigte aber, sobald der Boden ein wenig ebener wurde. Ivson blieb dicht hinter ihnen, trieb sie an.
Die traurige Riesin war von so großem Umfang, dass zwanzig Männer sie nicht hätten umfassen können. Ihr Wurzelwerk schlängelte sich meterweit in alle Richtungen. Der Hauptstamm und dessen oberschenkeldicken Auswüchse sahen aus wie versteinert. Der Baum trug längst keine Krone mehr, dennoch spendeten die vielen Äste, die sich auf die fantastischste Weise miteinander verzweigten, willkommenen Schatten.
Als sie die Eibe erreichten und um ihren Stamm jagten, riss Ivsons Pranke sie jählings zurück.
„Hinein!“, befahl er.
Sila stutzte. Verborgen hinter sich kreuzenden Wurzelsträngen klaffte ein Loch. Ein Eingang. Ein Versteck.
Eine Falle.
„Schnell!“ Ivson bückte sich bereits panisch nach Wurzelwerk und Reisig.
Ohne Widerspruch zwängte Sila sich zwischen den Strängen hindurch, schlüpfte ins Innere der Baumriesin, ihre Mutter hastig hinter sich her ziehend.
Drinnen war es wie in einem staubigen Dachbodenzimmer, das wochenlang nicht gelüftet worden war. Schweiß brach Sila aus allen Poren, rann ihren Körper hinunter. Licht drang durch die poröse Rinde, zerschnitt sie und Rana in Streifen.
Sie überlegte, ob sie die Schlaufen lösen und Talin absetzen sollte. Ihr Rücken, ihre Schultern und ihr Nacken schmerzten und dort, wo sein Körper ihren berührte, klebte ihre Kleidung auf der Haut. Sie hatte fürchterlichen Durst.
„Nicht“, flüsterte Rana, als hätte sie ihre Gedanken erraten. „Er wäre nur im Weg.“
Sie drehte Sila, bis sie Talin ins Gesicht sehen konnte. Der Junge lächelte seine Großmutter an. Es war kein vergnügtes Lächeln, aber er sah auch nicht so aus, als wolle er anfangen zu greinen. Eher so, als wüsste er, dass Gefahr und Verhängnis drohten.
„Gutes Kind.“ Rana drückte die Fingerchen ihres Enkels. Dann nestelte sie ein Tonfläschchen aus ihrem Beutel und ließ den Kleinen daran nuckeln. Anschließend legte sie den Zeigefinger auf ihre Lippen und blinzelte Talin zu.
„Pst“, machte es vom Eingang her. „Er kommt. Kein Mucks mehr!“
Sila und Rana beobachteten, wie Ivson den Eingang mit Reisig und Strauchwerk verschloss. Dann wurden sie zu Stein.
Jeder Laut verstummte. Flach und langsam entließ Sila ihren Atem in die stickige Luft. Ihre Augen waren unentwegt auf einen Schlitz gerichtet, durch den Licht ins Innere fiel. Ihr Blick verengte sich auf die schmale Öffnung.
Bewegungslos verharrten sie. Warteten, beteten, wappneten sich. Sila spürte Ranas Körper neben ihrem, fühlte die Hitze, die Ranas Kleidern entstieg, den Schweiß auf ihren Armen. Spürte Talin schwerer und schwerer werden, fühlte, wie ihre Blase schmerzhaft pulsierte.
Minuten dehnten sich zu Stunden. Der Drang, Wasser zu lassen, wurde beherrschend, verdrängte selbst Hitze, Durst, Furcht und Sorge. Sila lockerte ihre verkrampften Beine, versuchte, auch ihre Blase zu lockern, ballte die Hände zu Fäusten, fluchte und heulte innerlich.
Sie behielt den Schlitz im Auge, konzentrierte sich auf den Streifen Licht, der immer heller zu leuchten schien, während der Rest der Baumhöhle im Dunkel versank.
Als Talins Wimmern an ihr Ohr drang, erschrak Sila so sehr, dass sie ihre drückende Blase und den Schlitz vergaß.
Reflexartig presste Rana ihre Hand auf den Mund des Enkels. Im selben Augenblick stieß Schwertstahl von außen in den Holzschlitz. Rinde wurde weggerissen und die Sonne stach ins Innere.
Geblendet schrien die Frauen auf und duckten sich gegen das Licht und Tikt, der mit gezücktem Schwert über sie herfiel.
Reflexartig zuckte Sila zurück, die Arme vor die tränenden Augen erhoben. Rana hingegen stürzte dem hageren Mann mit dem verzweifelten Mut einer Mutter entgegen. Sie wich dem zustechenden Schwert ungeschickt aus und packte die Klinge mit beiden Händen.
„Was tust du denn da?“, schrie Sila auf.
Talin brach in Tränen aus.
„Lauf weg!“, schrie Rana zurück. „Na los! Raus hier!“
Sie ließ das Schwert los und warf sich gegen Tikt, sprang mit blutigen Händen auf ihn los wie ein Tier, das man von der Leine gelassen hatte, krallte ihre Finger in sein Haar. Tikt versuchte, das Schwert zu heben, doch Rana ließ ihm keinen Platz, schob ihn, mit ihren Nägeln Striemen durch sein Gesicht ziehend, im Baum herum.
Schluchzend, von Talins Schreien halb betäubt, zwängte sich Sila an ihnen vorbei ins Freie, wo der Schock sie in die Knie zwang. Talin schrie wie von Sinnen. Ihre Mutter brüllte Worte, die sie kaum verstand. Die Sonne spuckte viel zu grelles Licht über sie. Ihr Körper verdampfte. In ihrem Kopf drehte sich alles.
Was sollte sie tun? Was geschah hier? Wo war Ivson? War er tot? Das alles war nicht wirklich. Sie träumte. Einen Albtraum. Sie war gefangen in einem Albtraum.
„Wach auf“, flüsterte sie zu sich. „Wach auf. Wach auf. Bitte.“
Ein Schrei ertönte, lauter als die anderen.
Sie hob den Kopf.
Tikt torkelte aus der Eibe, sah mit wüstem Blick zu ihr, verzog die Lippen zu einem wahnsinnigen Lächeln, raffte das Schwert an sich, kam auf sie zu.
„Lauf weg!“ Rana wankte aus dem Baum, die blutenden Hände gegen ihren Hals gepresst. „Sila! Lauf!“
Sila sah sich nach allen Seiten um, sah in den Himmel, anschließend zu Boden, erhob sich dann schwankend und sah ihre Mutter traurig an. „Nein. Zu spät.“
„In der Tat, Schwester.“ Tikt spuckte blutigen Rotz aus und hob das Schwert.
Da fiel Ivson vom Baum, fällte den Soldaten, stampfte ihn mit aller Wucht seines Körpers in den Boden, begrub ihn und das Schwert unter sich. Aus der Faust zupfte er einen dünnen Draht, den er um Tikts Hals schlang. Veis Sohn gelang es in letzter Sekunde, zwei Finger unter den Draht zu schieben, aber Ivson hatte so viel Gewalt in die Bewegung gelegt, dass der Draht durch Haut und Sehnen schnitt und beide Finger beinahe amputierte. Blut spritzte auf die Männer.
Schreiend ergab sich Tikt in die Umarmung des Hünen, der den Draht zusammenzog, bis Tikt, auch bekannt unter dem Namen Tikotun, tatsächlich so steif wie ein Weidenstock wurde.
„Halt“, würgte er heraus, mit der Handfläche auf den Boden schlagend. Der Draht schnitt in die zarte Haut über dem Adamsapfel. Blutstropfen rollten den Hals hinab.
„Ivson“, sagte Rana leise. „Hör auf.“
„Ich bringe dich um, hörst du? Ich töte dich!“ Ivson brüllte, aber seine Augen waren rot und seine Stimme zitterte.
„Lass ab.“ Rana humpelte heran und beugte sich zu ihm hinab. Ihr Antlitz war voller mütterlicher Sorge. „Du musst ihn nicht töten. Nicht mehr. Halte ihn einfach nur fest.“
Ivson schluckte mehrfach, nickte jedoch, als Rana ihm aufmunternd zulächelte, und rutschte von dem Soldaten herunter. „Keine Dummheiten“, warnte er.
Tikt schoss Ivson einen mörderischen Blick zu und blieb reglos liegen.
Rana musterte Tikt eingehend. Anschließend kniete sie vor ihm nieder und klopfte seinen Körper ab. Sie fand einen Dolch am Gürtel, einen eingenäht im linken Ärmel, einen dritten am Knöchel.
„Du stichst und schneidest wohl gern?“, fragte sie. „Die gleichen Verstecke wie dein Vater. Waren das alle?“
Tikt kniff die Lippen zusammen und nickte.
„Bist du sicher? Finde ich weitere Waffen, probiere ich sie an dir aus. Ich fange dort an.“ Mit der Spitze eines Dolches wies sie auf seinen Schritt.
Tikts Augen wurden größer. „Das waren alle.“
„Also gut“, sagte Rana und begann, ihn erneut abzutasten. Sie machte ihre Sache gründlich, hinterließ blutige Handabdrücke auf dem Soldaten, ließ auch den Unterleib nicht aus, bat Ivson, Tikt so zu drehen, dass sie mit den Fingern unter den Hosenbund fahren konnte. Als sie fertig war, wischte sie ihre Hände am Gras ab und erhob sich steif. „Er spricht die Wahrheit.“
„Schade.“ Sila spuckte aus und trat auf ihre Mutter zu.
Rana umarmte ihre Tochter, küsste sie auf die Wange, strich dann zärtlich über Talins Schopf. Der Junge hatte den Kopf an Silas Rücken geschmiegt, weinte still, hickste zwischendurch. Jetzt streckte er die Ärmchen Rana entgegen.
„Gleich, mein Kleiner. Lass mich nur schnell meine Hände verbinden.“
Sie ging zurück zur Eibe, beugte sich in das Innere und suchte nach ihrem Beutel. Aus diesem wühlte sie Stoffstreifen, die sie sich mit Silas Hilfe um die Hände wand.
„Wird es gehen?“, flüsterte Sila.
„Es brennt, aber ich werde es überleben.“
„Was ist mit deinem Hals? Er blutet.“
„Nur ein kleiner Schnitt. Er wird sich von selbst schließen. Ich habe vor Schreck geschrien.“
„Wir sollten zusehen, dass wir Ylaiy erreichen.“
„Nein.“
„Dieser Tikt wollte uns umbringen! Alle wollen das.“
„Wir gehen nicht zu Ylaiy. Der Palast ist nicht sicher.“
„Wohin dann? Was machen wir? Ylaiy muss wissen, was passiert ist“, drängte Sila mit gehetzter Stimme.
„Wir gehen zu Adiv. Zu Baratens Haus. Ich kenne es. Sie werden uns aufnehmen. Sie haben genug Platz, um uns zu verstecken. Wir schicken einen Boten zu Ylaiy.“
„Wen? Ivson?“ Silas Augen schwenkten zu dem Bauernsohn, der Tikt weiterhin in Schach hielt. Ihr Verfolger umklammerte seine Finger. Er war blass und schielte. Offenbar kämpfte er gegen die Bewusstlosigkeit an.
„Ich weiß noch nicht. Ardanna vielleicht. Einen ihrer Bediensteten. Wir werden sehen. Perth ist weiter als der Palast, doch wir schaffen es. Zurück zum Fluss, am Bene entlang Richtung Clarce. Dort gibt es sicher Schiffsleute, die uns übersetzen.“
„Und wenn nicht?“
„Wir nehmen unser Boot“, rief Ivson. „Ziehen es flussaufwärts. Anstrengend, aber machbar. Setzen mit ihm über. Niemand erfährt es.“
„Über das Meer?“
„Es ist nicht weit. Wir sind hierher gelangt. Wir schaffen das. Deine Mutter hat recht. Im Palast gibt es Männer wie ihn. Falsche Soldaten. Vielleicht warten seine Kumpane auf dem Weg dorthin. Wir gehen zurück. Jetzt gleich.“
„Was ist mit ihm? Er verliert zu viel Blut. Er wird sterben.“
„Und wenn schon. Er wollte uns zu töten. Vielleicht hat er auch meine Eltern auf dem Gewissen.“
Sila antwortete nicht. Sie wendete ihrer Mutter den Rücken zu, löste die Schlaufen des Tragetuchs. Rana nahm Talin heraus und setzte ihn auf dem Boden ab. Aufatmend kauerte sich Sila neben ihren Sohn, zog die Beine an den Körper, verbarg ihr Gesicht.
Rana musterte ihre Tochter kurz, dann riss sie Teile ihres Kleidersaums in Fetzen. Anschließend entnahm sie ihrem Beutel weitere Bandagen, griff nach Tikts Hand, klappte die abgetrennten Fingerglieder zurück, deckte sie mit den Fetzen ab und legte einen festen Verband an. Danach warf sie Ivson einen prüfenden Blick zu, schraubte eine Flasche auf und hielt den Hals an seine Lippen. Alsdann schlug sie ihm zweimal kräftig auf den Rücken und die Wange. „Du siehst blass aus.“
Ivson rümpfte die Nase. „Der Blutgeruch. Ich kann ihn nicht ausstehen, noch dazu in dieser Hitze.“
„Halte durch.“ Sie wandte sich ab und betrachtete Sila und Talin, der mit abwesendem Ausdruck Erde durch die Finger rieseln ließ.
„Also? Was tun wir mit Tikt?“, fragte sie. „Hierlassen können wir ihn nicht.“
Sila hob den Kopf. „Warum nicht?“
„Das meinst du nicht ernst.“ In Ranas Miene stand Ungläubigkeit. „Er wird sterben.“
„Daran ist er selbst schuld.“
„Sila!“
„Er wollte dich töten.“ Auf Silas Stirn erschienen Zornesfalten, doch ihr Kinn zitterte.
„Wir sind nicht wie er!“
„Was ist, wenn er uns erneut angreift?“
„Wir fesseln ihn. Behalten ihn im Blick.“
„Er ist eine zusätzliche Last. Wir haben schon kaum Vorräte für uns.“
„Wir lassen keinen verletzten Mann zurück!“ Ranas sanfte Stimme duldete keinen Widerspruch. „Hörst du mich? Es ist nicht an uns, das Urteil über ihn zu fällen.“
„Du hast doch gegen ihn gekämpft!“
„Das ist nicht dasselbe, wie einen Menschen bewusst sterben zu lassen.“
„Nicht einmal Urdat Vei?“ Sila hatte sich aufgerichtet.
Rana sah zu Boden, schüttelte den Kopf.
„Sein Blut fließt in den Adern dieses Mannes!“
„Es fließt auch in dir.“ Ranas Augen bohrten sich in Silas, bis diese den Blick senkte. „Bedenke außerdem, dass er vielleicht überlebt. Andere warnt. Das können wir nicht riskieren. Wir nehmen ihn mit zu Ardanna. Es gibt eine Zelle in ihrem Haus.“
„Du willst ihn in einen Kerker werfen? Ihn verhören?“
„Das wäre eine Möglichkeit. In Perth gibt es eine Stadtwache, Männer der Kaiserin. Wir könnten ihn übergeben. Zur Befragung.“
Sila rollte ihre Unterlippe zwischen den Zähnen und dachte nach, sprang plötzlich auf. „Das können wir auch selbst.“
Rana trat ihr entgegen, doch ihre Tochter schob sie beiseite.
„Dein Sohn sieht zu!“
„Nicht, wenn du ihn ablenkst.“
Rana stockte, schüttelte dann erneut den Kopf und beugte sich zu ihrem Enkel. „Tu nichts, was du hinterher bereust“, sagte sie leise und traurig.
Sila antwortete ihr nicht, wandte sich stattdessen an Ivson. „Warum hast du eigentlich kein Schwert benutzt?“
„Konnte nicht klettern mit dem Ding. Oben fand ich den Draht. Hab ihn genommen, ohne groß nachzudenken.“
„Benutze ihn, wenn es sein muss“, sagte Sila laut, dann wendete sie sich abrupt an Tikt. „Warum verfolgst du uns?“
„Weil ihr geflohen seid.“ Tikts Stimme pendelte zwischen verschiedenen Tonlagen.
„Witzig“, erwiderte Sila und nickte Ivson zu, der daraufhin den Draht enger zog, bis Tikts Augen aus ihren Höhlen traten und Rana unbehaglich mit den Füßen scharrte.
Sila wartete eine volle Minute, bis sie Ivson erneut zunickte und dieser den Griff lockerte. „Also. Weshalb trachtet ihr nach unserem Leben, du und deine Kameraden?“
„Es wurde uns befohlen.“
„Von wem?“
„Keine Ahnung. Ich bekam meinen Auftrag von Kopret.“
„Warst du gar nicht neugierig? Immerhin habt ihr unschuldige Menschen angegriffen, Eure Waffenbrüder ermordet.“
Tikt brachte es fertig, mit den Schultern zu zucken. „Ich bin Soldat. Ich befolge Befehle. Ich hinterfrage sie nicht.“
Sila schnaubte. „Dann erzähl mal: Wie genau lautete er, der Befehl?“
„Das weißt du doch, Schwesterchen.“
„Nenn mich nicht so!“, herrschte Sila ihn an. „Wir beide haben nichts gemeinsam!“
„Bis auf unseren Vater. Zählt das gar nichts?“
Die Ohrfeige, die Sila ihm daraufhin versetzte, war so heftig, dass sein Kopf zur Seite flog und Ivsons Draht ihm in den Kiefer schnitt. Rana schrie auf und zog ihren Enkel erschrocken an sich.
Als Tikt den Kopf wieder hob, hatte er die Lippen zusammengebissen und glühte Sila an. Dann lächelte er erneut. „Offenbar nicht.“
„Berichte.“ Die Warnung in ihrer Stimme war unverkennbar.
„Wir sollten sie ausschalten, Pies und die anderen. Sie unschädlich machen.“
„Weshalb?“
„Was weiß ich. Offenbar standen sie im Weg. Sie hätten uns aufhalten können, das Vorhaben vereiteln, uns verraten. Solche Dinge.“
„Ihr habt sie abgeschlachtet“, sagte Ivson.
„Töten ist nun einmal keine besonders saubere Angelegenheit“, gab Tikt zurück. Seine sich ständig ändernde Stimmlage und die Gelassenheit zerrten an Silas Nerven. Mühsam beherrschte sie sich.
„Was genau war das Vorhaben? Uns alle umzubringen?“
„Wir sollten Euch erschrecken. Ein bisschen ärgern.“
„Wieso?“
„Irgendjemand scheint daran Spaß zu haben.“
„Vei?“
Tikt legte den Kopf zur Seite und betrachtete sie lächelnd. „Vielleicht.“
„Hat er auch befohlen, uns durch das halbe Reich zu jagen?“
„Ich habe nie gesagt, dass er es war.“
Sila verschränkte ihre Arme hinter dem Rücken, verhakte ihre Finger ineinander, um ihre Wut im Zaum zu halten.
„Wenn ihr uns nur erschrecken solltet, weshalb habt ihr uns nicht einfach fliehen lassen?“
„Ihr wusstet zu viel. Kelraig hat euch alles erzählt.“
In Sila dämmerte eine schmerzhafte Wahrheit herauf. „Ihr wusstet, dass er nicht tot war? Habt ihr ihn absichtlich am Leben gelassen? Sollten wir ihn finden?“
„Wo wäre denn sonst der Spaß?“ Plötzlich kicherte Tikt. „Ein totes Huhn! Das ist doch armselig.“
„Du verdammter Scheißkerl!“, schrie Sila. „Was ist das für dich? Eine Art perverses Spiel?“ Sie hob die Arme und brüllte ihre Wut heraus. Auch Ivson sprang auf, ohne Tikt loszulassen. Veis Bastard gurgelte und stöhnte, als der Draht tief in den Hals schnitt und die Schultergelenke überdehnt wurden.
Talin begann zu wimmern. Rana presste ihn an ihre Brust. Sila verstummte und schlug die Hände vor das Gesicht.
Ivson übernahm. „Was ist mit meinen Eltern? Habt ihr sie umgebracht? War das auch ein Befehl? Sie haben nie jemandem ein Leid angetan.“
„Sie haben die Weiber beherbergt. Ein Fehler.“
Ivson sog zitternd die Luft ein. „Wie sind sie gestorben?“
„Nicht“, sagte Rana.
Ivsons Blick schnellte nur kurz zu ihr. „Wie?“
Tikt spuckte blutigen Schleim auf seine Knie. Dann brach er in Kichern aus.
Ivson schluchzte. „Du bist verrückt“, brachte er heraus, während Tikts Kichern zu einem hysterischen Lachanfall anschwoll.
„Er ist verrückt“, wiederholte der Gutsbesitzersohn verstört. Er griff nach Tikts Armbeugen und hievte ihn in die Höhe. „Du bist verrückt!“ Speichel spritzte aus seinem Mund, benetzte Tikts Ohr. Er zerrte Veis Sohn hin und her, warf ihn nach vorn, zog in an sich heran, während er wie von Sinnen schrie, Worte, die niemand verstand, weil sie durch trockene Schluchzer unterbrochen wurden.
Tikt taumelte kichernd im Halbkreis.
Schließlich fiel Sila Ivson in den Arm. Dieser ließ den Gefangenen los und erstarrte, schaute zu Sila, als würde er sie das erste Mal sehen. Erst Talins erneut einsetzende Wimmerlaute brachten ihn zur Besinnung.
Tikt sank mit nassem Schritt zu Boden. Sein Körper bebte. Sila hörte schrille Lacher und Schluchzer. Abscheu überkam sie. Ekel vor dem schlotternden Haufen Mensch zu ihren Füßen, durch dessen Adern das gleiche verkommene Blut floss wie durch ihre.
„Bastard.“
Tikts Kopf zuckte hoch. Sein Kichern verstummte.
Feuchte Augen starrten Sila an. „Bastard“, echote er, halb fragend, halb anklagend.
Dann setzte ihr Verstand aus.


Als sie wieder zu sich kam, lag Tikt zusammengekrümmt auf der Erde, das Gesicht eine blutige, geschwollene Masse, die Arme verdreht und um den Rumpf gekrampft. Seine Beine zuckten. Er gab keinen Laut von sich.
Ihre Fingerknöchel schmerzten und bluteten. Ivson Hände hatten sich wie Schraubstöcke um ihre Oberarme gelegt und pressten ihre Schulterblätter zusammen. Schaum stand vor ihrem Mund und sie schmeckte Blut.
Talin schrie, das Köpfchen verborgen in Ranas Gewändern. Rana war bleich und wirkte zu Tode erschrocken. In ihren Augen brannten Tränen. Mechanisch streichelte sie Talin, küsste ihn auf Hinterkopf und Stirn. „Schon gut. Alles ist gut. Beruhige dich. Alles ist gut.“
Sila starrte ihre Mutter und ihren Sohn an, dann fiel sie in sich zusammen und fing an, zu schluchzen, bis Ivson sie ungelenk in eine Umarmung zog. Sila sträubte sich, doch als Scham und das Gefühl überstandener Gefahr sie überwältigten, sank sie gegen ihn.
„Ist er tot?“, fragte sie heiser.
„Unkraut wie der? Nein. Aber du hast ganz schön ausgeteilt und egal, was deine Mutter sagt: Er hat jeden Schlag und jeden Tritt verdient. Es tat verdammt gut, ihn brüllen zu hören.“
Sila schwieg. „Es war falsch“, flüsterte sie schließlich.
„Das kranke Schwein hatte es verdient.“
„Es war falsch.“
Ivson schob sie von sich und sah sie an. „Du bist nicht wie er. Du hast die Beherrschung verloren. Das ist alles.“
Sila schluckte, löste sich von dem jungen Vanstetten, trat zu Tikt und stieß ihn mit der Fußspitze an. Ein verquollenes, blutunterlaufenes Auge blinzelte sie an.
„Kelraig Dessel. Elin. Einan. Pies. Ich werde die Namen nicht vergessen. Der zukünftige Kaiser wird sie erfahren. Er wird eine Strafe für dich finden. Ich hoffe, du verrottest in der Boragha, zusammen mit unserem Vater. Bis dahin kommst du mit uns. Ich bin nicht wie du. Aber ich werde dich töten, wenn du meiner Familie oder mir noch einmal Schaden zufügst. Hast du verstanden, Bruder?“

„Videm hat oft hier gesessen, wenn sein Vater unterwegs war.“ Wehmütig strich Sphita über die Armlehne des Ledersessels, der Mittelpunkt und Blickfang des Raumes war. „Dann war er der Herr des Hauses. Zumindest war es das, was sein Vater von ihm erwartete, und alle anderen wohl auch. Videm versuchte stets, den Ansprüchen seines Vaters zu genügen.“
„Ist es ihm gelungen?“ Adivs Augen schweiften über den Sessel und den ausladenden Schreibtisch, der aussah, als bräuchte es vier Männer, um ihn zu bewegen. Sie versuchte, sich Videm hinter dem Tisch vorzustellen, aber zu ihrem Erschrecken stellte sie fest, dass es ihr schwerfiel, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Alles, was geblieben war, waren Erinnerungen, einige gute und viele angsterfüllte, und eine verschwommene Vorstellung von Videms Zügen.
„Cledent war sehr stolz auf ihn. Er war ein guter Mensch, der Inquisitor, das war er wirklich. Ich meine, er konnte einem Angst machen, wenn er es wollte, aber hier, in seinem Heim, war er ein normaler Mann, ein Vater und Hausherr. Er hielt große Stücke auf Videm. Das spürte man. Er lächelte, wenn er Videm sah. Seine Stimme wurde weicher, wenn er mit ihm sprach.“
In Sphitas Augen standen Tränen.
„Du hast ihn sehr gern gehabt. Sie beide.“
„Oh ja“, schniefte Sphita. „Ich kam als kleines Mädchen hierher. Davor lebten wir mal hier, mal da. Mein Vater wusste mit seinen Händen wahre Wunder zu vollbringen, stellte Dinge her, aus Holz und Metall - Möbel, Spielzeug, Zierrat. Er wanderte herum, verdingte sich hier und dort, reparierte Sachen, fertigte andere an. Bestimmt hätte er irgendwann eine eigene Werkstatt gehabt. Meine Eltern sparten dafür. Mutter und ich blieben zu Hause, bestellten ein wenig Boden. Sie hatte einen großen Kräutergarten für ihre Tinkturen, eine Pilzfarm, Terrarien. Wir waren ziemlich arm, aber es genügte. Ich habe nicht sehr viele Erinnerungen an diese Zeit, doch ich denke, ich war glücklich. Dann starb er und alles wurde anders.“
Sphitas Gesicht verdunkelte sich, als zöge eine Wolke darüber. Zum ersten Mal spürte Adiv eine Verbindung zwischen ihnen. Sphita war oberflächlich und sprunghaft, interessiert an sich und ihrem Wohlergehen, ein wenig eitel und sehr naiv. Aber sie war auch noch jung. Viel jünger als sie selbst zu Beginn des großen Abenteuers. Und wie war sie damals gewesen? Mit achtzehn, neunzehn? Nicht viel anders, wenn sie ehrlich war.
Während sie das Mädchen betrachtete, war dieses um den Schreibtisch geschlendert. „Das Fenster besteht aus Glas. Hast du schon einmal Glasfenster gesehen, Adiv?“
„Sehr, sehr selten.“
„Es gab sie noch nicht, als wir hier ankamen. Dennoch erschien mir die Residenz wie aus einem Märchen. Nach dem Tod meines Vaters gab es eine Dürre auf Yruish. Unsere Erträge verdorrten, die Kräuter sprossen nicht mehr. Die Menschen sparten an allem, auch an Heilern. Meine Mutter beschloss, Hab und Gut zu verkaufen. Alles, was wir noch besaßen, luden wir auf den Wagen meines Vaters. Dann zogen wir los, einfach so, klapperten Verwandte ab. Sie gewährten uns Obdach. Manchmal blieben wir einige Monate, manchmal nur wenige Wochen. Mutter arbeitete als Heilerin, überall dort, wo sie gebraucht wurde. Sie wurde immer besser.“
„Und nun ist sie die beste von allen“, sagte Adiv sanft.
„Sie ist anders als die anderen. Sie benutzt Kräuter und Düfte und Tinkturen und Essenzen wie die übrigen Heiler auch, doch sie versteht den Körper. Weiß, wie wir von innen aussehen, wie alles zusammenwirkt. Dieses Wissen ist gefährlich, weißt du.“
„Du denkst an all die Leute, die hinter der Heilkunst Dämonenwerk vermuten. Aber deine Mutter hat den Menschen studiert, den Körper genauso wie den Geist. Das hat nichts mit Hexerei zu tun.“
„Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.“ Das Mädchen wandte sich vom Fenster ab und starrte sie an.
„Sphita…“
„Du weißt so gut wie ich, dass sie ... Sie macht etwas mit ihrer Stimme. Ihrem Blick. Cledent konnte das auch. Ich habe es einmal gesehen, als er mit Maxim sprach. Dasselbe, was Mutter macht. Sie wachsen in die Höhe, dringen in den Geist ein.“
„Das ist doch Unsinn“, widersprach Adiv lahm.
„Als hättest du nie etwas bemerkt! Die Menschen in diesem Haus sind seltsam. Manchmal denke ich, ich bin die einzig normale Person. Abgesehen von den Bediensteten.“
„Was ist mit mir?“
„Ich weiß nicht.“
„Glaubst du, ich habe derlei Gaben? Ich bitte dich!“
„Du bist auch von Geheimnissen umgeben.“
„Wie wir alle. Bestimmt hast du selbst welche.“ Adiv ließ ihre Stimme neckisch klingen.
Sphita fiel nicht darauf herein. „Wie du meinst“, sagte sie knapp und wandte sich zum Gehen.
„Bleib doch“, bat Adiv. „Erzähle weiter. Von euch und Videm. Ich möchte gern mehr über ihn erfahren. Er war mein Freund.“
„Nein, er war mein Freund! Der einzige, den ich hier hatte! Dann ist er weggegangen! Das werde ich ihm nie verzeihen!“
Adiv fing Sphita ein, als sie aus der Tür stürzen wollte. Hielt sie umklammert, streichelte ihren Rücken und ließ sie weinen, während ihre Augen durch das Arbeitszimmer wanderten, in dem nichts verändert worden war seit Cledents und Videms Abreise.
„Er war unser beider Freund“, murmelte sie, sobald Sphita sich gefangen hatte. „Wir trauern beide um ihn. Du kanntest ihn lange, ich nur einige Wochen, aber das reichte. Anfangs mochte ich ihn nicht besonders, doch gemeinsam haben wir so viel erlebt, dass wir uns anfreundeten.“
„Du mochtest ihn nicht?“ Sphita sah Adiv aus verquollenen Augen an. „Wegen seines Aussehens? Viele lehnten ihn deswegen ab.“
„Es hing eher damit zusammen, dass sein Vater Inquisitor war.“
„Oh. Die Boragha. Hat Cledent dich dort hineingebracht?“
„Nein. Aber er sprach das Urteil über Akim und Jonoy.“
Und über meine Mutter.
„Du hast sie vor einem grausamen Tod gerettet, nicht wahr? Ihr seid gemeinsam über das Meer geflohen.“
„Woher weißt du das? Wir haben dir kaum etwas erzählt. Du weißt, weshalb.“
„Um mich zu schützen. Weil vieles nicht für die Ohren junger Damen bestimmt war.“ Sphita rollte mit den Augen. „Als wäre ich noch ein Kind.“
„Woher?“, insistierte Adiv.
„Von Arlen. Manchmal unterhalten wir uns eben. Aber es ist schwer, ihm Einzelheiten aus der Nase zu ziehen.“
„Weil es ihn schmerzt, über die Vergangenheit zu sprechen. So wie es dich schmerzt, über die deine zu reden. Vieles ist noch zu frisch. Er verlor seine Mutter.“
„Und er ist entführt worden von diesem Verrückten, ich weiß.“
Adiv seufzte. „Wir nannten ihn Blaukopf. Er war ein böser Mann. Ich hatte Albträume wegen ihm.“
Auch heute geschah es noch manchmal, dass sie schreiend aufwachte und nach dem Nachtlicht tastete, aber das musste Sphita nicht wissen. Sie würde es ihrer Mutter berichten und die Gespräche würden wieder beginnen. Adiv hatte genug von den zermürbenden Sitzungen.
„Wir suchten ihn und kämpften. Den Rest kennst du.“
„Nur Bruchstücke.“
Adiv strich sich über die Schläfen. „Ein andermal.“
Sphita hob das Kinn. „Eines Tages erfahre ich alles.“
„Nicht heute.“
Beide schwiegen einen unangenehmen Moment lang, dann wandte Sphita sich wieder um und breitete die Arme aus. „Also, hier hat Videm sich gern aufgehalten. Er war oft allein mit sich und seinen Gedanken und meist machte ihn das Alleinsein unglücklich. Ich glaube, er haderte mit seinem Schicksal.“
Aus den Worten Sphitas sprach Ardanna. Oder das Mädchen war eine aufmerksamere Beobachterin, als sie gedacht hatte.
„Auf der Reise wirkte er oft einsam, obwohl er mit uns zusammen war.“
„Es gibt Menschen, die sind immer irgendwie einsam, auch wenn sie in einer Menschenmenge stehen.“
Das ist sehr wahr.
Nicht nur Videm war ein solcher Mensch gewesen. Akim war bisweilen so. Syriakin. Sie hatte sich nie von ihr verabschiedet. Wie es ihr wohl ging?
Sie wischte die Erinnerung beiseite. „Und dann kam er hierher? Warum? Weil der Geist seines Vaters in diesem Raum lebte?“
„Ich glaube schon. Er dachte nach, wenn er hier war. Doch eigentlich schien er andauernd zu grübeln. Man hatte immer das Gefühl, er wäre nur halb bei der Sache. Man konnte ihn einfach mit nichts ablenken.“
„Er hat uns mal erzählt, wie viel du und deine Mutter ihm bedeuten, verriet uns, dass Ardanna ihn heilte, zumindest teilweise, und dass deine Anwesenheit Leben in dieses Haus brachte. Es mag dir nicht gelungen sein, ihn zu ändern, doch ganz bestimmt hast du ihm sehr geholfen.“
In Sphitas Augen schimmerten neue Tränen, aber sie lächelte. Langsam wanderte sie durch den Raum, strich mit den Fingern über den Schreibtisch und den Sessel, die hohen Bücherregale und die Fensterscheiben, bis sie schließlich vor einem Fenster stehen blieb, dessen Holzläden verschlossen waren.
„Ich glaube, er kam auch wegen ihr hierher“, sagte sie und öffnete die Läden.
Adivs Kehle entwich ein Keuchen. Sie sackte gegen den Türrahmen. „Aan!“
Erschrocken fuhr Sphita herum. „Was? Wer ist Aan?“
„Kennt Arlen dieses Gemälde?“
„Nicht von mir. Allerdings schleicht er viel allein herum. Wieso?“
Adiv antwortete nicht, stemmte sich vom Türrahmen ab und näherte sich dem Porträt auf weichen Beinen.
Auf Sphitas Gesicht erschienen Bestürzung und Mitleid, als sie begriff. „Sah sie so aus? Arlens Mutter?“
„Beinahe. Wer ist sie?“
„Cledents Gemahlin. Sabyn.“
„Aans Mutter.“ Adiv berührte die Leinwand, als könne sie die Frau damit zum Leben erwecken. Durch ihren Kopf jagten die Gedanken. Videms Mutter. Aans Mutter. Arlens Großmutter. Sie waren verwandt, sie alle. Videm und Arlen. Entfernt verwandt, aber über dieselbe Blutlinie. Sie war die Verbindung. Ein Schlüssel zur Vergangenheit. Ein weiteres Geheimnis.
„Wie war sie?“
„Sie war bereits tot, als wir in dieses Haus kamen.“
Der Unfall.
Mühsam kämpfte sie sich durch ihre Erinnerungen. „Die Kutsche. Sie stürzten von einer Küstenstraße hinunter. Videm versuchte, sie zu retten, doch sie ertrank vor seinen Augen.“
„Es passierte auf dem Weg nach Hause von Korth. Sie fuhren an der Küste entlang, ein Umweg eigentlich. Die Leute hatten sie gewarnt, dass die Wege im Landesinneren wegen tagelanger Unwetter nicht passierbar seien. Ein Steilhang über der Straße rutschte weg und riss die Kutsche mit in die Tiefe. Sie zerschellte an den Klippen. Sabyn landete im Wasser, konnte sich nicht ans Land retten, Videm nichts tun. Sein Körper war zerschmettert. Der Kutscher hatte sich das Genick gebrochen.“
„Wie wurde Videm dann gerettet?“
„Sabyns Gefolge hatte Glück gehabt. Die Steinlawine ging vor ihnen nieder. Doch bis die Männer in Wind und Regen hinuntergeklettert waren, war es zu spät für Sabyn. Das Meer gab sie nie wieder frei.“
„Woher weißt du so gut Bescheid? Ardanna würde dir nie derart viele Einzelheiten verraten.“
Sphita schwieg einen Augenblick, bis sie nachgab. „Von Olav und Clothis. Sie gehörten zu Sabyns Gefolge. Die anderen sind schon lange nicht mehr hier.“
„Olav, der Wagner? Er und Clothis sind vermählt, nicht wahr?“
„Bruder und Schwester. Beide haben nie geheiratet. Sie sind ein wenig absonderlich.“ Sphita rümpfte die Nase.
„Das hat dich nicht davon abgehalten, sie einer Befragung zu unterziehen.“
„So war das nicht. Die Bediensteten plaudern gern mit mir. Sie sagen immer, ich bringe ihnen Abwechslung. Neuigkeiten.“
„Klatsch und Tratsch.“
„Was kann ich dafür? Die Leute reden eben.“
„Sphita“, sagte Adiv eindringlich, „unsere Gespräche – die Reise, der Blaukopf, das hier alles – musst du für dich behalten.“
„Wofür hältst du mich?“
Adiv ergriff das Mädchen am Oberarm. „Hör mir zu! Manches Wissen ist gefährlich. Deswegen musst du deinen Mund halten, verstehst du mich?“
Sphita blinzelte in Adivs Augen, die in einem finsteren Blau glitzerten. Sie schluckte und nickte.

Ciycain war überwältigt. Seit sie das riesige Tor passiert hatten und in das Gewimmel der Gassen eingetaucht waren, stand ihr Mund offen. Und seit der Palast hinter den Steinhäusern aufgetaucht war, die weißen Mauern von der Sonne angestrahlt, die goldenen Türme weithin glitzernd, die Fensterscheiben in allen Farben leuchtend, hielt sie die Hände an die Lippen gepresst.
„Versuche, dir dein Erstaunen nicht anmerken zu lassen“, raunte Gillok seiner Tochter zu und gab ihr einen sanften Klaps auf den Hinterkopf. „Schließlich lebst du hier und bist den Anblick gewohnt.“
„Aber das ist …so schön“, sagte das Mädchen unterdrückt. „Die Häuser, der Palast, alles ist so schön.“
Der Sumpfmann verstand ihre Erregung. Er selbst war mehr als beeindruckt von Yruishs strahlender Pracht. Er erinnerte sich an seinen ersten Besuch in Fedaj. Die alte Grenzstadt an der Dalassa-See war erdrückend gewesen in ihrer Enge und Geschäftigkeit. Yruish präsentierte sich größer und lauter, doch dabei offener und sauberer. Die Häuser, selbst die kleinsten am Rand des vor Leben pulsierenden Zentrums, waren in hellen Farben getüncht und strahlten selbstgefälligen Wohlstand aus. Zum Kaiserpalast hin, der den Mittelpunkt der Hauptstadt bildete, wuchsen sie immer weiter in die Höhe, wiesen reiche Ornamente auf, übertrafen sich gegenseitig in der Zurschaustellung von Macht und Reichtum. Ein Meer von Wetterfahnen und versilberten Schloten ragte vor ihnen auf, Fahnen wehten an langen Stangen, die kunstvolle Schnitzereien aufwiesen, Wappen und Gildenzeichen klapperten über aufwendig gestalteten Haustüren.
In vielen Fenstern sah man Glas, helles zumeist, welches das Sonnenlicht reflektierte. Je höher und breiter die Häuser wurden, desto bunter wurde es. Gillok begriff, dass Glasscheiben Reichtum und Ansehen versinnbildlichten. Genau wie vergoldete Türklopfer, deren Größe absurde Ausmaße annahmen, je näher sie dem Palast kamen, und Metallzäune, die die Rasenflächen umsäumten, welche zu den opulenteren Grundstücken gehörten.
„Man sieht keine Tiere“, murmelte Nou. Auch sein Gesicht spiegelte die Ehrfurcht wider, die einen beim Betreten der Hauptstadt überfiel, doch Nou hatte sich offenbar bereits sattgesehen an der weiß-goldenen Herrlichkeit.
Gillok, das dunkle Haar unter einer verzogenen Kappe verborgen, kratzte sich die juckende Kopfhaut. Der Hochsommer hatte in die Kaiserstadt Einzug gehalten, hüllte die Straßen und Märkte in schweißtreibende Hitze und brachte die Luft zum Flimmern. Sie roch nicht so abgestanden wie in Fedaj, aber auch nicht annähernd so frisch wie am Meer.
Langsam schob er Ciycain weiter. Ihr langes Haar war geflochten und am Hinterkopf hochgesteckt, sodass sie ihm fremd vorkam. Er unterdrückte ein Grinsen, als er an den heutigen Morgen im Wäldchen zurückdachte. Selten hatte er Syra so ungeschickt gesehen wie bei dem Versuch, Ciycains Haar in die Frisur zu bändigen, die sie sich bei den Mädchen abgeschaut hatten, die außerhalb der Stadt Holz sammelten oder Wäsche am Fluss wuschen. Thragesh hatte ihr schließlich die Nadeln und Bänder aus der Hand genommen und Ciycain im Laufe weniger Minuten in eine städtische Fischertochter verwandelt.
Auch Gilloks Haar hatte der bullige Mann mit überraschend sanften Bewegungen unter die Kappe gestopft, während Yvain ihnen Ratschläge für ihre Verkleidung gab und immer wieder irritiert über seine Kopfhaut fuhr, die nur noch mit winzigen Haarstoppeln bedeckt war. Sein blondes Haar war einfach zu auffällig. Kanouepe hatte Lehm vom Fluss geholt und Yvain in einen schmutzigen Landstreicher verwandelt.
„Ihr erinnert Euch an den Plan?“, fragte Gillok.
„Sicher.“ Kanouepe, wie Ciycain und er selbst in schlichte Gewänder gekleidet, schwenkte den langen Stock, über den sie die Fische, die sie in der Nacht gefangen hatten, gehängt hatten. „Wir bringen den Fisch. Den frischsten in Yruish. Vom Mitternachtsmond geküsst. Außerdem die frischsten Krebse auf der ganzen Insel“, deklamierte er und gab Ciycain das Zeichen, ihren Bottich zu schwenken.
„Nicht übertreiben“, warnte Gillok.
„Sieh dich um“, entgegnete Nou, halb belustigt, halb verdrossen. „Sie übertrumpfen sich gegenseitig beim Anpreisen ihrer Ware. Dabei rieche ich bis hierher, dass der Fisch nicht fangfrisch ist.“
„In der Hitze verdirbt er rasch.“
Kanouepe nickte und gab das Signal zum Aufbruch.
Gillok sah seine Tochter an, in diesem Augenblick überzeugt davon, ihr Plan würde niemals funktionieren. Dann sah er das Glitzern in ihren Augen. Kein Zweifel, Ciycain fand das Ganze ungeheuer aufregend.
Akim und Jonoy waren damals zum hinteren Eingang des Palastes gegangen, durch den täglich unzählige Dienstboten, Händler und Bettler in die Palastanlage strömten. Gillok entschied sich für das Haupttor.
Wie vermutet stießen die Wächter ihn sofort zurück, legten ihre Hände an die Schwerter und blickten ihn mit unverhohlenem Hochmut an.
„Aber wir bringen den Fisch. Den frischesten Fisch in …“
„Erspart uns das“, murrte einer der Torwächter. „Stellt euch am Hintereingang an wie alle anderen.“
„Ihr versteht nicht.“ Gillok senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Wir bringen den Fisch. Und frische Krebse. Ganz frische.“
„Stellt euch hinten an, sonst habt Ihr meinen Stahl im Bauch!“
„Aber wir bringen den Fisch“, beharrte Gillok, demütig geduckt.
„Hat die Sonne dein Hirn verbrannt? Geht zum Hintereingang, reiht euch ein und wartet, bis ihr eingelassen werdet. Falls ihr eingelassen werdet.“
„Aber bis dahin sind die Krebse verdorben, der Fisch vertrocknet.“
„Hättest sie in Salz einlegen sollen wie alle anderen“, knurrte der zweite Wärter.
„Aber der Kaisersohn bestand auf frischem Fisch“, sagte Gillok, seiner Stimme einen weinerlichen Klang verleihend.
„Der Kaisersohn hat mit euch gesprochen? Willst du mich ernsthaft auf den Arm nehmen?“ Der Wächter richtete sich drohend auf.
„Nicht mit mir, Herr, sondern mit meiner Tochter.“ Gillok schob Ciycain vor. Das Mädchen stolperte, klammerte sich an den Bottich und hielt den Kopf gesenkt.
„Wann hast du mit dem Thronfolger gesprochen?“, fuhr der Wächter sie an.
Ciycain wagte kaum, zu atmen. „Gestern, Herr.“
„Gestern“, wiederholte der Wächter und warf seinem Partner einen zögernden Blick zu. „Wann genau und wo? Und worüber?“
„Nach dem Abendmahl. In seinen Gemächern. Ich glaube, im Studierzimmer. Es war voller Bücher, Herr, voller Schriften und absonderlicher Gerätschaften.“
„Was tatest du dort?“, warf der zweite Wächter ein.
„Ich war angestellt worden, um nach dem Essen beim Putzen zu helfen. In der Küche. Ihr wisst, den Köchinnen zur Hand gehen. Geschirr säubern. Abfälle beseitigen.“
„Ja, ja“, sagte der erste Wächter ungeduldig. „Was wolltest du in den prinzlichen Gemächern? Du warst doch für die Küche zuständig.“
Ciycain sah Gillok schüchtern an. „Putzen, Herr. Der Prinz begegnete mir auf dem Hof und half mir mit den schweren Abfallfässern. Das war sehr ritterlich von ihm. Er musste das nicht tun. Er ist doch der Prinz, wisst Ihr? Er plauderte mit mir. Wir sprachen über die Himmelsbilder.“
„Himmelsbilder?“
„Die Sterne. Ihr wisst doch, sie schaffen Bilder. Ich sagte ihm, eines sähe aus wie ein Fisch und dass mein Vater Fischer sei. Da gestand mir der Prinz, dass seine Frau eine Vorliebe für frischen Fisch habe. Er … er nannte es ein Verlangen.“ Ciycain senkte den Blick.
„Wie gelangtest du in die Gemächer?“, fragte der erste Wächter lauernd.
Nun hob Ciycain ihren Kopf und sah die Wächter mit in Tränen schwimmenden Augen an. „Er lud mich ein, um mir eine Apparatur zu zeigen, mit der er die Sterne betrachten konnte. Er ließ mich hindurch sehen. Ein langes Rohr mit einer … Linse. Könntet Ihr uns nicht einfach zum Prinzen lassen? Oder wenigstens zur Küche? Er versprach mir einen guten Lohn für den Fang. Ich habe die ganze Nacht im Fluss gekniet und wir können das Silber gebrauchen. Bitte, Herr!“
„Silber? Das ist ein fürstlicher Lohn für Fisch.“
„Und Krebse, Herr“, warf Gillok ein.
„Maul halten!“, fuhr der Wächter ihn an und stieß ihn grob zurück.
Ciycain ergriff den Ärmel des Wächters. „Auch zum Dank möchte ich ihm den Fang bringen. Er war so liebenswert zu mir und er sorgte sich so um seine Frau. Bitte lasst uns zu ihm.“
„Unmöglich“, entgegnete der Wächter, schien jedoch eine Spur zugänglicher geworden zu sein. Mit angehaltenem Atem beobachteten Gillok und Nou, wie Ciycain ihre unsichtbaren Zauber um den Mann wob. Ihre Finger kreiselten über seinen Arm, ihre Augen versenkten sich in die seinen.
Der Wachhabende wandte sich an seinen weniger gesprächigen Partner. „Was meinst du?“
„Lass sie nach hinten durch“, erwiderte dieser, bereits gelangweilt. „Sie sollen sich vorn anstellen und den Fisch in die Küche bringen, damit die Hohe Gemahlin ihren frischen Fang bekommt. Schwangere und ihre Gelüste, pff.“ Er schüttelte den Kopf und pfiff nach einem Pagen.
Sie folgten dem Jungen durch die weitläufige, überraschend verwinkelte Palastanlage. Von außen war nicht zu erkennen, dass der Palast kein freistehendes, einzelnes Gebäude war, sondern eine Ansammlung verschiedener Bauten, angefangen von Wohnhäusern bis hin zu Werkstätten und Ställen. Ciycain begriff, dass ein Palast nicht nur Adlige beherbergte, sondern einer Unmenge von Menschen Obdach und Arbeit bot. Die Anlage war wie eine kleine Stadt inmitten der großen Stadt Yruish, die viele Leute ernährte, Soldaten und Wächter ebenso wie Dienstmägde, Handwerker aller Art, Köche und Bauern.
Und Bettler. Sie waren in Scharen gekommen, die meisten am frühen Morgen, noch vor den Tagelöhnern und Händlern. Sie drängten sich an die Wände, beiseite gescheucht von Wachen, die sie behandelten wie die Schweine und Ziegen, die ihnen um die Beine stoben, mit Abscheu beäugt von den besser gekleideten Menschen, die das schmale Tor passierten. Angebrüllt wurden sie von allen, besonders von den Kindern, die im Palast aufwuchsen. Die machten sich einen Spaß daraus, die zerlumpten, müden, von Hunger, Krankheiten und Wahnsinn gezeichneten Gestalten zum Narren zu halten, reizten sie mit Grimassen, Gebärden und Beleidigungen. Wenn einer der Bettler nach ihnen griff oder ihnen gar nachsetzte, stoben sie kreischend in alle Richtungen davon.
Der Page führte sie an den Anfang einer langen Reihe von Wartenden und sprach leise mit einem der Männer, die die Schlange bewachten. Dieser winkte die Fischerleute zu sich, was die anderen in erbostes Murren ausbrechen ließ, das die Wächter mit drohenden Worten rasch erstickten.
Ciycain spürte die ärgerlichen Blicke in ihrem Rücken und wagte nicht, sich umzusehen. Stattdessen betrachtete sie die Anlage und verglich sie im Geiste mit den Erzählungen Ylaiys, die sie aus dem Mund ihrer Eltern kannte.
Zum Glück zog eine neue Welle Bedürftiger den Unmut der Anstehenden bald auf sich. Ciycain schob sich näher an Gillok und musterte die Neuankömmlinge, die in Grüppchen durch den Eingang geschoben wurden. Ein grauhaariger Wächter stieß sie zu der Ansammlung zerlumpter Gestalten. „Stellt euch zu dem anderen Pack!“
Ciycain beobachtete, wie ein Kind, augenscheinlich krank, vor Schwäche stolperte und gegen seine Mutter prallte, ein dünnes Weib, das in viel zu großen Kleidern versank. Sie fing das Kind auf, ging dabei aber selbst in die Knie.
„Gebt dem Jungen einen Schluck Wasser!“, rief ein Mann mit verfilzten Haaren. „Habt Erbarmen! Ihr seht doch, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten kann. Nun macht schon, Kameraden!“ Mit erhobenen Armen wankte er auf die Wachposten zu, die sofort ihre Schwerter zogen.
Augenblicklich entstand Aufruhr. Die Bettler rings um das ohnmächtige Kind kamen auf die Füße und drückten sich nervös an die Mauer. Die Wachen bildeten einen Halbkreis um sie, brüllten Drohungen und Befehle.
Eine resolute Frau, ihrer Kleidung nach zu urteilen eine der Köchinnen, rettete die Situation. „Bringt Wasser!“, schrie sie in das Gebäude hinter sich. „Beeilt euch. Die Armen kippen aus ihren Tretern!“ Ihr Gesicht war unschön anzuschauen, hochrot, schweißig und von der Beschaffenheit fleckigen Teiges. Derb war sie und nicht besonders zurückhaltend bei der Wahl ihrer Worte, aber sie schien das Herz auf dem rechten Fleck zu haben.
Und sie wurde erhört. In Windeseile wieselten Küchenmägde herbei, schleppten Bottiche, Schalen und Körbe alten Brotes auf den Hof. Die Bettler gerieten außer sich. Wie ein Schwarm Aasvögel stürzten sie sich auf Backwerk, Äpfel und Wasser, gerade so in Schach gehalten von den Männern der Hofgarde.
Wieder sah Ciycain den Jungen. Die Mutter hatte ihn auf ihren Schoß gebettet, schlug ihm leicht auf die Wangen und flößte ihm vorsichtig Wasser ein, während die hungrige Meute mit habgierigen Gesichtern um sie wogte.
„Jetzt!“, raunte Ciycain. Sie winkte in Richtung Küchentrakt, als begrüße sie jemanden. Aus einem Impuls heraus hob auch Kanouepe den Arm, richtete den Zeigefinger fragend auf seine Brust und nickte anschließend der imaginären Person zu. Sollte einer der Menschen hinter ihnen zufällig zu ihnen geschaut haben, würde er denken, sie seien gerufen worden. Ohne Zögern strebten sie auf das Küchengebäude zu.

„Das ist er, hm?“
Ylaiy fuhr herum, die Hand am Schwertknauf. Theou stand an der Saaltür und grinste breit über das ganze Gesicht. Als Ylaiy zögernd zurücklächelte, kam er näher, die Stiefel betont verhalten aufsetzend, um das Hallen der Schritte zu dämpfen.
Der Thronfolger wartete, bis Theou heran war, und wandte sich dann wieder dem Stuhl zu, auf dessen Lehne er eine Hand gelegt hatte. „Das ist er. Das oberste Symbol der Kaisermacht in diesem Reich.“
Theou musterte ihn stirnrunzelnd. „Ihr sagt das so abschätzig. Geht es Euch gut?“
„Gewiss“, antwortete Ylaiy. Er strich über die Schnitzereien der Lehne.
Theou entging seine Zerstreutheit nicht. „Ihr wirkt so abwesend.“
„Es ist nichts. Seid beruhigt, Schwager. Ich bin nur ein wenig nachdenklich heute.“
„Worüber denkt Ihr nach?“
„Dies und jenes. Ihr kennt solche Tage. Kein Windhauch, schwüle Hitze. Das trübt den Geist, macht melancholisch. Die Reformen laufen schleppend, die Ermittlungen noch mehr.“
„Ermittelt Ihr immer noch gegen Veis Komplizen?“
„Meine Lebensaufgabe. Ein Netz voller Verwirrungen, Irrtümer, Intrigen, versponnener Pläne. Es braucht eine Armee Studierter, um alles aufzudecken. Menschen aus Veis Umfeld sind spurlos verschwunden. Wir gehen davon aus, dass sie nicht freiwillig verschwanden. Andere haben sich selbst gerichtet, aus Reue oder weil sie unter Druck gesetzt wurden, wieder andere leugnen hartnäckig. Wir haben viele Verdachtsmomente, aber nur wenige Zeugen und noch weniger Beweise. Himmel! Es scheint, als regierte dieser Mann noch immer!“
„Womöglich habt Ihr damit nicht unrecht.“
Ylaiy warf Theou einen resignierten Blick zu. „Er sitzt in der Boragha wie die Made im Speck, oder?“
Theous Antwort beschränkte sich auf ein Schulterzucken.
Ylaiy trat hinter den Thron. „Jedenfalls sollten zwei seiner ehemaligen Untergebenen erneut vernommen werden. Offiziere aus Höheren Häusern. Doch es scheint, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.“
„Ein neuer Einsatzbefehl möglicherweise?“, riet Theou.
„Den hatten sie tatsächlich. Der eine für Fedaj, der andere für Bajcha. Nur, dass beide erst Ende dieser Woche aufbrechen sollten.“
„Hochrangige Soldaten reisen gern früher ab. Das ist nicht unbedingt erlaubt, aber es wird geduldet.“
„Versäumen sie deshalb auch ihre Verabredung mit dem gefragtesten Barbier in Yruish?“
„Die meisten haben Verpflichtungen zu erfüllen, bevor sie für längere Zeit in der Wildnis stationiert sind.“
„Fedaj und Bajcha sind wohl kaum die Wildnis.“
„Für Palastsoldaten schon“, sagte Theou mit entschuldigend hochgezogenen Augenbrauen. „Ich weiß, ich weiß, es ist kein Vergleich mit den Sümpfen und dem Eis, aber so empfinden verwöhnte Adlige wie ich nun mal. Verzeiht unser dekadentes Denken.“
Ylaiy war nicht nach Lachen zumute, doch Theous ungleichmäßiges Gesicht zeigte so viel übertriebene Zerknirschtheit, dass er nicht anders konnte.
Theou lachte mit. Dankbar fühlte Ylaiy, wie sich die dunkle Wolke um seinen Kopf hob und Licht hindurch ließ.
„Ich habe vorhin mit meiner Schwester gesprochen“, begann Theou, nachdem sie wieder ernst geworden waren. „Sie sagte, dass Ihr in Sorge seid wegen ausbleibender Nachrichten.“
„Ich hätte Paíre nicht für eine Plaudertasche gehalten.“
„Ihr kennt mich doch. Ich gehe Menschen so lange auf die Nerven, bis sie etwas erzählen, nur damit sie mich loswerden. Besonders Paíre. Sie reagiert überempfindlich auf meine jugendhafte Ader.“
„Kindisch, meint Ihr.“
„Nennt es, wie Ihr wollt. Meine Schwester jedenfalls hätte mir fast den Kopf abgerissen, als ich nicht verschwinden wollte. Ich hatte das starke Gefühl, sie wolle allein sein mit sich und ihren Schriften.“
„Vermutlich ein Liebeslied“, lächelte Ylaiy.
„Oder Schlimmeres.“ Theou beugte sich zu dem Prinzen. „Man munkelt, es gäbe auch Schriften, die allzu bildlich die Freuden der körperlichen Liebe beschreiben. Ich hoffe doch nicht, Eure Gemahlin sehnt sich nach derlei Dingen?“
„Theou! Ihr sprecht über die zukünftige Kaiserin!“
„Nein, ich spreche über meine allseits geachtete und niemals aus dem Protokoll fallende große Schwester“, gab Theou zurück. „Die genauso wenig Spaß versteht wie Ihr.“
Ylaiy fuhr sich über das Gesicht. „Mir ist nicht nach Spaß. Es gibt tausend Dinge, um die ich mich kümmern muss, eine Frau, die mich demnächst zum Vater macht, eine Mutter, deren Geschäfte immer mehr mir aufgetragen werden. Dazu die Sorge um meine Freunde und Familie.“
„Und die Seuche auf Prant“, setzte Theou hinzu. Das Scherzhafte in seinem Tonfall war völlig verschwunden. „Paíre erzählte auch davon.“
„Lasst es nicht nach außen dringen“, bat Ylaiy. „Wir wissen noch zu wenig darüber. Ich habe Heiler nach Perth schicken lassen und um Nachrichten gebeten.“
„Keine Nachrichten aus Fedaj?“
„Nein. Von Sila auch immer noch nicht.“
„Es geht ihnen bestimmt gut. Ihr macht Euch zu viele Sorgen.“
„Einer muss es ja.“
„Weil Ihr Euch für die Zukunft vorbereitet?“
„Wohl oder übel muss ich mich an den Gedanken gewöhnen.“
„Wohl oder übel? Ihr werdet der mächtigste Mann im Reich! Ihr werdet auf dem Ding dort sitzen und von hier aus regieren! Ein ganzes Volk anführen und ... Himmel, dieser Stuhl sieht verdammt unbequem aus, findet Ihr nicht?“ Theou war um den Thron herumgegangen und nahm ihn jetzt näher in Augenschein. „Das fällt einem sonst gar nicht auf. Er besteht nur aus Holz und einem dünnen Polster. Ziemlich armselig für einen Thron.“
„Das ist gewollt. Regieren soll nicht bequem sein. So hat meine Mutter es mir als Kind erklärt. Ihr dürft das niemandem verraten, Theou, aber als ich noch sehr klein war, hat sie mich einmal darauf sitzen lassen. Er ist unbequem.“
„Oh, wir wollen Kaiser, die etwas aushalten, nicht wahr?“, gab Theou zurück, Gestik, Mimik und Stimmfall eines Lehrmeisters nachahmend. „Geradlinige Herrscher, keine verweichlichten Höflinge. So wie der Thron: ohne Zierrat, ohne Bequemlichkeit. Nichts für mich, Prinz. Ich sitze lieber auf einem normalen Stuhl, am liebsten zwischen zwei hübschen Damen.“
Ylaiy lächelte seinen Schwager an. „Aber es darf schon gern die lange Tafel des Kaisers sein?“
Theou neigte den Kopf zur Seite und blinzelte Ylaiy an, zuckte schließlich mit den Schultern. „Gewiss doch. Von allem das Beste. Und nun lasst Euch endlich sagen, dass Euch Besuch erwartet. Deshalb kam ich eigentlich zu Euch.“
„Besuch? So führt ihn herein.“
„In Euren Privatgemächern, Prinz.“ Theou zog die Worte in die Länge. Für einen kurzen Moment stand unverhüllte Neugier in seinem Gesicht. „Eure Gäste wirkten, als könnten sie eine Atempause gebrauchen. Und ein Bad.“

Adiv entschloss sich zu einem direkten Angriff.„Ihr seid Olav, nicht wahr?“
Der dickleibige Mann sah sie überrascht an und strich sich die wolligen, an den Seiten ergrauten Haare aus der Stirn.
„Dasbinch“, antwortete er im breiten Dialekt der Nordprant. Er nuschelte und hielt die Augen gesenkt.
„Ich bin Adiv Benelees.“
„Weißch.“ Der stämmige Wagner begann, an seinen Fingerkuppen zu knabbern.
„Ich würde Euch gern einige Fragen stellen, wenn Ihr einen Augenblick Zeit hättet.“
„Fragn?“, quetschte Olav heraus, während seine Augen über den Stallboden huschten. „Wassnfürfragn? Hab wench Zeid. Helfim Stallaus. Der Mist muss raus.“
„Ich kann Euch helfen. Wir können uns auch bei der Arbeit unterhalten“, bot sie an. „Habt Ihr eine zweite Mistgabel?“
„Ka Arbeit für e junge Frau“, nuschelte der Mann, der nur wenig größer war als sie. Sein Wanst schwappte über den Gürtel.
Adiv winkte ab, band ihre Haare im Nacken zusammen und raffte ihr Kleid in Höhe der Knie, um es nicht durch den Pferdemist zu beschmutzen. „Keine Sorge. Mir macht das nichts aus. Ihr wäret schneller fertig und könntet Euch länger ausruhen. Es muss die Hölle sein, in diesem Sommer draußen zu arbeiten.“
„Mhm“, brummelte Olav, dessen Blick über ihren Körper geglitten war, als sie die Arme gehoben hatte. Er war ihr nicht entgangen. Unbehagen überschwemmte sie, doch sie biss die Zähne zusammen.
„Die Gabel“, bat sie mit forscher Stimme.
Gemeinsam begannen sie, das stinkende Stroh in die Mitte des Stalles zu schaufeln. Adiv spürte, wie ihr nach Minuten der Schweiß ausbrach. Der Stall war vorn offen, aber die Hitze waberte klebrig um sie. Heu und Staubflusen schwirrten in der Luft und der Gestank reizte ihre Kehle. Die Arbeit war anstrengender, als sie gedacht hatte. Das Stroh klumpte zu großen Ballen zusammen und war schwer. Schon nach kurzer Zeit erlahmten ihre Arme und ihre Handflächen begannen zu brennen.
Olav arbeitete methodisch und ohne aufzusehen. Seine Arme hoben und senkten sich rhythmisch. Die Ballen, die er beförderte, waren doppelt so umfangreich wie die auf Adivs Gabel, und er warf sie mit einer Leichtigkeit, die sie beeindruckte.
„Helft Ihr jeden Tag im Stall?“, erkundigte sie sich. „Ich dachte, Ihr seid der Wagner.“
„Kutschnunpferde gehörn zusammn“, brummte Olav. Sein vom Scheitel spitz in die Stirn laufender Wollschopf glänzte.
„Seid Ihr auch Kutscher?“
Er hielt inne und musterte sie misstrauisch.
„Ich frage nur, weil ich neulich eine Geschichte gehört habe. Ich frage mich, ob sie wahr ist.“
„Hmm?“
„Angeblich wurde eine Kutsche von einem Erdrutsch erfasst und weggerissen, aber der Kutscher schaffte es, die Kutsche noch schnell abzukoppeln und mit den Pferden weiterzufahren. Er sei vom Kutschbock auf den Rücken der Pferde gesprungen und überlebte, heißt es.“
Olav grinste. „Da hat man Euchn gewaltign Bärn aufgebun’n.“ Offenbar fiel es ihm weniger schwer zu reden, wenn er seinem Gegenüber nicht in die Augen sehen musste.
„Warum? Haltet Ihr etwas Derartiges für unmöglich?“
„So’n Erdrutsch is ne Naturkraft. Schafft mannich, die Kutsche noch abzutrennen. Außerdem gehn die Pferde durch. Un niemand springt so weit un reagiert so schnell.“
Seid Euch nicht zu sicher, dachte Adiv und sah im Geiste Syriakin vor sich, die an der Wand entlanglief und über ausgewachsene Männer sprang.
„Habt Ihr so etwas schon einmal erlebt? Einen Erdrutsch?“ Ihre Stimme zitterte leicht.
Olav richtete sich auf und stützte sich auf die Mistgabel. „Wozu all die Fragen?“
„Ihr wisst doch, Frauen sind neugierig“, entschloss sie sich mehr oder weniger zur Wahrheit. „Sphita erzählte mir von dem Unfall Videms und ich wollte mehr wissen.“
„Warum?“ Argwöhnisch blinzelten wässrig-graue Augen sie an.
„Weil ich Heilerin werden will. Solche Dinge interessieren mich“, erfand sie schnell.
„Hmm. War wirklich kaputt, der Jung“, stieß Olav aus und fuhr mit der Arbeit fort. „Jammerschade. War’n hübscher Bengel. Vorher. Danach konntma ihn kaumnoch anschaun.“
„Traurig, ja. Aber Sphita hat die Geschichte mit dem Unfall ein wenig übertrieben, fürchte ich.“
„Das mit’n Erdrutsch stimmt. Kam wie aus heit’rem Himmel. Kutsch verschwand schneller, als man blinzeln konnt. Wups – da, wusch – weg.“
„Weg? Einfach so?“
„Mit Pferdn und allm. Kutscher auch.“
„War er ein Freund von Euch?“
„Kannt ihn, mehrnich. Pael. Komischer Kauz.“
„Ach?“
„Mhmm. Gehörte zu ihr. Dachte, er wär was Bess’res.“
„Zu ihr?“
„Baratens Frau. Sie war mit eig’nem Gefolge von Perth aus gekumm‘. Hat die annern vorausgeschickt, nahm dann aber den Küstenweg.“
„Mit Euch.“
„Hm-m. Einer aus ihr’n Gefolge war zrückkumm‘ un meint‘, die Wege wär’n schlecht. Sie sollte anders fahrn un den Rest später treff’n. Dazu kam’s nichmehr.“
„Habt Ihr alles mit angesehen?“ Adiv stützte sich auf ihre Mistgabel, während Olav sich von Verschlag zu Verschlag vorarbeitete. Der Schweiß rann ihm in Bächen über den Schädel.
„Najahmm. Ging alles verdammt schnell. Der Hang brach ab und weg warnse. Kutsche kracht auseinand‘ un die Frau un der Jung‘ kullerten un flogn über de Klippn. Pael auch. Werdich mein Lebtag nich vergessn, den Anblick.“ Erst jetzt richtete Olav sich wieder auf, stellte die Gabel gegen seine Beine und fuhr sich mit den Händen von hinten nach vorn über den Kopf, als wolle er eine Mütze richten.
„Wie habt Ihr reagiert?“
„Tjoa, bei Pael war nichts mehr zu machn. Sah man sofort. Sei Kopf war völlig verdreht. Die Herrschaft war im Meer verschwundn. War viel Wind damals un ho’e Welln. Aussichtslos. Selbst wenn man hätte schwimmn könn’n. Aber der Jung‘bewegte sich. Man konnt’s von obn sehn. Also simmer runner. Dauerte. Wir musstn aufpassn, dass nich noch einer abstürzt. Hamm den Jung’n hochbugsiert, weiß nimmer, wie. Sinn zurück nach Korth gerast, alle wie von Sinn’n. Der Alte schickte Botn nach überall. Sein’n Sohn suchn.“
„Der Alte? Maxim Baraten?“, fragte Adiv überrascht.
„Wohnte damals in Korth.“
„Wart Ihr bei ihm angestellt?“
„Mein Herr war Cledent. Aber der Alte spielte sich auf, als gehörtn wir alle ihm.“ Olav ließ ein dreckiges Lachen hören. „Tut er immer noch. Dabei sinn alle seine Diener längst weg. Bis auf Waleck. Aber der is ja nimmer zu gebrauchn. Is älter als die Steine.“
„Waleck? Der Zitterling?“
Jetzt dröhnte Olav vor Lachen. „Zitterling? So nennt Ihr ihn?“
„So nennt ihn Sphita. Bei ihr haben alle Bediensteten Spitznamen.“
„Joa, treibt sich üb’rall rum, die Kleine, obwohl ihre Mutter das nich mag.“
„Also Waleck ist der Zitterling. Dieser dürre alte Mann, geht sehr gebeugt?“
Olav nickte, schnaufte kurz, und stieß die Mistgabel in den nächsten Haufen. „Is schon bei Maxim, seit ich denkn kann un noch viel läng’r. Durchtriebne Ratte.“ Die Gabel zitterte, als Olav den harten Steinboden unter dem Stroh traf. „Scheint aber, als hätt’r sich mit seim Herrn ausm Staub gemacht.“
„Er ist auch weg?“
„Hab ihn zumindest schon ne Zeit lang nich mehr gesehn.“
Maxim ist nicht allein.
Sie fragte sich, ob Waleck ebenfalls den Inhalt seiner Nachttöpfe in Maxims Zimmer entleert hatte. Ihr grauste, als sie sich vorstellte, wie die beiden alten Männer kichernd und fluchend auf dem Bett hockten. Schnell schob sie das Bild beiseite.
„Niemand vermisst ihn. Waleck. Man sah ihn immr aufm Anwesen rumschleichn. Hat alles beobachtet. Alles un jedn. Die Leut‘ fanden das absonderlich.“
„Hat er für seinen Herrn spioniert?“
„Alte Petze war das. Verräter an den eignen Leut‘.“
„So seid Ihr froh, dass er fort ist?“
„Habich das nich gesagt?“
Adiv lächelte, bevor sie die Gabel in den Mist stieß.
„Ich habe ein Bild gesehen“, fuhr sie nach einigen Minuten angestrengten Arbeitens fort. „Ein Porträt. Von Sabyn Baraten. Sie war eine schöne Frau.“
„Habse nich oft zu Gesicht bekomm’n“, brummelte Olav. „War viel auf Reisen, die Hohe Frau. Oder in ihrn Gemächern. Hat sich nich oft draußen gezeigt.“
„Litt sie an einer Krankheit?“
Der Wagner zuckte mit den Achseln. Adiv musterte ihn unauffällig. Seine Miene verriet nichts außer mildem Desinteresse. „Sie war nich so für Gesellschaft. War lieber allein. Las viel, was man so hört. Machte Handarbeiten. Was edle Damen so mach’n.“
Adiv schwieg und dachte nach, während der Gestank der Pferdeäpfel sich auf ihren Gaumen legte.
„Hilft Euch das?“
Sie schreckte hoch. Olavs tief liegende Augen huschten ihren Körper hinauf und herab, zuckten über den Ausschnitt ihres Kleides, hefteten sich auf die Stallwand hinter ihr.
„Ja“, gab sie rasch zurück. „Ja, habt Dank. Das war sehr hilfreich. Videms Kopf und der seiner Mutter. Interessante Studienobjekte.“
„Der Kopf seiner Mutter?“
„Ihr Geist. Ihr Wesen“, erklärte Adiv. „Gute Heiler interessiert auch das Innere. Die Seele, wenn Ihr so wollt.“
Olav brummelte etwas, das sie nicht verstand. Tonfall und Mimik ließen jedoch darauf schließen, dass er für derlei Dinge nicht viel übrig hatte. Hastig dankte sie ihm erneut, drückte ihm ihre Gabel in die Hand und machte sich auf den Weg ins Haupthaus.

