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Kapitel: | 76 | |
Überschriften: | 7 | |
Sätze: | 15.616 | |
Wörter: | 136.851 | |
Zeichen: | 808.442 |
Sie blieb so unvermittelt stehen, dass er gegen ihre Seite prallte. Reflexartig griff er nach ihrem Arm, gewappnet gegen Angriffe jeder Art. Doch kein Dieb lauerte in ihrer Nähe, kein Soldat blickte herausfordernd. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Um sie summte das Leben der Stadt. Bedienstete hasteten vorüber, Bürger schlenderten gemächlich vorbei. Über ihnen spann sich das Gewirr unzähliger Stimmen, von denen die der Marktschreier und Betrunkenen am lautesten röhrten.
„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, scherzte Gillok mit schiefem Grinsen, das verschwand, als sie nicht reagierte. „Syra?“, setzte er nach, jählings verunsichert wegen des steinernen Gesichtsausdrucks.
Er zupfte sie am Ärmel ihres Mantels. „Was ist? Ist dir etwas aufgefallen? Hat es mit ...“
Er kam nie dazu, die Frage zu vollenden. Mit einem unerwarteten Satz wich Syriakin zur Seite aus, stob an schimpfenden Passanten vorbei über die Straße und unter einem Torbogen hindurch in eine Gasse.
Einen Augenblick stand Gillok stocksteif, dann setzte er ihr nach.
Billige Wirtshäuser und armselige Suppenküchen säumten die enge Straße. Gillok hastete an schwindsüchtigen Dirnen vorüber, streifte einen Mann, der ihm unflätige Schimpfworte hinterher brüllte. Er wich fauligem Unrat aus, sprang über das angenagte Skelett eines Hundes, beschleunigte, als er einen durchdringenden Schrei vernahm, gefolgt von entsetzten Ausrufen und wütenden Flüchen, jagte die Gasse entlang, das Pochen des eigenen Herzens und das Dröhnen seiner Stiefel im Ohr.
Als er um die hervorstehende Ecke eines schiefen Gasthauses bog, erfasste er mit einem Blick, dass er zu spät gekommen war.
Eine Meute hatte sich um seine Gefährtin geschart. Syriakin musterte sie aufmerksam, die Hände kampfbereit nach vorn gestreckt. Gillok wusste, dass sie zwei, drei Männer töten konnte, wahrscheinlich sogar mehr. Dass sie eine Kämpferin mit nahezu unheimlichen Fähigkeiten war, die in ihrem Leben vielen ausweglosen Situationen entronnen war. Doch um sie wogte das Pack; ein wilder Haufen verlorener Existenzen, durchtränkt von Branntwein und Schmutz, gewaltbereite Männer und Frauen, gierig nach Kampf und Sensation, lüstern nach Blut und Tod.
„Heda!“, rief er und schob sich durch die aufgebrachte Menge. „Lasst mich durch! Was ist geschehen?“
„Sie hat ihn umgebracht“, dröhnten die Stimmen im Chor.
Auf dem Kopfsteinpflaster, inmitten schmierigen Abfalls, lag ein regloser, schmaler Körper. Gillok schoss Syriakin einen Blick zu, bevor er zu dem Mann trat. Augenblicklich erkannte er, dass diesem nicht mehr zu helfen war. Er lag auf dem Rücken, die Arme schlaff an den Seiten, die Augen gebrochen. Ein Messer ragte aus seiner Kehle, ein zweites aus der Brust.
Aus der Art der Wunden las Gillok, dass beide Würfe tödlich gewesen waren. Herz und Halsschlagader. Kraftvolle, präzise Würfe, die das Opfer nach hinten geschleudert und erstickt hatten. Ein rascher Tod. Keine Zeit mehr, die Arme abwehrend zu heben, keine Zeit für letzte Worte.
Das Messer im Leib steckte bis zum Heft im Fleisch, verhinderte, dass Blut austrat. Nur ein kleiner hellroter Fleck schimmerte auf dem durchgescheuerten Stoff. Die Kehle sah schlimmer aus. Dicke Rinnsale liefen den Hals hinunter.
Als er den Toten genauer betrachtete, stutzte Gillok. Er ging in die Knie und befühlte die Kleidung. Eine Uniform. Fadenscheinig, abgetragen, die ursprüngliche Farbe kaum mehr zu erkennen.
Ein Soldat.
Nachdenklich strich er über die Brust des glatzköpfigen Mannes.
„Finger weg von den Messern!“, röhrte die Stimme eines Säufers plötzlich laut und brachte die Menge erneut zum Wogen.
Schnell hob Gillok die Hände und wandte sich der Meute zu, die ihn erbost anstarrte.
„Mordkumpan!“, entrüstete sich ein magerbrüstiges, übermäßig geschminktes Weib. „Lasst Eure dreckigen Finger von den Klingen!“
„Ich wollte nur nach den Wunden des Mannes sehen“, sagte Gillok beruhigend, die Hände weiterhin in der Luft. Langsam drehte er sich zu Syriakin, versuchte, ihren Blick einzufangen, aber Syras Augen schweiften über die aufgebrachte Menge und ignorierten ihn.
„Wozu? Er ist hinüber, das sieht doch ein Blinder“, spie die Dirne mit den hellroten Wangen aus. „Gerichtet von der da.“ Ihr Finger wies auf die Kriegerin, die das Weib ohne sichtbare Regung musterte.
„Mörderin!“
„Macht ihr den Prozess!“
„Lasst sie in der Boragha schmoren!“
„Bringt sie in den Kerker, damit sie dort verrotten kann!“
Der Pulk, ausgespuckt von den Löchern und Höhlen der Säufergasse, drängte näher, geriet außer Kontrolle. Schimpfwörter hagelten auf Syriakin, heisere Stimmen schrien nach Vergeltung, Fäuste reckten sich in die Luft.
Gillok sah nicht, wer das Toben lostrat. Plötzlich waren überall Arme, die herniederprasselten, Gegenstände, die auf Syriakin zuflogen. Steine. Unrat. Die Menge wogte in Kreisen um sie, spülte Gillok an den Rand.
Syriakin hatte keine Chance. Zwar gingen Männer und Frauen unter dem Hagel ihrer Ausfälle zu Boden oder wankten getroffen zurück, doch von allen Seiten drückten und drängten aufgeheizte Körper gegen sie, kreisten sie ein, verhinderten, dass sie nach ihren Waffen greifen konnte.
Gillok ruderte mit den Armen und schob Menschen beiseite, aber gegen die tobsüchtige Horde kam er nicht an. Nicht, ohne andere ernsthaft zu verletzen.
Schläge und Tritte prasselten auf Syriakin ein. Sie versuchte, die Attacken zu parieren, selbst als sie zu Boden ging; wehrte sich verbissen weiter, gab erst auf, als ein Stiefel ihren Kopf traf.
Ein Knüppel, den plötzlich einer der Anwesenden schwang und in Syriakins Bauchhöhle bohrte, verhinderte, dass die trampelnde Meute sie unter sich begrub. Gleichzeitig nagelte er die Kriegerin auf dem Pflaster fest.
„Auseinander!“, brüllte eine donnernde Stimme, die auch die hintersten Reihen erreichte.
Vor dem riesenhaften Mann mit den rollenden Augen wich die Menge zurück. Das Stimmengewirr ebbte ab und verstummte. Säufer bückten sich nach fallengelassenen Mützen, Dirnen schoben verrutschte Perücken zurecht. Steine polterten auf das Pflaster, Dolche wurden unauffällig in Hemdärmel geschoben, Fäuste hinter Rücken versteckt. Einzelne lösten sich aus dem Pulk, traten den Rückzug an. Andere entfernten sich grollend, manche stoben hinfort. Diebe verschwanden wie Schatten, die Taschen schwer von neuen Reichtümern. Nur wenige blieben zurück.
Gillok beugte sich zu Syriakin hinunter, doch der Knüppel schob sich vor seine Brust. „Nichts da.“
„Ich wollte nur sehen, ob sie verletzt ist.“ Gillok zwang sich, ruhig zu sprechen. „Sie reagiert nicht.“
„Kennt Ihr sie?“, fragte der muskelbepackte Besitzer des Prügels barsch.
„Ja.“
„Dann nehmt ihn ebenfalls in Gewahrsam“, befahl der Riese über Gilloks Kopf hinweg.
Gillok fuhr herum und trat einen Schritt zurück, als er sechs Männer auf sich zu rennen sah. „Haltet ein“, rief er, die Arme abwehrend erhoben. „Ich hatte mit dem Vorfall nichts zu tun.“
„Das stimmt, Amon Gurbandat“, sagte einer der Dagebliebenen, ein schmächtiges Männlein mit harten Gesichtslinien. „Er kam, nachdem sie den Mann gemetzelt hatte.“
„Ihn trifft keine Schuld“, bestätigte ein anderer. „Er schien genauso erschrocken wie wir.“
Gurbandat brummte etwas Unverständliches. „Behaltet ihn im Auge“, wies er seine Uniformierten dann im Kommandoton an. Der Knüppel schwang bedrohlich in seiner Hand. „Sie hat sie einen Mann getötet, vor aller Augen. Vorsätzlich.“
Einer der Schergen zuckte mit den Achseln. „Sie scheint bewusstlos.“
„Scheint“, wiederholte Amon Gurbandat mit verkniffenem Lächeln, hob blitzschnell den Fuß und rammte ihn in Syriakins Seite.
Gillok kannte Syras eiserne Selbstbeherrschung, aber der brutale Tritt ließ sie aufstöhnen. Noch während sie sich krümmte, senkte der Prügel sich auf ihren Nacken.
„Schluss mit den Spielchen“, befahl Gurbandat dröhnend. „Ein Schlag und Ihr werdet nie wieder laufen. Für den Rest Eures erbärmlichen Lebens.“
„Warum tötet Ihr mich nicht gleich?“, drang Syriakins Stimme zwischen zusammengebissenen Zähnen zu ihnen herauf.
„Syra“, stöhnte Gillok.
„Weil ich das Gesetz vertrete“, zischte Gurbandat. Mit einer Faust griff er nach ihrem Kragen und zog sie auf die Beine, als wäre sie schwerelos. Gillok schluckte, gegen seinen Willen beeindruckt. Amon Gurbandat schien stark wie ein Bulle und gerissen wie ein Fuchs. Kein Mann, mit dem man sich leichtfertig anlegte, zumal auch seine Untergebenen aussahen, als verbrächten sie die meisten Stunden des Tages auf dem Kampfplatz.
Zwei von ihnen traten Syriakins Beine auseinander und bogen ihre Arme auf dem Rücken so weit nach oben, dass ihre Finger beinahe ihr eigenes Schulterblatt berührten. Eine Prozedur, die sie in die Knie zwang.
Gillok wurde unruhig.
„Ah. Bleibt schön, wo Ihr seid!“ Warnend hob Gurbandat den Knüppel. „Sie tun nur ihre Pflicht.“
„Ihr behandelt sie wie eine Verbrecherin.“
„Sie ist eine kaltblütige Mörderin. Und ich helfe, Mörder zu bestrafen.“ Er beobachtete Syriakin, während seine Männer ihre Handgelenke fesselten und ihre Taschen systematisch entleerten, „Knebelt auch ihre Füße“, wies er seine Leute an. „Sie kämpft mit allen Finessen.“
Gillok betrachtete seine Gefährtin. Sie hatte jeden Widerstand aufgegeben, wirkte benommen und teilnahmslos.
Er suchte ihren Blick. Sie hielt den Kopf gesenkt und von ihm abgewandt. Fühlte sie Schuld? Kein Wort der Verteidigung drang über ihre Lippen. Sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Empfand sie Reue, weil sie einen wehrlosen Menschen ohne Warnung getötet hatte? Oder Scham, weil sie es unbeherrscht getan hatte? Er war sicher, dass sie ihre Gründe gehabt hatte, aber ebenso sicher wusste er, dass sie diese niemals offenbaren würde. Statt nach Rechtfertigung würde sie nach einem Ausweg suchen. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht in einem aussichtslosen Kampf gegen sieben bewaffnete und gut ausgebildete Männer. Sie wartete auf eine bessere Gelegenheit. Zumindest hoffte er das.
„Amon Gurbandat“, wandte er sich an den Anführer. „Euer Name kommt mir bekannt vor.“
„Er befehligt die Stadtwache“, mischte der schmächtige Zuschauer sich ein. „Hat einiges zu sagen in Perth.“
„Wo bringt Ihr sie hin?“
„In den Kerker.“
„Was geschieht dann mit ihr?“
„Wir senden nach dem Leitenden Inquisitor. In der Zwischenzeit nehmen wir ein Protokoll auf, befragen die Zeugen. Falls wir noch welche finden“, knurrte Gurbandat, die Gasse hinab spähend.
Gillok folgte seinem Blick. Anwohner, Dirnen und Wirtshausbesucher schienen verschluckt von den Türen verkrüppelter Häuser, geflüchtet in Keller und verrammelte Hinterhöfe. Ratten und magere Hunde eroberten den Durchlass zurück.
„Ich habe alles gesehen, von Anfang an“, erbot sich der schmächtige Zuschauer. „Sie kam von der Stadt her. Angeflogen wie ein ... ein Greifvogel oder so was. Der Mann stand hier an der Mauer, schäkerte mit Affran. Alles ganz harmlos.“
„Sie schleuderte die Messer, noch bevor sie heran war“, mischte sich der andere Passant, ein untersetzter Greis mit getrübten Augen, ein. Seine Stimme quietschte wie nasse Bootsplanken. „Kello wusste nicht einmal, wie ihm geschah. Ihre Messer hauten ihn um. Einfach so.“
„Kello, hmm“, knurrte Gurbandat. „Ein Kumpan von Euch?“
„Ach. Man kannte sich flüchtig. Traf sich, wie man sich eben ab und zu auf der Straße trifft.“
„Er war Soldat. So wie Ihr.“ Der Kommandant tippte auf die verblichene Uniformjacke des bereitwilligen Zeugen.
Aufmerksam, ergänzte Gillok seine Einschätzung Gurbandats.
„Viele hier sind Ausgediente“, entgegnete der Alte, dessen milchige Augen sich verengt hatten. „Das Wirtshaus hinter Euch ist ein beliebter Treffpunkt für Ehemalige.“
„Wirtshaus, na ja.“ Abschätzig musterte Gurbandat die rußgeschwärzte Spelunke. „Ehrenhaft Entlassene verbringen ihre Tage nicht in Räuberhöhlen wie dieser. Desertierte schon eher.“
„Wollt Ihr mir unterstellen ...“, hob der Greis empört an, doch Gurbandat zerschnitt den Protest mit einem Schwung des Knüppels.
„Genug jetzt. Mich interessiert Eure Vergangenheit nicht und auch nicht die des Opfers. Kello. War das sein wirklicher Name?“
„Hier war er unter diesem Namen bekannt.“
Der Kommandant wandte sich an die Wachen. „Bringt den Toten zu den Ärzten. Sie sollen ihn genauer untersuchen, die Todesursache offiziell feststellen. Das Weib schleift zu den Kerkern. Gebt ihr die Einzelzelle ganz hinten.“ Er trat zu Syriakin und hob ihr Kinn an. „Keine Fenster, nicht einmal ein Windloch“, raunte er ihr zu. „Eine Tür, die Axtschlägen standhält. Glatte Wände, keine Schlupflöcher. Ich selbst kontrolliere sie regelmäßig. Nur für den Fall, dass Ihr an einen Ausbruch denkt.“ Grinsend ließ er sie los. „Und ihr“, rief er den Umstehenden zu, „begleitet meine Männer. Eure Aussagen werden aufgenommen.“
„Wie lange werdet Ihr sie festhalten?“, fragte Gillok.
„Bis der Inquisitor eintrifft. Alles Weitere entscheidet er.“
„Ihr vernehmt sie nicht?“
„Wenn sie mit uns reden will, werden wir zuhören. Mehr nicht.“
„Darf sie Besuch empfangen?“
„Ihr scherzt wohl.“ Gurbandat lachte auf. Seine Männer wieherten belustigt.
„Sie braucht ärztlichen Beistand. Innere Verletzungen sind nicht auszuschließen.“
„Ah. Sie ist Schlimmeres gewohnt.“
„Woher wollt Ihr das wissen?“
„Sie heult nicht, sie fleht nicht. Hat die Taschen voller Spielzeuge. Kello war körperlich noch gut in Schuss, hatte Kampferfahrung und Soldateninstinkte, trug selbst ein, zwei Waffen am Leib. Sie schaltete ihn aus. Einfach so.“ Gurbandat schnipste mit den Fingern, ein obszönes Geräusch, das in der Gasse nachhallte.
„Sie muss ihre Gründe gehabt haben“, wagte Gillok einen Versuch der Verteidigung.
„Die kann sie dem Inquisitor schildern. Damit verkürzt sie vielleicht ihr Strafmaß. Wenn sie es schafft, sein Herz zu erweichen. Doch man sagt, Remond hätte seins verloren an jenem Tag.“
„Gestattet ihr einen Besuch“, bat Gillok.
„Sollte es ihr schlechter gehen, rufen wir einen unserer Ärzte. Ihr könnt am Kerkereingang Nachrichten einholen. Hinterlasst eine Adresse. Wir senden einen Boten, sobald Remond eintrifft.“
Gilloks Gedanken rasten. „Der Kaiser“, fiel ihm ein. „Die Inquisitoren unterstehen dem Kaiser, genau wie die Stadtwache, nicht wahr?“
Gurbandats Augen verengten sich. „Erhofft Ihr seinen Beistand? Er ist für seine Nachsicht und seinen Verstand bekannt, doch hier liegt der Fall eindeutig. Kaltblütiger Mord.“
„Der nicht grundlos geschah.“ Gillok raffte seinen Mantel enger um sich. „Syra“, wandte er sich an seine Gefährtin. „Tu nichts Unbedachtes, hörst du? Ich werde nach Yruish gehen. Ich hole Ylaiy. Er wird dir helfen.“
Sie hob den Kopf. „Nein.“
„Natürlich! Das ist der einzige Weg. Er ist unser Freund.“
Ungläubig sahen Gurbandat und seine Wachen sich an.
„Nein“, wiederholte Syriakin scharf.
„Du musst! Deine Geheimnisse sind bei ihm sicher.“
„Ich werde nichts sagen. Meine Vergangenheit gehört mir.“
Gurbandat merkte auf. „Ich dachte mir schon, dass Ihr Kello kanntet. War der Mord ein Racheakt?“
„Tut Eure Pflicht. Bringt mich zum Kerker.“ Syriakins Stimme klirrte wie Eis.
„Wie Ihr wünscht.“ Gurbandat gab seinen Männern ein Zeichen.
Gillok fluchte, wechselte in seine Muttersprache. „Was wird aus Ciycain, wenn du in der Boragha bist?“
Syriakin blieb mit einem Ruck stehen, sodass die Wachen an ihren Seiten ins Taumeln kamen. „Sucht sie. Sucht die Kinder. Sucht nach Elphen und den Quellen.“ Auch sie sprach in der Heimatsprache.
„Was ist mit dir?“
Sie presste die Lippen aufeinander. „Es gibt keinen Weg zurück.“
„Du bist doch keine Mörderin“, stammelte er.
„Wir beide wissen, dass das nicht stimmt.“
„Syra, wer war er?“
„Er war das Böse.“ Beim letzten Wort wechselte sie zurück in die Reichssprache, als wolle sie ihre eigene Sprache nicht damit beschmutzen. Hastig drehte sie sich um und zog die Wachen mit sich.
„Syra“, rief Gillok ihr verzweifelt nach.
„Lasst ab“, befahl Amon Gurbandat.
„Nehmt endlich diesen verfluchten Prügel von mir.“ Ärgerlich drückte Gillok die Waffe beiseite. „Ich bin kein Kämpfer.“
„Nein, Ihr seid der Vermittler. Der Friedenstiftende.“ Gurbandats finsteres Gesicht wurde eine Spur versöhnlicher. Er ließ den Knüppel sinken. „Wärt Ihr nicht gewesen, hätte sie weiter gekämpft.“
„Angeschlagen gegen sieben bewaffnete Männer? Nein.“
„Nein? Sie wirkte nicht allzu besorgt. Normalerweise schreien Verhaftete, schlagen um sich, beteuern ihre Unschuld.“
„Sie ist nicht unschuldig. Wen sollte sie also überzeugen?“
„Glaubt Ihr, sie heckt einen Fluchtplan aus? Oder irgendeine Gemeinheit?“
Gillok entschloss sich zur Ehrlichkeit. „Ich hoffe nicht.“
„Ich auch nicht.“ Gurbandat straffte sich. „Sprecht mit dem Kaiser. Wenn er wirklich Euer Freund ist, ist er der Einzige, der sie vor der Boragha retten kann.“
Gilloks Gesicht nahm einen misstrauischen Ausdruck an. „Solltet Ihr nicht auf der Seite des Opfers sein?“
„Tja, nun. Ihr wisst, wie es ist. Manchmal sind Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Das hier ist eine verrufene Gegend. Wer sich hier herumtreibt, hat kein reines Herz. Hier landet der Abschaum, der Bodensatz unserer Stadt. Kello hatte eine schmutzige Weste, das würde ich fast beschwören.“
„Doch selbst wenn Kello ein Dreckschwein war, hatte sie nicht das Recht, sein Leben zu nehmen“, sagte Gillok bedrückt.
„Macht Euch auf den Weg nach Yruish, bevor sie auf die Idee kommt, Dummheiten anzustellen.“
„Stellt sicher, dass es ihr gut geht.“
„Kerkerhaft ist hart, aber sie wird es überleben.“
„Bitte. Ich kenne eine Ärztin. Erlaubt, dass sie nach ihr sehen darf.“
„Wen?“
„Ardanna. Sie leitet ein Haus der Kranken.“
„Ich kenne sie. Eine ausgezeichnete Ärztin.“
„Dann wisst Ihr, dass man ihr vertrauen kann. Lasst sie nach meiner Gefährtin sehen. Nur, um sicherzugehen, dass es ihr körperlich und geistig gut geht. Damit sie keine Dummheiten macht.“
Der Kommandant legte den Kopf schief. „Ihr habt einflussreiche Freunde, scheint mir. Man erzählt sich von Sumpflingen, die geholfen haben, Maxim Baraten dingfest zu machen. Die verwickelt waren in die Kämpfe in ihrem Haus. Das wart ihr, nicht wahr?“
„Wäre Syra nicht gewesen, wäre die Sache für Ardanna und ihre Tochter schlimmer ausgegangen, glaubt mir.“
Amon Gurbandat dachte lange nach, musterte Gillok aufmerksam, nickte schließlich. „Ein einmaliger Besuch. Nur die Ärztin.“
Von außen wirkte die Palaststadt wie immer. Eine wuchtige Ansammlung erhabener Gebäude in unterschiedlichen Baustilen. Balustraden, Ziermauern, Vordächer, Säulen, Portale, Bogengänge, Spitzpfeiler.
„Davanas“, murmelte der Fraga-í beeindruckt. „Der Anblick ist jedes Mal betörend. Schau, wie die Sonne sich auf dem weißen Stein spiegelt. Es blendet geradezu.“
Akim nickte. „Marmor. Selten, schwer abzubauen und zu transportieren. Deshalb gilt er als unbezahlbar. Diesen hier hat man gewonnen aus dem Steinfeld, das Sila und Ivson passiert haben.“
Bei dem Gedanken an den Bauersburschen verdüsterten sich ihre Mienen und sie verstummten einen Augenblick.
„Die Vorfahren des Kaisers mussten immens reich sein, wenn sie einen Palast daraus bauen lassen konnten.“
Akim musterte die Palastmauern, die Mansarddächer der imposanteren Gebäude, die Turmkuppeln. „Das meiste ist Fassade. Anfangs war der Palast nichts weiter als ein Jagdschloss. Die Elboin haben es über Jahrzehnte stetig ausgebaut. Ylaiy hat mir erzählt, dass es hier früher Parkanlagen gab, künstliche Seen und Bäche. Sie schwanden, weil all die Häuser für die Palaststadt errichtet wurden. Die besteht hauptsächlich aus Ziegeln und Sandstein. Nur die Mauern der Repräsentationsbauten sind mit Marmor und Gold verkleidet.“
„Blendwerk. So wie die nutzlosen Teppiche im Inneren.“
„Ja.“
„Beeindruckend ist es dennoch. Lass uns nachsehen, wie es drinnen aussieht.“
„Gehen wir zur Rückseite. Bestimmt lässt man die Bauhelfer dort ein.“
„Müssen wir uns wieder verstellen?“
Akim vergewisserte sich, dass seine Klingen fest unter Lederriemen und Gürtel am Körper saßen. „Vorerst. Vorsichtshalber.“
Die Handwerkerstadt hatte gelitten. Viele Hütten waren noch immer beschädigt, einige so zerstört, dass man begonnen hatte, sie abzureißen. Vereinzelt sahen sie verrußte Überreste von Grundmauern. Doch vor und in den Werkstätten war der Betrieb aufgenommen worden. Männer, Frauen und Kinder wuselten umher, räumten Schutt beiseite, versorgten Arbeiter mit Essen. Hammer- und Axtschläge zerhackten den Vormittag, Sägen knirschten, Schubkarren rumpelten über die Rundsteine.
„Das ging schnell“, murmelte Nou. „Sieht beinahe alltäglich aus. Anders als vor ein paar Wochen.“
Akims schwarze Augen huschten über den Hof. Er hatte den Kopf gehoben und einen wachsamen Ausdruck im Gesicht. Abwartend studierte Kanouepe den Wüstenmann.
„Sie trauern noch“, entgegnete Akim schließlich leise. Er wies mit dem Kinn auf einen älteren Mann, der auf einer Bank vor einer der Hütten kauerte und in die Ferne starrte. „Und sie leiden. Die Frau dort drüben hinkt, trägt einen Eimer statt zwei wie die anderen. Sieh in ihre Gesichter. Qual, Gram, entsetzliche Erinnerungen. Es stinkt immer noch nach verbranntem Fleisch. Die Bedürftigen fehlen und die Tore zur Küche sind verschlossen. Keine Soldaten auf dem Exerzierplatz, kein Pferdegetrappel. Selbst die Torwärter sind verstummt. Eine Menge ist wieder aufgebaut, doch das hier ist nicht derselbe Palast wie vor drei Jahren. Es gab viel mehr Leben.“
Nou seufzte. „Deine Sinne sind schärfer als meine.“
„Nicht mehr lange“, lächelte Akim traurig. „Sie schwinden allmählich. Sila allerdings erkenne ich.“
Nou blickte zu einer der Handwerkerhütten, von wo aus Sila ihnen mit wehenden Haaren entgegeneilte und sie in die Arme schloss.
Akim musterte sie. Ihr Kleid wies Schweißränder und Schmutzflecken auf. „Wie geht es dir?“
„Hundemüde.“ Sie legte die Arme um sich, als ob sie fror. „Völlig erledigt. Wenigstens lenkt die Schufterei uns vom Grübeln ab. Seid ihr wohlauf?“
„Jonoy und Shesh suchen mit Syra und Gillok nach Spuren, helfen dabei, die Residenz zu flicken und Vorräte zu beschaffen. Mehlau erholt sich noch, Ardanna arbeitet wie eine Besessene. Aus demselben Grund wie ihr vermutlich. Aber ganz allmählich kehrt so etwas wie Alltag ein, zumindest nach außen hin.“
„Und innen Schock und Chaos. Die Toten verfolgen uns. Die Kaiserin. Bland, Daví, Deniirt. Paíre und Theou. Remond ist eine wandelnde Leiche.“
„Und Ylaiy?“, fragte Akim behutsam.
Sila senkte den Blick. „Lebt von Tag zu Tag. Zieht sich oft zurück, isst wenig, schläft viel oder gar nicht. Manchmal lenkt ihn Talin ab, dann wieder sieht er ihn an und gibt ihn an Rana weiter, als wäre sein Anblick unerträglich.“
Akim zog sie an sich. „Gib ihm Zeit.“
„Wir brauchen ihn. Wir organisieren den Alltag, so gut wir es vermögen. Meine Mutter kümmert sich um die Dienerschaft und die Handwerker, ich überwache die Mahlzeiten, die Wäsche, die Pferde. Der Rat versucht, irgendeine Form von Regierung aufrechtzuerhalten. Zum Glück ist ein Teil von Ylaiys Soldaten zurück, der Palast nicht mehr schutzlos. Die meisten Botschafter, Diplomaten und Gäste sind abgereist, was weniger Arbeit bedeutet. Dafür weiß man mittlerweile wohl auch im letzten Winkel des Reiches, was passiert ist.“
Nou nickte. „Die Leute reden darüber, wie Vei die Kaiserin umgebracht hat. Dass ein fremder Mann aus der Boragha danach ihn gemetzelt hat. Dass Theou am Verrat beteiligt war.“
„Außerdem machen Gerüchte die Runde“, fügte Akim hinzu. „Halbwahrheiten und Übertreibungen, hauptsächlich über die Ereignisse hier. Ardannas Residenz ist im Vergleich unbedeutend, der Rest ihrer Dienerschaft schweigt. Doch in Yruish ... Jeder kennt eine Base, deren Neffe einen Freund hat, der bei dem Gemetzel dabei war. Irgendwann wird niemand mehr die Wahrheit kennen.“
„Das ist ja vielleicht nicht das Schlechteste“, seufzte Sila. Sie musterte die beiden jungen Männer, den Staub auf ihrer Kleidung. „Wo sind eure Pferde?“
„Wir sind gelaufen“, erklärte Kanouepe.
Silas Gesicht hellte sich eine Spur auf. „Ein Sumpfmann und ein Wüstenläufer. Wahrscheinlich wart ihr zu Fuß sogar schneller. Kommt. Wir haben Wasser, Brot und Fleisch.“
„Das kann warten“, erwiderte Akim. „Zuerst wollen wir nach Ylaiy sehen.“
„Ich bringe euch zu ihm. Vielleicht vermögt ihr, ihn aufzurütteln.“
Zusammengekrümmt und mit wirr abstehendem Haar, lag der Kaiser auf einem Sessel. Er trug Hemd und Hose wie ein Handwerker, hatte die Ärmel hochgerollt. Akim erschrak über die spitze Nase und die hohlen Wangen.
Zu seiner Erleichterung klarten Ylaiys Augen auf, als er sie erkannte. Schwerfällig hievte er sich aus dem Polster und trat auf sie zu. Trotz der gebeugten Haltung überragte er Akim um mehr als einen Kopf.
„Akim“, begrüßte er den Fährtenleser, ihm die Hände reichend. „Kanouepe. Es ist schön, euch zu sehen.“
Der Fraga-í drückte die kalten Finger. „Dran.“
„Freunde nennen mich bei meinem Namen.“
Nou lächelte verlegen.
Ylaiy winkte sie zu der Sitzgruppe und bot ihnen Wasser an. „Nun. Seid ihr hier, um nach dem Rechten zu schauen?“
„In regelmäßigen Abständen, wie besprochen“, erwiderte Akim.
Ylaiy nickte und massierte sich die Stirn. „Ich wünschte, ihr müsstet das nicht sehen. Einen Kaiser, der vor Kummer den Verstand verliert. Und seine Würde.“
„Ihr trauert. Dabei verliert Ihr weder das eine noch das andere. Außerdem seid Ihr nicht untätig gewesen.“
Ylaiy warf Akim ein gequältes Lächeln zu. „Wann bist du nur so erwachsen geworden?“
„Auf einer langen Reise in den Norden. So wie Ihr, Kaiser.“
Ylaiy sackte in sich zusammen. „Ich habe nicht deine Kraft, fürchte ich.“
„Natürlich habt Ihr die“, sagte Akim sanft, aber bestimmt. „Es ist eine schwere Zeit, doch Ihr werdet sie überstehen. Ihr habt Sila und Talin. Rana. Uns.“
„Ich habe euch verraten. Habe Elphen direkt zu euch geführt.“
„Hört endlich auf mit diesen Schuldgefühlen! Chausselles hat Euren Sohn bedroht. Wir wissen das. Die Kinder schützen sich außerdem selbst. Sie waren über alle Berge, bis er eintraf.“
„Habt ihr Nachricht von ihnen?“
Akim schlug die Augen nieder. „Nein.“
„Was ist mit Elphen?“
„Keine Spur.“
„Das muss dir sehr zusetzen.“
Akim kämpfte mit sich, stand schließlich auf. „Es ist schlimm, aber nicht wie damals. Die Kinder sind älter und stärker geworden.“
„Trotzdem will man sie beschützen, nicht wahr?“
„Ja.“
Ylaiy verstummte und biss sich auf die Fingerspitzen.
Akim sah Nou an und räusperte sich. „Lasst uns einen Spaziergang machen. Ihr braucht ein wenig Frischluft.“
Sobald sie das Tor zum Hauptgebäude hinter sich gelassen hatten und auf einen der vorderen Höfe eingebogen waren, erhöhte Ylaiy die Geschwindigkeit, als liefe er vor etwas davon. Akim und Nou hefteten sich an seine Fersen, folgten ihm an verwaisten Exerzierplätzen und Flaniergängen vorbei. Die Bewegung schien etwas in Ylaiy freizusetzen. Er begann zu reden, zu plappern vielmehr, sprudelte geradezu, als hätte er einen Knebel aus seinem Mund gezogen.