Mehlau betrachtete den eidottergelben Urinstrahl, der auf den trockenen Boden spritzte und nur langsam versickerte, hüpfte einen Schritt zurück, als die Spritzer seine Hosenbeine benetzten, schüttelte die letzten Tropfen ab und schloss seine Hose.
Zu wenig Wasser, dachte er und trat den Rückweg an.
Nach einigen Schritten erstarrte er in seiner Bewegung. In der Buschreihe zu seiner Rechten raschelte es.
Er stand still, überlegte, ob er dem Geräusch nachgehen oder lieber weglaufen sollte.
„Nimm die Arme hoch!“, ließ eine helle Stimme in seinem Rücken ihn zusammenzucken. „Ich habe ein Schwert. Es ist auf dich gerichtet!“
„Bitte“, quiekte Mehlau. „Ich wollte nichts Böses. Nur nachschauen, ob ein Tier in den Büschen sitzt.“
„Das war ich, Dummkopf. Man nennt es Ablenkung. Dreh dich um!“
Mit kreidebleichem Gesicht kam der Geselle der Aufforderung nach.
„Wer bist du? In wessen Auftrag bist du unterwegs?“
„Auftrag?“, stammelte Mehlau mit enger Kehle und starrte die junge Frau in dem zerrissenen Kleid an, welches oberhalb ihrer Knie endete und schmutzige Beine entblößte. „Ich habe keinen Auftrag.“
„Bist du allein?“, fragte sie und musterte rasch die Umgebung.
„Nein“, gab Mehlau zurück und erschrak zu Tode, als sie mit einem Satz zu ihm hechtete und das Schwert auf seinen Brustkorb richtete. Wilde blaue Augen hinter ungewaschenem, blondem Haar starrten ihn drohend an.
„Wo sind die anderen?“
Mehlau hob die Arme und wich vor der Schwertspitze zurück. „Irgendwo in dem Wäldchen hinter mir. Wir lagern dort. Ich wollte mir nur die Beine vertreten.“
„Das soll ich glauben?“, schnaubte sie und bohrte die Spitze in sein Wams.
„Ich ... äh ... ich musste Wasser lassen.“
„Du musst dir schon etwas Besseres einfallen lassen.“
„Das ist die Wahrheit“, japste er, als der Stahl sich in sein Wams bohrte. „Lasst mich doch einfach zurückgehen. Dann merkt Ihr, dass ich Euch nichts Böses will.“
„Damit du deine Freunde holst und uns im Schlaf überfällst?“
„Uns?“
Ihre Miene verfinsterte sich, als sie erkannte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihre Lippen, von der Sonne verbrannt und rissig, pressten sich aufeinander. Sie schwenkte das Schwert weiterhin in seine Richtung, aber sie wirkte plötzlich unentschlossen.
Mehlau wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Immer noch angespannt, nahm er sie genauer in Augenschein. Sie strahlte Feindseligkeit aus, doch darunter spürte er Unsicherheit. Und Erschöpfung.
„Braucht Ihr Hilfe?“, brachte er vorsichtig heraus.
„Sehe ich aus, als ob ich deine Hilfe bräuchte?“
„Wir sind gute Leute. Aufrichtige Leute. Wir haben Vorräte dabei. Wasser.“
Sie schnaubte, gab ihre Angriffshaltung nicht auf, doch er hatte bemerkt, wie sie bei der Erwähnung von Essen und Trinken aufgehorcht hatte.
„Wir geben gern etwas ab“, setzte er nach.
„Schweig!“, herrschte sie ihn an. „Setz dich dorthin. Auf deine Hände. Mach schon!“
Mehlau tat, wie ihm geheißen, und beobachtete in den nächsten Minuten, wie sie vor ihm auf und ab lief, das Schwert über die Schulter gelegt. Mit jedem ihrer Schritte ließ sein Herzklopfen nach.
„Es wird schwer mit der Zeit, nicht wahr?“, fragte er nach einer Weile.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. „Was?“
„Das Schwert. Es wird schwer. Ich kenne das. Am Ende eines langen Tages kann ich kaum noch meine eigenen Arme heben. Nun ja, irgendwann werde ich genügend Muskeln haben. Nicht so viele wie Mannero wahrscheinlich, aber genug.“
„Wovon, zur Hölle, redest du?“ Sie war stehengeblieben und starrte ihn an. „Hast du ein Schwert? Wo ist es? Bei deinen Spießgesellen? So seid ihr doch bewaffnet?“
„Oh, nein, nein.“ Er wollte die Hände heben, besann sich jedoch darauf, dass er auf ihnen sitzen sollte. „Ich habe kein Schwert. Ich schmiede welche.“
„Du bist Schmied?“ Ihre Stimme troff vor Ungläubigkeit.
„Geselle. Meist kümmere ich mich um die Kohle, das Feuer und den Amboss, doch ich schmiede auch. Nicht so gut wie Mannero, aber das kommt schon noch.“
„Wer ist dieser Mannero? Dein Meister?“
„Das würde ihm gefallen.“ Mehlau lachte auf, wurde jedoch sofort wieder ernst, als sie ihn drohend anblitzte. „Nein, er ist mein Freund. Geselle wie ich. Wir stammen aus demselben Dorf.“
„Ist er hier?“
„Ja.“
„Wie viele noch? Sag die Wahrheit.“ Drohend nahm sie das Schwert von der Schulter.
„Noch drei. Zweieinhalb, denn einer ist ein Knabe. Wenngleich er reichlich erwachsen wirkt manchmal.“
„Ihr habt ein Kind bei Euch?“ Ihm war, als wäre ein warmer Schimmer in ihre Augen getreten. Auch ihre Stimme klang sanfter.
„Das scheint Euch zu überraschen.“
„Hm“, sagte sie, als wüsste sie nicht, was sie mit dieser Information anfangen sollte.
„Denkt Ihr immer noch, wir wären Räuber?“
„Was seid ihr sonst?“
„Reisende.“
„Woher?“
„Staleph.“
„Wohin seid ihr unterwegs?“
„Nach Perth.“
„Warum?“
„Handel. Schmiedearbeiten, Ihr wisst schon. Außerdem einige Spezialitäten. Salz. Früchte. Abgesehen davon sind wir neugierig. Wir wollen das Dran’bara kennenlernen, die Hauptstadt sehen, den Palast. Was tut Ihr?“
„Das geht dich gar nichts an.“
„Was habt Ihr nun mit mir vor? Wollt Ihr mich töten? Ich habe Euch nichts getan. Ich bin ein friedlicher Mensch.“
„Das sagen sie alle.“
Mehlau schwieg. Er wusste nicht, was sie wollte, weil sie es offenbar selbst nicht wusste. Wie sollte er reagieren?
„Ihr seid doch keine Mörderin“, nahm er das Gespräch wieder auf.
„Woher willst du das wissen?“ Ihr Blick war anders diesmal. Geradeaus, herausfordernd. Und voller Schmerz.
Seine Kehle wurde eng. Schweißperlen bildeten sich unter seiner Kappe. Er blinzelte. „Ich glaube nicht, dass Ihr so kaltblütig seid.“
Mit trockenem Mund wartete er auf ihre Antwort. Doch sie stand nur da und sah ihn weiterhin an.
„Seht Ihr, sonst hättet Ihr mich längst getötet.“
„Vielleicht habe ich nur auf den rechten Moment gewartet“, gab sie zurück, straffte sich, nahm das Schwert in beide Hände und trat mit neuer Entschlossenheit an ihn heran. „Das hier muss ein Ende haben.“
„Das wird nicht nötig sein.“
Die unbekannte Stimme ließ sie herumfahren. Mehlau – genauso erschrocken wie sie – rollte instinktiv nach hinten ab. Er schaffte eine unbeholfene Rückwärtsrolle, kam irgendwie wieder auf die Füße und duckte sich, weil er aus dem Augenwinkel ihr Schwert durch die Luft sausen sah.
Sekundenbruchteile später realisierte er, dass der Angriff nicht ihm galt, sondern dem Fährtenleser, der geräuschlos aus den Sträuchern getreten war, den Speer wie einen schmalen Schild über den Kopf erhoben.
Gelassen ließ er ihren Schlag am Speerschaft abfedern. Er machte keinerlei Anstalten, anzugreifen, stand nur da und wartete.
Mehlau beobachtete, wie die junge Frau mit einem Male innehielt wie vom Blitz getroffen. Ein halbes Lachen entrang sich ihrer Kehle. Sie ließ das Schwert fallen und wankte auf den Wüstensohn zu, auf dessen dunklem Gesicht sich ein warmes Lächeln zeigte.
Sie blieb vor Akim stehen, die Hände an den Mund gelegt. Dann schluchzte sie auf und ließ sich von Akim in die Arme nehmen.
„Ist das Adiv?“, fragte Mehlau, sich nach der heruntergefallenen Kappe bückend.
Akim schüttelte den Kopf. „Sie heißt Sila.“
„Ihr kennt euch.“
„Oh ja“, sagte Akim und hob sanft Silas Kinn an. „Was ist passiert? Warum um alles in der Welt versteckt ihr euch hier?“
„Du hast Rana und Talin gefunden?“ In ihren Augen glitzerten Tränen.
„Jonoy und Mannero sind bei ihnen.“
„Wir brauchen Nahrung. Talin muss essen.“
„Der Schmied hat Früchte und Fleisch. Und Wasser. Es wird euch bald besser gehen.“
„Wir sind nur noch gelaufen“, schniefte Sila.
„Wohin?“
„Nach Perth. Wir wollen zu Adiv.“
„Dann haben wir denselben Weg.“
Sila wischte sich die Tränen ab und sah Akim an. „Euch ist auch etwas passiert.“
Akim nickte langsam.
Mehlau und Sila erschraken erneut, als das Gebüsch sich teilte und Kian vor ihnen auftauchte. Unbemerkt wie sein Bruder.
„Sila“, grüßte er freundlich.
„Bei den Göttern, Kian!“ Ihr Gesicht hellte sich auf. „Du bist mächtig gewachsen.“
Er lächelte. „Das sagt mir jeder. Lass uns zu deiner Familie gehen. Arlen ist auf dem Weg hierher. Dann können wir gemeinsam aufbrechen.“
Er lächelte erneut und verschwand in den Büschen.
Fassungslos wandte Sila sich Akim zu. „Woher weiß er, dass ich Ivson losgeschickt habe?“
Akim schüttelte lediglich den Kopf und ging Kian hinterher.
„Hatte ich nicht gesagt, dass der Knabe reichlich merkwürdig ist?“ Mehlau drückte sich die Kappe auf das verwirbelte Haar, bückte sich nach dem Schwert und zwinkerte Sila zu.
„Es tut mir leid“, presste sie hervor.
„Ich verstehe schon. Man muss vorsichtig sein in diesen Zeiten. Geht voran. Ich nehme Euch das Schwert ab.“

Riesige Hände legten sich auf ihre Schultern.
Nicht schon wieder!
Mit einem ärgerlichen Laut drehte sie sich aus dem Griff, wandte sich um und schubste den überraschten Mann so heftig zurück, dass er das Gleichgewicht verlor und Bekanntschaft mit dem Straßenpflaster schloss. Abwehrend hob er die Arme gegen sie, als sie sich zu ihm beugte, die eine Hand zur Faust geballt, in der zweiten das Messer, das sie seit dem Angriff des Graugewandeten bei sich trug.
„Beeil dich, Arlen! Hol Amon Gurbandat oder die erste Stadtwache, die du siehst.“
„Nein, bitte“, flehte der Mann erschrocken mit tiefer Stimme. „Bitte nicht. Ich muss mit Euch reden!“
„Spart Euch Eure Ausflüchte für die Wachen!“ Adiv ergriff den borstigen Schopf des Angreifers, zog den Kopf nach hinten und setzte ihre Klinge an die bärtige Kehle.
„Bitte“, gurgelte er. „Adiv. Ihr seid doch Adiv? Bitte, ich will Euch nichts tun.“
Adiv hielt inne und sah Arlen verdutzt an.
„Du solltest ihm zuhören“, sagte der Knabe. „Er kennt deinen Namen.“
„Ihr seid es also? Adiv? Also habe ich Euch endlich gefunden.“
„Ich glaube nicht, dass ich Euch kenne.“
„Ich heiße Ivson. Ivson Vanstetten.“
Adiv beruhigte sich ein wenig, als sie den Mann musterte. Er war groß und kräftig, doch er musste gedarbt haben in letzter Zeit, denn die Kleidung saß weit an seinem Körper. Sein Haar war ungepflegt, der Bart struppig. Das sonnenverbrannte, zerkratzte Gesicht war das eines jungen Burschen, kindlich fast, wenngleich Augen und Lippen eingefallen schienen. Er blinzelte sie an wie ein Hündchen.
„Ivson“, wiederholte sie und ließ den Haarschopf los. „Habt Ihr das Fieber? Sucht Ihr Hilfe im Haus der Kranken?“
„Fieber?“, echote er verständnislos. „Nein. Es… es geht mir gut. Uns allen.“
„Uns?“ Misstrauisch schossen Adivs Augen in alle Himmelsrichtungen.
„Sie sind nicht hier“, sagte Ivson und rieb sich stöhnend den Brustkorb.
Arlen trat hinzu, hielt Ivson die Hand hin und sah Adiv auffordernd an. Diese seufzte, steckte das Messer in ihren Kittel und nahm Ivsons andere Hand.
„Er hat lange nichts mehr gegessen oder getrunken und war viele Stunden in der Sonne“, diagnostizierte Arlen, als der Bursche unsicher stand. „Er leidet unter Schwindel und Schwäche. Sein Brustkorb schmerzt, wahrscheinlich von älteren Verletzungen. Fieber hat er nicht. Es sind nicht die Pocken. Ich hole Proviant. Setzt Euch dort drüben in den Schatten.“
Damit stob er davon.
Ivson sah Adiv konsterniert an. Diese deutete ein Lächeln an und führte ihn zu einer kleinen Mauer. „So, Ivson Vanstetten. Jetzt der Reihe nach. Wer seid Ihr? Wer sind die anderen? Und warum habt Ihr nach mir gesucht?“
„Sie sagte, ich solle eine junge Frau suchen. Eine Frau in ihrem Alter. Rotgoldene Haare und strahlendblaue Augen. Eine schöne Frau. Eine, nach der Männer sich umdrehen“, erzählte er matt. „In einem großen Anwesen. Einem Palast, der Kranke beherbergt. Ardannas Haus. Davor solle ich warten. Auf Euch. Auf Adiv. Damit schickte sie mich los. Mich kennt hier keiner. Niemand schöpft Verdacht.“
Adiv war alarmiert. „Wer hat Euch geschickt?“
„Sila. Wir wurden überfallen. Es gab Tote.“

„Diesen Anblick werde ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen.“
Die sechs blickten auf, als sie seine Stimme vernahmen.
„Geht!“, befahl er den Wachen. „Richtet der Kaiserin aus, dass keine Gefahr droht.“
Sobald die Soldaten verschwunden waren, erschien ein Strahlen auf seinem Gesicht. „Ihr hättet auch einen Boten mit einer Nachricht senden können. Ich hätte euch mit Vergnügen persönlich am Tor in Empfang genommen. Ihr hättet euch nicht wie Verbrecher hineinschleichen müssen.“ Ylaiy ging auf Gillok zu und schloss ihn in die Arme. „Fische! Bei den Göttern!“ Lachend klopfte er dem Sumpfmann auf den Rücken.
Gillok grinste zurück. „Es ist viel zu einfach, in Euren Palast zu gelangen.“
„Ihr wurdet doch erwischt.“ Ylaiy umarmte Ciycain.
„Erst im Hauptgebäude. Da waren wir bereits nah an Euren Gemächern.“
„Die besonders gut bewacht werden. Trotzdem Glückwunsch, Gillok. Woher kanntet Ihr den Weg so gut?“
„Ihr kennt Ciycains Orientierungssinn. Außerdem kannte sie die meisten Eurer Geschichten. Wir Nomaden haben viel Zeit für Erzählungen.“
„Der Orientierungssinn. Den hatte ich fast vergessen.“ Ylaiy schlug sich an die Stirn und betrachtete dann, ernster werdend, die restlichen Besucher. Der Knabe und das Bettlerweib an der Wand kamen ihm vage vertraut vor, auch der stämmigere der beiden Männer. Nur bei dem jüngeren Mann war er sich sicher, ihn nie vorher gesehen zu haben.
„Ein Sinn, der sich verdoppelt, wenn zwei Kinder zusammen sind“, sagte die Bettlerin, die sich aus ihrer Hockstellung erhob und ihm entgegentrat, viel zu aufrecht für ein hungriges Weib.
Die heisere Stimme hätte Ylaiy unter tausenden wiedererkannt. Seine Augen weiteten sich. „Syriakin!“, rief er. Er hob die Arme, um sie zu begrüßen, erinnerte sich jedoch rechtzeitig an ihre spröde Art und berührte sie stattdessen nur leicht an der Schulter. „Es ist schön, Euch zu sehen. Auch wenn ich Euch in einem Kleid niemals vermutet hätte.“
„Es gehört mir nicht.“
„Das dachte ich mir. Will ich wissen, wie das bedauernswerte Weib aussieht, dem Ihr es gestohlen habt?“
„Nein.“
„Hat sie stattdessen Eure Lederkluft bekommen? Dann habt Ihr einen schlechten Handel gemacht.“ Ylaiy konnte ein Schmunzeln nicht länger unterdrücken.
„In die hätte sie nicht annähernd hineingepasst“, sagte Gillok. „Alle Frauen dieser Stadt scheinen breiter zu sein als Syra. Das war das einzige Kleid, in dem sie halbwegs überzeugend aussah.“
„Kein besonders schönes Kompliment“, entgegnete Ylaiy. „Im Übrigen hättet Ihr Euch auch auf einen der Sessel setzen können. Die Wachen hätten Euch nicht umgebracht.“
„Nein, das hätten sie nicht.“
Er hob beide Hände in die Höhe. „Ich will nicht wissen, dass Ihr Eure Kluft unter diesem Kittel tragt und in ihr Eure tödlichen Spielzeuge. Wisset aber, dass Waffen bei Besuchern nicht gern gesehen sind.“
„Meine Waffen lagern außerhalb der Stadtmauern. Eine Bettlerin mit Bogen und Dolchen wäre schwerlich unbehelligt an Euren Wachen vorbei gekommen.“
„Eine Fischerfamilie und Bettlervolk. Die einen sorgen für Ablenkung, die anderen schleichen sich in den Palast.“
„Was hat uns verraten?“, fragte Gillok.
„Ihr kamt Anisa komisch vor.“
„Anisa?“
„Die Köchin. Irgendetwas an euch dreien machte sie misstrauisch und sie informierte die Wachen, deren geschärfte Sinne daraufhin Eure Gefährtin enttarnten. Ihr hättet Euch wie die anderen auf das Brot stürzen sollen, Syriakin, selbst mit einem ohnmächtigen Kind im Arm. Warum seid Ihr nicht geradewegs in die Stadt hineinspaziert und habt bei mir vorgesprochen? Was meintet Ihr mit der Verdopplung? Und wer sind Eure Begleiter?“
Schlagartig war aller Frohsinn aus dem Raum entschwunden.
„Das erklären wir nach einem Bad“, sagte Syriakin und trat so nah an ihn heran, dass er ihre Lippen an seinem Ohr spürte. „Dann erkennt Ihr zumindest Euren Vetter wieder.“


Zwei Stunden später saßen sie beim Abendmahl. Während seine Gäste sich erfrischt hatten, hatte er alle Fenster und Türen überprüft, in Schränke und hinter Wandbehänge, sogar unter das Bett gespäht und seiner Frau, seiner Mutter und dem Hohen Rat ausrichten lassen, dass er privat zu speisen wünsche. Natürlich hatte im Palast die Geschichte von den ergriffenen Eindringlingen längst die Runde gemacht. Ylaiy sann bereits über eine öffentliche Erklärung nach. Ein inszenierter Einbruch, um die Wachsamkeit der Garde auf die Probe zu stellen, erschien ihm überzeugend.
Er betrachtete erneut die Menschen, die ihm vertrauter erschienen, nachdem sie sich der fremdartigen Kleidung entledigt hatten. Gillok hatte sich kaum verändert, auch wenn Ylaiy in seinem Haar erste graue Strähnen und um seinen Mund feine Linien entdeckte. Syriakins Haar war so dunkel wie eh und je. Es war länger, als er es in Erinnerung hatte, und durch das Bad ungewöhnlich weich. Sie ließ es in ihr Gesicht fallen, vermutlich, um die Narbe zu verdecken, die es entzweiriss. Ciycain sah kaum mehr aus wie ein Mädchen, sondern wie eine junge Frau, sodass er sich immer wieder ihr Alter ins Gedächtnis rufen musste. Sie hockte zwischen ihren Eltern, die aufrecht auf den ungewohnten Stühlen saßen, wie immer etwas steif. Auch der junge Frâgg, Nou, fühlte sich sichtlich unwohl. Kurzerhand riss Ylaiy die Tagesdecke vom Bett und breitete sie auf dem Teppich aus. Dann ergriff er seinen Becher und einen Teller, ließ sich mit überkreuzten Beinen auf dem Boden nieder und winkte die anderen zu sich. „Frischer Fisch sollte nach Frâgg-Art gegessen werden. Bringt das Brot mit, ja?“
Nachdem sich alle im Kreis um ihn geschart hatten, reichte Gillok Brot und Wasser herum, Thragesh - nun mit in Zöpfen gebändigten Haaren, an die sich Ylaiy erinnerte - schob die gedünsteten Krebse reihum und nahm von den süßen Äpfeln.
„Es tut gut, Euch zu sehen“, sagte Ylaiy. „Auch wenn die Umstände mir gar nicht gut erscheinen. Yvain ist hier, mit geschorenem Kopf und traurigen Augen, begleitet von seinem Leibwächter und einer Eskorte Sumpfmenschen, anstelle einer soldatischen Abordnung. Ihr schleicht in den Palast, also wolltet ihr nicht gesehen werden. Etwas ist geschehen. Was?“
„Eure Tante ist tot“, brachte Gillok hervor.
Ylaiy fiel das Brot aus der Hand. „Was?“
„Es tut mir leid. Es gibt keine schonende Art, es Euch beizubringen.“
„Wie das? Davon weiß ich nichts.“
„Weil niemand übrig blieb, um zu berichten.“ Gilloks Gesicht drückte Trauer und Mitgefühl aus, während er den Jungen betrachtete, der den Kopf senkte, um seine Tränen nicht zu zeigen. Ciycain, die sich neben ihn gesetzt hatte, hielt seine Hand.
Wie sein Vetter behielt auch Ylaiy nur mit Mühe die Fassung. Sein hüpfender Adamsapfel offenbarte die innere Unruhe.
„Es war ein Überfall“, begann Thragesh seinen Bericht. „Ein heimtückischer Überfall, der alle das Leben kostete.“
Der Prinz schloss die Augen und massierte sich die Stirn. Seine Hand zitterte. „Außer Euch und Yvain, den Göttern sei Dank“, flüsterte er.
„Uns rettete pures Glück. Und ein Baumhaus.“
Dann begann der Leibwächter mit der Erzählung, während Trauer und Sorge über Ylaiy zusammenstürzten.

Olav schnalzte mit den Zügeln und der Zunge, sobald sie den Stadtrand hinter sich gelassen hatten. Unverzüglich legten die Pferde an Geschwindigkeit zu. Adiv, die neben Arlen auf dem Kutschbock hockte, hielt sich mit beiden Händen an dem winzigen Geländer fest. „Fahrt vorsichtig“, rief sie dem schwergewichtigen Mann zu, der mit offensichtlichem Vergnügen den überdachten Zweispänner lenkte.
„Pferd‘ müssn sich auma austobn. Kein Verkehr hier draußn.“
„Hauptsache, Ihr bringt uns gesund ans Ziel“, gab Adiv zurück und schielte nach hinten, wo Ivson unter der Plane lag. „Wisst Ihr den Weg auch wirklich noch?“
„Ich denke schon.“
„Nach links“, wies Arlen in diesem Moment Olav an.
„Bist du sicher?“, fragte Adiv.
„Ja.“
„Nach links“, kommandierte Adiv.
„Nicht mehr lange“, sagte Arlen. Er wirkte außergewöhnlich erregt.


„Hier?“ Adiv starrte auf das Ende des Weges. Direkt vor ihr ging die Stadt schlagartig in eine wilde Wiese über.
„Wir müssen den Wagen hier lassen. Das letzte Stück ist zu uneben für die Räder“, sagte Ivson. „Es ist nicht weit.“
„Olav, bitte wartet hier auf uns“, wandte Adiv sich an den Wagner, der nickte, sich auf dem Bock zurücklehnte und seine Hutkrempe über die Augen zog.
Indessen war Arlen auf die Ladefläche geklettert und verstaute Proviant und Wasserschläuche in Tüchern und Säckchen, die er an Ivson und Adiv weiterreichte.
„Das ist genug für eine halbe Armee“, stellte Adiv fest.
„Wir werden es brauchen.“
„Wieder eine deiner Ahnungen?“
„Komm. Sie sind fast schon da.“
„Was? Wer? Wo da?“, fragte Adiv, doch Arlen war bereits losgelaufen, mitten in die Wiese hinein, als sähe er den Weg wie hingezeichnet vor sich.


Wenn man in Perth lebte, vergaß man leicht, dass die Stadt umringt war von niedrigen Wäldern. Nach allen Seiten hin erstreckten sich dicht wuchernde Gewächse mit harten, kleinen Blättern, die selbst der Winterkälte und anhaltender Trockenheit standhielten. Die knorrigen und verkrüppelten Bäume erreichten nur selten Höhen von mehr als vier Metern. Zwischen ihnen drängten sich kratzige Lorbeerbüsche, buschige Zwergsträucher, die aromatischen Harzduft verströmten, sowie unzählige Kräuter mit dunklen Kugelfrüchten, aus denen sich übel riechende, aber heilsame Essenzen herstellen ließen.
Adiv atmete tief ein, sobald der Planwagen außer Sichtweite war. „Es ist schön hier“, sagte sie zu Ivson, der sich, mit Beuteln und Tragetüchern beladen, vor ihr durch die stacheligen Büsche schob.
„Auf den ersten Blick, ja. Die Wälder wirken friedlich und ungefährlich, doch sie sind tückisch. An den Sträuchern zerkratzt man sich schnell die Haut und es gibt kaum Schutz vor der Sonne. Wild findet Ihr so gut wie gar nicht. Die meisten Früchte sind verdorrt. Nüsse und Samen, viel mehr gab die Gegend nicht her. Ein gutes Versteck zu finden war auch nicht leicht. Die letzte Zeit war eine Tortur.“
„Wie lange seid ihr schon hier?“
„Seit vorgestern Nachmittag. Unterwegs seit beinahe einem Monat. Zuerst auf dem Bene, dann an Land. Wir haben das Diyumbyur-gha durchquert. Bis in den Kaiserlichen Forst sind wir gekommen. Dort beschlossen wir, unsere Route zu ändern. Wir sind nachts bei Niedrigwasser nach Prant übergesetzt, auf einem Boot, das an den Gestaden im Osten zerschellte. Seither sind wir gelaufen. Viele verborgene Wege. Eine elende Plackerei.“
„Vor allem, wenn man bedenkt, dass ihr einen Säugling dabei habt.“
„Talin ist ein liebes Kind. Er kommt nach seiner Großmutter.“
Adiv erinnerte sich an die ruhige, dunkelhaarige Frau mit den traurigen Augen, an die schlimmen Zeiten, von denen sie berichtet hatte. Aans Ziehmutter. Die Amme des Prinzen. Gutmütig und aufopferungsvoll. „Rana, ja. Sila ist von anderer Natur.“
„Launisch. Aufbrausend. Ein Wirbelsturm.“
„Aber sie hat das Herz auf dem richtigen Fleck.“
„Doch nach Wochen mit ihr auf Wanderschaft…“
„Habt Verständnis. Sie hat Angst um ihren Sohn und ihre Mutter.“
Sicher auch um Ylaiy.
Ivson stapfte schweigend einige Schritte weiter. „Der Hunger“, sagte er nach einer Weile leise. „Ich hätte nie geglaubt, dass er einem Menschen derartig zusetzen kann. Auf dem Fluss fanden wir genug Nahrung, auch noch in den hohen Wäldern. Aber seit dem Felsenlabyrinth haben wir nur wenig gegessen.“
„Ich glaube, Hitze und Durst sind schlimmer. Außerdem zehren die ausgestandenen Ängste an Euch. Die Kämpfe. Die Verletzungen. Aber Durst, das ist das Schlimmste. Der Mensch hält ohne Wasser nicht lange durch, ohne Essen hingegen erstaunlich lang, wenn es sein muss.“
„Auch ein Säugling?“, stieß Ivson hervor. „Er greint nur noch. Schrie tagelang. Jetzt ist er so schwach, dass er kaum den Kopf heben kann.“
„Wir kriegen ihn durch“, beruhigte Adiv. „Ich habe Brei dabei, Schmerzmittel, warme Milch und Wasser. Das wird schon. Kinder sind zäh. Wir haben den Wagen, der uns rasch zu Ardanna bringt. Im Haus gibt es genug Platz für alle. Dort könnt ihr euch ausruhen. In ein paar Tagen ist Eure Reise nur noch eine schlechte Erinnerung.“
„Ich bete, dass Ihr recht behaltet.“
Adiv gab dem Burschen einen aufmunternden Klaps auf den Rücken.
Sie gingen eine Zeit lang weiter, während die Sonne ihren Zenit verließ. Die Hitze schwirrte über dem Buschwerk, brachte die Luft zum Flimmern, brannte auf ihren Köpfen. Adiv war kaum eine Stunde gelaufen und spürte doch bereits Anzeichen von Müdigkeit. Die Bruthitze laugte sie aus. Allmählich bekam sie eine Vorstellung davon, wie schrecklich die vergangenen Tage für Ivson und die anderen gewesen sein mussten.
Sie sehnte sich nach Schatten, nach einem Platz zum Ausruhen, obgleich Aufregung und Sorge sie antrieben. Gerade, als sie ihren Arm hob, um den Schweiß von ihrer Stirn zu wischen und sich Luft zuzuwedeln, hielt Arlen unvermutet an und wartete auf sie.
„Wie lange noch?“, fragte sie.
„Wir sind da.“
„Was? Ich sehe nichts.“ Adiv drehte sich im Kreis. Bäume, Büsche, Gras. Nichts, was ausreichend Platz für ein Versteck bot.
Arlen und Ivson grinsten sich an.
„Nun sagt schon. Mir ist zu heiß für Spielchen.“
Ivson bückte sich und hob eine Steinplatte an, die vor ihren Füßen im Gras lag. Darunter kam ein Loch zum Vorschein.
„Da unten?“
„Ihr könnt hineinspringen. Es ist nicht tief. Seht Euch trotzdem vor. Der Boden ist ziemlich löchrig. Eine Reihe zusammenhängender Erdhöhlen. Überall hängt Wurzelwerk herunter.“
„Geht Ihr voran. Ihr kennt den Weg.“
„Ich gehe“, verkündete Arlen und sprang in das Loch, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Er kann es wohl kaum erwarten, Sila und Rana wiederzusehen“, sagte Adiv.
„Er kann es nicht erwarten, Kian zu sehen.“
Eine schmale Gestalt erhob sich vom Erdboden.
Mit dem nächsten Pulsschlag war Adiv zurückgesprungen und in Angriffshaltung gegangen. Ihre Hände hielten das Messer, noch bevor Ivson der Schrecken einholte.
„Verdammt, Akim!“, rief sie einen weiteren Herzschlag später. „Du hast mich fast umgebracht mit deiner Anschleicherei. Hättest du nicht einfach rufen können?“
„Wer ist das?“, fragte Ivson wie gelähmt, doch Adiv gab keine Antwort mehr. Stattdessen ging sie strahlend auf den dunkelhäutigen Mann zu, breitete die Arme aus und zog ihn in eine lange Umarmung.

Lange Stunden wanderte er durch seine Gemächer. Rastlos. Ruhelos. Paíre hatte ihn erwartungsvoll angeschaut, auf eine Erklärung gehofft. Er hatte es nicht über sich gebracht, sie einzuweihen. Noch nicht. Vorher musste er nachdenken.
Er seufzte, fuhr sich mit der Hand über das Haar, das so hell wie Yvains war, wenn er es gestutzt trug, schrak zusammen, als er das Geräusch an der Tür hörte, schaute auf und sah sie im Dunkeln stehen.
„Habt Ihr etwas vergessen?“, fragte er, nachdem die Schrecksekunde abgeklungen war.
„Nein.“ Sie verschränkte die Arme und lehnte sich an den Türrahmen.
„Ist Euch noch etwas eingefallen?“
Sie schüttelte den Kopf. Zumindest glaubte er das. Er ging zum Kamin und schürte das Feuer, sodass der Raum stärker beleuchtet wurde.
„Was ist es dann?“
Er hatte den Eindruck, dass sie etwas hatte sagen wollen, aber sie schwieg.
Ylaiy ging zum Tisch, goss sich einen Becher Wein ein, bot ihr welchen an.
„Wasser hätte ich gern, wenn Ihr habt.“
„Ihr müsst nicht fragen. Ihr seid mein Gast. Nehmt Euch einfach“, sagte er, schenkte ein und reichte das Getränk an sie weiter, beobachtete sie, wie sie langsam einen Schluck trank, schließlich den Becher in beide Hände nahm. „Ihr seht übernächtigt aus.“
„Es geht mir gut.“ Sie klang ablehnend, aber immerhin sprach sie. Damit konnte er besser umgehen als mit ihrem Schweigen.
„Ihr seht aus, als hättet Ihr etwas auf dem Herzen.“
„Überrascht Euch das?“
„Es überrascht mich, dass Ihr mich deswegen aufsucht.“
Sie studierte das Wasser in ihrem Becher. „Wie ist es um Euren Schlaf bestellt, Prinz? Tobt der Blaukopf durch Eure Träume?“
„Es kommt vor“, erwiderte er, verwirrt von ihrer Frage. „In der Regel ist mein Kopf angefüllt mit den Tagesgeschäften, den Büchern, den Gedanken an meine Familie.“
An Sila und Talin.
„Meist falle ich abends um und schlafe traumlos. Sucht er Euch heim? Nach so langer Zeit noch?“
Sie blickte ihn an. „Erinnert Ihr Euch an die heiße Quelle? Ihr habt mir dort von Euren schlaflosen Nächten erzählt.“
„So schlimm, ja?“
Sie presste die Lippen zusammen. Ihre Augen wanderten durch den Raum, wichen seinem Blick aus, hefteten sich auf einen Punkt an der Wand hinter ihm.
„Wartet hier.“
Er verschwand in einem Nebengemach, wühlte in seinen Schränken, kehrte mit einem Beutel zurück. Sie zögerte lange, bevor sie den Arm ausstreckte, als hinge ein Gewicht an ihm.
„Es ist alt und trocken, aber meines Wissens verdirbt es nicht. Tabak besitzt Ihr wahrscheinlich selbst.“
Sie nickte, murmelte einen Dank und wandte sich zum Gehen, den Kopf gesenkt und mit verstörend langsamen Bewegungen, sie, die ihm das Leben gerettet und dem Blaukopf furchtlos in seine Fratze gestarrt hatte.
„Ihr wisst, dass es ausgezeichnete Heiler in der Stadt und im Palast gibt? Ihr solltet sie aufsuchen, bevor sie nach Perth aufbrechen.“
Smaragdaugen bohrten sich in seine, verhangen vor Müdigkeit. „Eine gute Nacht, Prinz.“
„Wartet. Möglicherweise weiß ich eine bessere Art, zur Ruhe zu kommen als Gyoth.“
„Ich trinke keinen Branntwein.“
„Dachte ich mir. Wollt Ihr mir folgen? Es dauert nicht lang. Ein kurzer Spaziergang nur.“
„Wollt Ihr mir die Schönheiten der Palastanlage zeigen?“
„Ich bin sicher, die Anlage habt Ihr längst ausspioniert.“
„Dann…“
„Lasst Euch überraschen.“


Syriakin betrachtete das Kreisrund des Saales; die mit Sägespänen und Stroh gefüllte Arena, die Ketten, Stangen und eisernen Scheiben an den Wänden, die Holzböcke, Leitern und Kugeln. Am längsten verweilten ihre Augen auf dem ansehnlichen Arsenal an Waffen aller Art. Sie schritt auf den Waffenständer zu und nahm eines der Langschwerter aus der Ablage. Sie wog die Klinge in der rechten Hand und schwang sie probehalber durch die Luft.
„Unpraktisch“, befand sie und legte den Stahl zurück. Dann sah sie den Prinzen an. „Das also wolltet Ihr mir zeigen? Eure Waffenhalle?“
„Der Übungssaal der kaiserlichen Truppen“, korrigierte Ylaiy. „Der Elite vorbehalten. Es gibt mehrere Arenen in der Stadt und am Hof. Dies ist die größte. Hier könnt Ihr jeden Muskel Eures Körpers stählen, wenn Ihr wollt. Euch mit anderen Männern messen.“
„Ich soll mich mit Euren Soldaten messen?“ Sie wirkte beinahe belustigt.
„Seid nicht so überheblich. Einige der Männer sind Euch ebenbürtig, glaubt mir. Das Schwert, das Ihr eben hieltet, mag für Euch unpraktisch sein, weil es zu groß ist. Die Elboin gebrauchen es wie Ihr Eure Dolche.“
„Niemals so schnell.“
„Dafür mit größerer Reichweite. Aber ich will mich gar nicht streiten. Ihr könnt Euch nicht öffentlich zeigen, aber wenn Ihr mögt, reserviere ich die Halle bei Einbruch der Nacht für mich. Ihr könnt Euch an den Geräten austoben. Mit Gillok, Shesh und Nou trainieren.“
„Eure Kommandanten werden Fragen stellen.“
„Sollen sie doch. Ich will Euch nichts aufdrängen, doch Ihr braucht Bewegung wie andere das Licht. Es ist nur ein Gedanke, aber möglicherweise hilft Euch Anstrengung, den Knoten in Eurem Kopf zu lösen.“
„Hat es bei Euch funktioniert?“ Langsam ging sie zu einer der metallenen Stangen, die an Ketten über ihren Köpfen schwangen.
„Ich vermeide jede unnötige Bewegung, wie Ihr wisst.“
„Ihr lügt“, erwiderte sie und sprang in die Höhe. Mit einem Klimmzug zog sie sich an der schwankenden Stange empor. „Ihr wirkt kräftiger als auf der Reise. Muskeln bekommt man nicht durch Herumsitzen. Übt Ihr heimlich? Hier? Nach Einbruch der Nacht?“ Nach einem Hüftumschwung sprang sie wieder zu Boden. Ylaiy schüttelte den Kopf angesichts der Leichtigkeit.
Er lächelte. „Scharfsinnig wie immer. Ich versuche, in Form zu bleiben. Hauptsächlich im Kampf. Am Schwert bin ich ganz brauchbar geworden, aber Eure akrobatischen Kunststückchen werde ich niemals beherrschen. Wo lernt Ihr so etwas? Habt Ihr Kampfsäle in den Sümpfen?“
„Bäume, Felsen, Abhänge.“
„Das erklärt Kraft und Gewandtheit. Was ist mit Eurer Kampftechnik? Woher habt Ihr Eure Waffen? So weit ich weiß, gibt es keine Schmiede auf Kânegg.“
„Horcht Ihr mich aus?“
„Ich bin nur neugierig. Wo habt Ihr kämpfen gelernt? Ihr und Gillok? Kämpfen alle Sumpfleute so?“
„Gillok brachte mir alles bei, was er von seinem Vater, seinen Onkeln und seinen älteren Brüdern und Vettern gelernt hatte. Mein zweiter Vater und meine Mutter lehrten mich einiges. Den Rest brachte ich mir selbst bei.“
„Ihr wart ein Naturtalent.“
„Es lag mir“, gab Syriakin zu. „Ich hatte die Ausdauer, aber mir fehlte die Kraft. Gillok und seine Freunde bezwangen mich jeden Tag. Meist lachten sie mich aus.“
„Das hat Euch nicht gefallen.“
Sie zog ein Messer aus einem ledernen Behältnis, balancierte es in ihrer Hand und schleuderte es auf eine Zielscheibe aus Stroh. Es blieb federnd in der Mitte stecken. „Ich übte heimlich. Laufen, Klettern, Schwimmen, Kämpfen. Mich hielt nie viel im Dorf. Meine Mutter erkannte, dass ich nützlicher war, wenn ich sie begleitete, mit ihr jagte und fischte. Sie brachte mir bei, mit dem Bogen zu schießen, wie man ein Blasrohr benutzte, Schleudern und Messer. Sie war eine gute Lehrerin. Eine sehr gute.“
Ihre Stimme war leiser geworden. Ein Hauch von Wehmut schwang in ihr mit. Sie zog das nächste Messer aus dem Futteral, ergriff es mit der linken Hand, überprüfte Schneide und Gewicht. Es drang wenige Zentimeter neben dem ersten in den Strohballen ein.
„Ihr müsst Eure Linke mehr trainieren“, zog Ylaiy sie auf.
„Schlecht ausgewogen“, brummte sie.
„Ist es üblich, dass Frauen zu Kämpferinnen ausgebildet werden?“
„Nein“, entgegnete sie knapp. „Aber es gibt sie.“
„Man sagt, die Frâgg waren anders früher. Vor langer Zeit. Ein Kämpfervolk.“
„Heute sind sie ein Volk von Feiglingen. Ein Volk, das sich versteckt.“
„Doch sie haben sich die Kämpfertradition bewahrt. Die Techniken. Das Wissen über die Herstellung der Waffen. Den Umgang mit Fallen und Giften. Es steckt alles noch in ihnen. Seht Euch an. Oder Gillok. Die anderen Männer Eures Dorfes. Auch Nou versteht zu kämpfen, nicht wahr?“
„Gut sogar. Erstaunlich bei dem Vaterblut“, murmelte sie. Dann schritt sie zu dem Strohballen, zog die Messer heraus und brachte sie zurück zu Ylaiy. „Ich habe auch eine Frage. Warum seid Ihr den umständlichen Weg über das Palastgelände gegangen? Von Euren Gemächern aus gibt es einen versteckten Gang hierher.“
„Habt Ihr Baupläne vom Palast?“, fragte er überrascht. „Woher wisst Ihr von dem Gang? Ihr habt doch nicht wirklich alles ausgekundschaftet?“
„Ciycain und Yvain erzählten mir von den Geheimgängen. Von Kellern und unterirdischen Kerkern. Akim und Jonoy wurden hier festgehalten.“
„Stimmt. Doch woher kennt Ihr den Gang in meinem Zimmer?“
„Habt Ihr die Kinder nicht gesehen? Nach unserer Ankunft? Sie wirkten unbehaglich, drehten sich ständig um, als fühlten sie sich beobachtet. Es gab einen Luftzug in Eurem Zimmer. Gillok und Nou spürten ihn auch. Diese Kästen, in denen Ihr Eure Kleidung aufbewahrt. Einer von ihnen führt in die Tiefe.“
„Schränke. Und ja, Ihr habt recht mit dem geheimen Gang. Glaubt Ihr, wir wurden beobachtet?“
„Ciycain und Euer Vetter glauben das. Doch zurück zu meiner Frage: Wenn wir uns öffentlich nicht zeigen sollen, weshalb benutzen wir dann nicht die versteckten Pfade?“
Ylaiy verzog das Gesicht. „Tunnel“, sagte er kläglich.
Sie sah ihn an, wartete auf weitere Erklärungen, bis die Erkenntnis von selbst in ihr dämmerte. „Euer Andenken an Drahórsul.“
„Ich mochte sie vorher schon nicht besonders. Seit Vadrassallan und O’shu’o-gh vermeide ich sie noch mehr. Nennt mich einen Feigling“, sagte er mit einer Geste der Hilflosigkeit.
„Wir haben alle das eine oder andere zurückbehalten“, entgegnete sie. Dann straffte sie sich. „Ich danke Euch für Euer Angebot. Ich glaube nicht, dass ich heute noch Bewegung brauche, aber bestimmt morgen. Eine geruhsame Nacht, Ylaiy.“
„Euch ebenso. Geht sparsam mit dem Gyoth um. Wenn man es nicht gewohnt ist…“
Wie immer war sie schneller verschwunden, als er blinzeln konnte. Nicht einmal die Sohlen ihrer Stiefel waren zu hören. Er lächelte, als er daran dachte, wie sie die Waffenregale gemustert hatte. Als hätte sie eine der Klingen oder Äxte gebraucht, um ihn oder jeden anderen Mann in diesen Gemäuern im Handumdrehen ins Reich der Toten zu befördern. Stellte sich die Frage, was sie unternahm, um gegen den Feind in ihrem Innern anzukämpfen.

Der Planwagen rüttelte den staubigen Weg entlang. Adiv fühlte sich benommen vor Hitze, Durst und Anstrengung. Sie hatte sich beinahe übergeben müssen, als sie den verletzten Gefangenen sah und vor allem roch. Tikt stank. Seine Kleidung war steif von getrocknetem Blut und Urin. Schichten von Schmutz und Staub hüllten ihn ein. Mangelernährung, Blutverlust und Durst ließen seinen Atem schimmelig riechen. Seine Zunge, geschwollen und bedeckt mit einem weißen Belag, sah aus wie ein fremdartiges Tier. Die meiste Zeit klammerte er sich an seine verbundene Hand und gab seltsame Geräusche von sich. Wahnsinn strahlte aus seinen verkrusteten Augen.
Olav hatte sie angeblickt, als sähe er sie zum ersten Mal, als sie mit der Gruppe zurückgekehrt war. Vom Bock aus hatte er zugesehen, wie sie nacheinander auf den Wagen geklettert waren. Gesagt hatte er nichts, sich lediglich unter der Krempe am Kopf gekratzt.
Die beiden Knaben waren zu ihm auf den Bock gerutscht. Die Erwachsenen hatten sich an die niedrigen Wagenwände gelehnt, die Beine ausgestreckt und Wasserschläuche geöffnet.
Am meisten benommen fühlte sie sich von den Überraschungen eines Tages, der ihr endlos vorkam. Immer wieder musterte sie Sila und Rana, spürte Akims und Jonoys Körperwärme. Sie konnte kaum fassen, dass sie leibhaftig neben ihr saßen.
„Freust du dich nicht, uns wiederzusehen?“, fragte Sila sie leise.
„Ich würde mich mehr freuen, wenn ihr freiwillig zu Besuch gekommen wärt, nicht wie Gejagte.“
Beide Frauen blickten gleichzeitig auf Tikt, der mit Speichelfäden auf dem Kinn zwischen ihren Füßen lag.
„Er ist wirklich dein Bruder?“, fragte Adiv.
„Halbbruder. Handelt in Veis Auftrag, nach allem, was wir aus ihm herausbekommen haben. Mutter wollte ihn mitnehmen, um ihn auszuquetschen.“
„Wir müssen uns um seine Verletzungen kümmern.“
Silas Miene versteinerte.
„Falls er uns von Nutzen sein soll, muss er am Leben bleiben.“
„Mach, was du willst. Nur verlange nicht von mir, mich um ihn zu scheren. Er ist ein Scheusal wie sein Vater. Menschen wie er verdienen nicht zu leben.“
„Es ist nicht an uns, das zu entscheiden.“
Langsam wandte Sila den Kopf und musterte Adiv. „Er hat versucht, uns zu töten. Wahrscheinlich hat er Ivsons Eltern auf dem Gewissen. Er ist ein schlechter Mensch.“
„Trotzdem.“
„Du bist wie meine Mutter. Zu gut für diese Welt.“
„Tu nicht so, als wärst du es nicht.“
Zu dieser Bemerkung schwieg Sila.
Adiv drang nicht weiter in sie. Stattdessen schmiegte sie sich an Jonoy und Akim. „Ich kann nicht glauben, dass ich neben euch sitze.“
Jonoy seufzte. „Fast wäre es nicht dazu gekommen.“
„Es brauchte einen Überfall, dass ihr mir endlich einen Besuch abstattet.“
„Drei Überfälle“, sagte Akim. „Jonoy, Sila, du. Etwas ist in Bewegung geraten.“
„Und Vei steckt dahinter?“
„Zumindest hinter dem auf Sila. Wir müssen die anderen warnen.“
„Gönnt euch erst Ruhe. Wir besprechen alles in Ardannas Haus.“
„Wir können woanders Unterschlupf finden.“
„Unsinn. Ardanna ist eine von uns, seit ihr Arlen und mich bei ihr abgeliefert habt. - Es ist nicht mehr weit“, sagte sie mit lauterer Stimme. „Wir haben die Vororte bereits passiert.“
„Das ist also Perth?“, staunte Mehlau. „Es ist riesig.“
„Nein“, entgegnete Sila. „Der Palast ist riesig. Von Yruish ganz zu schweigen.“
„Sila“, wies Rana ihre Tochter zurecht. „Es ist Ardannas Heimat. Und Adivs. Sie gewähren uns Obdach.“
„Ich wollte niemanden beleidigen. Ich bin dankbar für eine Unterkunft.“
„Du hast eine seltsame Art, das zu zeigen“, murmelte Ivson.
„Ich mag Perth“, dröhnte der Schmied. „Ein bisschen zu geradlinig und sauber für meinen Geschmack, aber dafür wegweisend in den Handwerken. Mannero, Mehlau, ihr solltet unbedingt die Silberschmiede aufsuchen, solange wir hier sind.“
„Nicht so voreilig, alter Mann“, dämpfte Adiv die Begeisterung des Schmieds.
„Was meinst du?“
„Wir sind noch an den Randbezirken, deshalb fällt es hier nicht so auf.“
„Was?“
„Die Stille“, sagte Akim. „Es ist zu still für eine solch belebte Stadt. Zu leer.“ Seine schwarzen Augen senkten sich auf ihre. „Was ist passiert?“
„Eine Krankheit geht um. Sie breitet sich aus.“
Unbehagen schlich sich in ihre Mitte. Sila streckte die Hände nach Talin aus und zog ihn an sich. Ivson und die Gesellen rückten unmerklich voneinander ab.
„Deswegen habt Ihr mich nach dem Fieber gefragt“, fiel Ivson ein.
„Was ist es?“ Jonoy hatte sich vorgebeugt und seine Pranke auf ihren Oberschenkel gelegt. Es gab nicht viele Menschen auf der Welt, denen sie eine solche Berührung durchgehen ließ.
„Die Pocken. Eine aggressive Form. Die meisten sterben oder werden zu Krüppeln. Willkommen in Perth. Ihr hättet euch keinen besseren Augenblick aussuchen können.“
Langsam zog Jonoy seine Hand zurück. „Vielleicht sollten wir anhalten.“
„Wir müssen uns nur vorsehen. Ich habe Tücher dabei. Wir dürfen die schädlichen Keime nicht einatmen und ihr alle solltet euch von Kranken fernhalten.“
„Nennt mich naseweis, aber lebt Ihr nicht im Haus der Kranken?“ Mehlau hatte die Kappe vom Kopf genommen und knetete sie in den Händen.
„Die Gebäude sind voneinander getrennt. Bis jetzt sprechen wir noch nicht von einer Seuche. Perth mag wie ausgestorben wirken, doch das liegt auch an der Hitze. Im Zentrum, auf den Märkten und in den Handwerkergassen pulsiert das Leben wie eh und je.“
„Außer, dass alle ihre Gesichter hinter Tüchern verstecken“, meinte Sila, die wenigen Passanten auf den Bürgersteigen betrachtend.
„Diese Vorsichtsmaßnahmen können Leben retten“, erwiderte Rana mit besorgtem Gesichtsausdruck. „Doch ich stimme Jonoy zu. Wir sollten anhalten. Ivson und Jonoys Gesellen dürfen wir keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Sie haben schon genug für uns getan.“
„Ganz meine Meinung“, brummelte der Schmied. „Ihr Burschen solltet euch auf den Weg nach Hause machen. Der Weg ist lang, aber weniger riskant als das, was vor uns liegt.“
Mannero richtete sich auf. „Das vergesst Ihr am besten gleich wieder.“
Mehlau funkelte ihn an. „Sprich nicht so zu Meister Jonoy!“
„Er mag unser Meister sein, doch unsere Entscheidungen fällen wir selbst! Ich bin nicht so weit gereist, um kurz vor dem Ziel umzukehren.“
„Ziel ist das Stichwort“, mischte Jonoy sich ein. „Ich bin am Ziel. Meine Freunde sind hier. Eure Mission ist beendet.“
„Nein“, widersprach Mannero. „Irgendetwas ist hier im Gange. Ihr braucht alle Hilfe, die Ihr kriegen könnt. Uns werdet Ihr nicht los. Wir stecken schon viel zu tief drin.“
Mannero holte Luft und sah die Passagiere der Reihe nach an. Niemand sagte ein Wort, bis Akim sich räusperte. „Gilt Euer Entschluss auch für Euern Freund?“
Mannero schielte zu Mehlau, dessen lange Gestalt an der Wagenwand zusammengesunken war. „Wolltest du allein nach Staleph zurücklaufen?“
„Ich denke noch darüber nach“, erwiderte der Jüngere. „Mit Krankheiten und Seuchen hab ich es nicht so.“
Sein Freund setzte zu einer Entgegnung an, zügelte sich jedoch im letzten Moment. Sein aufgebrachter Ausdruck fiel in sich zusammen. „Deine Eltern“, sagte er. „Sie starben am Fieber. Das … das hatte ich vergessen.“
Mehlau blinzelte. Rana streckte ihre Hand nach dem dünnen Burschen aus und lächelte ihm mitfühlend zu.
Schließlich stülpte Mehlau sich die Kappe wieder auf. „Tja, nun, wenn ich schon Yruish nicht zu Gesicht bekomme, dann wenigstens Perth und die Handwerker, von denen der Meister schwärmt. Und die schönsten Frauen des Reiches. Auch wenn ich Ciana niemals vergessen werde.“ Er blinzelte Adiv, Sila und Rana zu.
„Überlege gut“, warnte Jonoy. „Das Ganze ist kein Spiel.“
„Aber ein Abenteuer. Echte Männer brauchen Abenteuer. Wie sonst sollten sie zu Helden werden?“
Mannero grinste. „Du bist und bleibst ein Spinner.“
„Was ist mit dir?“, wandte Rana sich an Ivson. „Kehrst du zurück?“
„Später“, sagte der Bauernsohn düster. „Im Augenblick sehne ich mich nach einer Rast. Einem Dach über dem Kopf, einem Lager. Irgendwann muss ich zurück. Vanstetten braucht einen Besitzer.“
„So sei es“, erwiderte Rana warm. „Wir werden dafür sorgen, dass du Hilfe bekommst.“
„Nach Hause also“, wandte Arlen, der der Unterhaltung schweigend gefolgt war, sich an Olav. „Aber über Nebenstraßen. Ohne großes Aufsehen.“
„Wieso? Hamdie was zu verbergn? Sinds gar Vrbrechr?“
Arlen und Kian sahen sich an und lächelten.
„Würde Ardanna Verbrecher beherbergen?“, fragte Arlen den Kutscher.
„Solange se vrletzt sin.“
„Es sind Freunde. Adivs Freunde und meine. Das macht sie zu Ardannas Freunden. Und zu Euren, Olav.“ Der Knabe legte die Hand auf Olavs Arm. Er sprach den Namen betont und würdevoll und augenblicklich wusste Olav, dass er Teil von etwas Größerem geworden war, dass ihm vertraut wurde. Die intensiven Blicke, mit denen Arlen ihn ansah, bekräftigten dies.
Olav nickte und wies mit dem Kopf nach hinten auf den Gefangenen. „Beidr Stadtwache vorbei?“
„Zuerst nach Hause“, entschied Arlen. „Ardanna soll ihn untersuchen.“
„Sei Glicksdag“, brummelte Olav und lenkte das Gefährt von der Hauptstraße hinunter.
Auf der Ladefläche beugte Adiv sich vor. „Und während wir noch ein bisschen durch Perths stille Ecken zuckeln, erklärt Ihr mir, was das für Anhänger sind, die Akim um den Hals trägt. Die Wärter in der Boragha trugen ähnliche.“
„Wir fanden sie an Leichen.“ Akim berichtete mit knappen Worten von den toten Soldaten.
„So habt ihr sie gefunden“, sagte Sila leise nach einem traurigen Blick auf ihre Mutter.
„Du kanntest sie?“
„Sie gehörten zu den Guten.“ Sie stieß Tikt mit dem Fuß an. „Bis sie von dem Stück Dreck und seinen Kumpanen heimtückisch ermordet wurden. Wir haben sie in den Fluss geworfen, damit man von ihrem Schicksal erfährt. Damit jemand anfängt, Fragen zu stellen. Wen habt ihr gefunden?“
Kian übernahm die Antwort. „Den Anhängern nach Kolan Pies, Peyr Jeffels und Llewen Einan.“ Er sprach die ungewohnten Namen fehlerfrei.
„Pies, Jeffels, Einan“, wiederholte Sila. „Zwei fehlen. Elin und Kelraig. Kelraig von den Dessels.“
„Wir haben keine weiteren Leichen erspäht“, sagte Jonoy. „Wahrscheinlich wurden sie anderswo angespült.“
Rana betrachtete ihren schlummernden Enkel. „Hoffentlich.“
„Vielleicht werden sie nie angetrieben. Vielleicht haben Tikt und seine Männer sie gefunden und entsorgt. Habt ihr das, Tikotun?“ Ivson trat den Soldaten mit dem Stiefel, doch dem halb toten Mann war nicht einmal ein Stöhnen zu entlocken.
„Der redet nicht mehr“, sagte Sila. „Wir hätten ihn liegen lassen sollen.“

Zwei Meter hoch, schätzte er. Länger als ein durchschnittlicher Mann seines Stammes, länger sogar als die meisten Elboin. Beeindruckend, fürwahr.
Mit dem Zeigefinger berührte er den Wandteppich. Weich und dick. Auf dem Boden würde er für Wärme sorgen in den kühleren Monaten. Anders als in den Gefilden seiner Heimat, in denen die Jahreszeiten sich nur unwesentlich unterschieden, waren die Winter auf Yruish um einiges kälter als die Sommerwochen. Die Hallen des Palastes waren bestimmt schwerer zu beheizen als die Kemenaten in den oberen Stockwerken, auch wenn mehrere Kamine die Säle säumten. Ein Teppich auf dem Boden würde zumindest von unten wärmen, aber dann würden die Schuhe der Bittsteller, Gesandten, Händler und Gäste die kostbaren Wandbehänge ruinieren. Und kostbar mussten sie sein, entschied er und fuhr mit dem Finger die Umrisse Yruishs nach.
Es gab sechs Teppiche an dieser Wand. Jeder bildete eine Insel des Reichs ab. Auf der gegenüberliegenden Seite entdeckte er eine Darstellung des gesamten Dran’bara, wobei die Hauptinsel sich deutlich hervor wölbte. Vermutlich hatte man für sie dickeres Garn verwendet.
Sie ist zu groß geraten.
Er war genug gereist in den vergangenen Jahren. Niemals konnte sie es mit Kâneggs Umfang aufnehmen. Hier ging es nicht um eine wahrheitsgetreue Darstellung, erkannte er, sondern um eine Zurschaustellung von Macht.
Er schlenderte weiter, bis er vor der Karte seiner Heimat stand. Die Teppichknüpfer verstanden ihr Handwerk. Farbenprächtig hob Kânegg sich von einem in verschiedenen Brauntönen gehaltenen Hintergrund ab. Um die Insel prangte das Meer in sattem Türkis. Das Eiland selbst war in vielen Schattierungen dargestellt, angefangen von Olivgrün im Norden bis hin zu den Malachittönen im Süden und Westen. Der Osten mit seinen ausgedehnten Grasflächen war dunkler gestaltet, aber nicht annähernd so dunkel wie die riesigen Flecken, die die Sümpfe darstellen sollten. Ihm fiel auf, dass die Anzahl der Farbnuancen sich deutlich unterschied. An den Rändern im Norden und Westen gab es deutlich mehr Farben als in der Mitte, im Süden und im Osten.
„Sie haben sogar die Stützpunkte eingewebt“, sagte Syriakin neben ihm.
„Geknüpft“, gab er zurück.
„Seit wann interessierst du dich für Handwerk?“
„Menschen haben es geschaffen. Weshalb soll ich das nicht würdigen?“
Nou trat heran. „Es ist ihnen besser gelungen rund um die Stützpunkte. Seht her! Sie haben versucht, Pflanzen und Tiere abzubilden. Selbst Buchten und Hügel sind eingearbeitet. Das ist sehr genau. Dort liegt Frarn. Da Bifort.“ Der junge Mann klang aufgeregt. Wenn man in der Wildnis aufwuchs, war man empfänglich für von Menschen Geschaffenes.
„Mach dir nicht die Mühe, Grulorh oder Yanois zu suchen“, dämpfte Syriakin Nous Begeisterung. „Sie sind nicht darauf. Alles, was sie noch nicht entdeckt haben, fehlt. Der Wawan ist nur ein verschwommener Fleck.“
Gillok starrte seine Gefährtin von der Seite an, wandte sich kopfschüttelnd ab und ließ sie stehen. Er spürte, wie sie ihm nachsah, drehte sich aber nicht nach ihr um. Stattdessen musterte er die Karte des Reiches, maß den Weg ab, den sie zurückgelegt hatten. Die Ostküste Kâneggs hinunter, dann quer durch die Sumpfausläufer bis zu den Klippen unterhalb der Hügel Biforts. Über das Wasser des schmalen Waea-Stroms hinüber nach Staleph, dessen Küste sie in einem weiten Bogen gefolgt waren, bis die Nordspitze Kaadaas in Sichtweite geraten war. Stalephs Südufer waren flach gewesen und gut einsehbar, sodass sie ins Landesinnere zurückweichen mussten. Auf den harten Feldwegen waren sie gut vorangekommen. Die Hitze schien alle Menschen von den Wiesen, Äckern und Feldern vertrieben zu haben. Die Gräser waren verdorrt, die Bäche ausgetrocknet. Sie hatten sich ihr Wasser einteilen müssen. Steppenhunde waren ihnen gefolgt, mehrere Tage lang, ganze Rudel von ihnen. Gillok hatte sich an Ylaiys Kampf gegen die aggressiven Tiere erinnert, doch erstaunlicherweise waren sie nicht angegriffen worden. Darüber war er froh, aber tief im Inneren behagte ihm dieser Umstand nicht. Die Hunde waren hungrig gewesen und die Attacke auf Ylaiy und sein Gefolge bewies, dass sie auch vor einer Menschengruppe nicht Halt machten. In Syras Gesicht hatte er dieselbe Verwunderung gelesen. Dieselbe Ahnung.
Die Kinder. Sie greifen nicht an wegen der Kinder. So ist das.
„Bewundert Ihr unsere Teppichkunst?“, riss Ylaiy ihn in die Gegenwart.
Er lächelte dem Prinzen entgegen. „Eine Insel fehlt.“
„Die Eisinsel. Wir arbeiten daran.“
„Ein weißer, leerer Teppich wird sich seltsam ausnehmen inmitten dieser Farbenpracht“, sagte Syriakin mit schneidender Kälte in der Stimme.
„Das war auch mein erster Gedanke“, erwiderte Ylaiy, ohne auf ihre Konfrontation einzugehen.
„Was ist das hier? Eine Art Ruhmeshalle?“, fragte Gillok.
„Nur einer unserer Empfangsräume.“
„Er ist prächtig ausgestattet.“
„Ziemlich angeberisch, ich weiß. Dient alles der Repräsentation. Dabei kommen selten Gäste hierher. Dies ist ein älterer Trakt. Die Kamine sind verstopft, die Fahnen verschlissen, die Vorhänge voller Mottenlöcher. Bemerkt ihr den Geruch? Schimmel. Das Gebälk ist wurmzerfressen, Tische und Stühle wackeln, der Fußboden knarrt. Einzig die Teppiche sind intakt. Leider sind sie völlig aus der Mode und hängen nun hier, wahrscheinlich mehr, um Löcher in den Wänden zu verdecken. Die Pracht, die ihr hier seht, ist hohl. Gäste empfangen wir seit Jahrzehnten im Haupthaus.“
„Sollten wir uns beleidigt fühlen?“, wandte Gillok sich an Nou und Syriakin.
„Sicherheitsmaßnahme. Eine von vielen. Meine Gemächer werden vielleicht abgehört, deshalb sind wir hier. Der Raum ist abgelegen, ungenutzt und hat keine weiteren Eingänge. Keine Fenster oder Scharten. Niemand kann uns belauschen. Shesh bringt die Kinder in einem anderen Raum unter und sollte in Kürze eintreffen. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, dass ich Bland und meine Hohe Gemahlin dazu geladen habe.“
„Was ist mit Eurer Mutter?“, wollte Gillok wissen.
„Sie versucht, die alten Geschichten zu verdrängen, weigert sich, Eure Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die Nachricht vom Tod ihrer Schwester hat sie schwer getroffen. Sie sitzt mit dem Hohen Rat zusammen und leitet die nächsten Schritte ein.“
„Welche?“
„Ysaidires Tod wird publik gemacht. Der Überfall wird sowieso kein Geheimnis bleiben. Jetzt muss überlegt werden, welche Einzelheiten bekannt gegeben werden, zum Beispiel über die Anzahl der Toten. Eine Aufklärung wird eingeleitet. Die Kaiserin wird eine Abordnung nach Fedaj schicken. Einen Inquisitor mit Gefolge.“
„Nicht Euch?“
„Regierungsgeschäfte. Ylaive regiert nur noch nach außen. Zudem ist meine Frau hochschwanger. - Da ist sie bereits. Lasst eure Waffen stecken“, sagte er und eilte Paíre und Bland entgegen, die von dem zotteligen Leibwächter begleitet wurden.