„Ich hätte es kommen sehen müssen. Paíre hat es gesagt, hat mich gewarnt. Köder. Das waren wir. Wir hätten uns nicht auftrennen dürfen. Gemeinsam hätten wir sie aufhalten können.“
„Hört auf!“, sagte Akim. „Wir haben getan, was wir für richtig hielten. Eure Vorwürfe bringen nichts.“
„Ich hätte nie weggehen dürfen, hätte den Palast beschützen, die Soldaten hier lassen müssen. Sie würden noch leben. Alle hätten herkommen müssen, auch die Kinder.“
„Euer Palast war löchrig“, rief Nou. „Denkt an Eure Tante!“
„Ich habe Sila und Talin weggeschickt, Paíre und meine Mutter im Stich gelassen. Ich hätte für sie da sein müssen. Sie schützen müssen!“
Ylaiy brabbelte weitere Selbstvorwürfe, während sie kreuz und quer über die Höfe wieselten. Akim bemerkte, wie Bewegung hinter den Fenstern und auf den Balkonen einsetzte, sah Menschen aus dem Weg huschen, spürte neugierige Blicke.
Er zog den aufgebrachten Elboin unter eine Balustrade. „Genug jetzt! Lasst uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind.“
Ylaiy sah ihn an. „Arena“, sagte er nur.
Mit jedem Schritt zurück über die Höfe wurde Ylaiy beherrschter. Seine Gestalt richtete sich auf, die Schultern strafften sich, der Blick wurde klarer. Akim begriff, dass Ylaiy eine Maske überstreifte, eine, die für die Öffentlichkeit bestimmt war.
Zu dritt ließen sie sich im Schneidersitz auf den Sägespänen nieder, den Rücken an die mit Sand gefüllten Säcke gelehnt.
„Veis Hunde kamen über uns wie eine Sturmflut“, begann Ylaiy leise.
Akim horchte auf. Einzelheiten jener Nacht hatten Rana und Sila bei ihrem letzten Besuch geschildert. Es war das erste Mal, dass Ylaiy über den Thronraub sprach.
„Elphens Männer hingegen verhielten sich diszipliniert. Rana sah nicht einen von ihnen bei den Hütten. Ihnen ging es nicht um Rache. Auch nicht um den Thron. Elphen wirkte beinahe gelangweilt.“
„Ihr wisst doch, dass die Chausselles die Kinder wollen“, entgegnete Nou. „Ihre Magie. Um ein eigenes Reich in der Wüste zu gründen. Der Älteste in der Boragha erzählte davon, Elphen ebenso.“
„Ich erinnere mich, aber nur vage.“
„Bei unserem letzten Besuch wart Ihr noch nicht ganz bei Euch“, gab Akim zurück.
„Es ist alles so verwirrend. Adivs Mutter, die noch lebt. Chries, der ihr hilft. Chausselles, die Magie.“
Akim lächelte. „Euer Verstand setzt sich ja doch in Bewegung. Das ist gut. Wir brauchen ihn.“
„Aber ich kann hier nicht weg. Nicht schon wieder. Nicht während einer Staatstrauer. Ich bin der Kaiser. Es gibt unendlich viel zu tun.“
„Das wissen wir. Helft uns mit Eurem Kopf.“
Ylaiy strich sich über den Bart. „Was habt ihr unternommen?“
„Spuren gesucht, hauptsächlich. In der Wüste kennen wir C’hadruoun. Windgeister. Sie kommen, richten Schaden an, verschwinden spurlos. Chausselles und seine Leute sind wie sie.“
„Gar nichts?“
„Elphens Leibwächterin und mindestens ein weiterer Tänzer waren schwer verwundet, doch unmittelbar nach den Kämpfen setzte Starkregen ein. Keine Blutspuren. Nirgends. Perth war menschenleer wegen der Seuche. Die sich nach draußen wagten, trugen Tücher. Elphen konnte ungesehen verschwinden.“
„Er muss irgendwo ein Versteck haben.“
„Vielleicht graben sie sich ein“, sagte Nou. „Sie kommen doch aus der Erde.“
„Was ist mit den Kindern?“
„Kian ist nicht weit, das spüre ich“, flüsterte Akim. „Von Yvain wissen wir, dass er auf einem Leichenwagen aus Perth floh. Zwei Totengräber haben ihn zuletzt gesehen. Arlen versteckte sich einige Tage in einer Kirche, bevor er endgültig verschwand. Ciycain hat keine Fährte hinterlassen. Syriakin und Gillok wandern jeden Tag stundenlang durch die Stadt. Nichts. Sie vermuten, dass sie Wasserwege benutzt hat.“
„Das klingt plausibel. Sie ist im Wasser zu Hause.“
„Aí. Es gibt nicht viel anderes zu tun außer zu warten.“
„Worauf?“
„Dass etwas passiert. Dass jemand den ersten Schritt macht.“
„Ich setze all mein Gold auf Syra.“
Akim lächelte nicht. „Irgendwann wird sie losziehen, um Ciycain zu suchen.“
„Das ist vielleicht genau das, worauf Elphen wartet.“
„Das hämmert Gillok ihr auch immer wieder ein. Ihr wisst, wie sie ist.“
Seufzend erhob sich Ylaiy und klopfte sich Späne vom Hosenboden. „Ja.“
„Was nun?“, fragte Akim und stand ebenfalls auf.
„Im Pajut gibt es den Begriff pat“, erwiderte Ylaiy matt. „Er bedeutet, dass es weder Gewinner noch Verlierer gibt. Ein Unentschieden. Die Partie ist beendet.“
„Das hier ist kein Spiel“, entgegnete Akim scharf. „Nichts ist vorbei. Die Kinder sind in Gefahr. Die Chausselles sind nur die konkreteste, unmittelbarste. Adivs Mutter glaubt, dass auch die Majestes den Kindern schaden wollen. Und dann ist da die Magie selbst. Sie ist das wahre Ungeheuer.“
Ylaiy starrte den Fährtenleser an, dessen Sanftheit fortgeweht war wie Wüstenluft.
„Maji nennen die Majestes sie“, fügte Nou hinzu.
„Kaadaa ist der Hort der Magie“, murmelte Ylaiy. „Und Maji bringt den Tod. Bland hatte recht. Der Codex spricht davon.“
„Und Ihr in Rätseln“, erwiderte Nou mit gerunzelter Stirn.
Ylaiy winkte ab. „Später. Ich muss nachdenken.“
„Ihr habt wahrlich ein Talent dafür, Euch in ausweglose Situationen zu bringen.“ Ardanna sah sich in der düsteren Zelle um. Für Besucher blieb wenig Platz.
„Nehmt den Strohballen“, schlug die Kriegerin vor.
„Er sieht schmutzig und unbequem aus.“
„So steht.“
„Ich betrachte Eure Ruppigkeit als Zeichen zufriedenstellender Gesundheit.“ Ardanna band ihr Kopftuch ab und schüttelte einige Päckchen heraus, welche sie der Sumpffrau zuwarf. Sie landeten auf Syriakins Bauch und rutschten von dort zu Boden.
„Bringt Ihr Feile und Stichel? Dann nehmt sie wieder mit. Gitter zum Durchfeilen gibt es nicht und der Boden besteht aus massivem Stein.“
„Ja, ein wahrhaft unwirtlicher Ort. Einem Menschen, der an Waldluft und Meereswind gewöhnt ist, dürfte er ziemlich zusetzen. Ihr fühlt Euch schon in unseren Häusern unwohl. In diesem Loch zu liegen, muss ein Albtraum sein.“
„Spielt Ihr Eure Kopfspielchen? Lasst sie. Ich will nicht reden.“
„Dann rede ich. In den Päckchen ist Fleisch.“
„Die Wachen versorgen mich mit Nahrung und Wasser.“
„Schimmeliges Brot und angesäuerte Suppe. Beides habt Ihr nicht angerührt. Außerdem würdet ihr lieber Euren eigenen Urin trinken als Wasser, in welchem womöglich Ungeziefer schwimmt“, sagte Ardanna, nachdem sie Krug und Napf inspiziert hatte. Mit spitzen Fingern hob sie eine Decke hoch, durch deren Stoff Kerzenlicht schimmerte. „Ihr habt Glück, dass erst Herbst ist. Im Winter würdet Ihr hier unten erbärmlich frieren. Dennoch solltet Ihr um mehr Stroh und eine zweite Decke bitten. Der Boden ist eisig.“
„Ich friere nicht.“
Ardanna beugte sich vor und strich über Syriakins nackte Arme. Die Kette klirrte, als die Sumpffrau vor dem Kontakt floh.
„Kalt.“ Ardanna gab vor, den Widerstand der anderen Frau nicht zu spüren. Manche Menschen ertrugen Berührungen schwer. „Ihr müsst die Arme bewegen, den linken vor allem.“
„Sicher.“ Verdrießlich rüttelte die Kriegerin an der Kette, die durch einen Ring an der Decke verlief.
„Schüttelt Eure Hand aus. Schwingt den Arm. Er ist kaum mehr durchblutet.“
„Danke für den Ratschlag.“
„Störrisch wie eine Eselin. Wo sind Eure Sachen?“
„Abgenommen.“
Ardannas Finger rieben über die Schultern der Kriegerin, um sie zu erwärmen, wanderten über Hals und Gesicht, zwangen den Kopf zurück, als Syriakin ihn wegdrehen wollte. „Bei allen Göttern, haltet still! Ich will untersuchen, ob Euer Eisenschädel Schaden davon getragen hat.“
„Es ist nur eine Beule.“
„Eine beeindruckende“, entgegnete die Najimi und drückte den Kopf herunter, damit sie die Schwellung in der Düsternis des engen Verlieses besser begutachten konnte. „Selbst Euer störrischer Schädel dürfte ordentlich gebrummt haben. Ist Euch schwindelig? Übel?“
„Nein.“
„Folgt meinem Finger!“
Die Heilerin schwenkte ihren Zeigefinger vor Syriakins Gesicht hin und her, bis diese unversehens nach ihrem Handgelenk langte. „Genug! Es geht mir gut.“
Sofort holte Ardanna mit der freien Hand aus, doch Syriakin schwang ihren Kopf herum, noch bevor die Handfläche ihre Wange berührte. Ihr linker Arm riss an der Kette. Die Heilerin wich zurück, zog sich mit einiger Anstrengung aus dem Griff der gefesselten Frau und ließ sich dann mit ausgestreckten Armen schwer auf sie fallen.
Der Schmerz ließ Syriakin scharf die Luft einziehen. Wie von selbst fuhr ihre Hand nach der rechten Hüfte. Ardanna stülpte ihre Hand darüber, während sie die Kriegerin auf die Seite drehte.
„Scht.“ Sie streichelte Syriakins Finger. „Es geht gleich vorbei. Gillok berichtete mir von dem Stiefeltritt.“ Sie nestelte Stoffschichten beiseite, schob Syriakins Hand weg und strich über die geschwollene Stelle. Plötzlich war ihr energischer Ton verschwunden, waren ihre Bewegungen behutsam, beinahe zärtlich, bis die Sumpffrau still lag unter den sanften Berührungen.
„Amon Gurbandat wusste, was er tat. Er kennt den menschlichen Körper, seine Schwachstellen. Die wunden Punkte. Er hat Euch gut getroffen. Hat auf das weiche Fleisch unter den Rippen gezielt, unmittelbar unter dem Zwerchfell. Hat Eure Niere erwischt. Mit einer stählernen Stiefelspitze. Äußerlich hat er einigen Schaden angerichtet. Nun seid Ihr mit Schmerz erfahren, könnt ihn verdrängen wie keine zweite. Aber dieser setzt Euch zu, nicht wahr? Bevor ich hereinkam, habt Ihr auf der Seite gelegen, weil Ihr auf dem Rücken nicht liegen könnt, schon gar nicht in dünner Häftlingskleidung auf kaltem Stein. Ihr seid zusammengezuckt, als ich die Päckchen auf Euren Bauch warf, und Ihr vermeidet es, Euch zu bewegen, selbst wenn Eure Schultern und Arme gefühllos werden.“
Während die Sumpffrau mit mahlenden Kiefern schwieg, strich Ardanna unablässig über die Stelle, auf der sich im grauen Zwielicht die Stiefelspitze Gurbandats deutlich abzeichnete.
„Als ich Euch unterstellte, Urin statt Wasser zu trinken, wanderten Eure Augen zu dem Eimer. Ihr habt nicht aus ihm getrunken, denn Ihr fürchtet, dass Blut darin ist. Nicht unüblich bei Nierenverletzungen. Soll ich nachsehen?“
„Nein“, ächzte Syriakin.
„Schön liegenbleiben“, befahl Ardanna, mit einer Hand ein Tuch aus ihrer Brusttasche nestelnd und nach einem der Päckchen greifend, das sie umständlich öffnete. Sie entleerte den Inhalt auf das Tuch, derweil ihre andere Hand weiterhin über den Bluterguss strich. Dann setzte sie sich kurzerhand auf die Beine der Kriegerin, nahm die Hand von der Verletzung und stützte sie in den Rücken der Sumpffrau. „Nicht erschrecken“, sagte sie und presste das Tuch auf die misshandelte Stelle. „Es wird warm werden. Entspannt Euch weiter. Ihr macht das sehr gut. Ihr müsst hier nicht stark sein. Hier unten sieht Euch keiner. Lasst den Schmerz zu. Ich bin hier, um ihn kleiner zu machen. Entspannt Euch.“
„Ihr spielt Eure Kopfspielchen“, murmelte die Kriegerin. Ihr Aufbegehren kam dumpf und schläfrig. „Ich will nicht reden.“
„Ich sagte doch, dass ich rede. Ihr entspannt Euch.“
„Ihr plappert meinen Verstand wirr.“
„Ich kümmere mich um Eure Verletzung. Euer Verstand arbeitete schon lange, bevor ich durch diese Tür trat. Um den kümmert Ihr Euch allein. Ihr werdet eine Lösung finden.“
„Da bin ich mir nicht sicher.“ Syriakin bettete ihren Kopf in ihre Armbeuge; eine unbequeme Haltung, da der Arm an der Kette schwang und die Heilerin auf ihren Oberschenkeln hockte.
Ardanna schlang das mit Heilerde bestrichene Tuch um Syriakins Hüfte. „Wisst Ihr noch, wie ich Euch neulich sagte, Ihr würdet schlafen können?“
„Ihr hattet irgendwelche Zauberkräfte eingesetzt. Meinen Verstand eingesponnen. So wie jetzt.“
„Ich hatte recht. Ich werde auch diesmal recht behalten. Euch wird etwas einfallen. Ihr mögt Euch in ausweglose Situationen bringen, doch genauso oft manövriert Ihr Euch wieder aus ihnen heraus. Wahrscheinlich habt Ihr längst einen Plan ausgeheckt. Möglicherweise flieht Ihr auf dem Weg in die Boragha.“
„Ihr versucht, in mein Inneres zu dringen.“
„Ich kümmere mich um Eure Wunden. Was mich erneut zu dem Urin bringt. War Blut darin? Habt Ihr nachgesehen? Wart Ihr überhaupt schon auf dem Eimer? Allein darauf zu gelangen, einhändig und mit steifen Gliedern, dürfte einige Schmerzen bereiten.“
„Schwer zu erkennen. Ich denke nicht.“
„Dennoch habt Ihr ihn nicht getrunken. Das Wasser auch nicht.“
„Woher ...?“
„Der Krug ist randvoll. Ihr seid müde. Langsamer als sonst. Eure Haut ist trocken. Ihr müsst trinken.“
„Verseuchtes Wasser?“
„Abgestanden höchstens. Perth tötet seine Gefangenen nicht. Wartet.“ Ardanna erhob sich mit raschelndem Kleid, griff nach dem Krug und roch daran. „Es riecht nur ein bisschen erdig. Ich halte Euch ohnehin nicht für einen Menschen, der sich schnell den Magen verdirbt. Soweit ich weiß, erkrankt Ihr höchst selten. Dafür seid Ihr umso öfter verletzt.“
Sie hielt der Kriegerin den Krug hin, den diese misstrauisch beäugte. „Ihr habt mir schon einmal Wasser angeboten. Stunden später wachte ich auf und Ihr hattet an mir herumgeschnitten.“
„Diesmal gibt es nichts zu schneiden. Trinkt.“ Resolut drückte Ardanna Syriakin den Wasserkrug an den Mund, half ihr in eine sitzende Stellung, beugte sich vor und schüttelte den Eimer. „Kein Blut. Eure Niere wird noch eine Weile schmerzen, aber das Schlimmste ist vorbei. - Werdet Ihr Ylaiy alles erklären?“
Syriakin setzte den Krug ab und leckte sich das Wasser von den Lippen. „Ich werde gar nichts erklären. Niemandem.“
„Gillok meinte, Ihr seid auf der Straße stehengeblieben, als wäret Ihr festgefroren“, sagte Ardanna und griff nach Syriakins Arm, als diese sich auf das Stroh zurücksinken lassen wollte.
Die Kriegerin riss ihren Arm zurück. „Eure Sinnesnarreteien funktionieren kein zweites Mal. Ich rede nicht.“
„Ich rede, ganz recht. Ihr hört zu.“
„Lasst das mit Eurer Stimme. Ich weiß, dass Ihr sie verstellen könnt. Ich will sie nicht in meinem Kopf.“
„Gillok behauptete, Ihr saht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen, aber da war niemand. Keiner schenkte Euch Beachtung. Was habt Ihr gesehen?“
„Nichts. Hört auf.“
Ardanna beugte sich vor. „Was habt Ihr gesehen, das Gillok entgangen ist? Wen habt Ihr gesehen?“
Die Kriegerin wich Ardannas Blick aus. „Niemanden.“
„Und doch ranntet Ihr los. Eine Jägerin auf der Suche nach ihrer Beute. Das passt nicht zu Euch. Die Gewalt, ja, aber nicht dieses Unbeherrschte. Was hat es bewirkt?“
Syriakin starrte zur Seite. Ihre Kiefer mahlten.
Ardanna schüttelte sie. „Verdammt, Syra! Ihr haltet so verbissen an Euren Geheimnissen fest, dass sie das wahre Gefängnis darstellen. Begreift das! Nicht diese Mauern hier sperren Euch ein, nicht die Ketten fesseln Euch, sondern Euer Starrsinn. Ihr mögt auf dem Weg zur Boragha fliehen oder aus der Boragha selbst; irgendeiner Eurer Pläne wird aufgehen. Aber Ihr werdet nicht frei sein. Niemals. Irgendwo wird immer ein Blaukopf sein, der Euch Narben beigebracht hat. Wer war es? Wen habt Ihr gesehen?“
„Ich habe ihn nicht gesehen.“
Ardanna war verdutzt, als der Widerstand der Kriegerin abrupt wegbrach, doch sie fing sich schnell. „Ihr habt ihn gehört.“
Das Schweigen war Bestätigung genug.
„Ihr erkanntet die Stimme.“
„Heiser und irgendwie schmierig. Voller Verachtung. Sie war in meinem Geist. War all die Jahre in meinen Ohren.“ Syriakins Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Und ich dachte, ich hätte sie vergessen.“
„Schlimme Dinge vergisst man nie. Man versucht es. Doch in bestimmten Momenten realisiert man, dass nichts vergangen ist. Außer der Zeit.“
Die Kriegerin schwieg. Kaute auf ihren Lippen, mahlte mit den Kiefern.
„Wie viel Zeit ist vergangen?“, fragte Ardanna leise.
„Viel. Fast ein Jahrzehnt. Und trotzdem ... trotzdem ...“
„Macht der Klang einer Stimme Euch zur Mörderin.“
Ruckartig wandte Syriakin den Kopf und starrte Ardanna aus umwölkten Augen an. „Meine Tochter wird mich hassen.“
„Nichts bringt Ciycain dazu, Euch zu hassen. Es bringt sie höchstens dazu, Euch besser zu verstehen, wenn sie alt genug ist. Euer Selbsthass ist außerdem schon groß genug.“
„Ich hasse mich nicht.“
„Natürlich tut Ihr das. Ihr hasst Euch für Eure Schwäche. Wolltet sie bekämpfen. Mit Willenskraft. Mit körperlicher Stärke und einem Schild um Euch. Wer könnte einer Kämpferin wehtun? Ihr habt diesen Mann getötet. Ist der Hass damit weg? Sind die Schmerzen weg? Die Erinnerungen?“
„Ihr wollt mir einreden, dass Hass etwas Verabscheuungswürdiges ist? Rache unmenschlich? Den Versuch haben andere vor Euch unternommen, einschließlich meiner selbst. Rache und Hass waren lange Zeit das Einzige, das mich am Leben hielt. Hass gibt Kraft. Rache ist ein Geschenk für die Überlebenden. Die Erinnerungen sind nicht weg, doch sie sind erträglicher geworden. Ich fühle Schmerzen, aber auch Leichtigkeit. Ihr glaubt, ich würde mich vor mir selbst verkriechen? Ich laufe nicht davon. Ich weiß, wer ich bin.“
„Eine Mörderin.“
„Er hatte es verdient.“
„Was, wenn es der Falsche war? Jemand, der eine ähnliche Stimme hatte?“
„Das war er nicht.“
„Wisst Ihr das sicher?“
„Ich kenne seine Stimme.“
„Stimmen verändern sich. Beinahe zehn Jahre, Ihr habt es selbst gesagt. Zehn Jahre, Alkohol, Rauschmittel. Es könnte der falsche Mann gewesen sein.“
„Es war nicht der falsche.“
„Was, wenn Ihr Euch täuscht?“
Die Kriegerin hieb mit ihrer Faust auf den Boden. „Nein!“
„Was, wenn Ciycain dabei gewesen wäre?“
„Was?“
„Hättet Ihr dann auch so reagiert? Hättet Ihr Eure Tochter zusehen lassen, wie Ihr einen Mann ermordet?“
„Sie war nicht dort. Ihr wisst, dass sie nicht dort war.“
„Vielleicht hat Euch ein anderes Kind gesehen. Sein Kind möglicherweise. Rache verletzt Unschuldige, wisst Ihr? Und sie hört nie auf.“
„Es gab keine Kinder.“
„Ihr hattet doch nur Augen für den Mann mit der Stimme.“
„Bada war nicht da. Es waren keine Kinder dort.“
„Vielleicht wart Ihr doch von der Umgebung abgelenkt und habt den Falschen erwischt. Sprach er noch, als Ihr in der Gasse wart?“
„Ja. Nein. Hört auf!“
„Rache ist kein Geschenk. Sie ist ein Fluch.“
„Nein. Es war der Richtige. Ich kannte die Stimme.“
„Nur eine Stimme. Was hat sie gesagt?“
„Ich weiß nicht. Ich habe auf den Klang geachtet.“
„Nicht heute. Damals. Vor zehn Jahren. Was hat er gesagt?“
„Ich habe auf den Klang geachtet.“
„Damals, Syriakin. Nicht heute.“
„Ich kannte die Worte nicht.“
„Er war ein Fremder?“
„Eindringlinge. Sie sprachen Yr.“
„Warum dann die Stimme? Die Worte konnten Euch doch nicht verletzen.“
„Er ... er ... spornte die anderen an.“
„Was noch? Kommt schon! Was war mit der Stimme?“
„Er hat geatmet. Pfeifend. Hoch. Geschrien. Hört auf!“
Ardanna riss Syriakins Hände von deren Ohren hinunter und hielt sie fest. Ignorierte Tritte und klirrende Ketten, setzte sich auf den Schoß der Kriegerin, drückte sie zu Boden, zwang ihr ihren Blick auf. „Das reicht nicht, Frâgg. Das sind nur Geräusche. Was hat die Stimme gesagt, Sumpfratte?“
„Das“, knirschte Syriakin plötzlich und schoss mit ihrem Kopf nach vorn auf Ardannas Stirn zu. Ardanna musste damit gerechnet haben, denn sie wich geschwind zur Seite aus.
„Sumpfratte? Was noch? Schlammschuppe? Schlangenfresser?“
Ardannas Stimme hatte sich verändert. Sie war kalt geworden. Kalt, laut und voller Verachtung.
„Hört auf!“
„Das kriegen Frâgg doch alle Tage zu hören!“
„Ich kannte die Wörter nicht. Aber ich ahnte sie. Seine Stimme war ... wie Eure.“
„Also bin ich der Richtige. Er war der Falsche.“
„Nein“, spuckte die Kriegerin aus und zog erneut an den Fesseln. Putz rieselte von der Decke. „Er war es. Ich weiß es!“
„Nur aufgrund einer Stimme?“
„Er lachte. Höhnte. Schnaufte. Stöhnte. Grunzte. Kreischte.“
„Er kreischte?“
„Nein. Ich kreischte.“
Mit einem Mal war Stille. Ardanna ließ Syriakins Arme los. Sie fiel auf ihre Fersen zurück und betrachtete die Kriegerin, deren Augen weit offen standen und sie anstarrten.
Ardanna fing sich zuerst. Sie beugte sich vor und strich eine Strähne schwarzen Haares aus Syriakins Stirn. „Es tut mir leid.“
Die Kriegerin antwortete nicht. Ihr Gesicht war weiß und ihr Atem ging schnell.
„Es war wichtig, dass Ihr redet. Das ist es noch.“
„Ihr seid eine Hexe“, flüsterte Syriakin. „Ihr spielt mit unlauteren Mitteln. Sogar Euer Umschlag betäubt meinen Geist.“
„Wollt Ihr mir erzählen, was genau passiert ist damals?“
„Geht von mir runter.“
Ardanna rappelte sich auf, klopfte sich Staub von den Kleidern. Dann betrachtete sie die Kriegerin traurig. „Dieser Mann hat Euch geschändet. Euch Gewalt angetan. Und er war nicht allein.“
Das Gesicht der Sumpffrau verkrampfte sich. „Seid Ihr fertig?“
„Ihr müsst es Ylaiy erzählen.“
„Nein.“
„Es geht um Euer Leben.“
„Eben. Ich muss damit leben.“
„Ihr seid doch nicht allein. Andere wollen Euch helfen.“
„Warum?“
„Weil Ihr kein schlechter Mensch seid. Vielleicht akzeptiert Ihr das endlich. Menschen mögen Euch. Ihr seid ihnen wichtig. Doch Eure Vergangenheit berührt auch sie. All jene, die mit Euch ziehen. Eure Vergangenheit überschattet alles. Wie soll ein Mensch allein leben mit all diesem Ballast? Ihr müsst davon abgeben, bevor er Euch erdrückt.“
Die Heilerin wandte sich zum Gehen. Mit zwei kurzen Schritten hatte sie die Tür erreicht und hob ihren Arm, doch sie hielt inne, als die Kriegerin zögernd zu sprechen begann.
„Sie hatten leichtes Spiel mit mir. Viel zu leicht. Ich war so … erschrocken. Sein Mund war an meinem Ohr, die ganze Zeit. Die Stimme in meinem Kopf. Einige Male brüllte er, dass ich dachte, ich werde taub. Meist stöhnte er. Keuchte und flüsterte.“
„Wie ein Liebhaber? Sprach er zärtlich? Wollüstig?“
„Das durfte er nicht. Er ... hatte kein Recht. Die anderen haben nicht geflüstert. Er aber, er säuselte und er knabberte ... an meinem Ohr ...“
„Psst“ Ardanna huschte zu Syriakin zurück und kniete vor ihr nieder. „Atmet! Atmet. Ihr habt die Stimme wiedergehört. Brüllte sie?“
„Nein. Er bändelte mit einer Dirne an.“
„Ihr hörtet sie auf der Straße?“
„Die Gasse trug die Stimme nach draußen.“
„Atmet weiter. Er ist nicht mehr da, ebenso wenig der Blaukopf. Der hat auch geflüstert, nicht wahr? Zärtlich, dabei voller Gewalt und Schmerz. Er ist weg, Syriakin. Aber Ihr seid noch da. Ihr seid da. Ihr lebt. Tut es ohne schlechtes Gewissen. Es war nicht Eure Schuld.“
„Ihr hext“, stieß die Kriegerin mit glänzenden Augen aus.
„Es war nicht Eure Schuld. Versteht Ihr das? Nicht Eure Schuld.“
Syriakin atmete zittrig ein.
„Ihr müsst keine Fluchtpläne wälzen. Reden ist alles, was Ihr tun müsst. Euch verteidigen.“
„Sie hat recht, störrische Frau. Ihr solltet reden. Euch erklären.“ Amon Gurbandat starrte durch das winzige Viereck, das in die Kerkertür eingelassen war. Für einen Mann seiner Größe und Statur bewegte er sich erstaunlich geräuschlos.
„Seit wann steht Ihr dort?“, fragte Ardanna.
„Lang genug.“ In der Stimme des bulligen Kommandanten schwang etwas mit, das die Heilerin nicht recht einordnen konnte. Bedauern? Verständnis? Mitleid?
Auch die Kriegerin hörte es und wurde steif wie ein Brett. Ihr Gesicht verschloss sich.
Ardanna beugte sich zu ihr. „Wenn Ihr nicht mit Ylaiy reden könnt, dann berichtet Remond. Oder Gurbandat. Er kann alles niederschreiben für den Inquisitor. Ylaiy wird die Protokolle nicht lesen, wenn wir ihn darum bitten.“
Syriakin antwortete nicht. Ihr war nicht anzusehen, ob sie die Worte überhaupt vernommen hatte.
Ardanna seufzte und schritt zur Tür, die Gurbandat ihr aufhielt.
„Wird sie reden?“
„Sie ist ein harter Brocken. Ich weiß es nicht.“
„Besucht sie, so oft Ihr wollt. Ein paar Tage wird sie wohl noch hier sein.“
„Danke, Amon. Passt ein wenig auf sie auf, ja?“
Nou stand am Fenster, hatte den Vorhang angehoben, die Stirn an das Glas gelegt, betrachtete den in nächtliche Stille getränkten Hof.
„Es ist so ruhig“, sagte er, mehr zu sich selbst. „Als wir aus den Sümpfen hierher kamen, erschien er uns wie ein Bienenstock. Nun ist er verstummt.“
„Als wäre das Leben zum Stillstand gekommen“, stimmte Sila vom Tisch aus zu. „Keine Zecherei, keine Bankette. Schwer zu glauben, dass es so friedlich sein kann nach dem Lärm jener Nacht.“ Sie fuhr mit dem Finger den Rand ihres Bechers entlang.
Rana senkte den Kopf. Graue Strähnen sprenkelten neuerdings das dichte Haar. Ihr Essen hatte sie kaum angerührt.
Jorgen, dachte Akim und schüttelte sich. Der Schlächter. Adivs Albtraum.
„Sind Veis Schergen gefasst?“, wandte er sich an den Kaiser.
Ylaiy sah von seinem Teller auf. Er war der Einzige, der noch aß. „Soweit wir wissen. Falls es einigen gelungen ist, zu fliehen, haben wir sie nicht gefunden. Richtig gesucht haben wir allerdings nicht.“
„Das hat Elphen übernommen“, warf Sila ein.
Überrascht drehte Nou sich um. „Chausselles?“
„Als sie den Palast verließen, streckten sie ein paar von Veis Hunden nieder, die sich bei den Handwerkern herumtrieben. Rasch und leise, ohne Erklärungen. Dann verschwanden sie. In den folgenden Tagen fand man in Yruish immer mal wieder getötete Ehemalige.“
Nou runzelte die Stirn. „Ich dachte, sie waren Verbündete?“
„Zweckverbündete“, erläuterte Ylaiy. „Nicht mehr von Nutzen für Elphen. Sein Ziel war ein anderes.“
„Er hat es nicht erreicht“, entgegnete Akim. „Die Kinder leben.“
Rana hob den Blick. „Ivson und Mannero nicht.“
„Nein“, erwiderte Akim leise und senkte sein Haupt.
„Man hat sie gefunden“, fuhr Rana mit brüchiger Stimme fort. „Evart und Ida. Die ganze Familie Vanstetten. Die Welt ist nicht gerecht.“
Schweigen senkte sich über die kleine Tafelrunde. Schließlich schob Rana ihren Stuhl zurück. „Ich lege mich hin. Akim, Nou, es ist schön, dass ihr hier seid. Bleibt ihr ein paar Tage?“
Akim nickte. „Wir werden uns noch sehen.“
„Ich freue mich darauf.“ Rana zwang sich zu einem flüchtigen Lächeln, legte die Handflächen aneinander und verabschiedete sich.
„Ich sorge mich um sie“, seufzte Sila, sobald ihre Mutter zur Tür hinaus war. „Bestimmt holt sie Talin wieder zu sich ins Bett. Sie lässt ihn kaum mehr aus den Augen.“
„Sie muss alles verarbeiten“, erwiderte Akim. „Das dauert.“
Ylaiy nahm einen weiteren Schluck. „Von manchen Schlägen erholt man sich nicht.“
„Hoffen wir das Beste.“
Ylaiy stellte den Becher ab und räusperte sich. „Konzentrieren wir uns auf die Gegenwart, deshalb seid ihr schließlich hier. Also: Elphen geht über Leichen. Er ist zielstrebig und gnadenlos, aber er meidet sinnlose, brutale Gewalt. Keiner seiner Männer hat geplündert oder wahllos Leute abgeschlachtet wie Veis Meute. Im Thronsaal sprach er von Ehre. Er folgt einem Kodex. Räumte sogar hinter Vei auf. Was noch?“
Akim dachte nach. „Er und Kalphon führen die dritte Familie in der Hierarchie der Majestes an.“
„Chausselles. Shey‘sil. Bland fand etwas über sie in Adivs Codex.“
„Wovon sprecht Ihr?“
„Von einem Buch, das höchstwahrscheinlich Adivs Vater gehörte. Ihr solltet ihn für sie mitnehmen. Er ist sehr wertvoll, vor allem die Aufzeichnungen darin.“
„Shey‘sil ist ein Wort meiner Sprache“, warf Nou ein. „Es bedeutet Wurm. So nannte sie auch der Älteste.“
„Bland vermutete, dass der Name Chausel sich davon ableitet. Es sieht so aus, als hätten die Fraga-í und die Chausselles gemeinsame Vorfahren.“
„Sie ähneln sich auch äußerlich“, bestätigte Akim. „Woher wusste Adivs Vater das?“
„Er erforschte die alten Geschichten, genau wie Bland. Die beiden hätten sich hervorragend verstanden. Der Codex berichtet von heftigen Kämpfen vor tausenden von Jahren auf Kaadaa. Die Chausselles wurden von Maji infiziert. Sie krochen unter die Erde, um eine Quelle zu schützen - oder auch zu erobern, je nach Standpunkt.“
„Dort steht jetzt die Boragha“, sagte Nou. „Die Magie befiel alle, die ihr zu nah kamen. Sie machte die Menschen mächtig, dann brachte sie sie um. Dennoch lechzten die Infizierten nach ihr. Die Kloake sollte die magische Quelle verschließen.“
„Dieselbe Magie, die die Kinder in sich tragen“, murmelte Ylaiy. „Die Götter stehen uns bei.“
„Seit wann glaubst du an Götter?“, fragte Sila.