„Also?“, fragte Gillok, nachdem alle auf schweren Stühlen an der Tafel Platz genommen hatten, die unter einem massiven Leuchter stand und als einziges Möbelstück nicht mit Leinentüchern bedeckt war. „Hattet Ihr genug Zeit zum Nachdenken?“
„Ja, und ich glaube, dass mehr hinter dem Überfall steckt. Irgendetwas braut sich zusammen.“
Syriakin berührte ihre rechte Wange. „Wie kommt Ihr darauf?“
„Nachrichten bleiben aus. Zum einen.“
„Gewöhnlich treffen regelmäßig Boten aus Fedaj, Perth und Vanstetten ein“, erläuterte Paíre. „Von der Kaiserinschwester, Adiv und Sila.“ Sie schaffte es, den letzten Namen ohne Zögern über die Lippen zu bringen. „Seit Tagen kommen keine Boten mehr.“
„Außerdem verschwinden Offiziere“, setzte Ylaiy hinzu. „Verschwundene Menschen sind nichts Neues im Zuge der Aufklärung von Veis Verbrechen. Zeugen wurden eingeschüchtert, bedroht, erpresst. Aber diese Offiziere waren keine Zeugen. Wir haben nachgeforscht und fanden alte Verbindungen zu Vei.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Thragesh und strich sich über die vielen kleinen Zöpfe, die an der Stirn begannen und im Nacken zu einer dicken Flechte zusammenliefen.
„Wir glauben, er hat sie rekrutiert“, erläuterte Bland.
„Aus der Boragha heraus?“, fragte Gillok überrascht.
„Wir hatten immer den Verdacht, dass er seine Verbindungen nach außen aufrecht erhält und im Gefängnis Verbündete um sich schart.“
„Den Schlächter“, sagte Syriakin.
Ylaiy nickte. „Taart Jorgen. Seine einstigen Kumpane. Möglicherweise sogar den Kommandanten, Even te Sant.“
„Warum verhaftet Ihr sie nicht?“ Nou schaute verwirrt in die Runde.
„Weil wir te Sant nichts nachweisen können“, erklärte Bland. „Er hat bis heute jegliche Beteiligung an dem Mord und der Entführung rigoros verneint. Und Vei hat ihn nicht verraten. Bestimmt, um ihn zu erpressen, und für ein sicheres Obdach. Jorgen und viele andere ehemalige Wärter sind ebenfalls verschwunden.“
„In einem Gefängnis?“, staunte Nou.
„Ihr kennt die Boragha nicht“, sagte Ylaiy. „Sie könnten beseitigt worden sein. Vielleicht haben sie sich irgendwo in den Tiefen zusammengerottet, unterstützt von Vei. Wir wissen es nicht. Natürlich haben wir loyale Wärter eingesetzt, einige als Spitzel, aber Vei ist äußerst misstrauisch. Er vertraut niemandem.“
„Er wird mit Spitzeln rechnen“, überlegte Gillok laut. „Er hat die Truppen befehligt. Der Mann mag ein sadistischer Schweinehund sein, doch er weiß, wie man regiert.“
„Ihr sagt es.“
„Es gibt noch mehr“, mischte sich Paíre ein. „Zunächst haben wir diesen Dingen keine Bedeutung beigemessen, aber in den letzten Stunden haben wir vieles neu überdacht.“
Gillok lehnte sich vor. „Was?“
„Zwei Leichen. Man fand sie an unterschiedlichen Orten, doch sie weisen beunruhigende Gemeinsamkeiten auf.“
„Habt Ihr sie gesehen?“
„Zum Glück nicht. Wir kennen nur die Berichte. Wir haben die Zusammenhänge nicht erkannt, denn es waren getrennte Vorkommnisse. Erst wenn man sie im Lichte der jüngsten Ereignisse sieht, gewinnen sie neue Bedeutung.“
„Welche Gemeinsamkeiten?“, drängte Gillok.
„Beide Leichen wurden angeschwemmt“, erzählte der greise Bibliothekar. „An den Ufern des Bene, dort, wo die Dürre den Fluss ausgetrocknet hat. Die Toten waren nicht mehr zu identifizieren, berichten Dorfbewohner und Händler. Grausame Verletzungen. Tiefe Wunden, zerfetzte Körper, fehlende Körperteile.“
„Wasser, Hitze, wilde Tiere“, schlug Thragesh als Erklärung vor.
„Da ist noch mehr, was uns zu denken gibt. Uniformen. Diese Männer waren Soldaten.“
Die Sumpfleute und Shesh sahen Bland abwartend an.
„Der Bene“, erklärte Ylaiy, „markiert die Grenze Vanstettens. Dorthin habe ich Sila gebracht. Mit Rana, Talin und Soldaten als Bewachern.“
„Ihr glaubt, dass es diese Soldaten sind?“, fragte Gillok.
In Ylaiys Gesicht trat nackte Angst.
Paíre seufzte. „Wir hoffen, dass wir uns irren.“
Syriakin stand auf, ging zum Kamin und starrte diesen grimmig an. „Wir sollten das Schlimmste annehmen.“
Ylaiy erhob sich ebenfalls. „Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte.“
„Verschwundene Soldaten, verschwundene Wärter, tote Soldaten, keine Nachrichten, ein Überfall. Zu viele absonderliche Dinge auf einmal. Ihr wisst, dass ich keine Zufälle mag.“
„Wer steckt dahinter?“, fragte Paíre. „Wer will euch Böses?“
„Vei natürlich“, sagte die Kriegerin und lehnte sich an die Wand. „Sila und Ylaiys Tante haben uns unterstützt damals. Vei rächt sich.“
„Was wir nicht beweisen können.“ Ylaiy begann, auf und ab zu gehen.
„Welche Verbindung gäbe es sonst?“, fragte Gillok.
„Beide sind meine Familie“, sagte Ylaiy mit einem entschuldigenden Blick zu Paíre. „Ich wäre nicht der erste Thronanwärter, den man aus dem Amt vertreiben wollte.“
„Würde man dann nicht Euch angreifen?“
„Ich werde gut bewacht. Außerdem… schmerzt es mehr, wenn man nicht selbst das Opfer ist, sondern jemand, den man liebt.“ Ylaiys Gesicht hatte sich versteinert.
„Das verstärkt unseren Verdacht. Schließlich habt Ihr Vei nicht nur ins Gefängnis gebracht, Ihr nehmt auch seinen Platz ein.“
„Glaubt Ihr, er will mich als Thronfolger beseitigen?“
„Hass, Rache, Bosheit, Ehrgeiz, Machthunger. Es kommt alles zusammen.“
„Aber für den Angriff auf Fedaj hat es einer Armee bedurft! Die Residenz ist dem Erdboden gleichgemacht.“
„Falsch“, korrigierte Syriakin. „Er brauchte nur einige gute Schützen, geschickt platziert in den Wäldern und Felsen rund um die Residenz. Das Feuer sorgt für Panik. Chaos, Schreie, Qualm. Dabei lief alles wohlüberlegt und diszipliniert ab. Wie beim Militär.“
„Ich stimme Syra zu“, sagte Gillok. „Ein grausam geplantes Gemetzel mit einem Dutzend Getreuer. Wir wissen, welchen Hass Vei für die Drana’sora empfand. Welchen Hass er für uns alle empfindet.“
Die Stille, die Gilloks Worten folgte, wog schwer. Bland und Kanouepe wechselten verunsicherte Blicke, Paíre strich über ihren Leib, Ylaiy starrte dumpf auf die Tischplatte, Thragesh schlug sich mit der Faust in die Handfläche, Syriakin betastete ihre Narbe.
Schließlich erhob sich Frier Bland ächzend vom Stuhl. Seine lidlosen Augen richteten sich auf den Thronfolger. „Ihr solltet keine weitere Zeit verlieren. Ihr müsst nach Euren Gefährten suchen lassen, herausfinden, ob ihnen etwas zugestoßen ist. Weiterhin müsst Ihr überprüfen, ob Euer Stiefvater wirklich mit der Sache zu tun hat. Sendet Vertraute in die Boragha. Außerdem muss Fedaj untersucht werden. Möglicherweise gibt es noch Spuren, die zu Vei führen.“
„Das bezweifle ich“, erwiderte Thragesh. „Das Feuer hat alles vernichtet: Gebäude, Gelände, Zeugen, das R auf dem Rasen. Im Nachhinein kommt es mir wie ein Spuk vor.“
„Trotzdem“, sagte Ylaiy. „Das schulden wir meiner Tante und Yvain.“ Er sah seine Gemahlin an. „Außerdem muss ich wissen, wie es Sila und Talin geht.“
Paíres Lippen waren ein dünner Strich, aber sie nickte. „Ich verstehe Eure Sorge. Wenn Ihr wollt, spreche ich mit Eurer Mutter wegen einer Abordnung nach Vanstetten und Fedaj.“
„Habt Dank.“ Steif trat Ylaiy zu Paíre, um ihr aus dem Stuhl zu helfen. Bland reichte ihr einen Arm und dann blickten die anderen den beiden schweigend nach, bis sich die Tür hinter ihnen schloss.
„Was ist mit uns?“, wandte Thragesh sich an den Thronfolger. „Schickt Ihr uns auf die Suche nach Euren früheren Gefährten?“
„Ich würde liebend gern selbst gehen, aber Ihr habt…“
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür erneut. Ein schlanker Mann in der Uniform eines Bediensteten schlüpfte hinein, musterte die Anwesenden mit raschem Blick und hob den Arm. Mit heißem Schrecken sah Ylaiy eine Axt auf sich zu wirbeln.
„Runter!“, schrie er und ließ sich zu Boden fallen.
Die Sumpfleute waren bereits hinter die aufgebahrten Stühle geglitten. Ylaiy sah, wie sie stumm miteinander kommunizierten. Gleich darauf schwärmten sie aus.
Hastig schob Thragesh sich vor Ylaiy, verdeckte dessen Sichtfeld. Ylaiy kroch unter die Tafel und um den Leibwächter herum. „Er hat noch eine!“, brüllte er.
Die zweite Axt sauste auf sie zu. Thragesh hechtete zur Seite. Ylaiy duckte sich tiefer unter die Tafel, während das folgende Geschehen an ihm vorüber blitzte.
Thragesh, der unter den nächsten Tisch rutschte. Gillok und Kanouepe, die zu dem falschen Lakaien sprangen. Syriakin, die stehen blieb und nach oben starrte. Der Eindringling, der durch die Tür verschwand. Thragesh, der unter dem Tisch hervor wetzte. Gillok, der die Verfolgung des Lakaien aufnahm. Nou, der Gillok hinterher hetzte. Syriakin, auf deren Gesicht sich Verblüffung malte und die, einen Warnruf ausstoßend, Shesh beiseite stieß, noch bevor dieser sich gänzlich aufgerichtet hatte.
Im nächsten Augenblick krachte etwas auf die Tischplatte, so schwer und wuchtig, dass die Hartholzplatte sich nach unten wölbte und splitterte. Ylaiy, der unter der Tafel kauerte, zog die Arme über den Kopf.
Erst als die Platte nur noch leicht federte, wagte er es, den Kopf wieder zu heben, und stierte auf einen Arm. Den Arm einer Frau, wie er sogleich an der Beschaffenheit des Kleiderärmels und an den schlanken Fingern erkannte. Finger, deren Haut eine seltsame Färbung aufwiesen, hell, beinahe weiß, als seien sie nicht mehr durchblutet, mit eingerissenen und angelaufenen Nägeln.
Die Finger einer Toten.
Als er den Ring am linken Daumen entdeckte, erstarrte er. Ein Siegelring, viel zu breit für schmale Frauenfinger. In diesem Augenblick wusste er, was geschehen war, wer auf der Platte lag.
Er kroch unter dem Tisch hervor, richtete sich auf und starrte auf die Tote, die Gillok und Thragesh aus den fleckigen Leichentüchern befreiten. Wie aus großer Ferne vernahm er Syriakins Stimme, die Shesh befahl, die Kinder zu holen, während sie selbst mit Nou den Saal nach weiteren Überraschungen absuchte. Er sah die beiden am Rande seines Bewusstseins herumflattern, als sie unter Tische und Stühle schauten, die Wandbehänge anhoben, in die Kamine krochen und das Deckengebälk inspizierten.
„Wer macht so etwas?“, hörte er sich klagen.
Eine warme Hand legte sich auf seinen Rücken. Er blinzelte Gillok an und zog die verstopfte Nase hoch. Ein Fehler, denn nun nahm er den Fäulnisgeruch wahr.
Syriakin trat vor ihn, versperrte den fürchterlichen Anblick. Ihre Augen glänzten hart. „Ihr müsst Euch zusammenreißen“, sagte sie mit dunkler Stimme.
Ihm entfuhr ein unartikulierter Laut. Eine Mischung aus Ächzen, Schluchzen und Würgen. Gillok schlug ihm auf den Rücken und sein Verstand klärte sich.
„Tut mir leid“, stammelte er. „Es ist nur…“
„Atmet tief durch“, empfahl Gillok. „Konzentriert Euch.“
„Worauf?“
„Auf das Denken. Ist das Eure Tante?“
Ylaiy blinzelte auf die eingefallenen Gesichtszüge, die bereits begonnen hatten, ihre Struktur zu verlieren. „Ihr kennt sie doch. Das ist sie. Aber der Ring an ihrem Daumen gehört nicht ihr. Das ist Veis Siegelring.“
„Seid Ihr sicher?“
„Als er zum Oberbefehlshaber ernannt wurde, bekam er ihn als Geschenk und Zeichen seiner Autorität. Wenn Ihr ihn untersucht, müsstet Ihr seine Initialen eingraviert finden.“
„Wir können Eure Buchstaben nicht lesen“, erinnerte ihn Gillok.
„Verzeiht. Natürlich. Ich werde selbst nachsehen.“
Ylaiy ließ seine Schultern kreisen und schluckte, bevor er an den Tisch trat.
Ein Experiment, hielt er stumme Zwiesprache mit sich. Sie ist ein Forschungsgegenstand.
Dennoch empfand er heftigen Widerwillen, als er den schlaffen Arm anhob und den Ring eingehend betrachtete. Übelkeit wogte durch seine Gedärme und Schwäche überkam ihn. Er spürte die Beine weich werden, doch da war Syriakin neben ihm, nahm ihm den Arm aus der Hand, streifte den Ring mit einer entschlossenen Bewegung ab, hielt ihm den Ring hin und positionierte sich so, dass er die Leiche im Rücken hatte.
„U und V“, sagte er dumpf und zeigte den Sumpfleuten die verschnörkelten Initialen. „Man hat meiner Tante Veis Ring übergestreift. Warum?“
„Und wer?“, fragte Nou. „Dieser Axtwerfer war kein gewöhnlicher Diener, oder? Er schleuderte zweimal, quer durch den Raum nach oben, und durchtrennte die Stricke, die das Bündel auf dem Balken hielten.“
„Ich verstehe nicht.“
„Sie war eingeschnürt“, erklärte Gillok. „Dort oben war sie befestigt.“
Ylaiy reckte den Hals. Unter der Decke verliefen massive Balken, weiß getüncht wie der Rest des Saales. „Wir hätten sie sehen müssen.“
„Sie war in weiße Tücher gehüllt und an weißem Gebälk festgemacht“, sagte Syriakin. „Selbst die Stricke sind mit Mehl bestäubt. Sie haben uns getäuscht.“ Ihre Augen funkelten.
Er schreckte zusammen, als es an der Tür wummerte. Gleich darauf streckte Thragesh sein bezopftes Haupt in den Raum. „Sie sind bei mir. Es geht ihnen gut. Eure Gemahlin und Bland sind unbeschadet im Haupthaus angelangt. Wir werden hier draußen warten.“ Damit fiel die Tür wieder ins Schloss.
„Kanntet Ihr den Diener?“, fragte Gillok.
„Ich habe ihn nie zuvor gesehen. Bestimmt wurde er eingeschleust.“
„Könnte er Soldat gewesen sein?“
„Nein“, sagten Ylaiy und Syriakin gleichzeitig.
„Nur Elboin werden an Äxten ausgebildet“, fuhr Ylaiy fort. „Hier am Hof. Dieser Mann war kein Elboin. Er war um einiges kleiner und sehr schmal. Aber er hatte Mut. Paíre und Bland müssen noch in der Nähe gewesen sein, doch er kam einfach hier herein.“
„Nou und ich haben sofort draußen nachgesehen“, sagte Gillok. „Der Mann war wie vom Erdboden verschwunden.“
„Schnell, treffsicher, todesmutig“, zählte Nou auf. „Mit wem haben wir es hier zu tun?“
„Und einfallsreich“, fügte Gillok hinzu. „Er trug eine Uniform über seiner Kluft. So kam er unerkannt an Bland und Eurer Gemahlin vorbei. Das bedeutet wahrscheinlich, dass Ihr irgendwo einen toten Lakaien finden werdet. Dieser Mann verstand sein Handwerk.“
„Ich glaube nicht, dass es ein Mann war“, sagte Syriakin. „Größe und Statur stimmen nicht. Eine axtschwingende Frau, verkleidet als Palastdiener.“
„Das klingt ganz nach Eurem Geschmack“, stellte Ylaiy fest. „Aber diese Tote ist meine Tante! Ihr habt sie gekannt!“
„Und ich bedauere ihren Tod. Ich bewundere unseren Gegner nicht, ich schätze ihn ein. Ich glaube, es ist ein harter Gegner. Eure Tante ist nicht verbrannt, was bedeutet, dass man sie vor dem Brand aus der Residenz gebracht hat, ohne dass Yvain oder Thragesh es bemerkt haben.“
„Oder sie ist freiwillig gegangen“, meinte Gillok. „Vielleicht wurde sie unter einem Vorwand herausgelockt.“
„So oder so war das Vorgehen raffiniert. Bedenkt den Aufwand, eine Tote einen so langen Weg zu transportieren. Sie in den Palast zu schmuggeln, an der Decke zu befestigen und sie genau in dem Augenblick auf den Tisch krachen zu lassen, in dem wir hier alle versammelt waren.“
„Sie wussten, dass wir hier sein würden“, realisierte Ylaiy. „Trotz meiner Vorsichtsmaßnahmen.“
„Sie wussten, dass wir hier sein würden“, betonte Gillok. „Trotz der Verkleidung. Trotzdem wir uns hier versteckt gehalten haben. Es gibt ein Leck in Eurem Palast. Wir dürfen niemandem trauen.“
Ylaiy war blass geworden. Immer wieder glitten seine Augen zu der toten Frau auf dem Tisch, zu ihrer verfärbten, lederartigen Haut, den Leichenflecken auf den Leinentüchern, ihren offenen Augen, die von einem seltsamen Überzug bedeckt waren. „Wie sind sie hier hereingekommen?“
Syriakin schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn sie antwortete sofort. „Durch den Kamin. Ich bin selbst schon einmal durch einen verschwunden. Über die Dächer gelangt man bis an die Außenmauern des Palastes. Eure Wache kontrolliert die Dächer nicht. Zumindest nicht besonders gut.“
„Sie hat meine Tante durch den Kamin gestopft?“
Die Sumpfleute tauschten lange Blicke.
„Und wie ist die Leiche da hoch gekommen?“
„Die Kette“, sagte Nou.
„Die Kette des Leuchters? Das ist nicht Euer Ernst.“
Statt einer Antwort zog sich Kanouepe an der Kette empor auf den Leuchter, der unter seinem Gewicht und durch die Bewegungen ins Schaukeln geriet. Oben stand er vorsichtig auf, sah nach unten und nickte.
Syriakin löste die Kette vom Haken und begann, den Leuchter in Schwingungen zu versetzen, bis Nou es schaffte, eine Deckenstrebe zu umfassen und sich nach oben zu hieven.
„Sie trug sie auf dem Rücken. Aber bestimmt hatte sie Hilfe“, rief der Frâgg. „Ihre Äxte stecken noch hier. Sehen gewöhnlich aus.“
Mit einiger Mühe zog er die Waffen aus dem Gebälk und ließ sie fallen.
Ylaiy strich sich über sein unrasiertes Kinn und sah in die Runde. „Jemand will, dass wir glauben, dass nicht einmal der Palast sicher ist.“
„Eine Kampfansage“, schlussfolgerte Syriakin.
„Von Vei?“
„Es ist sein Ring an ihrer Hand.“
„Dann steht das R für Rache. Und diese Leute sind tatsächlich seine Armee.“
„Er fordert Euch heraus.“
„Uns“, berichtigte Ylaiy. „Ihr solltet machen, dass Ihr hier wegkommt. Weder Ihr noch die Kinder seid hier sicher.“
„Genau wie Ihr“, meinte Gillok.
„Ich habe Verpflichtungen.“
Gillok zog Ylaiy und die anderen mit sich zur Tür, klopfte gegen das stahlverstärkte Holz und wartete, bis Shesh öffnete. Ciycain und Yvain standen hinter ihm, hielten sich an den Händen und vermieden es, Richtung Tafel zu schauen.
„Wollt Ihr nicht wissen, wie es Sila geht?“, drängte der Sumpfmann. „Adiv? Jonoy und Akim?“
„Natürlich will ich das!“, entgegnete Ylaiy heftig. „Doch ich kann hier nicht weg. Meine Frau ist hochschwanger, meine Mutter geschwächt, der Palast löchrig wie ein Sieb. Aber Ihr müsst gehen. Nach Perth, Guyut und Puard.“
„Das wird nicht nötig sein“, widersprach Yvain.
„Wir müssen nicht in die Wüste“, sagte Ciycain.
Syriakin trat an ihre Tochter heran. „Ist das so?“
„Ich spüre ihn. Kian ist nicht weit von hier.“
Yvain nickte. „Arlen ist bei ihm.“
Syriakin sah Gillok an. Dieser erwiderte den Blick mit sichtlichem Unbehagen.
Ylaiy merkte auf. „Arlen und Kian? Spürt ihr sie?“
„Zwei Funken“, antwortete Ciycain.
„Ziemlich hell“, ergänzte Yvain. „Ziemlich nah.“
„Könnt ihr sagen, wo sie sind?“
„Westlich“, erwiderte der Junge.
Ciycain drehte sich zu einer der Wände. „Dahinter.“
„Prant“, sagte Ylaiy nach kurzem Nachdenken.
Ciycain sah ihre Mutter an. „Sie sind zusammen, so wie Yvain und ich. Das ist nicht erlaubt. Etwas ist geschehen.“
„Wir sollten gehen und ihnen helfen“, sagte Yvain.
Die Kriegerin beugte sich zu dem Jungen. „Weißt du, wer dort drinnen liegt?“
„Meine Mutter.“ Yvain brachte die Worte kaum heraus.
„Spürst du sie noch?“
Tränen lösten sich von seinen Wimpern, als er den Kopf schüttelte. „Erloschen.“
„Möchtest du dich von ihr verabschieden?“
Mit einem ärgerlichen Laut zog Gillok seine Gefährtin von dem Knaben weg. „Er ist noch ein Kind!“
Yvain jedoch nickte. „Das möchte ich.“
„Dann komm.“
Ylaiy sah Syriakin und Yvain nach, wechselte stumme Blicke mit den Männern.
„Sie hätte sich auch gern verabschiedet“, meinte Ciycain traurig. „Von ihrer Mutter.“
Gillok stockte, dann legte er seiner Tochter den Arm um die Schultern.
Ylaiy blickte Ciycain an. „Habt ihr das da drin geahnt?“
„Die Gefahr begleitet uns, seit wir am Hofe sind. Sie ist wie ein bitterer Geschmack auf der Zunge, ein Ziehen in den Eingeweiden. Es konnte überall sein. Jederzeit.“
„Und jetzt gerade?“
„Sie lauert in der Nähe, aber nicht hier. Nicht mehr.“
Ylaiy sah die Männer an und drehte nachdenkliche Runden, bis Syriakin und Yvain wieder aus der Tür traten. Dann gab er sich einen Ruck. „Wir trennen uns. Ihr verschwindet gleich. Sofort. Nach Perth.“
Syriakin setzte sich in Bewegung. Ylaiy eilte neben ihr her. „Wir nehmen die Kinder mit.“
„Und Thragesh. Er kennt den schnellsten Weg. Nehmt die Fähre. Ich besorge Uniformen.“
Schlagartig blieb Syriakin stehen. „Was?“
„In Uniform gelangt ihr unbehelligt durch den Palast nach außen, unbehelligt auf das Boot, unbehelligt nach Perth hinein. Es ist der sicherste Weg.“
„Wisst Ihr, was Ihr da verlangt?“
„Versteckt Euer Haar und das Eurer Tochter. Ihr bekommt ein kaiserliches Geleitschreiben. Damit rechnen sie nicht. Falls wir wirklich beobachtet werden, warten sie auf Heimlichtuerei. Sie werden die Hinter- und Nebeneingänge überwachen. Die Dächer, Tunnel, Zufahrtsstraßen. Ihr werdet am helllichten Tag hinaus reiten, anstatt bei Dunkelheit hinaus zu schleichen. Trennt Euch in Perth nochmals auf, um ganz sicher zu gehen. Falls dort auch etwas vorgefallen ist, ist es schlauer, wenn nicht alle gleichzeitig ankommen. Ich werde ein Abendmahl für viele Personen auf meine Zimmer ordern, die Waffenhalle reservieren, ein Bad für uns alle herrichten lassen, um offizielle Audienz für euch bei meiner Mutter für morgen ersuchen. Mit ein wenig Glück schinden wir einen Tag Zeit. Dann seid ihr bereits nahe Perth.“
„Und Ihr?“
„Ich organisiere die Aufklärung des Überfalls in Fedaj. Ganz offiziell. Außerdem lasse ich den Leichenfunden nachgehen, weshalb eine Abordnung nach Vanstetten entsandt wird. Kaiserliche Garde, Militär, Palastwache. Ich lasse alle gleichzeitig abrücken. Unterwegs spalte ich die Truppen auf. Männer der Garde als Abordnung für Vanstetten, das Militär für Fedaj. Ich werde wechselnde Uniformen tragen. Der Garde erzähle ich, dass ich nach Fedaj muss, dem Militär, dass ich nach Vanstetten reite.“
„Und wozu die Palastwache?“, erkundigte sich Gillok.
„Ich brauche nur die Soldaten Ducis und Franco.“
„Warum die?“
„Weil sie mir auffallend ähnlich sehen.“
„Doppelgänger“, erriet Shesh.
„Nicht ganz, aber annähernd.“
Die Sumpfleute und Thragesh starrten Ylaiy an. „Ihr stiftet Verwirrung“, fasste Syriakin schließlich zusammen. „Um Verfolger abzuschütteln.“
„Hoffentlich in unterschiedliche Richtungen. Weit weg von Perth und Yruish. Zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn ich mich geschickt anstelle.“
„Welche Truppe werdet Ihr letztlich begleiten?“, fragte Gillok.
„Die Heiler.“
„Welche Heiler?“
Syriakin stockte, dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Davanas.
„Klärst du uns auf?“, fragte Gillok.
„Unterwegs“, sagte sie knapp und setzte sich erneut in Bewegung. „Die Uniformen, Ylaiy. Rasch.“ Damit verfiel sie in Laufschritt.
Thragesh hetzte hinter ihr und den Männern her, flankiert von Yvain und Ciycain. „Zwei Fliegen?“
„Er reinigt den Palast von der Gefahr“, erklärte das Mädchen.
„Und hofft, seine Gefährten wohlauf zu finden“, ergänzte sein Schützling.

„Vielleicht solltest du kämpfen, anstatt zu tanzen.“
Beim Klang der tiefen Stimme fuhr Adiv herum, stolperte über ihre eigenen Füße und musste sich an dem runden Balken festhalten, um nicht hinzufallen.
„Bei Kaa!“
Syriakin stand an der Tür des Tanzsaales und musterte die hohen Mauern, die Spiegelwand zu ihrer Rechten, die hölzernen Haltestangen.
„Was…“, begann Adiv, doch ihre Frage blieb unausgesprochen, weil Gillok und Ciycain durch die Tür drängten. Gleich darauf schlossen die Arme des Sumpfmannes Adiv ein wie ein Kleinkind.
Ciycain zögerte ein wenig länger, bevor sie die Diebestochter an sich drückte. „Das mit dem Tanzen solltest du wirklich lassen“, murmelte sie an Adivs Ohr.
„Ardanna und Sphita werden das nicht für gut befinden. Sie arbeiten seit zwei Jahren daran, eine Dame von Welt aus mir zu machen“, gab Adiv zurück und schob das Mädchen von sich, um es zu begutachten. „Bei Kaa, bist du gewachsen, Bada.“
„Ciycain“, verbesserte das Sumpfmädchen lächelnd.
„Der Wal, richtig. Verzeih.“
„Du siehst gut aus. So schön.“ Bewundernd verharrten Ciycains Finger in Adivs Locken.
Adiv drehte das dunkelhaarige Mädchen zur Spiegelwand. „Dann schau dich mal an.“
„Ah, ich kenne mein Bild“, sagte Ciycain und bog sich weg, als wäre ihr das eigene Antlitz unangenehm.
Adiv folgte ihrer Bewegung und fand sich unversehens Auge in Auge mit der Sumpfjägerin wieder, die mit leisen Schritten in den Saal getreten war.
„Du siehst in der Tat gut aus“, bestätigte diese und ließ ihren schwer zu deutenden Blick über Adiv gleiten. „Allerdings habe ich dich um einiges gewandter in Erinnerung.“
„Ja, das Tanzen ist eine echte Tortur. Ich bin schrecklich ungeschickt darin. Was ist mit deinem Gesicht? Warst du bei einem Heiler?“
An dem Schweigen, das augenblicklich einsetzte, erkannte Adiv, dass es nicht das erste Mal war, dass jemand die Sumpffrau auf ihre Narbe ansprach.
Syriakins Augen wurden eine Spur eisiger. Gleichzeitig wogte die Müdigkeit in ihnen wie ein Vorhang.
„Das Tanzen“, fuhr Adiv übergangslos im Plauderton fort, „soll Beweglichkeit und Anmut schulen. Ardanna meint, es bringt einen dazu, sich zu konzentrieren. Das entspannt den Geist. Sphita sagt, wenn sie tanzt, versinkt sie im Augenblick und vergisst die Welt. Außerdem hilft es, Fettleibigkeit und Bequemlichkeit vorzubeugen. Es kräftigt und dehnt die Muskeln und Gelenke. Wie es scheint, ist es leider keins meiner Talente.“
„Du solltest kämpfen“, wiederholte Syriakin.
„Der Tanz ist der kleine Bruder des Kampfes“, entgegnete Gillok.
„Arlen“, sagte Ciycain plötzlich und wandte sich zur Tür. Ihre Augen leuchteten auf, als sie den stämmigen Jungen sah, der zwischen Ardanna und Sphita aus dem Halbdunkel auftauchte.
Ohne zu zögern, liefen die Kinder aufeinander zu und streckten die Arme aus. Als ihre Fingerspitzen sich berührten, vermeinte Adiv, Funken verdampfen zu sehen. Ihre Augen glitten zu den hohen Fenstern an der südlichen Wand.
Sonnenflecken, ermahnte sie sich. Nur Sonnenflecken.
Als ihr Blick wieder zur Saalmitte schwenkte, kreuzte er den Syriakins, auf deren Stirn sich eine tiefe Falte gebildet hatte.
Die Kinder schauten sich an und lächelten mit einer Wärme, die Adiv erschauern ließ. Niemanden sonst sah Arlen auf diese Weise an. Nicht einmal Aan hatte er derart intensiv angelächelt. Es schien, als hätten beide ihre Umgebung völlig vergessen. Erst als Sphita sich leise räusperte, lösten sie sich stockend voneinander.
„Ich war auf dem Markt, Besorgungen machen“, sagte Arlen. „Deshalb habe ich eure Ankunft versäumt. Doch als ich euch nahe fühlte, lief ich sofort nach Hause.“
„Die Händler und Gesellen werden enttäuscht sein, wenn du sie nicht wie sonst besuchst.“ Ardannas Ton war mütterlich, streng und besorgt gleichermaßen. Liebevoll blickte sie auf den zerzausten Haarschopf an ihrer Seite.
„Wo ist Kian?“, wandte Ciycain sich an Arlen. Ungeduld schwelte in ihrer Stimme. „Wo die anderen?“
„Ihr habt uns erwartet“, stellte Syriakin fest.
„Irgendwie“, erwiderte Ardanna. „Kian kündigte Yvain an, Arlen Ciycain. Bald. Mehr sagten sie nicht. Jonoy liegt wahrscheinlich noch immer erschöpft in einem der Gästezimmer, Akim und Kian haben eure Ankunft beobachtet und warten am Ende des Ganges.“
„Warum sind sie nicht hereingekommen?“, mischte sich Adiv ein.
Jonoy schob sich in den Saal. „Du kennst doch Akim. Er ist zu gut erzogen, um ein Zimmer zu betreten, in dem er eine Frau weiß. Du hättest ja auch unbekleidet sein können.“
Adiv zog eine Augenbraue hoch. „In einem Tanzsaal?“
„Tja, du kennst ihn. Bei den Göttern, es tut gut, euch zu sehen.“ Strahlend zog der Alte alle drei Sumpfleute gleichzeitig an sich.
„Und Euch“, sagte Gillok freundlich, die Umarmung erwidernd. „Doch nun lasst uns los, bevor Ihr uns erdrückt und wir nie dazu kommen, die Wüstenbrüder zu begrüßen.“
Behutsam löste sich der Sumpfmann aus dem Griff des Schmiedes und ging auf Akim zu. Der Fährtenleser kam ihm entgegen, sein schüchternes Lächeln auf den Lippen. Gillok nahm beide Hände Akims und drückte sie herzlich. „Es ist schön, dich zu sehen. Dich und Kian.“
Akim neigte den Kopf und warf einen Blick auf seinen Bruder, dessen Augen seit dem Betreten des Saals nicht von Ciycain und Arlen gewichen waren. Als die drei Kinder aufeinander zutraten und sich die Hände reichten, hielten alle den Atem an, während die Luft um sie herum sich auflud wie vor einem Gewitter. Erinnerungen überfielen sie. Bruchstücke von Erlebtem, Splitter von Erfahrenem. Darunter mischten sich Eindrücke, die niemand von ihnen zuordnen konnte, Bilder von sich selbst in späteren Jahren, von einer Zeit, die noch nicht begonnen hatte. Gleichzeitig fühlten sie ihre Präsenz im Hier und Jetzt körperlich, elementar, wie ein bedrückendes Gewicht. Dann lächelte Ciycain und Kian und Arlen lächelten zurück und die aufgestaute Luft entlud sich und ließ weitere Erinnerungen aus Vergangenheit und Zukunft auf sie niederregnen. Erst als die Kinder ihre Hände voneinander lösten, wurde ihnen leichter und die Erinnerungen lösten sich auf. Weniger als eine Minute war verflossen, doch es blieb das verstörende Gefühl, etwas Außerweltliches erlebt zu haben.
Akims Glutaugen wanderten im Kreis, verharrten erst, als sie auf die Smaragdiriden der Kriegerin trafen.
„Du bist erwachsen“, brach Syriakin schließlich das Schweigen und ließ ihren Blick wieder zu Adiv schwenken. „Ihr beide seid es.“
„Geht es Euch gut?“, fragte Akim leise.
„Yvain ist auf dem Weg hierher, zusammen mit Ylaiy und seinem Leibwächter. Sie müssten bald eintreffen und sie bringen schlechte Kunde.“
„Wenigstens wird Ylaiy sich freuen, Sila und Talin hier zu sehen“, sagte Adiv.
„Sie sind hier?“, fragte Gillok. „Welche Erleichterung! Ylaiy war in großer Sorge, seit die Nachrichten ausgeblieben sind. Sind sie wohlauf? Wie geht es Rana? Ist sie hier?“
„Ist sie. Der Schreck sitzt tief, aber es geht ihnen gut.“
„Wir ahnten, dass etwas vorgefallen sein musste.“
Jonoy runzelte die Stirn. „Was hat das alles zu bedeuten?“
„Das sollten wir besprechen, wenn alle eingetroffen sind“, sagte Syriakin.
„Folgt uns so lange in den Garten“, rief Ardanna. „Ich lasse Erfrischungen bringen. Sphita! Arlen! Ich brauche eure Hilfe.“
Alle Anwesenden tröpfelten Ardanna und den Kindern hinterher, nur Adiv und Syriakin blieben zurück.
Die Sumpffrau trat vor die Spiegelwand.
Adiv betrachtete sie. Tiefe Nachdenklichkeit stand auf Syriakins Antlitz. „Was wird passieren, wenn alle vier aufeinandertreffen? Sie sind stärker als damals. Wir haben es alle gespürt vorhin.“
Syriakins Blick schwenkte auf Adivs Spiegelbild. „Ich weiß es nicht.“
„Die Halle wird wohl nicht einstürzen.“
„Bete vorsichtshalber.“
„Komm. Du siehst aus, als könntest du Ruhe vertragen.“
„Es geht mir gut.“
„Du hast dich kein Stück verändert.“

Sphita seufzte und machte sich auf den Weg in die Küche, die Anweisungen ihrer Mutter im Ohr.
„Kommen noch mehr Gäste?“, bellte Igra ihr entgegen.
„Ich glaube nicht“, erwiderte Sphita und musterte die Köchin vorsichtig. Feuerrotes Haar stand von ihrem ebenso roten Kopf ab. Normalerweise steckten Igras Locken gebändigt unter einer Haube, doch Hitze, Dampf und Aufregung hatten sie in etwas Undefinierbares verwandelt.
„Für wie viele Menschen soll ich kochen? Ich habe den Überblick verloren. Seit gestern scheint halb Perth sich hier einzufinden. Von den Kranken ganz zu schweigen.“
„Für zwanzig Personen“, quetschte Sphita heraus.
„Was? Das kann nicht sein. Rechne noch einmal.“
„Adiv, Arlen, Mutter und ich.“
„Vier.“
„Sila, Rana, Ivson und der Kleine. Zählt der Kleine?“
„Der Einfachheit halber ja. Macht acht.“
„Akim und sein Bruder, der Schmied und seine beiden Gesellen.“
„Dreizehn.“
„Die vier Sumpfleute.“
„Siebzehn.“
„Der Mann mit den Zöpfen und sein Schützling.“
„Neunzehn.“
„Und der Prinz“, fügte Sphita ehrfürchtig hinzu. „Macht zwanzig. Ich hoffe, ich habe niemanden vergessen.“
„Die Kaiserin kommt aber nicht, oder?“
Sphitas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Offenbar hatte Igra beschlossen, das Ganze mit Humor zu nehmen.
„Was ist mit diesem Irren? Isst er mit?“
„Er sitzt in der Kellerzelle. Wir geben ihm, was übrig bleibt. Die Kinder werden nicht so viel essen.“ Sphita versuchte, Igra die Aufgabe leichter zu machen.
„Niemand wird viel essen“, ertönte Adivs Stimme von der Schwelle her. „Es ist zu heiß. Ich empfehle Früchte, Beeren und Gemüse. Dazu kalten Braten und Brot. Keine zu schweren Sachen. Nichts Raffiniertes. Die meisten unserer Gäste essen einfach.“
Erleichtert blies die Köchin die Wangen auf. „Puh, das schaffen wir. Keine Suppen, keine Vorspeisen?“
„Kein Backwerk, keine Soßen, kein Käse. Einen Kessel Brühe für die Kranken.“
„Der ist längst fertig. Und eine Kraftsuppe köchelt seit gestern in dem großen Kessel. Die Kranken können beruhigt gesund werden.“
Adiv lächelte. „Es ist ein Glück, dass wir dich haben, Igra.“
Die Wangen der Köchin färbten sich rosa. Dann schwenkte sie die riesige Kelle und wedelte Adiv und Sphita aus der Tür. „Hinaus mit euch beiden. Ich habe Wasser in den großen Garten bringen lassen und die Männer angewiesen, Tücher gegen die Sonne zu spannen. Kissen und Decken sind schon draußen.“
„Das war weitsichtig“, lobte Adiv.
„Anordnung der Herrin. Sie schaut nachher vorbei.“

Sphita war erstaunt, wie viele Menschen auf der Wiese im hinteren Teil der Residenz Platz fanden. Die Bezeichnung Garten wurde diesem Stückchen Land nicht wirklich gerecht, denn hier wucherte hauptsächlich Unkraut, das nicht einmal Ardanna für irgendetwas gebrauchen konnte. Es taugte nur als Futter für die Tiere. Rufus hatte das Gras gemäht und zu den Ställen gebracht. Große, Schatten spendende Tücher waren zwischen den Bäumchen und Gebäuden gespannt worden. Auf der Wiese, die hier noch grün war, lagen Decken, auf denen sich die meisten Gäste niedergelassen hatten. Die Kinder spielten ein Stück entfernt.
Sphita sah ihnen zu und war plötzlich verunsichert. Sollte sie bei den Erwachsenen bleiben oder wurde erwartet, dass sie sich zu den Kindern gesellte? Wie Arlen waren sie den ganzen Tag über höflich und freundlich zu ihr gewesen, dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie das Quartett störte. Die drei Jungen und Ciycain – deren holprigen Namen sie schwer über die Zunge bekam – wirkten wie beseelt vor Freude über ihr Zusammensein. Immer wieder berührten sie sich, sahen einander strahlend an, wechselten kaum Worte. Es schien ihnen zu genügen, beieinander zu sein.
Der lange, dünne Schmiedelehrling trat zu ihr. „Mir sind sie unheimlich. Ich meine, sie sind niedlich und so, aber sie wirken auch so anders.“
„Ich weiß, was Ihr meint.“
„Oh, Ihr müsst mich nicht so förmlich ansprechen. Ich bin nur ein einfacher Geselle. Mein Name ist Mehlau.“
„Ich heiße Sphita.“
„Es ist sehr freundlich von deiner Mutter und dir, uns hier aufzunehmen. Das muss große Umstände machen.“
„Endlich passiert mal was.“
Er lächelte. „So kann man es auch sehen. Aber die Kinder? Als der Blonde kam, schwankte das Haus! Ich schwöre, es hat Risse bekommen.“
„Die Spiegel auf jeden Fall.“
„Mir ist nicht wohl, wenn sie so nah beieinander sitzen.“
„Jetzt ist alles ruhig. Das Wiedersehen scheint etwas ausgelöst zu haben. Zu viele Gefühle vielleicht.“
„Dann hoffe ich, sie haben ihre Gefühle unter Kontrolle. Siehst du das? Um sie herum ist das Licht irgendwie heller. Es blitzt auf, wenn sie sich berühren. Unheimlich. - Aber da kommt deine Mutter.“ Mehlau wies auf Ardanna, die den Garten betreten hatte. Vor dem Prinzen, der sich eilig von den Decken erhoben hatte, machte sie einen Knicks, den er verlegen abwehrte. Die anderen grüßte sie herzlich, winkte Sphita und Mehlau zu.
„Es geht los“, flüsterte Mehlau. „Komm.“ Damit nahm er ihren Arm, geleitete sie zu den Decken und ließ sich zwischen ihr und Mannero nieder.
„Also“, begann Thragesh, nachdem alle ihren Platz gefunden hatten. „Was geschieht jetzt?“
„Wir tragen alles noch einmal zusammen“, antwortete Ylaiy. „Sammeln Ideen, beraten uns.“
„Wir wissen doch, dass Vei hinter den Angriffen steckt“, murrte Shesh. „Wir sollten ins Gefängnis marschieren, ihn aufspüren und unseren Stahl kosten lassen.“ Zur Bekräftigung seiner Worte klopfte er an den Gürtel, an dem normalerweise sein Schwert hing.
„Und die Männer, die mich angegriffen haben? Das waren keine Soldaten“, entgegnete Jonoy. „Sie kämpften anders.“
„Dasselbe bei mir“, ergänzte Adiv. „Mein Angreifer bewegte sich mit der Eleganz eines Meuchelmörders. Wie ein Dieb in der Nacht, hätte meine Mutter gesagt.“
„Sie gehören zu Vei. So wie die Axtwerferin.“ In Syriakins Stimme schwang Ungeduld mit.
„Aber wer sind sie?“, warf Jonoy ein. „Niemand von uns hörte sie kommen. Keiner außer den Gesellen und mir hat sie gesehen. Vier Männer, eine Frau, vielleicht die Axtwerferin. Dunkles Leder, verhüllte Gesichter, hervorragende Waffen. Sie sprachen Yr, aber irgendwie altertümlich. Ach, und sie wirkten beeindruckt von meinen Narben.“
„Siegeszeichen für sie“, mutmaßte Gillok.
„Sie waren schnell, effizient und mutig. Es war helllichter Tag.“
Adiv nickte. „Wie bei mir. Nur trug mein Angreifer keine sichtbaren Waffen. Den zweiten habe ich nur flüchtig gesehen.“
„Er hat dich nur gewürgt?“, hakte Ylaiy nach.
„Als habe er mir lediglich einen Schrecken versetzen wollen. Deshalb hatten wir Maxim Baraten in Verdacht.“
„Wieso?“
„Er und ich hatten unsere Differenzen.“
„Inwiefern?“ Die Kriegerin lehnte an den Überresten eines Mäuerchens. Als Einzige trug sie noch ihre Lederkluft. Alle anderen waren längst in Leinenhemden und Qutúnkleider geschlüpft.
„Er hasst mich. Schon von Anfang an. Schlich mir hinterher, beobachtete mich, hatte ständig was auszusetzen. Ich war zu unfreundlich, zu laut, zu unbeherrscht, zu kokett, nicht untertänig genug und so weiter. Man konnte es ihm nie recht machen.“
„Nicht, dass du es ernsthaft versucht hättest“, warf Ardanna ein.
„Ach, kommt schon! Ihr mochtet ihn doch auch nicht!“
„Er war schwierig“, gab Ardanna zögernd zu.
„War?“, fragte Ylaiy.
„Unmittelbar nach dem Überfall verschwand er“, berichtete Adiv. „Ein merkwürdiger Zufall. Also brachen die Kinder und ich in seine Gemächer ein. Er war weg. Hat uns einen hübschen Abschiedsgruß hinterlassen, dieser widerliche Lüstling.“ Bei der Erinnerung an die besudelten Zimmer schüttelte sie sich.
„Und du glaubst, er wollte dich bestrafen?“ Syriakin verschränkte die Arme vor der Brust. Die Narbe schien ihre Wange zu versengen.
Adiv zog die Achseln hoch. „Keine Ahnung. Vielleicht hat er auch diese Männer angeheuert? Sein Verschwinden wirkt jedenfalls wie ein Schuldeingeständnis.“
„Was hätte er mit Jonoy zu schaffen?“, meldete Akim sich zu Wort. „Oder mit Sila und der Drana’sora?“ Seine Kohleaugen schwenkten über die Anwesenden, verweilten etwas länger auf Yvain, dessen Schultern bei der Erwähnung seiner Mutter nach vorn gesackt waren.
Oye do“, flüsterte er scharf.
Kian zuckte zusammen, zupfte schuldbewusst seine Freunde am Ärmel und zog sie mit sich ins Haus.
„Von einem Maxim wissen wir nichts“, ertönte Silas Stimme vom Rand des Deckenvierecks. Sie hatte sich so weit wie möglich in den Schatten verzogen, Talin auf ihrem Schoß, Rana neben sich. „Tikt erwähnte ihn mit keiner Silbe, Kopret ebenso wenig.“
„Ist er wirklich Veis Sohn?“, vergewisserte sich Gillok.
„Ja. Mein großer Bruder.“ Sila spie aus.
Rana legte ihr die Hand auf den Arm.
„Er ist tatsächlich Soldat“, fügte Ylaiy hinzu. „Sein Gesicht kam mir bekannt vor, als Sila ihn mir gezeigt hat. Ich muss ihn früher am Hofe gesehen haben. Allerdings habe ich ihn nicht für die Bewachung abgestellt.“
„Genauso wenig wie Garbse und Kopret“, sagte Sila. „Irgendwie haben sie sich unter unsere Aufpasser geschmuggelt. Wir glauben, dass sie die echten Männer beseitigt haben und unter deren Namen zum Dienst angetreten sind.“
„Ein hohes Risiko“, murmelte Ylaiy. „Es bestand die Gefahr, dass die Männer einander kannten. Tikt schweigt sich darüber aus, wer ihnen die Namen und den Einsatz verraten hat. Er heißt übrigens wirklich so. Tikt ist ein geläufiger Name unter den Nichthöfischen. Er musste seinen nicht einmal ablegen.“
„Wer wusste Bescheid über Vanstetten?“, fragte Jonoy.
„Der Rat und meine Mutter. Aber da auch meine Gemahlin den Aufenthaltsort Silas kannte, hatten wohl die Palastwände Augen und Ohren, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen.“
„Oder einer der Räte hat ihn verraten“, entgegnete Gillok.
Ylaiy seufzte. „Ich würde Euch gern widersprechen, aber das wäre reichlich naiv, nicht wahr?“
„Vielleicht sollten wir diesen Tikt verhören, so richtig, meine ich“, sagte Mannero mit lauter Stimme. Seine rechte Hand war zur Faust geballt und schlug in die linke.
„Als ob du den Mumm dazu hättest“, spottete Mehlau.
„Nennst du mich einen Feigling?“ Der kahlköpfige Bursche richtete sich so weit auf, wie seine sitzende Haltung es zuließ. In seinem Mondgesicht stand Ärger, der allerdings schnell verrauchte, als Jonoy seufzte, Sphita von ihm abrückte und Talin ihn erschrocken angaffte.
„Hört auf zu streiten“, wies Jonoy die Gesellen zurecht. „Das ist weder der richtige Ort noch die richtige Zeit.“
„Ich meinte doch nur“, brummte Mannero. „Tikt ist schließlich der einzige Trumpf, den wir in der Hand haben. Vielleicht weiß er mehr über diesen Maxim oder die Angreifer. Darüber, was sie jetzt vorhaben.“
„Wir haben ihn schon verhört“, erwiderte Ivson. „Und wir waren nicht zimperlich. Er hat nicht viel gesagt, nur gekichert und geheult. Er ist eindeutig verrückt.“
„Trotzdem kann ein weiterer Versuch nicht schaden.“ Syriakin hatte die Arme noch immer vor der Brust verschränkt. Man hatte fast den Eindruck, dass sie fror. Thragesh bemerkte den besorgten Ausdruck in Gilloks Augen und wunderte sich nicht, als der Sumpfmann aufstand, seine Beine ausschüttelte und sich dann zu seiner Gefährtin an das Mauerstück gesellte.
„Du willst ihn doch nicht foltern?“, fragte Adiv die Kriegerin geradeheraus.
„Es wäre töricht, nicht alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um an Informationen zu gelangen.“
„Ich verbiete Gewalt“, erhob Ardanna ihre Stimme. „Redet mit dem Mann, so oft Ihr wollt, aber wenn Ihr Hand an ihn legt, muss ich Euch bitten, dies Haus zu verlassen.“ Ihre Worte fegten über die Anwesenden wie Metallspäne. Die meisten verzogen das Gesicht und rekelten sich unbehaglich auf ihren Plätzen.
Über das Antlitz der Sumpffrau flog ein flüchtiger Schatten. „Wie Ihr wünscht“, sagte sie knapp und setzte sich auf das Mäuerchen.
Gillok stieß hörbar die Luft aus, bevor er sprach. „Überall das R. Auf dem Schuppen, der Kirchenwand, dem Rasen, Jonoys Brust. Es besteht ein Zusammenhang zwischen Vei und den unbekannten Kämpfern. Möglicherweise auch zu Maxim.“
„Eine Demonstration seiner Macht“, dachte Akim laut.
„Schaut her! Wir wissen, wo ihr seid und können euch jederzeit an die Kehle“, formulierte Ylaiy. „Genauso wie im Palast.“
Schweigen senkte sich auf die Gesellschaft.
„Darum geht es?“, fragte Sila schließlich. „Um Furcht?“
„Rache will ausgekostet werden“, meinte Syriakin. „Erst dann schmeckt sie richtig gut, zumindest Männern wie Vei. Unser Tod wäre unbefriedigend für ihn. Er hätte ihn nur aus der Ferne erlebt. Dieser Mann will seine Hände persönlich um unseren Hals legen, unseren Tod spüren. Einen langsamen Tod, den er lange genießen kann.“
Sila nickte. So ähnlich hatte es auch Rana beschrieben.
Adiv schüttelte sich. „Hör auf, davon bekomme ich Gänsehaut.“
„Und genau darum geht es Vei“, versetzte Ylaiy. „Vor allem bei euch Frauen. Ich glaube, da stellt er sich noch ganz andere Dinge vor.“
Rana vergrub ihr Gesicht in Talins Kragen. Adiv und Sila schauten sich mit verzerrten Mienen an. Die Kriegerin mahlte mit ihren Kiefern.
„Sphita, vielleicht siehst du in der Küche nach dem Rechten“, meinte Ardanna zu ihrer Tochter, deren Wangen sich rosa gefärbt hatten. Die Stimme der Heilerin klang freundlich, aber sie blitzte Ylaiy tadelnd an.
Der Thronfolger formte mit den Lippen eine lautlose Entschuldigung.
Sphita schien froh über die unmissverständliche Aufforderung, erhob sich hastig und stob ins Haus.
Ylaiy sah fragend in die Runde. „Also gehen wir davon aus, dass Vei diese Graugewandeten angeheuert hat?“
„Ja“, erwiderte Gillok. „Vielleicht haben sie schon früher für ihn Befehle ausgeführt. Eine eigene kleine Privatarmee.“
„Wer sind sie?“
„Söldner, Gesetzlose, Straßenvolk. Pack verträgt sich, sagt man nicht so?“
Jonoy strich sich über seinen Bart. „Gut ausgebildetes Pack, skrupellos genug, unschuldige Menschen zu töten.“
„Habt Ihr ehrbare Verbrecher erwartet?“
„Ich habe erwartet, ein beschauliches Dasein für den Rest meines Lebens zu führen. Daraus wird erst einmal nichts. Was glaubt ihr, hat Vei jetzt vor?“
„Aus der Boragha fliehen“, antwortete Syriakin. „Seine Rache persönlich auskosten.“
„Meint ihr, sie haben Adivs Fluchtweg entdeckt?“
„Den gibt es nicht mehr“, warf Adiv ein. „Ylaiy hat ihn blockieren lassen.“
„Vei nimmt vielleicht den direkten nach außen“, schlug Gillok vor.
„Wie denn? Spaziert er durch die Vordertür geradewegs in die Freiheit?“, fragte Ylaiy.
„Wenn genug Verbündete ihm die Tür aufmachen?“
Ein ungemütliches Gefühl schlich sich in die Runde, setzte sich fest.
„Wir dürfen ihn nicht unterschätzen“, warnte Syriakin. „Er hat es geschafft, mehrere Ziele anzugreifen, befehligt Soldaten und Söldner. Schon ein Dutzend mag genügen, ihm Tür und Tor in die Freiheit zu öffnen. Alte Wärter sind verschwunden, rotten sich möglicherweise zusammen.“ Sie stand wieder an die Wand gelehnt, die Arme vor der Brust, müde, übellaunig und ungeduldig.
Thragesh hieb mit der Faust auf die Decke. „Wir müssen ihn aufhalten, bevor er fliehen kann! Wer weiß, was er euch antut!“
Ylaiy strich sich über den Kopf. „Wie denn?“
„Hinein gehen und ihn töten“, erwiderte Syriakin.
Blicke hagelten auf sie. „Ihr wisst, was wir davon halten“, antwortete Ylaiy für alle.
„Wollt Ihr ihn nochmals ins Gefängnis stecken?“
„Wir lassen ihn weiterhin beobachten, die Torwachen austauschen, te Sants Kommandantur besser überwachen.“
„Das hat bislang nicht viel genützt“, stieß Sila aus, ohne Ylaiy anzusehen.
Syriakin beugte sich vor. „Ylaiy! Er hat Menschen verletzen und töten lassen. Darunter beinahe Euern Sohn. Wie viel soll er noch tun, bevor ihn jemand aufhält?“
„Ich kann doch nicht meine eigenen Gesetze brechen.“
„Aber Vei darf es? Er ist kein Unschuldiger, sondern ein Teufel, den wir aufhalten müssen.“
„Könnten wir ihn nicht woanders einsperren? An einem geheimen Ort?“, schlug Adiv vor.
„So geheim wie Vanstetten?“, entgegnete Syriakin bissig. „Wo seine Schergen noch leichteres Spiel haben?“
„Irgendwohin weit weg. Wo niemand hinfindet. Berlen. Oder in die Sümpfe.“
Syriakins Augen funkelten. „Oder auf die Eisinsel?“
„Warum nicht?“
„Wozu der Aufwand?“, fragte Thragesh gereizt. „Das Geleit dorthin, Ihn versorgen müssen, womöglich noch Jahrzehnte. Ständig die Gefahr eines Fluchtversuchs. Wozu das alles? Beseitigen wir ihn. Auf in die Boragha!“
Ivson und Mannero nickten beifällig.
„Beruhigt Euch“, drang Jonoys Bass durch die Mittagsstille. „Behaltet einen kühlen Kopf. Trinkt noch etwas Wasser.“
„Wasser“, schnaubte Thragesh. „Ist das Eure Lösung?“
„Vei allein löst das Problem nicht! Oder wollt Ihr seine Armee mal eben im Vorbeigehen vernichten?“
„Schlagt der Schlange den Kopf ab und sie ist nicht mehr als ein harmloser Schwanz. Ich sage, wir brechen so schnell wie möglich auf.“
Jonoy winkte ab. „Ja, ja. Ihr habt Euren Standpunkt klar gemacht und wir werden ihn berücksichtigen.“
„Aber Shesh hat recht“, rief Mannero aus. „Wir müssen etwas unternehmen, bevor noch jemand getötet wird.“ Zustimmendes Gemurmel von Ivson begleitete seine Worte. Sila sagte nichts, doch in ihren Augen stand ebenfalls Billigung.
Ylaiy hob die Hand. „Seid still!“
Augenblicklich verstummten die Männer.
Der Thronfolger rieb sich über den Kopf und reckte sein Gesicht der Sonne entgegen. Dann begann er, vor den anderen auf und ab zu schreiten. Ardanna, die Gefährten und ihre neu gewonnenen Freunde beobachteten ihn stumm, füllten ihre Becher auf, tranken, rutschten tiefer in den Schatten, lockerten Arme und Beine. Sila schob Talin auf ihrem Schoß zurecht und stützte sich auf ihre Ellenbogen.
„Woran denkt Ihr?“, unterbrach schließlich Gillok das aufgeladene Schweigen.
„An etwas, dass meine Gemahlin mir sagte, als ich mich verabschiedete. Sie sagte, Vei erinnere sie an einen Fischer, der seine Köder ausgeworfen habe und nun auf Beute warte. Seither geht mir diese Bemerkung nicht mehr aus dem Sinn.“
„Eine Falle?“, fragte Adiv. Sie war zu dem Mäuerchen gerutscht, hatte Kopf und Rücken gegen es gelehnt und die Beine ausgestreckt. „Wollte er uns zusammen hierher locken?“
„Nicht nur uns.“ Ylaiy verschränkte die Hände im Nacken und nahm seine Wanderung wieder auf. „Die Kinder sind hier. Alle vier. Im Herzen des Reiches.“
„Wie gut ist Euer Haus gesichert?“, wandte die Kriegerin, augenblicklich alarmiert, sich an Ardanna.
Die Stirn der Heilerin hatte sich sorgenvoll umwölkt. „Wir verschließen abends unsere Türen. Zwei bis drei Bedienstete sind immer wach, aber sie sind keine Soldaten. Wir tragen keine Waffen. Die Stadtwache patrouilliert regelmäßig hier vorbei.“
„Wir müssen das Anwesen bewachen und uns ausrüsten.“
„Ihr wollt Eure Waffen zurück.“
Syriakin sah die gleichaltrige Frau schweigend an.
„Waffen schaffen Gewalt. Ich habe zu oft Menschen behandelt, die durch Klingen aller Art verletzt wurden.“
Gillok nahm seine Gefährtin in Schutz. Er trat auf Ardanna zu, ein warmes Lächeln im Gesicht. „Wir müssen uns verteidigen. Ich verspreche Euch, dass wir sie nur im Notfall benutzen. Zur Verteidigung, auch Eurer Tochter.“
Ardanna starrte den hochgewachsenen Mann an. Er wich ihrem Blick nicht aus. Sein Lächeln blieb, sanft und einnehmend. „Ich verabscheue Gewalt ebenso wie Ihr“, fügte er leise hinzu. „Doch in Zeiten wie diesen kommt man nicht umhin, ihr mit Gegengewalt zu begegnen. Es tut mir leid, sie in Euer Haus gebracht zu haben.“
„Also gut. Ich lasse Euch die Klingen wieder aushändigen. Bedenkt jedoch, dass Kinder in diesem Haus leben.“
„Wir werden vorsichtig sein“, versprach Gillok und verneigte sich mit zusammengelegten Handflächen vor ihr.
Die Heilerin nickte. „Gebt acht auf Eure Gefährtin“, warnte sie mit einem Seitenblick auf Syriakin. Dann raffte sie ihr Kleid. „Ich werde mit Sphita sprechen. Sie und Adiv werden Euch bei der Sicherung helfen. Sie kennen Haus und Gelände und können die Dienerschaft einschätzen. Wir sehen uns beim Abendmahl.“
„Ist das alles?“, drängte Thragesh, nachdem sie im Haus verschwunden war. „Dies Haus sichern und warten?“
„Immerhin haben wir Kinder, die wir schützen müssen“, entgegnete Jonoy.
„Seine Schergen sind möglicherweise bereits auf dem Weg hierher“, murmelte Adiv. Ihr Blick schwenkte über den Garten, musterte die Dächer und Scheunen. „Vielleicht sind sie schon hier.“
„Das hätten die Kinder bemerkt“, sagte Akim.
„Nicht, wenn die Gefahr allgegenwärtig ist“, erwiderte Ylaiy. „Im Palast wurden wir völlig überrascht.“
„Wir wissen nicht einmal, wie viele Anhänger er hat“, sagte Sila. „Vielleicht ist es wirklich keine so dumme Idee, noch mehr aus Tikt herauszuquetschen.“
„Du weißt doch gar nicht, ob er in Veis Pläne eingeweiht ist“, mahnte Rana ihre Tochter. „Wahrscheinlich ist er nur ein kleines Rädchen, abgestellt zu einer Aufgabe.“
„Dann benutzt ihn als Druckmittel“, schlug Mehlau vor. „Vei soll euch in Frieden lassen, sonst tötet ihr seinen Sohn.“
„Bastardsohn“, betonte Sila. „Das könnt Ihr vergessen. Vei wird sich auf keinerlei Verhandlungen einlassen, glaubt mir.“ Ihre Stimme klang bitter.
„Ich fürchte, damit hat sie recht“, seufzte Ylaiy. „Dennoch sollten wir Tikt erst einmal behalten. Man weiß nie, wozu er noch gut sein könnte.“
„Oder schlecht“, sagte Syriakin. „Er könnte sich genauso gut in eine Gefahr verwandeln. Eine Gefahr hier im Hause.“
„Der Kerker im Keller ist sicher“, beteuerte Adiv.
„Meine Meinung kennt ihr“, meldete sich Thragesh wieder zu Wort und erhob sich. „Verzeiht mir, aber ich kann nicht hier herumsitzen und immer weiter reden. Bis zum Abendmahl habt Ihr hoffentlich eine Entscheidung gefällt. Solange passe ich auf meinen Schützling und die anderen Kinder auf.“
„Ich begleite Euch“, erbot sich Nou und sprang ebenfalls auf. „Wir könnten nach Verstecken für die Waffen sehen und das Gelände inspizieren. Die Wachen einteilen.“
Statt einer Antwort hielt Shesh dem Frâgg die Tür auf.
„Dann sollten wir wohl auch zusehen, dass wir uns nützlich machen“, wandte Mehlau sich an Mannero und Ivson. „Sonst heimsen die beiden den ganzen Ruhm für sich allein ein.“
„Das ist das Vernünftigste, was ich seit Langem aus deinem Mund vernommen habe“, erwiderte Jonoy.
„Ah.“ Mehlau rappelte sich von der Decke hoch. „Ihr habt eine schlechte Meinung von uns. In der Küche arbeitet ein hübsches Mädchen namens Denogenes. Ich werde sie auf den Markt begleiten. Sicherlich gibt es viele Besorgungen zu machen für so viele Gäste. Außerdem ist die Stadt für junge Frauen nicht sicher, nach allem, was man so hört.“
Mannero schnaubte. „Und du willst sie beschützen? Dazu braucht es einen richtigen Mann.“
„Wie dich?“, höhnte Mehlau.
„Ich bin doppelt so breit wie du halbe Portion. Wie machst du das? Du isst den ganzen Tag, aber du bist dünner als ein Schilfrohr.“
„Wenigstens kann ich mich noch bewegen. Deine vielen Muskeln nützen dir nichts, wenn du die Arme nicht beugen kannst.“
„Ich kann sie weit genug beugen, um sie dir in deine dürren Rippen zu rammen“, knurrte Mannero.
„Dafür musst du erst einmal aufstehen.“
„Schweigt endlich!“, fuhr Ivson die beiden an. „Talin ist weniger anstrengend als ihr.“
Die Lehrlinge verstummten und sahen sich um. Die Augen aller Anwesenden waren auf sie gerichtet. Jonoy schüttelte missbilligend sein weißes Haupt. Verlegen halfen sie einander auf die Beine und klopften imaginären Dreck von ihren Hosen.
„Wenigstens habt ihr den Anstand, rot zu werden“, brummte Jonoy. „Verschwindet jetzt! Helft bei irgendwas.“
„Ich werde die beiden begleiten“, bot Ivson an. „Das Mädchen vor ihnen beschützen.“
Der Schmied blinzelte den Gutsbesitzersohn dankbar an, bemerkte, wie dieser Sila einen langen Blick zuwarf, bevor er im Haus verschwand. Sila nahm sein Verschwinden kaum zur Kenntnis. Sie hatte Talin zwischen ihre Beine gestellt und beobachtete, wie er zwei, drei unsichere Schritte tat und dann gluckernd in Ranas Arme fiel. Jonoy schmunzelte über die Gehversuche des Knirpses, aber innerlich seufzte er. Sila mied jeden Blickkontakt mit Ylaiy, so wie er krampfhaft in eine andere Richtung starrte, doch es war nicht zu übersehen, wie beide sich immer wieder verstohlen musterten.
Er fing Ranas Blick ein. Ihr sanftes Gesicht hatte sich verdunkelt. Sofort wusste er, dass ihre Tochter auf ihren Rat hin Ylaiy auswich.
„Da sind wir also wieder“, sagte er. „Die Gefährten von einst. Bereit zu neuen Abenteuern.“
„So bereit, wie ich es damals gewesen bin“, stieß Adiv aus. „Damals war Jorgen hinter mir her, heute sind es Vei und seine Mannen. Zu denen auch Jorgen gehört. Ein schreckliches Gefühl, damals wie heute.“ Frustriert zupfte sie einige Grashalme aus dem Boden und zermahlte sie zwischen ihren Fingern.
„Damals war es einfacher“, widersprach Ylaiy. „Es gab nur einen Weg. Den nach Norden, den Kindern nach. Heute müssen wir mehr bedenken.“
„Eigentlich nicht“, entgegnete Syriakin. „Statt nach Norden müssen wir nach Osten. Statt des Blaukopfes und seiner Geschöpfe töten wir Vei und seine Schergen.“
Gillok sah seine Gefährtin an und schüttelte den Kopf.
„Ihr vergesst die Kinder. Vielleicht sollten wir uns diesmal freiwillig von ihnen trennen“, sagte Jonoy langsam.
„Was?“, riefen Sila und Adiv wie aus einem Mund.
„Unsere Nähe ist für sie gefährlich.“
„Ich lasse Arlen nicht schutzlos zurück“, blaffte Adiv den alten Mann an. „Oder Sphita. Niemand von uns wird das.“
„Nicht ohne Schutz. Wir haben die Burschen. Vei ist nicht an ihnen interessiert. Es sind gute Männer, alle fünf. Meine Lehrlinge mögen etwas unreif wirken, aber sie haben das Herz auf dem rechten Fleck.“
„Das bezweifelt niemand“, sagte Akim. „Doch können sie kämpfen?“
„Du hast Manneros Muskeln gesehen. Ivsons Pranken. Und Shesh ist ein wahrer Barbar.“
„Muskelkraft reicht nicht“, gab Akim zurück.
„Nou ist ein guter Kämpfer“, sagte Gillok leise. „Er hat die Überlebenden Grulorhs nach Yanois geführt, bildet Kinder zu Jägern und Kriegern aus. Auch Thragesh weiß ein Schwert zu führen.“
„So stimmst du ihm zu?“, fragte Adiv den Sumpfmann entsetzt. „Wir sollen die Kinder zurücklassen?“
„Wir sollten den Vorschlag zumindest nicht gleich verwerfen. Hier haben sie eine Residenz mit vielen Bediensteten und fünf Männern zu ihrer Bewachung. Ardanna kennt Leute bei der Stadtwache und Ylaiy könnte einige Soldaten entbehren. Das ist sicherer, als wenn sie mit uns kämen.“
„Ich traue Ylaiys Soldaten nicht“, warf Syriakin ein.
„Ich auch nicht“, setzte Akim hinzu. „Wir wissen nicht, ob sie zu Veis Männern gehören.“
„Thragesh ist auch Soldat“, sagte Ylaiy. „Und die Männer, die ich aussuchen würde, wären sorgfältig ausgewählte.“
„So wie jene auf Vanstetten?“, fragte die Kriegerin.
Adiv stieß gegen Syriakins Bein. „Hör auf, ihn zu provozieren. Er hat alles Menschenmögliche getan, seine Familie zu schützen.“
„Er hätte bei ihnen bleiben können.“
Die unverblümten Worte der Kriegerin ließen Ylaiy auf seiner Wanderung innehalten und sich nach ihr umdrehen. Auch Sila und Rana erstarrten. Syriakin begegnete Ylaiys verletztem Blick mit der ihr eigenen Gelassenheit.
„Hör auf!“, fuhr Gillok seine Gefährtin an. „Er ist nicht wie du. Ylaiy hat…“
„Nein, es ist gut“, unterbrach der Thronfolger den Sumpfmann. „Ich kann für mich selbst sprechen.“ Mit diesen Worten trat er nahe an die Kriegerin heran, die sich aufrichtete. Sie war hochgewachsen wie viele Frâgg, doch der Prinz überragte sie um ein ganzes Stück.
Früher wirkte er kleiner, dachte Adiv.
„Ich tat, was ich für das Beste hielt“, sprach er leise. „Es mag nicht Eure Zustimmung finden, doch ich stehe zu meinen Entscheidungen. Ich muss sie vor Euch nicht rechtfertigen. Vor Sila und Talin vielleicht, aber nicht vor Euch oder einem anderen. Habt Ihr verstanden?“
„Ich traue Euren Soldaten nicht“, wiederholte sie unbeeindruckt. „Ich werde meine Tochter nicht in der Obhut Eurer Milizen lassen. Oder einer Handvoll junger Männer, die ich kaum kenne. Werdet Ihr es oder beschützt Ihr Euren Sohn diesmal selbst?“
„Syra“, zischte Gillok. „Manchmal bist du wirklich…“
„Hört auf.“ Akim trat zwischen die Kriegerin und die beiden Männer, während Adiv und Jonoy sich vom Boden aufrappelten. „Streit bringt uns nicht weiter.“
„Ich streite nicht“, erwiderte Syriakin. „Ich will eine Entscheidung herbeiführen.“
„Das ist der falsche Weg“, herrschte Adiv sie an. „Deine Vorwürfe verletzen nur, also reiß dich zusammen. Und geh endlich zu Ardanna. Lass dir was gegen das Fieber geben. Es macht dich unausstehlich.“
Statt einer Antwort ließ Syriakin sich wieder gegen das Mäuerchen sinken und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wie du willst“, seufzte Adiv. Dann blickte sie die anderen an. „Was machen wir?“
„Eine Pause“, schlug Sila vor. „Mir brummt der Kopf.“
„Talin wird quengelig“, stimmte Rana zu.
Ylaiy nickte. „Gut, beschäftigt euch mit anderen Dingen. Kriegt eure Köpfe frei. Dann fällt euch das Denken leichter heute Abend.“

Schweiß strömte über ihren Rücken. Ihre Beinmuskeln brannten und ihre Wirbelsäule fühlte sich steif an. Sie war müde, körperlich erschöpft, aber ihre Gedanken galoppierten, zwangen ihr die Bewegung auf. Mittlerweile stand die Sonne so weit im Westen, dass Teile des Saales bereits im Halbdunkel lagen.
Verbissen starrte Adiv in den Spiegel, konzentrierte sich auf ihre Schritte, versuchte, nicht an den Ablauf der komplizierten Formen zu denken, sondern den natürlichen Fluss zu finden, von dem Sphita ständig sprach.
Hoffnungslos.
Teils amüsiert, teils wütend über ihre Unbeholfenheit beobachtete sie, wie sie wieder und wieder an den Figuren scheiterte, die Sphita bereits als Kind gemeistert hatte.
Sie kam aus dem Takt, als sie eine Bewegung in der dunklen Saalecke wahrnahm, und wandte sich um. „Kundschaftest du das Haus aus? Du hast dich doch nicht verlaufen?“
Langsam kam die Sumpfjägerin näher. „Gillok sitzt mit den Männern zusammen. Sie erzählen sich alte Geschichten. Die Kinder spielen draußen, Ardanna und ihre Tochter sind bei den Kranken, die Schmiedegesellen in der Stadt. Die anderen ruhen sich aus.“
„Und nun wusstest du nichts mit dir anzufangen?“
Die Kriegerin hob die Achseln.
„Du würdest am liebsten sofort aufbrechen, nicht wahr?“
„Du nicht?“
„Ich habe immer noch nicht alles durchdacht.“
„Bist du deshalb hier? Um nachzudenken?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht. Um diese Zeit ist man hier ungestört. Ich komme innerlich zur Ruhe, wenn mein Körper sich beschäftigt. Wenn ich mich konzentrieren muss. Und die Tanzschritte fordern mir einiges an Konzentration ab. Manchmal glaube ich, ich lerne es nie.“
Die Sumpfjägerin musterte sie. „Vergiss den Spiegel. Sieh mich an“, sagte sie unversehens und bewegte sich um sie herum; schneller als jeder Mensch, den sie kannte.
„Was soll das?“
„Tanz mit mir.“
„Was? Bist du verrückt geworden?“
„Ein wenig vielleicht.“
„Ich wusste nicht, dass du tanzen kannst.“
„Kann ich auch nicht.“
„Was soll dann das Ganze?“
„Sag du es mir.“
„Was?“
„Sag mir, warum du das tust? Du hasst es. Warum also?“
„Es schult die Bewegung und die Anmut. Die Kraft.“
„Du bist durch enge Röhren unter der Erde gekrochen, über das Meer geschwommen, um die halbe Welt gelaufen. Du hast gegen Wesen gekämpft, die unseren Verstand übersteigen. Hast gegen ihn gekämpft. Und du hast ihn besiegt. Also wozu tanzen?“
„Hör auf.“ Adiv fühlte sich plötzlich so müde, wie Syriakin aussah.
„Gut.“ Damit versetzte die Sumpffrau ihr einen Schlag vor die Stirn; einen Klaps, mit der flachen Hand ausgeführt, nicht gedacht, sie zu verletzen. Adiv reagierte impulsiv, indem sie die Sumpffrau mit beiden Händen von sich schob.
Nur, dass sie ins Leere griff, denn Syriakin war mühelos ausgewichen und gab ihr eine Kopfnuss.
Auch diese schmerzte nicht, aber sie bewirkte, dass Adivs Überraschung sich in Ärger wandelte. „Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
„Wir können reden oder kämpfen. Geredet habe ich genug in den vergangenen Tagen.“
„Du willst dich prügeln?“, versetzte Adiv fassungslos.
„Es klärt den Kopf.“
„Du bist verrückt.“
„Kann sein. Komm schon. Ich hatte kaum Gelegenheit, mich mit guten Kämpfern zu messen in letzter Zeit.“
„Ich bin nicht gut.“
„Gegen ihn hast du dich wacker geschlagen. Hast das Schwert geschwungen, bist ausgewichen, zur Seite gesprungen, hast angegriffen, dich zurückgebeugt. Ein wenig wie das Tanzen, findest du nicht?“
Als ihr Arm vorschnellte, sah Adiv ihn kommen, doch sie war zu langsam, um ihm vollends auszuweichen. Die Ohrfeige erwischte sie am Kinn, brannte auf der Haut.
„Hör auf!“
Die Kriegerin ging nicht darauf ein. Sie blieb vor Adiv stehen, reizte sie mit weiteren leichten Schlägen, beobachtete ihre Reaktionen. Ihre Handflächen trafen Adiv an Armen und Schultern. Adiv versuchte, auszuweichen, aber die Sumpffrau war zu schnell. Die Diebestochter sah nicht einmal die Bewegungen der Arme.
Ärger wallte in ihr auf, braute sich zusammen wie ein Gewitter. Sie spürte, wie es sich in Worten und wütenden Hieben entlud. Blindlings schlug sie zu, schleuderte der Kriegerin ihre Fäuste entgegen, welche diese mühelos abblockte. Die Leichtigkeit war es, die Adiv in immer größere Rage versetzte, bis irgendwann ihr Denken aussetzte. Sie merkte nicht mehr, wie sie anfing, um sich zu treten, wie ihre Füße sich tänzelnd über den Boden bewegten, sie schneller wurde, sich duckte, unter den Schlägen Syriakins wegtauchte. Das Ganze war wie ein Rausch, anstrengend und befreiend.
Als die größte Wut verraucht war, klärte sich ihr Blick. Die Kriegerin stand immer noch vor ihr. Sie schlug nicht mehr, sondern war damit beschäftigt, Tritte und Schläge abzuwehren. Abgesehen von einigen Zufallstreffern hatte Adiv sie kaum berührt. Und während sie heftig schnaufte, bewegte sich Syriakin sparsam, atmete ruhig ein und aus, schonte ihre Kräfte.
Kontrolle, sprang plötzlich ein Gedanke in Adivs Geist.
Sie tänzelte weiter auf der Stelle, dieweil sie sich zu konzentrieren versuchte und die Bewegungen der Kriegerin studierte. Diese bemerkte die Veränderung in Adivs Verhalten sofort und wurde aufmerksamer.
Diesmal trat Adiv nicht ziellos zu. Sie täuschte mit dem rechten Fuß an, drehte sich auf dem linken um sich selbst, hob in der Drehung das Bein an den Körper, stieß zu und erwischte Syriakin an der Schulter. Die Gewalt des eigenen Trittes überraschte sie. Die Kriegerin fing Adivs Bein jedoch ab, hielt es fest, trat zeitgleich nach dem anderen Fuß. Adiv verlor das Gleichgewicht und plumpste auf das Parkett.
Mehr aus Reflex denn aus einer Überlegung heraus schlang sie ihre Beine um Syriakins Knöchel und drehte sich zur Seite. Die Kriegerin stolperte, aber anders als Adiv fiel sie nicht wie ein Stein zu Boden. Ihre Arme federten den Fall ab, stießen sie sofort wieder in die Höhe. Die bloße Wucht reichte, sich aus Adivs Beinklammer zu ziehen.
Adiv setzte ihr auf dem Parkett nach, ein geradezu lächerliches Unterfangen, wie sie sich eingestand. In einem echten Kampf wäre sie spätestens jetzt tot, denn alles, was Syriakin tun musste, war, gegen ihren Kopf zu treten oder ein Messer in sie zu stoßen. Adiv war sich sicher, dass sie, Ardannas Hausregeln zum Trotz, einige Waffen bei sich trug, aber selbst, wenn Adiv sie in ernsthafte Bedrängnis gebracht hätte, hätte sie keine von ihnen benutzt. Für sie war das Ganze ein Spiel. Ein Übungskampf, nichts weiter.
Die Kriegerin ragte vor ihr empor, streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. Adiv ergriff sie, zog Syriakin jedoch mit einem kräftigen Ruck zu sich hinunter. Die Frâgg verlor tatsächlich das Gleichgewicht, fiel ihr entgegen. Adiv zog die Beine an, stemmte ihre Knie in Syriakins Magen und hebelte sie über ihren Kopf.
Der Aufprall war hart, die Bodenbretter zitterten. Adiv rollte aus der Reichweite Syriakins und wich ans andere Ende des Raumes zurück.
Beeindruckt sah sie zu, wie die Kriegerin mühelos auf die Beine sprang, und begriff, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hätte nachsetzen müssen, so lange Syra auf dem Boden gelegen hatte. Nun stand ihre Gegnerin wieder aufrecht, war ihr kleiner Vorteil verschwunden.
Rasch schaute sie sich im Raum um. Ihr Blick zuckte zu einem der Stecken, mit denen die oberen Fensterläden sich öffnen und schließen ließen. Die Kriegerin folgte dem Blick, zog eine Augenbraue hoch und schoss los, um den Stecken als Erste zu erreichen.
„Ausgetrickst“, murmelte Adiv, rannte in die andere Richtung, ergriff einen der hölzernen Tanzschuhe und schleuderte ihn auf ihre Gegnerin. Syriakin fluchte, als das Geschoss ihren Hinterkopf traf, fuhr herum. Adiv grinste sie an und bückte sich. Gleich darauf sauste Schuh um Schuh auf die Kämpferin zu und nicht einmal sie war schnell genug, jedem auszuweichen oder mit dem Fensterstock wegzuschlagen.
Den letzten Tanzschuh ließ Adiv unversehens zu Boden fallen, stürzte sich auf Syriakin und hieb ihr mit der Faust auf die Stirn. Sie schlug hart zu, wohl wissend, dass die Sumpffrau einiges wegsteckte. Dann wand sie der Kriegerin den Stock aus der Hand und drehte ihn gegen sie.
Syriakin wich aus, indem sie auf die Haltestange sprang und auf dieser entlang tänzelte, während Adiv mit dem Stecken nach ihr stieß. Schließlich trat die Sumpffrau ihr die improvisierte Waffe aus der Hand, hüpfte zurück auf den Boden und trieb Adiv mit einer Reihe flinker Haken quer durch den Saal.
Dem Schlagwirbel hatte die Diebestochter nichts mehr entgegenzusetzen. Sie versuchte, sich mit den Armen abzuschirmen, aber Syriakins Schläge prasselten auf sie ein. Die Treffer schmerzten, auch wenn sie nur mit der offenen Hand gelandet wurden.
„Schluss“, keuchte Adiv. „Es reicht.“ Schwerfällig rutschte sie an der Wand hinunter und streckte die Beine aus. Syriakin setzte sich im Schneidersitz neben sie und legte die Ellenbogen auf ihre Knie.
Adiv sog Luft in sich wie eine Ertrinkende, schaute die Sumpfjägerin an und fing an zu kichern. Schlug die Hände vor ihr Gesicht und lachte, bis die Tränen kamen. Syriakin hielt ihren Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet und wartete, bis Adivs Anfall verebbte.
„Du bist verrückt“, sagte die Diebestochter, als sie wieder sprechen konnte.
„Glaubst du?“
„Nein. Nicht mehr als wir alle.“
„Du kannst nicht werden, was du nicht bist.“
„Das hieße, dass nichts sich je verändert.“
„Nicht dein innerstes Wesen.“
„Ein deprimierender Gedanke.“
„Du bist schon genug. Heilerin. Mutter. Gelehrte.“
„Gelehrte?“ Adiv lachte auf.
„Ciycain sagt, du hättest lesen und schreiben gelernt, studierst Schriften über Krankheiten. Du bist keine Tänzerin, aber du bist eine Kämpferin. Ungeübt vielleicht, dafür trickreich. Ohne Angst zu reagieren.“
„Du bist anstrengender als Ardanna. Aufbauende Gespräche wie dieses führen wir ständig.“
„Gillok ist genauso anstrengend.“
Beide Frauen legten den Kopf an die Wand.
„Du nennst ihn nie beim Namen“, sagte Adiv.
„Wen?“
„Na, ihn. Den Blaukopf. Den Norogdún.“
„Ah. Mag sein.“
„Als hättest du Angst vor ihm.“
„Er ist tot. Du hast ihn besiegt.“
Du hast ihm das Schwert in den Kopf gestoßen.“
„Er lebte, als ich aus dem Wasser kam. Als wäre nichts geschehen“, sagte die Sumpfjägerin mit einer Stimme, die leiser klang als gewöhnlich. „Du hast ihn getötet, nicht ich. Mit dieser Münze.“
„Das Goldstück, das Mutter mir beim Abschied gab. Es lag auf einmal in meiner Hand. Ich weiß bis heute nicht, woher ich es hatte.“
„Aus deiner Tasche.“
„Ich erinnere mich nicht, danach gesucht zu haben.“
„Der Kampftaumel. Die Erschöpfung. Dir war nicht bewusst, dass du nach der Münze gegriffen hast“, versuchte Syriakin eine Erklärung.
„Das erklärt nicht, warum eine Münze dieses Monstrum besiegte, nachdem wir stundenlang gegen es gekämpft hatten. Tagelang.“
„Sie war vergiftet. Deine Mutter wird immer rätselhafter.“
„Ich war im Wasser mit der Münze. In Schnee und Eis. In brennender Sonne und brennender Kälte. Kennst du ein Gift, das all das übersteht?“
„Mehrere. Hadulanis ist eins davon.“
„Woher sollte sie das im Gefängnis haben?“
Die Antwort blieb ihr die Sumpfjägerin schuldig.
„Ich dachte stets, es wäre dein Gift gewesen, das ihn letztlich erledigt hätte. Überleg mal, wie oft wir ihn getroffen haben. Kann es sein, dass dein Gift einfach eine Weile brauchte, um in seinen Körper zu gelangen?“
„Seine Haut war undurchdringlich. Die Münze hingegen segelte direkt in seinen Rachen. Das war ein Meisterwurf.“
„Ein Glückstreffer, nichts weiter.“
„Warum machst du dich kleiner, als du bist?“
„Ich bin nur ehrlich.“
„Erzähl keinen Unsinn.“
„Hey.“ Mit gespielter Empörung hieb Adiv der Sumpfjägerin ihren Ellenbogen in die Rippen. Zu ihrem Erstaunen traf sie. Abwesend rieb sich Syriakin die Seite.
„Du siehst furchtbar aus, Syra. Warst du bei Ardanna?“
Syriakin biss sich auf die Innenseite ihrer Wange und wich Adivs Blick aus.
„Du hast es vermieden, in den Spiegel zu sehen. Bei deiner Ankunft genauso wie gerade.“
„Die Narbe ist entzündet.“
„Ich meinte nicht die Narbe, das ist offensichtlich. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“
„Vorhin.“
„Länger als ein, zwei Stunden. Ruhig geschlafen, eine ganze Nacht lang.“
„Ist ein paar Wochen her.“
„Hast du Albträume? Ich hatte welche, monatelang. Heute noch, manchmal.“
„Ich träume gar nicht. Nicht mehr.“
„Hast du es mit Alkohol probiert?“
„Man ist nicht mehr Herr seiner Sinne.“
„Was ist mit Rauschmitteln?“
„Gyoth. Es half, aber nur kurz.“
„Ich könnte dich bewusstlos schlagen, wenn wir uns das nächste Mal prügeln.“
Die Sumpfjägerin sah Adiv unter schwarzen Haarsträhnen an. „Vei steckt hinter all dem. Wir sind in Gefahr.“
„Mit dem werden wir fertig. Er ist nur ein Mensch.“
„Ein Mensch mit Verbündeten, die wir nicht kennen.“
„Die haben wir auch. Ardanna, Nou, Shesh, Ivson, die Gesellen.“
„Nicht annähernd dasselbe Kaliber.“
„Ylaiy weiß eine Armee hinter sich.“
„Die Vei vielleicht insgeheim noch immer befehligt.“ Syriakins Augen schwammen in Müdigkeit und Sorge. Mit Schrecken erkannte Adiv, dass die Nerven der Kriegerin blank lagen.
„So kenne ich dich nicht. Was macht dir so viel Kopfzerbrechen?“
Die Sumpffrau schwieg lange, rieb sich über die rechte Schläfe. „Die Kinder“, sagte sie schließlich heiser.
„Sie sind hier in Sicherheit. Wir sind alle hier.“
„Das Haus wankte, als alle vier aufeinandertrafen. Die Luft verschwand. Sie sind wie eine Naturgewalt.“
„Die auf unserer Seite ist.“
„Naturgewalten sind auf niemandes Seite. Man kann sie nicht kontrollieren. Sie brechen aus und zerstören.“