„Mythen werden wahr, Magie überflutet die Welt. Schamanen und Propheten sehen die Zukunft voraus, das Schicksal verwebt ganze Generationen. Legenden erwachen zum Leben. Warum nicht auch Götter?“
„Davon kriege ich Gänsehaut“, murmelte Sila.
„Weiter“, sagte Ylaiy. „Elphen erzählte von den drei Familien. Die Himmlischen bekamen K’yr, die Novíes die Meeresquelle, die Chausselles die im Norden. Die ist verschlossen, deshalb will er nach Ki akku ninu. Erinnerst du dich, Sila?“
„Er wollte die Kinder, um die Wüste umzuformen.“
„Hirnrissig“, stieß Akim aus.
„Mehr wissen wir nicht“, stellte Ylaiy fest. „Weder kennen wir Einzelheiten ihrer Pläne noch ihren Aufenthaltsort. Die Kinder sind verschwunden und irgendwo im Untergrund lauern die Majestes. Dazu noch der Einfluss der Magie. Fantastisch!“ Frustriert schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch.
„Elphen dürfte kaum mehr als eine Handvoll Kämpfer haben. Vielleicht hat er aufgegeben.“ Akim versuchte, hoffnungsvoll zu klingen.
„Das glaubst du doch selbst nicht“, schnaubte Sila.
„Pat“, murmelte Ylaiy.
Die Geräusche waren dumpf, schienen aus weiter Ferne zu kommen. Sie horchte auf, stemmte sich in ihre Fessel und zog sich am rechten Arm nach oben, bis sie aufrecht stand, den Kopf leicht geneigt, nach der Tür lauschend. Trotzdem erschrak sie, als der Schlüssel die Pforte entriegelte und diese von außen aufgedrückt wurde.
Zwei Männer glitten hinein. Einer verharrte an der Tür, nachdem er mit einem Blick das Innere der Zelle überflogen hatte, der zweite kam auf sie zu.
„Man erzählt sich, Ihr hättet einen Mann getötet“, sagte Elphen Chausselles. Er redete in ihrer Sprache. Klar, präzise, aber in Wörtern und Wendungen, die längst außer Gebrauch waren. Eine altertümliche Version ihrer Muttersprache.
„Wer erzählt das?“ Sie hatte nicht geredet, seit Ardanna hier gewesen war. Ihre Stimme klang rau und unbeteiligt.
„Die Leute.“ Neugierig musterte er sie von oben bis unten. „Warum?“, fragte er dann.
„Das ist meine Sache.“
„Persönliche Gründe, eh?“
Sie antwortete nicht.
Er legte den Kopf schief und begutachtete sie erneut. Sie ertrug die Inspektion mit geradezu gelangweilter Gelassenheit, selbst, als er um sie herum ging und sie von allen Seiten in Augenschein nahm.
„Ihr habt Euch erwischen lassen. Wie eine Anfängerin.“
Ein Augenaufschlag in seine Richtung, mehr nicht.
„So ist das mit persönlichen Gründen. Sie lenken nur ab. Jetzt seid Ihr hier.“ Der Blick der rauchgrauen Augen verließ sie nicht. Sie erwiderte ihn ausdruckslos.
„Fragt Ihr Euch, warum ich hier bin?“
„Nein.“
„Verspürt Ihr Furcht?“
„Nein.“
„Ehrlich nicht? Ihr seid ganz allein. Nur wir und Ihr.“
Eine winzige Regung huschte über ihr Gesicht, entlockte ihm die Andeutung eines Lächelns. „Sie waren nur zu dritt. Der Kommandant war am einfachsten zu töten. Große Menschen trifft man besser.“ Er schob sich näher an sie heran. „Ihr seid auch groß, größer als ich, größer sogar als Kalphon, wenn Ihr Euch streckt. Unter der Erde gedeiht man nicht richtig. Aber Körpergröße bedeutet nicht viel, nicht wahr?“
Sie erwiderte nichts, blickte an ihm vorbei auf den Zwilling, der neben der Tür stand und mit dem Mauerwerk zu verschmelzen schien.
„Denkt nicht einmal daran“, warnte Elphen freundlich. „An uns scheitert Ihr. Ihr seid gut. Wir sind besser.“ Er formulierte die Behauptung ohne Stolz. Eine Tatsache. Eine Wahrheit. Dann legte er zwei Finger unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf. „Kalphon mag Frauen nicht sonderlich. Ich schon. Keine Angst, ich weiß mich zu beherrschen.“
„Ich habe keine Angst.“
„Das sagt Euer Mund. Eure Augen sagen etwas Anderes. Faszinierende Augen. Man kann sich verlieren in diesem Grün. So grün wie Eure Heimat. Ich war dort. Wälder und Moore. Auch das Grün des Graslandes auf Staleph ist schön, aber nicht so intensiv wie das Eurer Insel. Haben sie alle diese grünen Augen? Unsere Nachfahren in den Sümpfen?“
„Nein.“
„Unter der Erde sind alle Augen grau. Grau wie das Gestein, bei manchen sogar gelbgrau wie der Lehm. Farblos, versteht Ihr? Nicht so wie oben.“ Seine Finger lagen um ihr Kinn, bewegten es hin und her. Sie leistete keinen Widerstand, ging die Bewegung mit. Sie wusste, wie schnell ein Kiefer ausgerenkt war, ein Genick gebrochen.
Er nickte, als lese er ihre Gedanken. „Schöne Augen habt Ihr. Oben sagt man, sie seien ein Fenster in das Innere. Stimmt das?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Hm. Nun, in Euren sieht man Kraft. Stärke. Verachtung. Ein wenig Furcht.“
„Ich habe keine Angst.“
„Dann nennen wir es Vorsicht. Sie passen zu Euch, die Augen. Es wäre ein Jammer, sie Euch zu nehmen.“ Blitzschnell sauste sein Finger durch die Luft. Reflexartig kniff sie die Lider zusammen, während sie mit der Linken ausholte.
Er schlug auf ihr Handgelenk und anschließend gegen ihre Hüfte, achtlos und unfassbar schnell. Sekunden später spürte sie, wie ihre Hand taub wurde und ihr Bein zu kribbeln begann. Sie öffnete die Augen und sah den Finger vor ihrer Pupille stehen. Er hatte sich keinen Millimeter bewegt.
„Ich überlege noch, ob ich das linke oder das rechte nehme. Ich tendiere zum linken. Rechts habt Ihr bereits diese wunderschöne Narbe.“ Der Finger glitt an dem verblassenden Wundmal entlang. „Möchtest du auch?“, fragte er, an seinen Bruder gewandt, doch Kalphon grunzte nur.
„Er liebt Narben“, flüsterte Elphen ihr zu. „Aber er hasst Frauen. Wärt Ihr ein Mann, würde er sie streicheln wie ich.“ Sein Zeigefinger wanderte über den verheilten Schnitt nach oben, legte sich auf ihre Wimpern. Diesmal war sie vorbereitet und behielt die Augen offen.
Er fuhr über beide Augen, zärtlich und vorsichtig, strich über ihre Brauen und über ihre Stirn, fasste in das Haar, kämmte es nach hinten.
Sie hielt die Berührungen aus. Längst hatte sie ihr Bewusstsein abgestreift, ihren Körper verlassen. Er gehörte einer anderen Frau.
„Ihr seid sehr schön“, sagte er. „Ihr wisst es nicht. Man spürt, dass Ihr es nicht wisst. Eine schöne Frau, innen und außen. Stark, kämpferisch, unbeugsam. Schwarzes Haar. Tiefschwarz. Seht meins an, das meines Bruders. Braun wie die Erde, dünn und farblos. Wir haben Frauen unter der Erde. Auch sie sind stark, stärker als Ihr. Bessere Kämpferinnen. Tijua tötet Euch mit einem Schlag, wenn sie will, aber sie ist nicht schön. Nicht von außen. Ihr Haar ist farblos. Nicht wie Eures. Duftet es? Bestimmt duftet es.“ Er ging um sie herum, trat hinter sie, fasste ihr Haar mit beiden Händen und versenkte seine Nase darin.
„Ich bin seit zweieinhalb Tagen in diesem Loch. Es wimmelt von Ungeziefer“, hörte sie sich sagen. „Ich denke nicht, dass ich dufte.“
„Oh, keine Sorge“, sprach er gegen ihren Nacken. „Ihr riecht himmlisch. Zwei Tage unter der Erde sind ein Wimpernschlag.“
„Seid Ihr deshalb gekommen? Um mir Komplimente zu machen?“
Sie hörte, wie er auflachte, spürte, wie er ihr Haar über ihren Nacken legte, über ihre Schultern streichelte, die Körperzeichnungen berührte. „Gefallen sie Euch nicht? Ich nahm an, Frauen hörten sie gern. Oder sind sie ungewohnt für Euch? Macht Euer Gefährte Euch keine?“
„Lasst ihn aus dem Spiel.“
Seine Bewegungen brachen abrupt ab. Sie blinzelte und biss sich auf das Innere ihrer Wange.
„Oh“, hauchte er und setzte die Wanderung seiner Finger fort, die nun die Rückseite ihrer Arme hinunterglitten. „Hier haben wir ihn, Euren wunden Punkt. Euren Gefährten. Wisst Ihr, wo er sich gerade aufhält?“
„Nein.“
„Wir schon. Keine Angst, es geht ihm gut.“
„Ich habe keine Angst.“
„Oh, aber das solltet Ihr. Denn seht Ihr, ich kann Euch töten. Jetzt sofort. Schnell, langsam, ganz, wie ich will.“ Der Zeigefinger rammte in ihr Schulterblatt, bohrte sich gleich darauf in ihren Trizeps. Stechender Schmerz jagte ihren Arm entlang, ließ sie die Luft anhalten und die Zähne zusammenbeißen.
„Handgelenk“, sagte er. „Schulter, Oberarm. Drei von sechs möglichen Punkten. Die anderen brechen Eure Hand. Finger und Daumen.“
„Das tötet mich nicht.“
„Aber es tut weh, nicht wahr? Setzt den Arm für Minuten außer Gefecht. Hättet Ihr eine Waffe gehalten, hättet Ihr sie fallenlassen. Der Nachteil von Waffen. Man verliert sie rasch.“
Sie antwortete nicht. Schweiß war auf ihre Stirn getreten. Ihr Arm zitterte.
„Ich hörte, die Nachfahren in den Sümpfen seien brauchbare Kämpfer. Beherrschen sie die Todespunkte noch?“
„Ein paar“, stieß sie aus.
„Wir kennen mehr Tricks, nicht wahr?“
„Sieht so aus. Bringt es endlich hinter Euch!“
„Was meint Ihr?“
„Weswegen Ihr hier seid. Tötet mich. Vergnügt Euch, aber lasst die Spielchen.“ Sie versuchte, sich zu ihm zu drehen. Die Fessel um ihre rechte Hand verhinderte es.
„Haltet Ihr mich für einen Frauenschänder?“ Er ging um sie herum, sah sie an. Über sein ausdrucksloses Gesicht zuckte ein Schatten. „Ihr solltet mich fürchten. Aber nicht deswegen. Ich muss Euch wehtun, doch nicht … so. Die Frauen kommen freiwillig zu mir. Ich zwinge sie nicht. Das würde ihnen ihre Schönheit nehmen. Ihre Stärke.“
„Weshalb seid Ihr dann hier?“
„Ich wollte Euch kennenlernen. Meine Gegnerin einschätzen. Euch nach Euren Plänen fragen. Und natürlich will ich wissen, wo die Kinder sind.“
„Niemand weiß, wo sie sind.“
Er schnalzte mit der Zunge, während sein Blick sie absuchte. Anschließend machte er eine undeutliche Bewegung. Sie schaffte es, ihr Knie anzuwinkeln und sich zur Seite zu drehen, aber die Handkante erwischte ihre angeschlagene Niere so wuchtig, dass ihre Beine nachgaben.
„Schreit Ihr nie?“, fragte er erstaunt und zog sie wieder hoch.
Sie lehnte schwer in der Fessel, atmete den Schmerz weg.
„Ihr wisst nicht, wo die Kinder sind? Denkt gut nach. Einen zweiten Nierenhieb haltet Ihr nicht aus.“
„Sie sind von selbst gegangen. Ich vermute, sie haben sich getrennt.“
Er klopfte mit den Knöcheln auf seine Lippen, während er nachdachte. „Glauben sie so, uns zu täuschen?“
„Bis jetzt klappt es ganz gut.“ Mehr bekam sie nicht heraus, denn sein Fuß zuckte hoch und traf ihr Knie seitlich. Ein zweiter schneller Tritt landete knapp oberhalb des ersten, noch bevor sie wegknickte.
Erneut zog er sie auf die Beine. „Nicht keck werden“, warnte er. „Treffe ich Eure Kniescheibe frontal, kämpft Ihr nie wieder. Und ich freue mich auf echte Kämpfe mit Euch. Könnt Ihr stehen?“
Statt einer Antwort straffte sie sich, streckte die Beine und sog die Luft ein, als sie das rechte belastete.
„Sie haben sich also in alle Himmelsrichtungen verteilt“, stellte er fest.
„Anzunehmen. Sie sind schlau, alle vier.“
„So wie Ihr. Schlaue Gegner sind gefährlich. Eine Herausforderung.“ Er bleckte die Lippen. „Ist ihre Magie gewachsen?“
„Was fragt Ihr mich? Hat der Alte Euch nicht alles erzählt?“
Der nächste Hieb war eine Ohrfeige, die ihren Kopf herumriss. „Ich mag keine Frechheiten. Kalphon auch nicht.“
Der Zwilling tauchte auf, ohne dass sie ihn gehört hatte. Sein Schlag war härter, mit der Faust geführt, traf Nase und Mund gleichzeitig. Danach glitt er wieder zur Tür und verschmolz mit der Wand.
„Kalphon“, sagte Elphen tadelnd. „Du zerstörst sie.“ Er bückte sich nach einem von Ardannas Päckchen, wickelte das Fleisch aus, roch daran und probierte es. „Gut“, befand er. Kauend wischte er Syriakin mit dem Tüchlein über die aufgerissene Lippe. „Die Narbe ist unversehrt“, beruhigte er sie. „Und die Wunden halb so schlimm. Kalphon mag keine Frauen. Ihn berührt ihre Schönheit nicht.“ Erneut fasste er unter ihr Kinn und tupfte das Blut unter der Nase weg, „Aber Ihr seht immer noch gut aus.“
Ihre Augen sandten Blitze in seine Richtung. Unvermutet hob sie den verletzten Arm, rammte ihn in seine Seite, schoss mit dem Kopf nach vorn, traf ihn an der Schläfe.
Er taumelte, fing sich jedoch rasch. Den Hieb auf ihr Hinterhauptbein sah sie nicht kommen. Sekundenbruchteile später explodierte der Schmerz hinter ihren Augen. Sie japste und sackte gegen Elphens Brust.
Der hielt sie fest wie ein Liebhaber und streichelte ihren Nacken, dieweil sie in seine Schulter biss und gegen das Zittern in ihren Gliedmaßen ankämpfte.
„Ich bin beeindruckt“, flüsterte er. „Ihr erholt Euch schneller als andere Menschen. Rasche Regeneration ist ein Merkmal mancher Magiebegabter. Seid Ihr eine von uns?“
„Ihr seid nicht magiebegabt“, nuschelte sie. „Ihr wisst nur zu kämpfen.“
Zum dritten Mal richtete er sie auf. „Ihr auch. Wärt Ihr nicht in Fesseln, würden wir ernsthaft miteinander ringen.“
„So macht mich los.“
„Nein“, lächelte er kalt. „Ihr seid angeschlagen, keine ernst zu nehmende Gegnerin. Trainiert erst einmal. Dann werden wir kämpfen. Ich freue mich darauf.“
„Ich werde Euch töten.“
Elphen sah sie an. „Bis dahin kann ich Euch noch viele Schmerzen zufügen. Was glaubt Ihr, wie viel Ihr aushaltet?“
„Findet es heraus.“
Er strich ihr das Haar aus der Stirn, musterte die Narbe auf ihrer Wange, klemmte ihr Haar in seine Faust und zog es zurück, zog ihren Kopf in den Nacken, bis sie an der Fessel zerrte. „Gleich werden Tränen fließen“, sagte er leise. „Wollt Ihr wirklich, dass ich Euch weinen sehe?“
Sie ächzte. „Wenn Ihr sie finden wollt, müsst Ihr sie aufstöbern. Eins nach dem anderen. Doch wisset, dass sie sich zu verbergen wissen. Sie sind gewitzt, tapfer und viel stärker als Ihr. Ihr werdet sie nicht töten.“
Er zuckte zurück, ließ ihr Haar los, warf seinem Bruder einen Blick zu. „Sie töten? Warum sollten wir das tun?“
Sie zog die blutende Nase hoch. „Wozu solltet Ihr sie sonst suchen?“
„Um von ihnen zu lernen, wie man Magie gebraucht.“
„Dazu braucht es besonderer Orte wie der Boragha. Aber die ist Euch versperrt, nicht wahr? Die Majestes lassen Euch nicht mehr an sie heran. An die Quelle.“ Sie zog das Wort in die Länge. „Ihr habt sie Euch wegnehmen lassen. Und gegen die Alten kommt Ihr nicht an. Ihr seid nur die Würmer.“
Sein Knie schmetterte in ihr Becken.
Diesmal half er ihr nicht zurück auf die Beine. Von oben beobachtete er, wie sie sich krümmte, das unverletzte Knie an den Körper gezogen, den freien Arm gegen ihren Unterleib gepresst.
„Ich wollte keine Tränen sehen“, zischte er gegen die erstickten Schmerzenslaute an. „Sie sind ein Zeichen von Schwäche. Ich schätze starke Gegner. Es gibt noch andere Quellen. Wer braucht schon die Boragha?“
Von der Tür her klickte es. Kalphon hatte sich von der Wand gelöst und signalisierte seinem Bruder Gefahr.
„Besuch“, sagte Elphen und bohrte ihr die Stiefelsohle in den Rücken, bis sie aufstöhnte. „Trainiert. Wir sehen uns wieder.“
„Ich werde Euch töten“, murmelte sie verschwommen. „Das ist ein Versprechen.“
„Bei unserem nächsten Kampf werdet Ihr schreien. Merkt Euch den Schambeinpunkt. Er ist einer der schmerzhaftesten. Bei Männern zielt Ihr natürlich ein wenig tiefer.“
„Damit ich bei Euch ins Leere trete?“, keuchte sie.
Er lachte auf und trat ein letztes Mal zu.
Der Schmerz schoss wie eine Lanze in ihren Rücken.
Mit einem Aufschrei ließ sie den Korb fallen. Schutt und Steine kullerten über ihre Schuhe. Die Hände in die Lenden gepresst, biss sie die Lippen zusammen und versuchte, sich aufzurichten.
„Rana!“, erscholl Sems tiefe Stimme hinter ihr. Sekunden später war der Mann an ihrer Seite und nahm ihren Arm. „Warte, ich helfe dir. Hier, setz dich hier hin. Langsam.“ Mit dem Bein zog er eine umgefallene Bank heran und half ihr, sich vorsichtig darauf niederzulassen. Stöhnend sank Rana gegen die Lehne.
„Sie ist staubig“, entschuldigte sich der Drechsler.
„Nicht so schlimm“, brachte Rana heraus und schloss die Augen.
„Soll ich einen Heiler holen?“
„Nein. Danke, Sem. Es ist nur ein Hexenbiss.“
„Ein ziemlich heftiger offenbar.“ Der große Mann sah sie besorgt an. „Du solltest dich hinlegen. Die Frau meines Bruders kennt sich ganz gut mit Kräutern und Tinkturen aus. Sie wird dir einen Umschlag bereiten.“
„Dein Bruder ist Joma, der Drahtzieher, nicht wahr?“
„Ja. Seine Frau heißt Evie. Vielleicht kennst du sie.“
„Ja, sie arbeitet manchmal in der Bäckerei.“
„Soll ich dich nach Hause geleiten?“
Ranas Gesicht verschloss sich. Sie stemmte die Arme gegen die Banklehne. „Das musst du nicht. In ein paar Minuten wird es mir besser gehen.“
Sem nahm seine Mütze ab und kratzte sich den spärlich behaarten Schädel. „Bestimmt? Du siehst ziemlich angeschlagen aus.“
„Das bin ich wohl“, gab Rana unter dem besorgten Blick zu. „Aber die Arbeit muss getan werden.“
Der Drechsler setzte die Kappe wieder auf. „Ich würde sagen, du hast genug getan. Du schleppst tagein, tagaus Schutt, erledigst tausende andere Dinge, kümmerst dich um alles. Jetzt musst du dich schonen.“
Zu ihrem Erstaunen begann sie zu weinen, einfach so, vor einem Mann, den sie kaum kannte. Beschämt schlug sie die Hände vor das Gesicht. „Es tut mir leid.“
Sie merkte, wie der Drechsler neben ihr in die Knie ging, sie vor neugierigen Blicken abschirmte. Plötzlich war er sehr nah. Kalte Wellen der Furcht schwappten durch ihren Körper. Sie wollte von ihm wegrücken, aber der Schmerz in ihrem Rücken blockierte die Bewegung und sie stöhnte erneut auf.
„Es muss dir nicht leidtun.“ Sems Stimme klang angenehm, tief und warm. Vertrauenerweckend. „Wir kommen alle mal an unsere Grenzen. Na los. Lass mich dir helfen.“ Eine schwielige Hand legte sich um ihren Ellenbogen.
Er hatte seine Frau verloren, fiel ihr plötzlich ein. Im Kindbett, vor mehreren Jahren. Beide hatten sich erst spät vermählt und die Schwangerschaft war kompliziert verlaufen. Er hatte sich in die Werkstatt zurückgezogen, half nebenbei seinem Bruder in der Drahtzieherei. Man sah ihn selten auf den Höfen, niemals bei Festen und Gelagen. Ein stiller Mann.
Sie sah ihn an. Ein besorgter Blick aus hellen Augen traf sie. Sem sah älter aus, als er war. Graue Bartstoppeln sprenkelten die tiefen Furchen auf Wangen und Kinn.
Sie versuchte ein Lächeln. „Also gut. Doch dann musst du dich in den Palast trauen. Seit unsere Hütte abgebrannt ist, bewohnen wir ein Gemach im Haupthaus.“
Sem redete nicht viel, als sie an seinem Arm zum Palast humpelte.
Himmel, das tut weh!
Sie presste die linke Hand in ihre Hüfte, versuchte, ruhig zu atmen und ihren Brustkorb zu lockern, der sich mit den Rückenmuskeln zusammenzuziehen schien, sodass sie schwer Luft bekam. Es war beileibe nicht der erste Hexenbiss ihres Lebens. Sie wusste, dass Ruhe, Wärme und ein Schmerzmittel ihn rasch vertreiben würden, aber zuvor musste sie den Weg zu ihrem Zimmer schaffen.
Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, sich zu entspannen. Nicht ganz einfach, so lange sie am Arm eines Mannes hing, den sie kaum kannte.
„Schon wieder ein Fremder“, hörte sie Sem plötzlich raunen.
Sofort merkte sie auf, musterte den hochgewachsenen Reisenden, den Sem misstrauisch beobachtete. Seit dem Überfall hatten Besucher es nicht leicht. Argwöhnische Blicke folgten ihnen, sobald sie den Palasthof betraten, Kinderhorden hefteten sich an ihre Füße, Handwerker unterbrachen ihre Arbeit und kamen näher, mit spitzen und scharfen Werkzeugen in der Hand.
„Beruhige dich“, sagte sie. „Er ist keine Gefahr.“
„Kennst du ihn?“
„Er ist ein Freund. Führst du mich zu ihm?“
Sem nickte zögernd. Dann hob er seine Stimme. „Heyda! Wartet einen Augenblick!“
Der Fremde wandte sich ihnen zu. Sekunden später war er bei ihnen.
„Langsam, Gillok“, hielt sie ihn lächelnd zurück, bevor er sie umarmen konnte. „Ich hänge nicht umsonst an Sem hier.“
Gillok betrachtete sie. „Rückenstiche?“
„Mhm.“
„Braucht Ihr meine Hilfe?“
„Sem kümmert sich gut um mich. Was ist mit Eurer Nase geschehen?“
Der Sumpfmann betastete den gekrümmten Nasenrücken. „Eine Erinnerung an den Ausflug in die Boragha. Bis Ardanna sie sah, waren bereits zu viele Tage vergangen. Ich wollte nicht, dass sie mir die Nase ein zweites Mal bricht. Es ist nur ein kleiner Makel.“
Rana lächelte. „Ein Anflug von Eitelkeit? Dabei verleiht das schiefe Profil Euch ein verrufenes Aussehen. Schmerzt sie noch?“
„Nein. Die Blutergüsse unter den Augen sind auch verschwunden. Ich wage mich wieder unter Menschen.“
„Begleitet uns. Ich nehme an, Ihr wollt zu Ylaiy und Euren Freunden?“
Gilloks sanftes Gesicht verschloss sich, als zögen dunkle Wolken darüber. Sofort bestürmten finstere Ahnungen sie. Ihre Rückenmuskeln verspannten so sehr, dass Schmerzen in ihre Beine flossen.
„Was ist geschehen?“
„Syra wurde verhaftet. Sie sitzt im Kerker. Ylaiy muss ihr helfen.“
Sobald Sila den Wirtschaftsraum verlassen hatte, um Sem mit ihrer Mutter zu helfen und nach Talin zu sehen, scharten Ylaiy, Akim und Nou sich um Gillok.
„Also“, begann Ylaiy. „Was genau ist geschehen?“
„Sie meuchelte einen Mann. Auf offener Straße.“
Akim und Nou rissen erschrocken die Augen auf. „Was?“
Ylaiys Mund öffnete sich und schnappte gleich darauf wieder zu. „Das steht fest?“, brachte er schließlich heraus.
Gillok massierte sich die Stirn und ächzte. „Es gibt zahlreiche Zeugen.“
„Das kann nicht sein“, stotterte Akim.
Der Sumpfmann warf ihm einen traurigen Blick zu. „Ich war dabei, wenn auch nicht in der Sekunde, in der es passierte. Sie hat diesen Mann getötet. Einfach so.“
Ylaiy pflügte bereits durch das Zimmer, die Handflächen aneinanderreibend. „Man hat sie verhaftet?“
Gillok nickte. „Die Stadtwache war schnell vor Ort. Zum Glück. Die Meute hätte sie sonst zertrampelt.“
„Amon Gurbandat?“
„Ja. Kennt Ihr ihn?“
„Vom Hörensagen. Sein Ruf ist tadellos. Loyal, unbestechlich, schlau.“
„Das war auch mein Eindruck. Wäre Syra nicht die Schuldige gewesen, hätte ich mir einen Ermittler wie ihn gewünscht.“ Der Sumpfmann ließ die Schultern hängen. „Er machte kurzen Prozess. Kerkerhaft, Ende. Wenn sie Remond oder Euch nicht überzeugt, wirft man sie in die Boragha. Für immer.“
Akim stieß ein Stöhnen aus und fiel zurück auf die harte Bank, die eine Seite des Raums einnahm. Er vergrub den Kopf in den Händen.
„Überzeugt wovon?“ Ylaiy war stehengeblieben und sah Gillok an. „Sie ist schuldig, Ihr habt es selbst gesagt. Nach dem Gesetz ist sie eine Mörderin.“
„Sie muss einen Grund gehabt haben, einen schwerwiegenden. Sie tötet nicht ohne Grund. So ist sie nicht.“
„Alle Mörder haben Gründe. Geld, Hass, Eifersucht. Oder sie sind nicht zurechnungsfähig. War sie bei Verstand?“
„Natürlich. Sie trinkt nicht, wie Ihr wisst.“
„Sie raucht. Vielleicht nimmt sie noch Medikamente.“
„Ihr kennt sie doch!“ Erregt war der Sumpfmann vor Ylaiy getreten. Nou legte dem älteren Freund beschwichtigend die Hand auf den Rücken.
„Gillok“, sagte Ylaiy leise. „Ich möchte ihr helfen, aber ich bin der Kaiser. Ich unterstehe Gesetzen, genau wie sie.“
Gillok atmete tief ein und schluckte. Dennoch zitterte seine Stimme, als er weiter sprach. „Sie raucht nichts Schädliches, das schwöre ich Euch. Ein bisschen Tabak, hin und wieder. Sie trinkt nicht. Und seit Ardanna die Infektion geheilt hat, geht es ihr gut. Sie braucht keine Medikamente.“
„Dann war sie bei klarem Verstand, als es passierte. Sie bekommt lebenslänglich.“
„Nein! Das ist ihr Todesurteil.“ Gillok fiel neben Akim auf die Bank.
Ylaiy warf Akim und Nou einen Blick zu, zog einen Stuhl heran, setzte sich rittlings auf ihn und beugte sich vor. „Kannte sie den Mann?“
Gillok nickte so schwer, als sei sein Kopf an Schlingen befestigt. „Sein Name war Kello. Gurbandat fand heraus, dass er ehemaliger Soldat war. Vermutlich desertiert und von unlauterem Charakter. Syra nannte ihn das Böse.“
„Was meinte sie damit?“
Gillok blinzelte. „Ich weiß nicht, ob ich Euch das sagen kann.“
„Warum?“
„Weil es etwas aus ihrer Vergangenheit ist. Sie hat es mir anvertraut. Es anderen zu erzählen, wäre wie ein Verrat an ihr.“
Ylaiy lehnte sich zurück und stützte die Arme auf die Stuhllehne. „Ihr manövriert mich in eine Zwickmühle.“
Der Sumpfmann rang mit sich. „Ich denke mir“, setzte er schließlich an, „dass dieser Kello ihr etwas angetan hat.“
Kaum waren die Worte über die Lippen, sank Gillok in sich zusammen.
Ylaiys Augen verdunkelten sich. „Das dachte ich mir.“
„Der Norogdún“, flüsterte Akim. „Er hat Andeutungen gemacht. Wir alle befürchteten Schlimmes.“
Gillok schwieg, während Nou seinen Freund betreten musterte.
„Gill“, sagte Ylaiy behutsam. „Redet mit mir.“
„Ich kann nicht.“
Akim erhob sich. „Ihr müsst. Bedenkt, was auf dem Spiel steht. Nou und ich lassen euch allein.“
Nachdem die beiden gegangen waren, betrachtete Ylaiy den Sumpfmann lange, studierte die Schwimmhäute zwischen den Fingern, das halblange Haar, die schiefe Nase.
„Hat er sie geschändet?“, fragte er dann geradeheraus.
Gillok lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand. „Das hat sie nicht gesagt.“
„Aber Ihr glaubt es?“
„Ja.“
„So hat sie ihren Vergewaltiger getötet.“
Gillok öffnete die Augen. „Das Problem ist, dass sie das nie und nimmer zugeben wird. Sie hatte es jahrelang mit sich herumgetragen.“
„Sie hat es nicht einmal Euch erzählt?“
„Erst kurz nach der Reise. Dabei hätte ich es wissen müssen! Sie wurde so seltsam von einem Tag auf den anderen. Ich hätte wissen müssen, dass etwas passiert war. Sie wurde so ... hart.“
„Das war sie vorher nicht?“
„Sie war störrisch und aufsässig, aber nicht hart, nicht einmal nach der Sache mit Vei und Jodanam.“
„Da war sie noch ein Kind.“
„Ja. Danach schloss sie sich uns Jungen an. Sie wollte unbedingt kämpfen lernen, also bildete ich sie aus. Lehrte sie das, was ich von den größeren Jungen und Männern gelernt hatte. Im Dorf sah man das nicht gern, aber das war ihr egal und wir gewöhnten uns daran, sie unter uns zu haben.“
Wehmütig verstummte der Sumpfmann.