Es war ein seltsames Gefühl, mit den alten Gefährten an einem Tisch zu sitzen. Er erinnerte sich, wie sie in Fedaj zusammen gespeist hatten. Vor dem Aufbruch nach Drahórsul, als sie sich kaum gekannt hatten. Nach der Reise, zerschlagen an Körper und Geist. Unterwegs hatten sie täglich Lager und Nahrung miteinander geteilt, in Zelten und Höhlen, unter freiem Himmel, auf der alten Janta; doch das war anders gewesen, als an einer Tafel zu sitzen, beschützt von Mauern und einem wärmenden Feuer.
Sein Blick wanderte an den Menschen entlang, die zu Freunden geworden waren. Den meisten von ihnen verdankte er auf die eine oder andere Art sein Leben. Einige von ihnen hatte er vor dem Tode bewahrt. Sie saßen neben ihm, vor ihm, um ihn, und es war, als wäre die Vergangenheit in sein Leben gestrauchelt. Die Kinder waren erwachsen geworden. Akim war ein Mann, der beste Fährtenleser der Wüste, Adiv eine Frau von außerordentlicher Schönheit. Beide lächelten oft und offen, aber sie umgab ein Gespinst aus Trauer und Erschrecken. Manchmal verstummte Adiv plötzlich mitten im Gespräch, als sei ein unsichtbarer Feind neben ihr aufgetaucht. Akim hatte noch nie viel geredet, doch nun wirkte es oft so, als hätte er die Stimme verloren. Er war wachsam, immer auf der Hut. Das lag in seinem Blut, es war notwendig, um in der Wüste zu überleben; allein seine Sinne und Gedanken schienen nicht mehr zur Ruhe zu kommen.
Nicht zum ersten Mal stellte er sich die Frage, ob Videm es nicht besser getroffen hatte als sie alle. Als die Überlebenden. Noch bevor er den Gedanken beendet hatte, schalt er sich bereits für ihn und sich selbst einen unverbesserlichen, sentimentalen Narren. Videm war einen grausamen, viel zu frühen Tod gestorben, genau wie sein Vater vor ihm.
Adiv und Akim saßen nebeneinander, wie sie es oft getan hatten während des Großen Abenteuers. Sie hatten sich schnell angefreundet nach der waghalsigen Flucht aus der Boragha, die sie in die uralte Stadt des Sumpfvolks geführt hatte, die längst von der Kaiserin regiert wurde.
Immer, wenn er an Fedaj dachte, fröstelte er. Die Bastion war das Tor zur eisigen Dalassa-See, dem Meer des Nordens. Die Sonne mied Fedaj; stets war das Wetter kalt und abweisend gewesen, der Himmel grau und bedrohlich. Sogar im Haus der Drana’sora glomm Wärme nur in den zugigen Kaminen. Dafür strahlte sie aus der Kaiserinschwester geradezu hinaus.
Bestürzt merkte er, wie ihm die Tränen kamen, als er an die Frau dachte, die glühende Leidenschaft genauso in sich getragen hatte wie kalten Stolz und eisige Verachtung. Unfassbar, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Welch grausamer Zug des Schicksals.
Er rang die Tränen mit einem Schluck Würzwein hinunter, fühlte, wie die Flüssigkeit sich wohlig in den Eingeweiden ausbreitete. Dann lächelte er Ardanna zu, die ihn prüfend gemustert hatte, als ahnte sie seine Gedanken.
„Der Wein ist ausgezeichnet“, lobte er mit dröhnender Bassstimme.
„Wir bauen ihn selbst an, auch die Gewürze. Ich hoffe, er ist nicht zu schwer“, erwiderte die kleine Frau mit den gütigen Augen.
„Überhaupt nicht. Er schmeckt leicht und luftig, wie der Kuss einer hübschen Frau unter einem Apfelbaum“, sagte er und freute sich, den meisten Anwesenden ein Lächeln zu entlocken.
„Ihr müsst es ja wissen, alter Mann“, gab Adiv zurück und prostete ihm zu. Es gefiel ihm, wie die Grübchen in ihren Wangen sich vertieften.
„Oh, ich bin mir sicher, dass auch ihr Kinder mittlerweile von diesen Früchten genascht habt.“ Die spitzbübische Bemerkung brachte Adiv zum Erröten und ließ Akim verlegen den Kopf senken. Sphita, die hoch aufgerichtet zwischen Akim und Ciycain saß, zuckte zusammen und warf dem dunkelhäutigen Wüstensohn einen scheuen Blick zu.
„Erzählt, wie es Euch ergangen ist, Jonoy“, rettete Ardanna die Situation. Sie trat hinter ihre Tochter und langte an dieser vorbei nach dem Krug, um ihn mit Wasser aus einer Karaffe aufzufüllen. „Seit Ihr Adiv und Arlen in unser Haus gebracht habt, haben wir nur wenig Nachricht von Euch und Akim erhalten. - Noch Wasser, Gillok?“
Der Angesprochene nickte und hielt der Gastgeberin den Becher hin, während Jonoy kurz nachdachte. „Ich bin in mein Heimatdorf zurückgekehrt und führe dort ein beschauliches Leben.“
„Arbeitet Ihr wieder als Schmied?“
„Nur gelegentlich. Es dauerte, bis ich mich von den Verletzungen erholt hatte. Anfangs konnte ich kaum einen Bierkrug heben, geschweige denn einen Schmiedehammer.“
„Es wundert mich offen gestanden, dass Ihr bereits so rüstig seid, um die lange Reise nach Prant anzutreten.“
„Oh, die Ärzte in Fedaj haben gute Arbeit geleistet und Eure heilenden Hände taten ein Übriges. Wie die Salben und Tränke, die Ihr mir gabt.“
„Es ist erstaunlich, dass Ihr den Schwertstreich überhaupt überlebt habt. Ihr müsst schrecklich gelitten haben.“
„Ich glaube, dem kann ich zustimmen.“ Jonoy verscheuchte die Erinnerungen an Blut, Kälte, Schmerzen und Todesangst am Strand von Drahórsul mit einem weiteren Schluck Wein.
Chada und eine einarmige Frau. Ohne sie wäre ich gestorben im Schnee.
„Das könnt Ihr laut sagen“, murmelte Adiv, deren Stirn sich umwölkt hatte. Nie im Leben würde sie das Gurgeln und Keuchen des Schmieds vergessen.
„Jedenfalls lag ich über ein halbes Jahr in meiner Hütte und litt. Eines Tages wachte ich auf und stellte fest, dass ich genug vom Liegen und Leiden hatte. Ich ging hinüber zur Schmiede – nun ja, ehrlicherweise taumelte ich hin – und nahm jedes Werkzeug einzeln in die Hand.“
„Habt Ihr den Ofen angefeuert?“, fragte Adiv.
„Nein. Ich kippte vor Schwäche zur Seite und meine Nachbarn mussten mich zurück ins Haus schaffen. Das war peinlich und sie schalten mich, aber am nächsten Tag ging ich wieder hin. Und am übernächsten. Bald gewöhnten sie sich daran und irgendwann fanden sich Mannero und Mehlau ein, die das Schmieden erlernen wollten. Ich glaube, ich bin der erste Meister, der ihnen das Handwerk beibringt, ohne den Hammer zu schwingen, auf den Amboss zu schlagen oder den Balg zu betätigen. Doch die Burschen sind mit Verstand gesegnet und begreifen schnell. Ich denke nicht, dass ich jemals wieder ein Schwert oder auch nur einen Nagel schmieden werde, aber meine Beine tragen mich mittlerweile ganz gut.“
„Eines Tages kehrte ich nach Puard zurück und da saß er“, warf Akim ein. „Wie eine Lichttäuschung. Saß mit Jula unter dessen Palme und trank mit ihm Tee, als hätte er zeit seines Lebens nichts anderes gemacht.“
„Dein Gesicht an jenem Tag werde ich nie vergessen. Dein Mund stand so lang offen, dass ich Angst hatte, du würdest die Kamelfliegen verschlucken.“
„Die sind nahrhaft“, gab Akim zurück und entblößte strahlend weiße Zähne. Sphitas Gesicht nahm einen beinahe ehrfürchtigen Ausdruck an.
„Ihr seid nach Berlen gelaufen?“, erkundigte sich Gillok.
„Keine große Herausforderung bis nach Puard, zumindest nicht für einen gesunden Mann. Ihr Sumpfleute würdet weniger als eine Woche brauchen und euch dabei noch erholen. Ich brauchte fast einen Monat, aber allein Akims Gesicht war jeden Schritt wert. Seither besuche ich Jula immer mal wieder. Mittlerweile schaffe ich die Strecke schneller, vor allem auf dem Rückweg, wenn Julas Kamele mich ein Stück tragen. Hin und wieder, wenn Akims Verpflichtungen es zulassen, trifft er mich in Puard.“
„Und manchmal wartet Kian auf Euch.“ Gillok zwinkerte ihm zu, übernahm die Karaffe von Ardanna und reichte sie an Kanouepe weiter.
„Der Schlingel“, brummte Jonoy, sich über den Bart streichend.
„Was ist passiert?“, fragte Ardanna.
„Er sollte eigentlich bei seiner Mutter und seinem Onkel in Ranand sein. Manchmal nimmt Akim ihn mit zu Jula oder auf kürzere Reisen. Es ist besser für ihn, nicht an einem festen Ort zu leben.“
„Er war ausgerissen“, erzählte Akim mit verärgertem Unterton. „Hatte sich gelangweilt. Ich wollte ihn nicht bei Jula zurücklassen.“
„Er hat sich bei euch eingeschmuggelt“, riet Nou.
„Was bedeutet, dass er wusste oder zumindest ahnte, dass etwas passiert war“, sagte Akim leise. Sofort erlosch die Unterhaltung.
„Was habt ihr mit Julas Kamelen gemacht? Habt ihr sie einfach freigelassen?“, brachte Adiv sie rasch wieder in Gang.
„Auf Staleph gibt es eine Karawanserei nahe des Ortes Tut“, antwortete Jonoy. „Einer von Julas Kameltreibern wird sie auf dem Rückweg nach Puard mitnehmen. Von Tut kann man nach Bostwick auf Yruish übersetzen. Das ist ein Handelsposten, der regelmäßig angelaufen wird. Wir konnten einen der Bootsführer überreden, uns unauffällig hinüber zu bringen.“ Jonoy rieb seine Finger aneinander.
„War bestimmt nicht billig“, vermutete Adiv.
Jonoy schmunzelte. „Oh, Akim ist ein wahrer Goldjunge.“
„Nicht mehr“, gab Akim zurück. „Auf Yruish und Prant gibt es nicht mehr viele wilde Tiere. Ein Großteil der Obstbäume ist verdorrt. Dafür lauern allerorts Händler, die Köstlichkeiten aller Art verkaufen. Schmiede sind immer hungrig und essen gern süßes Brot.“
„Ganz zu schweigen von dem, was sie trinken“,fügte Jonoy hinzu.
„Das stimmt mit meiner Beobachtung überein“, sagte Gillok. Er wies auf Mannero und Mehlau, die mit Thragesh und Ivson am anderen Ende der Tafel saßen und kameradschaftlich riesige Mengen an Fleisch und Brot in sich schaufelten. Sie hatten einen Krug Wein zwischen sich stehen, aus dem sie sich einschenkten, als gäbe es kein Morgen.
Gillok lächelte verständnisvoll, griff nach einem Stück Geflügel, biss selbst herzhaft davon ab und brach gleich darauf in einen Hustenanfall aus, weil er sich daran verschluckte. Rasch schenkte er sich einen weiteren Becher Wasser ein und trank in großen Schlucken.
„Ich hole neues“, erbot sich Ardanna.
Minuten später kehrte sie mit frischem Wasser zurück. Sie goss Gillok nach und musterte die Sumpffrau, die während des gesamten Mahls kein Wort gesagt hatte und keinen Appetit zu verspüren schien, denn das Fleisch auf ihrem Teller war nahezu unangetastet.
„Trinkt einen Schluck“, forderte Ardanna sie freundlich auf. „Es wird Euch erfrischen. Ihr seht müde aus. Ich kann Euch auch gern einen stärkeren Wein bringen lassen.“
„Wasser genügt“, wehrte Syriakin ab.
„Was ist mit Euch, Jonoy? Euer Becher ist schon wieder leer. Darf ich Euch nachschenken?“
„Wollt Ihr mich betrunken machen, gute Frau?“
„Nur aufheitern. Das können wir alle gebrauchen.“
„Ihr habt recht“, ließ sich Jonoy überreden und prostete seinen Tischnachbarn zu. „Lasst uns Gelegenheiten wie diese genießen. Es ist schön, euch alle wiederzusehen. Wobei mir auffällt, dass Ylaiy irgendwie abhandengekommen scheint. Wo ist er?“
„Na, wo schon?“, entgegnete Adiv. „Er hat sich mit Sila und Talin zurückgezogen. Sie haben sich eine Menge zu erzählen. Rana ist ihnen vor einer Weile gefolgt.“
„Als Anstandsdame?“, fragte Jonoy.
„Er ist vermählt“, erinnerte Gillok.
„Eben.“
„Haltet Ihr ihn für so dumm, Ruf und Titel zu riskieren?“
„Das alles verblasst, wenn Liebe und Zuneigung im Spiel sind“, gab Jonoy zurück. „Immerhin haben sie einen Sohn zusammen. Und soweit ich weiß, haben sie sich nicht getrennt, weil ihre Gefühle füreinander erloschen waren, sondern aus politischen Gründen. Man kann beiden ansehen, dass sie leiden. In Ylaiys Haut möchte ich nicht stecken.“
Adiv nickte. „Bei ihm und ihr hat das Wiedersehen Wunden aufgerissen.“
„Ich hoffe, sie wissen, was …“
Der Rest des Satzes blieb Jonoy im Hals stecken, denn ohne jede Vorwarnung war Gillok aufgesprungen und hinter Syriakin getreten, deren rechte Hand sich um die Tischplatte krampfte, dieweil die linke den Becher umstieß, aus dem sie gerade getrunken hatte. Während das Wasser über den Tisch lief, verdrehte sie die Augen und sank zur Seite.
Jonoy schrak zusammen, genauso wie Akim, Sphita und Kanouepe, die schneller auf den Beinen waren und Gillok zu Hilfe eilen wollten.
„Bitte nicht“, murmelte er fassungslos und fühlte ein Brennen in der Kehle aufsteigen.
„Bleibt ruhig“, rief Ardanna mit heller Stimme. Mit wachsendem Erstaunen sah Jonoy, wie zwei Bedienstete mit einer Trage den Saal betraten. Akims Augen schossen hin und her, seine Hand spielte nervös mit dem Griff des Fleischmessers, während Sphita erschrocken nach seinem Arm gegriffen hatte. Kian, Yvain und Arlen waren augenscheinlich schwerer zu erschüttern, denn sie blieben ruhig auf ihren Plätzen sitzen.
„Es ist alles in Ordnung“, versicherte Ardanna. Sie nickte Adiv zu, die ihr Tischtuch auf den Teller warf und zu Gillok trat, Kanouepe mit einem sanften Lächeln beiseiteschiebend.
Gillok hatte unterdessen die Arme unter den Achseln seiner Gefährtin durchgeschoben, ihren linken Arm angewinkelt und fest umklammert. Mit der rechten Hand griff er unter ihre Knie und drehte sie, bis er sie besser greifen konnte. Dann hob er sie hoch. Jonoy sah die Muskelstränge an seinem Hals deutlich hervortreten und hörte ihn keuchen, als er die Sumpfjägerin vorsichtig auf die Trage gleiten ließ.
„Menschen sind um einiges schwerer, wenn sie das Bewusstsein verlieren“, dozierte Adiv, ging in die Hocke und half Gillok, Syriakin auf die Seite zu drehen.
„Ist sie bewusstlos?“, fragte Jonoy.
„Ausgeschaltet. Ebenso wie ihr Schmerzempfinden.“
„Achtet darauf, dass sie auf der Seite liegen bleibt“, wies Ardanna die Diebestochter an. „Auf der gesunden Wange.“ Beim Klang ihrer ungewohnt hellen und schneidenden Stimme schaute Jonoy erstaunt in die Runde. Er erinnerte ihn an Jula, wenn dieser seine Kamele zurechtwies.
„Ihre Zunge könnte in den Hals rutschen und sie ersticken“, erklärte Adiv. „Wir müssen sicherstellen, dass sie atmet.“
„Schläft sie denn nicht?“, fragte Ciycain mit angsterfüllten Augen.
„Dann müssten wir weniger vorsichtig sein.“
Ardanna ließ sich an Adivs Seite nieder. „Ein Schlaftrunk hätte nicht genügt.“
„Das war geplant“, murmelte Jonoy und strich sich über den Bart. Er sah, dass in Akim und Kanouepe die gleiche Erkenntnis dämmerte. „Ihr habt das geplant. Das war kein Giftanschlag. Das Wasser. Ihr habt es draußen mit irgendeinem Kraut versetzt.“
„Pulver“, korrigierte Ardanna. „Farblos. Geschmacklos. Geruchlos.“
„Warum?“
„Nach allem, was ich von Adiv weiß und selber beobachten konnte, hätte sie es sonst niemals getrunken oder irgendeine Medizin von mir angenommen.“
„Das vielleicht schon“, sagte Adiv, die die Hand der Sumpffrau hielt und nach dem Puls fühlte, während Ardanna Syriakins Kopf weit in den Nacken zog und die Atmung überprüfte. „Nur hätte vermutlich nichts davon sie geheilt.“
„Ihre Narbe?“, erkundigte sich Jonoy.
„Die Entzündung breitet sich rasant aus.“
„Wie schlimm ist es?“, fragte Gillok. Angst floss in seiner Stimme mit.
Ardanna gab den Bediensteten ein Signal, woraufhin diese die Trage in die Höhe stemmten. „Bringt sie ins Krankenzimmer.“ Dann wandte sie sich an Gillok. „Das Fieber ist unverkennbar, ebenso die Schwellung. Alles Weitere sehe ich, wenn ich die Narbe öffne.“
„Was genau habt Ihr vor?“
„Aufschneiden. Säubern. Ausbrennen, wenn nötig. Krankes Fleisch wegschneiden.“
Gillok wurde blass.
„Keine Sorge. Ich kann es kaum mehr schlimmer machen. Tun wir nichts, bringt die Blutvergiftung sie um. Ich muss mich beeilen, die Bewusstlosigkeit hält nicht ewig.“ Damit hastete sie aus dem Saal und ließ ihre Gäste geschockt zurück.
Der Sumpfmann biss sich auf die Lippen, schaffte es jedoch, seiner Tochter ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. Yvain und Kian standen hinter ihr und hielten ihre Hände. Jonoy ließ sich stöhnend auf den Stuhl fallen.
Adiv trat zu Gillok. „Ihr macht Euch doch keine Vorwürfe? Ihr wisst, dass es die richtige Entscheidung war.“
„Ich weiß nicht. Sie wird toben, wenn sie zu sich kommt.“
„Nicht mehr als in den Nächten, in denen sie nicht zur Ruhe kam, glaubt mir.“
„Sie hat nicht getobt. Wir hätten sie gehört.“
„Sie kann den Schmerz nach innen lenken, das wisst Ihr doch. Sie wird Euch höchstens in Grund und Boden starren, aber das geht vorbei.“
„Hoffen wir.“
„Ganz bestimmt. Wenn Ardanna fertig ist, wird sie ihr etwas geben, das sie schlafen lässt. Wenn sie aufwacht, wird sie wieder bei Kräften sein und vor allem bei Sinnen. Und sie wird besser schlafen ohne die Schmerzen.“
„Es sind nicht nur die Schmerzen.“
„Sie wird den Kopf klar bekommen. Wenn Ihr sie das nächste Mal seht, wird sie gesund sein. Ardanna ist eine sehr gute Heilerin. Jetzt entschuldigt mich. Ich muss assistieren.“
Jonoy hielt Adiv am Arm fest, als sie an ihm vorbei eilte. „Du hast sie schon einmal gerettet.“
„Und ich werde es wieder tun. In zwei Jahren kann man viel lernen. Wir schaffen das. Sorgt Euch nicht.“
„Kann ich helfen?“
„So wie damals? Diesmal nicht. Aber Ihr könnt Euch um Gillok kümmern. Mit Ylaiy Pläne wälzen. Wir sehen uns in einigen Stunden.“

Ardanna saß neben dem Bett und betrachtete die fremdartige Frau, die selbst jetzt noch unzugänglich wirkte. Die Gesichtszüge der meisten Menschen entspannten sich im Schlaf, doch auf der Stirn der Sumpffrau standen tiefe Falten und ihre Wangenknochen mahlten aufeinander.
Die Heilerin fühlte mit der Hand nach Fieber, fand die Haut jedoch kühl und trocken vor. „Erstaunlich.“
„Ihr werdet feststellen, dass sie schneller heilt als andere Menschen“, sagte Adiv.
„Du hast mir davon berichtet, dennoch bin ich überrascht. Ich habe schon viele Kranke gesehen.“
„Wann wollt Ihr sie wecken?“
„Sie wacht bereits auf. Sie träumt.“
„Mir erzählte sie, sie würde nicht mehr träumen.“
„Ihre Muskeln erzählen etwas anderes. Sieh her.“
Adiv beugte sich vor und lachte auf. „Sie kämpft. Noch im Schlaf. Das kann nur gut sein. Kämpfen kann sie am allerbesten.“
„Gegen was kämpft sie?“
„Das weiß nur sie selbst.“
„Willst du dabei sein, wenn sie erwacht?“
„Besser nicht. Ich möchte ihre Hände ungern an meiner Kehle. Aber ich werde Gillok und Ciycain informieren.“
„Gebt uns noch eine Stunde.“


Syriakin schlug die Augen auf, als Ardanna sich gerade nach ihren Kräuterdosen umgewandt hatte.
„Mischt Ihr ein neues Gift?“
Ardanna zwang sich dazu, mit ruhigen Handgriffen weiter zu arbeiten. „Es gibt viele Menschen, die meine Hilfe brauchen.“
„Gegen ihren Willen?“ Die Stimme der Sumpffrau klang dunkel und verärgert, aber nicht feindselig. Es war nicht die schwache Stimme der Kranken, die sie sonst hörte.
Ardanna drehte sich zum Bett um. „Wenn es sein muss.“
Grüne Augen funkelten ihr entgegen. Augen voller Leben. Die dunklen Ringe waren verschwunden, ebenso die geplatzten Äderchen. Der bohrende Blick der Sumpffrau war schwer zu ertragen. Zum ersten Mal erahnte Ardanna etwas von der Kraft, die in der Kämpferin steckte.
„Ihr seht gut aus, Syriakin.“
„Waren alle eingeweiht?“
„Nur Adiv, Euer Mann und Eure Tochter. Je weniger davon wussten, desto größer war die Chance, dass Ihr nichts bemerken würdet.“
„Meinen Glückwunsch. Euer Plan ging auf.“
Adiv hat recht gehabt. Sie kann einen zu Boden starren.
„Ihr wart schon so benommen, dass es keine Kunst war.“
Die Sumpffrau schluckte die Spitze, ohne mit der Wimper zu zucken. Stattdessen fuhr sie mit den Fingern über ihre Wange, spürte den Verband. „Es ist nicht mehr heiß. Ihr wart erfolgreich. Was habt Ihr gefunden?“
„Was Ihr selbst vermutet hattet: eine Entzündung.“
„In einer alten Wunde. Ist das nicht ungewöhnlich?“
„Es ist selten, aber es kommt vor. Der Riss wurde genäht damals?“
„Nicht umgehend.“
„Manchmal bleiben Reste der Fäden zurück oder kürzlich ist Schmutz unter die Haut gelangt. Ein kleiner Schnitt genügt. Vielleicht Rückstände eines Giftes. Der Blaukopf hat Euch die Wunde beigebracht?“
„Mit seinem Finger. Vorher hatte er mich…“
Sie verstummte mitten im Satz. Ardanna reagierte sofort. Ohne sich um die abwehrenden Arme zu kümmern, griff sie um Syriakins Nacken und zog sie in eine sitzende Position. Dann drückte sie sie mit sanfter Gewalt nach vorn. „Atmet schön weiter“, befahl sie. „Der Blaukopf ist nicht hier.“
„Das weiß ich“, murmelte Syriakin und wollte sich fallen lassen, doch Ardannas Hand lag auf ihrem Rücken wie Blei.
„Redet. Vorher tat er was? Hat er Euch berührt? Bespuckt?“
„Angehustet.“ Syriakin schluckte schwer und brach selbst in einen Hustenanfall aus. „Und…“
„Und?“
„Geküsst“, schleuderte sie heraus. „Er hat mich geküsst.“
Ardanna ließ die Sumpffrau los. Diese beugte sich hustend vor. Die Heilerin reichte ihr einen Becher Wasser, den Syriakin misstrauisch musterte, bevor sie ihn trank.
„Sein Schleim hat Eure Haut berührt? An der Narbe?“
„Darunter. Die Haut schlitzte er später auf.“
„Ihr kennt Euch mit Tieren aus?“
„Natürlich.“ Syriakin wirkte überrascht von der Frage.
„Mit Reptilien?“
„Weshalb fragt Ihr?“
„Bei manchen Echsen tötet nicht der Biss an sich.“
„Nein, das Gift bringt einen um.“ Die Sumpffrau hielt inne. „Ihr glaubt, seine Zunge war vergiftet?“
„Möglich.“
„Habt Ihr es entfernt?“
„Ich habe die Wunde großflächig ausgebrannt und mit verschiedenen Substanzen behandelt.“
„Welchen?“
„Kopis und Allaran, um die Entzündung aufzuhalten, Thanturil, um die Haut zu regenerieren, Graja, um die Schmerzen zu lindern und das Fieber zu senken. Ein paar Zutaten, die Euch nicht bekannt sein dürften. Ich habe alles in Pulverform direkt auf die Wunde gegeben. Den Rest bekommt Ihr als Tinktur. Tragt sie noch zwei oder drei Tage lang auf und Ihr solltet keine Probleme mehr haben. Genügen Euch meine medizinischen Ausführungen?“
Die Sumpffrau wirkte erleichtert, als sie sich in das Kissen zurückfallen ließ.
Ardanna legte ihre Hand auf Syriakins nackten Arm. „Wenn es Gift war unter der Narbe, dann hat es wahrscheinlich nicht nur das Gewebe im Gesicht geschädigt. Schildert Eure Beschwerden. Alle. Antwortet ehrlich.“
Die Heilerin hatte ihren Blick in Syriakins Smaragdaugen versenkt. Ihre Stimme war weicher geworden, ruhig und dahinplätschernd wie ein Rinnsal in den Bergen, doch gleichzeitig bestimmend und fordernd.
„Die Wange brannte“, sagte die Kriegerin wie unter Zwang. „Dazu kam der Kopfschmerz.“
„War er schlimm?“
„Nicht besonders.“
„Die Wahrheit. Adiv sagte, Ihr seid gut darin, Schmerzen herunterzuspielen.“
„Es knirschte in der Schläfe, als würde jemand an den Haaren ziehen.“
„Zahnschmerzen?“
„Der Kiefer. Manchmal. Gillok sagt, ich mahle nachts mit den Zähnen.“
„Seht Ihr verschwommen?“
„Jetzt nicht mehr.“
„Das ist gut. Habt Ihr Erinnerungslücken?“
„Nein.“
„Hattet Ihr Halluzinationen?“
„Nein.“
„Wart Ihr bewusstlos zwischendurch?“
„Ich bin einige Male beim Gehen eingeschlafen. Einmal beim Schwimmen.“
„Ihr habt Adiv zum Kampf aufgefordert. Wisst Ihr das noch?“
„Ja.“
„Wer hat gewonnen?“
„Ich.“
„Warum habt Ihr gekämpft?“
„Um den Kopf freizubekommen.“
„Eine seltsame Art, findet Ihr nicht?“
„Es hat geholfen. Ein bisschen.“
„Ihr habt Adiv verfehlt. Mehr als einmal.“
„Nein.“
„Doch. Adiv ist eine gute Kämpferin. Ihr hattet Mühe, sie zu besiegen.“
„Nur, weil ich müde war.“
„Also schlugt Ihr daneben.“
„Nein.“
„Ihr habt die Wand getroffen und Euch die Knöchel blutig geschlagen.“
„Hört auf, mich einzuspinnen!“ Syriakin schlug die Hand Ardannas weg, betrachtete ihre Finger, hielt sie der Heilerin unter die Nase. „Kein Blut. Ihr lügt.“
Auf Ardannas Gesicht erschien ein Lächeln. Ihre Stimme gewann deutlich an Wärme und Helligkeit. „Euer Verstand funktioniert. Ihr werdet schlafen können und seid bald wieder die Alte.“
„Ihr seid eine Seelenärztin. Videm hat davon erzählt. Er sagte, sie heilten den Kopf, so wie andere Ärzte den Körper. Könnt Ihr das? Den Geist heilen?“
„Das habe ich doch gerade.“ Ardanna lächelte und winkte Adiv heran, die Ciycain vor sich her in das Zimmer schob.


Wenn die Walruferin gehofft hatte, von ihrer Mutter mit offenen Armen empfangen zu werden, sah sie sich enttäuscht. Syriakin blickte ihr bitter entgegen, machte keinerlei Anstalten, sich aus dem Bett zu erheben. „Du warst eingeweiht“ sagte sie gerade heraus. „Genau wie dein Vater und sie.“ Sie nickte in Adivs Richtung.
„Ich sehe nach den Kranken“, meinte Ardanna, drückte aufmunternd Ciycains Hände, zwinkerte Adiv zu und verließ das Zimmer.
„Wo ist Gillok?“, fragte Syriakin die Diebestochter.
„Mit den anderen im Garten. Sie bereden, was zu tun ist. Schon wieder.“
„Gibt es Neuigkeiten?“
„Keine. Aber Ylaiy drängt es nach Yruish. Er ist in Sorge um seine Mutter und seine Gemahlin. Im Moment ist der Palast angreifbar, sagt er. Immerhin hat er einen Großteil der kaiserlichen Wache abgezogen. Sila will ebenfalls unbedingt zurück in den Palast.“
„Wir müssen Vei suchen. Das ist die dringendste Aufgabe.“
„Wir arbeiten daran. Komm in das Gärtchen, wenn du dich erholt hast. Vorher rede mit Ciycain, sie wartet schon ewig. Ach, und Syra? Auch, wenn du dich verraten fühlst – du solltest Ardanna dankbar sein. Ohne sie wäre es dir bald sehr viel schlechter gegangen.“
Adiv schlüpfte durch die Tür und zog sie laut ins Schloss. Den stählernen Blick, den die Sumpfjägerin ihr hinterherschickte, sah sie nicht mehr.
Ciycain trat an die Bettstatt. „Wir mussten etwas tun. Du hast dich betäubt, Rauschgras gekaut, getrunken, Gyoth geraucht. All das hat nicht geholfen.“
„Ich habe es nie in eurer Nähe genommen. Nie tagsüber. Woran hast du es gemerkt?“
„Ich fühlte die Schwere in dir. Man roch es. Man schmeckte es.“
„Das ist unmöglich. Das Meer wäscht alle Spuren ab.“
„Es haftete an dir“, beharrte die Walruferin.
Die Kriegerin spürte, dass ihre Tochter nicht log. Langsam atmete sie ein und aus.
„Es mag nicht richtig gewesen sein, aber es hat geholfen. Deine Wange ist gesund, es geht dir wieder gut. Das ist doch das Wichtigste. Wie sonst solltest du dich deiner Aufgabe stellen?“
„Es klingt schrecklich erwachsen, wenn du so sprichst.“
Ciycain lächelte. „Jahre. Sie haben keine Bedeutung.“
„Ihr hättet mich nicht hintergehen müssen.“
„Du hättest niemals zugestimmt, dich von anderen betäuben zu lassen. Dafür bist du viel zu misstrauisch. Bawa sagt, du vertraust den Leuten zu wenig.“
„Sagt er das.“
„Nicht zu mir“, beschwichtigte Ciycain. „Zu Adiv. Beide hegten Zweifel wegen unseres Planes. Niemand wollte dich hintergehen. Es war notwendig.“
„Die Betäubung war unnötig.“
„Ardanna und Adiv wollten die Verletzung nicht verschlimmern. Wie ich es verstanden habe, hat Ardanna ein Kunstwerk vollbracht, ein kleines Wunder. Es war unabdingbar, dass du absolut ruhig hältst.“
„Das hätte ich.“ Syriakin schwang ihre Beine aus dem Bett und sah sich nach ihrer Kleidung um.
Ciycain reichte ihr Hosen und Hemd. „Das war keine ausgerenkte Schulter, khōkara. Es bedurfte viel Ruhe und großer Fingerfertigkeit. Und das in Zeiten wie diesen.“
Die Sumpffrau hielt inne. „Was meinst du?“
„Adiv nennt es Kaas Geißel.“
„Sprichst du von dem Fieber?“
„Es breitet sich aus. Hinter vorgehaltener Hand reden die Menschen von einer Seuche. Ardanna verbietet das Wort. Es sorgt für Panik, sagt sie.“
„Wie gefährlich ist es?“ Schnell schlüpfte Syriakin in ihre Hosen und knüpfte sie zu. Automatisch überprüften ihre Finger Taschen, verborgene Gürtelschlaufen, Beinschlitze und umgenähte Falten nach ihrem meist unsichtbaren Arsenal an Waffen. Messer, Dolch und Bogen hatte Ardanna wieder an sich genommen.
„Es rafft die Hälfte der Kranken hinweg. Die, die überleben, tragen Narben davon. Nicht wenige sind entstellt.“
Die Kriegerin ließ sich neben ihrer Tochter auf der Bettkante nieder. „Wie ansteckend ist es?“
„Es wird durch die Luft übertragen. Deshalb die verhüllten Menschen. Perth steht jetzt unter Quarantäne. Niemand darf ohne Kontrolle hinein oder hinaus. Adiv wollte Arlen sogar verbieten, das Haus zu verlassen.“
„Das klingt nachvollziehbar.“
„Für Arlen ist es übertrieben. Adiv hat das letztlich auch eingesehen. Immerhin geht er im Haus der Kranken ein und aus. Ohne Mundschutz.“
„Was tut er im Haus der Kranken?“
„Er bringt Wasser und Suppe, redet mit den Kranken, hilft beim Reinhalten der Säle, solche Dinge eben.“
„Er redet mit ihnen?“, hakte Syra nach.
„Er spricht ihnen Mut zu, erzählt Geschichten, macht Witze. Er wirkt keine Magie.“
Plötzlich schien die Luft aus dem Krankenzimmer verschwunden. Syriakins Augen hatten sich verengt und glitzerten dunkel. „Könnte er das? Magie wirken?“
„Du meinst in Perth?“
„Fernab der Eisinsel. Weit weg von der Quelle.“
„Quelle? Nennst du das so?“
„Wie nennst du es?“
Ciycain zuckte mit den Schultern. „Wenn er wollte, könnte er hier Magie wirken. Nicht viel. Eher verstärkend. Ein wenig mehr, wenn wir es zusammen tun.“
„Ein wenig? Die Zeit erschlug uns, als ihr aufeinandertraft.“
„Das waren wir nicht. Es passierte.“
„Hättet ihr mich heilen können?“
Das Mädchen schürzte die Lippen. „Du hast damals gesagt, dass ich das nicht darf. Du willst die Magie nicht an dir.“
„Aber ihr hättet es gekonnt?“
Argwöhnisch musterte Ciycain ihre Mutter. „Verhörst du mich? Ich habe dir versprochen, niemals zu zaubern. Wir alle haben das. Ihr habt uns erklärt, wie gefährlich es wäre, wenn die Wahrheit ans Licht käme. Vertraust du mir nicht?“
Syriakin starrte ihre Tochter an. „Ich mache mir Sorgen. Versuche, euch zu verstehen. Das alles. Ihr verstärkt euch gegenseitig. Ich habe Stimmen gehört, die Stimmen der Menschen in der Stadt. Tausende gleichzeitig. Adiv hörte die Glocken ihres Tempels. Akim überrollten Geräusche wie eine Woge. Ihr spürt euch. Wie magnetische Steine. Zieht euch an. Habe ich recht?“
Ciycain schrumpfte unter dem aufgebrachten Blick ihrer Mutter. „Wenn die anderen in der Nähe sind, spüre ich sie.“
„Wo sind sie jetzt?“
„Da. Da. Und da.“ Ciycains Arm schwenkte ohne zu zögern durch den Raum.
„Wo genau?“
„Arlen vermutlich im Haus der Kranken, denn das liegt in dieser Richtung. Kian draußen, Akims und Jonoys Warnungen zum Trotz. Wahrscheinlich ist er mit den Gesellen unterwegs. Yvain strahlt Ruhe aus. Konzentration. Vielleicht studiert er. Vielleicht trauert er.“
„Sie sind nicht zusammen?“
„Nein.“
„Spürst du die anderen auch?“
Jetzt versenkten sich Ciycains Augen in die ihrer Mutter. Ihre Sanftheit überstrahlte Syriakins Unruhe. „Ihr alle leuchtet wie Gestirne am Nachthimmel. Unterschiedlich hell, mal näher, mal weiter weg. Die meisten verstecken sich in Sternenhaufen. Sie sind schwer zu finden, schwer zu unterscheiden. Ich weiß, dass sie da sind, ohne sie einzeln wahrzunehmen. Du sendest mehr Licht aus, Akim und Adiv auch. Wie Sternenbilder. Ardanna strahlt wie der Nordstern, meine Freunde wie Monde. Zuweilen wie Sonnen.“
„Warum?“
Ciycain hob die Schultern. „Manchmal habe ich das Gefühl, Magie in Menschen zu spüren. Reste davon. Funken. Tröpfchen. Ardanna scheint bisweilen wie in eine Wolke gehüllt. Als du auf der Trage lagst und sie sich über dich beugte, war es, als stiege etwas von ihr auf.“
Syriakin erwiderte nichts. Sie hockte auf der Bettkante wie festgefroren.
Ciycain lächelte. „Du musst nicht besorgt sein. Es fühlt sich nicht schlimm an. Eher natürlich. Als wäre Magie ein Bestandteil des Blutes. Vielleicht besitzen alle Menschen sie.“
„Spürst du sie?“
„So, wie du das Klopfen deines Herzens spürst. Du achtest nicht darauf, aber du weißt, dass es da ist.“
Die Sumpffrau betastete den Verband und erhob sich. „Gegen eure Magie erscheint Vei wie ein Kinderspiel.“

Die Tür schwang auf. Syriakin betrat das Gärtchen, warf einen Blick in die Runde und trat zwischen die Männer und Frauen. Auf ihrer Wange klebte ein Stück Stoff. Sie wirkte ausgeruht und tatkräftig.
„Du bist wach“, rief Gillok erleichtert.
Sie ignorierte ihn. „Also?“, fragte sie.
„Schnörkellos wie eh und je, hm?“, begrüßte Ylaiy sie. „Es freut uns, dass Ihr wieder auf den Beinen seid. Ich hörte, der Eingriff verlief erfolgreich.“
„Redet schon. Wir haben bereits genug Zeit verloren.“
„Wir haben Wachen eingeteilt. Die Lehrlinge und Ivson streifen durch die Stadt und suchen nach verräterischen Zeichen. Neuankömmlingen, Fremden und so weiter. Außerdem halten die Bediensteten Augen und Ohren offen. Die Stadtwache durchkämmt die Straßen vor der Residenz. Akim sucht alle paar Stunden das Gelände nach frischen Spuren ab. Bis jetzt keinerlei Anzeichen von Gefahr. Auch die Kinder wittern nichts. Niemand hat etwas über einen Gefängnisausbruch erzählt. Veis Schergen mögen irgendwo lauern, aber nicht hier. Vielleicht haben sie uns verloren. Vielleicht fürchten sie uns. Oder wollten uns tatsächlich nur Angst einjagen.“
„Oder sie wiegen uns in falscher Sicherheit. Möglicherweise hält die Seuche sie fern.“
„Oder das“, räumte der Thronfolger ein. „So oder so - wir haben nicht wirklich eine Wahl. Wir müssen reagieren, aktiv werden. Ich dachte mir, wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig angehen, streuen wir das Risiko, bringen die Pläne unserer Feinde durcheinander, finden mehr heraus.“
„Das bedeutet?“
„Wir trennen uns in kleinere Gruppen auf. So sind wir zwar angreifbarer, aber nicht wehrlos und schwieriger zu fangen. Die Kinder bleiben hier. Das Haus ist keine Festung, doch es gibt eine Reihe von Verstecken. Sphita zeigt den Kindern jeden Winkel und jede Ecke. Thragesh, Ivson und die Gesellen bleiben bei ihnen. Shesh und Nou unterrichten die anderen drei bereits im Kampf und an den Waffen. Die Grundlagen, mehr nicht.“
„In einem Gefecht sind sie ohne Chance.“
„Das glaubtet Ihr damals auch von Adiv und mir. Sie haben uns einiges voraus. Es sind kräftige Burschen mit gesundem Verstand. Sie mögen Veis Spießgesellen nicht aufhalten, doch sie werden sie ausbremsen, lange genug, damit die Kinder sich notfalls in Sicherheit bringen können.“
„Keine Soldaten?“
„Nicht im Haus.“
„Aber in der Nähe.“
„Nur der Trupp, der die Heiler begleitet hat. Sie sind nicht eingeweiht. Offiziell verstärken sie die Stadtwache wegen der Seuche. Wütet diese weiter, können wir auf ihre Hilfe nicht zählen.“
Akim trat zwischen sie. „Jonoy und ich werden in Perth untertauchen. Wir werden in der Nähe der Residenz bleiben, sie unauffällig beobachten. Außerdem spähen wir Fluchtwege aus. Die Sicherheit der Kinder hat absoluten Vorrang.“
„Ziel ist es, mehrere Fluchtwege offen zu halten“, ergänzte Jonoy. „Die Wege kennen nur Akim und ich, niemand sonst.“ Mit diesen Worten musterte der Greis die vier Frauen und drei Männer.
„Auch Ardanna nicht?“, fragte Syriakin.
„So wenig wie Ihr und die anderen“, betonte Jonoy. „Man kann nichts verraten, was man nicht weiß.“
„Was tun wir?“
„Gillok und du begleiten mich in die Boragha“, sagte Adiv.
„Also doch.“
Gillok nickte. „Nou kommt mit uns. Wir gehen durch Adivs geheimen Eingang.“
„Ich dachte, der wurde zugeschüttet.“
Adiv wechselte einen Blick mit Ylaiy. „Mehrere Tunnel wurden zugeschüttet.“
„Du hast ihn belogen“, stellte Syriakin fest. „Du hast Ylaiy einen falschen Tunnel genannt.“
„Den er hat zuschütten lassen im festen Glauben, es wäre der richtige.“
„Den ich heimlich genug zuschütten ließ, damit alle es wirklich glaubten“, sagte Ylaiy langsam. „Zusammen mit anderen Durchgängen. Bei so vielen Täuschungen liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.“
„Ihr nehmt euch beide nichts, was Tricks angeht.“
„Um zu dem Durchlass zu gelangen, müssen wir über das Meer kommen“, erzählte Gillok weiter. „Wir werden uns über die Inseln nähern und das letzte Stück nachts zurücklegen.“
„Ich bin eine miserable Schwimmerin“, entschuldigte sich Adiv. „Ihr müsst mich leiten und die Haie von mir fernhalten. Wasser ist euer Element.“
„Hauptsächlich Gilloks“, sagte Syriakin.
„Und Nous“, ergänzte der Sumpfmann. „Auch deshalb begleitet er uns. Du bleibst an Adivs Seite, wir spähen den Weg aus, sichern ihn notfalls.“
Adiv kratzte sich am Kopf. „Und dann kommt der wirklich knifflige Teil. Wir müssen über den Strand, ohne dass die Wachen auf K’yr uns sehen, oder Patrouillen, die den Strand möglicherweise überwachen, seit das mit dem Geheimgang durchgesickert ist. Ich muss den Eingang finden. Das wird nicht leicht.“
„Du bist die mit dem Orientierungssinn“, sagte Jonoy.
„Es ging alles ziemlich drunter und drüber damals. Ich habe nie daran gedacht, dass ich zurückkehren müsste.“
„Aber du schaffst es?“, erkundigte sich Ylaiy.
„Habe ich eine Wahl?“
„Nein.“ Syriakins Augen glitzerten. „Wir werden Vei finden und ihn uns vorknöpfen.“
„Behaltet sie bloß im Auge“, raunte Ylaiy Gillok zu.
„Was tut Ihr?“, fragte Syriakin, ohne auf die Bemerkung zu reagieren.
„Ich verschwinde, solange ich es noch kann.“
„Zurück zum Palast, sagte Adiv.“
„Richtig.“
„Wir gehen mit ihm“, verkündete Sila entschlossen.
„Warum? Hier ist es sicherer.“
„Ich kenne jede Menge Verstecke im Palast. Unser altes Zuhause zum Beispiel. Dort vermutet uns kein Mensch.“
„Sie kennt die Tunnel und geheimen Winkel“, setzte Ylaiy hinzu. „Sogar die Dächer. Mit ihr komme ich ungesehen hinein.“
„Sie werden alles kontrollieren.“
„Hoffen wir, dass sie nicht überall gleichzeitig sein können. Bis zum Palast reisen wir alle zusammen. Sila weiß eine Kutsche zu bändigen, Rana ebenfalls. Wie ging es mit den Pferden?“
Gillok warf Nou und Syriakin einen gequälten Blick zu. „Nachdem Ciycain die Tiere beruhigt hatte, kamen wir einigermaßen vorwärts.“
Ylaiy grinste. „Ich werde euch helfen. Selbst ungeübt seid ihr auf Pferden schneller als zu Fuß, zumindest auf Dauer. Die Pocken werden uns helfen. Alle Menschen sind verhüllt. Ardanna wird Passierscheine ausstellen und wir nehmen wieder die Uniformen. Auf diese Art müssten wir übermorgen am Palast sein. Dort bekommt ihr frische Pferde. Reitet auf direktem Weg nach Wyickam und benutzt den Damm nach Kaadaa.“
„Wird man uns hinüber lassen?“, fragte Gillok.
„Ich stelle Euch eine Order aus. Geht oder schwimmt um das Nordkap Kaadaas herum. Dann müsstet ihr auf die Inselgruppe treffen, über die Adiv damals floh. Wenn ihr gut vorankommt, solltet ihr in acht Tagen den geheimen Eingang erreichen.“
„Ihr müsst sehr vorsichtig sein, Ylaiy“, mahnte Jonoy. „Ihr dürft niemandem trauen.“
„Ich weiß. Der große Vorteil ist, dass ich aus dem Verborgenen heraus besser beobachten kann. Ich hoffe, ich kann die Mittäter so enttarnen.“
Syriakin wirbelte auf ihren Sohlen herum. „Dann sollten wir alle so schnell wie möglich aufbrechen.“
Adiv verdrehte die Augen. „Sie kann es kaum erwarten.“
„Ich ebenso“, gestand Jonoy. „Das Gefühl, etwas zu tun, beruhigt mich mehr, als wie ein Kaninchen auf den Fuchs zu warten.“
„Mit euch fühle ich mich auf jeden Fall sicherer. Auch wenn ich das Bild nicht aus dem Kopf kriege, dass Vei uns wie Kühe in einen Stall getrieben hat, um uns zur Schlachtbank zu führen.“
„Paíres Köder-Gedanke“, sagte Akim. „Er behagt mir ebenso wenig. Die Dimensionen, der Aufwand. Fedaj. Die Kaiserinschwester. Jonoy als Lockvogel für mich, Fedaj für Syra und Gillok, Vanstetten für Ylaiy. Raffiniert. Hohes Risiko, unvorhersehbare Reaktionen. Hier geht es nicht um Angst und Schrecken, nicht nur.“
Rana betrachtete ihren Enkelsohn. „Vei weiß von ihrer Zauberei. Ihrer Macht. Das muss ihn berauschen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Die Kinder und wir.“
„Die Kinder und wir“, wiederholte Akim.

Der Raum hallte wider vom Bersten des Holzes. Splitter stoben durch die schweißgeschwängerte Luft.
Even te Sant lehnte sich über die Brüstung und beobachtete den Mann, der durch den fensterlosen Saal preschte und mit geschickten Bewegungen die nächste Attrappe in Kleinholz zerlegte. „Zügelt Euch, Vei“, rief er. „Euer Kontingent an Übungspartnern ist für diesen Monat verbraucht.“
„Ihr werdet für Eure Güte entlohnt werden“, erwiderte Vei, ohne innezuhalten.
„Die Attrappen herzustellen ist aufwendig.“
Der Silberschopf beendete die Übungen. „Wollt Ihr mir erzählen, Eure nichtsnutzigen Gefangenen stünden nicht Schlange für ein wenig Beschäftigung und Entlohnung?“
Te Sant sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach, wie er zu dem Stuhl in der Ecke schritt, auf dem ein ordentlich geschichtetes Kleiderbündel lag. Vei ging aufrecht und würdevoll, hatte es vermocht, seinen Körper kräftig und geschmeidig zu halten. Eisernes Training und stählerne Disziplin. Ein Soldat blieb Soldat, ein Leben lang.
„Noch entlohne ich die Männer.“
Urdat Vei wandte sich nach ihm um, das schweißüberströmte Gesicht halb in einem Leinentuch verborgen. Te Sants Miene blieb hart, auch als Vei grimmig lächelte und sich über die fingernagelkurzen Haare rieb. „Noch entlohne ich sie. Ebenso wie ich für Eure Unterkunft sorge, für Eure Nahrung, Euren Barbier und Euren Waffenschmied, Eure Tischler und Eure Huren.“
„Warum erzählt Ihr mir das, Even? Was wollt Ihr?“ Veis Lächeln blieb, doch seine Hände krampften sich um den Knüppel, der an seinen Beinen lehnte.
„Respekt. Zum einen. Zum anderen meine Entlohnung.“
„Ihr werdet sie bekommen.“ Vei verschwand mit Kopf und Oberarmen in einem verschlissenen Leinenhemd. „Im Übrigen solltet Ihr einen Schneider auf Eure Liste meiner Dienstboten setzen“, fügte er hinzu, den Riss im rechten Ärmel musternd.
„Den letzten habt Ihr fast zu Tode geprügelt.“
„Er hat mich gestochen.“
„Mit einer Nadel!“
„Auch eine Nadel kann töten.“
„Bei den Göttern, Vei! Der Mann schlotterte vor Angst und Alter.“
„Eine Nadelspitze voller Gift genügt.“
„Ihr leidet wirklich unter dem Wahn, alle Welt wolle Euch umbringen.“
„Nicht alle Welt. Aber ein Teil davon. Besonders sie.“
„Das Sumpfweib?“
„Verachtet sie nicht, fürchtet sie. Sie ist niemand, der leere Versprechen macht.“
Der Kommandant schüttelte den Kopf und blickte mit geschürzten Lippen auf seinen prominentesten Insassen hinunter, der in eine alte Soldatenjacke schlüpfte. „Ich habe nichts zu fürchten. Sie kennt mich nicht.“
„Seid Euch da nicht zu sicher. Ihre Tochter ist eins der Kinder. Sie weiß sehr genau, dass Ihr verwickelt wart in die Pläne des Riesen.“
„Riese? Halluziniert Ihr?“
„Ihr spielt Eure Rolle perfekt. Man hat Euren Bluthund zum Gefangenen gemacht. Der Schlächter ist nun selbst wenig mehr als Fleisch auf der Schlachtbank. Ihr wart sein Vorgesetzter. Er hat Eure Befehle befolgt.“
„Das behauptet Jorgen. Seine Anschuldigungen konnten nicht bewiesen werden.“
„Ihr habt ihn geopfert.“
„Wir haben ihn des Mordes an der Frau überführt.“
„Und die anderen Männer? Die den Jungen nahmen?“
„Ein Junge verschwand, ja. Bedauerlich. Eine Tragödie. Wir haben ihn bis heute nicht gefunden.“
„So wie die Männer?“
Der Kommandant zuckte mit den Achseln. „Deserteure.“
Vei schulterte seine Waffe, einen schwertartigen Prügel, den er entworfen hatte und der nach ihm benannt worden war. „Eines Tages wird man Euch auf die Schliche kommen. Ein Wort von mir genügt.“
„Droht Ihr mir?“
„Wenn ich Euch nach dem Leben trachtete, wärt Ihr längst begraben.“
„Ihr lebt unter meinem Dach, entbehrt wenig.“
„Meine Gemächer sind eng und feucht und stinken. Es ist kalt. Die Decken sind voller Läuse und Wanzen, die Kleidung auf meinem Leib verschlissen. Euer Wasser schmeckt faulig, in Euern Speisen tummeln sich Maden. Letzte Woche erhielt ich einen Laib Brot, dessen Kruste von grünem Schimmel überzogen war!“
„Ihr seid undankbar.“
„Wofür sollte ich Euch danken?“
„Für die Tatsache, dass Ihr noch am Leben seid. Sobald Ihr einen Fuß vor die Kommandantur setzt, seid Ihr ein toter Mann.“
„Wie Ihr wisst, habe ich viele Freunde.“
Te Sants Grinsen war ölig wie die Oberfläche der Großen Kloake. „Auch das klingt nach einer Drohung.“
„Keine Angst, Even. Ich will Euer kleines Reich nicht. Der Kaiserhof ist mehr nach meinem Geschmack.“
Der Kommandant legte den Kopf in den Nacken und lachte. „Ihr wart schon immer größenwahnsinnig, General.“
„So wie Ihr. Waffenmeister, Tischler, Schmiede, Drechsler, Schneider, Dienstmägde. Schuster. Huren. Sie alle reden. Über die Boragha. Dass sie ein eigenes Reich ist, abgeschnitten vom langen Arm des Kaiserhofes, vom Rest des Reiches. Ihr regiert hier. Und niemand ist da, der Euch kontrolliert. Ihr habt viel Macht, Even. Nur die Majestes, die widersetzen sich Euch.“
„Ihr glaubt Gerüchten? Dem Geschnatter dummer Küchengänse, dem Wahnsinn von Menschen, die ihr Leben unter der Erde verbracht haben?“
„Eure Wärter erzählen ebenfalls das eine oder andere.“
„Jorgen! Der ist schlimmer als ein altes Klatschweib. Er mag den Alkohol zu sehr, lässt sich gehen.“
„Er ist ein brauchbarer Übungspartner. Zu fett und zu langsam, dafür voll schäumender Wut. Ich besiege ihn immer, aber es sind keine leichten Siege.“
„Habt Ihr Euch mit ihm angefreundet?“
„Himmel nein!“ Veis Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. „Der Mann ist ein Schwein. Doch er scheint loyal, verbissen, wie ein Hund, der eine Fährte aufgenommen hat.“
Te Sant musterte ihn mit zusammengekniffenem Gesicht. „Was heckt Ihr aus, Vei?“
„Kamt Ihr deshalb? Um mich auszuhorchen?“
„Auch meine Leute reden. Irgendetwas ist aus den Fugen geraten in meinem Gefängnis. Ich will wissen, was es ist.“
Der ehemalige Kaisergemahl grinste. „Die Reformen meines Stiefsohns bringen Euer bequemes Leben gehörig durcheinander, nicht wahr? Aber dafür könnt Ihr schwerlich mich verantwortlich machen.“
„Man munkelt von einer Armee. Dass Ihr rekrutiert. Drinnen und draußen.“ Te Sants Stimme hatte sich zu einem lauernden Flüstern gesenkt.
Vei lachte laut auf. „Jetzt glaubt Ihr Gerüchten.“
„Nein“, knarrte te Sant, kam die Treppe hinunter, verharrte auf der dritten Stufe. „Barlaigh und Bannista, zwei meiner Männer. Ihr habt Sie auf Eure Seite gebracht, vermutlich mit Drohungen, Erpressungen, Versprechungen. Sie haben die Stollen ausgekundschaftet. Dafür habe ich Zeugen.“
Veis Gesicht ballte sich zusammen, aber er sagte nichts.
„Ihr habt nach dem geheimen Fluchtweg suchen lassen. Chries Rolhuyt nach Karten gefragt, ihn bedrängt, als er sich weigerte. Rolhuyt erstattet mir regelmäßig Bericht. Er erzählte auch von einem Einbruch in die Kartenkammer. Bannista hat ein Spatzenhirn, doch sein Vater besitzt eine Schreibstube. Er kann also lesen, zumindest gut genug, um alte Karten zu entziffern.“
„Dachtet Ihr, ich würde nichts unternehmen? Nicht einmal über eine Flucht nachdenken?“ Der ehemalige Oberbefehlshaber der kaiserlichen Truppen blitzte te Sant an. Das Raunen, zu dem er seine Stimme gewöhnlich dämpfte, schwand. Ungefiltert klang sie hoch, beinahe weibisch.
„Barlaigh und Bannista sind verschwunden, haben sich in Luft aufgelöst. Auch draußen verschwinden Männer. Offiziere. Ehemalige. Männer, die unter Eurem Befehl standen.“
„Glaubt Ihr, ich hätte sie umgebracht?“
„Nein, ich glaube, dass Ihr sie rekrutiert und zusammenführt.“
Vei brach in ein Lachen aus, das zu einem Kichern verkümmerte. „Wo? Hier?“
„Die Boragha ist ein brüchiges Gebilde. Ein System aus Abhängigkeiten, Gefallen, ungeschriebenen Gesetzen. Eure Ränke bringen es durcheinander, möglicherweise zum Einsturz.“
„Ich schmiede keine Ränke. Ich bin nur ein in die Jahre gekommener Mann, der Sehnsucht nach zu Hause hat. Das könnt Ihr mir kaum verdenken.“
„Spart Euch das Süßholzraspeln! Hier kommandiere ich. Ohne Euch.“
„Vergesst Euch nicht, Kommandant.“ Veis Stimme war wieder herabgesunken in männliche Tiefen. Die Drohung in ihr war unverkennbar. „Ein Wort von mir und Ihr werdet zum Insassen in Eurem eigenen miserablen Reich.“
„Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Sagte ich das nicht bereits?“
„Seid auf der Hut. Stellt Euch nicht gegen mich.“
„Lasst Ihr sonst Euren neuen Freund auf mich los?“ Te Sant drehte sich nach dem beleibten Mann um, der am oberen Treppenabsatz erschienen war.
„Das würde mir leidtun, Kommandant“, keckerte Jorgen. „Wir wissen Euch lieber weiterhin auf unserer Seite.“
Te Sant starrte den ehemaligen Wärter an. „Droht Ihr mir? Vorsicht! Auch ich weiß mich zu wehren.“
„In einem Zweikampf unterliegt Ihr. Ich zerbreche Euch wie einen Zweig.“ Jorgen schnippte mit den Fingern.
„In einem Zweikampf vielleicht“, gab te Sant zu. Dann linste er Jorgen von unten herauf an. „Doch es gibt viele Arten, zu Tode zu kommen.“
Der Schlächter schnippte erneut. „Ah. Verlasst Euch nicht zu sehr auf sie. Ihr Ehrgeiz wächst. Es wird ihnen zu eng in Eurem Reich. Sie sehnen sich nach Größerem.“
Er nickte Vei zu, der den Urdat schulterte, die Stufen hinauf stieg und vor te Sant verharrte. „Na los, Even!“, knurrte er. „Macht Platz!“
Der kleinere Mann zögerte nur kurz, dann trat er zur Seite.

„Warte auf mich.“ Seine Bitte kam gepresst und verärgert.
Sila blieb liegen, den Kopf auf ihre Arme gesenkt. Das Kriechen strapazierte ihre Nackenmuskeln.
Sein hoch aufgeschossener Körper schob sich an ihre Seite. Überdeutlich nahm sie die Wärme wahr, die von ihm ausstrahlte, konnte nicht verhindern, dass ihr Herzschlag sich beschleunigte und ihr Mund austrocknete. Es war lange her, doch sie erinnerte sich an diesen Körper, an all die Stellen, die sie berührt, geküsst, liebkost hatte.
Sie rückte ein Stück von ihm ab. „Ihr seid langsamer als früher.“
„Wir müssen vorsichtig sein.“
„Ich weiß“, fauchte sie unterdrückt. „Schließlich schlafe ich seit Wochen mit einem offenen Auge.“
Unwirsch schob sie sich weiter, ohne sich nach Ylaiy umzuschauen, riss sich einen Strohhalm aus dem Haar, bürstete einen zweiten aus ihrem Ausschnitt. Adiv hatte ihr eins ihrer Leinenhemden überlassen, doch die Zeit war zu knapp gewesen, es enger zu nähen. Seit sie durch die nachtschwarzen Pferdeställe gehuscht waren, über Heuballen stolpernd und unruhigen Hufen ausweichend, kitzelten die Halme ihre Brust. Hunger und Entbehrungen hatten ihre Milch letztlich doch versiegen und ihren Körperumfang schrumpfen lassen, so sehr, dass sie in die Zweithose Mehlaus passte, die sie an den Beinen nur hatte abtrennen müssen. Rana hatte sie mit ihrem Mutterblick durchbohrt, aber nichts gesagt. Ylaiy hatte lediglich gelächelt, was Sila beinahe dazu gebracht hatte, ihm zu verzeihen. Beinahe.
„Wie lange noch?“, raunte er hinter ihr.
„Kommt darauf an.“
„Worauf?“
„Hier oben auf dem Zwischenspeicher lagern alte Bettwäsche, Teppiche, abgetragene Uniformen. Stoffe. Für Putzlappen, Verbände, Kleiderflicken und als Gaben an die Bettler. Früher war der Speicher ein beliebter Platz für Stelldicheins.“ Zu ihrem Erstaunen fühlte sie ihre Wangen heiß werden.
„Erwartest du Liebespaare?“
„Matratzen, Lumpenhaufen, Stoffpolster. Es gibt unbequemere Liebesnester.“
„Du kennst dich gut aus hier.“
Die versteckte Frage war so vorhersehbar gewesen, dass ein Grinsen sich in ihre Wangen grub. Ohne eine Antwort rollte sie sich unter einem Gatter hindurch in den nächsten Verschlag.
Ylaiy folgte ihr, ein Niesen unterdrückend, als Staub in ihre Nasen wirbelte. Er verbarg sein Gesicht in der Ellenbeuge und wartete, dass das Kitzeln nachließ.
„Ich hatte keine Ahnung, dass wir derartig viele Gobelins besitzen“, murmelte er mit einem Nicken zu den mannsdicken Rollen, die an den Wänden lehnten und sich auf dem Boden stapelten. „Damit könnte man ganze Dörfer versorgen. Wer kauft das alles?“
„Geschenke von Gesandten und reichen Händlern. Auftragsarbeiten Eurer Vorfahren. Jede Ruhmestat wird in Läufer und Schoner gestickt. Sie sind wie Bilderbücher.“
„Gewebte Folianten“, murmelte der Prinz. „Almanache. Rezeptbücher.“
„Kalender und Chroniken. Aber zum Lesen ist jetzt keine Zeit. Wir haben noch einige Kammern vor uns. Die Nacht dauert nicht ewig. Es gibt eine kleine Tür, die hinunter in die Backstube führt. Sie wird kaum noch benutzt, seit wir das Mehl in einem gesonderten Raum lagern. Früher ließen die Bäckergesellen die Säcke an einer Winde herab. Dafür mussten sie die Stiege hinauf. Die Kinder spielen dort gern.“
„Wann beginnen die Bäcker mit ihrer Arbeit?“
„Bald. Nicht mehr lang und unter uns wimmelt es von Bediensteten. Auch die Küchenmägde tauchen in Kürze auf.“
„Dann los.“
Schweigend huschten sie weiter, an Verschlägen und Gattern vorbei, bis sie ein Türchen erreichten, vor dem Sila innehielt und den Finger an die Lippen legte. Angestrengt lauschten sie nach unten.
„Nichts“, flüsterte Ylaiy.
Behutsam zog Sila die Tür auf. Die Angeln quietschten und zwei der Latten scharrten über den unebenen Holzboden. Sofort kam Bewegung in den Raum dahinter. Ylaiy unterdrückte einen Aufschrei und biss sich in den Handrücken, als dutzende Ratten das Weite suchten.
Sila hingegen kroch unbeirrt in das ehemalige Vorratslager. „Beeilt Euch“, forderte sie ihn ungehalten auf. „Es sind nur Nager. Ihr habt Schlimmeres gesehen.“
„Das macht Ratten nicht anziehender. Und das waren eine Menge.“
„Wo es Essen gibt, gibt es Ratten. Über der Backstube ist es das ganze Jahr warm und trocken und sie finden Nahrung in Hülle und Fülle. Früher fraßen sie die Mehlsäcke an, knabberten Maiskörner direkt von den Kolben. Das neue Lager ist besser gebaut und bewacht.“
„Wir bewachen Vorratslager? Vor Ratten?“
„Vor Nagern, Insekten und Dieben.“
„Städter gelangen nicht in die Tiefen des Palastes.“
„Auch innerhalb des Schlosses wird gestohlen, und nicht zu knapp. Dafür habt Ihr schließlich Eure Palastwache. Die meisten Diebstähle kommen nicht zur Anzeige. Die Angestellten kümmern sich darum.“
„Selbstjustiz?“
„Wenn Ihr das so sagt, klingt es wie ein Verbrechen.“
„Das ist es ja auch.“
„Es funktioniert seit Jahrhunderten. Die Handwerkerstadt hat eine eigene Wache und einen eigenen Rat. Es gibt sogar Gerichtsverhandlungen.“
„Dafür ist das Hofgericht zuständig!“
Sila verdrehte die Augen. „Meint Ihr wirklich, wir ersuchen wegen jedes Ehestreits, jedes kleinen Diebstahls, jeder Schlägerei die Kaiserin um eine Audienz? Für so etwas hat niemand Zeit!“
Ylaiy setzte zu einer Erwiderung an, schluckte sie aber hinunter.
Sila sah ihn gereizt an. „Manchmal seid Ihr unfassbar ...“
„Einfältig?“
„Weltfremd.“
Wieder antwortete Ylaiy nicht. Er senkte den Blick und stieß Atem durch die Nase; eine Mischung aus Seufzer und Schnauben.
Sila seufzte ebenfalls, bevor sie sich in den Lagerraum schob, der bis auf Staubflusen, einige vergessene Mehlsackreste, Insektenleichen und Nagetierkötel leer war.
In der Mitte, über einer in den Boden eingelassenen Luke, stand ein hölzernes Wellrad, welches zum Hochziehen und Absenken der Säcke benutzt worden war. Rahmen, Baum, Rad und Seil schienen intakt.
„Hier spielen Kinder?“, fragte Ylaiy.
„Sie ziehen sich gegenseitig empor oder klettern am Seil. Wenn die Backfrauen nicht hinsehen, stibitzen sie Kuchen.“
„Hast du hier gespielt?“
„Sicher.“
„Aan ebenfalls?“
Ihr Kopf zuckte hoch. „Ich erinnere mich nicht an sie, das wisst Ihr doch. Ich war ein Jahr, als sie ging, höchstens. Aber wahrscheinlich hat auch sie hier gespielt, ja.“ Sie sah Ylaiy an. „Vielleicht spielt Talin eines Tages hier.“
Ylaiy erwiderte ihren Blick. „Auf Vanstetten könnte er im Freien toben. Es gibt Tiere, jede Menge Platz.“
„All das gibt es auch hier.“
„Zu viele Menschen auf engem Raum.“
„Freunde zum Spielen.“
„Menschen, die ihm nicht wohlgesonnen sind.“
„Oder die ihn mögen, obwohl er ein Bastard ist.“
Das Schweigen, das einsetzte, drückte sie nieder. Sila schaffte es, ihn weiterhin anzusehen. Ihre kornblumenblauen Augen funkelten provozierend, doch dahinter glommen Trauer und Schmerz.
„Ich habe dich verletzt“, sagte er leise. „Das war nicht meine Absicht, glaube mir.“
Sila zog die Nase hoch. „Ich weiß, aber es ist nun einmal so. Du hast uns abgeschoben, den Weg frei gemacht für deine neue Frau.“
„So war es nicht!“, begehrte Ylaiy auf. „Ich wollte dein Bestes. Eine glückliche Zukunft für Talin, ein sicheres Heim für Rana.“
„Du hättest ihr einen Urlaub schenken können!“ Selbst in der Dunkelheit glänzten ihre Wangen in zornigem Rot. In ihren Augen glitzerten Tränen, doch sie hielt sie zurück.
Ylaiy setzte sich auf die Fersen. „Sila. Die Menschen reden. Sie wissen um uns. Sie würden mit dem Finger auf dich zeigen, ihren Kindern den Umgang mit Talin verbieten. Er hätte keine Freunde hier.“
„Meine Mutter zog zwei Mädchen ohne einen Vater groß. Ich bin ein Bankert, Aan war eins. Dass Vei sie gegen ihren Willen besuchte, war ein offenes Geheimnis. Die Leute sahen weg, aber sie wussten es. Trotz allem mochten sie Rana, sie mochten Aan und sie mögen mich. Ja, sie reden, ja, sie tratschen, doch weit weniger, als deine feine Hofgesellschaft es tut. Es ging um Euren Ruf, Hoheit, nicht um meinen oder Ranas oder Talins. Und jetzt bewegt Euren kaiserlichen Arsch, bevor wir entdeckt werden! Da ist die Tür. Setzt Eure Mütze auf und verbergt Euer Gesicht! Wir warten in der Gasse zwischen Stube und Käserei, dann mischen wir uns unter die Handwerker. Mutter steht bestimmt bereits am Dienstboteneingang an. Bald kommen die ersten Fischer, die Tagelöhner aus der Stadt. Sie kennt viel Küchenpersonal und weiß, wem sie vertrauen kann. Über die Küchentrakte und Handwerkergassen gelangt sie zu unserem Haus. Steht es wirklich noch leer?“
„Niemand außer euch beiden besitzt einen Schlüssel zu dem neuen Schloss.“
„Schlüssel kann man nachmachen lassen.“
„Meine Order war eindeutig.“
„Dann sollten wir uns beeilen. Das morgendliche Gewusel ist unsere beste Chance.“
„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es schlau war, Rana allein gehen zu lassen. Die Leute werden sie erkennen.“
„Nicht die Wachen und Höfischen. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Verräter wissen, wer sie ist.“
„Es sei denn, Vei hat Verbündete unter den Dienstboten.“
„Das glaubt Ihr doch wohl selbst nicht. In seiner Rangordnung stehen Bedienstete unter seinem Pferd.“ Silas Gesicht hatte sich verdüstert, wie immer, wenn sie von ihrem Vater sprach.
Wenn du dich da mal nicht irrst.
Ylaiy öffnete die zweite Tür und spähte die Stiege hinunter. Noch war keine Bewegung in der Backstube auszumachen. „Auf welche Geschichte habt ihr euch geeinigt?“, flüsterte er, während sie die Holzstufen hinab schlichen.
„Ich bin weggelaufen. Rana weiß nicht, wo ich bin. Sie hat gehofft, dass ich vor Heimweh und Kummer zurück nach Hause laufe.“
„Ohne deinen Sohn?“
„Unerfüllte Liebe hat mir den Kopf verdreht. Ich weiß Talin in den besten Händen.“
Ylaiy blieb stehen und drehte sich um. „Sie war nicht unerfüllt. Nicht nur du leidest.“

 

Die Gefängnisinsel wirkte gewaltig inmitten der Straße von Tanaa. Eine Gigantin unter all den Zwerginseln, die sie umgaben. Ihre höchsten, selbst im Hochsommer schneebestäubten Berggipfel ragten über die Wolkenfelder auf. Dahinter, von ihrem gegenwärtigen Standort aus nur zu erahnen, erhob sich der massige Komplex aus Mauern, in dem Adiv aufgewachsen war.
Die Diebestochter bemerkte, dass Tränen in ihren Augen brannten, jetzt, da sie nur noch wenige hundert Meter Wasser von ihrem alten Zuhause trennten. „Hätte nicht gedacht, das alles zu vermissen“, erklärte sie leise.
„Heimat ist Heimat“, entgegnete Gillok.
Damals hatten sie Tage gebraucht, um auf Schilfbündeln nach Kânegg zu treiben, das jetzt hinter ihnen lag. Die Sumpfleute hatten den fast doppelt so langen Weg von der Nordspitze aus in etwa derselben Zeit geschafft. Waffen, Proviant, Stiefel und Kleidung hatten sie in einem Einbaum verstaut, den sie abwechselnd anstießen. Adiv war beeindruckt von der unglaublichen Geschwindigkeit der Frâgg. Vor allem die Männer schienen im Wasser kaum zu ermüden, wohingegen Syriakin sich nach endlosen Stunden zu ihr in das schmale Gefährt gehievt hatte. Während der Fahrt durch die Meerenge hatte Adiv pausenlos an die Überquerung vor zwei Jahren gedacht, an ihre Angst vor der Tiefe und den Riffhaien.
„Mach dir keine Sorgen“, hatte Syriakin ihr gesagt, nachdem sie sich im Einbaum ausgestreckt hatte. „Die beiden leben im Meer. Sie kennen den Weg, ihre Kräfte, die Gefahren. Ruhe dich aus.“
„Was ist mit den Haien?“
„Haie“, hatte Syriakin mit einer ihrer wegwerfenden Handbewegungen gesagt und war gleich darauf eingeschlafen.
Jetzt, Stunden später, lagen sie bäuchlings auf dem letzten Inselchen vor Kaadaa, mit dem unangenehmen Gefühl, beobachtet zu werden. Sie hatte sie damals genauso gespürt, die Augen der Soldaten auf K’yr. Beständig redete sie sich ein, dass der Wachposten viel zu weit über dem Wasser lag, tausende Meter hoch, es unmöglich sein musste, ein schlankes Boot und einzelne Schwimmer auszumachen. Aber das Gefühl, geradewegs in eine Falle zu tappen, schwand nicht.
„Lassen wir die Sachen hier?“, flüsterte sie ihren Begleitern zu.
Syriakin nickte. „Den Bogen, ja. Er wäre in den Stollen hinderlich. Mäntel und Umhänge ebenso.“
„Wann wollt ihr es angehen?“
„Sobald es dunkel ist“, antwortete Syriakin. „Zwei Stunden noch.“
„Besser drei“, riet Gillok. „Adiv, du nutzt die Zeit, um den Strand zu studieren. Erinnere dich, wo der Eingang war. Wir können nicht ewig dort umherirren.“
Adiv nickte. „Ihr führt mich ans Ufer, danach bin ich dran.“ Sie versuchte, Zuversicht in ihre Stimme zu legen.
„Nou und ich werden ruhen. Weckt uns in drei Stunden.“


Die Frâgg schwammen voraus, Gillok und Nou weit vor ihr unter Wasser, Syriakin in ihrer Nähe. Die Kriegerin hatte ihr eingeschärft, wie ein Frosch zu schwimmen, da es leiser war und weniger kräftezehrend. Also hielt sie angestrengt Nase und Mund über die Wogen und ihre Augen starr auf Syras Schopf gerichtet, während Schultern und Nacken verkrampften. Ihr Herz raste, weil es finster war um sie herum, so finster wie die Tiefen unter ihr, in denen Wesen lauerten; Kreaturen mit scharfen Zähnen, giftigen Stacheln, Fangarmen. Geschöpfe, die bissen.
Sie zuckte zusammen, als sie eine Bewegung an ihren Beinen gewahrte, geriet unter Wasser, verschluckte sich, hustete.
Syriakin war sofort an ihrer Seite.
„Es ist nichts. Ich habe mich nur erschreckt.“
Die Kriegerin sagte nichts, doch Adiv spürte, wie sie sich sinken ließ, unter ihr hindurch tauchte. Warme Dankbarkeit durchströmte sie; eine willkommene Empfindung in der Kälte des Ozeans.
Nach einer gefühlten Ewigkeit glitt Syriakin vor ihr aus dem Wasser, richtete sich vorsichtig auf. Adiv sah sich beunruhigt um, bis sie Syras Hand auf ihrem Unterarm spürte. Die Sumpffrau wies auf zwei kaum wahrnehmbare Schaumspuren neben ihnen.
Kanouepe und Gillok waren weite Halbkreise nach beiden Seiten geschwommen. Jetzt erhoben sie sich aus dem Wasser und nickten den Frauen zu.
Adiv stieß ihren angehaltenen Atem aus und watete ans Ufer. Dann begann sie, den Strand auf und ab zu laufen, während die Sumpfleute die Umgebung sicherten. Zögernd strebte sie schließlich auf die Felswand zu, die Kaadaas Küstenlinie einfasste.
Der Fels bestand an vielen Stellen aus porösem, von Flechten überzogenem Granit. An anderen war er weich, von klebrigem Lehm durchsetzt. Überall gab es Einbuchtungen, Risse, Spalten und Löcher, die wie Augen aus dem Stein starrten. Es mussten hunderte sein, einige winzig, andere kaum größer als eine Hand, wieder andere so weiträumig, dass sie Menschen und Tieren Unterschlupf bieten konnten. Vor einem dieser höhlenähnlichen Ausgänge machte sie Halt und inspizierte ihn.
„Das ist er“, flüsterte sie.
„Bist du sicher?“, fragte Gillok.
Adiv trat einen Schritt zurück, lugte den Strand hinauf und hinunter, straffte sich. „Ja.“
„Dann los“, brummte Nou.
Kopfüber kroch Adiv in den Durchbruch, dicht gefolgt von Syriakin, deren Hände sie an ihren Fesseln spürte, sobald sie langsamer wurde. Die beiden Frauen kamen rasch voran, wohingegen der tunnelartige Hohlraum für die Schultern der Männer zum Hindernis wurde. Vor allem Gillok stieß nur mit Mühe in das Innere des Felsens vor.
Nach wenigen Metern mündete der Durchbruch in einen größeren Gang, in welchem sie verschnauften, während Adiv sich neu orientierte.
Gillok lehnte sich an seine Gefährtin und spuckte einen Klumpen rötlichen Lehm aus. „Immer noch sicher?“, raunte er Adiv zu.
„Ja.“ Adivs Augen waren nach oben gerichtet. Sie studierte die Karte, die in den Tiefen ihres Gedächtnisses gespeichert war, und die nur sie lesen konnte. Ihre Hände beschrieben den imaginären Weg in der Luft.
„Los“, knurrte die Kriegerin. „Das hier ist wie damals.“
„O’shu’o-gh.“ Gillok spuckte weitere Krümel aus. „Das weckt einige Erinnerungen.“
Adiv schob sich nach links. „Die Festung war ein Kinderspiel gegen die Boragha. Hier müssen wir kriechen.“
„Den ganzen Weg?“, fragte Nou und musterte die Abschürfungen auf Gilloks Schultern.
„Eine Weile. Immer mal wieder.“
Ohne sich noch einmal umzusehen, verschwand sie auf allen vieren um die nächste Biegung.