„Was geschah dann?“
„Wir wurden erwachsen. Lange Jahre blieb sie die Freundin aus Kindertagen, selbst, nachdem ich realisiert hatte, dass es kein Mädchen mehr war, mit dem ich rang, sondern eine Frau. Eines Tages merkte ich, dass meine Gefühle für sie sich änderten.“
„Ihr verliebtet Euch.“
„Ja, aber es kam mir falsch vor. Wir waren Freunde, versteht Ihr? Also wurde es erst einmal befremdlich. Die Unbefangenheit schwand. Wir gingen uns aus dem Weg. Sie war viel auf Wanderschaft damals. Ihre Mutter war gestorben, ihr zweiter Vater auch. Nachdem sie meinen Vetter abgewiesen hatte, lebte sie jahrelang allein, jagte, fischte, wanderte in den Sümpfen herum.“
„Trotzdem kamt ihr euch näher.“
„Es passierte einfach. Wir hielten es zwanglos. Sie war immer wieder lange weg und ich ließ sie gehen. Wenn sie zurückkam, machten wir da weiter, wo wir aufgehört hatten. Niemand wusste von uns, wir machten keine große Sache daraus. Bis ich nach vielen Monaten einen Fehler beging.“
„Welchen?“
„Ich fragte sie, ob sie mit mir in eine Hütte ziehen wollte. Ihr wisst schon: eine Familie gründen, sesshaft werden. Sie rannte weg. Ich stapfte beleidigt zurück in meine Hütte und versank in Selbstmitleid und Zorn. Sie blieb den ganzen nächsten Tag verschwunden. Erst am übernächsten sah ich sie, doch sie ging mir aus dem Weg.“ Gillok hielt ein, sann den eigenen Worten hinterher und lächelte verzerrt. „Ich Dummkopf. Ich hätte mit ihr reden sollen. Aber ich wartete, dass sie den ersten Schritt tat. Dass sie reumütig zu mir zurückkehrte.“
„Glaubt Ihr, es geschah an jenem Tag? Nachdem Ihr sie gefragt hattet?“
„Das ist der Gedanke, den ich nicht mehr aus dem Kopf kriege. Ich stelle mir vor, dass sie erschrocken war von meiner Frage. So sehr, dass sie weglief. Dass sie grübelte, über alles nachdachte, alles andere um sich vergaß. Sie war eine ausgezeichnete Kämpferin, damals schon. Sie hätte sich wehren können, aber das tat sie nicht. Sie sagte, die Kerle hätten sie überrumpelt.“
Ylaiy schnappte nach Luft. „Die Kerle?“
Gillok stöhnte. „Schwört mir, dass kein Wort unseres Gesprächs nach außen dringt. Syra darf nie erfahren, dass Ihr Bescheid wisst.“
Ylaiy beugte sich vor. „Gillok, ich bin Euer Freund und der Eurer Gefährtin. Ich werde nichts sagen, solange es nicht nötig ist, aber wenn von meiner Aussage ihr Leben abhängt, kann ich nicht anders. Ihr würdet dasselbe tun.“
Gillok starrte Ylaiy an und nickte langsam.
„Ihr habt einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, vor allem Syriakin gegenüber. Seit Ihr sie aus dem Sumpfloch gezogen habt.“
„Davor schon. Seitdem sie ins Dorf gekommen war. Ich war selbst noch sehr jung, aber ich erinnere mich, wie verloren sie aussah. Sie sprach anders, war anders gekleidet, sah anders aus, konnte nicht schwimmen wie wir. Die Kinder lachten sie ständig aus. Niemand schien sie zu mögen.“
„Sie hat Euch leidgetan“, sagte Ylaiy leise. „Ihr wolltet ihr helfen.“
„Doch bei der schlimmsten Sache war ich nicht da. Bei den Göttern, wie sie gelitten haben muss. Sie war so blass, daran erinnere ich mich. Irgendwie nicht sie selbst.“
„Keiner hat sich um sie gekümmert?“
„Einmal, zweimal ist eine der älteren Frauen zu ihr gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Sie schickte sie weg. Dann begann sie, zu trainieren, mehr als je zuvor.“
„Obwohl sie schwanger war?“
Gillok zuckte zusammen. „Man sah es erst sehr spät. Sie wird es eher gewusst haben, aber sie blieb lange schlank. Als man es bemerkte, setzte das Getuschel ein.“
„Weil es keinen Vater gab.“
„Mhm.“
„Was habt Ihr getan? Ihr musstet doch annehmen, dass es Euer Kind ist.“
„Für sie war ich wie Luft in der Zeit nach meinem Antrag. Irgendwann dachte ich, es war ihr schlechtes Gewissen. Dass Bada von einem anderen war. Sie war ja ständig weg, versteht Ihr? Sie und ich, das war ... ungezwungen. Vielleicht gab es noch jemanden. Nie im Leben wäre ich auf den Gedanken gekommen, sie hätte das Kind unfreiwillig empfangen.“
„Hat sie ja auch nicht. Heute wisst Ihr, dass Ciycain Eure Tochter ist. Sie muss unglaublich erleichtert darüber sein.“
Gillok lächelte. „Ja.“ Gleich darauf versteinerte sein Gesicht wieder. „Reicht das für eine Freilassung? Hat sie nicht genug gelitten?“
„Mehr als genug. Dennoch hat sie kein Recht, ein Leben zu nehmen. Sie hätte Kello melden müssen, damit wir Recht sprechen können.“
„Es war eine Entscheidung, die im Bruchteil von Sekunden fiel. Eine Reaktion, ein Überschnappen. Ihn anzuklagen hätte bedeutet, es öffentlich zu machen, sich zu offenbaren. Das schafft sie nicht. Niemals.“
„Sie hat Euch davon erzählt.“
„Nach Jahren! Und fragt nicht, wie!“
„Hm.“ Ylaiy legte den Kopf in den Nacken und dachte nach. „Ich sollte selbst mit ihr reden. Vielleicht spricht sie von sich aus. Es ist ihre einzige Chance.“
Sie fanden sie im Staub, zusammengekrümmt, kaum noch bei Bewusstsein, flach atmend, Blut im Gesicht und zwischen den Beinen. Ihr rechter Arm hing verzerrt in der Fessel, der linke war um ihr Becken geschlungen.
Ardanna stürzte zu ihr und beugte sich über sie.
„Nicht“, stöhnte Syriakin auf und Ardanna verstand.
„Bewacht die Tore“, rief sie den Jungen zu, die mit ihr in die Zelle geströmt waren und die zitternde Frau auf dem Boden begafften. „Sieh zu, dass sie draußen bleiben!“, befahl sie dem Anführer der Bande.
„Ich kann helfen“, sagte dieser, blass unter der Ebenholzhaut.
„Gib uns ein paar Minuten“, bat die Najimi, zog die Sumpffrau in eine halb sitzende Position und anschließend in eine Umarmung, verbarg sie in ihren Kleidern und Armen.
Sie betrachtete die Tränenflecken im Staub und die Blutlache auf der grauen Leinenhose, spürte das abgehackte Atmen und den fliegenden Puls an ihrer Brust, drückte die Jägerin an sich. Als die Bewegungen abwehrender wurden, zog sie sie noch näher zu sich.
„Pst. Bleibt bei mir. Noch ein kleines bisschen. Ruht Euch aus. Niemand kann Euch sehen, niemand kann Euch hören. Wir sind ganz allein. Nur Ihr und ich. Entspannt Euch, Syra. Werdet ruhig. Ruhig.“
„Hört auf zu hexen“, kam es unterdrückt von ihrer Brust. Ein Schluchzen mehr als Worte.
„Das ist keine Hexerei. Das nennt man Trost. Ich weiß schon, Ihr hasst so etwas, aber Ihr haltet das aus. Einen kleinen Moment noch, bis das Schlimmste weg ist. Körperlicher Schmerz vergeht, das wisst Ihr doch. Bei Euch besonders. Gleich ist er nur noch eine Erinnerung.“
Während sie sprach, nestelte sie das Hemd der Kriegerin hoch und begutachtete die Nierenverletzung. Die geschwollene Haut war aufgerissen, als hätte ein Hieb sie zum Platzen gebracht. Zwei weitere stiefelsohlenförmige Blutergüsse kamen auf dem Rücken unter dem Hosenbund zum Vorschein. Sie fürchtete sich vor dem, was sie auf der Vorderseite finden würde.
„Wollte mich nicht töten. Nur … Angst einjagen. Lektion erteilen. Hat keine … Waffen benutzt“, murmelte Syriakin undeutlich in Ardannas Kleid.
„Wer? Wer hat das getan? Amon Gurbandat und zwei Wachen liegen mit gebrochenen Genicken in den Vorräumen.“
„Elphen.“
Ardanna bemerkte, wie die Hand der anderen Frau sich in ihrem Schoß verkrampfte. „Ich dachte, er wäre geflohen.“
„Beobachten. Uns. Wussten von … Kello. Und Gillok. Sagt ihm nichts hiervon, hört Ihr?“
„Wie wollt Ihr das geheim halten? Seht Euch an.“
Die Sumpffrau zog sich aus der Umarmung. „Geht schon.“
„Bei den Göttern“, seufzte Ardanna, als sie Syriakins Gesicht sah. „Wie wollt Ihr das denn verbergen? Gillok ist nicht blind. Erzählt ihm die Wahrheit.“
„Er wird ihm nach wollen.“
„Gillok doch nicht. Ihr denkt schon wieder an Rache.“
„Wie auch nicht? Warum sind sie alle so?“ Ihre Hand hieb auf den Boden.
„Sind sie nicht. Und das wisst Ihr. Ihr zählt viele gute Männer zu Euren Freunden. Ich hoffe, sie wiegen die schlechten auf.“ Traurig glitten Ardannas Augen über die zusammengesunkene Gestalt. Es schien, als hielte nur die Fessel sie noch aufrecht. „Da ist eine Menge Blut zwischen Euren Beinen“, sagte sie behutsam. „Hat er ...?“
Syriakin schüttelte den Kopf und atmete zitternd. „Nur getreten.“
„Nur“, seufzte Ardanna. „Kian“, rief sie dann flüsternd. Sekunden später erschien der Anführer an der Tür. „Hol den Schlüssel von Gurbandat.“
Der Knabe nickte und verschwand.
„Was macht er hier? Chausselles und sein Bruder sind noch in der Nähe.“
„Er tauchte plötzlich vor der Haustür auf, mit einer Schar Straßenkinder im Gepäck. Sagte, ich müsse sofort kommen.“
„Warum Ihr?“
„Andere Menschen wären von Eurer Frage beleidigt. Weil ich Heilerin bin, nehme ich an. Außerdem waren die anderen nicht da. Gillok ist längst auf dem Weg zu Ylaiy. Wegen Eurer Verhandlung. Das hat sich nun erledigt. Ihr kommt mit nach Hause. In ein Bett.“
„Ich brauche kein Bett.“
Ardanna schluckte ihre Bemerkung herunter, da Kian wieder hereinkam, um die Fessel zu lösen. Als der Verschluss sich öffnete, fasste er nach Syriakins Handgelenk, noch bevor diese sich sträuben konnte. Beide versteiften augenblicklich; die Kriegerin, weil Wärme in ihren Arm floss, von dort aus in ihre Organe strömte und sich wohltuend in ihr ausbreitete, Kian, weil ihr Schmerz sich schlagartig teilte und auf ihn überging.
Seine Augen wurden riesengroß und entsetzt sah er sie an. Die Sumpffrau entzog sich ihm hastig. Sobald sie seine Finger losließ, war die Wärme weg und der Schmerz kehrte kreischend zurück.
„Ciycain hatte recht“, flüsterte der Junge. „Sie sind in Eurem Blut.“
„Was?“ Syriakin zog ihre Hand auf ihren Schoß und massierte das Gelenk.
„Magietropfen.“
„Ich habe sie auch schon gespürt.“ Ardanna rappelte sich auf. „Die Partikel haben Kians Magie absorbiert und werden sie zu Euren Verletzungen leiten. In ein paar Tagen seid Ihr vermutlich wie neu.“
„Was redet Ihr da?“
„Die Menge ist minimal, die Teilchen winzig. Keine Angst, Ihr seid keine Zauberin, aber die Eigenmagie erklärt Eure Genesungsgeschwindigkeit. Trotzdem werden die Qualen Euch noch eine Weile begleiten. Hoch mit Euch!“
Die Sumpffrau kam schwerfällig auf die Beine, fiel beinahe wieder hin, als das lädierte Knie nachgab.
„Stützt Euch auf mich. Kian, schnapp dir deine Freunde! Geht nicht zur Residenz! Warte an einem der Fluchtwege. Teilt Euch am besten auf. Wir schicken Akim zu dir, sobald er zurück in Perth ist. Das kann einige Tage dauern. Suche ihn nicht! Wir wissen nicht, ob er beobachtet wird.“
„Sicher wird er das“, erwiderte der Knabe bestimmt. „Ihr alle werdet es. Er wollte herausfinden, was Ihr wisst, nicht wahr?“, wandte er sich an Syriakin. „Hat Euch für Informationen gefoltert?“
„Er hat mir mehr verraten als ich ihm.“
„Gefoltert“, echote Ardanna erschrocken, die Sumpffrau an den Hüften festhaltend.
„Ist sie bei dir?“, fragte Syriakin, ohne Kian anzusehen.
„Nein.“
„Wo ist sie?“
„Weit entfernt im Osten.“
„Ist sie in Sicherheit?“
„Sie lebt.“
Syriakin atmete tief aus, schloss die Augen und schwankte.
„Geh schon!“, scheuchte Ardanna den Knaben fort und ließ die Sumpffrau vorsichtig los. „Könnt Ihr laufen?“
„Sicher.“
„Sicher“, murmelte Ardanna und beobachtete, wie die Kriegerin zur Tür wankte, wo sie die Finger in den Rahmen krallte, dieweil ihr Antlitz sich kalkweiß färbte.
Ardanna bückte sich nach der fadenscheinigen Decke, die sie Syriakin um die Taille band. „Wir müssen Euch dringend untersuchen. Ihr blutet, und das nicht zu knapp.“
„Nicht … schlimm“, brachte die Sumpfjägerin heraus.
„Wenn Euer Schädel nicht schon beschädigt wäre, würde ich ihn Euch einschlagen! Stures Weib! Ich sehe, dass Ihr kaum gehen könnt. Aus Eurer Beule ist eine handfeste Gehirnerschütterung geworden. Wahrscheinlich spuckt Ihr auf dem Weg die Straße voll oder fallt um.“
„Fall … nicht … um.“
„Jede Wette, die Kopfschmerzen lassen Euch doppelt sehen. Unterleib. Kreuzbein oder Kniescheibe, dazu die Niere. Nach Hause. Bett. Untersuchung.“
Syriakin lehnte den Kopf gegen den Türrahmen. Kalter Schweiß bedeckte ihre Oberlippe. Ihre Beine zitterten.
Ardannas Zorn verrauchte schnell. „Na los“, flüsterte sie. „Schritt für Schritt, Syra. Ich bleibe bei Euch. Es ist dunkel. Wir gehen die Hauptstraße, das ist am leichtesten.“
„Kommt … jemand.“
Ardanna lauschte, hörte Getrappel auf den Stufen. Kurz darauf tauchten Adiv und Thragesh vor ihnen auf, beide mit roten Gesichtern, als wären sie gerannt. „Ein Junge war bei uns“, keuchte Adiv. „Er sagte, Ihr bräuchtet unsere … Bei Kaa, Syra, was machst du denn?“
„Nicht so schlimm“, murmelte die Sumpffrau und sank gegen den Leibwächter.
Shesh fing sie auf und lehnte sie an sich.
„Vorsicht mit ihrem Kopf“, warnte Ardanna.
„Was hat sie?“, wollte Adiv wissen.
„Mindestens eine schwere Gehirnerschütterung. Alles Weitere weiß ich in ein paar Stunden. Rasch! Sucht ihre Sachen! Gurbandat wird sie in einer der Kammern aufbewahren. Sucht auch nach einem Protokoll. Mit Sicherheit hat er eins geschrieben. Hoffen wir, dass es noch hier ist.“
Die Kriegerin hielt ihr Wort. Ardanna, Adiv und Thragesh schleppten sie zur Residenz, ohne dass sie umfiel oder sich übergab. Allerdings gestand sie ein, verschwommen zu sehen, nachdem Shesh sie zum zweiten Mal vor einem Zusammenprall mit einer Straßenlampe bewahrt hatte. Daraufhin hatte der bezopfte Bär sie kurzerhand auf seinen Rücken gehievt, ohne sich um ihre Weigerungen und Schmerzenslaute zu kümmern.
Ihre Ankunft im Haus blieb nicht unbemerkt. Sphita, Igra und Vouker stürzten aus der Küche herbei, einen hinkenden Mehlau im Schlepptau, sobald die Eingangstür ins Schloss gefallen war.
„Wer ist das?“, wollte Vouker wissen.
„Jemand, der meiner Hilfe bedarf“, entgegnete Ardanna und warf Igra einen fragenden Blick zu.
„Er kam, um neue Verbände zu holen, und blieb auf einen Teller Suppe.“
„Noch ein Esser mehr?“, stöhnte Adiv.
„Er leistet gute Arbeit“, beschwichtigte Ardanna. „Schuftet viele Stunden. Gönne ihm die Mahlzeit. – Ihr müsst mich vertreten, Vouker“, wandte sie sich an den jungen Heiler. „Zusammen mit Adiv. Ich werde mich um sie kümmern.“ Sie wies auf Syriakin, die sich anschickte, sich am Geländer die Stufen hinaufzuziehen.
„Was ist mit ihr?“, fragte Vouker misstrauisch. „Sie sieht aus, als wäre sie in einen Kampf geraten. Ist sie eine Gaunerin?“
Adiv fuhr herum. „Sie ist eine Freundin. Und deshalb ist es ausgeschlossen, dass ich im Haus der Kranken helfe. Ich werde Ardanna unterstützen.“
„Nein“, riefen Syriakin und Ardanna gleichzeitig.
„Shesh, bringt sie in das Krankenzimmer unten im Seitenflügel. - Ihr gehorcht!“, warnte Ardanna die Sumpffrau. „Ich will nicht, dass Ihr zu allem Überfluss noch die Treppen hinunterstürzt. Sphita wird Euch aus Euren Gemächern holen, was Ihr benötigt. Igra, ich brauche heißes Wasser, saubere Verbände, meine Instrumente. Vouker, macht Euch auf den Weg. Ich lasse Euch eine kräftigende Mahlzeit hinüber bringen. Sendet Nachricht, wenn Ihr eine Ablösung braucht. Adiv, auf ein Wort!“ Energisch winkte sie die junge Frau an ihre Seite, während der Eingangssaal sich leerte.
Adiv trat mit verschränkten Armen zu ihr. Ardanna seufzte. „Es ist nichts Persönliches, das weißt du. Es hat auch nichts mit deinen Fähigkeiten als Heilerin zu tun.“
„Ach nein? Womit dann?“
„Du hast es selbst gesagt: Sie ist deine Freundin. Man sollte seine Freunde so nicht sehen.“
„Ich ertrage das.“
„Sie aber nicht“, sagte Ardanna so sanft, dass Adiv die Arme herunter nahm. „Die letzten Tage waren schlimm für sie. Körperlich und seelisch.“
„Ich habe sie schon verletzt gesehen. Körperlich und seelisch.“
„Ich werde sie untersuchen müssen. Wie eine Hebamme, verstehst du? Ich dringe in ihren Körper ein, so wie ich gestern in ihren Geist eingedrungen bin. Das ist ihre wahre Hölle.“
Adiv biss sich auf ihre Unterlippe.
„Sobald sie versorgt ist, kannst du zu ihr. Falls sie dich sehen will. Falls sie irgendwen sehen will.“
„Befürchtet Ihr, sie zieht sich zurück?“
„Ich befürchte ihren Rachedurst. Und was das mit ihrer Seele macht.“
„Ich helfe Vouker.“
„Wenn Gillok eintrifft, lass ihn auf keinen Fall zu ihr. Noch nicht.“
Sphita und Igra wuchteten den Kupferkessel gemeinsam auf einen hölzernen Bock und drehten ihn so, dass die Öffnung nach unten zeigte.
„Langsam, Mädchen“, keuchte Igra mit rotem Kopf. „Wenn der Kessel auf deine Zehen fällt, ist es für eine Weile vorbei mit dem Tanzen.“
„Ich bin doch kein Säugling mehr“, ächzte Sphita, trat aber einen Schritt zur Seite. „Ich passe schon auf. Soll ich ein Tuch darunter legen?“
„Ja.“ Igra plumpste auf einen Küchenstuhl und prustete, sich mit den Händen Luft zufächelnd. „Bei den Göttern, ist mir warm.“
„Ich finde es eigentlich recht kühl heute“, gab Sphita aus der Hocke zurück. „Der Sommer ist wohl endgültig vorüber. Draußen ist es bedeckt, richtig düster. Ein Wetter zum Einschlafen.“
„Anständige Menschen schlafen nicht am Tag. Los, auf! Das restliche Geschirr wäscht sich nicht von selbst ab.“
„Das Geschirr läuft uns schon nicht weg“, grummelte Sphita.
„Das Essen kocht sich auch nicht von allein.“
„Und niemand wird sich beschweren, wenn es eine halbe Stunde später fertig ist. Sie sind sowieso alle unterwegs.“
„Deine Mutter erwartet die Sumpfmänner heute zurück. Deinen Wüstenfreund auch.“
„Er ist nicht mein Freund.“
„Erzähl das deinem roten Kopf“, lachte Igra gutmütig. „Ich wette, jetzt ist dir genauso warm wie mir.“
„Igra! Manchmal bist du so ... Ach!“ Erzürnt blitzte Sphita die Köchin an.
„Daran ist doch nichts Schlimmes. Er ist ein hübscher Bengel, höflich und freundlich dazu. Es gibt schlechtere Partien als ihn.“
„Er ist keine Partie! Und hüte dich, irgendetwas in der Richtung zu sagen!“
Igra schlug den ausgestreckten Zeigefinger vor ihrer Nase weg. „Du bist sowieso noch viel zu jung für so etwas. Kümmern wir uns um das Geschirr.“
Sphita seufzte und trottete in den Nebenraum, um ein Schälchen mit Salz zu holen. Die Kupferkessel und Eisenpfannen zu scheuern, gehörte zu den anstrengendsten Aufgaben in der Küche, und da Susa und Clothis nicht mehr da waren, brauchte Igra ihre Hilfe.
Als sie zurückkehrte, fiel ihr Blick durch das kleine Fenster und sie schrie freudig auf. „Igra! Sie sind da!“
Die Köchin scheuchte sie fort. „Schnell! Hol Adiv! Ich halte sie auf.“
Die Männer stoppten auf der Schwelle, als die rothaarige Bedienstete die Tür öffnete. „Es ist schön, dass die Herren wohlauf zurück sind“, sprudelte sie mit rosafarbenen Wangen hervor. Sie riss die Augen auf, als Ylaiy hinter Akim, Nou und Gillok hervortrat, und verneigte sich unbeholfen. „Herr! Ich meine ... Prinz. Ich meine Durchlaucht. Majestät!“
Ylaiy lächelte. „Guten Tag, Igra. Führst du uns zu deiner Herrin?“
„Äh. Gleich, Herr. Sie kommt sofort. Da ist Adiv. Sie wird Euch alles erzählen.“ Aufatmend trat sie den Rückzug in ihr Reich an.
„Was erzählen?“, fragte Ylaiy, bevor er Adiv in die Arme schloss.
„Ach, Igra, das alte Plappermaul.“ Adiv grinste, konnte jedoch nicht verhindern, dass ein nervöses Zucken über ihr Antlitz lief.
„Was ist los?“
„Kommt erst einmal herein“, sagte sie und warf Gillok einen vorsichtigen Blick zu.
Dieser war sofort alarmiert. „Was? Ist etwas mit Syra? Sprich!“
„Wir gehen besser in die Halle und setzen uns.“
„Herrje, Adiv, spanne uns nicht auf die Folter! Wo ist sie? Was ist geschehen? Ich muss zu den Kerkern!“
Adiv packte seinen Arm. „Bleibt. Sie ist nicht im Kerker. Nicht mehr.“
„Wo ...?“
„Hier. Aber Ihr könnt nicht zu ihr. Noch nicht.“
Gillok wand den Arm aus ihrem Griff. „Wieso nicht?“
„Weil Ardanna es befohlen hat.“
„Adiv!“
„Sie ist verletzt“, gab Adiv nach.
„Was? Ich muss ...“
„Ihr müsst sie in Ruhe lassen, Gillok. Sie ist noch nicht ansprechbar. Kommt mit in die Halle, setzt Euch. Ardanna wird Euch sagen, wann Ihr zu ihr könnt. Bitte, Gillok. Sie ist am Leben und sie wird genesen. Doch jetzt braucht sie Ruhe. Kommt.“
Behutsam ergriff sie die Hand des Sumpfmannes und zog ihn mit sich. In dem Saal, der ihnen als Speisezimmer diente, drückte sie ihn auf einen Stuhl. „Es wird ihr bald besser gehen. Macht Euch keine Sorgen. Nou?“ Sie warf dem jungen Fraga-í einen bittenden Blick zu. Nou nickte, ließ sich an der Seite seines Stammesbruders nieder und begann, im Flüsterton auf ihn einzusprechen. Gillok starrte wie betäubt zu Boden.
Adiv trat zurück zu Akim und Ylaiy, die ihr zögernd gefolgt waren.
„Wieso ist sie hier?“, fragte Ylaiy so leise, dass Gillok ihn nicht hörte. „Gurbandat hätte Heiler rufen müssen, wenn ihre Verletzungen es erforderten.“
„Gurbandat ist tot.“
„Was? Wie das?“
„Elphen und Kalphon haben uns beobachtet. Sie wussten, dass Syra im Kerker saß. Sie kamen nachts und brachten Gurbandat und zwei Wächter um. Elphen wollte wissen, wo die Kinder sind und was wir vorhaben. Und uns einen Schrecken einjagen.“
„Zeigen, dass er noch da ist“, murmelte Ylaiy. „Dass er uns jederzeit an den Kragen kann. Er will uns zum Aufgeben zwingen.“
Akim schwieg mit versteinerter Miene.
„Kian war hier“, fuhr Adiv wispernd fort. „Mit einer Schar Straßenkinder. Ohne ihn hätten wir sie nicht so schnell gefunden. Ohne ihn würde es ihr viel schlechter gehen.“
Akim runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Er hat sie berührt, irgendwie die Heilung beschleunigt. Er und Ardanna sind der Meinung, Syra hätte ebenfalls Magie in sich.“
„Was?“ Akim und Ylaiy stießen das Wort gleichzeitig aus.
„Ciycain hat es auch schon einmal angedeutet, der Majest’i’ti ebenso. Es gibt noch mehr Menschen mit Magie auf der Welt. Ardanna denkt, Syras Genesungsgeschwindigkeit hat etwas damit zu tun.“
„So geht es Kian gut?“, fragte Akim nach kurzem Nachdenken. In seinen Kohleaugen glomm Erleichterung.
„Es geht ihm gut. Er muss sich in unserer Nähe herumtreiben.“
„Dafür ist er zu schlau. Die Straßenkinder. Er hat Späher unter ihnen.“
„Kann sein. Jedenfalls wussten sie von dem Mord.“
Akim blinzelte. „Der Mord. Das ist so ...“
„Ich weiß. Ardanna war bei ihr. Vor der Folter. Sie sagt, wir sollen Syra nicht hassen deswegen. Dass sie das Opfer ist. Mit mehr rückt sie nicht heraus, aber wir alle ahnen ja, was passiert ist.“
„Unvorstellbar“, murmelte Ylaiy. „Sie ist so stark.“
Sie fuhren auseinander, als Schritte sich aus dem Seitenflügel näherten. Kurz darauf stand Ardanna vor ihnen und erfasste die Situation auf einen Blick. Ihre Augen landeten auf Adiv. „Du hast es ihnen gesagt?“
„Nur das Notwendigste.“
„Gut.“ Sie schritt zu Gillok, setzte sich neben ihn und legte ihm die Hand auf das Knie. „Sie ist bei Bewusstsein. Gebt ihr noch eine Nacht. Morgen könnt Ihr zu ihr.“
„Als ich Perth verließ, ging es ihr gut. Nicht gut, aber ...“
„Elphen war bei ihr.“
Gillok sprang auf, doch Nou und Ardanna drückten ihn zurück in den Sitz. „Ich weiß nicht, was genau geschehen ist“, fuhr die Najimi fort. Sie sprach kühl und distanziert, dunkel und sehr ruhig. Adiv sah, wie Gillok unter ihrem Blick schrumpfte und sich entspannte. Seine Finger zuckten und sein Atem normalisierte sich wie bei einem Menschen, der vor dem Einschlafen stand. „Als wir sie fanden, wies sie eine Reihe massiver Verletzungen auf. Sie war angekettet, hatte keine Chance sich zu wehren.“
„Hat sie etwas gesagt?“
„Es fällt ihr schwer, zusammenhängend zu erzählen. Sie hat scheußliche Kopfschmerzen, sieht schlecht. Ohne Begleitung kann sie nicht aufstehen.“
Gillok gab ein ersticktes Geräusch von sich.
Ardanna klopfte aufmunternd auf sein Knie. „Sie ist auf dem Weg der Besserung, glaubt mir. Gebt ihr noch zwanzig Stunden Ruhe. Legt Euch hin oder vertreibt Euch die Zeit in der Stadt. Das Warten martert Euch nur. Sie ist in guten Händen.“
Er lächelte gequält. „Ich weiß. Syra hat großes Glück, dass sie Euch hat. Wir alle. Ich danke Euch. Ich glaube, ich brauche frische Luft.“
Nou stand gleichzeitig mit ihm auf. „Ich begleite dich.“
Gillok nickte, hob müde die Hand und verließ den Saal. Nou und Akim tröpfelten ihm nach.
„Nou wird ihn von ihr fernhalten, oder?“, fragte Adiv.
„Bestimmt“, erwiderte Ardanna, trat dann Ylaiy in den Weg und sah ihn geradeaus an. „Lasst mich sagen, wie leid mir alles tut. Ich fühle mit Euch. Wie steht es um Euch und die anderen?“
Ylaiys Lippen zuckten. „Talin und Sila geht es gut. Sie sind bei Rana geblieben.“ Kurz berichtete er von Rana und ihrem Rücken, von den Aufbauarbeiten und dem verwaisten Palast. Über Paíre, Bland und seine Mutter schwieg er.
„Hexenbisse sind oft ein Zeichen von seelischer Belastung. Ihr müsst dafür sorgen, dass Rana sich schont. Teilt die Arbeit auf, setzt einen Fuß vor den anderen. Es bringt nichts, alles auf einmal zu wollen.“
„Ich muss ein Reich regieren. Wenn der Palast schwach wirkt, ist er es auch.“
„Ihr habt einen loyalen Rat an Eurer Seite. Er mag geschrumpft sein, doch er existiert noch. Beruft weitere Vertraute in ihn, verteilt Aufgaben.“
„Dennoch kann ich nicht lang bleiben.“
„Nein. Ihr müsst Anwesenheit zeigen. Trauert in Euren Gemächern, aber steht am nächsten Morgen auf und setzt Euch auf den Thron.“ Bei den letzten Worten schnitt Ardannas Stimme hell und scharf durch die Luft. „Ich werde Medizin für Rana zusammenstellen. Etwas, das sie zur Ruhe kommen lässt, ihre Seele belebt. Eine Salbe zum Einreiben und einen Beruhigungstee. Ihr könnt ihn abends mit ihr gemeinsam trinken, er wird auch Euch guttun.“
„Wie Ihr meint.“
„Außerdem habe ich noch etwas für Euch.“ Die Heilerin schritt zu einem Schränkchen, schob Kästchen und Döschen beiseite und nestelte einen aus schlechtem Holz gefertigten Codex hervor, der eine halbherzig geleimte Ansammlung von Pergamentblättern enthielt. „Gurbandats Protokolle. Das letzte Blatt gibt meine Unterhaltung mit Syra wieder. Er hat ein hervorragendes Gedächtnis gehabt, dieser Amon Gurbandat. Ein Jammer, dass er tot ist. Er war ein guter Mann, der eine große Lücke in Perth hinterlässt. Und eine trauernde Familie.“
„Spricht es Syriakin frei?“
„Das müsst Ihr entscheiden.“
Ylaiy riss das Blatt vorsichtig aus dem Codex und rollte es in den Händen. „Gillok hat mir bereits ein paar Dinge verraten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das lesen will.“
„Deshalb seid Ihr doch hier.“
„Dennoch.“
Ardanna sah ihn lange an. „Ihr müsst begreifen, was so etwas mit einer Frau macht. Als sie ihn hörte, setzte ihr Verstand aus. Im Moment des Mordes war sie nicht zurechnungsfähig. Das ist meine Meinung als Seelenärztin.“
Ylaiy schwieg, steckte das Protokoll anschließend in den Ärmel. „Ich danke Euch.“
Dann sah er Adiv an, die der Unterhaltung mit verstörtem Gesicht gefolgt war. „Ich habe auch etwas. Für dich. Von deinem Vater.“
Gillok betrat den Saal und musterte die angespannten Mienen. Tief stieß er die Luft aus, bevor ein Lächeln über seine Wangen huschte.
„So ist sie wohlauf?“, fragte Akim.
„Ja, wenngleich zu ihrem alten Selbst noch ein gutes Stück fehlt.“
„Wie ist das möglich?“, flüsterte Jonoy. „Kian berichtete von ernsten Verletzungen. Wir befürchteten das Schlimmste.“
Adiv winkte ab. „Ah, Ihr kennt sie. Gehirnerschütterung, Nierenquetschung, angeknackstes Becken, ausgerenkte Kniescheibe, ein paar Prellungen hier und da, das haut sie nicht um.“
Gillok lächelte zurück, aber das Lächeln wirkte verzerrt und konnte die Sorgenfalten auf seiner Stirn nicht glätten.
„Kian hat sie berührt“, sagte Akim. „Selten habe ich ihn so eingeschüchtert gesehen. Ihre Verletzungen waren qualvoll.“
„Vermutlich ist sie dank ihm so rasant genesen“, bestätigte Ardanna. „Dank seiner Magie und ihrer eigenen.“
Gillok und Jonoy zuckten zusammen.
„Nicht vergleichbar mit der der Kinder“, versicherte die Heilerin. „Winzige Krümel nur. Aber es reicht, um sie widerstandskräftiger zu machen. Sie heilte immer schon schneller als andere.“
„Nicht so schnell“, warf Gillok ein. „Nicht von Verletzungen dieser Art.“
„Doch Kian berührte sie. Ihre Partikel verbanden sich mit seinen. Zuerst heilten die unbedeutenden Blessuren. Ihre Nase schwoll ab, noch bevor die erste Nacht vorüber war. Der Riss an ihrer Lippe schloss sich am nächsten Vormittag. Man konnte beinahe dabei zusehen. Die Prellungen auf ihrem Rücken sind nahezu verschwunden; ihr Knie abgeschwollen. Gillok begrüßte sie im Bett sitzend.“
„Trotzdem sah sie aus wie eine Kriegsversehrte“, erinnerte sich Gillok schaudernd. „Fast so schlimm wie damals im Eis.“
„Mhm“, stimmte Adiv zu. „Mittlerweile kann sie klar sehen und sprechen. Die Kopfschmerzen sind erträglich und der Schwindel ist weg.“
„Und sonst?“, fragte Akim.
„Das Knie ist nicht belastbar, die Niere noch arg in Mitleidenschaft gezogen. Vermutlich kam das Blut teilweise daher und teilweise von dem Beckentritt.“
„Die inneren Verletzungen waren die gefährlichsten“, fügte Ardanna hinzu. „Zum Glück setzten sowohl Gurbandat als auch Elphen ihre Kräfte dosiert ein.“
„Chausselles sollte hoffen, dass ich ihn nie in die Finger kriege“, entgegnete Gillok düster.
„Das braucht Ihr gar nicht“, erwiderte Adiv. „Darum kümmert sie sich selbst. Hat sie es Euch nicht gesagt? Deshalb sind wir alle hier. Sie will uns ausbilden.“
„In was?“, erkundigte sich Nou. „Kämpfen können wir bereits.“
„Nicht wie die Chausselles“, sagte Gillok. Der Sumpfmann hatte den Kopf zwischen die Schultern gezogen und sah unglücklich in die Runde.
„Sie muss sich schonen!“, fuhr Ardanna dazwischen. „Keine Kämpfe!“
„Hören wir sie erst einmal an“, beschwichtigte Akim.
„Anstrengungen sind verboten! Ihre Rache muss warten.“
„Ich verstehe Euch. Aber Elphen hat den ersten Schritt getan. Vergeltung ist eine Sache, Chausselles aufzuhalten eine andere.“
Die Heilerin blitzte den Wüstenläufer zornig an. Schließlich nickte sie. „Gut. Hören wir sie an. Doch lasst euch nicht täuschen. Sie ist nicht unsterblich.“
Syriakin saß aufrecht auf ihrem Bett, ein großes Kissen im Rücken, eine Decke unter ihrem rechten Knie zusammengerollt. Bis auf das Bein wirkte sie unversehrt, doch allen fiel auf, dass sie Bewegungen vermied.
Adiv schielte auf die ungewohnte Bekleidung. In der lockeren Stoffhose und dem weiten Männerhemd sah die Kämpferin fast wie eine Fremde aus, zumal ihre Füße statt in Stiefeln in Leinenschuhen steckten und ihr Haar im Nacken zusammengebunden war.
„Ihr seht aus wie eine normale Frau“, sprach Shesh ihren Gedanken laut aus. „Zum ersten Mal entspanne ich in Eurer Gegenwart.“
Gillok runzelte die Stirn, während die Umstehenden sich belustigt ansahen. Der Sumpfmann musterte seine Gefährtin schweigend. Sorge schwamm in seinen Augen. Die Kriegerin fing den Blick ein.
Adiv, Akim und Jonoy kannten diese Art der Kommunikation, die alle anderen ausschloss. Die beiden Fraga-í redeten ohne Worte miteinander, verständigten sich durch Augenaufschläge und sparsame Mimik, bis Gillok nach wenigen Sekunden sichtbar entspannte, Syriakin sich von ihm löste und sie alle ansah. „Elphen bereitet sich auf einen Kampf mit uns vor. Er riet mir, zu trainieren. Das werden wir tun. Wir müssen besser werden.“
„Wie denn?“, fragte Adiv.
„Indem wir üben, und zwar mehrmals täglich. Messer, Dolche, Schwerter, Stöcke. Nahkampf. Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit. Muskelaufbau. Wir müssen uns abhärten, vor allem Unterarme und Handkanten. Können wir Rüstungen anfertigen?“
Sie sah Jonoy an. Dieser zupfte an seinem Bart. „Unterarmschienen und Knöchelschienen sollten machbar sein. Auf dem Gelände gibt es Werkzeuge und Werkstätten. Keine richtige Schmiede, aber Feuerstellen und Hämmer. Ein Blasebalg lässt sich herstellen und Altmetall liegt genug herum. Einzig Holzkohle dürfte nicht aufzutreiben sein.“
„Die findet Ihr in den Handwerkervierteln“, schlug Sphita vor. Sie stand neben Mehlau, halb versteckt hinter dem Burschen.
„Ylaiy wird uns aushelfen können“, fügte Gillok hinzu. „Auf dem Palastgelände gibt es eine Schmiede, Metall und andere Werkstoffe ebenfalls.“
„Jeder lehrt das, was er am besten kann“, fuhr Syriakin fort. „Alle trainieren alles, aber am meisten die jeweiligen Schwächen und Stärken.“
„Was?“, hakte Adiv nach.
„Dinge werfen oder schießen ist deine Stärke“, erklärte Akim ihr. „Du übst es, bis du es meisterhaft beherrschst. Körperliche Kraft ist deine Schwäche. Du benötigst also hauptsächlich Muskeltraining.“
„Das stimmt nicht.“
Alle Köpfe fuhren herum zu Sphita, deren Wangen rot anliefen. „Ihre größte Schwäche ist die Balance, das Feingefühl für den eigenen Körper.“ Ihr Wangenmuskel zuckte, als sie Adiv ansah.
Syriakins Mundwinkel verzog sich zu einem anerkennenden Lächeln. „Deshalb wirst du ihre Lehrerin. Unser aller Lehrerin.“
„Wollt Ihr, dass sie uns das Tanzen beibringt?“, polterte Shesh.
„Ich will, dass sie uns Gleichgewicht lehrt, Körperbeherrschung und Takt. Wir haben die Chausselles gesehen. Sie bewegen sich wie Tänzer. Wenn Ihr einen Zweikampf gewinnen wollt, müsst Ihr lernen zu kämpfen wie sie.“
„Ich tanze nicht!“
„Das sollt Ihr auch nicht“, besänftigte Gillok. „Es geht nur um bestimmte Techniken. Gerade Ihr braucht das. Ihr seid stark wie ein Bär und geschickt mit Zweihandwaffen, aber unbeweglich wie ein Fels. Übertrieben ausgedrückt.“
Shesh richtete sich auf. „Ich würde Euch jederzeit aus jedem Kampfring werfen.“
„Dazu müsstet Ihr mich erst kriegen“, ging Gillok auf die Herausforderung ein, doch Ardannas ausgestreckte Hand stoppte ihn.
Die Heilerin wandte sich nach Syriakin um. „Ihr alle werdet also zu Lehrern und Schülern gleichzeitig?“
„Ja.“
„Meine Tochter kann tanzen, nicht kämpfen.“
„Sie wird es lernen. Zumindest die Grundlagen.“
„Nein. Ich lehne Gewalt ab.“
„Kampftraining lehrt sie Techniken. Regelmäßiges Training lässt sie kontern, ohne nachzudenken. In einem echten Kampf kostet Nachdenken Zeit. Zeit, die der Gegner nutzt.“ Die Kriegerin stemmte sich in eine bequemere Position. „Das Wichtigste aber ist, dass sie lernt, überhaupt zu reagieren. Menschen ohne Kampferfahrung neigen dazu, zu versteifen, wenn sie angegriffen werden. Sie werden handlungsunfähig. Das macht sie zu Opfern.“
Syriakin hatte ruhig gesprochen und die Heilerin kein einziges Mal aus den Augen gelassen. Ardanna starrte zurück, blinzelte und nickte. „Ich habe sie Respekt vor dem Leben gelehrt. Beherzigt das.“
„Das werde ich.“
„Gut.“ Damit wandte die Najimi sich zum Gehen.
„Bleibt.“
Verwirrt blieb Ardanna stehen und musterte ihre Patientin.
„Ihr wisst viel über den menschlichen Körper, kennt alle Schwachstellen, die Todespunkte der Chausselles. Ihr werdet sie uns beibringen.“
„Ich kenne keine Todespunkte.“
„Heiler kennen Linien. Ich habe gehört, wie Ihr mit Adiv über sie spracht.“
„Heillinien, ja. Sanfter Druck auf sie wirkt sich positiv auf den Heilungsprozess aus.“
„Ihr habt es bei mir angewendet.“
„Innerer Knöchel und die Innenseite der Oberschenkel. Wobei Ihr mich nur an den Knöchel gelassen habt. Als ich Euren Schenkel massieren wollte, habt Ihr mich getreten. Ich verzeihe Euch nur, weil Ihr nicht bei Verstand wart.“
„Ihr wisst, wo man treffen muss, um größtmöglichen Schaden anzurichten.“
Ardanna beugte sich vor. „Ich heile, Syra, ich schade nicht. Sanfter Druck, keine harten Schläge.“
Auch die Kriegerin neigte sich nach vorn. „Ihr habt gesehen, was Elphen und Kalphon anrichten können. Und das war nur das Vorspiel. Wenn sie ernsthaft austeilen, wird es für Euch nicht mehr viel zu heilen geben. Dann könnt Ihr Bahren herrichten lassen.“
„Syra!“, zischten Gillok und Adiv, während Ardanna zurückfuhr.
„Aber sie hat recht“, sagte Kanouepe. „Bislang haben sie ihre Kräfte gedrosselt in den Kämpfen.“
Akim, Shesh und Jonoy nickten zustimmend, dieweil Sphita und Mehlau unbehagliche Blicke wechselten.
„Seht es so“, schlug Akim der Heilerin vor. „Die Todespunkte schalten Gegner schneller aus. Es geht um das Ende des Kampfes, nicht notwendigerweise um das Ende des Gegners. Beide Seiten tragen weniger Verletzungen davon.“
Ardanna sah den Wüstenmann lange an, während sie mit sich stumme Streitgespräche führte. „Also gut“, lenkte sie schließlich ein. „Dann fangt damit an, einen Punkt richtig zu treffen, nicht irgendwie. Es macht einen Unterschied, ob man schlägt, kneift, bohrt, ob man mit der Handkante trifft oder mit dem Finger. Perfekte Beherrschung der Schläge, darum geht es. Dafür braucht es jahrelange, jahrzehntelange Übung.“
„Besser ein kurzes Training als gar keins.“ Syriakins Stimme klang bestimmt. Ihr Vorsatz war gefasst. Nichts würde sie davon abbringen.
„Es gibt über zweihundertfünfzig empfindliche Stellen am Körper. Ihr wollt sie alle lernen? In was? Einigen Wochen?“
„Nur die kritischen.“
„Das sind immer noch zu viele. Allein am Knie gibt es drei.“ Die Heilerin trat an das Bett heran und krempelte Syriakins Hosenbein hoch. Die Kriegerin kniff die Augen zusammen.
„Zwei liegen vorn“, erläuterte die Najimi, wobei sie mit dem Zeigefinger die entsprechenden Stellen berührte. „Kniescheibe und Kreuzbänder. Man sieht deutlich, wo Elphen getroffen hat. Sein Tritt kam von der Seite, schob die Kniescheibe heraus. Starke Schwellung, Gelenkeinblutung, maximaler Schmerz. Frontal hätte er sie auch brechen und unsere Freundin hier lähmen können. Nur Zentimeter weiter verlaufen die Bänder. Hätte er sein Knie oder seine Ferse in sie gerammt, wären sie gerissen und Syriakin würde wochenlang nicht laufen.“
„Er hat sie also verschont?“, fragte Mehlau, mit großen Augen die Blutergüsse rund um das Knie betrachtend.
„Kaum zu glauben, nicht wahr?“ Ardanna richtete sich auf, streckte Syras Bein vorsichtig und hob es in die Höhe. „Die Kniekehle ist der dritte kritische Punkt. Die Haut ist hier sehr dünn. Unter ihr verlaufen Nervenstränge und Blutbahnen. Ein Tritt hier hinein führt zur Überdehnung. In einem Kampf setzt es außer Kraft, zumindest für den Moment. – Ihr müsst mehr kühlen“, ermahnte sie Syriakin. „Das Gelenk ist heiß. Geht der Bluterguss nicht bald zurück, werde ich das Blut ableiten müssen, das in die Knorpel gedrungen ist.“
Der Geselle und Sphita verzogen das Gesicht, während Ardanna ihren Finger dicht unter Syriakins Haaransatz im Nacken legte. „Der Hinterkopf ist ein weiterer kritischer Punkt. Tödlich. Genau wie Genick, Fontanelle, Stirnbein und Schläfe. Schützt also eure Köpfe. Immer.“
Sie schob eine Hand unter Syras Rippen. „Ein präzise geführter Schlag mit Handkante, Faust oder Ellenbogen in die Niere kann zum Tod führen. Ein Tritt in den Unterleib, egal ob bei Männern oder bei Frauen, kann eine Ohnmacht oder innere Blutungen hervorrufen, Organe quetschen oder einen umbringen. Trifft man das Becken richtig, bricht es, und zwar erstaunlich leicht. Das Aus in jedem Kampf.“
Sie zog ihre Hand unter dem Körper der Kriegerin hervor und bewegte sie in Richtung Leiste, doch diesmal schlug Syriakin die Hand weg und die beiden Frauen funkelten sich an.
„Im Übrigen kann allein der Schmerz einen Schockzustand auslösen, sogar töten. Ihr alle müsst also lernen, Schmerz auszuhalten. Dafür seid Ihr sicher die beste Lehrerin“, sprach sie zu Syriakin, welche die kleinere Frau mit Blicken verschlang. „Genug Lektionen für heute. Ich muss Vouker helfen. Der arme Mann bricht bald zusammen.“
„Ich komme Euch nachher zu Hilfe“, bot Adiv an.
„Ich auch“, fügte Sphita mit gesenktem Kopf hinzu.
Ardanna verließ den Raum mit stürmischen Schritten, unbehagliches Schweigen zurücklassend.
„Du musst mehr auf dich aufpassen“, sagte Adiv zu Syriakin. „Sie ist wütend auf dich. Es wird Zeit, dass du auf ihre Ratschläge hörst.“
„Und dich bedankst“, setzte Gillok hinzu.
„Ich rede mit ihr. Können wir jetzt anfangen?“
„Shesh für die Klingen, Adiv für die Wurfkünste, Sphita für Beweglichkeit und Gleichgewicht, Gillok für den Zweikampf, Ardanna für die kritischen Stellen“, fasste Akim zusammen. „Was tue ich?“
„Speer und Ausweichen“, entgegnete Gillok, ohne zu zögern. „Nou unterstützt mich im Kampf und in der Schnelligkeit. Jonoy trainiert uns in Kraft.“
„Ich härte euch ab“, beschloss die Sumpffrau. „Außerdem feilen wir an verschiedenen Techniken. Wir brauchen Tricks, Überraschungen, Fallen. Ylaiy muss uns helfen. Am Hof gibt es Handwerker, zudem Meister vieler Kampfarten. Und die Kampfeshalle beherbergt alle Arten von Waffen.“
„Was ist mit Cehaj und Nebunedzad?“, fragte Nou. „Sie beherrschen dieselben Künste wie die Chausselles.“
„Ylaiy kann sie an den Hof rufen lassen. Wir sollten dort trainieren.“
„Du bleibst im Bett“, ordnete Gillok an. „Kein Training, keine Reisen, nirgendwohin, bis du restlos genesen bist.“
Verdrossen starrte Syriakin ihren Gefährten an, aber dessen sanftmütige Augen hatten sich in harte Kiesel verwandelt.
„Sag uns, was wir machen sollen“, mischte sich Adiv ein. „Mehr nicht. Das schuldest du Ardanna.“
Vouker richtete sich über dem Patienten auf, dessen Brust Ardanna soeben abhorchte. „Ist das nicht Eure verletzte Freundin?“
Die Heilerin warf einen Blick durch den Krankensaal und erkannte Syriakin, die an der Tür stand und unbehaglich um sich schaute.
„Macht Ihr weiter?“ Ardanna reichte ihr Hörrohr an den jungen Arzt. „Ich bin sofort zurück.“
„Nur keine Sorge. Ich bin froh über die Gelegenheiten, die Euer Haus mir bietet. Am Hof assistiere ich dem Assistenten des Assistenten. In den Wochen hier habe ich mehr gelernt als in den Jahren zuvor.“
„Ihr macht Eure Sache ausgezeichnet. In meinem Empfehlungsschreiben an den Kaiser wird genau dies stehen.“
Der Mann errötete vor Dankbarkeit und beugte sich über den Kranken. Sekunden später war er wieder völlig in seine Arbeit vertieft.
Ardannas Lächeln schwand, als sie vor die Sumpffrau trat. „Weshalb seid Ihr auf den Beinen? Ich dachte, ich hätte Euch gesagt, dass Euer Knie noch keine Belastung verträgt.“
„Ich konnte nicht schlafen.“ Syriakins Antwort kam abwesend. Ihre Blicke schwenkten durch den Saal.
„Was ist? Schüchtern Euch die Kranken ein? Verletzungen kennt Ihr doch zur Genüge.“
„Sie sind schwach. Hilflos.“
Ardanna setzte zu einer scharfen Erwiderung an, schluckte sie jedoch hinunter, als sie erkannte, dass Syriakin ihre Bemerkung nicht abfällig meinte. „Damit könnt Ihr nicht umgehen, hm?“
„Mhm.“
„Ihr wolltet Cledent retten. Habt ihm einen Pfeil aus der Brust entfernt. Ihr habt Rana Heilmittel für Sila gegeben und Videms Schulter eingerenkt.“
„Das war Gillok.“
„Ihr habt ihm geholfen.“
„Baraten starb trotzdem. Videm auch.“
„Macht Euch nicht schon wieder schlechter, als Ihr seid. Für eine Frau, die anderen Menschen aus dem Weg geht, helft Ihr ziemlich oft. Auf Eure Art. Schwingt ein Messer oder was Ihr sonst zur Hand habt.“
„Das ist die Art, die ich beherrsche.“
„Ich bin nicht wie Ihr. Für mich ist das Leben ein hohes Gut. Ihr bereitet Euch auf den nächsten Kampf vor. Habt Ihr nie genug davon?“
Syra lehnte sich an den Türrahmen, verlagerte ihr Gewicht auf das linke Bein. „Das, was Ihr tut, liegt mir nicht. Ihr hingegen seid sehr gut darin.“
„Vorsicht! Das klingt fast wie ein Kompliment.“
„Ich kann das Kämpfen nicht aufgeben. Nicht, solange meine Tochter in Gefahr ist. Die Jungen. Akim und Adiv. Das versteht Ihr, oder?“
Ardanna lehnte sich neben Syriakin an die Tür und seufzte. „Ja, das verstehe ich. Ich bin nicht wütend auf Euch. Ich bin wütend, dass es Menschen gibt, die Euch zu diesen Dingen zwingen. Es tut mir leid wegen vorhin, das hattet Ihr nicht verdient. Aber Ihr seid wirklich starrsinnig. Holt Euch einen Schlaftee und dann ab ins Bett mit Euch. Es ist fast Mitternacht. Ich begleite Euch.“
„Das müsst Ihr ni…“
„Los! Ich mag es nicht, allein im Dunkeln zum Haus zu gehen. Maxim und Waleck lauern mir wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit auf.“
Die Sumpffrau stieß sich von der Tür ab. „Zutreten müsst Ihr selbst.“
„Ihr braucht Krücken. Das Knie muss entlastet werden.“
Syriakin schwieg, während sie den Saal verließen, sprach erst, als sie den Pfad zum Haus betraten. „Die Niere macht mir mehr zu schaffen. Am schlimmsten ist der Unterleib. Wie schlimm ist es?“
„Ich fürchte, weitere Kinder sind ausgeschlossen.“
„Diese Diagnose habe ich vor langer Zeit schon einmal erhalten.“
„Macht es Euch etwas aus?“
Die Kriegerin zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht gerade das, was man eine gute Mutter nennt.“
Ardanna lachte laut auf, sodass Syriakin stehen blieb und sich nach ihr umdrehte. „Nur wie die leibhaftige Verkörperung der Löwenmutter, die ihr Junges beschützt.“
„Eine Mutter, die nicht einmal weiß, wo ihr Kind sich gerade aufhält.“
Die Heilerin widerstand dem Impuls, der größeren Frau einen Arm um die Taille zu legen. „Sie kommt zurecht, Syra. Sie hat Eure Stärke. Und ich danke Euch für das Kompliment.“
Ein Tee mochte helfen. Warme Milch, hatte Sphita ihm empfohlen, aber das ungewohnte Getränk schmeckte ihm nicht, nicht einmal gesüßt mit Honig oder dem Sirup, den die Perther aus den Halmen einheimischer Pflanzen gewannen. Das Fett hatte seinen Magen zum Revoltieren gebracht. Eilig hatte er eins der Kämmerchen aufsuchen müssen, die in städtischen Häusern für die Notdurft genutzt wurden und für seine Begriffe erbärmlich stanken, auch wenn Ardanna dafür sorgen ließ, dass stets duftender Torf bereit stand.
Seufzend rollte er aus dem Bett und öffnete die Tür.
Die Korridore waren spärlich beleuchtet. Sein Zeitgefühl verriet ihm, dass Mitternacht seit mehr als zwei Stunden vorüber war. Der Hochherbst hielt Einzug auf Prant und mit ihm kamen die langen, dunklen Nächte und die Stürme. Die Dachspindeln klapperten und Äste schlugen gegen die Wände und Fenster. Ungemütliches Wetter.
Leise schlenderte er an den Türen der vielen Bewohner vorbei. Die meisten schienen zu schlafen. Nur aus dem Dienstbotentrakt drangen geschäftige Geräusche und hinter einer der Türen hörte er wollüstiges Stöhnen und rhythmisches Atmen. Ein Bettkasten knarrte und eine Frauenstimme schnurrte den Namen eines Mannes. Gillok grinste und ging schnell weiter. Gerüchte über Thrageshs Künste als Liebhaber machten bereits die Runde. Offenbar genoss der ehemalige Leibwächter das Angebot an willigen Dienstmädchen und Handwerkertöchtern in vollen Zügen. Eifersüchteleien blieben nicht aus. Mehlaus Herz brach, als sich herausstellte, dass auch Denogenes, das hübsche Küchenmädchen, zu Sheshs Eroberungen zählte. Irgendetwas an dem bulligen Mann machte ihn für Frauen jedes Alters unwiderstehlich. Die Zöpfe, dachte Gillok. Vielleicht sollte er sein Haar ebenso flechten. Seine letzte Liebesnacht lag eine Weile zurück.
Am Fuß der Treppe traf er auf Jonoy, der die zweite Nachtwache angetreten hatte. „Alles ruhig?“, flüsterte er dem Schmied zu.
„Bis auf Thragesh. Der Kerl hat Ausdauer, das muss man ihm lassen. Und Ihr? Auf dem Weg zu Eurer Gefährtin?“ Vielsagend wackelte Jonoy mit den buschigen Augenbrauen.
Die Frage war Gillok peinlich. Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht schlafen. Das Training. Ciycain. Syra… Mir geht zu viel durch den Geist. Ich wollte mir einen Schlaftrunk bereiten.“
„Schaut bei ihr vorbei“, riet Jonoy. „Dann könnt Ihr Euch wenigstens vergewissern, dass es ihr gut geht. Akim sah sie vorhin ins Haus der Kranken humpeln.“
„Brauchte sie Hilfe?“ Schlagartig war Gillok alarmiert.
„Sie kam mit Ardanna zurück. Für Akim sah es so aus, als hätten die beiden das eine oder andere Problem gelöst. Sie verabschiedeten sich freundlich voneinander.“
„Wahrscheinlich schläft sie. Ich sollte sie nicht stören. Ruhe ist unabdingbar für die Heilung.“
„Dann sehen wir uns zum Frühstück. Danach will Ylaiy uns wieder verlassen.“
„Zuerst zu den Leibesübungen.“
„Richtig“, seufzte Jonoy und dehnte den Hals. „Mir tut bereits jetzt alles weh.“
„So wie mir.“ Gillok lächelte. „Eine ruhige Nacht Euch.“
Syriakins Krankenzimmer lag im selben Flügel wie die Küche. Auf bloßen Füßen tapste Gillok den Korridor entlang, hielt kurz vor der Tür inne und lauschte. Er hörte nichts, stellte fest, dass er erleichtert, aber auch enttäuscht war. Über seine Reaktion grübelnd, gelangte er in die Küche, nickte der verschlafenen Igra zu und bat sie um heißes Wasser aus dem Kessel und eine Handvoll des Kräutergemischs, das Ardanna in ihren Nachttee zu bröseln pflegte.
Igra winkte ihn an den Tisch und drückte ihn auf einen Stuhl, bevor sie den Tee für ihn zubereitete. „Zu viele Gedanken, hm?“
„Das wäre nicht nötig gewesen“, dankte er.
„Ihr seid ein zuvorkommender Mann. Ich tue das gern für Euch“, knarzte die Köchin und wandte sich wieder ihren Kesseln zu.
„Fängt für Euch ein neuer Tag an oder ist der alte noch nicht zu Ende?“, erkundigte sich Gillok, von dem heißen Getränk schlürfend.
„Wenn ich das wüsste. Neuerdings scheinen die Tage ineinanderzufließen. Aber alles wird sich einrenken. Die Seuche flaut ab, das Haus der Kranken leert sich, die Kampfspuren sind bald restlos beseitigt. Sobald mehr Ruhe einkehrt, wird die Herrin Leute einstellen, dann geht das Leben wieder seinen geregelten Gang.“
„Sowie wir weg sind, habt Ihr auch weniger Esser.“
Sie fuhr herum. „Das meinte ich nicht! Ihr seid hier jederzeit willkommen! Ohne Euch und Eure Freunde lägen wir alle längst unter der Erde.“
Ohne uns hätte es kein Gemetzel gegeben in diesen Gemäuern.
Gillok lächelte dünn und schwieg vor sich hin.
„Nehmt den Becher mit“, riet Igra ihm nach einigen Minuten. „Bevor Ihr einschlaft oder Euch erkältet. Die warme Zeit ist vorbei.“
Müde nickte er, erhob sich und schlappte den Korridor entlang zur Haupthalle, passierte die Tür zu Syras Zimmer. Er hatte schon mehrere Schritte zurückgelegt, als ein Laut ihn herumschwenken ließ. Heißer Tee schwappte über seine Füße.
Er rang mit sich, bis weitere Töne aus ihrem Raum drangen, tapste zurück und öffnete die Tür, so leise er konnte. Sie lag auf dem Rücken, das Bein hochgebettet, und schlief. Ein unruhiger Schlaf, gestört von schlechten Träumen und schlimmen Erinnerungen. Wie ein Dieb trat er ein, zog die Tür hinter sich ins Schloss und beobachtete sie, den dampfenden Becher in der Hand, versunken in ihren Anblick. Ihr Haar war zerwühlt, das Bett noch mehr, ihr weites Hemd bis zum Brustansatz verrutscht. Nach ein paar Minuten zuckte sie heftig zusammen, klammerte sich an die Bettkanten. Wimmerlaute kamen aus ihrem Mund, gemurmelte Proteste, schließlich ein Schrei.
Da war er längst bei ihr und griff nach ihrer Schulter. Sie fuhr hoch und gleich darauf mit einem erstickten Stöhnen wieder zurück.
„Was ist los?“, fragte sie verschwommen. „Was machst du hier?“
„Hab dich gehört draußen. Dachte, ich sehe mal nach.“
Sie schob sich auf ihre Ellenbogen. „Was hast du da? Tee?“
„Ein Schlaftrunk. Wenn du magst, teile ich ihn mit dir.“
Sie rümpfte die Nase. Er lächelte, sah sich um, fand ein Tischchen und stellte den Becher ab.
„Also?“
„Also was?“ Zu seinem Bedauern zupfte sie das Hemd zurück auf ihre Schultern.
„Ich weiß auch nicht. Wie geht es dir?“
Sie schwieg lange, dann rutschte sie zur Seite und klopfte auf das zerwühlte Laken. „Komm her.“
Er stieg ins Bett. Sie warf die Decke über sie beide, rollte sich nach links, stupste ihn in dieselbe Richtung. Kurz darauf spürte er, wie ihr Arm sich über seine Hüfte legte, ihr Bein sich über seinen Schenkel. „Elphen wird mich nicht ewig treten“, flüsterte sie in sein Ohr.
Er versteifte und biss die Kiefer zusammen.
„Eines Tages trete ich ihn zurück. Vielleicht erspare ich ihm die Niere, vielleicht auch das Knie. Aber ich werde ihm so gewaltig in sein bestes Stück treten, dass ihm Hören und Sehen vergeht.“
„Von hinten“, befahl er und fühlte, wie die Anspannung schwand.
„Von allen Seiten. Ich werde sicherstellen, dass er keine Nachkommen zeugt. Dann töte ich ihn.“
Er hörte, wie ihre Stimme brach, und wollte sich umdrehen, doch sie stemmte sich dagegen, ihr Arm um ihn geschnürt wie eine Schraubzwinge. „Pst“, flüsterte sie. „Schlaf jetzt. Mir geht es gut. Alles ist gut.“
Mehlau half Igra, Martila und Sphita dabei, die Tafel abzuräumen. Ihre Anzahl war seit dem Sommer geschrumpft, dennoch bewirtete Ardanna weiterhin jeden Tag über ein Dutzend Gäste, Angestellte und Familienmitglieder. Ab dem Mittag würde es einer weniger sein, denn der Kaiser hatte beschlossen, nach Yruish zurückzukehren.
Vorsichtig stapelte er Becher, Teller und Messer auf einem Tablett und folgte den Köchinnen in den Wirtschaftsflügel. Die zweimal genähte Bauchwunde verheilte gut, aber langsam. Schmerzen strahlten immerfort in seinen Körper, besonders an regnerischen Tagen. Er wunderte sich, ob er jemals wieder beschwerdefrei würde laufen können, behielt die Frage jedoch für sich. Immerhin konnte er dankbar sein, überhaupt noch zu atmen. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt in den vergangenen Wochen, zum Trauern und Grübeln, und er hatte eingesehen, dass er nicht zum Kämpfen geboren war. Sehnsucht suchte ihn immer öfter heim, Sehnsucht nach dem kleinen Dorf im Norden Stalephs, nach seiner Tante und Ciana, nach alten Nachbarn und Freunden, nach Frieden und Langeweile. Er wartete auf das Ende dieses unglückseligen Abenteuers, half im Haus, hielt sich im Hintergrund, heilte. Hoffentlich bald würde er Meister Jonoy nach Guyut begleiten und das Schmiedehandwerk wieder aufnehmen. Gestern hatten sie in der Nähe der Scheunen eine provisorische Schmiedestätte errichtet und Altmetall gesucht, heute wollten sie Holzkohle besorgen. Er freute sich auf die Arbeit, auch wenn die Schmiedestelle hier kaum mehr war als eine festgestampfte Kuhle im Boden und ein Amboss, den sie in einer der Werkstätten aufgetrieben hatten. Nichts im Vergleich zu Jonoys Schmiede.
Sie würden sie aufbauen müssen, fiel ihm plötzlich siedend heiß ein. Tijua und ihre Männer hatten sie zerstört, die essha umgestoßen. Der Gedanke ließ ihn schwanken, sodass das Geschirr auf dem Tablett klirrte und Sphita sich nach ihm umdrehte.
„Geht es dir gut?“
„Ja. Ich dachte nur gerade an die Schmiede. Der Meister und ich werden sie allein wieder herrichten müssen. Manneros Kraft wird uns fehlen.“ Kummer glitt über seine Züge, die einen Teil ihres jugendlichen Aussehens eingebüßt hatten.
„Das wird sie.“
„Jemand muss seinen Leuten erzählen, was passiert ist.“
„Sag ihnen, er wäre als Held gestorben.“
„Er ist aus Dummheit gestorben“, murmelte Mehlau. „Aus Leichtsinn.“
„Weil er Gutes tun wollte. Kein Grund, seiner Familie das Leben noch schwerer zu machen.“
„Mhm. Schätze, ich werde nun wirklich Schmied. Bislang war ich eher Manneros Gehilfe.“
„Auf uns alle warten neue Herausforderungen. Beeilen wir uns. Der Prinz verabschiedet sich.“
„Kaiser.“ Mehlau ließ sich von Martila das Tablett abnehmen und kehrte mit Sphita in die Halle zurück, wo Ylaiy soeben dabei war, alle Anwesenden nacheinander zu umarmen oder ihnen die Hände zu schütteln.
Als die Reihe an ihn kam, wollte er sich verlegen an die Wand drücken, aber der Kaiser lächelte ihn warm an und tätschelte seine Schulter. „Danke für Eure Hilfe, Mehlau. Ihr habt viele Opfer gebracht. Passt auf Euch auf.“
„Ihr auch“, quetschte Mehlau mit rotem Kopf heraus und beobachtete, wie Ylaiy sich von Sphita verabschiedete und anschließend zu Syriakin trat, die, auf Krücken gestützt, an der Wand lehnte.
„Ihr wisst, dass ich nicht gehen kann, ohne mit Euch gesprochen zu haben. Als Kaiser und Inquisitor.“
Betretenes Schweigen senkte sich über den Raum. Die Sumpffrau warf einen langen Blick reihum, dann nickte sie, stieß sich von der Mauer ab und hinkte ihm voran zu ihrem Zimmer.