Weiter, signalisierte Adiv. Ohne nachzudenken folgte sie der Karte in ihrem Kopf, die sie vor Jahren angesehen hatte. Nur selten hielt sie inne, um sich zu orientieren, da einige der alten Wege sich durch die Gewalten der Natur verändert hatten. Luft und Enge in den verwinkelten Gängen waren beklemmend.
Die Sumpfleute eilten ihr nach, ohne ihre Entscheidungen infrage zu stellen. Sie atmeten schwer und fühlten sich sichtlich unwohl, aber sie liefen klaglos weiter, immer tiefer in das Gebirge hinein, welches das Antlitz der Insel von außen prägte.
Nicht mehr lange, dachte Adiv. Sie beschwor sich die Umrisse des Gefängniskomplexes herauf. In hundert Metern würde der Gang auf eine Höhe anwachsen, die es ihnen erlaubte, aufrecht zu gehen. Kurz danach würde er sich erheblich verbreitern; wie ein Flaschenhals, der sich zum Bauch ausweitete. Grauer Fels würde die Lehmwände ablösen, Tropfsteine würden auftauchen, Säulen und mannshohe Kegel. Verstecke. Sie empfand eine seltsame Vorfreude. Diese hielt nicht lange an, denn als sie den Flaschenbauch erreichten, lösten sich Teile der Wände und flossen auf sie zu.
Sechs Gestalten schälten sich gleichzeitig aus dem Gestein, voneinander kaum zu unterscheiden. Gesichter und Körper hatten sie mit Lehm eingerieben. Bis auf eine eng anliegende Hose waren alle nackt und unbewaffnet. Sie bewegten sich flüssig und geräuschlos und hatten sie in Sekundenbruchteilen eingekesselt. Obwohl der Schrecken ihren Verstand lähmte, begriff Adiv, dass die sechs hier gewartet hatten, reglos in den Lehm der Tunnelwände gepresst, völlig mit ihrer Umwelt verschmolzen; dass das die Falle war, die sie befürchtet hatten.
Und sie waren hinein getappt.
Syriakin, die in Gefahrensituationen rein von Instinkt gesteuert schien, warf sich bereits auf den ersten Angreifer. Gillok und Nou folgten ohne Zögern, während Adiv hastig einem der Lehmmänner auswich, der sie frontal mit ausgestreckten Armen attackierte.
Sie trat zur Seite und ließ den Mann ins Leere laufen, ganz so, wie Syra es sie gelehrt hatte, drehte sich um und stieß ihren Gegner in den Rücken. Eine Erinnerung blitzte auf. Ihr erster Kampf. Draußen vor den Höhlen. Im strömenden Regen. Sie erinnerte sich an das Gefühl der Hilflosigkeit und paralysierenden Angst.
In der Zwischenzeit hatte sie viele Kämpfe ausgetragen.
Sie war nicht mehr das Mädchen von damals.
Der Gedanke verwandelte ihr Gesicht in das einer Kriegerin. Mit zwei langen Schritten setzte sie ihrem Angreifer nach, trat ihm kraftvoll in die Kniekehlen und schubste ihn an die Wand.
Der Mann, ihr körperlich und kämpferisch weit überlegen, knickte ein. Er hatte sie unterschätzt. Ein Fehler. Noch bevor Zweifel in ihr Denken sickern konnte, sackte ihr Gegner mit dem Gesicht gegen die Felswand, niedergestreckt von ihrem Tritt. Einem kaltblütig und genau ausgeführten Tritt gegen den Hinterkopf, der Stirn und Nase zerschmetterte.
Sie unterdrückte ein Würgen, als sie die blutige Masse sah, die am Gestein kleben blieb. Vor ihren Augen begann es zu rauschen und für einige Augenblicke wurde die Welt unwirklich. Sie wandte sich ab, starrte auf ihre Freunde. In ihrem Kopf herrschte Leere. Erst als Nou gegen sie taumelte, setzte ihr Verstand wieder ein und analysierte die Situation.
Kontrolle.
Durch den Überraschungsangriff war es den Fremden gelungen, die Sumpfleute auseinanderzutreiben. Adiv zog eine Oberlippe hoch, als sie die Strategie erkannte. Natürlich hatten sie die Männer als die größere Gefahr eingeschätzt, sodass Nou und Gillok sich gegen jeweils zwei Gegner erwehren mussten. Syriakin focht ihren Kampf nur gegen einen Mann, den größten und massigsten unter ihnen, der ihr hart zusetzte. Doch noch bediente sie sich lediglich ihrer Fäuste und Beine, wich mehr aus, als sie austeilte. Wahrscheinlich setzte sie auf Ausdauer und ihre unglaubliche Konstitution, schätzte den Gegner ein, spielte auf Zeit. Ihre Messer steckten unangetastet in ihrem Gürtel und so entschied Adiv, dass sie ihrer Hilfe nicht dringend bedurfte.
Gillok vermied körperliche Auseinandersetzungen, doch sie wusste, dass er sich zu wehren vermochte, meisterhaft sogar. Das überraschte sie stets aufs Neue und nicht zum ersten Mal musste sie sich in Erinnerung rufen, dass er es gewesen war, der Syriakin das Kämpfen gelehrt hatte.
Es war, als schlüpfe er in die Haut eines anderen, als streife er eine fremde Persönlichkeit über, wenn er kämpfte. Seine Augen hatten einen harten Glanz bekommen. Im Gesicht stand ein Ausdruck tiefster Konzentration und Entschlossenheit. Sein Körper war bis in die letzte Faser angespannt, die Haltung die einer Raubkatze kurz vor dem Sprung. Für einen so großen Mann wirkte er erstaunlich schnell und gelenkig.
Und Schnelligkeit brauchte er, denn beide Gegner setzten ihm unablässig, unbarmherzig und unberechenbar zu. Ihre Angriffe schienen von allen Seiten zu kommen, mal nacheinander, mal gleichzeitig. Der Sumpfmann verteilte Fausthiebe, Aufwärtshaken und Ohrfeigen, holte mit dem Ellenbogen aus, wehrte Tritte mit Handkanten ab. Einmal bekam er sogar das Bein eines Mannes zu fassen und hebelte ihn aus dem Gleichgewicht. Er brachte ihn aber nicht zu Fall, weil der Mann sich aus dem Griff herauswand wie ein Wurm, während der zweite ihn mit einem Schlaghagel eindeckte.
Sie waren wie Wasser, umspülten Gillok mit spielerischer Leichtigkeit. Ihre Angriffe waren versteckt, kamen unvermutet. Manchmal war es, als würden sie Gillok umgarnen, ihn täuschen und reizen. Wo der Sumpfmann stand und Hiebe nach allen Seiten austeilte, hockten sie, ließen sich auf ihre Hände fallen, klappten in die Knie, rollten über den Boden, sprangen übereinander. Mitunter schien es, als ginge es gar nicht um Gillok, als ignorierten sie ihn, während sie zusammen tanzten, sich an Armen und Schultern fassten, miteinander rangen, anstatt mit ihrem Gegner. Im nächsten Augenblick schwärmten sie aus und näherten sich Gillok von zwei Seiten oder sie benutzten den Schwung ihrer Körper, um sich gegenseitig auf ihn zu schleudern.
„Blendwerk“, murmelte Adiv. Darum ging es. Antäuschen, vortäuschen, verstecken. Schläge tarnen, Tritte verbergen, bis es zu spät war. Hiebe, die von überall her kommen konnten. Zu jeder Zeit. Geschwindigkeit. Gleichgewicht. Unablässige Bewegung. So flüssig wie Wasser.
Kanouepe kämpfte ebenso konzentriert wie seine Stammesgefährten. Sie wirkten organisch, die drei Frâgg. Jeder kämpfte für sich und doch war es, als wären sie eins. Wie auch die Gegner eins zu sein schienen. Niemand sprach, fiel ihr auf. Sie verständigten sich stumm, die Sumpfleute genauso wie die Lehmmänner.
Als gehörten sie alle zusammen.
Erst jetzt bemerkte sie die Ähnlichkeiten. Die gerade gewachsenen Körper. Schlank, sehnig, biegsam, stark und ausdauernd. Halblanges Haar, nass und glänzend bei ihren Freunden, feucht und verdreckt bei den anderen. Dunkle Haut, salzverkrustet bei den einen, lehmbeschmiert bei den anderen. Entschlossene Mienen.
Nou kämpfte ebenfalls mit Fäusten und Handkanten, wachsam und bemüht um Überblick, kopflose Bewegungen vermeidend. Seine Arme waren nicht so lang und kräftig wie Gilloks, deshalb setzte er außerdem auf Tritte und Ausweichtaktiken. Mal schnellte sein Bein geradeaus nach vorn, schnappend wie eine Giftschlange kurz vor dem Biss, mal drehte er sich halb um seine Körperachse und hieb von der Seite zu, den Fußrücken wie eine Waffe benutzend. Er traf gut. Beide Gegner zuckten mehrfach zischend zurück, ließen sich von Schmerzen jedoch ebenso wenig aufhalten wie die Frâgg, auch wenn sie strauchelten. Es schien sogar, als würden Verletzungen sie anstacheln. Sie begannen, Nous Tritte zu imitieren, seine Angriffe im Voraus zu ahnen. Sie wichen schneller aus, änderten ihr Vorgehen, nutzten seine Attacken zu ihrem Vorteil.
Nou erkannte, dass die Lehmmänner ihren Kampfstil angepasst hatten, und verdoppelte seine Anstrengungen. Schweiß lief über sein Gesicht, das sich verzerrt hatte, weil Erschöpfung und die Angst vor einer Niederlage seine Muskeln verspannten. Doch noch ein anderer Ausdruck stand in seinen Augen. Verwirrung.
Eine Verwirrung, die Adiv zu denken gab. Erneut musterte sie Nous Gegner und zuckte zurück, als sie in einem eine Frau erkannte. Sie war gekleidet wie die Männer, genauso sehnig und muskulös. Schulterlanges Haar klebte an ihrem Kopf, streng nach hinten gezogen wie bei den anderen. Nur ihre Brust, obgleich flach und unauffällig, verriet sie.
Gegen eine Frau zu kämpfen, die keine Scheu hatte, sich nackt zu präsentieren, brachte Nou durcheinander. Seine Bewegungen verlangsamten sich, wurden zögerlicher. Adiv entschied, dass es Zeit war. Sie warf einen Blick zurück. Der Mann, den sie ausgeschaltet hatte, lag mit schlaffen Gliedern am Boden. Das Gefühl, ihn besiegt zu haben, versetzte sie in einen seltsamen Zustand von Euphorie.
Die Energie schwemmte sie hinter den Mann, der Nou mit einer Serie von seitlichen Tritten eindeckte. Sie achtete darauf, Schulter, Ellenbogen und Hand so zu drehen, wie sie es bei Syra beobachtet hatte, wappnete sich gegen den Schmerz, der in ihren Knöcheln explodieren würde, und legte alle Kraft in den ersten Schlag.
Ihre Faust hämmerte gegen die Schläfe. Schnell zog sie ihren Arm zurück, lehnte sich erneut nach vorn und hieb ein zweites Mal zu. Ein perfekter Doppelschlag. Der Mann geriet ins Taumeln, ging in die Knie. Sie stieß ihre Hüfte nach vorn, trat nach seinem Kopf, doch mühelos fing er ihren Fuß ab, drehte ihn ruckartig. Adiv schrie auf und fiel in den Staub, schaffte es aber, sich mit den Händen abzufangen und mit dem anderen Bein nach ihm zu treten.
Dann landete Nous Fußkante am Hals des Mannes und warf ihn vornüber. Adiv zog die Beine an, rollte über die eigene Schulter nach hinten, kam vom Boden hoch und stieß einen weiteren Schrei aus, als sie den verdrehten Fuß mit ihrem Gewicht belastete.
Indessen drängte die Lehmfrau Kanouepe mit harten Schlägen von ihrem Kampfgefährten weg, trieb ihn Richtung Wand. Dem Frâgg blieb nicht viel mehr übrig, als die Arme schützend vor dem Kopf zu kreuzen.
Adiv stand für einen Moment unentschlossen, erschrak, als der niedergestreckte Lehmmann jählings wieder aus dem Boden wuchs. Eine Reihe von seltsamen Klickgeräuschen kam aus seiner Kehle. „Ks. Ts. Kssss.“
Die Diebestochter runzelte die Stirn, dann begriff sie, dass er sich mit diesen Geräuschen anstachelte, hochtrieb, sein Blut in Wallung brachte.
Sie ging in Kampfstellung. Arme und Fäuste hoch. Fester Stand, auch wenn ihr Fuß protestierte. Aufmerksamkeit auf ihn, der auf sie zukam, tänzelnd, wippend, federnd, die Fäuste pendelnd, nach allen Seiten suchend, kreisend, vorschnellend, beißend. Er deckte ihre Unterarme mit kurzen Schlägen ein, so rasch, dass sie nicht ein einziges Mal ausweichen oder gar zurückschlagen konnte.
Ihr Denken setzte aus. Sie war so auf ihren Gegner und ihre schmerzenden Arme konzentriert, dass sie nicht bemerkte, wie es Gillok gelang, einen seiner Angreifer mit einer Kombination aus rechtem Schlag und linkem Aufwärtshaken direkt unter die Nasenwurzel zu Fall zu bringen. Der Mann brach zusammen, während das Blut aus der Nase schoss. Adivs Fuß verfing sich in dem gekrümmten Körper und für einen Lidschlag schweifte ihr Blick nach unten. In diesem Augenblick erwischten ausgestreckte Finger ihren Jochbogen, glitten ab, bohrten sich in ihre Wange. Reflexartig zog sie die Arme ein, legte sie vor ihre Augen.
Als sie sie wieder öffnete, stand der Mann vor ihr, als wolle er sie umarmen. Sie wich nach hinten aus, doch sein rechter Arm schloss sich bereits um ihren Nacken, während sein linker nach ihrem Unterarm griff und sie ruckartig zu sich zog. Seine vorgestreckte Hüfte katapultierte sie nach vorn. Adiv fühlte den Boden unter ihren Füßen schwinden. Im selben Augenblick krachte sie auf die glitschige Erde. Der Schrei in ihrer Kehle entwich als gurgelndes Keuchen, als der Mann, ohne den Griff um ihren Nacken zu lockern, halb auf ihr landete. Sein Unterarm presste sich in ihre Luftröhre.
Pa’re“, raunte er.
Es war das erste Wort, seit die Tänzer von den Wänden geflossen waren. Adiv kannte es nicht, doch sie verstand, dass er sie aufforderte, liegen zu bleiben. Um dem Befehl mehr Nachdruck zu verleihen, zog er ihren Kopf zur Seite. Ihre Wirbelsäule verspannte sich, als ihr Genick schmerzhaft gedehnt wurde. Sie versuchte zu nicken, klopfte mit den Fingern auf den Boden, um ihre Niederlage einzugestehen.
Sein Gesicht, in welches Schweißbäche dünne Spuren gezogen hatten, blieb ausdruckslos, doch er lockerte den Griff so weit, dass Adiv flach einatmen konnte. Er machte keinerlei Anstalten, wieder in den Kampf einzugreifen, blickte stattdessen zu dem toten Mann an der Wand. Ihre Tarnung war aufgeflogen. Er unterschätzte sie nicht.
Auf dem Boden liegend, den Kopf auf die Erde gepresst, beobachtete sie den Ausgang des Gefechts.
Nou wirkte erschöpfter als seine Stammesgefährten. Er lauerte an der Tunnelwand, die Lehmfrau im Blick, wobei er es vermied, auf ihren Oberkörper zu schauen. Damit entgingen ihm viele Bewegungsansätze und Täuschungsmanöver. Seine Gegnerin hatte immer leichteres Spiel, deckte ihn weiterhin mit Fausthieben ein, nahm jedoch auch ihre spielerische Kampfweise wieder auf. Akrobatische, fließende Bewegungen, denen Adiv wie hypnotisiert folgte. Sie zuckte zusammen, als die Lehmfrau sich auf dem Boden zusammenkauerte, sich auf einer Hand abstützend. Plötzlich schnellte sie nach oben. Anmutig brachte sie ihren Körper in Drehung, das Bein lang ausgestreckt. Ihr Fußrücken donnerte in Nous Rippen. Als er stöhnend am Boden lag, senkte ihr Fuß sich auf sein Genick. Sie schüttelte lediglich den Kopf, als sich Nous Muskeln anspannten. Er gab auf.
„Khss“, machte sie ein ähnlich kehliges Geräusch wie Adivs Gegner vorhin. Es klang ungehalten. Der Mann, der von Gillok niedergestreckt worden war, regte sich und richtete sich langsam auf. „Ta“, stieß sie hervor und deutete mit dem Kinn auf Kanouepe. Der Mann kam auf die Füße und stolperte zu der halb nackten Frau, die ihm signalisierte, ihre Position einzunehmen.
Anführerin, schoss es Adiv durch den Kopf.
Die Frau schüttelte ihre Hände und Füße aus, bevor sie erneut in den Kampf eintauchte.
Gillok hatte es irgendwie geschafft, an die Seite Syriakins zu gelangen und dabei die Tunnelwand im Rücken zu behalten. Vor ihnen bauten sich die drei Gegner in einem losen Halbkreis auf.
Kurz schienen alle fünf zu verschnaufen. Dann machte die Frau fast unmerklich einen winzigen Zwischenschritt. Ihr linker Fuß nahm die Position des rechten ein, bevor sie sprang. Es war kaum mehr als ein kleiner Hopser, der aber viel Wucht in ihre Bewegung mitbrachte. Gillok sah den Fuß kommen, duckte sich und stieß ihr Bein nach oben. Es brachte sie nicht einmal ins Wanken. Statt umzufallen, rotierte sie auf dem Standfuß und nahm Gilloks Impuls mit in den nächsten Angriff. Wie Sphita, wenn sie ihre Pirouetten dreht, dachte Adiv.
Die Lehmmänner wirbelten um die Sumpfleute wie Derwische. Sie schlugen mit allem, was ihr Körper aufzubieten hatte: Handkanten, Handflächen, Fäusten, Fußsohlen, Waden, Schienbeinen, Köpfen, Schultern, Hüften. Die Schläge und Tritte klatschten auf die nasse Haut ihrer Opfer. Sie sprangen in die Luft, wichen aus, duckten sich, ließen sich fallen, nur um sofort wieder in die Höhe zu schnellen. Man bekam sie nicht zu fassen. Ihre nackten Körper glänzten vor Lehm und Schweiß und glitten durch die Finger und unter den Fäusten hinweg.
Die Sumpfleute teilten ebenfalls aus, harte Hiebe und wuchtige Stöße. Sie verteidigten sich verbissen. Ihre Bewegungen blieben kraftvoll und konzentriert, doch Adiv fiel auf, dass sie immer mehr in die Defensive gezwungen wurden. Ein Sieg war unwahrscheinlich, unmöglich eigentlich. Schließlich standen zwei weitere Lehmmänner bereit, einzugreifen, aber weder Gillok noch Syriakin dachten auch nur eine Sekunde daran, sich zu ergeben.
Als das Bein des kleineren Mannes Gilloks Hüfte traf, hielt der das Bein fest, doch sein Gegner sprang hoch, schlang dabei den Arm um Gilloks Kopf und drückte ihn hinunter. Der Sumpfmann ließ das Bein los und krachte zu Boden, weil der andere ihm das Knie ins Gesicht rammte.
Syriakin schien einen Moment innezuhalten. Adiv sah, wie Sorge über ihre Züge wischte, dicht gefolgt von kalter Wut. Ihre Finger fuhren an ihren Gürtel und schneller als Adiv zwinkern konnte, lagen die Messer in ihren Händen.
Sie wusste nicht, woher Syriakin ihre Reserven nahm. In ihrer Kleidung verbargen sich Dutzende tödliche Gegenstände. Widerhaken, Steine, Stacheln, Schleudern, giftige Pulver, Zähne, Blashalme. Die Sumpffrau schien alles, was sie auf ihren Wanderungen aufsammelte, in eine Waffe verwandeln zu können. Ein weiteres Arsenal winziger Kriegswerkzeuge steckte unter Handreifen, Armriemen, Handschuhen, den Sohlen ihrer Stiefel. Die weitaus wichtigste Waffe jedoch lagerte irgendwo in ihrem Inneren. Willenskraft. Ausdauer. Ein See aus Zorn, Schmerz und Hass, aufgestaut ein Leben lang. Pure Energie. Ihre persönliche Form von Magie. Der See setzte Kräfte frei, trieb sie an. Aus ihm schöpfte sie und sie kämpfte, wie nur sie kämpfen konnte: verbissen, trotzig, ohne Rücksicht auf die eigene Versehrtheit, Erschöpfung und Schmerz ausblendend.
Adiv fühlte sich in den Tanzsaal zurückversetzt, zu jenem verrückten Zweikampf. Syra war ihr schnell vorgekommen, schnell und unbesiegbar, doch hier, im düsteren Bauch des Gebirges, lernte die Kriegerin eine schmerzhafte Lektion in Sachen Schnelligkeit und Kampfkunst. Die beiden Männer und die Frau wirbelten durch die Luft, schnellten geduckt vom Boden herauf, kreiselten um sie. Sie schlugen Salti aus dem Stand heraus, brachten sich mit Rückwärtsrollen auf Abstand, drehten ihre Leiber um die eigene Längsachse. Alles wirkte unangestrengt, als wären ihre Körper federleicht.
Plötzlich flogen Syras Messer weg, zur Seite geschlagen wie durch Zauberhand. Sie fand keine Zeit, nach ihren verborgenen Waffen zu greifen, da Schläge, Hiebe und Tritte auf sie niedergingen wie der Eishagel auf Drahórsul.
Sie wehrte sich noch, als der kleinere Mann und die Frau begannen, sie festzuhalten, zerrte sich los, floh zurück an die Wand, griff wieder an. Adiv sah, wie ihr Kopf sich nach hinten neigte, ihr Oberkörper sich eindrehte, ihr rechter Arm sich hob; wie ihr gesamter Körper sich bereit machte für einen weiteren Schlag.
Der größere der Männer sah die Bewegung ebenso und reagierte in dem Sekundenbruchteil, in dem ihre linke Gesichtshälfte ihm zugewandt und ungeschützt war. Ein Faustschlag, präzise und gewaltig wie der Schmiedehammer Jonoys, landete seitlich an ihrem Kinn, schleuderte sie aus dem Gleichgewicht. Sofort waren die anderen beiden hinter ihr, schraubten sich um ihre Arme, richteten sie auf. Ein Aufwärtshaken in ihre Magengrube, direkt unterhalb ihres Brustkorbes, beendete den Kampf. Sie fiel zu Boden wie ein Stein.
Der große Mann und die Frau griffen nach Syriakins Beinen und schleiften sie hinter sich her wie ein Bündel Lumpen. Die verbliebenen drei Lehmmänner benutzten die Schnüre, die sie als Gürtel trugen, um Gillok, Nou und Adiv die Hände auf den Rücken zu fesseln. Dann spürte Adiv, wie ihr Oberhemd ihr von hinten über den Kopf gestülpt wurde und sie grob den Gang hinunter gestoßen wurde, um so viele Biegungen herum, dass sie die Orientierung verlor. Den toten Tänzer ließen sie zurück.

Frier Bland hielt das in Schweinsleder gebundene Buch dicht an die Augen, seufzte, kramte in der Tasche seines kuttenartigen Hemdes und zog einen Lesestein hervor, das Geschenk eines Pranter Edelsteinschleifers. Er legte den Beryll auf die aufgeschlagene Seite des Bändchens und trat näher an die Kerzen auf dem Schreibtisch heran.
„Ihr solltet eine Tranlampe benutzen. Sie leuchtet heller. Je mehr Licht sich in der Mitte des Steines sammelt, desto besser seine Wirkung.“
„Ihr könnt nicht anders, als immer zu belehren“, stellte der Bibliothekar fest, ohne sich umzudrehen.
„Und Ihr seid beneidenswert gleichmütig.“ Ylaiy trat über die Schwelle in das behagliche Arbeitszimmer seines ehemaligen Studienmeisters. „Ich hätte vor Schreck alles fallenlassen.“
„Mein Gehör ist seit drei Jahrzehnten nicht mehr das beste. Schüler und Wachen machen sich ein Vergnügen daraus, sich anzuschleichen und mich aufzuschrecken. Ich habe mich daran gewöhnt. Außerdem verhindern brüchige Gelenke schreckhafte Bewegungen. - Seht Euch dieses winzige Format an.“ Bland hielt Ylaiy das Buch unter die Nase. „Weniger als halb so groß wie ein Foliant. Typisch Prant. Sie bilden sich ein, ihre Neuerungen wären Fortschritt, dabei machen sie das Leben beschwerlicher.“
„Nur, wenn man blind ist wie ein Maulwurf. Dafür haben sie Gegenmittel entwickelt. Lesesteine, Lupen, sogar Linsen für Kurzsichtige. Und dieses Büchlein enthält mehr Seiten als die Folianten. Papierbögen?“
„Hmm“, brummelte der Greis. „Eingeführt aus Staleph. In einer Bergprovinz stellen sie es aus weißer Baumrinde her.“
„Insipia. In einigen Gegenden wird ihm magische Eigenschaften nachgesagt.“
Bland schnaubte. „Magie allerorts neuerdings.“
„Nicht neuerdings. Wir nehmen sie nur erst jetzt wahr.“
„Das, was auf diesem Papier steht, ist die Mühe der Herstellung nicht wert. Belangloses Zeug. Steuereinnahmen und Ausgaben. Ein Haushaltsbuch. Welche Verschwendung.“ Verächtlich warf er Buch und Lesestein auf den Tisch.
Ylaiy klopfte dem Alten auf den Rücken. „Nicht doch. Alles kann wichtig sein. Auch so erfahren wir von unseren Vorfahren und unsere Nachfahren über uns. Wusstet Ihr, dass auf den Speichern Teppiche und Kissenbezüge lagern, auf denen etwas geschrieben steht?“
Sofort horchte Bland auf. „Interessantes?“
„Das müsste man studieren und kopieren. Eine Arbeit für die nächsten Jahrzehnte vermutlich.“
„Für meinen Nachfolger.“ Mithilfe eines Gehstockes ließ sich der Alte in einem Sessel nieder. „Ich schaffe es nicht mehr auf irgendwelche Speicher.“ In seiner Miene stand Bedauern, weniger wegen des körperlichen Verfalls, wie Ylaiy wusste, vielmehr wegen der entgangenen wissenschaftlichen Herausforderung.
Frier Bland musterte seinen ehemaligen Schützling ausgiebig. „Seid Ihr über die Speicher gekommen?“
„Erstaunlich, wie viele geheime Winkel der Palast besitzt. Sila kennt sie alle.“
„Eure Zofe?“
„Tituliert sie nicht so herablassend. Das hat sie nicht verdient.“
„Wartet sie draußen? Wie damals?“
„Da hattet Ihr ihr befohlen, draußen zu bleiben. Sie beobachtet die Keller. Wir gelangten ungehindert in den Palast, aber man weiß ja nie.“
„Scheint, als müsste Opal Deniirt die Wachen neu schulen.“
„Oh, er lässt alle Zugänge bewachen, sogar auf den Dächern. Nur schieben die Posten Doppelschichten, weil ihre Kameraden nach Fedaj und Vanstetten unterwegs sind und die Perther Seuche unter Kontrolle bringen. Außerdem gibt es so viele Geheimgänge um die offiziellen Geheimgänge herum, dass sie unmöglich an allen Stellen gleichzeitig sein können.“
„Wann seid Ihr angekommen?“
„Vor einigen Tagen. Wir hausen unter Ranas Dach. Vier Leute in einer Dienstbotenwohnung. Rana und Talin gehen nach draußen, versorgen uns, beobachten verdächtige Bewegungen. Sila und mir fällt allmählich die Decke auf den Kopf.“
„Dennoch wirkt Ihr nicht besonders angespannt. Gefällt Euch das Leben mit Frau und Kind?“ Blands milchige Augen bohrten sich in Ylaiys.
„Das Zusammensein mit Sila ist schwierig“, gab Ylaiy zu. „Manchmal ist es fast wie früher. Wir versuchen, miteinander zu reden, wenn Rana nicht dabei ist, was oft im Streit endet. Meist schweigen wir uns an. Aber Talin ist wie ein Wunder.“ Ylaiys Gesicht hellte sich auf. „Er ist so ... vollkommen. Lieb und ruhig. Lacht viel. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn gezeugt habe.“
„Ich hoffe, Ihr empfindet dasselbe für Euer legitimes Kind.“
Ylaiy blitzte seinen Mentor an. „Es sind beides meine Kinder. Weshalb sollte ich nicht?“
Bland starrte zurück, wechselte dann das Thema. „Wo wart Ihr? Die Kaiserin und der Rat beginnen, Fragen zu stellen. Euer Schwager löchert Eure Gemahlin, fragte sogar mich aus. Offenbar gibt es widersprüchliche Aussagen über Euren Verbleib. Ich nehme an, das geschah mit Absicht. Täuschungen über Täuschungen.“
Ylaiy fuhr sich über den kurz geschorenen Schopf. „Ich war in Perth, bei meinen Gefährten. Wir haben viel diskutiert, gestritten, geplant.“
Ohne Abschweifungen oder überflüssige Worte setzte Ylaiy den Alten in Kenntnis über die Geschehnisse, seufzte am Ende und fuhrwerkte erneut durch sein Haar. „Letztlich haben wir fast nur Vermutungen. Vei kann überall sein und nirgends. Seine Anhänger wissen möglicherweise über unsere Schritte Bescheid und lassen uns im Dunkeln zappeln, oder sie sind längst über alle Berge. Ich kann nur hoffen, dass niemand weiß, dass ich wieder hier bin. So kann ich in Ruhe beobachten und Fragen stellen.“
„Welche Fragen?“
„Hat sich irgendetwas verändert seit meinem Weggang?“
„Zum Beispiel?“
„Verdächtige Truppenbewegungen. Personen, die nach mir den Hof verließen, unübliche Befehle, außergewöhnliche Vorkommnisse. Alles, was Euch seltsam erscheint.“
Bland dachte nach, beide Hände auf den Stock gestützt. „Ich schenke militärischen Angelegenheiten nur wenig Aufmerksamkeit, aber ich glaube nicht, dass Deniirt etwas Ungewöhnliches befohlen hat. Verstärkte Wachsamkeit seit dem Vorfall mit Eurer Tante. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden beibehalten. Den Hof verlassen haben viele Menschen, doch niemand, der Alarmglocken klingeln lässt. Selbst Hohe Herren und Damen suchen bisweilen die Stadt auf. Euer Schwiegervater inspiziert die Stadtkerker, manchmal auch Euer Schwager.“
Ylaiy lachte. „Der trifft sich gern mit Bekannten in verrufenen Schenken. Die Inspektionen sind nur ein Vorwand.“
Bland verzog den Mund. „Eure Mutter lässt täglich den Rat einberufen, aber bislang gab es nicht Neues im Fall Ysaidire. Eine öffentliche Bekanntmachung wurde formuliert und ausgerufen, Staatstrauer angeordnet. Die Flaggen hängen auf halbmast.“
„Wer nimmt am Rat teil?“
„Die üblichen Mitglieder. Deniirt, Ces Wire, der die Kaiserliche Flotte aufbaut, um den Weg nach Drahórsul schiffbar zu machen, Schatzmeister Damalles, Euer Schwiegervater, Euer Schwager, Daví. Alle vier Botschafter: tan Dogen, Fracessi, Buzghan und Daví in seiner Doppelfunktion für Prant. Ich selbst.“
„Besondere Angelegenheiten?“
Bland spitzte die Lippen. „Ihr kennt sie. Sie reden am liebsten von ihren Aufgaben, beschweren sich über zu viel Arbeit, zu wenig Zeit, zu wenig Angestellte. Deniirt und Buzghan streiten über die Boragha. Der Oberbefehlshaber fährt die harte Linie wie sein Vorgänger, Buzghan sorgt sich um ihre Leute und die Bergdörfer Kaadaas. Sie ist eine Einheimische, eine von höchstens dreihundert. Harun Damalles jammert über die Summen, welche Flotte und Reformen verschlingen, dabei erzählen seine Buchhalter hinter seinem Rücken anderes. Pien Daví schwärmt von seiner neuen Kartentechnik. Er will Karten der Eisinsel in Stempel gießen, stellt Euch das vor! Als Botschafter sollten die Pocken auf Prant ihm Sorgen machen, aber seine Anwesen liegen weit außerhalb Perths, die gewinnbringenden Güter auf Yruish und Staleph. Der Mann hat mehr Privatvermögen als Damalles in seinem Kontor. Tan Dogen und Fracessi schweigen und tauschen begehrliche Blicke aus, verschwinden sofort nach den Besprechungen.“
Ylaiy merkte auf. „Wohin?“
„In irgendein Liebesnest?“, mutmaßte Bland. „Fracessis Gemahl ist ein besseres Anhängsel ohne sinnvolle Beschäftigung. Auch Dogens Frau erwartet ihn in ihrem Heim. Die Ratstreffen sind eine günstige Gelegenheit. Wobei ich mich frage, was eine scharfsinnige Frau wie Iniéz Fracessi an diesem minderbemittelten Angeber findet.“
„Er ist gut bestückt“, erwiderte Ylaiy trocken. „Das weiß ich von Theou, der hin und wieder die Heißbäder mit ihm aufsucht.“
„Euer Schwager würde einen anständigen Spitzel abgeben“, meinte Bland mit säuerlicher Miene. „Ein Talent für Menschen kann man ihm nicht absprechen.“
„Er erzählte mir auch, dass Fracessi nicht gerade zimperlich in der Wahl ihrer Liebschaften sei. Zu ihren Eroberungen zählen im Übrigen nicht nur Männer. Theou wirkte sehr angetan von ihr, obwohl sie fast doppelt so alt ist wie er.“
„Tan Sayan und sein Sohn sind die einzigen, die ernsthaft über den Tod Eurer Tante nachdenken und über die seltsamen Vorkommnisse“, fuhr Bland, sichtlich angeekelt, fort. „Die Leichenfunde zum Beispiel oder die verschwundenen Offiziere. Soll ich von Euren Erkenntnissen berichten?“
Ylaiy strich sich über das unrasierte Kinn. „Nein, gebt mir noch ein paar Tage. Ich muss sichergehen, wem ich trauen kann. Dafür brauche ich Eure Hilfe. Ich muss zu Paíre und zur Kaiserin gelangen. Könnt Ihr eine Nachricht übergeben?“
„Sicher. Die Dran’a sehe ich bei der morgigen Zusammenkunft des Rates. Eure Gemahlin und ich führen unsere Forschungen weiter. Sie steigt immer noch alle paar Tage hier herunter.“
„Ihr lasst sie hier unten sitzen?“
„Nein, ich leihe ihr aus, was sie haben möchte. Zwei Lakaien begleiten sie, tragen die Schriften.“
„Mir habt Ihr in all den Jahren nie erlaubt, Werke aus den hinteren Räumen mitzunehmen.“
„Sie ist hochschwanger.“
„Sie hat Euch beeindruckt.“ Ylaiy grinste.
„Wissensdurst, schnelle Auffassung, phänomenales Gedächtnis“, gab der Alte zu. „Sie ist wie Ihr.“
„Habt Ihr weitere Erkenntnisse gewonnen?“
„Nur ein paar geschichtliche. Eure Gemahlin arbeitet zusätzlich an ihren Blutlinien. Studiert Kalendarien, Geburtsregister, Volkszählungslisten, Stammbäume.“
„Sie möchte Adiv besuchen, sobald sie dazu in der Lage ist. Sie und die anderen nach ihrer Herkunft befragen. Doch was sind Eure geschichtlichen Erkenntnisse?“
Bland seufzte, rappelte sich vom Sessel hoch, hinkte zu einer Kommode im hintersten Winkel der Stube und zog eine Schublade hervor. Ihr entnahm er einen in ein Tuch eingeschlagenen Gegenstand von der Größe eines Folianten, den er auf seine Armbeuge legte wie ein Vater seinen neugeborenen Sohn. Es klapperte leise, als er behutsam das Tuch entfernte und über die Vorderseite strich, bevor er Ylaiy das Objekt hinhielt.
„Ein Codex?“
„Nicht aus Pergament wie die üblichen. Wachstafeln, umrahmt von Elfenbein, geheftet mit Silberringen.“
„Viel Aufwand für eine Schreibunterlage.“
„Prachtvoll, in der Tat, nicht zu vergleichen mit dem Haushaltsbüchlein da. Seht her! Hier in der Mitte befindet sich ein Querrahmen mit Siegelwachs. Damit konnte der Codex verschlossen werden. Der Deckel ist reliefartig, mit kunstvollen Schnitzereien versehen.“
„Wo habt Ihr ihn gefunden?“
„Ein Geschenk Eurer Gattin.“
„Er gehört Paíre?“
„Offenbar forscht sie bereits seit einiger Zeit nach einem Gelehrten, der als Erzieher in Diensten Hoher Häuser stand.“
„Sie sucht Adivs Vater. Scheint, als schmiede Paíre Nägel mit Köpfen.“
„Welche Überlegungen sie im Einzelnen zu dem Codex geführt haben, muss sie Euch selbst berichten. Ich weiß, dass sie die Beziehungen hier bei Hofe nutzt. Sie besucht Hohe Damen, spaziert durch die Parkanlagen, lädt zum Tee, erzählt von ihrer neuen Leidenschaft: dem Lesen und Forschen. Sie hatte Glück. Eine Dame erinnerte sich an einen Lehrer, der sie in ihrer Kindheit unterrichtete. Er benutzte den Codex für seine Notizen. Sie mochte den Lehrer, doch er verschwand eines Tages. Sie behielt die Tafeln als Erinnerung und weil der Codex ihr gefiel, bewahrte Liebespfänder und ähnliche Sentimentalitäten darin auf.“ Bei den letzten Worten rümpfte Bland die Nase.
„So stammen die Aufzeichnungen von dem Lehrer selbst?“, fragte Ylaiy, plötzlich sehr aufgeregt. „Von Adivs Vater?“
„Es liegt zumindest im Bereich des Möglichen.“
„Habt Ihr ihn untersucht?“
„Selbstverständlich. Der Codex ist kostbar, sicher ein Erbstück. Das Relief auf dem Deckel enthält Szenen aus den frühen Kriegen, glaube ich.“
Frier Bland wischte die Tischoberfläche mit einem weiteren Tuch ab, bevor er den Codex darauf ablegte wie ein rohes Ei.
Ylaiy trat neben seinen Mentor und studierte die Schnitzereien. „Kampfszenen, eindeutig. Habt Ihr die Rüstungen zuordnen können?“
„Vorelboische Zeit. Dürftige Leinenpanzer und Lederriemen um Kopf, Hals, Handgelenke, Handflächen und Oberarme. Nur die Anführer, doppelt so groß dargestellt wie die einfachen Kämpfer, tragen ein Lederwams mit Unterleibsschürze. Die Helme dürften kaum mehr sein als lederummantelte Filzkappen. Hölzerne Waffen. Stöcke, Gabeln, Speere mit Steinspitzen.“
„Kein Metall?“
„Nicht, so weit ich erkennen kann. Keine Bogen, keine Schleudern. Das datiert es in die frühesten Kriege. Die älteste Darstellung, die ich kenne. Viele Einzelheiten warten noch auf ihre Erforschung. Interessant sind zum Beispiel diese verschwommenen Linien, seht Ihr? Sie kommen aus den Fingern der Anführer.“
„Haltet mich für verrückt, aber das könnte eine vereinfachte Darstellung von Zaubern sein.“ Ylaiy beugte sich weiter über den Tisch. „Habt Ihr die Schlacht lokalisiert?“
„Im Hintergrund sieht man schroffe Bergspitzen. Ich tippe auf Kaadaa. Gebirge dieser Größe findet man nur dort. Die Himmelsberge, würde ich sagen. Passt in die Zeit und zum Inhalt des Codex.“
„Ist er noch lesbar?“ Eifrig langte Ylaiy nach der ersten Tafel, aber Bland schlug ihm auf die Finger und reichte ihm das Tuch, das der Prinz um seine Hand schlang, bevor er das Elfenbein berührte.
„Ich habe noch nicht alles entziffert, nur die oberste Schicht. Makelloses Yr, vermutlich die Aufzeichnungen des Lehrers, nur wenige Jahrzehnte alt. Das darunter ist natürlich älter. Ab und an haben sich die Liebespfänder in die Texte gedrückt, aber das Meiste könnt Ihr lesen.“
„Kaadaa ist der Anbeginn der Zeiten“, las Ylaiy halblaut. „Kaadaa - die Meergeborene. Die Mutter aller Inseln. Von den Göttern selbst aus den Fluten gehoben. Die Insel mit dem Herz aus Magie: K’yr. Das passt zu Euren neuen Hypothesen. Nicht Yruish ist der Nabel der Welt, Kaadaa ist es. Das wird den Hohen Familien nicht gefallen.“
„Eure Zauberei kommt auch vor“, sagte Bland knurrig. „Offenbar ist Kaadaa der Hort der Magie.“
„K’yr“, murmelte Ylaiy nachdenklich. „Ich war dort. Veis Hauptquartier, wenn er die Grenzposten inspizierte. Mir ist nichts Magisches aufgefallen.“
„Weil es abergläubischer Mumpitz ist!“
Ylaiy schielte auf seinen Lehrmeister. „Ihr seid unbelehrbar. Öffnet Euren Geist!“
„Dafür bin ich zu alt. Aber hier, blättert weiter. Zwischen den Notizen finden sich Krakeleien. Technische Apparate, obskure Erfindungen, feuerspeiende Berge, ein Obelisk, der Schwarze Felsen, eine Art Schlund.“
„Dann hat wirklich Adivs Vater auf diese Tafeln geschrieben“, sagte Ylaiy atemlos. „Ich muss ihr davon berichten.“
„Wo sind Eure Gefährten jetzt?“, fragte Bland.
„Es ist sicherer, wenn Ihr das nicht wisst.“
„Traut Ihr mir auch nicht?“
„Dann wäre ich nicht hier, während Sila die Gewölbe auskundschaftet. Wir sollten uns beeilen, sie ist nicht die geduldigste Frau auf der Welt.“
„Adivs Vater - oder einer seiner Vorfahren, denn der Codex ist mit Sicherheit seit ewigen Zeiten im Besitz seiner Familie - erwähnt eine Reihe fremdartiger Begriffe, am häufigsten das Wort Maji.“
„Magie?“
„Denke ich auch. Am interessantesten ist eine Textpassage auf der vorletzten Tafel.“
Vorsichtig schlug Ylaiy die starren Seiten um. „Infizierte krochen unter die Erde wie Würmer, an die Quelle heran. Chausselles. Abhängig, nimmersatt, maßlos. Sie beschützen die Quelle vor Menschen und Menschen vor der Quelle, weil Maji den Tod bringt. Vor allem aber wollen sie Zugang zu ihr.“
Beide schwiegen, bis Bland auf die Zeichnung unter dem Text wies. „Skelette, seht Ihr?“
„Ich weiß nicht. In Wachs gekritzelt sehen Skizzen aus wie die Abdrücke von Hühnerfüßen. Magie tötet also. Der Norogdún sah auch nicht besonders gesund aus. Sie greift ihre Träger an.“
„Nicht gut für die Kinder“, erwiderte Bland langsam.
Ylaiy kratzte sich am Hals. „Sie wachsen rasant und altern schneller. Der Einfluss der Magie? Ich möchte diesen Gedanken nicht zu Ende denken.“
„Das habt Ihr längst.“
„Meine Gefährten genauso, doch sie scheuen sich, darüber zu reden. Alle haben den Blaukopf vor Augen.“
Chausselles“, lenkte Bland das Gespräch in eine andere Richtung. „Ich habe jedes bekannte Wörterbuch gewälzt. Bei den Frâgg heißt Shey’sil tatsächlich Wurm. Chausel könnte eine Vorform sein.“
Ylaiy blies die Wangen auf. „Ein verballhorntes Frâgg-Wort in den Notizen eines Mannes, der sich mit Magie, magischen Geschöpfen, der Entstehung der Welt und Etappen unserer Reise beschäftigte. Der Karten Drahórsuls besaß, noch bevor das Reich die Insel entdeckte. Das wird den Sumpfleuten zu denken geben. Mir auch.“

Als Syriakin wieder zu sich kam, waren Haut und Kleidung getrocknet und die Kälte längst aus dem Mauerwerk gekrochen, um sich in ihren Körpern einzunisten.
„Wie geht es dir?“, flüsterte Gillok. Er sprach verschnupft. Blutbröckchen klebten unter seiner Nase und auf dem Kinn. Der Nasenrücken war eingesunken und verfärbt.
Die Kriegerin richtete sich mit unstetem Blick auf und spähte in die Zelle. Ihre Augen huschten über das Fackellicht, die nackten Wände und den mit Stroh bedeckten Boden.
„Massives Eisen“, erklärte Gillok, nachdem Syriakin an der Fessel gerüttelt hatte, die ihr Bein umspannte. „Beweg dich nicht zu viel. Das Eisen ist schartig.“
Statt einer Antwort rollte sie sich auf die Seite und erbrach sich, blieb noch einige Sekunden liegen. Schließlich raffte sie sich in eine halb sitzende Haltung auf, warf Stroh auf die stinkende Pfütze, wischte sich den Mund ab und tastete nach ihrem geschwollenen Kiefer.
„Ist er gebrochen?“, fragte Adiv.
„Ich glaube nicht“, antwortete Syriakin undeutlicher als sonst und bewegte ihren Unterkiefer hin und her.
„Dein Schädel ist wirklich aus Eisen. Der Kerl hat ordentlich zugeschlagen. Ich habe es knacken hören.“
„Wo sind wir?“
„Kerker an der Südostseite. Glaube ich.“
„Eher eine Folterkammer“, sagte Gillok düster und wies auf mehrere in die Wand eingelassene Ringe und Haken, an denen rostige Ketten in unterschiedlicher Länge und Dicke hingen. Außerdem gab es Ösen an der niedrigen Decke, einen lang gestreckten, schmalen Tisch mit Hand- und Fußfesseln und ein Gestell mit einem Sammelsurium spitzer Gegenstände, angefangen von Nieten und Nägeln bis hin zu Lanzen und Speeren.
Die Augen der Kriegerin verengten sich.
„Gefangene werden nicht gefoltert“, entgegnete Adiv.
„Akim und Jonoy hat man in Bottiche gesteckt. Die Fliegen sollten sie bei lebendigem Leib auffressen. Wie nennst du das?“, fragte Gillok.
„Öffentliche Bestrafung. Unterirdische Folterkammern sind mir neu.“
„Und doch sind wir hier.“ Syriakins Finger drückten auf dem lädierten Kiefer herum, justierten gelockerte Zähne. „Im Spielzimmer der Wärter.“
Adiv und Nou sahen sie schockiert an. Gillok räusperte sich ungehalten. Die Kriegerin begegnete allen Blicken mit stummem Groll.
„Seid ihr verletzt?“, erkundigte sie sich nach einem Moment des Schweigens.
„Es hält sich in Grenzen“, antwortete Adiv. „Angesichts ihrer Kampfkünste haben sie schonend ausgeteilt. Blutergüsse, Muskelzerrungen, angeknackste Gelenke, Prellungen, mehr nicht. In den nächsten Tagen werden wir die Schmerzen deutlicher spüren. Ich auf jeden Fall.“ Vorsichtig bewegte sie ihren Kopf.
„Was ist mit deiner Nase?“, fragte Syriakin Gillok.
„Gebrochen. Ich habe versucht, sie zu richten. Ob mir das im Dunkeln und ohne Hilfe gelungen ist, wird die Zukunft zeigen. Was ist mit dir? Hast du Blut erbrochen?“
Sie schüttelte den Kopf und Gillok atmete erleichtert aus.
„Sie wollten uns nicht töten, nur aufhalten.“ Kanouepe sah die drei der Reihe nach an. „Ich habe noch nie einen solchen Kampfstil gesehen. So schnell und … leicht.“
„Die Tritte und Schläge sind alles andere als leicht“, stieß Gillok hervor. „Wenn sie richtig treffen, sind sie tödlich.“
Adiv nickte. „Der Tritt, der Nou ausschaltete, hätte die Rippen brechen können. Innere Organe verletzen. Hätte die Frau sein Herz getroffen, wäre er jetzt tot. Doch sie hat die Bewegung im letzten Augenblick abgefangen.”
„Schmerzt trotzdem fürchterlich“, murmelte der Frâgg, sich die Seite haltend. „Ich hab ihn gar nicht richtig kommen sehen, so schnell war sie. In einer Sekunde kauert sie am Boden, in der nächsten kommt ihr Fuß auf mich zugeschwungen wie eine Axt.“
„Kampf, verborgen im Tanz“, sagte Syriakin, mehr zu sich selbst.
„Maskierte Schläge“, stimmte Adiv zu. „Höchst effektiv.“
Nachdenklich massierte die Sumpffrau ihr Kinn. „Glaubst du, es sind dieselben, die dich und Jonoy attackiert haben?“
„Ja“, antwortete Adiv, ohne nachzudenken. „Damals trugen sie Kleidung, aber ganz sicher waren das die Graugewandeten. Sie ist vermutlich die Frau, von der Jonoy sprach. Schien eine Anführerin zu sein, genauso wie der Große. Wer zum Teufel sind sie?“
„Veis Verbündete“, gab Gillok zur Antwort. „Abgestellt, um uns abzufangen. Mission geglückt. Vei wird wahrscheinlich jeden Moment hier auftauchen. Irgendwelche Vorschläge, was wir jetzt machen?“
Der Sumpfmann sah alle der Reihe nach an, verharrte bei Syra.
„Wie lange sind wir schon hier?“, fragte diese.
„Etwa eine Stunde“, antwortete Adiv.
„Und wie lange unter der Erde?“
„Die dreifache Zeit. Ungefähr. Schwer zu sagen.“
Die Kriegerin blickte sich in der Zelle um, rüttelte an den Ketten, ließ sich ins Stroh zurückfallen, kramte in ihren Taschen nach einem Gegenstand, der spitz und massiv genug war, die Scharniere der Fußfesseln aufzustemmen. Sie fand einen eisernen Haken, den sie Adiv zuwarf und einen Alligatorenzahn, den sie unter das Scharnier schob.
Gillok beobachtete sie nachdenklich. „Woher wussten sie, dass wir kommen?“
Syriakin und Adiv hielten in ihren Bemühungen inne.
„Wie konnten sie die Boragha verlassen? Woher wussten sie, dass wir kommen würden? Sie haben auf uns gewartet. Niemand war in unser Vorhaben eingeweiht. Woher kannten sie den geheimen Fluchtweg? Adiv hat ihn nie verraten. Ylaiy hat einen falschen Tunnel zuschütten lassen. Woher wussten sie, wo sie warten mussten?“
„Sie haben ihn überwacht. Das tun sie seit Ewigkeiten“, sagte eine fremde Stimme.

Durch die mannshohen Vorhänge betrachtete er die über ein Pajut-Brett gebeugte Frau. Sie hatte das sechste Lebensjahrzehnt überschritten, aber sie wirkte noch imposant genug, um ihr Volk an sie glauben zu lassen. Die Menschen schätzten ihr strenges Reglement und fürchteten ihre Urteile. Sie strahlte Macht aus, auch wenn ihre markanten Züge allmählich erschlafften, Mundwinkel, Wangen und Kinn nach unten sackten, Altersflecken auf Händen und Armen erblühten, ein heimtückisches Zittern sie überfiel. Ylaive y’le Yrvois hatte nie als Schönheit gegolten, anders als ihre sehr viel jüngere Schwester. Ihr Haar hatte sich bereits in Ylaiys Kindheit grau gefärbt, tief liegende Augen und strichdünne Lippen verstärkten ihre ernsthafte Ausstrahlung. Selten streifte ein Lächeln ihr Antlitz. Dennoch oder gerade deshalb wirkten die Menschen beeindruckt, wenn sie auf ihre Kaiserin trafen. Ihr aufrechter Gang verhieß Stärke, ihr stechender Blick Unbeugsamkeit, das kunstvoll aufgesteckte silberweiße Haar Würde.
Sie sah auf, als sie das Rascheln der Vorhänge vernahm, rutschte augenblicklich an die Kante des Stuhls und streckte ihren Oberkörper steif in die Höhe.
„Setzt Euch wieder bequemer hin, Mutter. Wir sind unter uns. Ich habe alle Verstecke sorgfältig kontrolliert.“
„Bland sagte, du drängst auf ein Treffen“, gab sie unbewegt zurück. „Wohlan! Ich wähnte dich auf dem Weg nach Fedaj oder Vanstetten, doch wie man hört, handelst du wider deine eigene Anordnung.“ Ein fragender Unterton mischte sich in ihre angenehme, in Redekunst geschulte Stimme.
„Der Palast hat ein Leck. Ich wusste nicht, wem ich noch trauen konnte, deshalb die List. Ich hoffe, ich habe etwaige Verfolger abgeschüttelt.“
„Du willst die Verräter finden? Bland hat mich bereits auf den neuesten Stand gebracht. Vei steckt mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter Ysaidires Tod und weiteren Anschlägen, plant zusätzliche.“
Ylaiy nickte und nahm ihr gegenüber Platz. „Spielt Ihr allein? Gegen Euch selbst?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Seit mein Gemahl inhaftiert wurde, gibt es keinen wirklichen Gegner mehr. Meine Schwiegertochter spielt ganz anständig, aber ihr fehlt Veis Raffinesse. Tan Sayan hat das nötige Kalkül, dagegen wenig Interesse. Wie Bland steht er sinnlosem Zeitvertreib ablehnend gegenüber. Dabei ist Pajut eine ausgezeichnete Übung in Strategie und Taktik, komplex, variantenreich. Es fordert den Geist heraus, zwingt zur Konzentration und beruhigt. Jeder höhere Offizier sollte es beherrschen. Spielst du es noch?“
„Kaum.“
„Du warst sehr gut darin, schon als Knabe. Ahntest Züge im Voraus, hast Finten gelegt, scheinbar verlorene lokale Stellungen später in entscheidende Züge eingebunden. Erinnerst du dich an unsere Spiele?“
Ihr Blick war noch immer stechend, aber ihre eisgrauen Augen schimmerten trüb. Die Falten um die Augenwinkel, wiewohl durch Bleiweiß und Talk kaschiert, waren unübersehbar.
„Vage“, gab er zu. „Wir spielten nicht oft, oder?“
Langsam sank sie in den Sessel zurück. „Nein.“
„Eure Geschäfte ließen es nicht zu.“
„Mehr noch die Tatsache, dass Familienleben und Mutterdinge mir nicht lagen. Man erzog mich zum Regieren, nicht zur Aufzucht von Kindern.“
„Dafür gibt es schließlich Ammen und Lehrmeister“, versetzte Ylaiy bitter.
„Rana war dir mehr Mutter als ich. Sie war noch so jung, aber sie machte ihre Sache so viel besser als ich, zögerte nie. Sie rettete dein Leben, als du ein Säugling warst, und ich maßregelte sie! Ließ sie öffentlich bestrafen.“
„Sie ist eine tapfere Frau. Die Leute unterschätzen sie.“
„Ich wusste einfach nicht, wie mit dir umgehen“, brach es überraschend aus der Kaiserin heraus. „Mit deiner Schwester war es genauso. Die Kundigen legten euch mir an die Brust. Ich wusste kaum, wie mir geschah. Ihr habt geschrien, beide, immer wieder, und ich wusste nicht, weshalb. Was tun. Ich fürchtete, etwas falsch zu machen, euch zu beschädigen. Fühlst du keine Furcht?“
„Vor meinen Kindern? Nein. Sorge vielleicht. Sie falsch zu erziehen, nicht für sie da zu sein. Schuld, weil ich Talin wegschickte. Ich habe keine Angst davor, Fehler zu machen. Wir sind alle nur Menschen. Auch Ihr.“
„Nein. Ich war die Tochter des Kaisers. Zukünftige Dran’a.“ Die Kaiserin verlor an Körperspannung. Ihr Blick schwenkte in den Raum, vorbei an Ylaiy. „Ich durfte keine Fehler machen. Niemals. Ich musste vollkommen sein, seit dem Tag meiner Geburt. Fehler wurden bestraft, von meinen Eltern, meinen Lehrmeistern, meinen Ammen, meinen Erziehern. Als meine Schwester zur Welt kam, beneidete ich sie. Vom ersten Tag an. Sie durfte so viel, lebte unbeschwert. Ich lebte in einem Käfig.“
„Das tut mir leid“, erwiderte Ylaiy aufrichtig. „Ich weiß, wie sich das anfühlt.“
„Bis auf die körperliche Züchtigung. Deine Lehrmeister haben dich nie geschlagen, oder?“ Ihre Augen flackerten zurück auf ihn.
„Nein“, sagte er leise. „Erniedrigt, ja. Bestraft, ja. Aber nicht geschlagen.“
„Ich verbot es. Mein Vater glaubte, Schläge machen hart und treiben Fehler aus. Natürlich hatte er sich einen Sohn gewünscht wie alle Regenten. Seine Söhne starben, ich überlebte, so wie Ysaidire zwei Jahrzehnte später.“
„Er erzog Euch wie einen Sohn?“
„Er erzog mich zur Kaiserin. Es hatte früher schon Herrscherinnen gegeben, aber noch heute hat man es als Frau schwerer. Mein Vater hämmerte mir jeden Tag ein, dass ich doppelt so gut sein müsse, in allem. Er übernahm meine Erziehung, überwachte alles. Ysaidire kam zu unserer Mutter. Ich beneidete sie so sehr. Später hasste ich sie regelrecht.“ Sie sah ihren Sohn an. „Meine Erziehung machte mich zur vollkommenen Monarchin, aber zu einer ungenügenden Mutter. Lerne aus meinen Fehlern!“
„Ich denke, das habe ich bereits.“
Sie versteifte kurz, dann nickte sie. „Das hast du. Du hast dich sehr verändert seit dem Tag, als ich dich mit Baraten nach Fedaj sandte. Davor schon. Ich bin stolz auf dich, Ylaiy. Du wirst ein besserer Kaiser werden, als ich es war.“
„Ihr mögt als Mutter versagt haben, doch sicher nicht als Dran’a“, widersprach Ylaiy leise. „Das Volk und Euer Rat stehen hinter Euch; Ihr lenkt dies Reich seit beinahe drei Jahrzehnten.“
„Ich habe viele Fehler gemacht. Du wirst sie ausbügeln müssen.“
„Jeder Mensch macht Fehler“, wiederholte Ylaiy. „Die meisten sind verzeihlich und wiedergutzumachen.“
„Nicht die als Mutter.“
Ylaiy holte tief Luft und stieß sie schweigend wieder aus.
Ylaive lächelte verzerrt. „Weshalb kamst du zu mir? Im Übrigen bin ich erstaunt, dass du um den Tunnel hinter den Vorhängen weißt. Nur Vei und ich benutzten ihn zu Beginn unserer ... Beziehung. Wenn wir ungestört sein wollten.“
„In den letzten Tagen habe ich gelernt, dass die Palastanlage durchlöchert ist wie ein Sieb.“
„Sprichst du von Tunneln oder Spitzeln?“, fragte sie trocken. Ein Lächeln breitete sich von den Mundwinkeln her auf ihrem Gesicht aus, das Ylaiy zu seiner Überraschung wehmütig machte.
„Von beidem. Sila kennt die Anlage wie ihre Schürzentasche.“
„So ist sie zurück? Rana und Talin auch?“
„Wir halten uns versteckt. Vei ließ Vanstetten angreifen. Silas Gasteltern sind aller Wahrscheinlichkeit nach tot, ebenso die Bewacher, die ich entsandt hatte. Mithilfe des Bauernsohnes konnten sie über Umwege nach Perth fliehen.“
„Sind sie wohlauf?“, fragte die Kaiserin mit echter Anteilnahme. „Geht es Rana gut? Deinem Sohn?“
„Sie haben Schlimmes durchlebt, aber sie richten sich ein. Körperlich haben sie sich erholt.“
„Was ist mit dir und Sila?“
Ylaiy seufzte. „Ich hätte nie gedacht, wie schwer es sein würde ohne sie“, gab er schließlich zu.
„Liebst du sie?“
„Spielt das eine Rolle? Ich bin vermählt. Euer Enkel wird in Kürze geboren.“
„Talin ist auch mein Enkel.“
„Ihr habt ihn nie gesehen.“
„Das ist nicht wahr. Ich bat Rana, ihn mir zu zeigen.“
Erstaunt starrte Ylaiy die Kaiserin an. „Was?“
„Ich hielt ihn im Arm. Er sah dir sehr ähnlich.“
Ylaiy rang um etwas, das er erwidern konnte, aber ihm fiel nichts ein.
„Tag für Tag prügelt das Leben auf uns ein, Ylaiy. Manchmal finden wir die Kraft und schlagen zurück. Meist jedoch ducken wir uns, stecken die Hiebe ein, leben mit den Schmerzen, nur, um ihm am nächsten Tag wieder die Stirn zu bieten.“
„Was bei allen Göttern soll das jetzt heißen?“
„Duck dich. Steck den Hieb ein. Paíre ist deine Frau. Sie wird mit dir regieren. Dein ungeborenes Kind wird dir folgen. Du hast Glück gehabt mit ihr. Ihr versteht Euch, ihr passt zueinander.“
Ylaiy schluckte. „Ich kann Sila und Talin nicht wieder wegschicken.“
„Was wäre die Alternative? Dass du mit ihnen gehst? Den Thron aufgibst? Eine heimliche Affäre zu ihr unterhältst? Du musst auch an sie denken.“
„Himmel, das tue ich doch!“ Ylaiy stand so heftig auf, dass Pajut-Steine über den Tisch auf den Boden kullerten. „Aber ich kann nicht!“
Die Dran’a lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. „Du erinnerst mich an meine Schwester. Sie folgte auch mehr ihrem Herzen als ihrem Verstand.“
„Was ist so falsch daran?“ Ylaiy schrie beinahe.
„Sieh, wohin es sie geführt hat. An einen unwirtlichen Ort fern der Heimat, verlassen von ihrem Liebhaber, allein mit einem Kind.“
„Sie wirkte nicht unzufrieden. Selbst, als Yvain vermisst wurde, strahlte sie Lebensfreude aus. Sie und Yvain waren sich herzlich zugetan.“
„Wenn du deinem Herzen folgst, wirst du zwei andere brechen“, gab seine Mutter zu bedenken. „Viele Menschen vor den Kopf stoßen. Ein politisches Desaster auslösen. Paíre ist dabei, sich in dich zu verlieben.“
Ylaiy massierte sich die Stirn. „Ich weiß. Diese Gedanken martern mich nicht erst seit heute. Lasst uns über anderes sprechen. Ich kam eigentlich, um mich von Eurem Wohlbefinden zu überzeugen und nach Neuigkeiten zu fragen.“
„Abgesehen von den Ratssitzungen?“
„Gibt es Erkenntnisse bezüglich Eurer Schwester?“
„Was genau? Ein Bekennerschreiben? Ich dachte, Urdats Ring sei Bekenntnis genug. Dein Aufklärungstrupp ist noch nicht zurück, Boten kamen keine. Im Moment weißt du mehr als ich.“
„Vei konnte diese Sache nicht allein organisieren, so viel ist klar. Der Angriff erforderte Verbündete, genauso, wie Ysaidires Leiche in den Palast zu bringen. Bislang gehen wir davon aus, dass Vei sowohl alte Soldatenfreunde als auch Söldner rekrutiert hat. Zumindest einige von ihnen müssen sich hier aufhalten. Und sie müssen sich gut auskennen. Mit Zugängen, Zeitplänen, Örtlichkeiten und Sicherheitsmaßnahmen.“
Ylaive erbleichte. „Ein Spitzel in den oberen Rängen?“
„Dienstboten und Wachen hören und sehen viel, aber sie haben keinen Zutritt zu Sicherheitsberatungen. Es muss ein höherer Offizier oder Beamter sein. Womöglich ein Ratsmitglied: Frier Bland, Remond tan Sayan, Pien Daví, Ces Wire, Harun Damalles, Opal Deniirt, Arala Buzghan, Iniéz Fracessi, Freg tan Dogen.“
„Diese Männer und Frauen beraten mich seit vielen Jahren. Ich vertraue ihnen. Und das ist nur der Hohe Rat. Es gibt noch andere Gremien. Im Sicherheitsrat kommen die Oberoffiziere von Palastwache, Kaiserlicher Garde, Militär, Akademie und Flotte zusammen, in anderen Heiler, Künstler, Feuerwachen. Die Stellvertreter, die Abgesandten. Die Liste ist endlos. Warum nur der Hohe Rat?“
„Weil die Angelegenheit so persönlich ist“, gab Ylaiy nach einigem Nachdenken zurück. „Man hätte sie auch einfach meucheln und verscharren können, aber man hat sie in einen Palastsaal gehängt. Vor unseren Augen.“
„Vei war ja auch nicht gerade gut auf sie zu sprechen“, murmelte die Dran’a. „Er hasste sie von Anfang an. Sie entsprach nicht seinen Vorstellungen von Zucht, Ordnung und Gehorsam. Widersprach ihm. Widersetzte sich ihm. Lachte ihn aus. Der Konflikt zwischen beiden eskalierte, als sie sich mit dem Dunkelhäutigen einließ.“
Ylaiy merkte auf. „Zojian? Ich dachte, er kam aus Staleph.“
„Das weiß ich nicht mehr.“ Ylaive rieb sich die Stirn. Ihre Finger hinterließen Streifen auf der Schminkeschicht. „Mein Gedächtnis lässt mich gern im Stich in letzter Zeit. Staleph. Ja, gut möglich. Er sah aus wie ein Berlani oder Nordsta. Zojian. So rief sie ihn. Ein Name so falsch wie der ganze Mann.“
Ylaiy beugte sich vor. „So wisst Ihr mehr über ihn?“
Die Augen seiner Mutter verengten sich. Ihre Stirn legte sich in unschöne Runzeln, während sie in ihren Erinnerungen kramte. „Er war ein Aufschneider. Ein Lebenskünstler und Tunichtgut. Ein Heiratsschwindler und Betrüger. Geschickt, schlau und betörend. Wunderschön anzuschauen, aber innen faulig wie ein madiger Apfel. Vei und ich setzten Spitzel auf ihn an, forschten nach. Wir fanden seinen wahren Namen und seine Heimat nie heraus, denn er hatte wieder und wieder seine Spuren verwischt und ein Lügennetz gestrickt, in dem er sich selbst verirrte.“
„Was geschah mit ihm? Man sagt, er verschwand einfach.“
Die Dran’a zuckte mit den Achseln. „Vei kümmerte sich um ihn.“
„Er ermordete ihn?“
„Ich befahl es.“
Ihre Worte polterten auf Ylaiy herab. „Was?“, brachte er heraus.
„Er war ein Nichts. Ein Mann ohne Herkunft, ohne Geschichte, ohne ehrliches Einkommen, ohne Leumund. Nichts, was er sagte, war wahr. Er bezauberte sie, benutzte sie, schwängerte sie, überredete sie zu einer Ehe. Am Tag ihrer Verlobung verschwand er nachts in einem Hurenhaus. Er pflegte mehrere Beziehungen zu Damen und Dirnen gleichermaßen. Ysaidire ... sie war blind vor Liebe und Verlangen. Sie verzieh ihm, nahm ihn in Schutz. Wir wissen, dass er Geheimnisse verkaufte, mit Gerüchten handelte, erpresste und manipulierte. Wir verhörten ihn, aber er taumelte von einer Lügengeschichte in die andere. Schließlich schlug Vei mir unter vier Augen vor, ihn beseitigen zu lassen. Wir dachten an den Kerker, an Ausweisung, an Verbannung, aber wir hatten nichts in der Hand. Er schon. Er wusste zu viel.“
„Also befahlt Ihr einen Mord?“
„Es war nicht der erste, den ich anordnete, und nicht der letzte. Manchmal zwingt einen das Amt, Schuld auf sich zu laden. Viel Schuld.“
Plötzlich verwandelte sie sich in eine alte Frau. Ihre Frisur schien in sich zusammenzufallen, ebenso ihr Körper. Das Silbergrau ihres Haares wurde weiß und strähnig, ihr Gesicht zur faltigen Maske. Unter dem Bleiweiß entdeckte Ylaiy Abszessnarben und gerötete Unreinheiten. Ein Zittern überfiel ihre Hände.
Er empfand Abscheu und Mitleid gleichermaßen.
„Er brachte Schimpf und Schande nicht nur über sie, sondern über uns alle. Über unser ganzes Geschlecht. Eine Geschichte wie diese hätte uns stürzen können, unsere Dynastie beendet.“
„Ein Mord bleibt ein Mord. Und dieser geschah nicht aus Angst um ein Leben.“
„Sie hasste mich dafür“, flüsterte die alte Frau. „Wir erzählten ihr, er hätte sich aus dem Staub gemacht, doch ich glaube, sie ahnte die Wahrheit. Sie schrieb mir Briefe, aber sie waren unpersönlich, kalt. Berichte einer Statthalterin, eingestreute Bemerkungen über meinen Neffen, sonst nichts. Selbst der Brief über die Entführung war adressiert an die Kaiserin, nicht die Schwester.“
„Das könnt Ihr ihr kaum verdenken“, sagte Ylaiy mit trockener Kehle.
„Nein. Ich verstehe sie. Ich habe ihr Leben zerstört, auch wenn es ein falsches war. Dann hat sie geholfen, meines zu zerstören, das ebenso falsch war. Wir sind wohl quitt.“ Sie hob den Kopf und sah Ylaiy mit einem verzerrten Lächeln an, bevor sie die Hände vor die Augen schlug.
Ylaiy hockte wie erschlagen auf dem Stuhl. Die Kaiserin weinte. Seine Mutter weinte. Das war schwerer zu ertragen als alle Offenbarungen dieses Abends.
Mühsam stemmte er sich hoch. „Ich muss nachdenken. Beobachtet den Rat für mich. Sucht nach Anzeichen, Hinweisen. Durchforstet Euer Gedächtnis nach verräterischen Äußerungen. Ich kehre bald zurück. Gehabt Euch wohl, Mutter.“
Damit verschwand er hinter dem Vorhang und ließ sie allein zurück.