In ihrem Krankengemach angekommen, lehnte sie die Krücken an den Kamin, hüpfte zum Bett und ließ sich darauf nieder. Anschließend sah sie zu Ylaiy auf. „Fragt.“
Ylaiy schloss sacht die Tür, stützte sich gegen sie, die Hände auf dem Rücken verschränkt. „Ich habe mir geschworen, ein gerechter Herrscher zu sein, den Frieden ins Reich zurückzubringen, Verbrechen und Unrecht zu bekämpfen. Dann kommt Ihr, dahergeflogen auf Racheflügeln, meuchelt einen Mann auf offener Straße. Was meint Ihr, soll ich tun?“
„Verhaftet mich. Gehorcht Eurem Gesetz.“
„Ihr würdet sterben in der Boragha. Müsstet den Rest Eures Lebens unter der Erde verbringen, fern von Wäldern oder Meeren, fern von Gillok und Ciycain.“
„So habt Ihr die Reform durchgesetzt. Nur die Schuldigen werden verurteilt und eingekerkert. Das ist ein Fortschritt.“ Ihr Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt.
„Aber wir müssten ohne Euch kämpfen. Ein Vorteil für Elphen, den er nutzen wird. Damit bringt Ihr mich in eine Zwickmühle. Als Kaiser brauche ich Euch für die Rettung des Reiches vor der Magie, vor Krieg und Zerstörung. Als Kaiser muss ich Euch auch verhaften und verurteilen. Wie soll ich entscheiden?“
Sie schwieg, doch ihre Kiefer mahlten.
„Gib mir irgendetwas!“, flehte er plötzlich. „Einen Grund, dich zu verschonen. Wenigstens Einsicht.“
Kurz blickte sie zu Boden. „Ich habe falsch gehandelt. Nach Eurem Gesetz.“
„Aber bereust du?“
„Nein.“
„Syriakin ...“
„Gibt es einen Bericht? Gurbandat belauschte uns.“
Sie zuckte sichtbar zusammen, als Ylaiy das Pergament aus dem Ärmel zog. „Ein Protokoll, ja.“
„Habt Ihr es gelesen?“ Plötzlich klang sie heiser.
„Nein“, seufzte er und schlug sich mit dem zusammengerollten Blatt gegen das Bein. „Ardanna riet mir davon ab. Ich muss es auch nicht lesen. Ich weiß, was geschehen ist. Es gab genügend Andeutungen.“
Ihre Miene verkrampfte sich.
„Dieser Mann hat Euch Schreckliches angetan und Ihr habt Euch an ihm gerächt.“
Sie lächelte bitter. „Aus Eurem Mund hört es sich so nüchtern an.“
„Ich verstehe, warum Ihr es getan habt.“
„Ich glaube nicht, dass Ihr wirklich versteht.“
„Doch, ich …“
„Es tut weh, Ylaiy“, sagte sie jählings so leise, dass er sie kaum verstand. Sie blickte zu Boden, schien mit sich zu kämpfen, sah dann wieder auf und ihn an. „Es zerstört dein Inneres, nimmt dir deine Würde, deinen Stolz, dein Leben. Lässt dich zerbrochen zurück. Du liest die Scherben auf und fügst sie wieder zusammen und trotzdem ist es nicht mehr wie davor. Du bist nicht länger derselbe Mensch.“
„Und Rache macht, dass der Schmerz vergeht?“
„Nichts ist befreiender. Denkt an Eure Gemahlin, an Euer ungeborenes Kind, und dann sagt mir, dass Ihr nie an Vergeltung gedacht habt.“
„Es zu denken ist nicht dasselbe.“
„Für mich war der Gedanke unerträglich, dass er weitermachen konnte wie bisher. Dass er leben durfte, während mein Leben mir entglitt. Er spürte keine Reue. Wieso sollte ich es?“
„Es wird niemals Frieden sein, wenn nicht einer nachgibt.“
Die Bitterkeit in ihren Zügen verstärkte sich. „Ich habe nie einen Krieg begonnen. Ich respektiere Euren Weg, Eure Achtung vor dem Leben. Ich glaube, dass Ihr ein guter Kaiser seid, besser als Eure Mutter. Aber erwartet nicht von mir, dass ich die andere Wange hinhalte oder um Vergebung bettle. Wenn Ihr mich nicht freisprechen könnt, müsst Ihr mich einsperren.“
„Dann verliere ich eine Freundin. Wir alle verlieren sie.“
Beide verstummten, maßen einander mit Blicken. Schließlich seufzte Ylaiy erneut, nahm den Schürhaken, stocherte in der mit Torf bedeckten Glut des Kamins, knüllte das Pergament zusammen und warf es ins Feuer.
Danach trat er nah an sie heran. „Ich spreche Euch frei. Doch wisset, dass es das letzte Mal ist, Syriakin. Setzt Euch mit Eurer Vergangenheit auseinander. Geht einen anderen Weg. Ardanna kann Euch dabei helfen. Ich werde Euch unterstützen, wo ich kann, aber ich werde Euch nicht weiter schützen, wenn Ihr gegen das Gesetz verstoßt. Verteidigt Euer Leben im Kampf, doch nehmt keines, wenn Ihr eine Wahl habt.“
Sie starrte ihn lange an, bevor sie nickte und einen Dank aushauchte.
„Wir sehen uns im Palast, sobald es Euch besser geht. Bis dahin lasse ich Waffen und Rohstoffe senden und kümmere mich um Handwerker und Kampfmeister. Kümmert Euch um Euch.“
Die Zeit des täglichen Übens begann.
In der ersten Woche kommandierte Syriakin die anderen vom Bett aus, zeigte im Sitzen verschiedene Fausttechniken, die meisten davon kompliziert und schmerzhaft, aber wirkungsvoll und punktgenau.
In der zweiten fand Adiv sie auf dem Weg zur Frühschicht im Gärtchen, wo sie in großen Schleifen über das Gras humpelte. Während des Trainings stand sie auf, korrigierte Positionen, dirigierte Kampfszenarien, demonstrierte, wie man Messer, Dolche und Schwerter einsetzte.
In der dritten begleitete sie Gillok in die Stadt und half Sphita und Mehlau bei Besorgungen. Sphita berichtete, dass sie nicht mehr hinkte und dem Schmiedegesellen bereitwillig schwere Säcke und Körbe abnahm. Oft schleppte sie sie allein, wohingegen Sphita und der Bursche zu zweit schnauften.
In der vierten Woche zeigte sie Shesh eine neuartige Schlagtechnik. Auch nach vielen Versuchen war sie unzufrieden, drängte Nou, der an diesem Tag Sheshs Kampfpartner war, beiseite und nahm dessen Position ein. Schnell geriet die Übung zu einem verbissenen Ringkampf, den keiner für sich entschied. Gillok und Jonoy zwängten die beiden auseinander. Shesh verzog sich wutschnaubend in eine Zimmerecke; Syra ließ Gilloks Tadel stumm über sich ergehen, ein zufriedenes Lächeln in den Mundwinkeln.
Am nächsten Tag verhängte sie eine Pause für alle, am übernächsten erschien sie in ihrer Lederkluft zum Training, das Haar auf etwas unter Schulterlänge zurückgeschnitten und aus dem Gesicht gebürstet. Sphitas Werk, kein Zweifel. Adiv erkannte sie kaum wieder.
Der folgende Monat verging wie im Flug. Sie standen im Morgengrauen auf, absolvierten Laufübungen und das Muskeltraining, das Shesh und Gillok ihnen verordneten. Nach dem Frühstück übten sie sich in allen erdenklichen Formen des Zweikampfs, bevor jeder seinen Haushaltspflichten nachkam. Ardannas Residenz erforderte viel Arbeit, vor allem mit der geschrumpften Dienerschaft. Das Mittagbrot fiel in der Regel kurz und leicht aus. Sie alle nutzten die freie Stunde lieber zum Ausruhen als zum Essen. Am Nachmittag teilten sie sich auf, suchten sich wechselnde Partner, unterwiesen sich gegenseitig. Nach dem Abendessen kümmerten sie sich um ihre Wunden, kühlten Schwellungen, rieben Salben auf Zerrungen, massierten Krämpfe, nahmen heiße Bäder, fielen wie Steine in ihre Betten. Syriakin besuchte zusätzlich allabendlich das Spital. Ardanna bestand auf speziellen Übungen zur Lockerung und Dehnung. Adiv wusste nicht, ob die Heilerin die Stunde auch für Seelengespräche nutzte. Weder sie noch Syra ließen ein Wort über ihre Treffen verlauten. Doch eines Abends beobachtete sie, wie die Sumpffrau statt in ihre Räume in Gilloks Zimmer ging. Am Ende des Monats hatten alle sich daran gewöhnt, die Sumpfleute morgens gemeinsam aus der Tür treten zu sehen.
Sem nieste und zog geräuschvoll die Nase hoch.
„Erkältet? Komm heute Abend vorbei. Evie kocht dir einen Kräutertee.“
„Nicht nötig.“
„Oh! Ein Treffen im stillen Kämmerlein? Ist Ranas Tee so gut wie Evies?“
„Hör schon auf. Ich bin nicht erkältet. Das Niesen kommt von all dem Staub hier oben.“ Der lange Drechsler schob sich gebückt weiter, weshalb ihm das gutmütige Grinsen des jüngeren Bruders entging.
„Erzähl doch. Man sieht euch häufiger miteinander letzthin. Die Leute tuscheln schon.“
„Lass sie tuscheln“, knurrte Sem, ohne sich umzusehen.
„Ernsthaft.“ Joma hielt seinen Bruder am Ärmel zurück. „Was läuft da zwischen dir und Rana? Evie fragt mich dauernd deswegen. Sogar die Mädchen kichern schon.“
„Weiß ich nicht.“
„Du weißt es nicht? Komm schon!“
„Wir haben nicht darüber geredet. Wir sind befreundet, würde ich sagen.“
„Befreundet! Zehnjährige sind befreundet. Männer schließen Freundschaften, Frauen auch. Aber Männer und Frauen ... Nein. Niemals.“ Rigoros schüttelte Joma sein Haar, das um einige Schattierungen dunkler war als das des Bruders, doch ebenso schütter und von der Stirn zurückweichend.
„Ich bin gern mit ihr zusammen. Sie redet nicht viel, packt an, wo sie kann, kümmert sich um alles und jeden.“
„Und sie sieht gut aus, selbst mit dem kurzen Haar.“
Sem lächelte. „Sie hasst die grauen Strähnen. Ich finde sie eher silbern.“
„Lädst du sie in dein Bett ein?“
„Das geht dich überhaupt nichts an. Und nun hilf mir, diese Teppiche zu holen.“
Joma verdrehte die Augen. „Gobelins. Du sagst es immer wieder falsch. Es sind Gobelins.“
„Wo liegt der Unterschied?“
„In der Herstellung. Die Technik ist eine andere. Wie viele sind es eigentlich noch?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Und wofür will der Kaiser sie haben?“
„Weiß ich nicht.“
„Stellst du keine Fragen? Dir reicht es wohl, wenn Rana dich bittet?“
„Halt die Klappe.“
Stöhnend schob Joma sich an seinem schlankeren Bruder vorbei in den nächsten Speicher. „Da vorn. Wieder die mit den Kampfszenen?“
„Egal. Der Kaiser studiert sie alle, sagt Rana.“
„Studieren, eh? Hat er nichts Wichtigeres zu tun?“
„Vielleicht ist es wichtig. Was wissen wir schon? Er hat getan, was getan werden musste. Arbeitet ohne Unterbrechung.“
„Fühlt sich trotzdem anders an. Immer noch keine Bankette, keine Empfänge, nichts.“
„Ich genieße es. Fand es sogar noch schöner, als die Soldaten unterwegs waren. Kein Exerziergetrampel, weniger Pferdescheiße.“
„Du bist ein richtiger Einsiedler. Mir fehlen die Hoffeste, die Turniere, die Arenakämpfe. Das war das einzig Gute an Vei. Seine Schaukämpfe.“
„Nichts an Vei war gut“, erwiderte Sem düster. „Aber sei getröstet. Der Kaiser erwartet seine alten Kameraden. Man erzählt sich, sie seien Kämpfer. Sie kommen zum Trainieren. Vielleicht hast du da was zum Schauen.“
„Wirklich?“ Plötzlich klang Joma aufgeregt. „Sind die Aufträge für sie?“
„Anzunehmen. Hast du alles fertig bekommen?“
„Dicke Drähte, dünne Drähte, Ringe, Nadeln. Auf Geheiß des Kaisers.“
Sem runzelte die Stirn. „Was hat er vor?“
Joma hob die Achseln. „Ein Heer ausrüsten? Vielleicht macht er seine Gefährten zur Leibwache, so wie Vei seine Gefängniskumpane. Los jetzt. Diese Teppiche werden nicht sauberer hier oben und wir nicht jünger.“
„Gobelins.“
Joma stolperte zurück, als der Kaiser auf die Schwelle der Werkstatt trat, sich wegen des niedrigen Türrahmens bückte und den beiden Kindern ein freundliches Lächeln zuwarf.
Hinter Ylaiy drängten sich weitere Personen.
„Meister“, begrüßte der Kaiser ihn. „Wir kommen, um Euer Werk zu bestaunen. Habt Ihr die Güte, uns einzulassen?“
Joma fing sich schnell. „Ella!“
Aus dem Nebengemach huschte ein unscheinbares Mädchen herein, das schüchtern den Kopf senkte, als es die Gäste sah.
„Bring deine Brüder zu deiner Mutter! Sie können in der Bäckerei helfen.“
Ohne ein Wort ergriff die Angesprochene ihre staunenden Geschwister und scheuchte sie an den Fremden vorbei ins Freie.
Mit einer Handbewegung winkte Joma seine Besucher ins Innere. „Verzeiht die Enge“, murmelte er.
Ylaiy lächelte beruhigend. „Habt Ihr die Dinge?“
„In der Truhe, Herr.“
Ein Mann mit abenteuerlicher Haarpracht stapfte um die Werkbank herum zu der Truhe und öffnete sie. Einen Gegenstand nach dem anderen nahm er heraus und gab sie an einen fülligen Greis weiter, der dem bezopften Riesen gerade einmal bis zur Brust reichte.
„Komm her, Mehlau“, brummte der Alte. Ein junger, ungelenk wirkender Mann trat an seine Seite. „Drähte, viel dünner und biegsamer, als ich sie zu schmieden vermag. Sie werden gezogen, hier, mit einem Zieheisen, siehst du?“
Der Jüngling nickte. „Sie sind so fein. Eine Menge Arbeit.“
„Oj. Schwere Arbeit. Ausgezeichnete Arbeit“, lobte der Schmied und blickte Joma anerkennend an. „Ihr versteht Euren Beruf.“
Joma senkte, rot werdend, den Kopf.
„Ringe“, grunzte der bezopfte Mann und ließ sie in die Pranke des Schmieds fallen. „Für Kettenhemden?“
„Dazu bräuchte es tausende“, entgegnete der Greis.
„Ich habe nur einige Handvoll angefertigt“, entschuldigte sich Joma. „Auf Geheiß des Kaisers.“
Ylaiy nickte. „Richtig. Syriakin sprach von Rüstungen, aber ich war mir nicht sicher, ob sie Ringelpanzer meinte.“
„Was ist das?“ Eine Frau trat ein, schlank und hochgewachsen, wenngleich sie die Größe des Kaisers und des behaarten Riesen nicht erreichte. Mit wachsamem Blick sah sie sich in der Werkstatt um.
„Ein Hemd aus Metallringen“, erklärte Ylaiy. „Manchmal besteht es aus reinem Metall, manchmal aus Leder, auf welches man die Ringe näht. Ersteres kostet ein Vermögen. Nur hohe Offiziere tragen es. Das aus Leder ist nicht viel preiswerter. Die herkömmlichen Lederrüstungen sind leichter herzustellen und erfüllen ihren Zweck ebenso.“
„Nicht ganz“, widersprach der Alte. „Pfeile und Bolzen durchschlagen Leder leichter als Metall, Wuchtwaffen genauso. Selbst Euer härtestes Leder kann es nicht mit Metall aufnehmen.“
„Aber Metall ist schwer“, wandte die Frau ein.
„Wenn man es in der Hand hält, ja“, sagte der Schmied. „Doch am Körper getragen verteilt sich das Gewicht.“
„Dennoch macht es mich unbeweglich. Ähnlich wie eine dicke Lederrüstung.“
„Euch?“ Joma trat einen Schritt nach vorn. „Die Rüstung ist für Euch?“
Die schwarzhaarige Frau drehte sich ihm zu. Ihre Brauen schoben sich zusammen und aus ihren Augen flammte stechendes Grün. Plötzlich nahm er eine dünne Narbe auf ihrer rechten Wange wahr und ein vages Gefühl von Gefahr zog durch seine Eingeweide.
„Dafür schützt sie Euch vor Schnittwunden“, sagte der Kaiser.
Joma atmete unhörbar auf, als sie sich von ihm abwandte. „Aber nicht vor Hieben. Chausselles schlägt. Tritt. Er setzt auf Wucht und Kraft.“
„Dann haut er sich die Finger blutig am Metall“, entgegnete der Greis. „Selbst wenn er ein paar Dellen hineinschlägt.“
Die Frau dachte nach, während Jomas Gedanken zu galoppieren begannen. Chausselles. Der Name machte die Runde in den Palastgemäuern, auch nach Monaten noch. Der Mann, der den Thron geräumt, den Usurpator getötet hatte. Der Dunkle. Der Tänzer. Waren die Fremden hier, um ihn zu stellen? Sollte sie ihn aufspüren? Ihn töten?
Unauffällig musterte er sie. Sie trug eine einfache Kluft, darüber einen Mantel aus weichem Leder mit mehreren Taschen. Falls sie eine Kämpferin war, gab sie nicht viel auf Verteidigung.
Noch während er grübelte, drehte sie sich wieder zu ihm. „Keine Ringrüstung“, entschied sie. „Gebraucht die Ringe für etwas anderes. Könnt Ihr ein Netz aus ihnen flechten?“
„Sicher“, stotterte Joma, begleitet vom zustimmenden Brummen des Greises. „Ein Panzer ist im Prinzip nichts anderes. Wie groß soll es sein?“
„Es muss einen Mann niederreißen können.“
„Macht zwei“, sagte der Schmied. „Mehlau und ich können helfen.“
„Außerdem Schlingen“, befahl die Frau. „Stolperdrähte, Nadeln, Spieße. Haken.“
„Was für Haken?“, fragte Joma.
Sie zog einen winzigen Gegenstand aus ihrer Hosentasche und hielt ihn dem Drahtzieher hin. Er begutachtete ihn. Ein Dorn in der Form eines Ankers, geklaubt von einem Gesträuch, das er nicht kannte. „Kriegt Ihr so etwas hin?“
„Bestimmt. Zum Werfen?“
„Zum Werfen, Schleudern, Schießen. Vielleicht auch zum Ausstreuen.“
„Klein und nützlich, eh?“
„Ihr habt verstanden.“
„Biegen und aneinander hämmern. Das Einfachste der Welt. Noch etwas?“
„Dünne Drähte zum Verlöten der Schienen“, mischte der Schmied sich ein.
„Einen Käfig?“, fügte der Kaiser hinzu.
„Zu unhandlich“, befand die Frau.
„Wir könnten ihn aufhängen. Als eine Art Falle.“
„Dafür genügen Seile, Äste und Stöcke.“
„Euer Netz könnt Ihr auch aus Seilen herstellen.“
„Die für die Fallen, ja. Im Kampf ist Metall besser. Man kann es nicht zerschneiden.“
„Vielleicht ein Sieb?“
Sie sah ihn fragend an und der Kaiser hob die Hände. „Nur so eine Idee. Ihr sagtet, trickreich.“
Adiv und Akim warfen sich einen langen Blick zu, während Sila auf sie zu eilte, sie in die Arme schloss und lächelnd betrachtete. „Gut seht ihr aus, den Himmeln sei Dank.“
„Ja, alles überstanden. Ausflug in die Unterwelt, heimtückische Angriffe, Seuche“, antwortete Adiv. „Mittlerweile leiden wir nur noch unter Muskelkater und Zerrungen.“
„Wie das?“
„Unterricht. Syra ist absolut eisern. Keine Ausreden, nicht einmal monatliches Unwohlsein oder Erkältungen.“
Sila lachte. „Ihr Armen. Ihr braucht eine ordentliche Mahlzeit und eine Pause.“
Adiv winkte ab. „Nein, schon gut. Wir haben uns daran gewöhnt. Deswegen sind wir ja hier. Die Männer und Syriakin wollen die Waffen begutachten und mit den Kampftrainern fachsimpeln.“
„Dann darfst du mir alle Neuigkeiten berichten. Endlich eine Frau zum Reden!“ Theatralisch warf Sila die Arme über den Kopf. „Verzeih, Akim. Es freut mich ebenso sehr, dich zu sehen.“
Kopfschüttelnd lächelte Akim.
„Wo ist Rana?“, fragte Adiv. „Hat sie sich erholt?“
„Es geht ihr gut. Ardannas Arznei half. Ylaiy und ich haben sie geschont, wo wir konnten. Zum Glück hat sie eingesehen, dass Körper und Geist Ruhe brauchten. Glück auch für mich: Ich weiß Talin immer gut aufgehoben und kann Ylaiy helfen.“
„Wie hat der Kleine alles verkraftet?“
„Er wächst und gedeiht. Läuft, plappert mit jedem Tag mehr. Rana ist oft mit ihm bei den Handwerkerhütten. Dort hat er andere Kinder um sich. Ein Segen für ihn.“
„Scheint, als hättet ihr das Schlimmste hinter euch. Du bist regelrecht aufgeblüht. Sieh dein Kleid an. Deine Frisur. Wirst du zur Hofdame?“, fragte Adiv in neckischem Tonfall.
Sila errötete. „Die Aufräumarbeiten sind im Wesentlichen abgeschlossen. Jetzt bin ich viel im Haupthaus, rede mit dem Rat und so. Da ziemt es sich nicht, in einem Kittelkleid herumzulaufen oder mit offenen Haaren.“
„Du siehst sehr gut aus“, warf Akim ein. „Ylaiy ist bestimmt stolz und froh, dich an seiner Seite zu haben.“
„So weit sind wir noch lange nicht“, seufzte Sila. „Eher wie Kriegskameraden, die sich aufeinander verlassen können.“
„Besser als nichts.“
„Wohl wahr. Also - wo treiben die anderen sich herum?“
„Ylaiy ist mit Jonoy, Mehlau, Shesh und Syra zu dem Drahtzieher gegangen, Gillok und Nou wollten sich die Arena anschauen. Akim und ich freuten uns darauf, dich Rana und Talin sehen. Und den Palast.“
„Dann führe ich euch mal herum, bevor wir essen.“
Sila bat die Küchenmägde, weitere Schüsseln mit eingelegtem Obst aufzutragen und gesalzenen Fisch aus den Bottichen zu holen. Ihre Gäste protestierten, doch Sila winkte ab. „Ihr seht alle aus, als könntet ihr ein paar zusätzliche Happen vertragen. Syriakin, lasst Euch sagen, dass Essen die Moral der Truppen hebt.“
Die Sumpffrau runzelte die Stirn, während am Tisch Gelächter ausbrach. „Mit vollem Magen kämpft es sich schlecht.“
„Mit leeren Bäuchen auch. Ihr seid alle zu dünn.“
„Stimmt“, brummte Jonoy, sich auf den fassartigen Leib klopfend.
„Perth hungert“, sagte Akim in das Gelächter hinein. „Es ist nicht leicht, so viele Gäste in Zeiten der Dürre sattzubekommen.“
Schlagartig wurde Sila ernst. „Du hast recht. Verzeiht. Das hatte ich vergessen. Ist es immer noch so schlimm?“
„Der Winter wird hart. Manche Menschen helfen sich gegenseitig, aber Wucherer gibt es allerorts. Die Armen verzweifeln. Man hört von Plünderungen und Überfällen.“
„Oje“, seufzte Sila und sah Ylaiy an. „Was können wir unternehmen?“
„Ich spreche morgen mit dem Rat. Truppenaufstockungen und Nahrungslieferungen, denke ich. Doch die Kornkammern Yruishs sind auch nicht gerade gefüllt. Engpässe gibt es selbst im Palast.“
„Schwer zu glauben angesichts dieser Pracht“, sagte Gillok und musterte die reichlich gedeckte Tafel.
Sila ließ sich auf ihren Stuhl fallen. „Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.“
„Solange der Frost nicht zubeißt, gibt es Fische und Wild“, beruhigte Nou.
„Und Wurzelgemüse gedeiht immer irgendwie“, fügte Rana hinzu. „Vielleicht nicht gerade üppig, aber es reicht.“
„Nicht jeder versteht sich auf die Jagd“, gab Shesh zu bedenken. „Lange Zeit ernährten uns die Kinder.“ Er erzählte von den Ausflügen Kians und Ciycains.
Die Erwähnung der Kinder ließ das Gespräch verstummen.
„Wissen wir irgendetwas Neues?“, wagte Ylaiy schließlich einen Vorstoß.
„Wie sicher ist dieser Raum?“, fragte Akim.
Thragesh stellte seinen Becher ab. „Nou und ich haben ihn vorhin überprüft. Er ist sicher.“
„Kian trifft mich oder Jonoy zu unregelmäßigen Zeiten an wechselnden Orten.“
„Werdet ihr beobachtet?“, fragte Ylaiy.
„Er spürt keine unmittelbare Gefahr. Elphen mag sich noch in Perth aufhalten, aber nicht in der Nähe der Residenz. Kian ist sehr vorsichtig. Seine Späher beobachten uns, hinterlassen bestimmte Zeichen, wenn er mich treffen will. Er ist gekleidet wie die anderen Jungen, benimmt sich wie sie. Einige von ihnen reiben ihre Haut mit Asche und Ruß ein.“
„Doppelgänger?“
„Elphen kennt die Kinder nicht. Hoffentlich lässt er sich weiterhin täuschen.“
„Weiß er, dass Kian noch in Perth ist?“
„Ich denke nicht. Ich hoffe nicht.“
„In der Zelle versicherte Kian mir, dass es Ciycain gut ginge.“ Syriakin brachte den Satz heraus, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Gillok gelang das weniger gut. Seine Augen glänzten traurig.
„Sie sind alle am Leben“, sagte Akim fest. „Kian ist sich sicher.“
„Wie kann er das?“, fragte Rana.
„Irgendwie kommunizieren sie miteinander. Sie spüren sich, mittlerweile sogar über weite Entfernungen. Die Magie verbindet sie.“
„Man sagt, Mütter spürten den Tod ihrer Kinder“, sinnierte Rana laut. „Möglicherweise gibt es dieses unsichtbare Band auch zwischen den Kindern.“
„Ciycain ist in den Sümpfen untergetaucht“, ging Syriakin über die Bemerkung hinweg.
„Wie kommst du darauf?“, wollte Adiv wissen.
„Es ist ihre Heimat. Voller Verstecke, schwer zugänglich.“
„Spürst du sie?“
„Wegen der Magie in meinem Blut?“
„Ja.“
„Nein.“
„Ganz sicher?“
Die Sumpffrau holte tief Luft, schüttelte dann den Kopf. „Manchmal glaube ich, sie zu spüren, aber das ist möglicherweise nur ein Wunsch. Man darf sich damit nicht verrückt machen.“
Gillok drückte ihre Hand. „Es geht ihr gut. Alles andere würdest du merken. Gewiss ist sie in Yanois und schwimmt im Meer.“
Syriakin richtete sich auf. „Wir müssen Elphen finden. Die Kinder können sich nicht ewig verstecken.“
Ylaiy sah sie der Reihe nach an. „Wir müssen auch die Kinder finden. Ihr wisst, dass die Magie etwas mit ihnen macht.“
Adiv wurde blass. „Aber doch nur, wenn sie in die Nähe einer Quelle gelangen. Der Älteste ist so entstellt, weil er an einer lebt.“
Langsam schüttelte Ylaiy den Kopf. „Vergiss Drahórsul nicht. Die Boragha. Gerade Arlen ist doppelt gefährdet.“
„Hört auf!“
„Adiv“, sagte Ylaiy sanft. „Sie wachsen rasant. Sie sind acht oder neun, doch wer sie nicht kennt, hält sie für viel älter. Keiner von ihnen hat noch Milchzähne. Den Jungen sprießt Bartflaum, ihre Stimmen klingen tiefer. Ciycain sieht aus wie eine Frau. Ist sie schon so weit?“, wandte er sich an Syriakin.
Diese starrte Ylaiy lange an, bevor sie nickte.
„Ziemlich früh für ein Mädchen, nicht wahr?“
„Schon“, antwortete Rana an Syriakins Stelle. „Aber auch kein Einzelfall. Bei manchen setzt die Blutung zeitig ein.“
„Über ihre ... Talente haben wir früher bereits geredet“, mischte sich Jonoy ein. „Und die magischen Explosionen, wenn sie aufeinandertreffen, haben wir erlebt. Sie sind da draußen allein mit diesem Hort an Kraft in sich. Können sie sie bündeln? Beherrschen? Oder frisst die Magie sie auf?“
Adiv legte ihren Apfel auf den Teller, faltete die Hände und schloss die Augen. Syriakin hingegen stand auf, trat zur nächsten Wand und starrte sie an.
„Arlen hat diese Sache mit dem Blut gemacht“, sagte Akim langsam, beinahe entschuldigend. „Kian berichtete, dass er in das Blut hineingesehen hatte. Er sieht die Krankheiten.“
„Er greift in das Bewusstsein der Kranken“, ergänzte Adiv mit tonloser Stimme. „Vielleicht kann er das bei allen. Das Bewusstsein manipulieren.“ Ihr Gesicht verzog sich.
Syriakin drehte sich um. „Kian auch. Ich habe ihn gespürt in mir. Nicht in meinem Kopf, nicht von mir Besitz ergreifend, aber irgendwie war er da.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie alle können das.“
„Wir müssen sie finden“, wiederholte Jonoy.
„Und führen Elphen direkt zu ihnen“, wandte Shesh ein.
„Wo wollt ihr überhaupt anfangen zu suchen?“, fragte Rana. „Ihr vermutet Ciycain in den Sümpfen, ihr wisst Kian in Perth. Was ist mit Arlen und Yvain?“
„Kian zeigte in die ungefähre Richtung“, murmelte Akim. „Mehr nicht.“
„So kommen wir nicht weiter“, seufzte Ylaiy. „Der andere Weg ist der bessere. Elphen aufstöbern. Er kann nicht weit weg von Perth sein. Tijua war schwer verletzt und sie kamen in die Zelle. Wenn wir die Gefahr beseitigen, kehren die Kinder von sich aus zurück.“
„Aber wie?“, flüsterte Adiv. „Älter als wir? Entstellt? Geschädigt?“
„So schnell verändern sie sich nicht“, beruhigte Gillok. „Sie sind erst ein paar Monate weg.“
„Über ein Vierteljahr“, korrigierte Nou.
„Sie sind den Quellen nicht länger ausgesetzt.“
„Vergesst die Majestes nicht“, seufzte Adiv. „Mutter warnte mich ausdrücklich vor ihnen. Elphen und Kalphon sind die eine Gefahr, in der Boragha lauert die zweite.“
„Eins nach dem anderen.“ Syriakin drückte sich von der Wand ab. „Elphen und seine Schwadron zuerst. Sie sind die unmittelbare Gefahr. Wir trainieren bis zur Letzten Nacht. Danach suchen wir Perth ab. Systematisch, Stück für Stück. Dann sind die Quellen dran.“
Shesh stieß ein bellendes Lachen aus. „Ihr wollt sie alle verschließen.“
„Wir müssen die Magie vernichten, ein für allemal.“
„Dann hättet ihr immerhin die Kinder“, sagte eine leise Stimme. Alle Köpfe fuhren herum zu Mehlau, der zusammengesunken am Tisch saß. „Wenn alles klappt, meine ich. Wenn die Chausselles besiegt und die Kinder zurück sind, könnten sie euch helfen. Es wäre doch dumm, ihre Magie nicht einzusetzen gegen die Magie. So wie man Feuer mit Feuer bekämpft.“
„Mehlau!“, herrschte Jonoy den Gesellen an. „Sie sollen nicht zaubern, verstehst du? Wir wollen sie schützen.“
„Es ist in ihnen. Egal, was ihr tut, es ist bereits da. Und wenn sie die Quellen vernichtet haben, ist sie weg. Sie setzen sie nur dafür ein.“
Tumult brach aus, als die Gefährten begannen, lautstark miteinander zu diskutieren. Jeder redete gleichzeitig, während Mehlau immer mehr in sich zusammensank.
Nur Akim und Syriakin schwiegen und maßen einander mit langen Blicken.
„Wir wissen nicht, was es mit ihnen macht“, sagte der Wüstenmann schließlich leise, als spräche er nur zu ihr.
„Es wütet in ihnen, so oder so. Vielleicht müssen sie es freilassen.“
„Das weißt du nicht!“
„Nein. Aber wir müssen die Quellen versiegeln. Ki akku ninu liegt im Herzen Berlens. Die Kinder und du sind möglicherweise die Einzigen, die nahe genug herankommen. Ihr seid diejenigen, die sie verschließen müssen. Wir anderen verkochen. So hat es Gradh erzählt, nicht wahr?“
Akim nickte mit äschernem Gesicht.