Ein Zittern hatte sie erfasst. Es zuckte durch ihren Körper, versetzte ihn in Schwingungen. Ihr Kopf fühlte sich leicht an, fremd und losgelöst.
Es konnte nicht sein.
Nur langsam kam sie wieder zu sich, wandte ihr Gesicht nach oben, der Decke und dem unter Staub und Putz verborgenen Gitter zu.
Sie blinzelte, sah die Umrisse der Person, die auf dem Gitter lag.
Es konnte nicht sein.
Auch die Sumpfleute hatten die Augen zusammengekniffen, um das Zwielicht der Zelle zu durchdringen. Gillok und Nou hatten die Beine an den Körper gezogen, die Fußfessel wie eine Waffe in den Händen. Zwischen Syriakins Fingern klemmte der Zahn wie ein winziges Messer.
Es war unmöglich.
Adiv bemerkte die Kampfhaltung ihrer Gefährten und schaute auf ihre eigene Hand. Der Haken hatte sich in ihrer Handfläche verfangen, steckte in ihrem Fleisch, hineingetrieben vom Erschrecken.
„Wer seid Ihr?“, richtete Gillok das Wort an die Person auf dem Gitter.
„Etahpe werde ich genannt“, gab die Stimme zurück. „Ihr müsst verschwinden. Schnell. Die Chausselles sind auf dem Weg.“
Ein leises Quietschen setzte ein, als Schrauben gedreht wurden und Rost auf ihre Köpfe rieselte.
„Chausselles? Nennt Ihr so die Kämpfer?“, fragte Kanouepe.
„Es ist ihr Name. Sie tragen ihn seit Anbeginn der Zeiten.“ Die Stimme klang angestrengt, die Worte undeutlich. Adiv vermutete, dass es an dem Werkzeug zwischen den Lippen lag. Und daran, dass die Schrauben seit langer Zeit nicht mehr gelöst worden waren.
„Gehören sie zu Vei?“, fragte Gillok. Er warf nervöse Blicke zwischen dem Gitter und der Zellentür hin und her, als befürchte er jeden Augenblick die Rückkehr der Lehmmänner.
„Einst gehörten sie zu … uns“, keuchte die Stimme. Kurz darauf hörten die Gefangenen, wie kräftig auf das Gitter geschlagen wurde. „Heute haben sie andere Verbündete. Doch sie gehören niemandem. Gebt acht!“
Scharniere zersprangen, spröde von den Hammerschlägen. Das Gitter löste sich auf einer Seite aus der Verankerung und klapperte nach unten. Die Gefährten wandten die Köpfe ab, als Rost, Staub und Putz auf sie stoben.
Ein zerfurchtes Gesicht schob sich durch die Deckenöffnung, musterte die Gefangenen. Ein Frauengesicht, gezeichnet von Alter und einem Leben unter der Erde, mit eingefallenen Wangen, schwarzen Lippen und tief liegenden grauen Augen.
Adiv zupfte an dem Haken in ihrer Hand, registrierte das Brennen, als sie ihn aus der Haut riss, verbarg ihn in ihrer Tasche, starrte nach oben. Schaffte es diesmal, den Blick auszuhalten, der sich wie ein Bleigewicht auf sie gelegt hatte.
„Und wer seid Ihr, Etahpe?“ Gillok beobachtete, wie der Schopf der Frau wieder in der Öffnung verschwand. „Warum helft Ihr uns?“
Adiv hörte sie oben raunen. Sie war nicht allein. Das hatte sie erwartet. Verrostete Schrauben aus einem schartigen Gitter zu lösen erforderte Hilfe, wenn man nur einen Arm besaß. Sie atmete tief ein, während der Nebel um ihre Gedanken sich allmählich hob.
Statt einer Antwort sauste ein Seil nach unten. Kanouepe fing es und hielt es fest. Dann erschien der Kopf eines jungen Mannes in der Deckenöffnung. Bei seinem Anblick setzte das Zittern wieder ein, gefolgt von einem heißen Gefühl, das sich in Adivs Magen ausbreitete. „Chries.“
Der Mann und ihre Gefährten wandten sich ihr zu.
„Chries?“, fragte Gillok. „Ist das nicht der Mann, der…“
„… uns ziehen ließ“, ergänzte Adiv mit taubem Mund.
Sie sah den Wärter an. Der erwiderte ihren Blick lange, bevor sich die Spur eines Lächelns um seine Lippen legte. „Nun bist du wieder hier“, sagte er. „Und ich rette dich ein zweites Mal. Lass es nicht zur Gewohnheit werden. Aufgepasst.“
Langsam glitt er aus der Öffnung, hangelte mit dem Fuß nach dem Seil und ließ sich daran hinunter.
„Ich hoffe, ihr bringt noch genügend Kraft auf“, rief Etahpe. „Chries hilft euch, die Ketten zu sprengen. Klettern müsst ihr allein.“
„Du konntest früher jede Tür öffnen. Was ist mit dieser?“, murmelte Adiv.
„Wahrscheinlich werden die Gänge hierher überwacht. Außerdem hast du ihr Werkzeug mitgenommen“, sagte Chries, der sich bereits an Gilloks Fessel zu schaffen machte. „Es ist schwer, gleichwertiges zu bekommen. Die Zeit der Vergünstigungen endet, wenn man im Untergrund lebt. Wenigstens wusste ich, wo die Schlüssel für die Fesseln aufbewahrt werden.“
Gillok und Syriakin versteiften sichtbar, als sie die Zusammenhänge begriffen.
„Sie ist deine Mutter“, stellte die Kriegerin leise fest, nachdem sie Adiv eingehend gemustert hatte. Erstaunen schwang in ihren Worten mit.
Gillok hatte seine Fessel abgestreift und kletterte bereits auf die Öffnung zu, aus der sich ihm ein dünner Arm entgegenstreckte. Chries rüttelte an Nous Kette, während dieser das Scharnier aufbog. Der junge Frâgg massierte sich kurz das Fußgelenk, bevor er Gillok nach oben folgte. Wie seinem Freund bereitete ihm der kraftraubende Aufstieg keinerlei Schwierigkeiten.
Adiv erwiderte Syras Blick fast verzweifelt. „Sie war tot“, flüsterte sie. „Sie war tot. Ich habe sie vor zweieinhalb Jahren begraben.“
„Offenbar ist sie zäher, als du dachtest.“
„Sie war tot. Tot, verstehst du? Sie war tot, in Kaas Namen!“, brüllte sie das Loch in der Decke an. „Tot! Wie kannst du hier sein? Du bist tot!“
Syriakin, Nou und Chries erstarrten in ihren Bewegungen. In Adivs Augen schwammen Tränen, ertränkten ihre Stimme. Doch in ihrem Antlitz stand Zorn.
Etahpes Kopf erschien wieder in der Öffnung. Dunkle Löcher brannten in ihrem bleichen Gesicht. „Du bist am Leben. Heb dir deinen Ärger auf, Kind. Benutze ihn, um zu klettern. Schnell. Eilt euch.“


„Ihr lebt im Untergrund?“
„Ein seltsamer Begriff hier drinnen, nicht wahr? Sie lebt seit deiner Flucht sehr zurückgezogen. Ich treffe sie im Geheimen. Niemand weiß davon.“
„Ich begreife es nicht. Es … es dringt nicht zu mir durch. Dass sie … dass sie hier ist.“
„Es stand auf Messers Schneide. Lange Zeit.“
„Eine Nachricht. Ihr hättet eine Nachricht senden können. Ich weiß, dass Ylaiy seine Männer hier eingeschmuggelt hat. Ihr selbst habt Kontakt zu ihm, oder?“
„Zu gefährlich. Und wohin hätten wir Boten schicken sollen? Niemand wusste, wo du warst, ob du lebtest. Erst spät sickerte die Kunde hinein. Von den Abenteuern im Norden. Gerüchte. Fragmente. Als sie begriff, dass du überlebt hattest, in Freiheit, weinte sie. Ich habe sie nie vorher weinen sehen. Oder danach. Das Leben im Verborgenen ist sicherer für alle. Auch heute noch. Gerade heute. Es ist besser, wenn alle glauben, sie wäre tot.“
„Diese Chausselles haben mich aufgestöbert. Ihr hättet es auch gekonnt. Irgendwie.“
„Es war besser so. Du begreifst die Zusammenhänge nicht. Sie sind größer, viel größer. Es geht nicht nur um dich oder deine Gefährten. Deine Mutter wollte dich schützen. Das hat sie immer.“
Adiv schüttelte den Kopf. Tränen tropften auf ihre Handrücken. Sie versteifte, als Chries‘ Arm sie tröstend berührte.
„Noch vor drei Sommern wusste niemand von diesem Fluchtweg“, erscholl die Stimme ihrer Mutter von vorn. „Ich hatte ihn entdeckt und geheim gehalten. Aber die Majestes verdienten Dankbarkeit. Ein Gegengeschenk dafür, dass sie mich ins Leben zurückholten und verbargen. Seither überwachen sie ihn wie all die anderen.“
„Die anderen?“, rief Gillok verblüfft. „Es gibt mehrere Fluchtwege aus der Boragha?“
„Seitdem das Gefängnis erbaut wurde. Aufgepasst! Zieht die Köpfe ein.“
„Wohin führt dieser Gang?“, fragte der Sumpfmann, ein Keuchen unterdrückend. Die angespannte Bauchlage machte ihn kurzatmig, die stickige Enge tat ein Übriges. Für ihn und Chries war das Kriechen eine Tortur.
„In die Tiefen“, gab Etahpe vage Auskunft. Die winzige Frau bewegte sich flink und scheinbar ohne Anstrengung. Unermüdlich schob sie sich weiter, wegen des Armstumpfs seltsam gekrümmt, gefolgt von Nou, Syra und ihm, während Adiv und Chries den Schwanz der Schlange bildeten.
„Zu wem bringt Ihr uns?“, vernahm er Syras heisere Stimme. „Zu diesen Majestes?“
„Dort seid ihr in Sicherheit“, gab die Diebin zurück. „Ihr werdet bereits erwartet.“
„Was ist mit den Kämpfern, die uns überwältigt haben? Diesen Chausselles? Werden sie Eure Pläne nicht durchkreuzen?“
„Sie sind Abtrünnige, wissen nicht, dass die Majestes sie überwachen. Bis sie dahinter kommen, sind wir in Sicherheit. Vorerst. Achtung! Gleich wird es rutschig.“
Die Diebin stieß mit dem Kopf in einen weiteren Gang und war plötzlich verschwunden.
Gillok spürte, wie er abwärts rutschte, und schnappte nach Luft. „Ich dachte, die Majestes seien Hirngespinste. Zumindest behauptet Eure Tochter das.“
„Noch eine Lüge“, rief Adiv von hinten.
Er konnte ihre Wut förmlich riechen. Die schöne Tochter der kleinwüchsigen Diebin würde ihrem Zorn freien Lauf lassen. Sie war kein Mensch, der seine Gefühle hinunterschluckte und in sich verbarg. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er aus ihr herausbrechen würde.
„Keine Lüge. Ein Geheimnis. Für die anderen sind sie unsichtbar. Dabei leben sie seit Ewigkeiten unter der Erde. Sie haben die Boragha erbaut.“
„Zu welchem Zweck?“, fragte Gillok und hustete, als Erdkrümel in seinen Rachen gelangten. Die geschwollene Nase zwang ihn, durch den Mund zu atmen.
Maji“, sagte Etahpe, als erkläre das alles.
Der Zug kam kurz ins Stocken, als die Kriegerin erstarrte. „Was meint Ihr?“
„Sie musste gebändigt werden.“
Syriakin hielt die Diebin an ihrem Armstumpf zurück. „Ist sie hier? Gibt es eine Quelle wie im Norden?“
„Unsinn“, stieß Adiv hervor. „Das hier ist die beschissene Boragha, nicht O’shu’o-gh. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und niemals irgendeine Quelle gesehen.“ Ihr Tonfall war unverkennbar aggressiv.
„Doch, das hast du.“ Jäh wandte Etahpe sich zu ihrer Tochter um; eine Bewegung, die niemand der anderen in dieser Enge hätte ausführen können. „Jeden einzelnen Tag.“
„Was?“ Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen sah Adiv ihre Mutter direkt an.
„Ein Hort purer Magie. Reiner Energie. Sie strömt aus dem Inneren der Erde, aus dem Boden selbst. Eine gewaltige Macht, von der die Uralten gekostet hatten; die sie versiegelten, bevor sie sie vernichten konnte. Maji ist ein Monstrum, das Körper, Verstand und Seele zerfetzt. Es brauchte ein noch größeres Monster, sie in die Erde zurückzudrängen. Ein Monster von der Größe eines Gefängnisses.“
„Du meinst die Boragha selbst? Der ganze Komplex ist … was? Ein Schild?“
„Ein Deckel. Ein Deckel auf einem Deckel. Mehrere Etagen hoch. Doch direkt auf der Quelle steckt ein Stöpsel. Ein Korken, wenn du so willst. Ein Stöpsel, den niemand herauszuziehen vermag, denn er steckt nicht auf dem Loch, er schwimmt darauf.“
Adiv starrte ihre Mutter lange Zeit an, bis erstes Begreifen über ihre Züge strich. „Das kann nicht dein Ernst sein.“
Etahpe entblößte die Überreste eines schadhaften Gebisses.
„Erleuchtet uns endlich“, stöhnte Gillok. „Meine Schultern und Knie wären mehr als dankbar.“
„Die Kloake“, schnaubte Adiv. „Sie ist der Stöpsel, habe ich recht? Unter ihr liegt die Quelle.“
Etahpes Augen leuchteten kurz auf. „Direkt unter K’yr.“

„Seid Ihr wohlauf? Geht es dem Kind gut?“, begrüßte Ylaiy seine Hohe Gemahlin, noch bevor sie über die Schwelle getreten war.
„Nicht so laut“, ermahnte sie ihn lächelnd. „Meine Bewacher könnten Euch hören. Bland versorgt sie vorn mit neueren Schriften und schickt sie zurück in unsere Gemächer. Wir haben nicht viel Zeit, bis sie wiederkommen. Wenn ich zu lange in den Gewölben bleibe, erwecken wir vielleicht Verdacht. Dann rufen sie Vater oder Theou. Sie sind wie Glucken, seit Ihr uns verlassen habt.“
Ylaiy entging die Spitze nicht, aber er ignorierte sie. „Gibt es Gerüchte, dass ich wieder hier bin?“
„Wenn, dann sind sie nicht bis an meine Ohren gedrungen. Bis Bland mir davon erzählte, natürlich.“
„Ihr habt es doch nicht ausgeplaudert?“
Sie funkelte ihn an. „Für wen haltet Ihr mich?“ Die Empörung dauerte nur einen Augenblick, bevor ihre Miene sich entspannte. Sie trat auf Ylaiy zu und drückte ihm einen schüchternen Kuss auf die Wange. „Ihr müsst Euch rasieren“, tadelte sie lächelnd. „Gibt es dort, wo Ihr Euch versteckt, keinen Barbier? Euer Bart macht einem Strolch alle Ehre.“
Er lachte leise. „Verzeiht meine abenteuerliche Aufmachung. Ich dachte, in Handwerkerkluft und ungepflegt erkennt man mich nicht so leicht, falls ich doch gesehen werde. Seid ihr wohlauf?“, fragte er dann, ernster werdend.
„Es waren nur zwei Wochen. Mein Leib erdrückt mich, abgesehen davon sind die anderen Beschwerden zurückgegangen. Ich kann es kaum mehr erwarten. Ab und an regt das Kleine sich. Ich rechne täglich damit, Theou nach den Hebammen zu senden. Er auch. Jeden Tag schaut er mehrmals nach mir. Und wenn er nicht kommt, kommt mein Vater. Sogar die Kaiserin besuchte mich schon zwei Mal. Weiß sie, dass Ihr hier seid?“
Ylaiy kniff die Lippen zusammen. „Ich traf sie vorgestern. Wir haben uns lange unterhalten. Ein erhellendes, aber keineswegs angenehmes Gespräch.“
„Für sie wohl auch nicht. Als ich sie gestern sah, wirkte sie erschöpft und in sich gekehrt. Wollt Ihr mir erzählen, wie es Euch ergangen ist?“
„Nach der Geburt, wenn die Wogen sich geglättet haben. Berichtet lieber von Euch. Bland zeigte mir den Codex. Glückwunsch zu Euerem Erfolg.“
Paíre winkte ab. „Ein Glückstreffer.“
Der Bibliothekar schob sich in die Kellerstube. „Nicht doch. Ihr könnt mit Recht zufrieden sein.“
„Es war nicht einfach“, gestand Paíre. „Ich hatte nur spärliche Angaben. Adiv Benelees, etwa einundzwanzig, geboren und aufgewachsen in der Boragha als Tochter einer verurteilten Diebin und Heilkundigen und eines Lehrers und Sehers.“ Paíre stockte nicht einmal bei dem letzten Wort. Offenbar hatte sie ihren Geist für Übernatürliches geöffnet.
„Eine selbst ernannte Heilerin und Hebamme von zweifelhaftem Ruf“, merkte Ylaiy an. „Sie entstammte dem Fahrenden Volk, war gerufen worden, um Aan abzutreiben, doch das misslang. Habt Ihr mehr über Adivs Eltern herausgefunden?“
„Ich habe die Dokumente über die Hoffeste gelesen, aber dort sind hunderte Namen aufgeführt. Eine Benelees habe ich bislang nicht gefunden.“
„Fahrendes Volk, Bader, Schausteller und Theaterleute haben häufig Künstlernamen, geben falsche Titel an. Höchstwahrscheinlich wird, wenn überhaupt, nur der Name der Truppe erwähnt. Das ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Noch wahrscheinlicher eine Sackgasse.“
Paíre nickte. „Vielleicht hat Baraten Buch geführt. Eine Abtreibung kostet Geld und möglicherweise hat er diesen Posten irgendwo vermerkt.“
„Wenn, dann verschlüsselt.“ Bland hatte einen Finger an die dünnen Lippen gelegt. „Abbrüche sind verboten. Niemals war er so dumm, die Wahrheit aufzuschreiben. In den falschen Händen hätte das beruflichen Selbstmord bedeutet.“
Paíre ließ die Schultern fallen. „Ich wusste, der Vater war Lehrer. Über ihn musste sich etwas finden lassen. Mir kam der Gedanke, alle Höheren Familien zu bitten, die Namen ihrer Lehrer und Erzieher bekannt zu geben. Meister Bland verdrehte daraufhin nur die Augen. Ich begann dennoch damit und hatte Glück.“
„Erfolg“, korrigierte Ylaiy.
„Ich bekam den Codex.“
„Wir kennen jetzt den Vornamen des Lehrers“, sagte Bland. „Auf dem Codex steht Ioan. Leider ist das ein verbreiteter Name auf Yruish und Prant. Selbst auf Staleph, wenn man die unterschiedlichen Schreibweisen beachtet.“
„Sackgasse“, resümierte Ylaiy.
„Vorerst. Vielleicht lässt sich mehr spekulieren, wenn der Codex hinreichend untersucht ist.“
„Dafür haben wir einiges über Aan herausgefunden“, verkündete Paíre.
„Tatsächlich?“, fragte Ylaiy gespannt.
„Ihre Mutter Sabyn Baraten war eine geborene Daví.“
„Daví?! Wie der Botschafter und Insignienverwahrer?“
„Pien Daví ist ihr Onkel. Ihr Vater Pyiter hatte das Amt vorher inne, bis er starb. Er protegierte Cledent Baraten, seinen späteren Schwiegersohn. Ein alter Armeefreund von dessen Vater Maxim.“
„Beziehungen“, murmelte Ylaiy.
„Kluge Heiratspolitik zementiert den Thron seit jeher“, wandte Bland ein.
Paíre verstummte, strich sich mit den Händen über den Bauch.
Bland musterte die blonde Frau, die plötzlich blutjung aussah. „Verzeiht“, entschuldigte er sich. „Das war unangemessen. Man sagt, Cledent Baraten liebte seine Frau von ganzem Herzen, obwohl ihre Ehe arrangiert worden war. So etwas passiert öfter, als man denkt.“
„Wart Ihr je verheiratet?“, fragte Paíre.
„Nur mit meinen Schriften. Menschen sind mir zeit meines Lebens fremd geblieben.“
„Ihr klingt nicht enttäuscht.“
„Ich habe längst meinen Frieden mit mir gemacht.“
„Das sind viele ...“, begann Ylaiy, als eine Frau in Männerhosen und einer weiten Bluse in die Studierstube gestürzt kam und seinen Arm ergriff. „Wir müssen gehen. Sofort!“
„Sila“, hauchte Paíre. „Ihr seid auch hier?“
„Lasst Euch später alles erklären.“ Sila zerrte Ylaiy durch einen schmalen Durchlass in einen Raum, der Bland als Schlafstube diente, schob ihn Richtung Bett. „Irgendetwas ist im Gange“, erklärte sie währenddessen hastig. „Hört ihr den Tumult? Die Bewacher von Ylaiys Frau waren auf dem Weg hierher, sind dann umgekehrt und nach oben gerannt. Wir müssen uns verstecken.“
„Unter dem Bett?“, fragte Bland.
„Irgendwo.“
„Vor wem verstecken?“, fragte Paíre. „Es könnte sich um alles Mögliche handeln.“
„Ich höre auf mein Bauchgefühl“, gab Sila zurück. „Es rät mir zu verschwinden. Kommt Ihr mit mir, Prinz?“
Ylaiy zögerte.
Paíre nahm ihm die Entscheidung ab. „Geht. Wahrt Eure Tarnung. Das Ganze ist sicherlich etwas Belangloses. Bland passt auf mich auf, Theou und mein Vater ebenfalls.“
„Wenn man Euch sucht, findet man Euch unter dem Bett sofort“, mischte sich der Bibliothekar ein. „Du magst dich gut auskennen, Sila, aber nicht im Refugium der Bücher.“
„Was meint Ihr?“
„Helft mir, den Schrank beiseitezuschieben.“


„Ich fasse es nicht“, keuchte Ylaiy Augenblicke später. „Er hat eine Geheimbibliothek. Eine Sammlung seiner kostbarsten Schätze. Sieh dir das an!“
Sila stieß ihn weiter. „Nicht jetzt. Sucht die Stiege, die den leeren Brunnenschacht hinauf führt. Und gebt acht auf Ratten.“
„Doch nicht in Blands Heiligtum.“ Ylaiy sprintete durch das längliche Kabinett mit den hohen Regalen. „Versprich mir, dass wir hierhin zurückkehren. Ich muss diese Bücher lesen!“
Im nächsten Augenblick erreichte er die schmale Wendeltreppe, die sich hinter einer weiteren falschen Wand in die Höhe schraubte, und begann den Aufstieg.
„Die Zwischenetage“, raunte Sila hinter ihm. „Wir verstecken uns auf ihr. Wir können nicht nach oben, wenn wir nicht wissen, was uns erwartet.“
Widerspruchslos glitt Ylaiy in einen Seitenschacht, der mit Holz ausgeschlagen war und offenbar als Speicher für Pergamente und Papier, Tinte, Federn und andere Schreibutensilien diente.
„Er kopiert Bücher“, flüsterte Ylaiy. „Schau dir das Zeug hier an!“
„Psst! Habt Ihr das gehört?“
Der Prinz blieb stocksteif liegen, horchte in die staubige Schwärze. Deutlich vernahm er ein Rumpeln und Scharren; Geräusche, die er nicht eindeutig zuordnen konnte. Er starrte Sila an und zog die Schultern hoch. Sila presste ihren Kopf auf den Boden und lauschte angestrengt. Dann legte sie den Finger auf den Mund und kroch so nahe an Ylaiy heran, dass ihre Lippen seine Wange kitzelten.
„Klingt nach Kampfgeräuschen“, murmelte sie und bestätigte damit Ylaiys schlimmste Befürchtungen.
„Wir müssen nachschauen.“
„Ja, aber stürzen wir uns blindlings auf den Hof, rennen wir vielleicht geradewegs in unser Verderben.“ Sila biss sich auf die Unterlippe. „Lasst uns sehen, wohin der Speicher führt.“
Mit klopfenden Herzen schoben sie sich über die Dielenbretter, immer darauf gefasst, notfalls blitzschnell in einer der kleinen Kammern zu verschwinden.
Unter und über ihnen nahmen die Geräusche zu. Tritte, gedämpfte Stimmen, unterdrücktes Gelächter, klapperndes Geschirr, eine zuschlagende Tür.
Dann, plötzlich, der lang gezogene Schrei einer Frau.
Silas Augen weiteten sich. „Das kam von oben.“
„Hört sich an, als wäre der halbe Palast auf den Beinen.“
„Sie greifen an. Sie greifen wirklich an.“ Fassungslos starrte Sila Ylaiy an.
„Sie haben leichtes Spiel. Ein großer Teil der Truppen ist unterwegs. Sie müssen darauf gewartet haben. All unsere Vorsicht war umsonst.“ Verzweifelt nagte Ylaiy an seiner Fingerkuppe.
„Du hast getan, was du konntest. Wir müssen weiter. Talin ist in Gefahr, meine Mutter ebenso.“
„Was ist mit Bland und Paíre?“
„Sie sind keine Feinde Veis.“ Entschlossen schob Sila sich weiter.

Das letzte Loch, das vor ihnen lag, war kreisrund, angelegt von Menschen vor unzähligen Jahrhunderten, Jahrtausenden möglicherweise. Obwohl er innerlich aufstöhnte bei dem Gedanken, durch einen weiteren engen Kanal kriechen zu müssen, geriet Gillok erneut in Bewunderung angesichts der Meisterschaft der Vorväter. Sie hatten dieses Labyrinth aus natürlichen und künstlichen Gängen angelegt, ausgebaut, immer wieder verändert, vergrößert. Tief in Felsgestein und Erde waren sie vorgestoßen, hatten Tunnel in Granit und Sandstein gehauen, Kanäle in lehmigen Boden gegraben. Arme und Seitenarme verzweigten sich in alle Richtungen, liefen in Bögen umeinander, strebten waagerecht und senkrecht auseinander, vereinigten sich manchmal nach wenigen Metern, manchmal erst nach Kilometern wieder. Er begriff, dass das natürliche Höhlensystem, geschaffen von den Kräften der Erde und des Meeres, die Grundlage für die gigantischen Auswüchse der unterirdischen Anlage gewesen waren. Dort, wo Fels und Stein, Wurzelwerk und Sand zum Hindernis geworden waren, hatten die Menschen eingegriffen. Sie mussten unendlich lange gebraucht haben. Bei der Vorstellung eines Lebens in der Dunkelheit der Unterwelt erschauerte er.
Das Loch vor ihnen war in hellen Fels gehauen. Sandstein, vermutete er, vermischt mit Kalk und Kreide. Weicheres Gestein als der graue Granit, leichter zu bearbeiten. Dennoch musste auch dieser kurze Gang, der zu dem Kreisrund am Ende führte, Jahre in Anspruch genommen haben.
Hinter dem Loch erstreckte sich schwarze Leere.
Gillok schluckte, spürte, wie die Taubheit um die Nase herum sich allmählich verflüchtigte. Schmerz machte sich bereit. Er tastete nach dem Nasenrücken, befühlte erneut die Schwellung, lenkte sich ab, indem er das Loch genauer in Augenschein nahm. Wenn ihn die Sinne nicht trogen, fiel der Gang hinter dem Loch nach unten steil ab.
Nou drehte sich mühsam zu ihm und Syra herum, signalisierte mit der Hand, was sie erwartete. Er nickte und gab die Information an Chries und Adiv weiter, deren Gespräch im Verlauf der letzten Stunde verstummt war.
Etahpes Enthüllung war wie ein Blitz in die Gruppe geschlagen. Nach einem Moment fassungslosen Schweigens hatten alle ihre Geschwindigkeit erhöht. Während sie der Diebin durch das Labyrinth folgten, war jeder in stummes Grübeln verfallen.
„Stopp.“ Adivs Mutter hielt ruckartig an, noch bevor sie das künstliche Loch erreicht hatten.
Aus der Öffnung schwangen sich zwei Männer. Die Anzahl ihrer Lebensjahre war unmöglich zu bestimmen, doch ihren muskulösen, schlanken Körpern nach zu urteilen, waren sie etwa in Nous Alter. Sie mussten unten am Fuße des Lochs auf ihre Ankunft gewartet haben, da sie weder überrascht noch feindselig wirkten, nur wachsam, mit einer Spur von Argwohn in ihren ansonsten ausdruckslosen, glatten Gesichtern. Wie die Lehmmänner trugen sie ihr halblanges Haar nach hinten gekämmt. Ihre Körper waren hell, ihre Schöpfe grau. Erst auf den zweiten Blick erkannte Gillok, dass sie sich eingestäubt hatten, mit Gesteinsmehl, Kalk, Kreide und Sandstein, in derselben Schattierung wie die Wände, die sie umgaben. Das machte sie unsichtbar wie die Lehmmänner. Und zweifellos waren sie ähnlich herausragende Kämpfer, wenn sie hier postiert worden waren.
Wächter der Unterwelt.
Sie musterten ihre kleine Gruppe stumm. Erkennen blitzte in ihren Augen auf, als sie über Etahpe und Chries glitten.
„Sind sie das?“, fragte einer der Männer Etahpe mit schwerem Akzent.
„Die Chausselles haben sie am neuen Eingang gestellt.“
„Tijua?“
„Und Frukte. Mit drei anderen.“
„Vier“, korrigierte Adiv. „Einen haben wir ausgeschaltet.“ Ihr Blick flackerte über ihre Gefährten, heftete sich dann auf den Wächter, der das Reden übernommen hatte.
Dessen Augen flogen kurz zu seinem Zwilling und Gillok vermeinte, Erstaunen, vielleicht sogar Anerkennung gesehen zu haben. Tijua, prägte er sich den Namen der halb nackten Frau ein. Frukte war vermutlich der Massige gewesen, der Syra besiegt hatte. Er war sich sicher, dass seine Gefährtin den Namen bereits in ihr Gedächtnis graviert hatte.
Der Wächter winkte sie mit einer Armbewegung weiter und wich dann wie der andere Mann zur Seite aus, wo beide mit der Wand verschmolzen. Gillok fühlte zwei Augenpaare auf sich ruhen, als er nach Syra in das Loch kroch und über in den Stein gehackte Kerben nach unten stieg, wo der älteste Mensch sie erwartete, den er jemals gesehen hatte.


„Ihr seid also der, der alle Fäden in der Hand hält? Der die Boragha regiert?“
Adivs Stimme klang forsch. Sie stand am Ende der primitiven Leiter, die sie hierher geführt hatte. Nach unten. In den Kern.
Sie war zornig. Enttäuscht, erschöpft, erschlagen. Starrte dem alten Mann, der Würde und Weisheit ausstrahlte wie der Kaa, den sie sich immer vorgestellt hatte, provozierend ins Gesicht, trat zwischen ihren Gefährten hindurch an die Seite ihrer zwergenhaften Mutter, die nach ihrem Arm fasste. Sie schüttelte sie ab, kniff Lippen und Augen zusammen und wartete auf eine Reaktion des weißhäuptigen Greises.
Dieser musterte Adiv, wie ein Lehrmeister seine unbändige Schülerin mustern würde: streng, gütig, geduldig. Adiv fühlte ihren Zorn weichen, je länger die Augen auf ihr weilten. Doch sie wollte nicht nachgeben, wollte wütend sein, deshalb drückte sie ihr Rückgrat durch und hielt dem Blick stand.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lächelte er und wandte den Kopf ab. „Deine Tochter ist dir sehr ähnlich, Etahpe.“
„Ihr weicht meiner Frage aus“, schleuderte Adiv ihm entgegen. „Seid Ihr es? Der Herrscher des Gefängnisses? Der Anführer der Majestes?“
„Ja.“
Adivs Widerstand sank in sich zusammen. Der Zorn verrauchte, ihr Gesicht wurde leer. „Du kanntest ihn“, wandte sie sich an ihre Mutter.
„Erst seitdem du geflohen warst. Davor war er eine Idee.“
„Aber du wusstest es? Dass es ihn gab?“
Etahpe blickte ihre Tochter zärtlich an. „Ich habe es dir schon erzählt. Damals in der Grotte.“
„Als du im Sterben lagst. Ja, ich erinnere mich.“ Adivs Stimme klang heiser. „Das war anders als ihn leibhaftig zu sehen. - Habt Ihr einen Namen?“, bellte sie den Herrscher der Unterwelt an.
„Du wirst ihn erfahren, wenn die Zeit reif ist. Im Augenblick genügt es, wenn du weißt, dass ich der Älteste bin.“
„Der Älteste wovon?“
„Von den Familien. Den Mag’anags.“
Seine Stimme war brüchig wie benutztes Pergament. Er sprach Yr, ein gebildetes Yr mit sorgfältig gesetzten Worten, jedoch altertümlich und mit demselben Akzent wie der Mann, der das Loch bewachte. Sein Gesicht war runzlig, gefleckt vom Alter und gebleicht von der Düsternis. Einzig die silbernen Augen strahlten wach und intelligent. Schlohweißes Haar lag glatt an seinem Schädel, schmiegte sich an die Krümmung des Nackens. Sein Körper schien noch älter, bereits in sich zusammengefallen, verformt und verkrümmt, bedeckt mit zäher, lederartiger Haut. Adiv stellte sich vor, ihn zu berühren, und schauderte bei dem Gedanken. Wahrscheinlich würde er zu Staub zerfallen.
„Ihr habt uns erwartet?“, erhob Syriakin die Stimme.
„Folgt mir.“ Mühsam und unsicher schlurfte er um eine weitere Biegung. Erst jetzt bemerkte Adiv die große Beule in Höhe seines Unterleibs, nur leidlich verborgen unter einem sackähnlichen Gewand.
Hinter der Windung stießen sie auf einen Raum, der in den nackten Fels geschlagen worden war. Ein Vorsprung lief rund um eine primitive Kochstelle. Sie bestand aus wenig mehr als einem Schiefer, den ein rauchloses Feuer aus fingerdicken Spänen von unten erwärmte.
„Es ist schwer, Holz von dieser Qualität in der Boragha zu bekommen“, sagte Adiv, während sie sich auf dem steinernen Sims niederließen. „Man müsste schon in die umliegenden Wälder gelangen.“
Der Älteste nickte zwei Männern zu, die im hinteren Teil des Raumes gewartet hatten. Sie breiteten ein Fell auf der Felsbank aus und halfen dem Majest’i’ti, dem das Hinsetzen sichtlich schwerfiel. Die Wölbung zwischen seinen Beinen war nun unübersehbar. „Du hast recht, Tochter Etahpes. Das Holz stammt aus den Talamales. Wir ernten es seit vielen Jahrhunderten, behutsam und maßvoll, sodass immer wieder genug nachwächst.“
„Mein Name ist Adiv.“
„Du hast die Augen deines Vaters.“
Auf Adivs Stirn erschienen neue Zornesfalten. „Natürlich kannte er Euch auch.“
„Wir kannten ihn.“
„Ach ja?“
„Ja.“
Der Älteste blieb ruhig, auch als Adiv ärgerlich aufsprang und Steinchen in den Staub trat.
„Adiv“, mahnte ihre Mutter leise, den Arm vorgestreckt.
„Fass mich nicht an!“
Etahpe zuckte zurück und für einen langen Augenblick maßen sich Mutter und Tochter stumm. Dann räusperten sich Chries und Gillok und brachen damit die Anspannung. Adiv stieß angehaltenen Atem aus und sackte neben dem Sumpfmann auf die Bank. Sie saß wie ein trotziges Kind, die Hände unter ihren Schenkeln, die Lippen aufeinandergepresst.
„Er war ein Gelehrter“, begann der Älteste. „Schrieb Dinge auf. Erkannte Zusammenhänge. Manche sagen, er war ein Seher. Ein Prophet.“
„Er war ein Spinner!“
„Aus dir sprechen Ärger und Enttäuschung. Wieder hier zu sein, wühlt einiges auf.“
„Oh, verschont mich! Ihr hockt hier unten, faselt von Sehern und Propheten, macht um alles ein großes Geheimnis. Andeutungen, Halbwahrheiten, falsche Spuren, darunter ein paar Krümel Wahrheit. Ich habe genug davon. Erzählt, was Ihr zu erzählen habt, indes tut es rasch, denn unsere Zeit ist kostbar. Wir müssen Urdat Vei finden, bevor er noch mehr Unheil über die Welt gießt.“ Sie funkelte den Ältesten an, der ihrem Ausbruch mit unbewegter Miene gefolgt war.
„Seit er an diesen Ort kam, lebt er im Haus des Kommandanten. Te Sant glaubt, ihn zu kontrollieren, aber Vei hält längst alle Zügel in der Hand. Te Sants Männer verschwanden oder wandten sich von ihm ab, der Schlächter zuerst. Weitere folgten.“
„Wohin verschwanden sie?“, fragte Gillok.
„Zu Elphen und Kalphon Chausselles. Den Zwillingen. Mein Clan und die Da’mag’anag glauben, dass sie und die Qe’mag’anag für Vei Rache nahmen. An denen, die ihn hierher brachten.“
„Wer sind Qe’mag’anag und Da’mag’anag?“, fragte Adiv.
„Die dritte und die zweite Familie“, übersetzte Gillok. „Sippen. Clans. Dynastien. Zu wem gehört Ihr, Ältester? Be’mag’anag?“
Bi“, korrigierte der Alte lächelnd.
„Diese drei Familien bilden die Majestes, wenn ich richtig liege.“
Das rätselhafte Lächeln des Alten blieb. „Veis Rache ist nicht alles. Für Elphen und Kalphon geht es um viel mehr. Um die Kinder. Die Quellen. Maji.“ Das letzte Wort schien auf seiner Zunge zu kleben wie eine süße Köstlichkeit, deren Aroma er geradezu aufsaugte.
Adiv runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht.“
Maji. Magie. Macht.“
„Danach streben die Chausselles? Nach Macht?“
„Nicht nach der der oberen Welt. Nicht nach Reichtum und Titeln. Nicht oben.“
„Aber unten“, erriet Gillok. „Sie wollen Euren Platz einnehmen. Majestes. Das ist ein vielschichtiges Wort. Darin steckt Maji, doch auch Jest’i’ta, die Regierenden, und Jesta’a, die Reinen. Die Göttergleichen. Gewöhnliche Menschen interessieren die Brüder nicht, Ihr seid das Ziel.“
„Die Götter haben uns Kaadaa geschenkt. Wir waren die ersten Menschen. Es ist an uns, über sie zu wachen.“
„Und auf Kaadaa gibt es die magische Quelle. Also wacht Ihr auch über sie.“
„Ihr denkt schnell, Sumpfmann.“
„Kontrolle über die Boragha bedeutet Macht über die Quelle.“
„Meine Mutter meinte, die Kloake sei die Quelle“, stieß Adiv aus. „Ein See voller Exkremente.“
„Die perfekte Tarnung.“
„Weshalb?“, hakte Syriakin nach. „Weshalb muss die Quelle geschützt werden?“
„Die Quellen setzen Magie frei. Maji. Dasselbe Wort wie für Macht. Wie in allen alten Sprachen. Ma’eth bei den Frâgg, Max’hia bei den Madif, Magjia bei den Sta. Ungeheure Kräfte. Die Uralten haben von ihr gekostet, sie genutzt, denn sie ist ein mächtiges Werkzeug, eine tödliche Waffe. Doch sie mussten erkennen, dass Maji einen Preis forderte, einen sehr hohen. Sie zerstört Menschen, macht sie willenlos. Als unsere Vorväter dies begriffen, war es fast zu spät.“
„Magie ist ein Rauschmittel“, fasste Syriakin zusammen.
„Mächtiger als jede Droge und jedes Gift, das wir kennen. Maji vergiftet, benebelt, vernichtet, vertilgt. Doch die Gerüchte über Menschen, die sie zu gebrauchen wissen, verstummen nicht. Menschen wie Eurer Tochter.“
„Meine Tochter wird nicht in die Nähe dieses Zeugs gelangen.“
„Aber das war sie schon! Bei euch hat sie kaum Spuren hinterlassen, doch bei den Kindern drang sie in fruchtbaren Boden.“
„Sie lassen sich nicht benutzen. Damals nicht und heute noch weniger.“
Majis Einfluss ist unermesslich. Wie viel innere Stärke haben die Kinder? Gute Kinder, gewiss, das sind sie. Starke Blutlinien, beste Anlagen. Aber die Magie ist gefräßig. Und andere werden kommen, alte Mächtige wie der Norogdún, aus dem Inneren des Reiches und von außen. Sobald die Existenz der Quellen sich herumspricht. Sie werden die Kinder als Verbündete haben wollen, sie werden sie jagen, sie werden sie umbringen. Weil Maji es ihnen befiehlt, denn die Kinder könnten Maji bezwingen.“
„Hört auf, von ihr wie von einem Lebewesen zu reden!“ Syriakins Gesicht war erblasst. Aufatmend lehnte sie sich zurück.
Gillok legte die Hand um die seiner Gefährtin. „Habt Ihr sie gekostet?“
„Vor sehr langer Zeit. Ich war ein Kind und neugierig.“
„So wusstet Ihr von der Quelle?“
„Ich hatte sie gespürt, mein Leben lang. Wuchs neben ihr auf. Auch in meiner Familie gab es Geheimnisse. Meine Geschwister und ich wussten, dass wir anders waren. Besonders. Rein. Unsere Eltern verboten uns, in die Nähe der Kloake zu gehen, doch Verbote halten Menschen nicht auf.“
Gillok quittierte das Lächeln des Ältesten mit einem Hochziehen der Mundwinkel. „Ganz im Gegenteil. Für manche sind sie lediglich Herausforderungen.“
Die Kriegerin zog ihre Hand aus Gilloks. „Ihr habt die Magie also gespürt?“
„Es war wie ein Sehnen. Als riefe die Quelle nach mir. Maji ist lebendig. Sie bäumte sich aus der Kloake auf und griff nach mir. Manchmal zärtlich wie ein unhörbares Liebeslied, das durch die Tunnel schwebte. Manchmal fordernd wie mein Vater. Manchmal verführerisch und streichelnd, so wie ich mir eine Geliebte vorstellte. Sie machte Versprechungen, schwor mir, Wünsche zu erfüllen. Mitunter war sie so brutal, dass mir die Luft wegblieb. Manchmal so schlimm, dass ich in Ohnmacht fiel. Meine Geschwister berichteten mir, ich hätte mich in Krämpfen gewälzt, mit blutigem Schaum vor dem Mund, weil ich mir Lippen und Zunge zerbiss. Irgendwann gab ich dem Verlangen nach und schlich zur Kloake.“
„Eure Geschwister spürten nichts?“, fragte Gillok.
„Nur einer meiner Brüder. Aber es war viel schwächer als bei mir. Meine anderen Geschwister waren immun, ich denke, weil sie andere Mütter hatten.“
„Wie muss ich sie mir vorstellen, die Magie?“
„Wenn sie durch dich strömt, fühlst du dich unbesiegbar. Du bist voller Zuversicht und Hoffnung. Du löst dich aus der Gegenwart und wirst eins mit den Elementen. Alles verstärkt sich. Farben, Gerüche, Entfernungen. Es wird hell, heller als in den gleißenden Mittagsstunden im Hochsommer. Ihr badet in Licht und Wärme. Ihr habt das Gefühl, ins Riesenhafte zu wachsen. Euer Körper, eure Organe, alles schwillt an. Ich war ein Kind, doch gleichzeitig war ich ein Mann. Ein Mann im besten Alter. Sehr potent.“
Adiv und Syriakin wechselten einen unbehaglichen Blick.
„Die Magie macht also glücklich?“, hakte Gillok nach.
„Unbeschreiblich glücklich. Erregend glücklich.“
„Das Glück der Drogen ist scheinheilig und von kurzer Dauer.“
„Wie recht du hast, Frâgg. Wenn sie schwindet, lässt sie dich unbeschreiblich traurig zurück. Nach meinem Erlebnis hatte ich das Gefühl, in einem Meer der Gram zu ertrinken. Es dauerte Tage, bis ich mich davon erholte. Und doch – oder gerade deshalb - sehnte ich mich danach, sie erneut zu trinken. Es gab Zeiten, da hatte ich Angst, den Verstand zu verlieren. Mit den Jahren wurde es leichter. In Kindheit und Jugend ist man anfälliger.“
„Das heißt, man müsste die Kinder nur einige Jahre von der Magie fernhalten“, überlegte Gillok laut.
„Ihr Einfluss wird schwächer, je mehr man sich von den Quellen entfernt, ja. Doch für die Kinder wird Majis Ruf nie verstummen.“
Die Brauen der Kriegerin schoben sich zusammen. „Wieso?“
„Sie tragen sie in sich. Maji spürt sich selbst. Der Fluss zur Quelle ist immer da, mal stärker, mal schwächer.“
„Die Risse in Ardannas Haus“, erinnerte sich Nou. „Die Zeit verschwamm. Alles wurde ... schwer.“
„Magieteile in ihrem Blut“, erklärte der Älteste. „Partikel. Passiv. Nicht kanalisiert, nicht beabsichtigt. Es braucht größere Macht, um Zauber zu lenken. Doch der Norogdún brachte alles durcheinander, denn er brachte vier von ihnen zusammen, an einem Ort, an dem die Magie stark war. Das veränderte die Kinder. Sie wurden zur Gefahr. Einer sehr ernsten Gefahr, vor der weder ihr noch wir die Augen verschließen dürfen.“
„Sie sind eine Waffe“, murmelte die Kriegerin. „Ich sagte es schon damals.“
„Sie wurden zur Waffe. Eingesetzt von einem Mann, dessen Volk die Magie seit Epochen vergiftet hatte“, bestätigte der Älteste.
„Ihr wusstet vom Norogdún“, sagte Adiv gallig. „Selbstverständlich tatet ihr das.“
„So wie dein Vater. Er hielt alle Schlüssel in den Händen, hatte das Mosaik zusammengesetzt. Über Maji, ihre Quellen, ihr Wesen. Über unsere Geschichte. Über besondere Menschen. Mächtige. Prophezeiungen, Visionen. Den Norogdún, seine Geschöpfe, seine Pläne. Er schrieb alles nieder. Heimlich. Schon als Heranwachsender. Aus einem Trieb heraus, den ich mir nicht erklären kann.“
„Er wollte wissen und verstehen“, sagte Gillok. „Wissen verbreiten. Wie andere vor ihm und andere nach ihm.“
„Wir haben das Wissen nie geteilt. Denn auch Wissen ist Macht.“
Gilloks Antlitz verdüsterte sich. „Doch wer seid Ihr, zu bestimmen, wem diese Macht zuteil wird?“
„Wir sind die Ersten. Bi’mag’anag. Uns gelang es, Maji zu bannen, sie einzudämmen, sie niederzuringen für lange Zeit. Der Norogdún hat sie zurück in die Welt gebracht.“
„Warum ausgerechnet diese Kinder?“, fragte Gillok.
„Die wichtigste Voraussetzung ist ihre Abstammung, ihre Verbindung zu den Urvätern.“
„Wenn nur die Abstammung entscheidend wäre, gäbe es unzählige magiebegabte Menschen. Frâgg, Sta, Madif. Wir wären es.“
„Oh, wir haben Berichte von vielen Menschen im Dran’bara mit besonderen Kräften in unterschiedlichen Ausprägungen. Besondere Kinder gibt es in jedem Jahrzehnt, auf allen Inseln. In der Regel bleiben ihre Kräfte unentdeckt oder steigern sich nicht weiter. Isolierte Kräfte, Talente, wenn Ihr so wollt. Sie werden Menschen, die Besonderes leisten, ohne das Gefüge der Welt zu verändern.“
„Weil die Quellen fehlen“, erriet Adiv.
„Die Nähe zu den Quellen ist wichtig“, bestätigte der Älteste.
„So wie bei Arlen?“
„Richtig. Abgesehen davon wissen wir nicht, weshalb die Kinder so mächtige Träger sind.“
„Veranlagung“, schlug Etahpe vor. „So wie manche Menschen helles Haar haben oder blaue Augen.“
Der Älteste senkte zustimmend den Kopf.
„Wichtiger ist sowieso die Frage, was mit ihnen geschieht. Wie wir mit ihnen umgehen“, sagte Adiv.
„Wir beschützen sie.“ Syriakins Antwort kam schnell und bestimmt.
„Ihr könnt sie vor Vei und den Chausselles schützen, nicht vor Maji selbst“, entgegnete der Älteste.
„Wir halten sie davon fern.“
„Zu spät. Maji hinterlässt Spuren, wenn man ihr zu nah kommt. Seht her.“
Der Älteste schlug das Gewand auseinander. Darunter trug er eine weite Hose aus weichem Qutún. Die kürbisgroße Schwellung zwischen seinen Beinen ließ die Gefährten das Gesicht verziehen.
„Ein Geschwür?“, erkundigte sich Adiv.
„Nein, obwohl Geschwüre in unseren Familien verbreitet sind. Das geschah, nachdem ich von Maji gekostet hatte. Nachdem ich mich zum ersten Mal wie ein Mann gefühlt hatte.“
„Das ist Euer ... Ding?“, stieß Adiv aus.
„Mein Geschlecht schrumpfte wieder, aber der Sack darunter wuchs. Wächst immer noch. Ich werde daran sterben, wenn Maji mich lässt. Mit mir meine Linie.“
„Missbildungen“, flüsterte Syriakin. „Wie der Norogdún.“
„Stimmungsschwankungen. Deformierungen. Der Sohn meines Bruders kam ohne Beine zur Welt. Eine Base von uns passte in einen Kochtopf. Maji ist ein Raubtier.“
Syriakin setzte ihren bohrenden Blick auf. „Die Kinder sind sehr widerstandsfähig. Möglicherweise auch gegen den Einfluss eines Giftes.“
Gillok rutschte näher neben seine Gefährtin. Adiv sah, wie seine Hand sich unauffällig an Syras Hüfte legte.
„Viele Angehörige der ersten Völker starben an der Magie“, mischte Etahpe sich leise ein. „Verdorben und zersetzt von den giftigen Einflüssen. Darum geht es den Majestes. Sie wollten die Magie bannen. Sie aufhalten.“
„Die Chausselles aber nicht“, sagte Nou.
„Nicht mehr“, antwortete der Älteste. „Elphen und Kalphon waren immer schon von Ehrgeiz zerfressen, Elphen besonders. Sie lieben Herausforderungen. Die Zwillinge spielen. Gegen Maji. Sie wollen sie bezwingen.“
„Das ist doch verrückt“, protestierte Adiv.
„Das ist ihr Antrieb. Ein Leben unter der Erde bietet ihnen nichts. Sie wollen Abwechslung. Und natürlich wollen sie Herren sein, sich nicht mehr unterwerfen, niemandem und nichts. Wir hätten es wissen müssen. Chausselles. Die Würmer. Die ersten, die unter die Erde gekrochen sind mit ihrem unbändigen Appetit nach der Quelle. Elphen und Kalphon sind äußerst geschickt vorgegangen. Niemand von uns hat das vorausgesehen.“ Der Greis wischte sich mit den Händen über das Gesicht. Adiv studierte die knotigen Adern und die verkrümmten Finger. Sie wusste, dass der Schmerz in den Gelenken wütete. „Sie haben sich aufgelehnt in der Vergangenheit, sicher. Rebelliert. Aber …das? Was hätte aus ihnen nicht alles werden können.“ Traurig schüttelte der Alte den Kopf.
„Hätte Elphen Euren Platz eingenommen?“, erkundigte sich Gillok.
„Er trägt nicht meinen Namen. Doch er wäre sehr weit aufgestiegen hier unten.“
„Der zweite Platz macht ihn zum ersten Verlierer“, stellte Syriakin fest.
„Zu wenig für seinen Ehrgeiz“, stimmte der Älteste zu.
„Sind sie so gute Kämpfer wie Eure Lehmmänner?“ Nous Augen glitten über die Schatten an den Wänden.
„Die besten der Besten. Wir nennen sie Klingentänzer. Elphen und Kalphon führten sie an. Auch ihre Leibwächter, Tijua und Frukte, gelten als herausragende Taram.“
Taram?“, hakte Nou nach.
„Das alte Wort für Klinge. Die Zwillinge sind die besten, waren immer schon einzigartig. Sie gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Kamen beinahe zeitgleich aus dem Leib ihrer Mutter gekrochen. Hatten nie Freunde, nur sich selbst. Andere Kinder beugten sich ihnen. Die Brüder erproben sich im Kampf, solange sie auf der Welt sind. Sie waren Jahre jünger als die anderen, als wir sie den Eltern wegnahmen, um sie zu Kämpfern zu erziehen.“
„Das ist grausam!“, rief Adiv.
„Alle Söhne und Töchter der Majestes werden im Kampf ausgebildet. Die Ausbildung zu Klingentänzern ist für sie und ihre Eltern eine Ehre, denn sie dienen einer größeren Sache.“
„Sie sind Eure Armee.“
„Wie sonst sollten wir Ordnung und Recht durchsetzen? Besonders an einem Ort wie diesem?“ Der Älteste breitete die Arme aus. „Schwache Völker sind zum Untergang bestimmt. Seht die Frâgg an.“
„Noch leben wir“, brummte Gillok.
„Versteckt vor einer Welt, in der kein Platz mehr für euch ist.“
„Und wer genau seid Ihr?“, schleuderte Gillok heraus. „Ein Geheimbund. Ein Märchen.“
„Nicht für die Menschen in der Boragha, nicht wahr, Frau des Schreibers? Ihr wusstet um uns.“
„So wie ich um Spukgestalten wusste“, entgegnete Adivs Mutter. „Man lachte darüber, aber insgeheim bekreuzigte man sich.“
„Euer Gefährte wusste mehr.“
„Er kannte die Geschichten schon, bevor wir unter die Erde zogen“, stimmte Etahpe zu, das Gesicht wehmütig verzogen. „Berichte, die er in Schriften gefunden hatte. Ich hielt sie für Hirngespinste, bis ich auf meinen Streifzügen auf ähnliche Geschichten stieß. Sie tauchten in den Pergamenten auf, die ich ihm besorgte. Ich begegnete seltsamen Menschen, fand Markierungen und Zeichen, dieselben Kritzeleien wie auf unseren Wänden. Er sprach in fremden Zungen, wenn er sich allein glaubte oder in seinen Gedanken versunken war. Er redete im Schlaf. Und dann fanden Eure Leute mich. Mich und Chries.“ Ein warmer Blick streifte den jungen Wächter, dessen Gesicht rot anlief.
„Ich sollte mich auf den Rückweg machen“, murmelte er. „Bevor man mich vermisst.“
Der Älteste nickte. „Habt Dank, Chries. Erneut. Cehaj! Nebunedzad! Goj! C’ekamon’o!
Ohne Zögern lösten sich die beiden Klingentänzer von den Wänden. Nou wusste, dass sie da gewesen waren, dennoch erschrak er, als sie sich vor ihm materialisierten, schmalgliedrig und schlank, beinahe schmächtig. Ihre Gesichter waren mit einer Mischung aus Ruß, Asche und Lehm beschmiert, ihre Körper steckten in engen Hosen. Um Ober- und Unterarme, sowie um Schienbeine, Rumpf und Hals trugen sie dünne Metallbänder, welche sie ebenfalls mit Asche eingerieben hatten, damit ihr Glanz sie nicht verriet.
Chries nickte den beiden zu, bevor er vorsichtig in den Tunnel lugte. Dann glitt er ohne Abschiedsgruß hinaus. Cehaj und Nebunedzad flossen hinter ihm her.
Erst jetzt wurde Nou bewusst, dass er die Worte des Unterweltherrschers verstanden hatte, obwohl sie in seiner Sprache nicht existierten. Nicht so. Nicht mehr.
Der Älteste wandte sich Gillok zu. „Am besten beschreibst du uns als eine Allianz, die seit Jahrhunderten im Verborgenen agiert. Sinn und Zweck unserer Existenz ist es, die Welt vor Maji zu schützen.“
„Wie?“
„Indem wir schweigen. Indem wir diese Quelle bewachen. Wissen bewahren, beobachten, erkunden, deuten. Wir behalten die Inseln im Auge, greifen regulierend ein, wenn es nötig wird.“
„Pff“, stieß Adiv aus. „Das hat man ja bemerkt!“
„Wir waren in Gedanken bei euch. Immer.“
Die Diebestochter schnaubte.
„Und nun?“, fragte Gillok. „Was geschieht jetzt? Warum teilt Ihr Euer Wissen mit uns?“
„Ihr wusstet bereits zu viel. Jetzt müsst ihr begreifen. Wie alles zusammenhängt, dass die Kinder gefährlich sind, dass sie der Schlüssel sind. Wir müssen einander helfen, die Welt vor Unheil bewahren. Vei und die Chausselles müssen gestoppt werden.“
„Die Magie muss gestoppt werden. Nur so können wir die Kinder retten.“
„Das könnt ihr nicht. Sie lässt es nicht zu.“
„Weshalb nicht? Ihr habt K’yr versiegelt, wir O’shu’o-gh.“
„K’yr strahlt noch immer. Maji sickert durch Ritzen und Fugen, tröpfelt in den Boden ringsum, pflanzt sich fort. Ich sagte, wir hätten sie gebannt, nicht besiegt.“
„Das nächste Mal macht es richtig.“ Böse starrte Syriakin den Herrscher der Boragha an.
„Wie kannst du es ...“
Nou bemerkte winzige Bewegungen aus den Augenwinkeln und schoss der Sumpffrau warnende Blicke zu, die sie ignorierte. „Sie hat Euch immer noch in ihrem Würgegriff. Ihr wollt die Symptome beseitigen, nicht die Ursachen, braucht uns für die Drecksarbeit, während Ihr Euch weiterhin hier unten verkriecht!“
„Syra“, sagte Gillok leise. Dann wandte er sich an den Ältesten. „Wie viele Quellen gibt es?“
Der Älteste drehte sich zu ihm. „K’yr ist die Mutterquelle. Sie gebar mehrere Kinder. O’shu’o-gh ist versiegt. Ki akku ninu ist kleiner, ein Sandkorn in den Weiten der Wüste. Die dritte befindet sich in den Tiefen des Meeres an einem unzugänglichen Ort.“
„Wir versiegeln sie alle“, beschloss Adiv. „Dann ist Schluss mit diesem Magiezeug.“
Der Älteste sank in sich zusammen. Seine skelettartigen Finger zitterten. „Ihr kommt nicht an sie heran.“
„Akim kennt sich in der Wüste aus.“
„Und meine Brüder und Schwestern sind ausgezeichnete Schwimmer“, warf Nou ein.
„Eure Vorfahren haben es versucht. Und mit Verlaub: Sie waren Kämpfer.“
„Aber sie waren nicht wie wir“, erwiderte Gillok. „Sie waren keine Doppelleber. Wir sind erst wenige Generationen alt.“ Er spreizte die Hände. Die Augen des Ältesten wurden groß, als sie die Schwimmhäute wahrnahmen.
„Die Quelle befindet sich auf dem Meeresboden. Unter einem erloschenen Vulkan.“
„M’tuauoa“, sagte die Kriegerin, in Gilloks und Nous Mienen Bestätigung suchend. „Dort ist sie, nicht wahr? Auf M’tuauoa.“
„Was ist das?“, fragte Adiv.
„Eine Legende“, versetzte Gillok. „Eine der Frâgg. M’tuauoa ist eine Insel. Eine Insel, die niemand betritt.“
„Weshalb nicht?“
„Sie gilt als heilig. Tabuu. Verboten. Niemand weiß so genau, wieso“, nahm er Adivs nächste Frage vorweg. „Manche berichten von feuerspeienden Bergen. Daher ihr Name. Ort des Rauches. Andere erzählen von Ungeheuern, von lebenden Toten. Manche halten sie für die Geburtsstätte der Frâgg. Aufgeklärtere Frâgg vermuten, dass es einfach eine Vulkaninsel ist. Ein Feuerberg. Sie ist unzugänglich und weitab der anderen Inseln. Deshalb könnte es dort unbekannte Tierarten geben. Große Tiere durchaus, weil sie wenige Feinde haben.“
„Die Ungeheuer“, murmelte Adiv.
„Legenden“, stieß Gillok sichtlich verärgert hervor. „Unwissen. Aberglaube. Habt Ihr sie geschaffen?", fuhr er den Ältesten an. „Um Menschen fernzuhalten?“
„Die Quelle liegt unter der Insel. Unter dem Feuerberg. Niemand erreicht sie.“
„Ciycain könnte sie erreichen“, sagte Syriakin schroff. „Und das macht die Quelle zur Gefahr für meine Tochter.“
„Und deine Tochter zur Gefahr für uns alle!“
„Wenn Ihr ihr auch nur ein Haar krümmt, töte ich Euch.“ Syriakin hatte sich keinen Zentimeter bewegt, dennoch hatten alle das Gefühl, scharfer Stahl säße an dem faltigen Kehllappen des Greises. Die Luft in der Höhle schien deutlich kälter geworden zu sein.
Nou bemerkte, wie die Ecken des Raumes sich bogen und weiße Punkte aufleuchteten. Die Tänzer hatten die Augen geöffnet. Er widerstand dem Impuls, sich nach ihnen umzudrehen.
Wann sind sie zurückgekehrt? Wie?
„Ihr wisst nicht, wozu sie fähig ist. In der Nähe der Quelle potenziert sich ihre Macht um ein Vielfaches.“
„Ein Grund mehr, die Quellen zu schließen“, beschloss Syriakin mit grimmiger Miene. „Ist es die letzte?“
„Es ist die letzte.“
„Gut. Wir helfen Euch, aber wir tun es richtig. Vei und die Chausselles zuerst, dann die Quellen.“
„Einverstanden“, sagte der Älteste nach längerem Zögern. „Vei zuerst. Was habt Ihr mit ihm vor?“
„Ihn töten.“
„Nicht, wenn das Problem sich anders lösen lässt“, schob Gillok nach.
Der Älteste erhob sich ächzend, unterstützt von den beiden Männern, schlurfte vor die Sumpfleute und Adiv. „Vei hat euch erwartet. Ist euch nie der Gedanke gekommen, dass dies eine List ist? Dass ihr in eine Falle getappt seid?“
„Natürlich“, antwortete Gillok. „Aber wir hatten keine Wahl. Es galt zu handeln.“
Der Älteste schürzte die blutleeren Lippen. „Und so lauft ihr blind in euer Verderben.“
„Sagt uns, wo wir ihn finden.“
„In te Sants Kommandantur. Er fürchtet die Boragha. Man hört, dass er eine wahnhafte Angst vor Anschlägen hat.“
„Gut“, erwiderte Syriakin mit unbewegtem Gesicht.
„Für das, was ihr vorhabt, ist das ein Hindernis. Vei verschanzt sich, ihr kommt niemals an ihn heran. Die Chausselles werden euch aufhalten. Ihr mögt euch aufs Kämpfen verstehen, aber ihr seid ihnen nicht gewachsen.“
Nou wies auf die beiden Klingentänzer. „Sie könnten sie ausschalten.“
„Ein Bruderkampf.“ Die Stimme des Ältesten verlor etwas von ihrer Selbstsicherheit. Ein Schatten glitt über sein Gesicht, verstärkte die Linien um Nase und Mund.
Gillok baute sich vor dem Ältesten auf, bemüht, nicht einschüchternd zu wirken, da beide Klingentänzer sofort in Angriffsstellung gingen. „Vei war auf Drahórsul, hat gesehen, was die Kinder bewirken. Er ist beseelt von Vergeltung und berauscht von Macht, genau wie Eure Elitekämpfer.“
Der Älteste schloss die Augen und massierte sich mit knittrigen Fingern die Nasenwurzel. Schließlich nickte er. „Cehaj und Nebunedzad werden Euch begleiten. Weitere Männer werden in den Schatten warten, falls es Probleme gibt.“
„Adiv bleibt bei mir.“ Etahpes Bitte klang wie ein Befehl. Ihre Miene verwandelte sich in Stahl und erstickte alle Proteste, nur die ihrer Tochter nicht.
„Geh mit ihr“, befahl Syriakin letztlich. „Redet. Wir lassen dich nicht zurück.“