„Deine Großmutter hat es versucht. Selbst sie hat es nicht vermocht. Wer sonst sollte es tun?“
„Halt!“ Ylaiy trat zwischen den Wüstenmann und die Sumpffrau. „Chada wollte die Quelle verschließen? Dafür gibt es keine Beweise.“
„Gill und ich haben darüber nachgedacht. Chada starb in Ki akku ninu.“
Akim schüttelte den Kopf. „Sie war mit Händlern unterwegs, als sie starb. Ein Sandsturm trieb sie zu weit ins Wüsteninnere. Von einer Quelle erwähnte Gradh nichts.“
„Möglicherweise wehrte sich die Quelle mit einem Sturm. Der Norogdún setzte ebenfalls Naturgewalten ein, um uns aufzuhalten.“
„Niemals hätte sie unschuldige Reisende mit hineingezogen.“
„Sie tat nur Gutes“, dröhnte Jonoy. „Sie war ein guter Mensch, durch und durch. Sie half uns sogar auf Drahórsul, als Geist oder Illusion. Egal, als was, ihre Kraft sickerte bis in den Norden.“
„Whoa!“, stieß Sila aus und griff sich an die Stirn. „Das wird mir zu viel! Ich denke, wir sollten alle ein paar Stunden ruhen. Morgen und übermorgen stehen eure Kämpfe im Ring an. Geht zu Bett!“
„Ich bin sowieso noch verabredet.“ Shesh zwinkerte den anderen zu, stand auf und streckte sich. „Ich wünsche eine gute Nacht.“
Während Bedienstete herbei strömten und das Geschirr abtrugen, verabschiedeten sich Mehlau und Nou. Auch Rana und Sila empfahlen sich, nachdem die Tafel abgedeckt war. Gillok gähnte, küsste Syriakin auf den Hinterkopf, ermahnte sie, nicht zu lange aufzubleiben, und verschwand.
Als die Tür ins Schloss gefallen war, plumpste Ylaiy auf seinen Stuhl. „Uff! Die Kinder einzubeziehen, ist neu. Bislang habt Ihr Euch mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.“
„Das tue ich noch“, erwiderte Syriakin. „Doch Mehlau trifft es auf den Punkt. Maji ist in ihnen. Gegen die Chausselles haben wir auch ohne Magie eine Chance. Es wird schwer, aber nicht unmöglich. Die Quellen ... nein.“
„Syra!“ Adiv starrte ihre Freundin entsetzt an.
„Ki akku ninu ist für uns nicht zugänglich, falls Gradhs Geschichten stimmen. Die Meeresquelle liegt unter Wasser, wie tief, weiß kein Mensch. Wer sonst sollte sie erreichen? Madif und Fraga-í. Akim, Gill, Nou und ich. Vier. Das schaffen wir nicht.“
„Uns fällt was ein. Ein ... ein Mechanismus, eine Vorrichtung. Ylaiy und die Tüftler aus Perth erfinden irgendwas.“
„Wie lang soll das dauern? Jahrhunderte, wie in der Boragha?“ Syriakin trat näher an die jüngere Frau heran. „Sie tun es einmal. Für sich selbst. Sie befreien sich mit Magie von der Magie. Ich sehe keinen anderen Weg.“
Lange starrte sie Adiv an, danach Akim. Der senkte den Kopf und versank in Schweigen. Nach vielen Minuten nickte er. „Nur dieses eine Mal. Gegen die Quellen.“
Adiv holte tief Luft und stieß sie durch die Nase aus. „Also gut. Einmal.“ Sie sah ihre Gefährten durchdringend an. Stumme Blicke besiegelten den Schwur. „Wie stellt ihr sie euch vor, die Quellen?“, fragte sie anschließend.
Akim überlegte. „Wie Wasser, das aus der Erde rieselt. Und du?“
„Ein Riss. Erinnerst du dich an das blaue Leuchten im Eis? An die Funken auf unserer Haut? So stelle ich mir die Quellen vor. Ein gezackter Riss, aus dem bläuliches Licht nach oben steigt. Eine Art Vorhang aus Licht. Und Ihr, alter Mann?“
Jonoy strich sich nachdenklich über den Bart. „Ein Loch im Boden, aus dem etwas quillt. Etwas Zähes. Wie das ölige Zeug damals in den Sümpfen.“
„Pech?“ Syriakin musterte den Schmied.
„So was in der Art. Nichts Gutes auf jeden Fall. Woran denkt Ihr?“
„An etwas Giftiges. Ein Schwarm. Eine Wolke.“
Akim erhob sich und ging zur Tür. „Womöglich sind sie nichts von alledem.“ Damit verabschiedete er sich.
„Oder alles zusammen“, ächzte Jonoy, winkte und folgte ihm.
Die Frauen und Ylaiy blieben sitzen. „Du denkst an etwas Dunkles, ich an helles Licht. Bezeichnend, nicht wahr?“, wandte Adiv sich an Syriakin.
„Hältst du die Magie plötzlich für etwas Gutes?“
„Die Kinder ließen die Eiswand schmelzen. Damit retteten sie uns. Sie haben auch diese Priesterinnen beseitigt.“
„Feuerwalze“, murmelte der Kaiser.
„Ardannas Fähigkeiten. Sie helfen.“
„Mhm.“ Unbewusst strich Syriakin sich über die vernarbte Wange.
„Der Blaukopf hingegen nutzte Magie, um Tod und Verderben zu bringen. Vielleicht ist sie nur der Stoff. Das Material. Was man daraus formt, liegt an dem, der sie einsetzt. Wie mit deinen Waffen. Du kannst sie benutzen, um zu jagen oder um zu töten.“
„Das ist dasselbe.“
„Falsch. Es ist eine Frage der Einstellung. Waffen können gut sein, wenn man sich verteidigen muss.“
„Waffen gibt es zu einem einzigen Zweck. Um zu töten. Alles andere sind Ausreden.“
„Unsinn. Du trägst sie, weil du in einer gefährlichen Welt lebst. Ein paar weniger täten es vermutlich auch, aber das ist nur meine Meinung.“
Ylaiy lachte leise auf.
„Jedenfalls halte ich diese Magie nicht für grundsätzlich verdorben. In den richtigen Händen wäre sie ein Geschenk. Meine Mutter denkt das auch.“
„Wer kann ihr widerstehen? Die Kinder waren ihr eine kurze Zeit lang ausgesetzt und sieh, was sie bewirkt. Meine Tochter sieht aus wie meine jüngere Schwester, errät meine Gedanken, noch bevor ich sie ausspreche. Was wird aus ihr? Bestimmt würde sie Gutes wirken, aber geht sie dabei zugrunde?“
In Ylaiy zog sich etwas zusammen. Dies war einer der seltenen Momente, in denen er einen Blick auf das Innere der Kriegerin erhaschte. Die Verletzlichkeit hinter ihren Mauern berührte ihn.
Syriakin massierte sich die Stirn. „Manchmal schaue ich sie an und sehe ihn.“
Adiv erstarrte. „Den Blaukopf?“
„Er war geschädigt, an Körper und Geist. Wie der Älteste.“
„Inzucht“, sagte Ylaiy.
Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. „Was, wenn die Kinder zu Monstren werden?“
„Zu Eisriesen?“ Adiv fröstelte.
„Eisriesen. Geschlechtslose Skelette mit schwarzen Zungen.“
„Bis vor drei Monaten zeigten sie keinerlei Anzeichen von Entartung“, entgegnete Ylaiy. „Eher das Gegenteil. Aber wir sollten sie beobachten. Kian. Wir sollten Kian nach Symptomen absuchen.“
„Wonach genau? Nach blauer Haut?“ Adiv klang bestürzt.
„Dünner Haut“, korrigierte Syriakin. „Sie wirkte bläulich wegen der Kälte und den Blutgefäßen.“ Ihre Finger pulten an der verschorften Stelle unweit ihres Schlüsselbeins, welche die schuppige Zunge des Norogdúns hinterlassen hatte. „Hautveränderungen aller Art sollten wir ernst nehmen.“
„Ebenso Deformationen an den Knochen“, ergänzte Ylaiy. „Erinnert euch an seine Nase und die seltsamen Lippen und Ohren.“
Adiv zuckte zusammen. „Er hatte keine Haare. Verlieren die Kinder ihr Haar?“
„Im Gegenteil“, erwiderte Syriakin. „Es wächst so schnell wie alles an ihnen.“
Danach verstummte das Gespräch und sie sahen sich an. Unbehagen schwebte zwischen ihnen, bis Adiv mit der Faust durch die Luft hieb. „Nein! Sie werden keine Monstren!“
„Und? Glaubst du immer noch, Frauen könnten nicht kämpfen?“ Sem schob sich neben seinen Bruder und lehnte sich auf das Geländer.
„Sie versteht ihr Handwerk, das muss man ihr lassen. Unausgebildete Männer hätten es schwer gegen sie. Trotzdem. Frauen sollten so etwas nicht tun. Es gebührt sich nicht.“
„Du würdest es Evie und deinen Töchtern verbieten?“
„Selbstverständlich! Jeder anständige Mann würde das.“
„Warum?“
„Was meinst du mit warum? Weil das der rechte Weg ist.“
„Was ist falsch daran, wenn sie kämpfen? Rana hat gekämpft und gewonnen.“
Joma seufzte. „Rana, eh? Vielleicht ist sie doch nicht so gut für dich. Sie pflanzt dir seltsame Gedanken ein.“
„Schon möglich. Dennoch bin ich froh, dass sie diesem Scheusal entkommen konnte. Lange genug, dass die Männer sie retteten.“
„Eben. Männer retten.“
„Ein Mann war es, der sie in Gefahr brachte. Solange es Kerle wie ihn gibt, müssen Frauen sich verteidigen können.“
Joma starrte den älteren Bruder an. Schließlich schnaubte er kopfschüttelnd. „Von mir aus soll es Kämpferinnen geben. Ihre Entscheidung. Aber kein Mann wird sie haben wollen. Wir mögen etwas Weiches, Anschmiegsames im Bett, keine Muskelprotze.“
Sem stöhnte. „Du musst blind sein. Sieh sie dir an! Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe.“
„Verschwitzt. Dreckig. In Männerkleidung. Ihr Gesicht ist rot wie ein Apfel.“
„Gestern, im Haupthaus, trug sie ihr Haar offen. Es sah aus wie eine goldene Lohe. Ihre Augen strahlten wie ein Hochsommerhimmel. Sie hat einen Körper wie eine Göttin. Kein Mann dieser Welt würde sie aus dem Bett stoßen. Die Frage ist, wen sie hereinlässt.“ Sem lächelte. „Sila weiß sich auch zu verteidigen, wie wir beide wissen, und nach ihr hat sich schon so mancher Mann umgedreht. Der Kaiser inbegriffen.“
Joma kaute auf seiner Lippe. „Ich habe die andere gesehen, die Wilde.“
„Rana meint, sie sei die Beste von allen.“
„Besser als die Frau, die der Kaisermörder bei sich hatte? Man erzählt sich die reinsten Schauermärchen über dieses Weib. Besser als der Kaisermörder selbst? Oder Vei? Ich glaube nicht.“
„Warum urteilen wir nicht allein? Sie ist die Nächste, schau.“
Im Ring rappelten sich die beiden Kämpfenden aus Stroh und Sägespänen. Das spärliche Publikum, bestehend aus Handwerkern und Wachen, klatschte Beifall.
„Wer hat gewonnen?“, raunte Joma.
„Es ging nicht um Sieg oder Niederlage. Sie üben nur ihre Techniken.“
Joma beobachtete stumm, wie die Frau sich Strohhalme aus dem zerwühlten Haar pflückte und den Knoten löste. Rotgoldene Locken rauschten über ihre Schultern. Er hörte zwei oder drei Anwesende anerkennend raunen und musterte ihre Gestalt. Sie war schlank, ihre Hüften und Beine wohlgeformt. Ihr Oberkörper gab allerdings nicht viel her, glich dem eines jungen Mädchens.
„Evies Oberweite gefällt mir besser“, flüsterte er Sem zu.
„Evie schnürt sich auch nicht ein.“
„Was?“ Entgeistert starrte Joma seinen Bruder an.
„Sie trägt eine Kampfkluft. Ein Lederkorsett vermutlich.“ Kopfschüttelnd verdrehte Sem die Augen.
Der magere, dunkelhäutige Mann bürstete der rothaarigen Schönheit Späne vom Rücken, wechselte einige Worte mit ihr und geleitete sie aus dem Kampfring. Die zwei wirkten vertraut miteinander, wie Bruder und Schwester. Vor der dunkelhaarigen Frau blieben sie kurz stehen. Diese schien ihnen mit sparsamen Gesten Ratschläge zu erteilen. Ihr Urteil fiel augenscheinlich wohlwollend aus, denn die beiden lächelten.
Dann winkte die Schwarzhaarige ihren Gegner herbei, einen breitschultrigen Mann, der ihr auffallend ähnlich sah.
„Noch ein Wilder“, brummte Joma.
„Sumpfleute“, erwiderte Sem. „Rana sagt, ihr Volk sei beinahe ausgestorben.“
„Wo leben sie? Kânegg, oder?“
„Mhm. Zurückgezogen in den Sümpfen. Bevor Vei den Krieg gegen sie entfachte, auch an den Küsten und in den Wäldern.“
„Welchen Krieg? Wann?“
„Vor ein paar Jahren.“
„Davon habe ich nichts mitbekommen.“
„Niemand hat das, nur die Soldaten in den Militärlagern und das Sumpfvolk. Rate, wer gewonnen hat.“
„Hat Rana dir das erzählt?“
„Sila.“
„Warum?“
„Ich habe sie gefragt, wer die Besucher seien.“
„Der Schmiedelehrling heißt Mehlau, so viel weiß ich. Sein Meister Jonoy. Ihren Namen habe ich auch gehört. Klang kompliziert.“
„Syriakin“, wisperte Sem, da die Trägerin des Namens eben das Kampfrund betrat, gefolgt von dem Mann, der wie sie in Leder gekleidet war. „Ihr Gefährte nennt sich Gillok. Die Rothaarige ist Adiv, der Wüstenmann Akim. Dann gibt es noch den Zottelbären, wie ich ihn nenne. Thragesh.“
„Der mit den Zöpfen?“
„Mhm. Er war mal Soldat. Hinter der Absperrung verbirgt sich ein zweiter Sumpfmann, jünger als die beiden im Ring. Nou. Gestern hat er gegen den Bären gekämpft, Geschwindigkeit gegen pure Kraft.“
„Und was sind sie? Freunde des Kaisers?“
„Weißt du noch, vor ein paar Jahren? Da ging er mit Sila und Rana auf eine lange Reise. Sie begleiteten den Inquisitor, der dann starb. Der vor tan Sayan.“
„Vage.“
„Jedenfalls kennt er sie von damals. Angeblich hat er mit ihnen gegen ein Monster gekämpft.“
„Gegen das geflügelte? Jetzt erinnere ich mich. Es gab Aufruhr wegen eines Jungen und eines Greises. Oh! Das waren der Schmied und der Wüstenmann?“
„Keine Ahnung, wie alles genau zusammenhängt, aber seit Vei und diesem Chausselles ist der Kaiser auf der Hut. Hat die alten Gefährten zusammengetrommelt. Sie bereiten sich vor.“
„Worauf?“
Sem hob die Achseln. „Chausselles, nehme ich an. Er und seine Spießgesellen sind bislang nicht gefasst. Vielleicht suchen sie auch nach Veis untergetauchten Kumpanen. Oder es droht eine Gefahr von anderswoher. Die Elboin sind angeschlagen und in den Provinzen brodelt es ja immer wieder mal. Womöglich gibt es noch irgendwo einen, der auf den Thron will.“
„Unsinn. Der Thron gehört den Elboin. Von je her.“
„Sei nicht naiv. Es gab eine Zeit vor den Elboin. Jetzt still! Sie fangen an.“
Die wenigen Zuschauer verstummten, als die beiden Sumpfleute in die Mitte der Arena traten und sich umrundeten wie zwei rivalisierende Kater; mit schleichenden, kraftvollen Bewegungen, abwartend, den Gegner einschätzend. Die Sumpffrau hielt eine kleine Streitaxt in der rechten Hand, der Mann einen Morgenstern. Keiner von ihnen trug einen Schild. Offenbar vertrauten sie auf die schmalen Metallschienen um ihre Unterarme und ihre Geschwindigkeit.
Jählings machte der Mann, Gillok, einen Ausfallschritt, schwang den eisernen Stern. Joma japste erschrocken, doch die Wilde hatte längst ihren Oberkörper zurückgeschwungen und ihrerseits mit der Axt angegriffen. Sie traf ihren Gegner genauso wenig wie er sie. In den nächsten Minuten pendelten sie in einer raschen Abfolge von Attacken und Ausweichmanövern hin und her. Joma begriff bald, dass keiner der beiden verbissen kämpfte, sondern sich ausprobierte, experimentierte, mit den Waffen spielte. Es ging nicht darum, einander zu verletzen, auch wenn sie nicht zimperlich miteinander umgingen. Mehr als einmal hämmerte Metall auf Metall, dass es knirschte und Funken stoben. Auch die Schienen bekamen Stöße und Schwünge ab. Späne stiegen in die Luft, umhüllten die Kämpfenden. Unmöglich zu sagen, wer die Oberhand gewann. Der Sumpfmann schien stärker und wuchtiger, sie gewandter und gewitzter. In Sachen Schnelligkeit und Ausdauer schenkten sie sich nichts. Selbst nach vielen Minuten atmeten sie gleichmäßig, bewegten sich so geschmeidig wie zu Beginn.
Schließlich drosch der Morgenstern ihr die Axt aus der Hand. Sofort senkte sie den Kopf und griff den größeren Mann direkt an. Resolut ergriff sie seinen linken Arm, stellte ihm ein Bein und hebelte ihn über ihre Hüfte. Stroh stob auf. Sie warf sich auf ihn, wollte ihm an die Kehle, doch blitzschnell hatte er die Beine angezogen und in ihrem Nacken gekreuzt. Dann rollte er hin und her, während sie versuchte, sich aus der Beinklammer zu befreien.
„Du sagtest, sie wäre seine Gefährtin“, wandte Joma sich an Sem.
„Sie hält das aus.“ Rana war auf leisen Sohlen zu ihnen getreten, eingehüllt in einen langen Schal. Kurzes Haar kräuselte sich hinter ihren Ohren.
„Aber er würgt ihr die Luft ab.“
In diesem Augenblick stemmte Syriakin sich mit aller Kraft nach oben und rutschte zur Seite weg, auch wenn sie dabei ihr Genick verdrehte. Zeitgleich trat sie nach Gilloks Kopf, presste ihr Bein auf seinen Hals. Allein der Anblick des verrenkten Körpers schmerzte.
Beide ließen gleichzeitig los und blieben nach Luft schnappend liegen, halfen sich anschließend gegenseitig auf. Sie dehnte vorsichtig ihren Kopf in alle Richtungen, bevor sie sich nach der Streitaxt bückte und sie ihm mit abschätzigem Gesicht reichte. Joma konnte nicht hören, was sie sagte, doch sie schien unzufrieden mit der klobigen Waffe. Gillok legte ihr einen Arm um die Hüfte und zog sie an sich. Sie wich ihm aus. Grinsend gab er ihr die Axt zurück.
Auch Rana lächelte. „Sie hat gewonnen, aber sie weiß, dass es knapp war. Beim nächsten Mal wird sie den Fehler nicht wiederholen.“
„Ich finde, er hat gesiegt“, widersprach Joma. „Wäre sie nicht seine Gefährtin, hätte er sie erwürgt.“
„Deshalb ist sie besser.“
Joma und Sem blickten Rana fragend an.
„Sie ist skrupelloser.“
Plötzlich entstand Getuschel und Bewegung im Halbdunkel am Rande des Kampfrings. Beide Sumpfleute erstarrten sofort, erhoben Axt und Morgenstern.
Aus der staubigen Düsternis schälte sich ein Mann, schmächtig, spärlich bekleidet, unscheinbar. Farbloses Haar lag so glatt an seinem Schädel an, dass es kaum zu sehen war. Unbewaffnet und mit grimmigem Gesicht trat er in den Ring. Von ihm strahlte eine unsichtbare Gefahr aus. Das Publikum fror ein.
„Wer ist das?“, hauchte Joma, doch Rana schüttelte nur den Kopf.
Dann ließen die beiden Sumpfleute die Waffen sinken und unter den Gefährten am Rand lockerte sich die Anspannung.
„Nebunedzad.“ Der Sumpfmann ging auf den Neuankömmling zu, der den Kopf zu einem stummen Gruß senkte. „Was führt Euch hierher?“
Der Fremde drehte leicht das Haupt. Joma folgte der Bewegung und erkannte Ylaiy im Eingang der Arena. Neben ihm stand ein zweiter unbekannter Mann, der Nebunedzad ähnelte.
„Cehaj.“ Der Sumpfmann setzte ein Lächeln auf. „Ba’dha’ha e.“
Der Angesprochene kreuzte die Arme vor der Brust und deutete eine Verbeugung an.
„Habt Ihr sie eingeladen?“, wandte Gillok sich an Ylaiy.
„Auf Kanouepes Wunsch hin habe ich zwei Wachen zur Boragha gesandt. Sie kamen eben an.“
Adiv schob sich an dem Wüstenmann vorbei in den Ring. „Fragt sie, wie es meiner Mutter geht! Bitte, Gillok!“
Der Sumpfmann hob beruhigend den Arm und erkundigte sich leise in einer Sprache, die Joma nicht verstand. Nebunedzad antwortete im selben Kauderwelsch. Augenscheinlich war es nicht dieselbe Sprache wie die der Sumpfleute, denn sowohl Gillok als auch seine Gefährtin runzelten die Stirn. Ein oder zweimal musste Gillok nachfragen, bevor er sich an Adiv wandte. „Etahpe und Chries geht es gut, unseren Bekannten ebenso. Es gibt keine Neuigkeiten von den Würmern.“
Joma sah Sem verständnislos an, doch der hob nur die Brauen. Falls Rana aus den Worten schlau wurde, ließ sie es sich nicht anmerken.
Nebunedzad war unterdessen zu Gillok getreten, bat um den Morgenstern, betrachtete ihn von allen Seiten. Mit einem verächtlichen Schnauben gab er ihn zurück. Syriakin warf ihm die Streitaxt zu, die er ebenso gründlich musterte, in der Hand wog, balancierte. Dann schüttelte er den Kopf, schaute sich zu seinem Gefährten um und sagte etwas. Cehaj trat an das Waffenregal zu seiner Linken und fischte eine schmalere, kleinere Variante der Axt heraus.
„Man nennt sie Schmetterling“, erläuterte der Kaiser. „Wegen der Doppelklinge. Ein Wurfbeil.“
Cehaj schleuderte die Waffe in Richtung der Sumpffrau. Diese duckte sich zur Seite und fing das Beil am hölzernen Stiel, bevor es sich in den Boden bohrte. „Leichter als die Axt“, sagte sie. „Handlicher.“
Nebunedzad griff ohne Vorwarnung von hinten an, noch ehe sie sich ganz aufgerichtet hatte.
Die Menge schrie auf, ebenso wie die Gefährten am Ringrand.
Syriakin rollte über ihre Schulter ab, kam auf die Beine und drehte sich um, alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Sie muss Augen im Hinterkopf haben oder einen sechsten Sinn, schoss es Joma durch den Kopf. Die Sumpffrau hob die linke Hand und hielt damit ihre Freunde zurück. Auf ihrem Gesicht erschien ein dünnes Lächeln.
Nebunedzad lächelte nicht. Konzentriert erfassten seine farblosen Augen ihre Gestalt, das Beil in ihrer Rechten. Die Lockerheit schwand, als Muskeln und Sehnen sich anspannten und seine Sinne sich öffneten.
Er wartete nicht auf ihren Angriff. Ansatzlos kam er auf sie zu, täuschte an, wich aus und attackierte sie gleich darauf von der Seite. Sie konterte mit weiten Schwüngen und schnellen Drehungen ihres Körpers, wie eine Walze mit ausgestreckten Armen. Der Schmetterling sauste knapp am Hals ihres Gegners vorbei.
Rasch änderte Nebunedzad die Taktik, glitt aus ihrem Radius auf den Boden und griff sie von unten an. Sie trampelte nach ihm, als würde sie nach Ungeziefer treten. Immer wieder sprang er sie aus der Hocke an oder fasste nach ihren Beinen, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie stolperte, wehrte die Angriffe ansonsten erfolgreich ab, erhielt jedoch keine Gelegenheit, ihrerseits zu attackieren. Er trieb sie durch den Ring, jagte sie, bekam sie indes ebenso wenig zu fassen wie sie ihn.
Joma bemerkte nicht, wie die Zeit verrann. Wie gebannt starrte er auf die Kämpfenden, die mit akrobatischer Leichtigkeit durch den Ring hetzten. Er konnte nicht sagen, wer von beiden über den anderen triumphierte. Anfangs hätte er all sein Geld auf den schmalen Mann gesetzt, aber er musste sich eingestehen, dass die Sumpffrau eine harte Gegnerin abgab. Noch hatte sie Nebunedzad kaum berührt, im Gegensatz zu ihm mehrere Schläge eingesteckt, doch die Treffer brachten sie allenfalls kurz aus dem Takt. Das Beil verschaffte ihr einen Vorteil, den sie allerdings bislang nicht hatte nutzen können. Sie schwang es in verschiedenen Kurven und Kreisen, hackte damit, stach und hieb, Nebunedzad jedoch wich stets geschickt aus. Ein- oder zweimal hatte sie es wie zum Wurf erhoben, es wieder gesenkt. Offenbar war ihr das Risiko, zu verfehlen, zu hoch.
Jetzt waren die Kämpfenden an der Ringgrenze angekommen, einer hüfthohen Mauer aus übereinandergeschichteten Sandsäcken, die mit Tauen verzurrt waren. Die Soldaten, die am Ring standen, schreckten zurück, als Nebunedzad die Sumpffrau von vorn anging, und sie, anstatt zur Seite auszuweichen, rückwärts auf die Säcke sprang. Von dort aus federte sie auf ihren Gegner zu.
Die Zuschauer raunten auf. Nebunedzad duckte sich. Ihr Stiefel traf seine Schulter, brachte ihn ins Wanken. Sofort attackierte sie ihn mit einem Schlaghagel. Der Schmetterling tanzte hin und her, erste Schnittwunden erblühten auf den nackten Armen des Mannes. Nun war sie an der Reihe, ihn durch das Rund zu hetzen.
Nebunedzad verschaffte sich Abstand, indem er Luftrollen schlug wie ein Artist. Quer sprang er durch den Ring, zu schnell für sie, mit wirbelnden Armen und Beinen. Sie war schlau genug, ihm nicht weiter nachzusetzen. Stattdessen blieb sie stehen, wartete, bis er wieder auf beiden Füßen stand und sich nach ihr umsah.
Jählings steckte das Wurfbeil in ihrer linken Hand. Ihr Arm hob sich, deutete einen Wurf an. In dem Augenblick, in dem Nebunedzad sich erneut duckte, war sie hinter ihn gesprungen, hatte das Beil vor seinen Hals gelegt und es mit beiden Händen gepackt. Dann zog sie. Der Schaft grub sich unter seinem Kinn in die Kehle, raubte ihm die Luft.
Jubel brach unter einigen der Gefährten aus, doch die Freude kam zu früh. Der schmächtige Mann griff hinter sich, krallte sich in Syriakins ärmellose Weste und zog die Frau ruckartig über den Kopf. Sie ließ das Beil fallen, wobei eine der Klingen in ihre Hand schnitt. Nebunedzad wirbelte herum, drosch ihr den Ellenbogen in die Rippen und den flachen Handrücken ins Gesicht. Sie taumelte zurück. Sofort war er heran, riss ihre Arme nach hinten, verschraubte sie und brachte sie zu Fall. Sobald sie lag, presste er ihr ein Knie ins Kreuz.
„Besiegt“, quetschte er ein Wort auf Yr hervor.
„Nicht ganz“, zischte Gillok und sprang in den Ring.
„Gill“, keuchte die Sumpffrau. „Lass ihn! Er hat gewonnen.“
Gemeinsam mit den anderen Zuschauern stieß Joma erleichtert die Luft aus, als Gillok das Messer senkte, Nebunedzad die Kämpferin aus seiner Gewalt entließ und sie hochzog. Dann reichte er ihr die Hand und sie schlug ein. Gilloks Augen verengten sich, als der schmächtige Gewinner ihm einen Klaps auf den Oberarm gab, bevor er aus dem Kampfrund schritt und sich zu Cehaj und Ylaiy gesellte, dem das Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand.
Im Ring kümmerte sich Gillok um die Besiegte, die sich die Rippen hielt. Er untersuchte die blutende Hand und band ein Tuch darum, was Syriakin ungeduldig über sich ergehen ließ. Sobald er fertig war, ging sie zu ihren Gefährten.
„Puh“, stöhnte Joma. „Das war ja was.“
„Frauen können nicht kämpfen, was?“ Sem lachte.
„Tja. Na ja. Die möchte ich jedenfalls nicht in meinem Bett. Die macht mir eine Heidenangst.“
Ylaiy schreckte auf, als kräftige Schritte sich näherten. „Solltet Ihr nicht bei den anderen sein? Trainieren?“
„Tja, nun. Ich habe mir eine Auszeit genommen. Ich bin zu alt für stundenlanges Ringen. Für die Sumpfleute und Shesh bin ich ohnehin nur zweite Wahl.“
Schnaufend schnallte der Schmied einen breiten Gurt ab und warf ihn auf einen Sessel. Anschließend stemmte er die Arme in die Hüften und ließ stöhnend den Bauch kreisen, bevor er auf den Nachbarsessel sank.
„So anstrengend?“, erkundigte sich Ylaiy.
„Ihr macht Euch keine Vorstellung. Seit Cehaj und Nebunedzad hier sind, ist es noch einmal härter geworden. Weshalb seid Ihr von der Marter befreit?“
„Weil ich der Kaiser bin.“
„Richtig.“ Jonoy streckte die Beine aus und lehnte sich zurück. „Studiert Ihr?“
„Nur die Gobelins vom Speicher.“
„Ich hörte von Eurer neuen Leidenschaft. Ts. Teppiche.“
Ylaiy lächelte. „Kissen, Handtücher, sogar Tischdecken. Die Leute sticken die wildesten Dinge darauf. Ihr würdet Euch wundern.“
„Zum Beispiel?“
„Heldengeschichten, Chroniken, Kalendarien, Hochzeiten, Beerdigungen, Geburten. Liebesschwüre. Liebesakte. Höfische genauso wie, sagen wir ...“
„Realistische?“
„Saftige.“
Jonoy brach in polterndes Gelächter aus. „Ich verstehe. Kein Wunder, dass Ihr Euch so oft zurückzieht.“
Ylaiy setzte zu einem Protest an, fiel dann jedoch in das Lachen ein. Erst allmählich wurde er wieder ernst. „Blands letzter Wunsch war, dass ich alles sammle, alles aufschreibe. Jeden Schnipsel. Keine Geheimnisse mehr.“
Jonoy legte die Arme auf die Sessellehnen. „Es tut mir leid wegen Eures Mentors. Ihr vermisst ihn sehr, nicht wahr?“
„Oh ja.“ Ylaiys Gesicht hatte sich verschlossen. Gram trübte seine Augen.
„Tut mir leid“, wiederholte Jonoy.
„Bitte sprecht nicht mehr von ihm. Oder Paíre und meiner Mutter. Es ist besser, wenn ich nicht ständig an sie erinnert werde.“
„Erinnerungen kann man nicht entfliehen“, entgegnete der Schmied sanft. „Sie lauern überall. Glaubt einem alten Mann. Besser, man akzeptiert sie, hält sie fest und umarmt sie. Man lernt, mit ihnen umzugehen. Es dauert seine Zeit. Drei, vier Monate genügen nicht.“
„Nein.“
Für eine Weile versanken sie in Schweigen.
„Ihr habt Erstaunliches geleistet“, sagte Jonoy dann.