Stöhnend wuchtete Mehlau den Kartoffelsack auf die andere Schulter und schüttelte den Arm aus.
„Gibst du schon auf?“ In Manneros Gesicht standen Spott und Missbilligung.
„Schon? Ich schleppe das Ding seit Ewigkeiten. Und das in der Hitze.“
„Gib ihn mir, wenn du nicht mehr kannst.“
„Ich kann noch.“
„Dann jammere nicht.“
Entnervt verdrehte Sphita die Augen und brachte einige Meter Abstand zwischen sich und die Streithähne. Meist fand sie die Besorgungen mit Jonoys Gesellen kurzweilig, auch wenn die beiden unentwegt zu zanken schienen, doch jetzt brauchte sie eine Atempause.
In Gedanken ging sie die Einkäufe durch, die sie heute noch erledigen mussten. Der Haushalt ihrer Mutter verschlang Unsummen, wenn so viele Münder ernährt werden wollten, obwohl die Kinder wie Spatzen aßen. Dafür futterten Shesh, Mannero und Ivson für zwei.
Wegen der Dürre gab es die ersten Missernten. Mehl und Mais wurden knapp, auch die Erdknollen gab es nicht mehr an jedem Tag und wenn, dann waren sie klein, schrumpelig und manchmal bedeckt mit schimmeligen Stellen. Gemüse und Obst waren im Preis deutlich angestiegen, Milch, Käse und Butter ebenfalls.
Sphita seufzte. Cledent hatte ihnen sein Vermögen hinterlassen und Ardannas Ruf als Heilerin bescherte ihr viel Zulauf, doch nicht alle Patienten konnten sich ihre Dienste leisten. Unzählige zahlten in Naturalien, manche mit ihrer Arbeitskraft, einige mit einem dankbaren Lächeln, ein paar nicht einmal damit. Ardanna behandelte jeden. Dabei war das Krankenhaus ein gefräßiges Monster. Essen, Wasser, Stoff für Verbände, Bedienstete, Tinkturen, Tees, Salben, Pillen, Heizmaterial im Winter, Kerzen und Talglichter. Daneben musste die Residenz instand gehalten werden. Allein das Holz, das sie brauchten, um die Nebengebäude auszubessern, vertilgte einen stattlichen Teil der Einkünfte. Wie lange, bis sie Patienten ablehnen, Bedienstete entlassen mussten? Bis die Kälte zurückkehrte? Was, wenn das Essen unbezahlbar wurde? Würden sie hungern müssen?
Immerhin gab es noch Fleisch. Igra und ihre Gehilfinnen pökelten es oder räucherten es in einer kleinen Kammer hinter den Ställen. Schwein, Lamm, Ziege und Geflügel vom Markt. Manchmal fanden sie frisches Wildbret in der Küche, das Akim gebracht hatte. Sie wusste nicht, wo der Fährtenleser steckte. Er und Jonoy waren wie vom Erdboden verschwunden, aber das Fleisch verriet, dass sie in den Wäldchen rund um die Stadt jagten und das Haus im Auge behielten.
Martila und Igra brieten den Fisch und die Flusskrebse, die Arlen und Ciycain ihnen morgens brachten, salzten und räucherten alles, was übrig blieb, legten Vorräte an. Kian und Yvain sammelten Kräuter, Pilze und Beeren, die die Frauen trockneten. Sie rösteten Nüsse und Eicheln, dörrten Obst oder kochten es zu Mus. Ciycain und Kian machten sich auf die Suche nach wildem Honig, den sie den Bienen abluchsten, ohne gestochen zu werden. Das Sumpfmädchen brachte essbare Baumrinde nach Hause und zeigte den Männern, an welchen Bäumen Sirup zu zähem Schleim getrocknet war, den man abkratzen und wieder erwärmen konnte. Ohne den Erfindungsreichtum der Kinder wäre das Leben bereits jetzt um einiges härter.
„Eier“, befahl sie den Burschen, die zu ihr aufgeschlossen hatten.
„Schon wieder?“, stöhnte Mehlau. „Ich kann sie nicht mehr sehen.“
„Oder riechen“, ergänzte Mannero.
„Brot ist teuer. Igra wird aus Eicheln und Walnüssen welches backen, doch es dauert ewig, die Eicheln aufzulesen. Das meiste haben die Leute bereits weggesammelt. Also heißt es Hafersuppe und Eier statt süßem Brot und Kuchen. Gesund und sättigend.“
Beide Männer grunzten etwas, das Sphita nicht verstand. Sie rollte erneut mit den Augen, lächelte aber innerlich. Naschkatze hatte Videm sie oft genannt. Heute mussten Obst und Mus genügen, wenn sie Heißhunger auf Süßes hatte.
„Wir sollten nach Äpfeln Ausschau halten“, sagte sie. „Vielleicht finden wir sogar Pflaumen oder Mirabellen. Die Zeit wäre reif.“
Mannero wies nach links. „Äpfel habe ich dort drüben gesehen. Klein und grün, aber besser als nichts. Zur Not verfüttern wir sie an die Pferde.“
Sphita stellte sich auf die Zehenspitzen und hob ihr Kinn, um über die Vorbeilaufenden blicken zu können. Plötzlich erstarrte sie und schob sich hinter die Gesellen.
Überrascht wollte Mehlau sich nach der Tochter der Heilerin umsehen, doch Sphita stieß ihn in die Rippen und machte sich klein. „Bewegt euch nicht!“
„Was ist?“, fragte Mannero.
„Die beiden Männer am Stand der Obstbäuerin - seht ihr sie noch?“
Mehlau kniff die Augen zusammen. „Dünn, alt, Haare in einem Zopf zurückgebunden? Der andere bucklig?“
„Das sind sie“, wisperte Sphita. „Was tun sie?“
Mannero zuckte mit den Schultern. „Sie probieren Äpfel. Der mit dem Zopf hat sich einen genommen und hinein gebissen. Die Bäuerin schaut säuerlicher als ihre Ware, sagt aber nichts.“
„Er wird ihn nicht kaufen.“
„Du hast recht, er hat ihn ausgespuckt. Ein besonders liebenswürdiger Mann, scheint mir. Jetzt gehen sie weiter.“
Sphita schnellte hoch. „Wir müssen ihnen nach! Sofort!“
Mehlaus Augenbrauen krochen aufeinander zu. „Wer sind die Männer?“
„Maxim Baraten“, stieß das Mädchen hervor, „und sein Diener. Waleck.“
„Ich dachte, die wären verschwunden.“
„Das werden sie wieder sein, wenn wir nicht herausfinden, wo sie sich verstecken. Los!“ Sie schubste die Gesellen vorwärts.
„Mit dem Sack?“
„Gib schon her“, herrschte Mannero seinen Freund an und riss die Kartoffeln von Mehlaus Schulter. Ohne sichtbare Anstrengung legte er sich das Bündel um den Hals und schob sich in die Menschenmenge des Marktes.
„Denkt an euren Schutz“, mahnte Sphita und zog ihr eigenes Gesichtstuch im Nacken fester, damit es nicht verrutschte. Der Stoff roch unangenehm nach der Kräutermischung, in die Ardannas Helfer die Tücher über Nacht einlegten; nach Keilerwurz, Silberdistel, Wasserdost und den Lavendelkrümeln, die den bitterherben Geruch dämpfen sollten. Ardannas Mischung ließ die Burschen die Nase rümpfen, aber sie ertrugen sie schweigend, seit Sphita ihnen verraten hatte, dass viele Menschen ihre Tücher mit weitaus Schlimmerem einrieben oder tränkten. Urin zum Beispiel. Oder Ziegendung. Oder getrockneten Kleintierkadavern und obskuren Tinkturen aus Blut und Heilerde. Die Fantasie der Scharlatane war grenzenlos. Sie priesen ihre Tücher und Säckchen an, verscherbelten Handschuhe und Nasenklemmen, während ihre Taschen sich füllten mit Kupfermünzen und Silberschmuck. Die Pocken wüteten weiter. Sie überfielen Vororte und Innenstadt gleichermaßen, schlichen sich in Paläste und Hütten, dezimierten das Bettlervolk, dünnten Arme und Schwache aus. Poststationen waren geschlossen worden, Häfen ebenso. Wer nach Prant hinein wollte, fand sich in geisterhaften Dörfern und auf menschenleeren Straßen wieder; wer die Insel verlassen wollte, brauchte einen Passierschein, ausgestellt von einem Heiler. Da der Schwarzmarkt für Passierscheine innerhalb von Stunden aufgeblüht war, nahm die Stadtwache peinliche Körpervisitationen vor.
Auf den Märkten, die nur noch zwei Mal in der Woche stattfanden, quirlte es hingegen. Verhüllte Menschen drängten sich zwischen den Ständen, schoben und drückten. Sphita war froh, die beiden Burschen bei sich zu haben. Sie fürchtete sich vor den gesichtslosen Leuten und dem Gedränge, den Rempeleien um die schwindende Nahrung. Jetzt allerdings war ihre Angst Aufregung gewichen. Leichtfüßig bahnte sie sich ihren Weg durch die Menge, nahm keine Notiz mehr von Kaufleuten, Bürgern und Bediensteten. Ihr Blick war fest auf Maxims ergrauten Hinterkopf gerichtet, auf den dünnen Zopf, der beim Gehen auf und ab wippte.
Sie bekam kaum mit, wie sie den Obstmarkt verließen und in eine Seitengasse einbogen, in der hauptsächlich Käse feilgeboten wurde. Erst Mehlaus Hand auf ihrer Schulter ließ sie ihren Schritt zügeln.
„Pass auf“, warnte er sie. „Wenn er dich entdeckt, wird es vielleicht ungemütlich.“
„Mit den beiden werden wir wohl fertig“, schnaubte Mannero. „Man kann sie umpusten, so dürr, wie sie sind.“
„Täusch dich nicht in Maxim“, erwiderte Sphita, die sich hinter die Burschen zurückfallen ließ. „Er war Soldat. Deine Muskeln nützen dir nicht viel, wenn eine Klinge drin steckt.“
„He!“ Mannero richtete sich auf. „Nicht so vorlaut, du Küken!“
„Ich meine es ernst. Er weiß mit dem Schwert umzugehen. Für sein Alter ist er ziemlich schnell. Und er ist gerissen und gemein.“
„Sie tragen keine Tücher“, murmelte Mehlau.
„Ein Tuch ließe ihn verweichlicht wirken. Aber ich würde den Sack Kartoffeln verwetten, dass seine Taschen voll sind mit Kräutersäckchen und Phiolen.“
„Sie gehen nach rechts“, sagte Mannero. „Wohin führen sie uns?“
„Im Osten gibt es das Viertel der Schreiner und Steinmetze. Gerüstbauer, einige Schnitzer“, überlegte Sphita laut. „Etwas weiter die Stallungen, die älteren Kasernen, die Kerker der Stadtwache. Keine Wohngegend. Weit unter Maxims Lebensstil.“
„Lasst uns Abstand halten“, sagte Mehlau.
„Wir dürfen sie nicht verlieren“, drängte Sphita.
„Und er darf uns nicht entdecken. Hier sind nicht mehr viele Menschen“, gab Mannero zu bedenken.
„Dann geht etwas vor mir“, rief Sphita. „Euch kennt er nicht. Ihr könnt euch abwechseln, damit er keinen Verdacht schöpft.“
Die Gesellen gehorchten ohne weitere Widerrede. Sphita folgte ihnen durch zunehmend entvölkerte Gassen. Kräftige Männer schleppten Säcke mit Lebensmitteln zu ihren Herrschaften, andere zogen Karren mit Holz hinter sich her, Mägde mit Wäschekörben eilten vorüber, Botenjungen huschten über das Pflaster. Einmal rumpelte ein Leichenwagen an ihr vorbei, dem sie mit eingezogenem Kopf und sorgenvollem Gesicht hinterher sah. Am auffallendsten war die Stille. Die Handwerkerstuben waren verschlossen, einige verhängt. Von den Höfen drang nur ab und zu Arbeitsgeräusch nach draußen: ein Steinbohrer, Hammerschläge, ein Hobel, der sich ins Holz fraß.
Sobald sie das Handwerksviertel durchquert hatten, verstummten auch diese Geräusche, verschwanden die Dienstleute und Arbeiter. Maxim und Waleck waren stetig voran gestapft, ohne sich umzudrehen oder anzuhalten. Als sie vor einem niedrigen Haus stehenblieben, verschwand sie blitzschnell hinter einer Häuserecke - keine Sekunde zu spät, denn Maxim wandte sich um und starrte Mehlau an, der zu ihm und seinem Diener aufgeschlossen hatte.
Sphita, geduckt um die Hausecke lugend, hielt den Atem an.
Mehlau kam nicht einmal aus dem Tritt. Ohne Maxim und Waleck zu beachten, die Hand vor das Gesichtstuch gepresst, lief er an ihnen vorbei. Wenige Meter weiter öffnete er die Tür zu einem der Handwerkerhöfe und verschwand hinter dem Zaun. Seine Bewegungen wirkten vollkommen natürlich. Weder Maxim noch der Zitterling schienen Verdacht zu schöpfen.
Auch Mannero machte seine Sache gut. Er wuchtete den Kartoffelsack auf die andere Schulter und schüttelte die Arme aus, während er auf die beiden zu stapfte. „Was glotzt Ihr so?“, warf er Maxim zu, der die Augen zusammenkniff, einer Konfrontation mit dem kräftigen Gesellen jedoch aus dem Weg ging und Platz machte.
Maxim wartete, bis Mannero um die nächste Ecke verschwunden war, bevor er Waleck ein Zeichen gab. Er ließ den Zitterling zuerst eintreten, fasste nach einem Beutel um seinen Hals und betrat dann selbst das niedrige Gebäude.
Wenige Minuten später tauchten Mannero und Mehlau wieder an Sphitas Seite auf.
„Ich wusste es“, sagte Sphita. „Er trägt ein Amulett um den Hals. Er hält meine Mutter für eine Hexe, aber er vertraut den Wundermitteln der Scharlatane.“
„Wo hinein ist er verschwunden?“, fragte Mehlau.
„Sieht aus wie eine der alten Truppenunterkünfte.“
„Soldaten?“, wunderte sich Mannero. „Hier ist niemand zu sehen.“
„Die Stadtwache befindet sich am Ende der Straße. Früher lebten die Wachen in den Kasernen ringsum. Aber die älteren wurden aufgegeben. So weit ich weiß, stehen sie leer.“
„Ein gutes Versteck.“
Mehlau kratzte sich am Hinterkopf. „Kommt man da einfach so hinein?“
„Wenn man weiß, wo etwas offen ist, bestimmt“, sagte Sphita. „Es ist denkbar, dass er noch jemanden bei der Wache kennt. Er war doch selbst Soldat. Vielleicht hat er einen Schlüssel.“
„Warum verstecken sie sich dort?“, fragte Mannero. „Warum ist er nicht zu einer der Familienresidenzen geflohen? Wieso ist er noch hier, unter der Nase der Stadtwache?“
„Genau deshalb“, entgegnete Mehlau. „Niemand vermutet ihn hier. Alle nehmen doch an, er wäre geflüchtet.“
„Trotzdem ist die Gefahr hoch, dass er der Stadtwache in die Arme läuft.“ Mit einem Schnaufen stellte Mannero den Kartoffelsack ab und rieb sich den verschwitzten Nacken.
„Ach, die hat Besseres zu tun. Sie muss Passierscheine kontrollieren, Leute untersuchen, die Stadttore bewachen, den Hafen, die Märkte. Für Maxim sind die Pocken ein Glücksfall. Er wagt sich sogar bei Tage aus seinem Versteck. Der weiß, dass es drängendere Probleme gibt.“
„Aber worauf wartet er? Dass die Wellen sich legen?“
Mehlau zuckte mit den Schultern.
„Ich habe ein ungutes Gefühl“, gestand Sphita.
„Was schlägst du vor? Sollen wir ihn melden? Deine Mutter herholen und ihn zur Rede stellen? Ihm aufs Maul hauen?“ Mannero hatte die Fäuste gehoben. Seine Augen glitzerten angriffslustig.
„Nein, das ist zu gefährlich.“
„Zwei dünne, alte Männer. Und wir hätten den Überraschungsvorteil.“
„Du weißt nicht, was hinter dieser Tür ist, Dummkopf!“, herrschte Mehlau den Freund an. „Immer willst du gleich zuschlagen.“
„Dann ab zur Stadtwache!“
„Er lebt in einem Unterschlupf der Wache. Was, wenn er dort wirklich Freunde hat? Was, wenn der Anführer selbst mit drin hängt?“
„Dann fliegen die mit auf.“
„Denk nach! Hier ist etwas im Gange. Die Kinder. Die Überfälle. Maxims Flucht ist möglicherweise kein Zufall. Ich sage, wir sollten Ardanna informieren und die anderen. Die wissen besser, was zu tun ist.“
„Klingt feige.“
„Es ist schlauer, erst mehr herauszufinden. Vielleicht planen sie etwas.“
„Das spuckt er aus, wenn ich mit ihm fertig bin.“
Mehlau legte den Kopf in den Nacken.„Ihr Götter im Himmel! Der Kerl ist unverbesserlich.“
„Wir gehen jetzt nach Hause“, entschied Sphita. „Ich erzähle alles Mutter. Adiv hat mir mal gesagt, man muss seinem Bauchgefühl trauen. Hier habe ich ein ungutes.“
„Bauchgefühl“, murmelte Mannero abschätzig, schwang sich aber den Sack auf den Rücken. „Weiberzeug. Aber von mir aus.“ Er brummelte weiter vor sich hin, während er den Rückweg antrat, blieb nach wenigen Schritten indes wieder stehen, als hätte er eine Eingebung gehabt. „Tikt. Wenn hier wirklich was Größeres läuft, dann weiß er vielleicht davon. Wir müssen doch noch mal mit ihm reden.“
„Wir dürfen nicht“, sagte Mehlau. „Du hast Ardanna gehört.“
Mannero setzte sich in Bewegung. „Wir dürfen ihn nicht foltern. Reden schon.“
„Tikt und Maxim kennen sich doch gar nicht“, sagte Sphita.
„Beides Soldaten. Beide Verbindungen zum Palast. Vielleicht kannte auch Maxim diesen Vei. Bestimmt sogar. Vom Alter her. Vom Beruf her. Der Inquisitor war sein Sohn und arbeitete für den Hof. Maxim gehört zu den höheren Familien. Das sind keine Zufälle.“
Mannero beschleunigte seine Schritte.
„Alle Achtung“, raunte Mehlau Sphita zu. „Das klang nicht ganz unlogisch. Der Kerl hat doch so etwas wie ein Hirn.“

„Das ist nicht gerade eine Verbesserung“, brummte Adiv. „Unser alter Verschlag hatte wenigstens eine Tür.“
„Das Leben draußen hat dich verwöhnt.“ Etahpe hob den verschlissenen Vorhang und betrat ihren Felsverhau. „Es ist warm hier drin, trocken und ruhig. Zu ruhig manchmal. Das Alleinsein zermürbt einen mehr als menschliche Geräusche.“
Adiv wollte etwas erwidern, stellte jedoch fest, dass sie zum Streiten zu müde war. Sie schaute sich in der nackten Höhle um und sank schließlich auf einen großen Stein, dessen glatt gehobelte und polierte Oberfläche ihn als Sitzgelegenheit auswies.
„Tee?“, fragte Etahpe.
Die kleinwüchsige Frau wartete die Antwort nicht ab, sondern machte sich in einer dunklen Ecke zu schaffen. Adiv beobachtete sie mit schweren Lidern. Trotz ihrer körperlichen Einschränkung klapperte Etahpe mit tönernem Geschirr und einem Kupferkessel, der an einem Dreibein über der Feuerstelle schaukelte. Sie warf Kräuter in das siedende Wasser, spülte zwei Becher in einer kleinen Wanne aus, rührte mit einer Kelle um und goss das Getränk in die Gefäße.
Sie tranken schweigend, blinzelten sich über aufsteigenden Dampf zu, warteten, dass die jeweils andere einen Anfang fand, während mit dem Tee neue Energie in Adivs Adern strömte.
„Belebend“, murmelte sie nach einigen Schlucken.
„Die Kräuter gedeihen gut. Wir hatten viel Regen im Frühjahr.“
„Überall sonst herrscht drückende Hitze. Es gab Dürren und Stürme. Hungersnöte stehen vor der Tür. Nicht gut für das Pockenfieber, das sich in Perth ausbreitet. Erfahrt ihr von solchen Dingen hier unten?“
„Nicht alles. Die Majestes verlassen die Boragha ungern, aber sie senden Späher aus. Und du weißt, dass ich mich langweile, wenn ich zu lange herumsitze.“
„Immer noch? Trotz der Verletzungen?“
„Ich habe Narben zurückbehalten. Hässliche Narben auf einem hässlichen Körper.“ Etahpe grinste gequält. „Sie schmerzen, wenn das Wetter umschlägt, wenn ich bestimmte Bewegungen mache, wenn ich zu lange ruhe. Manchmal denke ich, zu sterben wäre leichter gewesen, aber es sollte nicht sein.“
„Weil Chries dich fand.“
„Er hat uns beide gerettet an diesem Tag, dich und mich.“
„Wie hat er die Majestes gefunden?“
„Sie fanden uns. Es muss ein ganz schöner Aufruhr geherrscht haben. Ich war die meiste Zeit nicht bei Bewusstsein. Chries schleifte und trug mich durch die Tunnel, während oben die Leichen der Wärter entdeckt worden waren. Die Familien waren aufgeschreckt, sandten Späher aus. Sie nahmen Chries und mich mit. Sie hätten uns auch einfach töten und verschwinden lassen können, aber sie hatten andere Pläne.“ Etahpe senkte den Kopf. Adiv betrachtete den Knoten dünnen Haares auf ihrem Hinterkopf. „Es tut mir leid, dass es so passiert ist, Adiv“, sagte ihre Mutter plötzlich.
Adiv presste ihre Lippen zusammen und horchte in sich. Wut und Enttäuschung waren weg. Vielleicht, weil der Tee sie beruhigte, vielleicht, weil sie neben der Frau saß, die ihr die Freiheit geschenkt hatte. „Es ist nicht deine Schuld“, hörte sie sich sagen. „Ich bin froh, dass du lebst.“
Etahpe blickte auf und lächelte sie an. Es war ein warmes Lächeln, das ihr Gesicht erweichte. „Ich auch. Ich bin froh, dass ich dich so sehen kann. Als Frau, die ein Leben hat, ein wirkliches Leben. Wie ist es?“
„Es ist gut. Arlen und ich wohnen in einem großen Haus, mit Ardanna und ihrer Tochter. Wir helfen Kranken.“
„Das ist gut“, flüsterte Etahpe mit Tränen in den Augen. „Früher habe ich auch Kranken geholfen. So hast du doch ein wenig von mir in dir.“
„Viel mehr als das. Aber deine Geheimniskrämerei habe ich nicht geerbt.“
„Du musst begreifen, dass es immer darum ging, dich zu schützen. Und um Dinge, die größer sind als du und ich.“
„So viele Geheimnisse! So viele Spuren, die nirgendwohin führen, außer zu neuen Geheimnissen, neuen Fragen.“
„Man kann die Zusammenhänge nur begreifen, wenn man bis zum Anfang zurückgeht.“
„Das wird doch keine Geschichtsstunde, oder?“
Etahpe lächelte aus zahnlosem Mund. „Besser, du schenkst uns Tee nach und setzt dich bequemer hin.“
Sie lockerte ihre Beine, schlug sie wieder untereinander und lehnte sich an die Wand, während Adiv die Becher nachfüllte. Anschließend schlürfte sie von dem heißen Getränk und befeuchtete ihre Lippen. „Habt acht vor den Majestes“, warnte sie unversehens so leise, dass Adiv sie kaum verstand. „Sie bewachen die Urquelle seit Jahrhunderten, länger womöglich, halten sich für das auserwählte Volk, doch letztlich sind auch sie nur Menschen. Auch bei den Urfamilien ging es um Besitz, damals, als sie Kaadaa besiedelten. Ständig kam es zu Stammeskämpfen zwischen den Chausselles im Norden, den Novíes im Süden und den nad Tala im Gebirge dazwischen. Jeder verteidigte das, was er besaß. Die Clans bekriegten sich und rotteten sich gegenseitig aus.“
„Haben sie Magie eingesetzt?“
„Das haben sie. Bis die Frauen erkannten, dass Maji sie alle töten würde. Menschen und Land gleichermaßen. Große Teile der Insel waren von der Quelle vergiftet. In weitem Umkreis um sie wollte nichts gedeihen außer Gestrüpp und Unkraut und hohen Bäumen, die genug Widerstand boten. Nur an den Randzonen lebte es sich gut.“
„Also taten die drei Clans sich zusammen und verstopften die Quelle?“
„Lange, bevor der erste Elboin das Licht der Welt erblickte. Sie schütteten Steine darauf, Geröll, ganze Wälder. Die Magie wurde schwächer, aber sie sickerte durch. Also bauten sie Wälle darum, Zäune und Gitter. Sie warfen die Toten hinein, alles, was sie finden konnten, erschufen ein Bollwerk. So entstand die Boragha. Doch die Insel wurde immer voller und die Jüngeren begannen, sie zu verlassen. Sie nahmen das Wissen um die Magie mit in ihre neuen Welten, auf die anderen Inseln, aber es geriet in Vergessenheit, je weiter die Menschen wanderten und sich vermehrten, und je mehr Zeit verging. Magie war nicht mehr erreichbar, also vergaß man sie. Nur in alten Märchen und Legenden blieben Reste von ihr gefangen. Menschen wie dein Vater schrieben sie nieder. Der Norogdún entließ sie wieder in unsere Welt und entfachte einen Krieg.“
„Einen Krieg um den Thron?“
„Einen Krieg um die Magie.“
Adiv runzelte die Stirn. „Zwischen wem?“
„Den Familien, zuallererst.“
„Diesen Mag’anags?“
Etahpe nickte. „Nad Tala, Novíes und Chausselles“, zählte sie auf. „Die erste, zweite und dritte Familie. Die ältesten Clans der Welt.“
„Die sich vor Jahrhunderten schon bekriegt haben?“
„Ein Krieg, der mit der Hoheit der nad Tala endete und die Novíes und Chausselles zu mächtigen Vasallen machte. Elphen Chausselles rebelliert dagegen, strebt nach einem Machtwechsel. Einem Generationenwechsel. Aber die nad Tala sind mächtig. Elphen reizt sie, doch er sucht keine offene Konfrontation.“
„Sondern?“
„Ich verwette meinen letzten Arm, dass er an die anderen Quellen will. Vielleicht will er ein eigenes Reich errichten, weitab von der Boragha und den Ältesten. Abgeschottet und geeint unter der Führung der Zwillinge, gesichert nach außen und innen durch magische Kräfte. Doch Elphen und Kalphon können die Magie nicht gebrauchen. Sie sind nicht magiebegabt, haben Maji nicht in sich, zumindest keine großen Mengen. Sie brauchen jemanden, der die Magie aus der Quelle aufnehmen und nutzen kann.“
Adiv riss die Augen auf. „Die Kinder!“
„Die Kinder“, wiederholte Etahpe nickend. „Die Magie ist da, speist sich aus den Quellen, aber nur wenige können etwas mit ihr anfangen, verstehst du? Du und ich, wir leben neben der Mutterquelle, aber wir spüren sie nicht einmal. Der Krieg um die Magie ist auch ein Krieg um die Kinder. Die jüngeren Chausselles brauchen sie, um ihr Reich zu gründen, die Majestes wollen es verhindern.“
„Heißt das, sie wollen sie töten?“
„Nicht so laut“, warnte Etahpe. „Hier haben sogar Steine Ohren. - Ich hoffe nicht, aber die Majestes betrachten sich als die Hüter der Magie, verbergen sie. Sie werden nicht zulassen, dass man Maji gebraucht.“
„Ich dachte, weil sie die Menschen vor ihr schützen wollen.“
„Ja.“ Etahpe wedelte Adivs Einwand beiseite. „Aber hast du noch nicht begriffen, dass sie Maji auch nicht teilen wollen? Dass sie sie als ihr Vorrecht begreifen? Deine Kriegerfreundin hat es sofort erkannt. Nicht nur die Chausselles sind gefährlich, die Majestes sind es ebenso. Vielleicht sogar noch mehr. Verstehst du? Die Chausselles werden die Kinder benutzen. Die Majestes hingegen werden niemals zulassen, dass ihnen ihr Privileg, ihr Geburtsrecht, genommen wird. Von niemandem.“
Adivs Gesicht wurde kreidebleich. „Oh Kaa.“
„Die Majestes wachen über die Quelle und die Boragha, doch niemand bewacht sie. Deshalb sind Chries und ich geblieben. Deshalb wollte dein Vater nie zu ihnen gehören.“
„Was?“
„Ioan gehörte zu einem entfernten Zweig der Da’mag’anag.“
„Den Novíes?“, fragte Adiv, nachdem sie sich den sperrigen Namen übersetzt hatte.
„Ja. Irgendwann in grauer Vorzeit formierte sich eine Seitenlinie aus den Novíes, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter verzweigte. Am Ende einer dieser Verästelungen stand dein Vater. Irgendein abtrünniger Vorfahr seiner Linie schrieb die ersten Geheimnisse auf und diese Schriften wurden über die Generationen hinweg gehütet wie ein Schatz.“
„Er war dennoch ein Spinner.“
„Ein Sonderling, ja, aber auch Lehrer, Erzieher und Wissensbewahrer. Vor unserer Haft war er ein angesehener Mann, schlau und erfindungsreich, arm, doch lebensfroh. Erst als wir in die Boragha kamen, änderte er sich. Dabei bestand sein einziges Verbrechen darin, dass er mich liebte. Er hätte mich niemals kennenlernen dürfen.“
Adiv rang nach Worten, doch Etahpe schüttelte den Kopf und redete weiter. „Er fand vieles heraus. Ich gräme mich, wenn ich daran denke, wie oft ich ihn deswegen verspottete. Damit werde ich bis ans Ende meines Lebens leben müssen. Mit der Scham und der Schuld. Denn er sprach die Wahrheit.“ Die Stimme ihrer Mutter war immer leiser geworden. Mit der gesunden Hand rieb sie sich den Armstumpf. Ihre Augen starrten an Adiv vorbei ins Leere. „Der alte Wirrkopf. Bestimmt reckt er die Faust aus dem Grab und schüttelt sie schadenfroh in meine Richtung. Soll er.“ Geräuschvoll zog sie die Nase hoch.
„Novíes“, sagte Adiv. „Soll ich mich nun so nennen?“
„Dein Vater nahm meinen Namen an. Er fand ihn schön und behielt ihn.“
„Er wollte mir vieles erklären, als ich ein Kind war.“
„Gleichzeitig wollte er dich vor seinem Wissen schützen. Aber du hörtest eh nie zu.“
„Ich hatte eine schreckliche Zeit nach eurem Tod. All die Dinge, die ich nach und nach herausfand.“
„Wir hätten dir alles erzählt. Die Zeit schien nur noch nicht reif. Und nach Aans Tod ging alles so schnell. Ich musste dich schützen. Und sieh, was aus dir geworden ist! Dein Vater wäre noch stolzer auf dich, als ich es bin.“
Tränen schossen in Adivs Augen und erstickten ihre Stimme. „Nach der Flucht habe ich euch gehasst.“
„Es tut mir leid“, flüsterte Etahpe. „Ich habe ständig an dich gedacht.“
Ein Gedanke schoss jählings durch Adivs Kopf und sie ruckte hoch. „Du warst nicht auf Drahórsul, oder?“
Etahpe musterte ihre Tochter erstaunt. „Warum fragst du?“
Adiv suchte nach passenden Worten. „Weil ich dich gesehen habe. So deutlich, wie ich dich jetzt sehe.“
Etahpe lächelte. „Nein. Wie auch?“
„Dann habe ich einen Geist gesehen.“ Adiv seufzte. „Manchmal glaube ich, ich habe die ganze Reise nur geträumt.“
„Magie narrt die Menschen.“
„Während der Reise bekamen wir alle das Gefühl, nicht zufällig dort zu sein. Es war, als würde eine höhere Macht uns zusammenführen. Alles hängt miteinander zusammen: Ereignisse, Schicksale, die Kinder, wir. Über Generationen und Völker hinweg. Als ob jemand aus dem Schatten heraus unsere Geschicke lenkt, uns wie Figuren über ein Spielbrett schiebt. Wir können uns die Zusammenhänge nicht erklären, nicht einmal Ylaiy.“
„Magie“, erwiderte Etahpe schlicht.
„Was meinst du?“
„Sie ist nicht nur diese zerstörerische Kraft. Sie verbindet auch und gibt Zuversicht.“
Adiv schüttelte sich. „Sie löscht Leben aus.“
„Stimmt, aber sie ist so viel mehr! Magiebegabte Menschen spüren einander, da bin ich ganz sicher.“
„Oh ja. Arlen scheint immer zu wissen, wo die anderen Kinder sind. Auch Ardanna und Cledent fanden zueinander.“
Etahpe nickte. „Dein Vater hat Arlen sofort erkannt. Manchmal denke ich sogar, Magie ist wie ein Keim, der auf andere überspringt, sie infiziert.“
„So wie Chada Jonoy ansteckte“, murmelte Adiv. „Das ist gruselig.“
„Nur, wenn sie die Falschen infiziert. Aber bei den richtigen Menschen? Arlen brachte Menschen zum Lachen, Ardanna heilt Krankheiten, Cledent benutzte sie, um Verbrecher zu fangen.“
„Er hat dich ins Gefängnis gebracht!“
„Weil er ein ehrenwerter Mann war.“
„Diese Chausselles wollen sicherlich nichts Gutes. Sie planen einen Umsturz.“
„Für den Ältesten ist es Rebellion, für die Chausselles Emanzipation. Eine uralte Tradition zwingt sie zu einem Leben unter der Erde. Sie wollen keine Würmer mehr sein.“
„Sie haben mich angegriffen! Jonoy ein Zeichen in die Brust gebrannt, geholfen, die Residenz niederzubrennen. Die Drana’sora war unsere Freundin!“
Etahpes Augen verschleierten sich. „Ihr Weg ist falsch und fordert Opfer. Doch auch eure Hände sind in Blut getaucht. Ihr habt ein ganzes Volk ausgelöscht.“
Adiv sah ihre Mutter fassungslos an. Diese hielt ihrem Blick stand, auch wenn um ihre Lippen ein sanftes Lächeln spielte.
„Der Anführer dieses Volkes hatte die Kinder geraubt und viele Menschen umgebracht. Er hat Aan töten lassen!“
„Um sein Volk zu retten, ja.“
„Nein, nein, nein.“ Adiv schüttelte heftig den Kopf. „Du täuschst dich. Es ging ihm nur um sich selbst. Er war größenwahnsinnig, ein Verrückter. Er prahlte, spielte mit uns, genoss es, Schmerzen zuzufügen, zu martern und zu foltern. Wir haben getötet, weil wir es mussten, nicht, weil wir es wollten.“
„Hell und Dunkel“, erwiderte ihre Mutter nach längerem Schweigen. „Gut und Böse. Manchmal sind sie schwer zu unterscheiden. Maji ist ein zweischneidiges Schwert, vereint beides. Ich glaube, Elphen und Kalphon wollen von den Kindern lernen. Ihr Weg ist dunkel, ihr Wille nach Macht ist dunkel. Die Kinder könnten sie Gutes lehren, ein neues Reich errichten, ein besseres möglicherweise.“
Adivs Kehle wurde eng. „Genausogut könnte das Dunkle sie beherrschen.“
„Wer weiß?“ Etahpe stand auf und schüttelte ihre Beine aus. „Sie könnten Kriege vereiteln, Gerechtigkeit schaffen, Krankheiten heilen. Genausogut könnten sie die Welt ins Taumeln bringen.“
Adiv sah sie bestürzt an. „Was sollen wir tun?“
„Wir schützen die Kinder. Vor Menschen und vor der Magie, ihrer größten Feindin.“ Etahpe wies mit dem Kinn auf das Ende des Ganges. „Deine Freunde sind da. Sie kommen, um dir zu sagen, dass ihre Suche erfolglos war. Vei ist weg.“
„Was? Wie?“
„Mit den Verbündeten auf K’yr und hier drin kein Problem.“
„Dort hat er sie gesammelt? Wir müssen dorthin!“
„Vei ist längst über alle Berge. Ihr müsst zu den Kindern.“
Adiv ging ihren Gefährten entgegen. „Er wollte uns gar nicht töten!“
„Und ob er das wollte“, rief Syriakin, die als Erste bei ihnen anlangte. „Langsam und lustvoll in einer Folterkammer. Ich denke, dass die Chausselles ihn abhielten.“
„Ylaiys Gemahlin hatte recht“, fügte Gillok hinzu. „Die Angriffe waren Köder. Er wusste, dass wir einander zu Hilfe eilen würden, blieb hier hocken wie eine Zecke und wartete. Te Sants Leiche wurde gefunden. Mit zerschnittenem Gesicht.“
„Klingt nach einem Schlächter“, sagte Etahpe.
„Die Chausselles sind auch weg. Wir sollten aufbrechen.“
„Nehmt euch in acht“, wandte Etahpe sich an die Sumpfleute. „Sie werden Fallen auslegen und Hinterhalte planen. Ihr dürft die Hauptwege nicht benutzen.“
„Beeilt euch!“, rief Nou vom Ende des Ganges. Chries, Cehaj und Nebunedzad standen bei ihm.
„Geleitschutz?“, murmelte Syriakin.
„Unterstützung“, gab Etahpe zurück. „Der Älteste hält große Stücke auf sie. Chries ist hier von größerem Nutzen. Wir brauchen Wärter wie ihn.“
Syriakin und Gillok nickten und sprinteten zu Nou.
Zärtlich schubste Etahpe ihre Tochter den anderen hinterher. „Wir sehen uns wieder. Schützt die Kinder. Besiegt Maji. Wir werden auf euch warten. Nun geh!“
„Wehe, du stirbst!“

Arlen stand am Fußende eines Krankenlagers und beobachtete, wie Ardanna, unterstützt von einem ihrer neuen Helfer, einem Mann im fortgeschrittenen Stadium des Fiebers eine zylindrische Messingkapsel auf den Unterarm legte.
„Man nennt es Schnepper“, erläuterte sie dem Helfer. „Ein Silberschmied hat es entwickelt. Habt Ihr den Hebel angezogen?“
Der Mann nickte.
„Dann drückt auf den kleinen Knopf hier oben. Der Mechanismus wird die Lanzetten auslösen.“
„Warum benutzt Ihr kein Messer?“, fragte der junge Heiler, nachdem er eine Schüssel unter den Arm des Kranken geschoben hatte, um das Blut aufzufangen.
„Angeblich ist der Schnepper schmerzloser.“
„Ihr wirkt nicht überzeugt.“
Ardanna lehnte sich zurück und atmete tief ein und aus, bevor sie antwortete. „Ich bin keine Anhängerin von Aderlässen. Ihre Heilwirkung ist fragwürdig.“
„Aber sie werden seit Jahrhunderten angewandt.“
„Ein Allerweltsallheilmittel, ja.“
Die Augen des Helfers verengten sich. „Haltet Ihr es für falsch, schlechtes Blut zu entfernen?“
Arlen musterte den Mann, einen Elboin, der mit anderen Heilern aus Yruish gekommen war. Ein Lehrling aus Ylaiys Palast. Er spürte Verwirrung, gepaart mit Unglauben.
Ardanna fuhr sich mit dem Unterarm über die Stirn, sorgsam darauf achtend, sie nicht mit den Händen zu berühren, und seufzte. „Schlechtes Blut, Vouker, bedeutet letztlich durch Krankheitserreger verunreinigtes Blut. Es speist den gesamten Körper. Die Erreger sind längst überall. Das Blut auszulassen schwächt den Kranken nur weiter.“
„Dafür wird sein inneres Gleichgewicht wieder hergestellt.“
Ardanna nickte. „Die Körpersäfte. Ich kenne die Schriften der Weisen.“
„Aber Ihr glaubt ihnen nicht.“ Voukers Stirn kräuselte sich.
„Sagen wir, nicht alles überzeugt mich.“
Arlen spürte jähe Vorsicht in Ardannas Stimme. Sofort war er auf der Hut.
„Und doch wendet ihr den Aderlass an.“
Darauf hatte Ardanna keine Antwort. Sie klemmte den Arm des Kranken ab und verband ihn. Ihr Blick wanderte über den mit stinkenden Eiterbeulen übersäten Unterarm des Fiebernden. Sie zögerte kurz, dann legte sie einen behandschuhten Finger auf die Wange des Mannes. Eine Geste des Trostes und der Hilflosigkeit.
„Ihr wisst nun, wie es geht“, sagte sie.
Vouker nickte und verschwand.
„Wollt Ihr das Blut untersuchen?“, fragte Arlen.
„Was meinst du? Wie? Worauf?“
„Auf Erreger.“
„Sie haben die Pocken, Arlen. Was machst du überhaupt hier? Solltest du nicht bei Shesh und Yvain sein?“
„Ich bin hier mehr von Nutzen. Die beiden trainieren an den Waffen. Shesh glaubt noch immer, ein Schwert richte etwas aus.“
Ardanna erhob sich von der Lagerstatt. „Wie du meinst. Kannst du das entsorgen? Vergrab es am besten neben der Brennhütte. Ich habe zu tun.“
„Vergesst Euer Mittagsmahl nicht“, erinnerte Arlen sie. „Ich habe es im Vorraum abgestellt.“
„Danke.“ Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Ardanna. „Ist sonst alles in Ordnung?“
„Wir kommen zurecht. Sphita und die Gesellen sind Besorgungen machen, Ciycain und Kian mit Ivson im Wald.“
„Nachricht von Akim und Jonoy?“
„Sechs Kaninchen auf der Schwelle des Küchenflügels. Probiert den Eintopf. Er schmeckt gut.“
„Das werde ich“, versprach Ardanna. „Und nun hinaus mit dir.“
Behutsam nahm Arlen das Schüsselchen in beide Hände und entfernte sich den Gang hinunter.
Kurz darauf blinzelte er ins Sonnenlicht. Wenn man sich eine Weile im Haus der Kranken aufhielt, vergaß man, dass draußen das Leben weiter ging. Die Natur schien unbeeindruckt vom Leiden der Menschen.
Der Knabe blieb einen Moment stehen und reckte sich der Sonne entgegen und genoss die Wärme auf der Haut, doch er erstarrte, sobald der Blutgeruch seine Nase erreichte und Kupfergeschmack sich in seinem Mund ausbreitete.
Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck der Neugier. Er trug das Schüsselchen in die entfernteste Ecke des Hofes, in der sich die Hütte befand, in der Ardanna Krankenhausabfälle verbrennen oder vergraben ließ. Dort sah er sich nach allen Seiten um, bevor er die Schüssel auf dem Boden abstellte, sich hinhockte und den Zeigefinger eintauchte.
Das Gewebe begann auf der Oberfläche bereits zu gerinnen und sich als hellere Flüssigkeit abzusetzen. Arlen rührte darin herum, betrachtete interessiert die Spuren, die sein Finger zog, inhalierte den Geruch, dachte über das eigene Blut nach, das in seinem Inneren pulste, durchsetzt mit Magie. Nicht wie das Blut an seinem Finger.
Er zog den Finger heraus und hielt ihn gegen das Licht. Tropfen sammelten sich an der Unterseite. Dann veränderten sich seine Augen. Die Pupillen schrumpften so stark, dass sie unsichtbar wurden. Die grauen Iriden strahlten auf, wurden silbern, gleißend. Die Bewegung der Blutstropfen auf dem Finger verlangsamte sich so sehr, dass sie beinahe zum Stillstand kam. Arlens Blick drang in einen der Tropfen ein, vergrößerte ihn, hundertfach, tausendfach, bis winzige Bausteine des Lebens vor seinen Augen schwammen. Ringförmige Körperchen, kugelförmige Gebilde, strahlenartige Auswüchse. Er zuckte zurück, als er die schwammartigen Monstrositäten entdeckte, riesenhaft im Vergleich zu den Partikeln des Blutes, bösartig und hinterhältig. Wie ein Nest von schwarzgeäderten Vogeleiern lagerten sie in der Flüssigkeit, als warteten sie nur darauf, einen weiteren Schwarm todbringender Erreger freizusetzen.
Hastig sprang der Junge auf und schüttelte das Blut ab. Unbeweglich verharrte er dann in der Sonne, gedankenverloren, weltentrückt.
„Was tust du?“, schreckte eine helle Stimme ihn auf.
„Er stirbt. Er wird sterben“, stammelte er.
„Das wird er“, bestätigte Kian und zog an Arlens Arm. „Wir müssen uns beeilen. Sie brauchen unsere Hilfe.“
Die Welt schnellte zurück in Arlens Bewusstsein. Entsetzt begriff er, dass Kian nicht von dem Fiebernden gesprochen hatte.

Für einen Mann seines Alters bewegte er sich erstaunlich flink. Sie watschelte hinter ihm her, bemüht, mit ihm Schritt zu halten.
„Was ist hier los?“, keuchte sie. „Wo sind die Wachen? Die Bediensteten?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Frier Bland, den gespenstisch leeren Korridor entlang hetzend. Immer wieder musterte er die Türen und schwer einsehbaren Winkel hinter den Säulen in den Wandspiegeln, warf zwischendurch nervöse Blicke auf die Frau hinter sich, deren Gesicht rosa glänzte. Einzelne Haarsträhnen flatterten um ihre Stirn.
„Warum stehen sämtliche Türen offen?“, fragte sie weiter. „Wo sind alle? Niemand scheint mehr hier zu sein.“
„Sie sind im Thronsaal“, sagte eine Stimme freundlich.
Paíre und Bland bremsten ihren Lauf, verharrten auf der Stelle und starrten auf den Mann, der hinter der nächsten Biegung hervortrat und ihnen entgegeneilte.
„Theou?“, rief Paíre erleichtert. „Den Himmeln sei Dank! Es geht dir gut!“
„Warum sind die anderen im Thronsaal?“ Misstrauisch hinkte Bland näher an den jungen tan Sayan heran, verdeckte die Hohe Gemahlin mit seinem Körper, wie um sie zu schützen. „Wer hat sie dorthin befohlen?“
„Urdat Vei. Wer dem Befehl nicht folgte, wurde gezwungen.“
„Was?“, schrie Paíre auf. „Vei ist hier?“
„Seine Schergen treiben bereits die Handwerker und Gäste zusammen. Er liebt Publikum. Wir sollten hier nicht sein.“ Theou sprach hastig, feuerte Blicke in alle Richtungen, gestikulierte sie in ein Gemach und warf die Tür hinter ihnen zu.
„Weshalb seid Ihr nicht im Thronsaal?“
„Allzeit voller Argwohn, das alte Skelett“, zischte Theou dem Bibliothekar zu. „Haltet Ihr mich immer noch für einen Nichtsnutz?“
„Theou!“, protestierte Paíre empört.
Ihr Bruder beachtete sie nicht. „Ihr könnt mich nicht ausstehen, nicht wahr, Bland? Ihr traut mir nicht. Von Anfang an nicht.“
Bland wich vor dem aufgebrachten Mann zurück, bewahrte jedoch eine ruhige Haltung. „Habe ich mich geirrt?“
„Durchaus nicht.“ Theous Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, nur einen Sekundenbruchteil, bevor er einen langen, außergewöhnlich schmalen Dolch zog und ihn Bland in den Leib rammte. „Man nennt diese Waffe Gnadenbringer“, raunte er dicht am Ohr des Aufgespießten. „Wisst Ihr, wieso?“
Bland röchelte unhörbare Worte.
„Theou!“, kreischte Paíre. „Was tust du denn? Hör auf!“ Sie klammerte sich an den Arm ihres Bruders, der sie mit einem Ruck zur Seite schüttelte.
„Die Klinge richtet kaum äußerlichen Schaden an. Ich mag kein Blut, versteht Ihr? Dafür ist der innere Schaden beträchtlicher. Ich weiß nicht, was ich getroffen habe, aber irgendein Organ hat jetzt ein Loch.“ Mit einem weiteren heftigen Ruck riss er die Klinge heraus und trat einen Schritt zurück. Bland krachte zu Boden.
Theou betrachtete ihn interessiert, während Paíre zu Tode erschrocken die Hände vor den Mund schlug und ihre eigenen Schreie erstickte.
„Du hast Vei Tür und Tor geöffnet? Du warst sein Mann hier im Palast? Sein Spitzel?“, fragte sie schließlich mit morscher Stimme und zitternder Unterlippe.
„Das dürfte mittlerweile klar sein“, erwiderte Theou und betrachtete den gewölbten Leib seiner Schwester mit einer Mischung aus Abscheu und Bedauern. „Ich hoffe, du bekommst nicht so viele Kinder. Du siehst aus wie ein Wal. Das kann nicht gut sein.“
Ihre Hand klatschte auf sein Gesicht. „Du Schwein! Verräter! Du hast nicht nur dich entehrt, sondern das gesamte Haus Sayan in Verruf gebracht! Für was? Für Besitz, Reichtum und Macht? Weil es ein Spiel war? Ein bisschen Aufregung?“
Theou nickte zu jedem der aufgezählten Beweggründe übertrieben eifrig mit dem Kopf und hakte sie einzeln ab, indem er die Finger hochstellte. Paíre hätte ihn allein dafür erwürgen mögen.
Die Schmerzwelle in ihrem Leib lenkte sie ab. Zitternd legte sie ihre Hände auf den Bauch.
Theou war die Bewegung nicht entgangen. „Es kommt bald, nicht wahr? Dein Balg?“
„Dein Neffe!“, schleuderte sie ihm entgegen. Kurz darauf zuckte eine weitere Welle durch ihren Körper. „Auch ihn hast du entehrt. Noch vor seiner Geburt.“
„Hm. Meinst du, es wäre besser für ihn - oder sie - gleich drin zu bleiben?“
„Was? Was meinst du?“
Theou lächelte das Lächeln eines Verrückten. Den Kopf auf die Seite gelegt, sah er sie an, so wie ein Wissenschaftler eins seiner Objekte betrachten mochte, bevor er es aufschnitt. „Ich meine, welche Zukunft hat es?“ Er kam noch einen Schritt näher, während Paíre zurückwich, bis sie die Wand im Rücken spürte. „Sieh mal, es ist doch so: Ihr habt verloren, dein Prinz und du. Die Kaiserin und ja, auch Vater. Urdat Vei gewinnt. Unten im Hauptsaal besteigt er den Thron. Ich werde bei ihm sein. Als sein Berater, sein Inquisitor, sein Freund. Ich, der Onkel der Brut in deinem Inneren. Vei wird es sowieso töten, das ist dir doch klar? So, wie er alle Thronfolger töten wird, einschließlich seiner Bastarde und Enkel. Weil nur ihm der Thron gebührt. Die Dynastie Ylaives wird ausgelöscht. Ein neues Zeitalter wird geboren heute Nacht, Schwesterlein. Leider wirst du es nicht mehr erleben.“
„Du bist wahnsinnig“, flüsterte Paíre. Tränen strömten über ihr Gesicht. Tränen der Trauer und des Entsetzens, Tränen der Angst und des Schmerzes. In ihrem Leib brandeten die Wehen, versetzten ihn in Schwingungen, raubten ihr den Willen, sich gegen Theou zur Wehr zu setzen. Lieber wollte sie sich hinlegen, die Beine öffnen und das Kind herausstoßen, das von innen gegen sie drängte, das etwas aufgerissen hatte in ihr, etwas, das auf den gekachelten Fußboden plätscherte.
Das Fruchtwasser ließ Theou zurückweichen, während sie sich an die Wand drückte und sich mit aller Macht darauf konzentrierte, nicht auf den glitschigen Boden zu sinken.
„Das ist wirklich eklig“, sagte er angewidert.
„Du bist ein Weichling“, flüsterte sie, die Hände um den Leib gekrampft. „Das zumindest warst du schon immer. Nachgiebig. Ohne Knochen, ohne Rückgrat.“
„Aber mit Verstand gesegnet“, widersprach er mit erhobenem Zeigefinger. Zu ihrem Entsetzen wirkte er erheitert und sie sah ein, dass sie nichts erreichen würde. Er hatte kein Gewissen, das sie erweichen konnte.
Langsam schloss sie die Augen und ging in die Knie.
„Willst du betteln?“, fragte er. Es war kein Hohn in seiner Stimme, nur Neugier.
„Ich bettele nicht vor dir. Ich bekomme ein Kind. Was willst du nun tun? Zuschauen?“
„Dieser Sauerei? Bedauere.“
„Dann tue es schnell. Das Fruchtwasser war nur der Anfang.“
Er überlegte kurz mit zurückgelegtem Kopf und nickte. „Klingt vernünftig.“
Das Seidentuch, das er aus der Brusttasche zog, entfaltete und ausschüttelte, erkannte Paíre wieder. „Das hat Mutter gehört. Du hast es gestohlen. Aus ihren Sachen.“ Sie schluchzte vor Erschütterung.
„Haben wir das nicht alle? Was ist deine, hm? Deine Erinnerung? Wo hast du sie versteckt?“
Paíre sagte nichts mehr. Sie schloss die Augen, während er das Tuch auf ihren Kopf legte, behutsam fast. „So stirbst du nicht allein. Mutters Duft ist bei dir. Lass sehen, ob die Klinge durch euch beide geht.“
Dann stieß er zu.

Wimmernd streckte Tikt ihnen die Arme entgegen, die verletzte Hand mit einem dicken Bündel sauberer Bandagen umwickelt. Sein Körper, gewaschen und verarztet, steckte in frischer, einfacher Kleidung.
Der Anblick machte Mannero wütend. Wütend auf den armseligen Wurm, der sich auf dem Boden der Zelle wand, wütend auf die Fürsorge, die Sphitas Mutter ihm trotz seiner Vergehen angedeihen ließ. Der Kerl war verdorben, ein Bastard, ein Mörder.
Ohne Vorankündigung trat er vor und verpasste Tikt einen Faustschlag. Mit einem leisen Aufschrei wich Sphita zurück.
„Er wird nicht sprechen“, raunte Mehlau und betrachtete den Bluterguss, der sich purpurn auf Tikts Jochbein ausbreitete. „Das war eine dumme Idee. Lass uns Ardanna holen.“
„Noch nicht“, knirschte Mannero. „Erst wird er uns ein bisschen was erzählen.“
„Mutter wird das nicht gefallen“, murmelte Sphita mit angstgeweiteten Augen.
„Dieser Kerl ist ein Drecksack. Er hätte nicht gezögert, einen Säugling zu töten. Er ist schuld an Meister Jonoys Verstümmelungen. Er hat die essha zerstört.“
„Wie hätte er in unser Dorf gelangen können, wenn er gleichzeitig Sila nachjagte?“ Mehlau schlüpfte vor ihn und sah ihn eindringlich an. „Hör auf damit! Was ist nur mit dir los? Seit wir auf Wanderschaft sind, bist du so anders.“
„Wir sind nicht auf Wanderschaft, Trottel. Wir sind keine Gesellen, die sich um Arbeit verdingen. Hast du das noch nicht begriffen? Hier geht es um Leben und Tod. Um unser aller Leben!“ Auf Manneros Kahlkopf glitzerte Schweiß.
„Deswegen musst du nicht werden wie er! Lass uns Ardanna holen. Akim und den Meister. Wenigstens Shesh. Sie werden wissen, was zu tun ist.“
Manneros wuchtiger Unterkiefer mahlte. Lange betrachtete er Mehlau, der schweigend zurück starrte, und Sphita, die sich hinter ihm an die Wand drückte.
„Tikt hat Informationen“, begann er schließlich erneut. Er zwang sich zur Ruhe, sprach beherrscht und ohne seinen polternden Unterton. „Ich glaube nicht, dass er so verrückt ist, wie er tut. Ich glaube, er ist berechnend. Hinterhältig wie sein Vater. Er hält uns hin. Ardanna ist eine gute Frau und genau das nutzt er aus. Habe ich recht, Missgeburt?“
Tikt war in die hintere Ecke gerutscht und hatte die Arme vom Kopf genommen. Sein Gesicht glänzte gelb von alten Prellungen und schwoll an, wo Manneros Faust ihn getroffen hatte. „Sie hat meine Finger weggenommen“, flüsterte er mit hoher Stimme.
Mannero lächelte mit geschürzten Lippen. „Ohne die Amputation wärest du längst verreckt.“
„Meine Finger“, heulte Tikt wie ein waidwundes Tier auf.
„Ein Schwert wirst du nicht mehr halten“, gab Mannero zur Antwort. „Du meuchelst niemanden mehr, hast du verstanden?“
Statt einer Antwort wimmerte Tikt vor sich hin und zupfte an dem Armstumpf.
Mehlau hielt seinen Freund am Ärmel fest. „Lass ihn. Wir werden anders an Informationen gelangen. Wir könnten Maxim festnehmen lassen, ihn verhören.“
„Das können wir ja immer noch. Hier geht es um Kinder. Um uns alle.“
Sphita keuchte auf. „Mannero!“ Ihr Finger wies auf Tikt. „Er kennt ihn! Er kennt Maxim.“
Manneros und Mehlaus Köpfe schossen herum. In der Tat war Tikt verstummt. Er kauerte in der Ecke, die bandagierte Hand zwischen die Beine gestopft, Speichel in den Mundwinkeln. Seine Augen waren auf sie gerichtet und seine Körperhaltung verriet Aufmerksamkeit.
„Wusste ich es doch“, knurrte Mannero. Mit einem Schritt war er bei dem Gefangenen und zog ihn am Hemdkragen in die Höhe. „Rede! Hat Maxim etwas mit euren Plänen zu tun?“
„Maxim?“, fragte Tikt wenig überzeugend.
„Du machst besser dein Maul auf!“
„Mach du deines endlich zu!“
Tikt, der bis zu dieser Sekunde wie eine Gliederpuppe in Manneros Fäusten gehangen hatte, wuchs jählings in die Höhe. Der bandagierte Armstumpf fuhr in einer Aufwärtsbewegung über die Brust des Schmiedelehrlings. Mit heißem Entsetzen registrierte Mehlau die Klinge, die aus dem Verband ragte. Blut lief über sie, sickerte in den Wickel.
Mannero stand stocksteif, dann erschlafften seine Muskeln. Schwer sackte er in sich zusammen. Tikt ließ ihn beinahe angewidert los und drehte sich um. Seine Augen blickten kalt und klar.
In einem Satz war er bei Mehlau und Sphita, die tödliche Klinge erhoben. Mehlau reagierte instinktiv, stellte sich Veis Sohn in den Weg und schob Sphita zur Seite. „Lauf!“, bekam er noch heraus, bevor Tikts Messer in seinen Oberarm fuhr.
Mehlau brüllte auf, umklammerte die Wunde mit der anderen Hand. Ein Fehler. Schonungslos stach Tikt ein weiteres Mal zu. Brennender Schmerz ergoss sich in Mehlaus Eingeweide und er klappte vornüber in den Gegner hinein.
Tikt trat beiseite und Mehlau taumelte gegen die Wand, rutschte an dieser hinunter. Fassungslos starrte er auf sein Leinenhemd, dessen Vorderseite sich rasant rot färbte. In einem letzten verzweifelten Versuch, ihn aufzuhalten, grapschte Mehlau nach den Beinen des Soldaten. Tikt stolperte, befreite sich jedoch rasch mit Tritten gegen den Leib des Lehrlings, sodass dieser sich stöhnend zusammenrollte.
Dann war Veis Sohn auf dem Gang und rannte die Stufen hinauf Sphita hinterher.


Sphita taumelte geradewegs in Ivsons Arme. Der Bauernbursche fing sie auf und sah sie verdutzt an.
„Tikt“, würgte Sphita halb keuchend, halb schluchzend heraus. „Er… er, er ist frei. Er hat Mannero…“
Weiter kam sie nicht, denn hinter ihr tauchte Tikt aus dem Dunkel des Treppenhauses auf. Der erfahrene Soldat erfasste die Situation rascher als der junge Vanstetten. Er sprang über den Treppenabsatz auf Sphita zu und gab ihr einen heftigen Stoß in den Rücken, der sie und Ivson in die Knie gehen ließ. Dann glitt er an ihnen vorbei auf die Eingangstür zu, die sich just in diesem Augenblick öffnete.
Wieder schaltete Tikt schneller, als Sphita denken konnte. Anstatt zu fliehen, schnellte er nach vorn und zog Arlen an seinen Körper. „Zurück“, befahl er, den Stumpf an die Kehle des Knaben legend.
Sphita schmeckte Tränen der Furcht und klammerte sich an Ivson, der sich langsam wieder in die Aufrechte brachte.
„Rein mit dir!“, herrschte Tikt den Wüstensohn an. „Oder dein Freund stirbt.“
Gehorsam schob sich Kian ins Haus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. „Was habt Ihr vor?“, fragte er ruhig, die Hände über den Kopf erhoben.
Tikt schnalzte mit der Zunge. Zum ersten Mal seit seiner Befreiung wirkte er unschlüssig. Er äugte nach hinten zur Kellertreppe, dann zu Ivson und Sphita, zur Eingangstür.
„Ihr kommt hier nicht heraus“, erscholl eine tiefe Stimme aus dem Gang zu ihrer Rechten. Erleichtert schloss Sphita die Augen, als sie die Figur des Leibwächters ausmachte. Shesh näherte sich entschlossen, die Hand am Schwertknauf.
„Ich denke doch.“ Ohne Vorwarnung begann Tikt zu kichern.
Sphita erschauerte. Der Kerl war eindeutig wahnsinnig. Seine Stimmungsschwankungen machten ihn unberechenbar.
„Wohin wollt Ihr?“, fragte Shesh. Hinter ihm erkannte Sphita Yvain und Ciycain.
„Nun… weg“, sagte Tikt, als überraschte ihn die Frage.
„Wohin denn? Zu Eurem Vater? Der sitzt in der Boragha.“
Tikt lachte auf, so hell wie ein Mädchen. „In der Boragha? Sei nicht naiv.“ Urplötzlich verloren seine Augen den wahnsinnigen Glanz, wurden kalt und grausam. „Urdat Vei halten keine Gefängnismauern auf.“
Shesh kniff die Augen zusammen. „Was meint Ihr?“
„Er ist frei“, antwortete Yvain leise aus dem Halbdunkel. „Das war Teil des Plans, habe ich recht? Euer Vater ist längst an einem anderen Ort.“
Tikt krümmte sich ein letztes Mal vor Lachen, dann wurde er ernst. „Er erzählte von dir, wusstest du das? Ich bin sein Sohn, aber dich… dich bewunderte er. Pflegte zu sagen, dass du anders wärst. Besonders. Stimmt das?“
„Ja“, sagte Yvain. „Wir alle sind es.“
Tikt schwieg, als horche er auf unhörbare Stimmen. Schließlich nickte er. „Für euch war ich nicht ausersehen. Doch ich bekam das eine oder andere mit. Ihr sollt zaubern können. Ts.“ Ein Laut der Verachtung, getragen von Unsicherheit.
„Etwas in der Art“, bestätigte Yvain.
„Als ich in der Zelle saß, passierte etwas mit meinem Kopf. In meinem Kopf. Alles geriet durcheinander. Die Wände verzerrten sich. Die Decke wölbte sich.“
„Das geschah ohne Absicht.“
„Sie wölbte sich nach oben?“
Yvain senkte den Kopf, während Tikts Frage laut nachklang.
Ihr seid es, die er eigentlich will, nicht wahr? All das andere ist nur… Beiwerk. Es geht um euch. Es ging immer um euch.“
Ivson befreite sich behutsam von Sphita und trat auf Tikt zu, dessen Griff um Arlens Hals sich sofort verstärkte. „Auf dem Hof gab es keins der Kinder. Nur Sila, Rana und Talin, meine Eltern und mich. Gewöhnliche Leute. Gute Menschen. Da ging es um Rache. Rache an Rana, weil sie nicht länger geschwiegen hat. Rache an Sila, weil sie ihn herausforderte.“
„Und weil sie seine Tochter ist.“
Ivson sah verwirrt zu Shesh.
Tikt grinste. „Du hast mit allem recht. Vergeltung, Bestrafung, all das. Aber sie ... Veis Blut fließt in ihren Adern. In Talins Adern. Sie sind Kontrahenten.“
„Kontrahenten worum?“
„Den Thron“, begriff Yvain. „Wenn Vei den Thron besteigt, werden seine Nachkommen automatisch legitimiert. Die Thronfolge ist blutsgebunden.“
„Aber er hat doch kein Anrecht“, gab Shesh zurück.
„Er ist der Gemahl der Kaiserin. Wenn sie stirbt, rückt er an ihre Stelle.“
„Nicht als verurteilter Straftäter. Dafür hat Euer Vetter gesorgt.“
„Die Ehe wurde nie offiziell annulliert, da Vei nicht zugegen war. In den Gesetzen steht, dass beide anwesend sein müssen. Eine Grauzone.“
„Die er mit Gewalt aufweichen wird“, meldete sich Ciycain aus dem Hintergrund.
„Was?“, riefen Shesh und Ivson gleichzeitig.
„Er will die Kaiserin töten“, sagte Kian leise. „Deshalb hat er alle hierher gelockt. Der Palast ist unbewacht und durchsetzt mit Verbündeten.“
Tikt lächelte. „Ein teuflischer Plan. - Hey, du da!“, rief er Shesh zu. „Pfeif die Bediensteten zurück! Sonst stirbt der Junge. Eins der Kinder.“
„Wer von ihnen hat Euch geholfen?“, stieß Arlen mühsam heraus.
Tikts Grinsen vertiefte sich. „Wer sagt, dass ich Hilfe hatte?“
„Ardanna ließ Euch durchsuchen. Eure Wäsche wurde gewechselt, Euer Körper untersucht. Sie hat den Verband selbst angelegt, aber er wurde abgenommen, um das Messer zu verbergen. Die Art zu verbinden ist anders. Die Klinge stammt aus diesem Haus. Es ist ein Küchenmesser.“
„Ihr seid ja alle so schlau“, höhnte Tikt, doch erneut schlich sich Verunsicherung in seine Stimme.
Ciycain trat langsam zu Yvain und ergriff seine Hand. Beide Kinder wandten sich gleichzeitig um und gleichzeitig kreuzten ihre Blicke den der Dienstmagd, die sich im Flügel des Küchentraktes herumdrückte und das Ganze mit unverhohlener Neugier beobachtete wie die anderen Bediensteten. Sie wurde blass, als sie realisierte, dass sie enttarnt worden war.
Mit einem erschrockenen Aufschrei wandte sie sich um und wollte in die Küche flüchten, doch Sheshs „Haltet sie!“ brachte Martila und eine Wäscherin dazu, sich der Magd in den Weg zu stellen.
„Susa“, flüsterte Sphita, die Hand vor den Mund gelegt.
Ein Handgemenge brach aus, als Ivson zu Susa sprintete, diese sich gegen die vielen Arme zur Wehr setzte und die Köchin jaulend und um sich schlagend zu Boden zerrte.
Shesh nutzte die Aufregung, um auf Tikt zuzuspringen, der Arlen an sich riss und ihm das Messer an die Kehle legte. Sphita schrie auf und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Kian hielt sie zurück und zog sie mit sich zu Ciycain und Yvain, deren Hände er ergriff.
Glühende Luft fegte über sie hinweg. Sphitas Zopf löste sich, als ihr Haar sich aufstellte. Sie stürzte zu Boden und mit ihr einige der Bediensteten. Schreie erfüllten das Haus. Tikt und Shesh wankten, behielten aber das Gleichgewicht. Blasen erschienen auf den Wänden, zerplatzten und ließen Rußspuren zurück. Sphita barg ihren Kopf zwischen ihren Armen und schrie, als sie sah, wie Arlen den Zeigefinger vor Tikts Gesicht hob. Der Finger war schmutzig. Blassrote Flecken sprenkelten ihn. Sie verflüssigten sich und verdampften zu feinem Staub. Dann blies Arlen und die Wolke spritzte auf Tikts Schädel.
Sie verstummte vor Entsetzen, als Beulen aus Tikotuns Stirn wucherten, sich öffneten und stinkender Eiter sich über seine Augen ergoss. Tikt ließ Arlen los und taumelte nach hinten. Shesh, einen Ausdruck unsäglichen Ekels im Gesicht, stieß dem Soldaten sein Schwert in den Leib und hob den Fuß. Mit einem Kreischen verschwand Tikt in den Kellergewölben.
Sphita gelang es erst Minuten später, einen klaren Gedanken zu fassen. Auf dem Boden knieend, betrachtete sie ihre Umgebung. Die Kinder standen hinter ihr. Sie hatten einander losgelassen und Arlen in ihre Mitte genommen. Alle vier wirkten mitgenommen und waren leichenblass. Aus dem Küchenflügel drangen erstickte Schluchzer und lautes Weinen. Susa lag heulend auf dem Boden, eingekeilt zwischen Ivson und der Wäscherin. Shesh hatte die Hände auf die Schenkel gelegt und stand vornübergebeugt, als wäre ihm übel. Immer wieder wischte er sich die Finger an den Hosen ab.
Sphitas Blick wanderte Richtung Treppe. Von unten meinte sie, ein Wimmern zu hören.
„Mehlau.“ Der Gedanke an den Schmiedegesellen half ihr, auf die Beine zu kommen.
Shesh blickte auf. „Ist er dort unten?“
Sphita nickte und tapste zur Treppe, gefolgt von Shesh und den Kindern. Auch Ivson rappelte sich auf.
Thrageshs breiter Körper schob sich vor sie alle, bevor sie langsam die Stufen hinab stiegen. Am Fuße fanden sie Tikt, bis zur Unkenntlichkeit von den Pocken entstellt. Blut tränkte seine Vorderseite. Sein Genick war gebrochen. Woran er letztlich gestorben war, ließ sich unmöglich feststellen. Shesh rollte ihn mit dem Stiefel zur Seite.
Mehlau kauerte mit grauem Antlitz im Türrahmen. Er hielt die Hände auf den Bauch gepresst und atmete schwer. Sphita kniete sich neben ihn, schob die Hände beiseite und das Hemd hoch. Sie japste, als sie die Wunde sah.
„Sie ist nicht tödlich“, sagte Arlen. Er blickte mitfühlend. „Tikt hat keine Organe getroffen. Die Wunde muss genäht werden, ebenso die am Arm. Er wird wieder gesund.“
Woher weißt du das?, wollte sie fragen, fand aber nicht die Kraft.
„Er ist tot.“ Mehlau sah sie an, als wäre sie die Erwachsene und er das Kind, verletzlich und traurig. „Der Dummkopf. Das hat er nun davon.“
Sie nahm ihn in die Arme, als er zu weinen begann und blickte die anderen an. „Ich sollte jetzt meine Mutter holen.“

Unter dem Stiefeltritt erzitterte die Tür in den Angeln. Rana fuhr in die Höhe. Ihre Augen zuckten durch den spärlich erleuchteten Raum, fingen die kleine Gestalt ein, die sich in der Nähe des Kamins regte.
„Aufmachen“, brüllte eine heisere Stimme.
Ein zweiter Tritt erschütterte die Tür. Rana wühlte sich aus dem Bettzeug und eilte zu ihrem Enkel. Talins Augen starrten sie ängstlich an.
„Pst.“ Sie reichte ihm ein Stofftuch, dessen Ecken zu Zipfeln verknotet waren. Talin gurgelte etwas Unverständliches und steckte sich einen Zipfel in den Mund. „So ist es gut. Sei schön brav.“
Zum dritten Mal erschauerte die Tür unter Stiefeltritten. Holzsplitter rieselten aus dem Türrahmen, doch Martels Schloss war von erstklassiger Qualität. Der Riegel hielt stand.
„Macht auf oder wir räuchern euch aus!“ Eine Männerstimme, polternd und drohend. Talin hörte auf zu nuckeln und verzog das Gesicht.
Rana zwang sich zu einem besänftigenden Lächeln und raffte sich zu einer einigermaßen forschen Antwort auf. „Einen Augenblick!“
„Öffne sofort!“
„Ich komme.“ Rasch legte sie sich einen Kittel über ihr Nachtgewand, verknotete ein Schultertuch über ihrer Brust, warf Talin einen letzten Blick zu und entriegelte die Tür, die im selben Moment durch einen Tritt aufschwang.
Ein Mann stapfte auf die Schwelle, massig, an der Grenze zur Fettleibigkeit. Im Fackelschein glänzte sein feistes Gesicht rosa, blickten die Knopfaugen stechend. Verschwitzte Haarreste standen von seinem unförmigen Schädel ab. Er stank nach Schweiß.
„Ist ja doch jemand zu Hause“, sagte er.
„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?“
„Gute Frau, seid Ihr taub?“
Er hob einen Zeigefinger und legte den Kopf schief. Rana lauschte. Der Hinterhof, der Handwerker und Dienstboten beherbergte, war in Aufruhr. Frauenschreie, Männerbrüllen, Kindergreinen, berstende Türen, Stiefelgetrappel auf dem Kopfsteinpflaster. Der ungeschlachte Körper ihres nächtlichen Besuchers versperrte die Sicht, aber sie sah Fackelschein und umher rennende Menschen.
„Ist etwas passiert? Ein Feuer?“ Erschrocken legte sie die Fingerspitzen an die Lippen.
Er grinste. „Nein. Kein Feuer.“
Sie musterte die staubbraune, verlotterte Uniform, die seinen Wanst umspannte. „Zu welcher Einheit gehört Ihr?“
„Zu einer sehr speziellen.“ Er stieß die Zungenspitze in die Wangentasche und trat einen Schritt vor.
Rana wich zurück. In ihrem Magen rumorte es. Furcht legte sich sauer auf ihren Gaumen. „Ein Überfall“, brachte sie heraus. „Ihr gehört zu Vei.“
„Sehr richtig. Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Veis Töchterchen zurückgekehrt sei. Sie wird mir Bonuspunkte einbringen.“
„Welches Vögelchen?“, quetschte Rana hervor.
„Unwichtig“, brummelte er, legte erneut den Kopf schief und betrachtete sie. „Man sagt, sie wäre ein hübsches Ding, seine Tochter. Ich muss sagen, ihre Mutter ist auch nicht ohne. Älter als ich sie normalerweise mag, doch immer noch ansehnlich. Sehr sogar.“
Er schob sich weiter vor.
Rana riss die Augen auf und stolperte rückwärts. Nein!, schrie eine Stimme in ihrem Inneren.
„Seid Ihr wegen uns gekommen?“, flüsterte sie. „Weil er sein eigen Fleisch und Blut aus dem Weg räumen will?“
Der Mann zuckte mit den Achseln. „Es bietet sich an. Und nun aufs Bett. Ich habe zu lange eins entbehrt. Ein weiches Bett mit einer weichen Frau darin ist das, was meinem Lebenstraum ziemlich nahe kommt.“
Rana stieß einen erstickten Laut aus, als seine Faust nach ihr griff. „Das Kind!“, presste sie heraus, während es in ihren Ohren zu gellen begann.
„Ist es der Sohn deiner Tochter?“
„Tut ihm nichts“, bat sie.
„Klingt nach weiteren Bonuspunkten.“ Damit gab er ihr einen Schubs.
Rana stieß gegen die Bettkante, torkelte nach hinten, hielt sich an einem Tischchen fest. Der Soldat warf die Fackel in den Kamin und setzte ihr nach. Gleich darauf fühlte sie sich von seinen Armen eingeklemmt.
Nein!, flehte die Stimme in ihr.
„Hmm“, hauchte er in ihre Halsbeuge, „wie weich du bist. Wie gut du riechst. Ganz anders als die dürren, ausgebleichten Dirnen von unten.“
„Von unten?“, keuchte sie gegen den Schraubstockgriff an. Wenigstens hielt er sie aufrecht. Ihre Beine fühlten sich an wie Maisgrütze. „Meint Ihr das Gefängnis?“
„Dasselbe“, grunzte er.
„Jorgen?“, tönte eine Stimme von der Tür her. „Habt Ihr alles im Griff?“
Jorgen. Rana erinnerte sich an Adivs Erzählung. Ihr wurde schlecht.
„Und ob“, antwortete der Schlächter und wieherte.
„Brauchst du Hilfe?“, fragte ein Dritter.
Nein!, füllte die innere Stimme ihr gesamtes Denken aus.
„Ganz sicher nicht. Sucht euch eigene Weiber“, knurrte Jorgen. „Und macht die Tür zu. Ich will kein Publikum.“
„Beeil dich! Es gibt eine Menge aufmüpfiges Volk hier draußen.“
„Ihr werdet wohl mit ein paar Waschfrauen und Tischlertölpeln fertig! Abmarsch!“
Die Tür fiel ins Schloss, schnitt die Geräusche ab.
Jorgens Griff entspannte sich, als er mit der linken Hand an seinem Hosenschlitz fummelte.
„Bitte“, flehte Rana. „Nicht vor dem Jungen.“
Der ehemalige Wärter gab ein gereiztes Kläffen von sich und stieß sie auf die Bettstatt.
„Hört auf“, schluchzte sie in das Kissen.
Ein Knie drückte sich in ihr Kreuz, presste sie tiefer in die Schilfmatratze. Eine schweißige Hand legte sich auf ihren Hinterkopf, zwängte ihr Gesicht in das Polster, erstickte ihre Proteste. In Rana tosten Angst und Abscheu und das lähmende Gefühl von Hilflosigkeit.
Dann weinte Talin und die Vergangenheit war zurück. Dieselbe Hütte, dieselbe Frau, nur zwanzig Jahre jünger. Ein anderes Kind, ein Mädchen mit großen grauen Augen, aus denen Tränen auf den Boden tropften. Ein Mädchen, das sie weggegeben hatte, bevor ihr Ähnliches geschah. Ein zweites Mädchen, wenig mehr als ein Säugling, in der Wiege, in der ihr Sohn nun lag. Ein anderer Mann hinter ihr, der ihr die Kehle zusammendrückte, bis die Atemnot sogar die unerträglichen Schmerzen ausblendete.
Nein!
Ihr Kopf klärte sich. Jorgen schnaufte, hatte den Hosenschlitz aufbekommen, war dabei, ihre Kleider nach oben zu raffen. Sie machte sich schwer, stemmte ihre Beine in die Laken.
Etwas Hartes bohrte sich in ihre Wange.
Messer.
„Nein“, schnaubte sie und bäumte sich gegen den mehr als doppelt so schweren Mann auf.
Ihre Abwehr überraschte ihn, der Griff lockerte sich. Sie bekam den linken Arm frei, fasste unter das Kissen, angelte nach dem Messer. Dann rollte sie seitlich herum und stieß blindlings zu. Die Spitze fuhr in sein Knie.
Jorgen schrie auf und schüttelte sie ab. Sie donnerte ihm den Ellenbogen gegen den Arm, strampelte, boxte, bäumte sich auf. Talin begann zu schreien.
Sie bekam das Messer erneut zu fassen, rammte es in einen Schenkel. Wieder brüllte Jorgen und verpasste ihr einen Faustschlag, dass ihr Kopf brummte.
Der Mann war ein Bluthund. Ein Bulle, gegen den ihre Kraft nicht anreichte. Dennoch gab sie nicht auf. Sie würde ihm nicht zu Willen sein. Nicht kampflos. Lieber ließ sie sich umbringen. Sie wusste nicht, ob Talin sich erinnern würde, aber falls doch, sollte er sie als Frau im Gedächtnis behalten, die sich gewehrt hatte.
„Schlampe“, keuchte er und nahm das Bein von ihr, um die Stichwunden zu begutachten. „Ich blute.“
Sie warf sich herum, trat nach ihm, traf die Oberschenkel, wischte über sein halb erschlafftes Geschlecht, das zwischen drahtigen Haaren aus der Hose hing, übersät von nässenden Pusteln. Sie würgte. Nie im Leben würde sie sich von ihm anstecken lassen.
„Dafür wirst du büßen.“
Sie wich dem Faustschlag aus, indem sie sich auf der anderen Seite vom Bett rollte. Dabei prallte sie hart auf den Boden, aber den Schmerz hatte sie einkalkuliert. Er setzte ihr über das Bett nach, bekam ihre Haare zu fassen, zog ihren Kopf nach hinten. Rana schrie auf. Ungeachtet der Strähnen, die er herausriss, warf sie sich nach vorn, auf Talins Wiege zu.
Hastig zog sie sich an Wand und Wiege empor und langte in den Korb. Panisch wühlte sie sich unter Talins Körper, hob die Schaffellmatratze hoch, zerrte den Dolch heraus. Ylaiys Parierdolch, die Klinge anderthalb Handlängen lang, kräftig und schmal, der kurze Griff verziert, ausgestattet mit einem kurvenförmigen Klingenfänger. Ein Prunkstück, gerade gut genug für den Thronfolger der Elboin.
Noch bevor sie die Waffe richtig in der Hand hielt, fuhr sie herum, riss die Spitze über Jorgens Handrücken, schnitzte ein Stück Fleisch heraus.
Jorgen fiel in Talins Gebrüll ein. Reflexartig zog er die Hand zurück, umklammerte sie mit der anderen. Rana fasste den Dolch fester, stach ein zweites Mal zu, erwischte einen Unterarm. Gleichzeitig versuchte sie, in der engen Nische zwischen Bett, Wiege, Wand und Kamin einen besseren Stand zu bekommen, so wie sie es bei Ylaiy und Shesh beobachtet hatte.
In Ardannas Tanzsaal hatte es so einfach ausgesehen. Rechten Arm heben, rechtes Bein nach vorn, Gewicht mit in den Stoß nehmen, Klinge in den Hals des Gegners rammen. Die Wirklichkeit war ein wutentbrannter, brüllender Mann, der sich auf sie stürzte wie eine Naturgewalt, die Hose offen, der Schwanz heraushängend, blutend, schwitzend und geifernd. Ein Mann, der einschüchterte, sie in die Ecke drängte, sie belagerte.
Ylaiys und Sheshs Angriffe hatten spielerisch ausgesehen. Ihre Arme hatten kunstvolle Schwünge ausgeführt, angetäuscht, irregeführt, den Gegner nur angetippt. Rana zielte nicht einmal. Sie hackte auf Jorgen ein, konzentrierte sich darauf, den Halt nicht zu verlieren, darauf, dass der Dolch nicht im Fleisch stecken blieb. Sobald sie hinfiel, sobald sie die Klinge verlor, war sie tot. Oder Schlimmeres.
Schon nach wenigen Angriffen erlahmte ihr Arm. Ihre Schulter brannte. Schweiß trat auf ihre Stirn.
Dann sprang die Tür auf, ließ Jorgen herumfahren und Talin vor Schreck verstummen. Männer drängten ins Innere ihrer winzigen Hütte. Blitzschnell hatten sie Jorgen eingekreist, auf das Bett geworfen und überwältigt.
Martel, der Nagelschmied, beugte sich zu ihr. „Alles gut?“
Betäubt schüttelte Rana den Kopf. Erest, einer der Messerschmiede, nahm ihr behutsam den Dolch aus der Hand.
Rana wies auf die Waffe. „Gute Arbeit.“ Dann schluchzte sie auf.
Erest drehte den Dolch hin und her. „Nicht mein Werk.“
Talin wimmerte. Er ließ sich von Rana in den Arm nehmen, schmiegte das Köpfchen an ihre Schulter. Rana stand stockstill, wartete darauf, dass ihr galoppierendes Herz sich beruhigte.
Thorst, der Schreiner, rammte seinen Schuh gegen Jorgens von der Bettkante hängenden Stiefel. „Wer bist du Dreckskerl?“
Jorgen atmete schwer, antwortete jedoch nicht.
„Ein Aufseher aus der Boragha“, murmelte Rana.
„Die Männer draußen tragen die gleichen Uniformen.“
Plötzlich fühlte Rana sich über die Maßen erschöpft. Ihr wurde schwindlig und der Brechreiz kehrte zurück.
„Sie sind in unsere Häuser eingedrungen“, schrie ein jüngerer Mann. „Haben uns geschlagen. Unsere Frauen, unsere Kinder. Sie treiben das Hofvolk draußen zusammen. Überall brennt es.“
„Was ist mit dem Palast?“, fragte Rana.
„Wissen wir nicht“, erwiderte Erest. „Wir haben den Krach aus deiner Hütte gehört, versuchen, den anderen zu helfen. Er ist nicht das erste Schwein, das wir erwischen.“ Mit dem Dolchgriff versetzte er Jorgen einen aufgebrachten Schlag gegen den Nacken. „Das ist für meine Frau, du Dreckskerl!“
Rana raffte ihren Kittel. „Wir müssen vorn nach dem Rechten schauen.“
„Was ist mit ihm?“, fragte Martel.
„Kümmert euch nicht um ihn. Rennt nach vorn. Wir müssen die Kaiserin retten! Die hier waren nicht allein. Vei führt sie an!“
Die Männer schraken sichtlich zusammen. „Kehrt er zurück?“
Entschlossen packte Rana ihren Enkel auf ihren linken Arm. „Nicht, wenn wir es verhindern!“
An der Schwelle blieb sie ruckartig stehen und drehte sich zu Jorgen um. „Wer hat uns verraten?“
Als Jorgen nicht antwortete, hob Erest den stiernackigen Schädel an und versetzte dem Schlächter eine Ohrfeige.
Jorgen spuckte aus. „Was weiß ich? Ein älterer Kerl, bepisste sich beinahe vor Angst, als ich seinem Töchterlein zu nahe kam.“
Die Männer und Rana sahen sich an.
„Bartholo“, sagte Martel. „Der Küfer. Seine Tochter hilft in der Küche.“
„Dieser Kerl hat sie begrapscht, und das nicht gerade zimperlich“, berichtete der jüngere Mann.
„Sei nachsichtig“, bat Martel Rana. „Bartholo tat es aus Furcht. Aja ist seine Älteste, gerade vierzehn. Sie ersetzt ihren Geschwistern die Mutter. Er ist kein schlechter Mensch.“
Rana blickte auf Jorgen. „Aber der hier. Geht, helft den anderen. Ich komme nach. Geht schon. Er ist keine Gefahr mehr. Ich will noch einige Minuten auf Sila warten.“
Erest versetzte Jorgen einen saftigen Faustschlag auf das Ohr und ließ dessen spärlichen Haarschopf los. Erst dann begab er sich zur Tür und winkte den anderen. Rana wartete, bis die kleine Prozession der Handwerker an ihr vorbei marschiert war.
Sobald der letzte Mann vorüber war, verschloss sich ihr Gesicht. Sie ging zurück in ihr Häuschen, drehte eine Runde durch Hauptraum, Waschverschlag und Kochnische. Talins Köpfchen sank schwerer gegen ihre Schultern, als er einschlummerte. Tiefer Friede überkam sie, der nur gestört wurde von Jorgens grunzenden Lauten.
Sie trat an die Bettstatt, achtete jedoch auf ausreichenden Abstand. Dann musterte sie den Kerl, der unzähligen Frauen das Leben zerstört hatte. So wie Vei. Sie zwang sich, stehenzubleiben, jede Einzelheit des Schlächters in sich aufzunehmen. Ihre Angst verflüchtigte sich, machte Platz für Ekel und Verachtung.
„Na?“, nuschelte er, ohne sich zu bewegen. „Doch Lust auf ein Schäferstündchen?“
Wortlos wandte sie sich ab und trat zum Kamin. Auf dem Weg zur Tür hielt sie die Fackel an Bettlaken und Matratze. Das trockene Schilf fing sofort Feuer. Anschließend warf sie die Fackel ins Bett.
Jorgen erwachte aus seinem Dämmerzustand, als sie bereits an der Tür war. Seine Schreie wurden augenblicklich gedämpfter, als sie die Tür ins Schloss gezogen hatte. Sie steckte den Schlüssel ein, drehte ihn herum, zog ihn heraus und schleuderte ihn weit von sich.

Urdat Vei lächelte, als er die nach ihm benannte Waffe herumwirbelte und seiner Gemahlin die scharf geschliffene Seite in den Leib rammte.
Sie brach nicht sofort zusammen, sondern sah ihn aus hervorquellenden Augen an, aufgespießt wie ein Fisch auf einer Harpune. Zwischen ihren Lippen drang ein Blutschwall hervor, der sich über Kinn und Hals auf ihren Ausschnitt ergoss. Stöhnend drohte sie, gegen ihn zu schwanken, doch Vei hielt sie auf Armlängenabstand, das Gesicht vor lustvoller Abscheu verzogen.
„Ihr besudelt das Kaisersiegel, Durchlaucht“, krächzte er, griff nach der silbernen Kette und zog sie grob über ihren Kopf. Ihr Haar löste sich aus Klammern und versteckten Haken und fiel wie ein fedriger Vorhang über ihr Antlitz.
Als sie schwerer wurde und erneut nach vorn schwankte, zog Vei den Urdat aus ihrer Brust und trat zwei Schritte zurück. Mit leuchtenden Augen beobachtete er, wie sie die Hände auf das Loch in ihrem Leib presste in einem letzten verzweifelten Versuch, ihr verrinnendes Leben aufzuhalten.
„Sterbt, Gemahlin“, flüsterte Vei. Dann hob er den Stiefel und gab ihr einen Tritt, der sie zusammenbrechen ließ.
Der Aufruhr im Saal war unbeschreiblich.
Vei warf einen belustigten Blick in die Menge, hängte sich die kaiserliche Siegelkette um und stieg über die tote Landesherrin wie über Unrat auf der Straße. Er schritt auf den Stuhl zu, der an der Stirnseite des Hauptsaales stand.
„Das war es“, keckerte er und nahm mit angemessener Langsamkeit auf dem Polster des schmucklosen Stuhles Platz.


„Das war es“, durchschnitt eine Stimme das anschwellende Tosen im Saal und brachte augenblicklich Stille.
Vei runzelte die Stirn und blickte auf Elphen Chausselles, der links neben dem Thron aufgetaucht war, ohne dass er ihn hatte kommen sehen. Unbehaglich rutschte er ein Stück nach vorn, fühlte die Kante des unbequemen Stuhles an den Oberschenkeln.
Zu seiner Rechten erschien Kalphon, wie immer mit Frukte an seiner Seite. Die Tatsache, dass Kalphon sich lieber mit Männern umgab, war einer der Unterschiede zu dem jüngeren Zwilling. Zu jenem gesellte sich Tijua, ihre unansehnlichen Züge von einer Maske verhüllt.
„Wovon sprecht Ihr?“, herrschte Vei den in dunkles Grau Gewandeten an. Statt einer Antwort zog Elphen ein langes, schlankes, am Rücken gebogenes Messer ohne Parier. Noch bevor Vei einen nächsten Gedanken zu fassen bekam, schnitzte die schlangengleiche Waffe seitlich durch seinen Hals. Urdat Veis silbergrauer Kopf kippte auf die Seite, während sein Körper von der Stuhlkante sackte. Die Chausselles kümmerten sich nicht um ihn. Ihre Augen waren auf die Anwesenden im Saal gerichtet, unter denen sich zunächst ungläubiges Schweigen und gleich darauf entsetztes Schreien ausbreitete.
„Bewahrt Ruhe“, sagte Elphen in den ausbrechenden Tumult hinein. Seine Stimme hatte sich kaum erhoben, doch sie fuhr mit derselben tödlichen Anmut, mit der das Messer Veis Schädel von den Schultern filetiert hatte, in die Menge.
„Wer seid Ihr?“
Tijua machte einen Schritt nach vorn, als eine schmächtige Gestalt sich aus der Menschenmenge löste.
Chausselles hielt seine Gefährtin mit einem Schnalzen zurück, einem Befehl, dem sie gehorchte, ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen. „Ihr müsst Remond tan Sayan sein. Man sah Euch häufiger letzthin in unseren Gemäuern.“
Remond antwortete nicht, betrachtete den graugewandeten Mann neugierig.
„Manche nennen mich den Dunklen“, sagte Elphen. „Andere den Schatten. Unsere Unterdrücker nennen uns Tänzer. Ich habe noch mehr Namen. In vielen Sprachen.“
„Und wie nennt Ihr Euch?“
Chausselles lachte. „Ihr seid nicht leicht einzuschüchtern. Ich mag das. Es flößt mir Respekt ein. Euer Vorgänger, Cledent Baraten, hatte das auch. Dieses Harte, Unnachgiebige im Charakter. Es braucht Männer wie Euch, um über die Boragha zu wachen.“
„Kommt Ihr dorther?“
„Mitten aus ihrem dunkelsten Herzen.“
„So ist die Boragha geöffnet.“ Remond senkte den Kopf, während im Saal bestürztes Gemurmel einsetzte.
Chausselles betrachtete den kleinen Mann minutenlang. „Ihr fürchtet Chaos. Zerstörung und Unfriede.“
„Die Insassen werden hervorströmen wie Ratten ans Licht.“
„Ratten halten sich lieber ans Dunkel“, entgegnete Chausselles ruhig. „Befürchtet nicht zu viel. Nicht alle wollen in Eure Welt zurück. Aber haltet ein! Wir bekommen Besuch.“


Kalphon und sein Leibwächter glitten an den Eingang, während Elphen mit schneidender Stimme der Menge befahl, sich an die Wände zurückzuziehen. Die Menschen gehorchten. Wie eine kreisförmige Welle spülten sie aus der Mitte des Saales. Tote und Verwundete, hauptsächlich Wachen und adlige Gäste, wurden auf dem Boden sichtbar.
Inmitten der Liegengebliebenen stand Remond zwischen tan Dogen, Wire und den beiden Botschafterinnen. Stumm starrten sie auf die Leichen Opal Deniirts und Pien Davís.
An der Eingangstür fingen Kalphon und Frukte indessen einen Mann in Galauniform ab, der keine Anstalten machte, sich zu wehren. Seine Paradewaffe hing an einem mit Zierknöpfen geschmückten Gurt. Statt der Waffe schwenkte er eine kostbare Kristallvase.
„Hoppla“, entschuldigte er sich, als Wein aus der Vase schwappte. „Habt ihr ohne mich angefangen?“
„Theou“, rief Remond erleichtert. „Wo warst du? Wo ist deine Schwester? Geht es ihr gut?“
Der Angesprochene schwenkte herum. „Vater! Schön, Euch zu sehen! Paíre und ihr Kind sind versorgt.“
„Ihr Kind?“ Der Inquisitor fasste sich ans Herz.
„Ich dachte, das sei ein Grund zum Feiern.“ Theou grinste und hieb Frukte kumpelhaft auf die Schulter. „Ihr könnt mich loslassen. Wie ist es gegangen?“ Er drehte sich zum Thron und erbleichte, als er die sterblichen Überreste der Kaiserin und Veis sah.
Elphen schnalzte. Sofort ließen Kalphon und Frukte von dem jungen tan Sayan ab.
Theou wirkte schlagartig nüchtern. Betreten schob er sich an die Leichen heran und schüttelte sich. „Urgh. Was für eine Sauerei. Was ist passiert?“
„Euer neuer Kaiser ist tot. Wollt Ihr der nächste sein?“
Theou gickelte. „Ist das Euer Ernst?“
Elphen breitete die Arme aus. „Der Thron ist frei, sobald Ihr den Ehrenlosen beiseite geräumt habt.“
„Habt Ihr ihn getötet?“
„Theou?“ Remond starrte seinen Sohn an. Über sein Gesicht glitten so viele Emotionen gleichzeitig, dass es aussah, als schnitte er Grimassen.
Wie ein Heranwachsender, der zum hundertsten Mal von den Eltern gerügt wird, drehte Theou sich betont langsam um und begegnete dem fassungslosen Blick seines Vaters mit angesäuertem Überdruss. „Mhm?“
„Was ...? Kennst du diesen Mann? Wusstest du, was sie vorhatten? Was Urdat Vei plante? Wusstest du von dem Komplott? Dem Kaiserinmord?“
„Ist das ein offizielles Verhör?“
„Sprich endlich!“, herrschte sein Vater ihn an.
Arala Buzghan griff beruhigend nach Remonds Arm, während die Menge den Atem einsog.
„Ja“, sagte Theou mit dem Vergnügen eines Kindes, das anderen eins ausgewischt hatte.
Remonds Beine gaben nach. Buzghan und tan Dogen führten ihn zu einem Stuhl, auf den er nieder sackte.
Theou schritt in die entgegengesetzte Richtung. Angeekelt stieß er Vei zu Boden und nahm auf dem Thron Platz. „Der Prinz hatte recht. Unbequem“, befand er und rekelte sich in eine angenehmere Position. „Apropos Prinz. Habt Ihr meinen lieben Schwager gefunden, Elphen?“
„Seine Gefährten kamen ohne ihn in die Boragha, sagte der Ehrenlose.“
„Wo ist er dann? Wisst Ihr es, Vater?“
Remond saß erschlafft wie eine Gliederpuppe, die man von den Stricken geschnitten hatte. „Er wollte nach Fedaj“, flüsterte er.
„So sagt man. Man sagt auch, er wollte nach Vanstetten zu seinem Liebchen.“
„So hast du auch diese Menschen verraten.“ Remond schloss die Augen.
„War das nicht in Eurem Interesse? Seine Mätresse und ihr Balg waren eine Konkurrenz für die tan Sayans.“
„Ihr seid ein Monster“, giftete Iniéz Fracessi ihn an.
„Ihr mögt doch Monster in Eurem Bett“, grinste Theou anzüglich. „Und zu Eurem neuen Kaiser werdet Ihr doch nicht Nein sagen.“
„Wagt es nicht!“ Ein empörter Mann stürzte aus der Menge mit seinem Turnierdegen fuchtelnd auf den Thron zu. Tijua trat ihm die Kunstklinge aus der Faust und versetzte ihm zwei Handkantenschläge gegen Kehle und Nacken. Botschafterin Fracessis Gemahl polterte mit dem Gesicht voran zu Boden.
„Ein Problem weniger“, sagte Theou zu der Frau, die aufschreiend zu ihrem Gatten eilen wollte, von ihrem Liebhaber jedoch zurückgehalten wurde. „Dankt mir später.“
„Mörder!“, schluchzte die Botschafterin. „Man sollte Euch am nächsten Baum aufknüpfen!“
Die Menge raunte zustimmend.
„Schluss“, befahl Chausselles und neigte sich zu Theou. „Weshalb fragt Ihr nach dem Prinzen? Ist er eine Gefahr für Euch?“
„Ihr habt seine Mutter getötet, ich seine Frau. Er wird nach Vergeltung schreien und nach dem Thron. Rechtmäßig gehört er ihm. Bei den Göttern, Vater! Beherrscht Euch! Ihr seid der Leitende Inquisitor!“
Remond tan Sayan hatte aufgeschrien, als Theou den Mord an Paíre erwähnte. Jetzt sank er wimmernd in sich zusammen, umringt von Buzghan und Wire, während Freg tan Dogen die schluchzende Fracessi in den Arm nahm.
„Ich habe Eure Kaiserin nicht getötet“, stellte Elphen richtig.“
„Ich glaube nicht, dass solche Feinheiten Ylaiy noch interessieren. Bei der Usurpation wart Ihr maßgeblich beteiligt. Mein Schwager ist listig wie ein Fuchs. Ich wette, er ist hier. Meine Schwester benahm sich so sonderbar in den letzten Stunden. Als er ging, war sie traurig und wütend. Nach außen hin natürlich verständnisvoll. Heute Morgen aber wirkte sie glücklich, gut gelaunt, selbst mir gegenüber. Er weiß bestimmt, wo die Kinder sind, die Ihr sucht. Um sie geht es Euch doch, nicht wahr?“
„Ihr wisst von Ihnen?“ Elphens Fassade blieb glatt und freundlich. Dahinter lauerte die Neugier.
„Ich bin ein guter Zuhörer. Ich bekomme viel mit, allerdings nicht alles. Eine Menge spekuliere ich mir zusammen. Aber offensichtlich seid Ihr nicht wegen des Throns gekommen.“
Statt einer Antwort versteifte Elphen. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck äußerster Wachsamkeit an und sofort verstummte der Saal. Selbst Fracessi und tan Sayan stellten ihr Wimmern ein.
Von draußen erschollen die enervierenden Klick- und Schnalzgeräusche. Elphen lauschte. Anschließend nickte er seinem Bruder zu, der mit Frukte hinaus ging.
Der Saal wartete in gespanntem Schweigen.
Nach wenigen Minuten kehrten die beiden zurück, zwei Männer im Würgegriff, die sie vor Elphen auf die Knie drückten wie Büßer.
Die Menge schrie auf, als sie den größeren Mann erkannte.
Elphen verstand sofort und entblößte kleine Zähne. „Ihr seid der Prinz. Willkommen zu Hause.“

„Hat er gesagt, dass Maxim Teil des Plans ist?“ Jonoy mümmelte an einem Apfel, den er auf dem Markt erstanden hatte, an demselben Stand, an dem sie gestern Maxim gesehen hatten.
Als Mannero noch lebte.
Wie immer, wenn sie an den Schmiedegesellen dachte, zog sich ihr Inneres schmerzhaft zusammen. „Nicht konkret“, sprach sie abgewandt. „Dennoch war es offensichtlich, dass er ihn kannte. Er zuckte förmlich zurück, als Ma…, als wir den Namen erwähnten.“
„Dumm“, flüsterte Jonoy und warf den angebissenen Apfel beiseite. „Ihr wart so dumm.“ Der Schmied, sonst lebenslustig und gütig, wirkte düster und abwesend, seit sie auf ihn getroffen war.
In Sphitas Augen brannten Tränen, aber sie widersprach nicht.
„Wenn Ihr noch mehr Äpfel wegwerft, werden wir auffallen. Das war der vierte. Als würden wir eine Fährte legen.“
Akim. Sphita blinzelte zu ihm. Mehlau war verletzt, und so hatte sie die Vorwürfe abbekommen, von Shesh und Ivson, ihrer Mutter und Jonoy. Nur nicht von Akim. Mehr denn je fühlte sie sich zu dem stillen Mann hingezogen.
Sie hielt den Kopf gesenkt, beobachtete, wie Akim zunächst die Zehenspitzen aufsetzte wie ein Tänzer, lautlos und schwerelos. Jonoy stapfte hinter ihr. Ein Eber, aufgewühlt, ab und zu leise schniefend.
Sie gingen denselben Weg, den sie gestern gegangen waren, und Sphita konnte nicht begreifen, dass Mannero nie wieder neben ihr laufen würde. Nirgendwohin. Nie wieder. Der Gedanke an ihn war beherrschend, spann sie ein, betäubte sie.
Als Akim an der nächsten Ecke stehen blieb, lief sie in ihn hinein.
Sie stammelte eine Entschuldigung. Er drehte sich zu ihr um. „Du kannst ihm nicht mehr helfen“, sagte er leise. „Aber du kannst uns helfen. Du sagst, Tikt kannte Maxim. Also hilf uns, ihn zu finden.“
Sie lehnte sich an eine Hauswand. „Was genau habt ihr vor, wenn wir ihn finden?“
Akim sah Jonoy an. „Deine Mutter möchte erst einmal nur, dass wir ihn und den Diener beobachten. Sie ist nicht auf Vergeltung aus.“
„Was ist, wenn er uns Böses will?“
Wieder kreuzten sich die Blicke des Fährtenlesers und des Schmieds.
„Dann nehmen wir sie aus dem Spiel“, entschloss sich Jonoy zur Wahrheit.
„Wollt ihr sie umbringen?“ Noch vor wenigen Stunden hätte Sphita nicht gewagt, diese Frage zu stellen, aber die Dinge hatten sich geändert.
„Wir werden versuchen, sie lediglich außer Gefecht zu setzen“, erklärte Akim, „Später sollen sie ihre gerechte Strafe erhalten, aber das ist nicht unsere Aufgabe.“
„Sondern die meiner Mutter.“
„Wie ich sie kenne, übergibt sie die Männer Ylaiys oder Gurbandats Wachen. Später, wenn alles vorbei ist. Im Augenblick hat sie andere Dinge im Kopf.“
„Sie sagte, die Kranken stürben auch ohne sie. Gestern, als wir sie aus dem Spital holten. Da sagte sie es.“
Nach dieser Bemerkung schwiegen die drei.
Dann raffte Jonoy sich auf. „Deine Mutter ist eine starke Frau. Sie wird es schaffen. Die Seuche kann nicht ewig wüten.“
Sphita studierte das Kopfsteinpflaster zu ihren Füßen. „Ich habe versucht, ihn zurückzuhalten, genau wie Mehlau. Er hat nicht gehört.“
Sie spürte, wie schwielige Finger sich um ihr Kinn legten und es anhoben. Erstaunt nahm sie wahr, dass sie den Schmied körperlich überragte, als hätte der Kummer ihn schrumpfen lassen. „Er war ein sturer Bock. Ich konnte ihm das Mitkommen nicht ausreden. Wie hättest du es gekonnt? Verstehst du, Kind? Ich bin nicht wütend auf dich.“
Mit Tränen in den Augen nickte sie und rollte sich von der Wand ab. „Hier entlang.“


„Es sieht verlassen aus“, flüsterte Sphita eine halbe Stunde später.
„So langsam sollten wir machen, dass wir wegkommen“, brummelte der Schmied. „Bevor jemand die Wachen holt, um uns wegen Herumlungerns festzunehmen. Oder die beiden warnt.“
„Niemand hat das Haus betreten oder verlassen“, gab Akim zurück.
„Bestimmt gibt es eine Hintertür.“
„Die Kaserne hat zwei Fensterläden mit verzogenen Brettern. Man hätte die Bewegung durch die Spalte gesehen.“
Du hättest das. Ich sehe nicht einmal die Spalte. Und Nachrichten kann man auch anders senden. Wir benutzen Zeichen auf Wänden und Bäumen. Das könnten sie auch.“
„Kein Rauch, kein Duft nach Essen“, murmelte Akim.
„Die beiden essen nicht viel“, sagte Sphita. „Und ich glaube nicht, dass ihnen an warmen Mahlzeiten liegt.“
„Keine frischen Spuren im Staub. Die letzten sind viele Stunden alt.“
„Die Hintertür“, erinnerte Jonoy.
„Aber sie sind durch die Vordertür gegangen, als Sphita sie sah.“
„Sie sind eben vorsichtig.“
„Wenn Tikt es schaffte, Susa auf seine Seite zu ziehen, ist ihm das vielleicht auch mit anderen gelungen“, warf Sphita ein. „Oder Susa hat die beiden gewarnt. Vielleicht hat sie gesehen, wie wir in den Keller gingen.“
„Dafür blieb ihr keine Zeit“, wandte Jonoy ein.
„Ich werde nachsehen“, murmelte Akim.
„Suche eine Hintertür. Kasernen bestehen aus mehreren Anbauten wie diesem. Sie stehen in einem Viereck. In der Mitte ist ein Hof. Dort trainieren sie. Die hier mag aufgegeben worden sein, dennoch ist Vorsicht vonnöten.“ Dann wandte Jonoy sich an Sphita. „Mach dich bereit.“
Bevor sie antworten konnte, hatte Akim ihr den Speer in die Hand gedrückt und näherte sich Maxims Versteck von der Seite her. Scheinbar mühelos erklomm er eines der niedrigeren Nebengebäude, wo er sich auf das Dach legte und sich die Hemdsärmel über die Hände zog.
„Die Schindeln sind heiß“, murmelte Sphita.
Akim schob sich bis an den Rand des Daches und lugte in den Innenhof. Sekunden später verschwand er auf der anderen Seite des Hauses.
Die folgenden Minuten verbrachte Sphita in hibbeliger Unruhe, während Jonoy nervös die Straße auf und ab spähte. Dann erklang ein leiser Pfiff und die Vordertür öffnete sich.
Sphita und der Schmied huschten über die Straße und tauchten in halbdunkle Kühle.
Der Unterschlupf zeigte Spuren menschlichen Lebens: verdreckte Wäschestücke, Speisereste, Becher mit Resten getrockneten Weins, Urinpfützen in der Latrine, benutzte Strohlager. Abgesehen davon waren die Räume leer. Maxim und sein Diener waren ausgeflogen.
Sphita sah die Männer fragend an.
Akim griff nach dem Speer. „Beeilt euch!“

Ylaiy stand auf und sah sich um. Fieberhaft rasten seine Augen über den Saal und die Menge an den Wänden, die Reste des Hohen Rates, die Toten. Sie verengten sich ungläubig, als sie Theou auf dem Thron erblickten, kniffen sich zusammen, als sie Vei ausmachten und schlossen sich, als sie die Leiche der Kaiserin erkannten. Als sie sich wieder öffneten, standen Unruhe und Tränen in ihnen.
Elphen hatte den Kaisersohn betrachtet, nickte nun. „Wollt Ihr mir verraten, was geschehen ist?“
„Wer seid Ihr?“
„Elphen Chausselles.“
„Kamt Ihr mit Vei?“
„In der Tat.“
„Weshalb ist er dann tot? Hat Theou ihn umgebracht?“
„Nein, das war ich.“
„Danke.“
Elphen blinzelte. „Ihr dankt mir? War er nicht der Gemahl Eurer Mutter?“
„Mein Stiefvater“, bestätigte Ylaiy. „Und ein Schwein. Jeder Einzelne in diesem Saal wird Euch dies bestätigen. Mein Schwager vielleicht ausgenommen.“
Die Menschen nickten, tuschelten und raunten beifällig.
„Oh, ich finde auch, dass er ein Schwein war“, verkündete Theou. „Niederträchtig, gemein, gewalttätig.“
„So wie Ihr“, warf Ylaiy ihm hin. „Ihr habt uns alle getäuscht, scheint mir. Oder warum thront Ihr jetzt dort?“
„Mhm. Manchmal muss man eben alte Frauen schubsen, um in der Welt voranzukommen.“
„Vei ist durch Lug und Trug an die Macht gekommen. Er war ein Mörder, ein Kinder- und Frauenschänder.“
„Aber erfolgreich. Mehr oder weniger.“
„Wo ist meine Frau?“
„Seid nett zu mir und ich erzähle es Euch.“
„Genug“, schnitt Elphen Chausselles Theou das Wort ab. „Woher kommt Ihr, Prinz?“
„Von den Handwerkerhöfen. Wo Eure Leute plündern, räubern, töten und vergewaltigen.“
„Nicht meine Leute“, sagte Elphen scharf. „Sie beobachten und wachen.“
„Der Schlächter aus der Boragha brach in das Haus einer Freundin ein, griff sie an. Keiner Eurer Leute half. Ehrbare Handwerker taten das. Anschließend sammelten sie sich unter ihrer und Harun Damalles‘Führung, wehrten sich gegen die Plünderer, kümmerten sich um ihre Angehörigen und Nachbarn. Ihr könnt die Leichen Eurer Freunde einsammeln. Verbrennt sie nur nicht mit unseren Opfern.“
Aufmerksam studierte Elphen das verrußte Antlitz des Thronfolgers, der trotz aller Wut beherrscht gesprochen hatte. Dann wandte er sich dem zweiten Mann zu, der noch immer auf dem Boden hockte, sichtlich mitgenommen von all der Aufregung. „Wer seid Ihr?“
„Martel, Herr“, gab der Mann schüchtern zurück. „Ich bin Schmied. Meine Frau arbeitet als Palastangestellte. Sie steht dort.“ Sein schwarzer Finger zeigte auf eine rundliche Köchin mit besorgter Miene.
„Nimm sie“, sagte Elphen. „Nimm sie und alle anderen. Geht zu euren Familien und Häusern, kümmert euch um eure Verletzten und Toten. Nimm alle mit. Schickt nur die Freundin des Prinzen herein. Die, die angegriffen wurde.“
Martel reagierte nicht. Unsicher blinzelte er Ylaiy an.
„Tu, was er sagt“, meinte dieser. „Schicke Rana her. Nimm die Leute von den hinteren Höfen mit. Die Räte werden die verbliebenen Wachen instruieren, euch zu helfen.“
„Soll ich auch Sila hineinschicken?“, fragte Martel.
Ylaiy zuckte sichtbar zusammen.
Elphen merkte auf. „Die Tochter Veis? Er sprach von ihr. Sie sollte getötet werden, ebenso ihr Kind.“
Ylaiy richtete sich auf. „Und Rana, ihre Mutter. Sie war eins von Veis Opfern. - Geht friedlich, Leute. Folgt Martel. General Wire, tan Dogen, bitte unterstützt Damalles. Botschafterinnen, ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr meine Mutter verdecken und eine Durchsuchung der Palasträume veranlassen könntet. Schaut nach, ob es weitere Opfer zu beklagen gibt.“ Er schwenkte zu Theou herum, durchbohrte ihn mit Blicken. „Wenn Ihr einverstanden seid, Majestät.“
Theou hob die Kristallvase. „Lang lebe der Kaiser.“


Remond tan Sayan hockte auf dem Stuhl und wünschte sich weit weg. Zurück in eine Zeit, in der seine Frau noch lebte, die Mädchen im Nähzimmer sangen und Theou sich in unschuldiges Spielen vertiefte, anstatt sich dem Mann anzuschließen, dessen Verbrechen er in den letzten Jahren an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt hatte.
Um ihn leerte sich der Saal geschwind. Ylaiy und dieser Elphen hatten befohlen und die Leute gehorchten schweigend. Martel legte seiner Frau den Arm um den Hals und geleitete sie hinaus. Einer nach dem anderen folgte, die Verletzten mit sich ziehend. Die meisten vermieden es, die Chausselles und Theou anzusehen. Sie schauten auf Ylaiy, die Toten, auf ihn. Alle schauten auf ihn.
Ein Schütteln erfasste ihn, ging ihm durch Mark und Bein. Selbstmitleid wallte in ihm auf. Er hatte das nicht verdient.
„Wir haben Euren Namen vernommen“, sprach Ylaiy, sobald der Saal geräumt war, Elphen Chausselles an. „Was wollt Ihr? Veis Platz einnehmen? An seiner Stelle das Reich regieren?“
„Urdat Vei strebte nach Macht“, erwiderte Chausselles mit schneidend klarer Stimme. „Nach Besitztümern und Reichtum, weltlichen Gütern, aber vor allem nach Macht.“
„Darüber sind wir uns einig“, warf Remond müde ein. „Dieselben Dinge, die auch mein Sohn als erstrebenswerter erachtete als Loyalität und Menschlichkeit.“
„Viele streben nach diesen Dingen“, sagte Chausselles ungerührt.
„Ihr auch?“, fragte Remond und beobachtete, wie Rana und Sila mit Talin den Saal betraten, flankiert von zwei Graugewandeten.
„Ich sehne mich nach Luft und Farben“, sagte Elphen nach kurzem Nachdenken. „Nach einem eigenen Leben. Nach Freiheit, wenn Ihr so wollt. Euer Palast verheißt keine Freiheit, sondern neue Zwänge und Pflichten.“
Mit unverhüllter Erleichterung trat Ylaiy auf die beiden Frauen zu, ergriff Ranas Hände, drückte Sila einen Kuss auf die Stirn und tätschelte Talins Wange, bevor er sich erneut Elphen zuwandte. „Ihr habt die Boragha verlassen, um die Anschläge auszuführen. Was hinderte Euch daran, schon früher zu gehen? Weshalb jetzt? Weshalb Vei?“
„Vei öffnete andere Türen. Die nach K’yr zum Beispiel. Die alten Fluchtwege standen uns offen, aber sie wurden kontrolliert. Kontrolle allerorts. Die Befreiung brauchte ihre Zeit. Nun ist sie da.“
„Wer kontrollierte Euch?“
„Eure Gefährten werden Euch berichten. Über die Mag’anags. Über die Magie und alles andere. Ich muss mich beeilen. Wo sind die Kinder?“
„Welche Kinder?“
„Die Besonderen Kinder. Eines wuchs bei uns auf. Ich kenne ihn, beobachte ihn schon lange. So wie alle Majestes.“
Ylaiy blinzelte. „Arlen. Seine Mutter war die Großnichte dieses Mannes.“ Er wies auf den Leichnam Davís. „Wusstet Ihr das?“
„Das ist nicht wichtig. Die Kinder sind es. Wo sind sie?“
„Warum sind sie wichtig?“
„Wir waren die Ersten unter der Erde. Wir, die Würmer. Doch die Himmlischen beanspruchten K’yr für sich, wurden ihre Hüter. Sie gaben den Novíes die Meeresquelle und uns die Quelle im Norden.“
Remond versuchte, seine Gedanken zu sortieren, aber es gelang ihm nicht. Zu viel prasselte auf ihn hernieder, verworrene Geschichten, die keinen Sinn ergaben. Theou hatte ihn verraten, seine Schwester und ihr Kind ausgelöscht. Er beugte sich vor, stellte die Arme auf den Tisch und stützte den Kopf auf die Hände, fühlte sich alt und allein. Die Kaiserin war vernichtet, ausgeblasen wie eine Kerze, der Hohe Rat geschrumpft.
Eine Rumpfregierung.
Damalles, Ces Wire, Bland, er selbst. Alte Männer allesamt. Damalles und Daví hatte er nie getraut. Sie waren Schmeichler gewesen, alle beide, hatten jede Gelegenheit benutzt, sich bei der Kaiserin beliebt zu machen, aber sie hatten sie nicht verraten. Hatten gegen seine Vorschläge gestimmt und dem Prinzen Steine in den Weg gelegt, doch sie waren loyal geblieben. Daví bis zu seinem Ende.
„O’shu’o-gh“, spuckte Ylaiy das umständliche Wort aus. Ein Wort seiner Reise. Der Langen Reise, von der er so selten sprach. Remond kannte es, denn er hatte die Schrift gelesen, das Heldengedicht Ylaiys, das angeblich keines war, sondern die Wahrheit. Er hatte dem keinen Glauben geschenkt. Und jetzt redeten der Fremde und sein Schwiegersohn über Besondere Kinder, Magie und Quellen. Vielleicht verlor er den Verstand.
„Ihr habt sie versiegelt“, sprach Chausselles weiter. „Also brauchen wir eine neue. Ki akku ninu ist die kleinste, aber sie genügt uns.“
„Ihr erhebt Anspruch auf sie?“
„Warum nicht?“
„Akim erzählte von Ki akku ninu. Vom Herz des Großes Tals. Kein Mensch überlebt die Hitze.“
„Die Kinder schon.“
„Ich verstehe nicht“, stotterte Ylaiy.
„Sie saugen die Magie aus der Quelle, nehmen sie auf und beherrschen sie. Mit ihr können sie das Land verändern, es bewohnbar machen. Uns lehren.“
„Ihr wollt, dass die Kinder die Wüste umformen?“, mischte sich Sila ein. „Habt Ihr den Verstand verloren?“
„Ganz und gar nicht. Nun sagt uns, wo sie sind.“
Sila schoss Ylaiy einen raschen Blick zu. „Woher sollen wir das wissen?“
„Bitte lasst das“, warnte Elphen freundlich, während sein Bruder missmutig grunzte. „Wir mögen keine Lügen. Sind sie hier?“, wandte er sich an den Prinzen.
„Yvain und Ciycain waren es, aber sie sind längst an einem anderen Ort.“
„An welchem?“ Elphen lächelte so einnehmend wie ein Handelsreisender.
„Ihr müsstet mich schon foltern, um es zu erfahren.“
Elphen ging um den Prinzen herum, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Lippen nachdenklich geschürzt. Ylaiy vermochte nicht zu sagen, ob Gestik und Mimik des unscheinbaren Mannes aufgesetzt waren oder nicht.
„Wisst Ihr, wo sie sind?“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„So einer seid Ihr.“
Ylaiy folgte dem Graugewandeten mit den Augen. Er erinnerte sich an Adivs und Jonoys Ausführungen zu ihren unheimlichen Kampfkünsten, an die Axtwerferin im Teppichsaal. „Wo ist meine Gemahlin?“
„Euer neuer Kaiser hat sie getötet.“
Ylaiys Kopf fuhr zu Theou herum, der auf dem Thron hockte, sich aus der Vase betrank und dem Gespräch aufmerksam lauschte. Als Ylaiy ihn betroffen anblitzte, hob er beide Arme und rief: „Schuldig.“
Ylaiys Karamellaugen wurden dunkelbraun. Er begann zu zittern. „Du ...“
„Zieht ihn später zur Rechenschaft“, unterbrach Elphen und schnippte mit den Fingern. „Wo sind die Kinder? Wo habt Ihr sie versteckt?“
„Hat Vei uns nicht beobachten lassen?“
„Er wartete in der Boragha auf Euch. Wir führten die Angriffe aus, brachten die Tote mit den Honighaaren hierher. Danach eilten wir in die Boragha, kämpften gegen Eure Freunde, geleiteten Vei in den Palast. Er vermutete die Kinder hier oder bei der Heilerin.“
„Sind unsere Freunde tot?“, würgte Sila heraus.
„Wo sind die Kinder? Sind sie bei der Heilerin?“
„Sind sie tot?“, fragte Rana mit Tränen in den Augen.
Elphen schnalzte. Tijua tauchte plötzlich hinter Sila auf, formte ihre Hand zu einer Kralle und bohrte sie in Silas Hinterkopf. Elphen nahm ihr Talin aus dem Arm, bevor sie gegen Ylaiy kippte.
„Ihr müsst eine Entscheidung treffen, Prinz. Euer Sohn oder die Kinder anderer.“
Ylaiys Lider flackerten.
Remond beobachtete, wie Theou sich gespannt vorbeugte.
Elphen trat so nah an Ylaiy heran, dass dieser den erdigen Atem roch. Rauchgraue Augen fixierten ihn. „Es wäre Euer zweites Kind, das heute stirbt.“
Ylaiys Blick verschwamm. „Nicht“, stieß er hervor. „Habt Gnade. Es ist ein Kind.“
„Und ich möchte es nicht töten. Ihm nicht einmal wehtun“, raunte Chausselles. „Kinder sind schwach. Sie umzubringen ist nicht ehrenvoll, aber ich werde es tun, denn die Besonderen Kinder sind wichtiger für die Welt. Ich kann Euren Sohn langsam töten oder schnell.“
„Schwört, dass Ihr ihn am Leben lasst, wenn ich spreche“, brachte Ylaiy heraus.
„Schwüre“, warf Remond ein. „Sie bedeuten nichts.“
„Ich werde ihm kein Haar krümmen. Den Frauen ebenso wenig.“
„Das habt Ihr bereits“, keuchte Ylaiy.
„Sie ist nur paralysiert“, beschwichtigte Elphen. „Tijua weiß, was sie tut. Das geht in Minuten vorüber. Also?“
„Schwört, dass Ihr auch den Kindern kein Leid antut.“
Kalphon stieß ein wütendes Schnauben aus. Nur Elphens ausgestreckte Hand und ein energisches Schnalzen hielten ihn zurück.
„Unsere Geduld ist zu Ende, Prinz“, warnte Elphen. „Redet jetzt.“
„Perth“, sagte Ylaiy.
„Ist das die Wahrheit?“
„Als wir Perth verließen, waren die Kinder dort. Alle vier.“
„Als wir die Boragha verließen, waren Eure Freunde am Leben. Alle vier.“
„Nicht!“, schrie Remond, als Elphen von Ylaiy zurücktrat und Kalphon ihn mit zwei exakt platzierten Handkantenschlägen und einem Fußtritt in die Kniekehlen außer Gefecht setzte. Der Prinz und Sila fielen gemeinsam auf den steinernen Boden.
„Nein!“, rief Rana und zwängte sich gegen die Leibwächterin, die warnende Zischlaute ausstieß. Remond erhob sich mühsam von seinem Stuhl und wankte zu ihnen.
„Zurück“, grunzte Frukte in kaum verständlichem Yr.
„Denkt an Euer Versprechen“, mahnte tan Sayan.
Elphen ignorierte ihn, trat an Rana heran. „Was habt Ihr mit dem Schlächter gemacht?“
„Ihn verbrannt. Er wollte uns Gewalt antun.“
„Ts.“ Ein missbilligendes Schnalzen. „Ein Schwein wie sein Meister. Ihr seid ihm entkommen, seid eine Kämpferin. Ist sie wirklich Veis Tochter?“ Er blickte zu Sila.
„Ja.“
„Sie ist sein Bastard“, lallte Theou. „Jeder am Hof weiß das.“
Elphen beachtete ihn nicht. „Ist sie wie ihr Vater?“
Ranas Augen wanderten zu der Leiche des ehemaligen Generals. Ihr Gesicht verzog sich vor Abscheu. „Er war Abschaum“, flüsterte sie. „Aber Sila ist ein anständiger Mensch.“
„Dann hoffe ich, dass ich sie nicht eines Tages töten muss. Falls doch, werde ich es schnell tun.“ Er reichte Talin an Rana wie ein Präsent und signalisierte Tijua, sie loszulassen. „Kommt uns nicht nach. Sucht nicht nach uns. Ihr würdet nur unnötig den Tod finden.“
Er klickte zweimal und die Chausselles verschwanden aus dem Thronsaal wie Sturmwolken.

Ardanna brauchte Luft. Auch Sonne, Wärme, Helligkeit und Bewegung, aber vor allem frische Luft.
Sie machte einen weiteren Kontrollgang durch die Krankensäle. Vouker und die anderen Neuen verrichteten ihre Arbeit gut. Sie musste ihnen zugestehen, dass sie sich um die Kranken kümmerten und sorgten und ebenso unermüdlich am Werk waren wie sie selbst. Ihre eigenen Helfer gingen den Heilern zur Hand und langsam hatte sie das Gefühl, dass die Dinge sich besserten. Es kamen kaum mehr Neuerkrankte. Die Ersten genasen. Quarantäne, Medizin und eindringliche Warnungen zeigten allmählich Wirkung. Dennoch starb jeder dritte Erkrankte am Fieber oder an inneren Blutungen. Viele, die überlebten, würden für den Rest ihres Lebens unter den Auswirkungen - Blindheit oder Narben - leiden.
Ihr Blick streifte die Fensterläden, die weit offen standen. Die Ärzte aus Yruish hatten empfohlen, sie zu schließen, um eine Ausbreitung der schädlichen Ausdünstungen zu vermeiden, aber sie hatte sich durchgesetzt. Ohne geöffnete Fenster wäre die Hitze nicht auszuhalten, der Gestank unerträglich. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass die Aussicht auf Höfe und Gärten die Kranken beruhigte.
Vorsichtig ließ sie ihren Kopf rollen, spürte die schmerzhaften Verkrampfungen in Schultern und Nacken, hörte die Gelenke knirschen. Über Kopfschmerz war sie längst hinaus. Ihr Schädel brummte seit Tagen dumpf und drückend. Bei den Göttern, sie brauchte wirklich Schlaf und eine gesunde Mahlzeit und vor allem Luft.
Vor der Tür gestattete sie sich, das Gesichtstuch abzustreifen und die Haube abzusetzen, bevor sie in den Garten lief. Welche Wohltat selbst die wenigen Schritte waren! Tief atmete sie die warme Luft ein, hielt ihr schweißiges Gesicht in die Sonne, strubbelte durch ihr zerknülltes Haar.
Eiskalt fuhr der Stahl durch diesen kurzen Augenblick der Hoffnung.
„Hexe! Hab ich dich!“ Meckerndes Gelächter, als die Spitze des Säbels sich in ihren Nacken bohrte und den Kopfschmerz ausschaltete.
Langsam hob sie die Arme, eine Pein angesichts ihrer Verkrampfungen. „Maxim. Was wollt Ihr?“
Er drückte den Säbel tiefer in ihre Haut. „Was mir gehört.“
Ardanna unterdrückte einen Aufschrei. Blut rann ihren Rücken hinunter. Eine oberflächliche Verletzung, beruhigte sie sich selbst, nicht der Rede wert, auch wenn der Schnitt brannte.
„Und das wäre?“, brachte sie heraus. Sie wünschte, sie könne sich umdrehen, dem Bastard in die Augen sehen, in seinem Gesicht lesen. Doch den Gefallen tat er ihr nicht.
„Lass das mit der Stimme“, warnte er. „Diese Klinge ist scharf. Sie zerfetzt deine Stimmbänder für immer.“
Sie schloss die Augen und schluckte. „Maxim...“
„Doch zuerst will ich mein Eigentum. Mein Haus.“
„Es ist nicht Euer Haus.“
„Ah, ah.“ Er stocherte noch einen halben Zentimeter tiefer, was ihre Knie in Mus verwandelte. „Das hatten wir doch schon. Mein Haus, meine Dienerschaft. Euer Krankenhaus. Wir werden es verbrennen, zusammen mit Eurem Hexenzeug. Dem Weiberkram. Vielleicht behalte ich einige Kleider. Frauen mögen schöne Kleider. Eure Tochter wird eine solche Frau werden, nicht wahr? Sie mag hübsche Dinge. Unter Umständen kann sie sich das eine oder andere verdienen.“
Ardanna kämpfte gegen die Panik in ihrem Inneren. Er spielte mit ihr, genoss seine Macht, ihre Schwächen. Stumm redete sie sich selbst Mut zu, aber das meckernde Gelächter, in das sich das hicksende Lachen eines weiteren Mannes mischte, jagte ihr eine Heidenangst ein.
„Seid Ihr das, Waleck?“, brachte sie mit trockener Kehle heraus.
Die bucklige Gestalt des Dieners schob sich in ihr Blickfeld. „Ganz recht, Herrin.“ Er verbeugte sich übertrieben gekünstelt. „Gestattet mir die Bemerkung, dass die viele Hexerei Euch nicht bekommt. Ich habe Euch schöner in Erinnerung.“
„Ihr macht einen nicht wieder gut zu machenden Fehler. Gurbandat ist bereits auf der Suche nach Euch. Bislang reden wir nur über Zerstörung, nun kommt Gewalt dazu.“
Waleck zuckte mit den Schultern. „Und vielleicht Mord, aber wen stört das schon in der neuen Ordnung? Im Gegenteil: Man wird uns entlohnen für unsere Tat.“
„Was?“ Ardanna ruckte nach hinten, erstarrte jedoch, als sie den Widerstand der Klinge spürte.
„Halte dein Maul!“, herrschte Maxim den Diener an.
„So steckt Ihr doch mit ihm unter einer Decke“, stellte Ardanna fest und konnte nicht verhindern, dass ihre Unterlippe zu zittern begann.
„Wer nicht?“, keckerte Baraten. Ardanna entfuhr ein Stöhnen, als die Klinge in ihrem Nacken zitterte und die Haut weiter aufriss. „Aber das meiste scheint Ihr bereits zu ahnen.“
„Es geht um Vergeltung“, brachte sie heraus.
„Mehr noch, viel mehr. Denkt größer. Palastgroß.“
„Vei will den Thron. Er hat Ylaiy und die anderen hierher gelockt mit diesen Überfällen.“
„Raffiniert, nicht wahr? Er war schon immer ein gerissener Fuchs.“
„Er fädelt alles ein, zieht den eigenen Kopf hingegen fortwährend aus der Schlinge. Stört Euch das nicht?“
„Ich bewundere es. Und ich warne ein letztes Mal: Haltet Euer Hexenstimmchen im Zaum. Habt Ihr das von meinem Sohn gelernt? Das mit dem Blick und der Stimme? Ich frage mich, woher er das hatte. Was glaubt Ihr, hm?“
Sie schrie, als der Stahl tiefer stieß, schloss die Augen und riss sie wieder auf, als sie sich vorstellte, wie die Klinge in ihr Rückenmark fuhr. Maxim konnte sie auslöschen, einfach so. Es brauchte kaum weniger Kraft als einen Kerzendocht auszudrücken und ging genauso schnell.
Hinter den Fenstern des Spitals war Bewegung entstanden. Ihr Schrei war gehört worden. Menschen würden ihr zu Hilfe eilen, aber sie würden Maxim nicht aufhalten können.
„Bleibt zurück!“, brüllte sie, ein hysterisches Schluchzen in der Kehle.
„Siehst du, das war schlau von dir“, wisperte Maxim ihr mit feuchtem Atem ins Ohr. „Und nun komm. Du weißt, wie sehr ich deine Kranken verabscheue.“
Mit einer leichten Bewegung des Säbels stieß er sie vorwärts. Sie stolperte den Weg zum Haus entlang. Baraten war offensichtlich daran gelegen, sie noch ein Weilchen am Leben zu erhalten, denn er hatte den Säbel gesenkt und schubste sie mit der Faust, gab ihr einen Tritt, als ihre Knie einen Augenblick nachgaben. Sie stürzte auf ihre Handflächen, biss sich auf die Lippe, als Steinchen ihre Haut aufschürften.
„Mein Sohn“, fing Maxim wieder an zu sprechen, „hatte eine Vorliebe für Frauen wie dich. Sabyn war auch so. Hübsch, wohlgestalt, doch irgendwie anders. Still, verschlossen, immer mit sich beschäftigt. Sagte nie was, hörte jedoch zu und guckte den anderen in die Köpfe. Beobachtete. Studierte. Ich hielt sie für geistesgeschädigt, so wie meinen Enkel. Glaubst du das ebenfalls?“
„Videm war nicht verrückt. Der Unfall veränderte ihn, aber er war nicht verrückt.“
„Verändert, ja.“ Abscheu färbte Maxims Stimme dunkler. „Widerlich sah er aus mit diesem vernarbten Kopf. Wie eine Missgeburt.“
„Er war ein liebenswerter, nachdenklicher Junge, dem Schlimmes widerfahren war“, sagte Ardanna schwach. „Ich glaube auch nicht, dass Eure Schwiegertochter geistig umnachtet war. Ich kenne die Berichte über sie. Oft in sich gekehrt, verließ mitunter tagelang ihr Zimmer nicht, mied selbst ihren Mann und ihren Sohn. Lag im Bett, schlief viel, vergaß zu essen und zu trinken. Wanderte nachts durch das Haus. Wenn man sie ansprach, reagierte sie nicht. Als Ärztin würde ich sagen, dass sie an Melancholie litt und schlafwandelte. Schwermütigkeit kann wie eine Krankheit sein. Ein Fluch. Doch Cledent sprach mit tiefer Zuneigung von ihr und ihrem Geist. Sie war eine kluge Frau. Sie mied Menschen, aber das heißt nicht, dass sie sie nicht mochte. Sie liebte Videm über alles.“
„Sie hat meinen Sohn hintergangen. Hat mit einem anderen zusammengelegen. Eine Metze.“
„Und Ihr habt dafür Sorge getragen, dass sie es ein Leben lang bereute.“
„Ich stellte sie zur Rede. Nachdem ich sie mit dem Kerl erwischt hatte. In meinem Haus! Während der Hochzeitsvorbereitungen. Ich drohte, es öffentlich zu machen. Sie heulte. Nicht so sehr wegen sich, sondern weil sie den Burschen nicht in Verruf bringen wollte. Ein armer Schlucker, dem ein Skandal die Zukunft verbaut hätte. Sie flennte, klammerte sich an mich, flehte, bat. Schließlich ließ ich mich überzeugen.“
„Ihr habt sie in Euer Bett geholt“, flüsterte Ardanna. „Dafür habt Ihr den Mund gehalten. Die Frau Eures Sohnes! Ihr seid wirklich erbärmlich!“
Er schlug ihr mit der flachen Klinge auf den Kopf. „Ich habe sie nicht geschändet. Sie kam freiwillig!“
„Sie war fast noch ein Kind, verliebt in einen anderen. Cledent wurde für sie bestimmt.“
„Pah! Es passierte nur wenige Male, dann stellte sich heraus, dass sie schwanger war. Die Sache mit ihrem Liebhaber flog auf.“
„Ihr habt Cledent überredet, das Kind abtreiben zu lassen.“
„Es bestand die Gefahr, dass es meins war. Stellt Euch vor, es hätte mir ähnlich gesehen. Einerlei. Sie war eine Hure. Hat unseren Ruf geschädigt. Hätte es wieder getan. Ein unverzeihlicher Fehler. Er wurde beglichen.“
Ardanna blieb unvermittelt stehen und wandte sich um. Sofort lag Maxims Klinge an ihrem Hals, humpelte Waleck an ihre Seite. „Ihr habt sie umgebracht“, flüsterte sie, entsetzt über ihre eigene Eingebung. „Das mit der Kutsche wart Ihr.“
„Umdrehen“, befahl Maxim.
Sie gehorchte mit tauben Beinen. „Nur wegen einer Jugendsünde? Als hättet Ihr nie…“
„Ich bin ein Mann“, brüllte er. „Sie war eine Metze. Vorlaut, unbelehrbar. Schnüffelte herum, schlich ständig durch das Anwesen. Suchte nach etwas, das sie mir anhängen konnte, als Rache für damals.“
Ardannas Verstand raste, wenngleich er wie betäubt schien. „Hat sie etwas herausgefunden?“
„Dir ist doch klar, dass ich dich töten muss, wenn ich dir meine Geheimnisse erzähle?“
„Herr“, warnte Waleck.
Maxim beachtete ihn nicht. „Also? Immer noch neugierig?“
Ardanna schüttelte den Kopf.
„Ich hatte ein bisschen was abgezweigt“, begann Maxim und sie schloss entsetzt die Augen. „Hatte ein paar Geschäfte am Laufen. Cledent verdiente gut, ihm fielen einige Unregelmäßigkeiten hier und da nicht auf. Ich denke mir, dass er manches auch nicht sehen wollte. Aber sie, sie sah es. Wanderte nachts wie ein Gespenst durch das Haus.“
„Hat sie Euch erpresst?“ Ardannas Worte waren kaum hörbar.
„Sie wollte, dass ich aus ihrem Leben verschwand, für immer und ewig. Befahl mir, das Haus zu verlassen. Mir! Behauptete, sie hätte Beweise für die Unterschlagungen.“
„Also inszeniertet Ihr den Unfall?“
„Waleck schlug Gift vor. Sie wurde schwächer, aß kaum noch, dämmerte vor sich hin. Aber sie starb nicht.“
„Warum sagte sie Cledent nichts? Schöpfte sie keinen Verdacht?“
„Seelischer Zwiespalt. Als sie auf Vorkostern bestand, war die Chance sowieso vertan. Bei der Kutsche kam das Glück uns zu Hilfe. Unwetter hatten die Wege blockiert.“
„Glück“, echote Ardanna.
Maxim gab ihr einen weiteren heftigen Stoß, der sie gegen die Eingangstür warf. „Waleck! Mach auf! Pass aber auf. Ich habe ihr Balg noch nicht gesehen und keins der anderen Kinder.“
„Ihr habt uns beobachtet“, sagte Ardanna, sobald sie in der Eingangshalle waren.
„Das war gar nicht notwendig“, kicherte er.
„Wer?“ Plötzlich war sie über die Maßen erschöpft, wollte den Kopf gegen die Wand lehnen und schlafen. „Susa?“
„Wie kommst du auf sie?“
Sein Argwohn schreckte sie auf. Offenbar wusste er noch nichts vom Ableben seines Verbündeten. „Sie scheint uns etwas zu angetan von diesem Tikt“, formulierte sie vorsichtig. „Benimmt sich seltsam, seit er hier ist.“
„Hehe, ja“, gackerte Maxim. „Sie sagte uns, dass er hier ist. Hab mir gedacht, dass uns das zu Gute kommt. Dass wir ein bisschen eher anfangen können.“
Krampfhaft versuchte sie, alle Informationen zu verarbeiten. „Er sollte gar nicht hier sein?“
„Wir waren auch erstaunt“, gab er zu. „Aber nun ist er hier und kann uns helfen. - Wie besprochen“, wandte er sich an Waleck. „Der Schreibtisch. Das ist der einzige Platz, der mir noch einfällt.“
„Das Monstrum ist kaum zu bewegen“, jammerte Waleck.
„Dann hole Susa und ihren Liebsten“, herrschte Maxim ihn an. „Und Tikt. Zu viert solltet ihr das schaffen.“
Waleck schlug die Hacken zusammen und verschwand.
„Rufus ist auch Euer Spion?“, fragte Ardanna und dachte an den schlaksigen Burschen, der immer einen Witz auf den Lippen hatte, sich um die Gärten kümmerte und nicht davor zurückscheute, ihr mit den Kranken zu helfen.
„Du magst ihn, nicht wahr?“
Sie senkte den Kopf. Offenbar war es nicht weit her mit ihrer Menschenkenntnis. „Was habt Ihr ihm geboten?“
„Oh. Ein Häuschen für ihn und Susa. Im Grünen. Er mag Gärten.“
Sie schluckte Tränen hinunter.
„Stell dich da hin“, befahl er mit ausgestreckter Klinge. „Gesicht zur Wand.“
Die Heilerin gehorchte mit weichen Knien. „Ihr wollt also in Cledents Schreibtisch nach Sabyns Beweisen suchen, während Ihr auf Eure Verbündeten wartet? Wer ist es?“
„Wirst du sehen. Adiv hat bereits Bekanntschaft mit ihnen geschlossen.“
„Diese Graugewandeten, die sie überfallen haben?“
„Ich wünschte wirklich, ich wäre dabei gewesen“, sagte er gedehnt. „Dann wäre sie nicht so glimpflich davon gekommen.“
„Maxim“, begann Ardanna leise. „Glaubt Ihr ernsthaft, Ihr kommt davon? Ihr könnt mich töten, aber was dann? Die Dienerschaft weiß längst, dass Ihr hier seid und Ihr wisst, wir beherbergen einige Gäste. Ihr habt keine Chance.“
„So viele sind nicht mehr hier. Vier Burschen, ein paar Bedienstete, von denen die Hälfte im Krankenhaus aushilft oder Besorgungen macht, einige Kinder. Der Rest hat Perth schon vor Wochen verlassen. Schade, dass Eure Ziehtochter mit ihnen gezogen ist. Mit ihr hätte ich meinen Spaß gehabt. Am gefährlichsten hier sind wohl die Kinder. Sie hexen. So wie du und Cledent.“
„Cledents und meine Fähigkeiten sind nichts im Vergleich zu denen der Kinder.“
„Pff“, stieß Maxim aus, aber Ardanna spürte seine Verunsicherung. Und den knochigen Körper, als er dicht hinter sie trat und sie gegen die Wand presste, während seine linke Hand über ihren Rücken fuhr. „Niemand wird etwas unternehmen, so lange du in meiner Gewalt bist. Es reicht, dich in Schach zu halten. Verstärkung ist auf dem Weg. Du hast keine Chance. Vielleicht lasse ich dich leben. Oder Sphita. Hier, in meinem Haus. Natürlich nicht ganz unentgeltlich.“
Seine Finger tasteten über ihr Gesäß und zwischen ihre Beine. Im Stillen dankte sie den Göttern für den langen Kittel.
Ein Geräusch zu ihrer Linken drang an ihr Ohr. Sie warf den Kopf herum und erkannte Bendikt, den Stallburschen und Rufus‘ Freund, der sich, mit einem Dreschflegel bewaffnet, herangeschlichen hatte.
„Nein“, rief sie, aber Maxims Säbel bohrte sich bereits in Bendikts Brust. Der Flegel fiel zu Boden, gefolgt von dem blonden Mann, der mit wenigen Atemzügen sein Leben aushauchte.
Ardannas Kopf sank gegen die Wand. Ihre Beine drohten nachzugeben.
„Trottel“, knurrte Maxim. „Dachte wirklich, ich höre ihn nicht. Dabei stinkt er so nach Stall, dass ein Tauber ihn bemerkt hätte. Oh, und dort kommt der Nächste.“
Beinahe gelangweilt fuhr er herum und spießte Olav auf, der mit gesenktem Kopf und einer Peitsche bewehrt, auf Maxim zusteuerte. Wie ein Sack Mehl schlug er zu Boden, den Mund auf und zu klappend wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Der Kerl ist noch hässlicher als seine dämliche Schwester.“
Ein hohes Heulen war die Antwort. Ardanna wusste, zu wem es gehörte. „Clothis“, schluchzte sie auf. „Bleib stehen. Nicht.“
Doch Clothis‘ Verstand gehorchte ihr nicht. Sie rannte wimmernd herbei, die Augen auf ihren toten Bruder gerichtet. Rotz flog aus ihrer Nase und rote Flechten leuchteten auf ihren Wangen. Mit bloßen Händen stürzte sie sich auf Maxim, dessen Säbel sich dicht unter ihrem Ohr in ihren Kopf bohrte. Ardanna schloss die Augen zu spät. Blut spritzte auf sie, als die Klinge durch Clothis‘ Auge wieder nach außen drang.
Im selben Moment kam Waleck aus der Küche gehumpelt. „Sie ist nicht hier“, brüllte er. „Susa. Sie ist nicht hier.“
Sofort drückte Maxim Ardannas Kopf gegen die Wand. „Wo ist sie? Sprich! Sie sollte hier sein. Das war der Plan.“
„Sie ist bei mir“, ertönte eine Bassstimme von der Kellertreppe her.
Mühsam drehte Ardanna ihren Kopf. Susa war kaum mehr als ein wimmerndes Bündel. Eher tot als lebendig hing sie in den Armen des Leibwächters.
„Lasst sie gehen!“, meldete sich eine erschrockene Stimme vom Flügel her. Rufus.
„Du solltest im Krankenhaus sein“, knirschte Maxim.
Rufus beachtete ihn nicht, flehte Thragesh an. „Bitte, lasst sie gehen. Wir gestehen. Wir… wir geben auf. Nur lasst sie gehen.“ Rufus‘ Augen umarmten seine Geliebte.
„Dummkopf!“, schimpfte Maxim. „Waleck! Zu mir!“
Ein Atemstoß. Ein Lidschlag. Mehr Zeit hatte sie nicht. Rufus schrie. Susa jammerte. Maxims Säbel steckte in Clothis‘ Augenhöhle. Jemand schoss brüllend durch den Gang, der zu den Gästezimmern führte. Ivson.
Sie biss die Lippen zusammen und donnerte ihren Hinterkopf an Maxims Schädel, hörte das knackende Geräusch, mit dem Knochen aufeinandertrafen, merkte, wie Maxim sie losließ. Sie wollte weglaufen, aber ihre Beinmuskeln trugen sie nicht mehr. Der Schmerz schaltete alle Empfindungen aus. Langsam rutschte sie an der Wand hinunter.
Blitzschnell war Shesh heran, wuchtete seine Faust mitten auf Maxims Kopf - wie eine Axt, die ein Scheit spaltet. Zeitgleich hatte Ivson Waleck erreicht und baute sich drohend vor ihm auf. Der Diener gab ohne Gegenwehr auf.
„Holt einen Heiler“, brüllte Shesh. „Und seht zu, dass diese drei in den Kerker kommen.“
„Ich bin der Heiler“, stöhnte Ardanna, die sich mit Sheshs Hilfe aufrichtete. Ihr schwindelte und ihr Kopf dröhnte, aber sie schaffte es, auf ihren Beinen zu bleiben.
„Ihr seht nicht so aus, als könntet Ihr Euch gerade um Euch selbst kümmern.“
„Das wird schon. Eine Beule bringt mich nicht um.“
„Ihr seid ganz schön weiß um die Nase“, stellte der Leibwächter fest.
„Maxim schwafelte von Verstärkung. Wir müssen Hilfe holen. Sofort.“
„Das wird nicht nötig sein.“
Plötzlich wimmelte es in der Halle von maskierten Männern. Sie bewegten sich schnell und gezielt. Zwei von ihnen stoppten Ivson und die beiden Gefangenen, weitere umzingelten Shesh und Ardanna, hielten die Bediensteten in Schach.
„Wer seid Ihr?“, fragte Ardanna, bemüht, nicht allzu ängstlich zu klingen, was schwer war bei dem Hämmern in ihren Schläfen.
„Wir sind die Verstärkung“, sagte der Anführer freundlich. „Und Ihr müsst die Najimi sein.“

„Wir sollten zurückgehen“, drängte der Schmied. In seinem Gesicht flackerte die Sorge. Er drehte nervöse Kreise um den Wüstenläufer, blinzelte in alle Himmelsrichtungen, suchte die Straßen und Gebäude ab.
Akim antwortete nicht. Er stand im Schatten eines hohen Hauses, aufrecht und unbeweglich, gewandet in die unauffällige Kluft eines Perther Arbeiters. Ein Messer, wie es Handwerker und Bauern trugen, steckte in seinem Hosenbund.
Sein Bruder war ähnlich gekleidet wie er. Graues Hemd und braune Hosen, beides zu groß für die schmale Gestalt, beides so verschmutzt wie Gesicht, Arme und Beine. Der Dreck verbarg die dunkle Hautfarbe.
Akim bewegte sich nicht, hatte nur Augen für Kian, der lachend und einen Kornkolben rauchend auf einer umgestülpten Holzkiste hockte, die nackten Füße im Straßenstaub.
„Etwas muss passiert sein“, raunte Jonoy. „Kian ist nicht umsonst hier. Er hat den Fluchtweg durch die Ställe benutzt, vermeidet es, uns anzusehen. Er hat doch bemerkt, dass wir hier sind, oder?“
„Er weiß es.“
„Wenn er geflohen ist, dann weil er einen Grund hatte.“
Akim ignorierte den Alten. „Er spielt Karten“, sagte er, mehr zu sich selbst.
Der Schmied blieb stehen. „Das sehe sogar ich.“
„Ich wusste nicht, dass er das kann.“
„Du kennst ihn. Er saugt solche Dinge auf.“
„Hat er es von diesen Jungen gelernt?“
„Spielt es eine Rolle, wer ihm das Spiel beigebracht hat?“
„Arlen war es“, mischte sich Sphita leise ein. Sie saß neben Akim im Schatten der Hauswand. „Die Jungen sind seine Freunde. Er hat das Spiel von ihnen gelernt und Kian ein paar Mal mitgenommen.“
„Das sind Straßenjungen. Sie sehen abgerissen aus.“
Sphita nickte. „Eine Diebesbande. Waisenkinder zumeist. Ihre Zahl wird wachsen nach der Seuche.“
„Nicht die Gesellschaft, die man sich für sein Kind wünscht, aber im Augenblick das perfekte Versteck für Kian. Er imitiert sie, verschwindet in ihrer Mitte. Niemand erkennt ihn“, setzte Jonoy hinzu.
Akim schwieg. Selbst hier, im Schatten, war es unerträglich heiß. Jonoy spürte, wie ihm Schweißbäche den Rücken hinab liefen und wischte sich über Stirn und Nacken. Sein langes, schlohweißes Haar klebte auf den Schultern. Dem Wüstensohn schien die Hitze nicht viel auszumachen. Er stand unbewegt, das Gesicht starr wie eine Maske, die Augen unverwandt auf den Bruder gerichtet, der in das Johlen seiner neuen Freunde einfiel, als einer von ihnen ein Spiel gewann.
„Wir müssen zurück“, drängte Jonoy. „Es ist etwas passiert. Wenn Kian geflohen ist, dann mutmaßlich auch die anderen. Möglicherweise ist jemand verletzt oder Schlimmeres. Wir müssen herausfinden, was geschehen ist. Helfen. Akim!“ Er zischte den Namen in die flirrende Hitze. Seine Pranke zerrte an Akims magerer Schulter.
„Das war nicht der Plan“, sagte der Fährtenleser, ohne den Schmied anzusehen. „Wir sind für die Fluchtwege verantwortlich. Wir müssen ihn aus der Stadt geleiten. In Sicherheit.“
„Er hat sich selbst in Sicherheit gebracht“, widersprach Jonoy. „Die Frage ist, ob es den anderen auch gelungen ist.“
Akims Augen flackerten kurz, sein Kopf senkte sich.
„Lass ihn gehen.“
„Er ist noch ein Kind.“
„Sieh ihn dir an. Er verschmilzt mit seiner Umwelt. Niemand schöpft Verdacht.“
Oye do.“
Der Fährtenleser zuckte zusammen, als er die Worte hörte, so sehr, dass Jonoy und Sphita ihn erstaunt ansahen.
Geh. Verschwinde.
Kians Mund hatte sich kaum bewegt. Unbekümmert spielte er Karten, lauschte den übertriebenen Geschichten der anderen, lachte über zotige Witze, schielte unter dem Rand eines breitkrempigen Hutes, den er irgendwo gestohlen haben musste, auf seine neuen Kameraden. Doch Akims scharfen Augen entging nicht, dass die Blicke des Bruders unaufhörlich die Umgebung absuchten. Er war erleichtert. Kian war wachsam. Er würde auf seine Sinne vertrauen, auf seinen Verstand und seine magischen Instinkte.
„Er ist auf alles gefasst“, flüsterte Jonoy, als ahnte er Akims Gedanken. „Er riecht Bedrohungen, schmeckt Unheil. Sobald er Feinde wittert, macht er sich aus dem Staub. Mit neuen Gefährten oder allein, wenn es sein muss. Begreife, dass er mit uns in größerer Gefahr ist. Wir sind der Speck, mit dem sie die Mäuse fangen wollen. Ihr beide seid die besten Spurensucher der Welt. Ihr findet euch, wenn die Zeit reif ist.“
„Wohin wird er gehen?“, fragte Akim.
„Es ist besser, wenn wir das nicht wissen.“
Akim stockte ein letztes Mal, als Kian sich unmerklich aufrichtete und in ihre Richtung blickte. Er spürte mit einem Ziehen in den Eingeweiden, wie der Adlerblick sich in ihn bohrte.
Oye do. Oye do.
Im selben Augenblick lachte Kian auf und sagte etwas auf Yr zu seinen Spielkumpanen. Es klang anders als das Yr, welches sie alle sprachen: undeutlicher, zusammengezogener, mit weggelassenen Silben, gespickt mit Wendungen und Worten, die er nicht kannte. Gassenjargon. Aufgeschnappt auf Ausflügen in die Stadt.
Akim lächelte wehmütig, bevor er sich straffte. „Gehen wir.“

„Euer Ruf eilt Euch voraus.“ Der schlanke Mann sprach, als wäre er ein Gastgeber, der neue Freunde begrüßt, und nicht der Anführer einer Gruppe maskierter Eindringlinge. Lediglich der schneidende Unterton verriet den kaltblütigen Menschen hinter der Maske der Normalität.
Er schlug die Kapuze zurück. Darunter kam Haar von unbestimmter Farbe zum Vorschein. Er trug es zurückgekämmt, was die hohe Stirn zur Geltung brachte. Sein Gesicht wies klare Konturen auf, war messerscharf wie die Stimme. Weder Bartstoppeln noch Falten zierten es; es wirkte alterslos und attraktiv.
„Wer seid Ihr?“, wiederholte Ardanna.
„Elphen Chausselles. Das dort ist mein Bruder Kalphon.“ Er zeigte auf einen Mann, der etwas größer und stämmiger war als er.
„Gehört Ihr zu Urdat Vei?“
„Wir gehören niemandem.“
„Was wollt Ihr? Geld? Schmuck? Mein Haus?“
„Ich möchte die Kinder kennenlernen. Yvain, Arlen, Kian und Bada.“
„Ciycain.“
„Hat sie das getan? Einen Wal gerufen?“ Elphen Chausselles wirkte belustigt.
„Sprecht Ihr die Sprache der Sumpfleute?“
Chausselles‘ Mund verzog sich zu einem Lächeln. Seine Lippen waren weich und geschwungen wie die einer Frau. An einem anderen Ort und unter anderen Umständen hätte sie sich gefragt, wie es sich anfühlen mochte, sie zu küssen.
„Ihr seid geschickt darin, Menschen auszufragen“, stellte er fest.
„Nicht, was Euch angeht, scheint mir.“
Seine rauchgrauen Augen glitzerten erheitert. „Die Sprache der Frâgg ist meiner ähnlich. Wir verstehen einander. So hat Bada ihren Namen geändert. Diese Information ist neu für mich.“ Er schnippte mit den Fingern. „Wärt Ihr wohl so freundlich, die Walruferin und ihre Freunde kommen zu lassen?“
„Wozu?“
„Ich sagte schon, ich möchte sie kennenlernen.“
„Ihr scheint mir kein Mann zu sein, der sich gern mit Kindern umgibt.“
Elphen lachte laut auf. „Ihr gefallt mir, Najimi. Furcht schnürt Euch ein wie ein zu enges Gewand, aber Ihr bietet mir