„Sila, Rana und der Rat hauptsächlich. Ich bin in Selbstmitleid versunken.“
„Das nennt man Trauern. Wahrscheinlich hat es Euch vor dem Verrücktwerden bewahrt. Macht Euch nicht zu viele Vorwürfe.“
„Habt Ihr getrauert?“
„Mein Geselle ist gestorben. Ein junger Mann, der das Leben noch vor sich hatte. Er ist gestorben, weil er mich beschützen wollte. Die Schuld frisst mich auf. Ich habe geheult, die Welt und mich verflucht. Ich lag nächtelang wach, ging durch die Tage wie durch Nebel. Mehr als einmal wollte ich mich betrinken, bis zur Besinnungslosigkeit, den Gedanken entfliehen ... “
„Habt Ihr?“
„Nein. Ich hatte noch einen Gesellen, ein halbes Kind. Schwer verletzt, am Boden zerstört. Ebenfalls wegen mir.“
„Sie hatten die Wahl, Jonoy. Wir haben sie ihnen gelassen, erinnert Ihr Euch?“
„Hatten sie die wirklich? Junge Kerle, abenteuerlustig, verantwortungsvoll, grün hinter den Ohren? Sie wussten doch gar nicht, auf was sie sich einließen.“ Als Ylaiy ihn betreten anblinzelte, schlug Jonoy sich auf die Knie, als wolle er sich selbst aufmuntern. „Vielleicht sollte ich zurück zum Training gehen. Irgendeiner Eurer Kampfmeister wollte uns im Stockkampf unterweisen. Ich wittere eine Gelegenheit, zur Abwechslung mal als Sieger hervorzugehen.“
„Am Nachmittag stoße ich zu Euch. Ihr alle werdet so erschöpft sein, dass ich den Hauch einer Chance habe, zu gewinnen.“
„Niemals gegen die Sumpfleute oder Shesh. Auch Akim wird schwer, der Junge hat gelernt zu kämpfen.“
„Oder gegen Euch.“
„Wie ich schon sagte: Ich bin zu alt.“
„Ihr tragt keine Schienen.“
Jonoy winkte ab. „Ich bräuchte doppelt so viel Metall wie die anderen.“
„Euer Lehrling wird es demnach werden.“
„Mhm. Seit Manneros Tod ist er nur noch eine Hülle, voller Furcht.“
„Er ist kein Feigling, höchstens unerfahren.“
„Versteht mich nicht falsch. Er ist ein guter Junge. Doch seht ihn an! Leere Augen, hölzernes Gesicht, jeglicher Humor verschwunden. Er hat Heimweh und Angst. Die Wunden schmerzen ihn, der Tod seines Freundes noch mehr. Er ist nur noch aus einem Grund hier.“
„Wegen Euch.“
„Tja.“ Jonoy atmete tief aus. „Er gehört nach Hause, zu Freunden und Familie, aber er wird nicht gehen ohne mich. Ohnehin weicht er kaum von meiner Seite.“
„Was können wir tun?“
„Auf ihn aufpassen. Ihn lehren, was wir können. Ich habe mit Gillok und Nou gesprochen. Sie achten auf ihn.“
„Er ist schlaksig, dünn wie eine Bohnenstange. Er braucht Kraft.“
„Deshalb gehört er nach Guyut, vor die essha. Ein Schmied hat Kraft.“
Ylaiy winkte Jonoy vor den Wandbehang. „Auf dem Gobelin ist ebenfalls ein Schmied dargestellt. Seht Ihr? Hier.“
„Gar nicht schlecht. Natürlich hat kein Mensch Arme dieses Umfangs.“
„Ach nein? Ich hörte, manche Schmiede fingen Jungen aus der Luft. Einarmig.“
„Das ist lange her. Ihr wisst, dass außergewöhnliche Situationen Bärenkräfte verleihen. - Was ist das? Eine Beschreibung aller Handwerke?“
„Das gibt es häufiger, als man denkt. Auch auf Pergament und neuerdings auf Papier.“
„Hm. Ziemlich alltäglich für so viel Aufwand.“
„Von diesen alltäglichen Darstellungen finden wir mehr als solche von Helden, Fantasiewesen oder Kriegen.“
„Dabei sind es die, die Ihr sucht, nicht wahr? Märchen, Mythen, Magie. Sie wollt Ihr erforschen, habe ich recht?“
„Beides. Mich interessiert besonders, wenn Mythos und Wirklichkeit aufeinandertreffen. Wie auf unserer Reise.“
„Hattet Ihr Erfolg?“
„Sucht man nach der Magie und magischen Wesen, findet man auffallend viele. Aufzeichnungen von ihnen gibt es seit langer Zeit. Wenn man bedenkt, dass die alten Völker kaum etwas schrieben oder zeichneten, kann man davon ausgehen, dass noch viel mehr erzählt wurde und die Anfänge weiter zurückreichen, als wir glauben. Bland und Paíre waren dem auf der Spur. Es ist faszinierend.“
Jonoy strich sich über den Bart. „Glaubt Ihr, dass die Menschen damit umgehen können? Mit der Aufdeckung all dieser Geheimnisse?“
„Wenn wir sie kennen, können wir handeln.“
„Aber locken sie nicht auch weitere finstere Gesellen an? Menschen mit Magie könnten sich zu Höherem berufen fühlen. Genauso gut könnten sie dafür geächtet werden.“
Ylaiy schwieg lange, schüttelte dann den Kopf. „Es ist Blands letzter Wunsch. Sein Vermächtnis.“
„Versprecht mir, dass Ihr wenigstens darüber nachdenkt.“
„Das kann ich am allerbesten, vertraut mir. Wir sehen uns nachher.“
„Bringt Sila mit. Ihre Augen glitzern jedes Mal, wenn sie die anderen kämpfen sieht. Gebt ihr Gelegenheit, sich auch zu probieren.“
Thragesh schlüpfte durch die Tür, zog sie leise ins Schloss und tapste den dämmerigen Gang entlang, sich im Gehen ein Hemd überstreifend. Als er das Türchen zum Hof aufzog, begrüßte ihn eine weiße Puderschicht auf dem Boden. Missmutig sah er an sich hinunter. Stoffhose, nachlässig in halb offene Stiefel gestopft, und ein Leinenhemd. Keine Weste, keine Jacke, nicht einmal ein Gürtel.
Grummelnd verfiel er in Laufschritt und sprintete über den erwachenden Hof. Im Kampfsaal traf er auf Kanouepe, der ihn grinsend musterte. „Gerade erwacht?“
„Hmm. Es schneit.“ Thragesh band seine feuchten Zöpfe zu einem Knäuel zusammen. „Sind die anderen schon da?“
„Gillok und Syriakin wärmen sich auf. Mit unseren Freunden aus der Boragha.“
„Schlafen die nie?“
„Sie gehen zeitiger zu Bett als du.“
„Langweilig.“
Kanouepe lachte leise auf. „Komm. Lass uns kämpfen, damit uns warm wird.“
„Mir ist nach einer Pause. Wir kämpfen seit Wochen ohne nennenswerte Unterbrechung. Sogar mein Liebesleben leidet darunter. Letzte Nacht bin ich nach dem ersten Mal eingeschlafen. Die Dame war enttäuscht. Wenn das die Runde macht ...“
„Nicht, wenn sie wirklich eine Dame ist. Und du hast Glück. Der erste Wintersturm braut sich zusammen, sagt Akim. Um die Mittagszeit herum werden die Gebäude verrammelt und alle ziehen sich zurück.“
„Den Göttern sei Dank!“
Einige Stunden später tobte der Sturm über Yruish. Schwarze Wolken türmten sich über der menschenleeren Stadt, schütteten Schnee auf Straßen, Gassen und Dächer. Die Torwächter bibberten in Wind und Kälte, Bettler und Tagelöhner drängten sich in Hauseingängen und unter Brücken. Wer Glück hatte und sich in der Nähe des Palasts befand, bekam ein Plätzchen auf dem Küchenfußboden und einen Becher heiße Suppe. Abgesehen vom Küchentrakt wirkte der Palast wie ausgestorben, stellten Sila und Ylaiy fest, als sie durch die Korridore schlenderten.
„Schlafen sie alle?“, wisperte Sila. „Es ist so ruhig.“
„Nur hier drinnen. Draußen rauscht und donnert es. Hörst du?“ Ylaiy hob einen Finger und sie lauschte.
„Friedlich irgendwie. Als wären wir beide die einzigen auf der Welt.“
„Ja.“
„Das hatten wir eine Ewigkeit nicht. Stille. Frieden.“
„Nein.“
Sie sah ihn an und lächelte zaghaft. „Ich vermisse unsere Zeit damals. Als Ihr noch Prinz wart.“
„Lass uns in den Sälen nach dem Rechten schauen.“
Sie biss sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Plötzlich trat er zu ihr, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie auf die Stirn. „Ich verdiene dich nicht“, sagte er leise, ihr in die Augen starrend.
Ihr Lächeln vertiefte sich. „Werdet nicht sentimental, Kaiser.“
„Was hältst du von einem Mittagsschläfchen?“
„Jetzt?“ Entgeisterung schwang in ihrer Stimme mit.
„Alle anderen ruhen sich aus, warum nicht auch wir? Der Sturm hat alles Leben lahmgelegt. Wir haben frei. Wenn irgendetwas passiert, wecken uns die Wachen oder unsere Freunde. Die Hälfte von ihnen schläft sowieso mit einem offenen Auge.“
„Das kommt mir falsch vor.“
Er stupste sie an. „Na los.“
„Eure Gemächer oder meine?“
„Besteht die Gefahr, dass Rana unangemeldet deine betritt?“
„Jederzeit.“
„Dann meine.“
Unauffällig musterte Adiv ihre blonde Freundin. Sila strahlte. Aufrecht saß sie neben Ylaiy, das Haar zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Einzelne Strähnen fielen ihr zu beiden Seiten ins Gesicht. Ein Tuch aus blauer Seide war um ihren Hals geschlungen, betonte ihre Augen. Talin saß auf ihrem Schoß, ein Spielzeug in den Händen.
Es war Nachmittag, doch draußen wurde es bereits dunkel. Der Sturm war weiter gezogen, wütete über dem Wasser. Er hatte Schnee und Glätte gebracht, und noch mehr Kälte. Vereinzelte Windstöße stiebten durch den Kamin und pfiffen um die Fenster.
Drinnen in dem kleinen Saal war es gemütlich. Bequeme Stühle waren um Tischchen gruppiert, auf denen Spielbretter, Karten und Würfel lagen. An der Wand stand eine Anrichte mit alkoholischen Getränken, Wasser, Tee, Gebäck und eingelegtem Obst. Bauschige, mannshohe Vorhänge schirmten den Blick nach außen ab, verstärkten das Gefühl von Sicherheit und Wärme.
Adiv betrachtete ihre ungewöhnlich stillen Gefährten. Gespräche wurden, wenn überhaupt, nur im Flüsterton geführt. Obwohl sie alle reichlich zu Mittag gegessen und danach geruht hatten, wirkten sie müde. Die körperlichen Mühen der letzten Wochen traten deutlich zutage. Es war, als hätte der Sturm jegliche Energie mit sich fortgeweht und Platz gemacht für Gedanken und Gefühle, die sie zu lange verdrängt hatten.
Nur Sila strahlte von innen heraus.
„Na fein“, murmelte sie.
„Was?“ Natürlich hatte Akim sie gehört und rutschte näher an sie heran.
Sie wies mit dem Kinn auf Sila. „Schau sie dir an. Ihre Wangen sind rosa, ihre Augen glänzen. Jede Wette, unter dem Tuch verbergen sich Liebesmale.“
„Woher weißt du das?“
„Weil ich selbst hin und wieder eins getragen habe.“
„Wirklich?“ Interessiert beugte Akim sich vor.
Adiv räusperte sich verlegen und lenkte ab. „Wo sind Nebunedzad und Cehaj? Sie nehmen nie an unseren Treffen teil, essen nicht einmal mit uns.“
„Möglicherweise sind sie lieber unter sich.“
„Sie sind immer so ernst. Ich werde nicht warm mit ihnen.“
„Ja, es scheint, als verstünden sich nur Syra und Gillok besser mit ihnen.“
Adiv wollte etwas erwidern, doch Ylaiy rief ihren Namen und sie wandte sich ihm zu, während der Raum verstummte.
„Habt ihr eigentlich Cledents Schreibtisch geöffnet?“
„Ja, und wir sind fündig geworden. Sabyns Beweise für Maxims Unterschlagungen steckten in einer Aushöhlung in einem der Beine. Sie hat eine Art Tagebuch geführt. Darin spricht sie auch über ihren Geliebten, aber sehr diskret. Im Prinzip erfährt man nichts über ihn. Außerdem schreibt sie, dass Maxim sie gezwungen hat, das Bett mit ihm zu teilen. Gut möglich, dass Aan seine Tochter war. Sie hasste ihren Schwiegervater von ganzem Herzen.“
„Arme Sabyn“, flüsterte Rana. „Arme Aan. Ohne Chance auf ein erfülltes Leben.“
„Vergiss nicht die Jahre, die du ihr gabst“, sagte Sila. „Sie war glücklich bei dir.“
„Ich habe sie weggegeben. Zu wildfremden Leuten.“
„Um sie vor Vei zu schützen. Wehe, du machst dir Vorwürfe!“
„Ich hätte sie besser schützen sollen.“
„Vor dem Obersten Befehlshaber? Dem Gemahl der Kaiserin? Wie denn?“ Jonoy schüttelte sich, als er an den Mann mit den eisigen Augen dachte. „Niemand mit Verstand stellte sich ihm in den Weg. Ihr habt getan, was Ihr konntet. Das war tapfer und nicht selbstverständlich. Und letztlich wissen wir nicht, wie es Aan erging. Möglicherweise gar nicht so schlecht.“
„Verbittert wirkte sie jedenfalls nicht“, sagte Adiv. „Arlen schenkte ihr Glück.“
„Als Baraten mir berichtete, dass meine Ziehtochter in der Boragha gelandet war, brach mir das Herz“, murmelte Rana. „Doch er versicherte mir, dass er die Hand über sie hielt.“
Adiv nickte. „So wie meine Eltern. Es hätte ihr weitaus schlechter gehen können.“
Ylaiy rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. „Weiß deine Mutter eigentlich mehr über sie? Hast du sie gefragt?“
„Wann denn? Als ich das letzte Mal dort war, war ich zu sehr damit beschäftigt, Elphens Tänzer abzuwehren, aus einer Folterkammer zu entkommen und zu begreifen, dass sie nicht gestorben war.“
„Wir sollten sie fragen, wenn wir sie das nächste Mal sehen.“
„Wozu? Nur, um herauszufinden, wer Arlens Vater war?“
„Willst du das nicht?“
Sie hob die Achseln. „Es spielt keine Rolle. Arlen ist magisch. Punkt.“
Akim schüttelte den Kopf. „Für ihn spielt es eine Rolle. Er hat keine Wurzeln.“
Adiv hob die Hände. „Fein. Fragt sie, wenn ihr sie trefft.“
„Du wirst sie wiedersehen.“ Syriakins rauchige Stimme ließ keinen Zweifel zu.
Adiv starrte die Sumpffrau an, wollte etwas sagen, verstummte jedoch.
„Die Väter. Immer wieder die Väter.“ Jonoy trank seinen erkalteten Tee in einem Zug aus. „Außer Gillok sind alle verschwunden.“
„Ebenso wie unsere Väter“, stellte Nou fest.
Thragesh blickte in die Runde. „Wieso?“
„Sie sind alle tot, oder?“, fragte Ylaiy. „Akims, Adivs, meiner.“
„Meiner auch“, brummelte Jonoy. „Nicht überraschend.“
„Meiner ebenso“, schloss sich Mehlau an.
„Ich bin Waise“, teilte Shesh mit. „Was ist mit Euch Sumpflingen?“
Gillok sah Nou und Syra an. „Dasselbe.“
Thragesh hob den Becher. „Auf die Väter.“
„Ihr verzeiht, dass ich diese Runde auslasse“, sagte Sila giftig. Ihr Strahlen war verschwunden.
Peinliche Stille senkte sich auf den Raum. Verlegen murmelte Thragesh eine Entschuldigung.
Ylaiy trommelte auf seinen Knien. „Paíre wollte euch dazu befragen. Zu euren Müttern und Vätern, euren Großeltern.“
„Erhoffte sie sich weitere Hinweise auf die Magie?“, fragte Gillok.
„Sie glaubte, dass auch wir besonders wären, dass Magie vererbt würde über die Blutlinien.“
„Wie bei den Majestes?“, warf Adiv ein. „Wollte sie herausfinden, ob unsere Ahnenreihen bis zu den Ersten Völkern reichen?“
„Auf Drahórsul hatten wir dieselbe Theorie erwogen.“
„Elphen nannte uns seine Nachfahren“, murmelte die Kriegerin. „Aber Gillok und Nou besitzen keinerlei Magie und auch sonst kein Fraga-í, den ich kenne.“
„Ciycain hat sie von dir“, sagte Akim leise.
Syriakin blies die Wangen auf, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
„Es ist so. Kian hat sie auch von der mütterlichen Seite.“
„Yvain nicht“, gab Ylaiy zu bedenken. „Arlen ebenfalls nicht. Aan war nicht magiebegabt, so weit wir wissen. Sein unbekannter Vater möglicherweise schon.“
Adiv gähnte und stemmte sich hoch. „Wie meine Mutter sagte: Es hängt allein vom Zufall ab, ob man Magie in sich trägt. Sie ist ein Geburtsmerkmal, mehr nicht. Und jetzt brauche ich einen Spaziergang.“
„Bei diesem Wetter?“ Jonoy horchte auf die klappernden Dachschindeln.
„Ein bisschen Luft ist genau das Richtige. Mir brummt jedes Mal der Schädel, wenn wir über die verdammte Magie reden.“
Akim erhob sich. „Du solltest nicht allein gehen.“
Adiv strich ihr Kleid glatt, unter dem sie wollene Hosen trug. „Ich hole meinen Mantel. Wir treffen uns am Eingang. Noch jemand?“
Gillok stand auf, streckte sich und stöhnte. „Nein, danke. Meine Knochen verlangen nach Wärme und Entspannung, heißem Wasser, Dampf, Hitze. Kommst du mit?“, wandte er sich nach Syriakin um, die ihm einen langen Blick zuschoss, sich aber dann von ihm aus dem Stuhl ziehen ließ.
„Wir sollten auch gehen“, sagte Sila zu Ylaiy. „Talin ist hungrig. Er muss bald ins Bett und wir einen weiteren Kontrollgang machen, sehen, ob es Sturmschäden gibt, uns ums Essen kümmern.“
„Ich schaue bei den Handwerkerhütten nach Schäden“, bot sich Rana an.
„Ich bringe Euch hin.“ Shesh sprang auf. „Wollte sowieso in die Richtung.“
„Den Rest Eurer Kleidung holen?“, zwitscherte Rana.
„Ihr habt es nötig.“
„Schweigt.“
Grinsend hielt der Riese ihr die Tür auf.
Tief sog Adiv die eisige Luft in sich ein, während sie mit vorsichtigen Schritten über den glatten Boden tapste. Akim lief geräuschlos neben ihr.
„Dieser Codex von deinem Vater. Hast du ihn gelesen?“
„Durchgeblättert. Die Seiten sind mehrfach beschrieben und mit Skizzen beschmiert. Manche sind sehr verschmutzt. Alles in allem wie die Wände damals zu Hause.“ Ihre Stimme wurde wehmütig, wie immer, wenn sie an ihre Eltern dachte. „Ylaiy hat mir erzählt, dass die Geschichte von Kaadaa darin steht. Die frühen Kriege. Wie die Chausselles unter die Erde krochen, um die Magie zu horten, und danach die anderen Majestes. Eigentlich will ich von dem Zeug nichts mehr hören.“ Fröstelnd zog sie die Schultern ein und hauchte in ihre Hände.
Akim blieb stehen und sah sie an. „Womöglich wollte Chada die Quelle wirklich verschließen.“
„Was ist mit den unschuldigen Reisenden?“
„Möglicherweise sind sie unterwegs auf die Leute gestoßen, weil der Sturm sie alle vom Weg abtrieb.“
„Und Gradh? Hat sie ihn eingeweiht?“
„Ich weiß es nicht. Ich kannte sie ja nicht einmal. Sie muss wirklich mächtig gewesen sein, mehr als ich als Kind ahnte. Seit der Reise habe ich viel mit meiner Mutter und mit meinen Onkeln gesprochen. Über sie, meinen Vater und Kians Vater.“
„Waren eure Väter besonders?“
„Jäger und Fährtenleser. Beide starben früh. Mein Vater verdurstete in der Wüste, Kians bekam schreckliche Bauchschmerzen und Fieber. Daran erinnere ich mich. Kian war noch sehr klein.“
„Chadas Kinder sind nicht magisch?“
„Nein, abgesehen von den Sinnen der Madif. Kian ist der einzige Begabte in der Familie seit Chada.“
„Wie weit ist Ki akku ninu von Ranand entfernt?“
„Weit genug, um uns nicht zu schaden. Nah genug, um außergewöhnliche Sinne zu entwickeln.“
„Du bist direkter Abkömmling eines uralten Volkes. Deine Vorfahren gingen nach Drahórsul, nahmen ihre Magie mit.“
„Du bist nahe an einer Quelle aufgewachsen und dein Vater war Abkömmling der Ersten Familien.“
„Von einer sehr verwässerten Linie. Ciycain sagt zwar, ich leuchte wie du und Syra, aber das kann nicht mehr als ein Funkeln sein. Wir beide haben die Voraussetzungen, aber keine Magie in uns. Außergewöhnliche Sinne vielleicht, aber keine Magie.“
Akim seufzte. „Wahrscheinlich hat deine Mutter recht. Das Graben in unserer Familienvergangenheit bringt uns nicht weiter.“
„Nein. Paíre hat sogar die Palastchroniken nach uns durchsucht.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie viel gefunden hat.“
„Meinen Vater immerhin.“
„Und sicherlich eine Menge zu Ylaiy und Videm.“
„Aber das erklärt nichts. Videm war Prant, ein junges Volk wie die Elboin, doch im Gegensatz zu Ylaiy hatte er Magie in sich. Vielleicht wegen des Erbes seiner Mutter und seines Vaters: uralter Adel und Magie. So wie Arlen.“
„Jonoy bekam eine Art Magieschub von Chada“, erwiderte Akim nachdenklich. „Geht das? Kann man Magie übertragen?“
Adiv sah den Atemwolken nach, die Akim ausgestoßen hatte. „Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass Menschen mit Magie sich anziehen und verstärken, so wie Ardanna und Cledent oder die Kinder. Was, wenn Jonoy ebenfalls schon ein winziges Reservoir besaß, so wie Syra?“
„Dann müsste sich Syras Magie durch die der Kinder verstärken. Immerhin hat Kian sie magisch berührt.“
„Vielleicht ist das ja passiert. Wer weiß? Vor einem Jahr hätte sie ihre Verletzungen vielleicht nicht so schnell auskuriert.“ Adiv knabberte an ihren kalten Fingerspitzen und fluchte. „Bei Kaa! Wir wissen gar nichts.“
Frustriert setzten sie sich wieder in Bewegung.
„Cehaj, Nebunedzad, Nou und auch Gillok sehen sich erstaunlich ähnlich. Scheint tatsächlich, als wären Majestes und Sumpfvolk verwandt“, fuhr Akim fort. „Haben denn alle Majestes Magie?“
„Syra sagt, Elphen und Kalphon hätten keine. Cehaj und Nebunedzad sind außergewöhnliche Kämpfer mit beinahe übermenschlichen Fähigkeiten, aber magisch wirken sie auf mich nicht. Also, nein, ich glaube nicht. Ich hoffe nicht. Sonst sinken unsere Chancen gegen Null. - Lass uns schneller gehen. Meine Füße fühlen sich an wie Eisbälle.“
„Glaubst du, der Norogdún erfuhr von den Kindern, weil ihre Magie ihn anzog? So wie Chada und er voneinander wussten?“
„Schon möglich.“ Adiv klapperte mit den Zähnen. „Vielleicht wussten deshalb auch die Majestes irgendwie über alles Bescheid. Die Magie macht sie alle zu Sehern. Trotzdem haben sie nicht geholfen. Ich verabscheue sie.“
„Sie haben deine Mutter am Leben gelassen.“
„Aus Eigennutz.“
„Nicht ganz. Sie schützen sie. Wissen sie, dass Etahpe sie überwacht? So wie Nebunedzad und Cehaj uns?“
„So glaubst du es auch? Ich hasse diese Ränke. Niemals könnte ich auf einem Thron sitzen. Ich beherrsche die Spielregeln einfach nicht.“
„Du wärst auch nicht diplomatisch genug.“
„He!“ Sie boxte ihm in die Seite.
Spielerisch wehrte er den Schlag ab, erschauerte, hüllte sich tiefer in den Mantel und zog die Kapuze über den Kopf. „Ungemütlich. Ich mag den Winter nicht. Ich sollte ebenfalls ein Bad nehmen.“
Neben ihm brach Adiv in ein Gluckern aus.
„Was ist?“
„Du glaubst nicht wirklich, dass die beiden baden?“
Er sah die Diebestochter an. „Ich meinte, nach ihnen.“
In Adivs Wangen gruben sich tiefe Grübchen. „Sie sind beinahe jeden Abend da drin. Die genießen nicht nur das heiße Wasser.“
„Adiv.“
„Ich wette, Gillok erregt das Kämpfen mit ihr. Er hat diesen Blick, wenn er sie ansieht. Wie ein Hundewelpe.“
Ohne ein Wort ging er weiter. Adiv fasste nach seinem Arm, hielt ihn zurück. „Frauen, Akim. Es wird Zeit, ihnen nachzusehen, denkst du nicht?“
Langsam atmete er aus, erwiderte nichts. Sie zog einen Schmollmund und hakte sich bei ihm unter. „Der große Schweiger der Wüste. Na schön, wenn du meinst, aber wisse, dass Freunde sich alles erzählen.“
„Ich will nichts über deine Eroberungen hören.“
„Aber das Bad nimmst du mit mir?“
Erschrocken sah er sie an und Adiv lachte laut auf. „Es gibt Badegewänder, wusstest du das? Nicht, dass die beiden da drin welche anhätten.“
Wortlos machte er sich los und beschleunigte seine Schritte.
Prustend folgte sie ihm über den dunklen Hof.
Als sie die Tür zur Halle öffneten, fanden sie Chries vor, und ein heißer Stich durchfuhr Adiv. Er verwandelte sich augenblicklich in Eiseskälte, als der Wärter berichtete, dass Arlen nach Hause zurückgekehrt sei.
Nach einer halben Stunde schlotterte Chries noch immer, obwohl Sila und Adiv mehrere Decken auf ihn gehäuft und ihm becherweise heißen Tee aufgezwungen hatten. Um seine nassen Stiefel hatten sich Pfützen gebildet.
„Wie könnt Ihr auch nur in dieser dünnen Uniform unterwegs sein?“, schalt Adiv ihn. „Bei dem Wetter?“
„Der Sturm hat mich an den Toren Yruishs überrascht. Bis dahin war es halb so schlimm. Außerdem besitze ich keine andere Kleidung.“
„Winteruniform?“
„Das ist sie.“
Adiv fuhr zu Ylaiy herum. „Ihr solltet Eure Truppen besser ausrüsten!“
„Das sehe ich auch gerade“, gab der Kaiser zurück. „Ein weiterer Punkt für unser Ratstreffen morgen.“ Unruhig tigerte er vor der Wand auf und ab.
Sila stand neben ihm und beobachtete den Wärter. Attraktiv war er, trotz der blauen Lippen, der violetten Nase und der vor Kälte und Wind verquollenen Augen. Kurzes, dunkles Haar, akkurat geschnitten, Bartstoppeln auf Wangen und Kinn, hellgraue Augen, ebenmäßige Züge.
Schnelle Schritte näherten sich. Die Sumpfleute. Beide sahen aus, als hätten sie Hemd, Hose und Stiefel übergestreift, ohne sich abzutrocknen. Ihre Haut glänzte feucht und ihre Haare tropften. Akim war nicht bei ihnen, was bedeutete, dass er schon auf dem Weg zu den anderen war.
Sie warfen Ylaiy Blicke zu und musterten Chries.
„Sila und ich hörten sein Klopfen“, sagte Ylaiy auf ihre stummen Fragen hin.
„Arlen ist zurück?“, fragte Gillok atemlos.
„Ja. Etahpe hat Chries sofort ausgesandt.“
„Wussten Cehaj und Nebunedzad es?“, erkundigte sich Adiv.
Chries schüttelte den Kopf. „Sie waren schon fort.“
Trampelnde, unregelmäßige Schritte aus dem Treppenhaus. Jonoy erschien, einen hohlwangigen Mehlau hinter sich. Eine Erinnerung schwebte durch Silas Geist. Perths Wälder. Talin greinend vor Hunger und Durst, sie selbst so schwach, dass sie das Schwert kaum noch tragen konnte. Der Geselle, über den sie mehr oder weniger gestolpert war. Eine halbe Portion, aber er hatte geholfen, sie alle zu retten. Und jetzt waren Mannero und Ivson tot und Mehlau nicht mehr derselbe. Kummer zog über sie wie die Dampfschwaden über die Sumpfleute. Sie riss sich zusammen, wühlte ein Tischtuch aus einer der Kommoden und reichte es Gillok. „Reibt Euch trocken, bevor Ihr Euch erkältet.“
Minuten später glitten Nou und die Majestes hinter Akim ins Zimmer. „Shesh war nicht auffindbar, deine Mutter auch nicht.“
„Sie wollten zu den Handwerkern“, entgegnete Sila. „Behelligen wir sie nicht.“
Syriakin trat vor den Wärter, Ungeduld im Blick. „Also?“
Chries trank einen weiteren Schluck Tee und kämpfte gegen das Klappern seiner Zähne an. „Wir fanden es durch Zufall heraus. Seit te Sants Tod und Jorgens Verschwinden ist das Leben ungefährlicher geworden. Etahpe ist nicht die Einzige, die plötzlich wieder aufgetaucht ist aus den Tiefen.“
Bei der Erwähnung ihrer Mutter biss Adiv sich auf die Lippen. Chries sah sie an. „Sie traf eine ehemalige Nachbarin. Diese erzählte von einem Burschen, der sich in eurer alten Unterkunft eingerichtet hatte. Er stellte sich als Arlen heraus.“
„Er ist zu Hause“, murmelte Adiv wie vom Blitz getroffen.
Cehaj beugte sich vor und fragte etwas in seiner Sprache.
„Niemand hat ihn kommen sehen“, antwortete Chries auf Yr.
Die beiden Majestes steckten die Köpfe zusammen und raunten sich unverständliche Worte zu.
„Nehegelen lässt die geheimen Gänge überwachen, doch der Bursche spazierte durchs Haupttor, mitten am Tag. Mit einem Trupp neuer Wärter.“
„Remond stockt das Personal in der Boragha auf“, erklärte Ylaiy. „Seit Veis und Chausselles‘ Schachzug grummelt es im Gefängnis. Dazu die Reformen. Wir müssen aufpassen, dass ein jahrhundertealtes Gefüge nicht zusammenbricht.“
„Wer ist Nehegelen?“, fragte Adiv.
„Bru Nehegelen nad Tala“, sagte Chries langsam, dieweil Nebunedzad und Cehaj sichtlich versteiften. „Der Älteste. Ihr Vater.“
„Ihr Vater? Er ist hundert Jahre älter als sie.“
„Alle nad Tala nennen ihn Vater. Die beiden gehören jedoch tatsächlich zu seiner engsten Familie. Ururenkel, glaube ich. Vielleicht auch Großgroßneffen. Das ist nicht wichtig.“
„Für die Thronfolge schon“, widersprach Ylaiy.
„Fiel Arlen nicht auf?“, fragte Akim mit gerunzelter Stirn. „Zwischen all den Soldaten? Er ist ein Kind.“
Chries stellte den Becher ab. „Ich weiß nicht, wann Ihr ihn das letzte Mal gesehen habt. Wie ein Kind sieht er jedenfalls nicht aus. Zu jung für einen Wärter, wenn er vor einem steht, aber aus der Entfernung fällt er nicht auf. Offenbar ist er ziemlich gewachsen. Etahpe wirkte erschrocken, als sie ihn sah.“
„Wie lange ist er schon da?“, wollte Adiv wissen.
„Seit dem ersten Schneefall auf Kaadaa. Etwas weniger als eine Woche.“
„Was tut er?“, erkundigte sich Syriakin.
„Nichts. Bleibt für sich. Die Nachbarin erzählte, dass er nur zu schlafen scheint. Etahpe brachte ihm Essen. Er aß nur ein paar Bissen, hüllt sich in Schweigen. Sie macht sich Sorgen.“
Nebunedzad stellte eine Frage. Chries nickte und sagte etwas in der Sprache der Majestes. Die Sumpfleute lauschten aufmerksam.
Chries wandte sich an die anderen. „Nehegelen weiß, dass Arlen da ist. Er hat ihn gespürt, aber noch nicht gesprochen. Es geht ihm schlecht. Seine Kraft schwindet. Er möchte den Jungen sehen.“ Chries erschauerte unter dem Deckenberg.
„Nehmt ein Bad“, befahl Sila.
„Nicht jetzt“, protestierte Adiv. „Er muss uns erst alles erzählen.“
„Viel mehr gibt es nicht zu berichten“, sagte der Wärter. „Etahpe sandte mich am nächsten Morgen aus. Tut mir leid.“
Sila half dem jungen Mann hoch. „Kommt. Ich zeige Euch, wo Ihr Euch umziehen könnt. Ylaiy, könnt Ihr veranlassen, dass das Badehaus frisch befeuert wird?“
„Gern“, erwiderte der Kaiser und wandte sich an die Gefährten. „Unser Abendmahl wird sich verspäten. Wir treffen uns in zwei Stunden wieder. Ich muss nachdenken.“
„Wir packen indessen“, beschloss Syriakin und stieß Gillok an. „Lass uns Thragesh suchen. Er muss sich um die Pferde kümmern.“
„Habt Geduld“, rief Ylaiy. „Vor morgen früh bricht niemand auf. Gönnt Chries einige Stunden Ruhe.“
„Wir müssen uns beeilen“, erwiderte die Kriegerin.
„Es ist dunkel, verschneit, eisglatt. Wollt Ihr, dass die Pferde sich die Beine brechen? Morgen früh beim ersten Sonnenstrahl. Im Hellen holt Ihr die Zeit schnell auf.“
„Er hat recht“, raunte Gillok seiner Gefährtin zu. „Nachts brauchen wir ewig. Morgen früh sind wir ausgeruht. Aber packen können wir! Na los!“
Sie eilte vor ihm aus dem Raum. Das zusammengeknüllte Tischtuch segelte auf die Kommode.
Das Wasser fühlte sich himmlisch an: heiß, nach Seife duftend, wohltuend. Der Gedanke, jemals wieder aus dem Becken zu steigen, verstimmte ihn, ließ sich jedoch nicht länger vertreiben. Zweimal schon war ein Bediensteter hereingekommen, hatte Handtücher und Kleidung bereit gelegt und auf das Abendmahl hingewiesen. Obwohl das Seifenwasser und ein Tuch um die Hüften seine Blöße verbargen, war ihm die Anwesenheit anderer peinlich gewesen. Besser, sich anzukleiden, bevor der nächste ungebetene Besucher durch die Tür kam.
Er war soeben in die wollene Hose geschlüpft und hatte sich ein Hemd aus Qutún übergestreift, als es tatsächlich an der Tür klopfte. „Chries? Kann ich hereinkommen?“
„Adiv?“ Erstaunt öffnete er die Tür. „Was ist passiert?“
Sie drückte die Tür ins Schloss und lehnte sich mit dem Rücken gegen sie.
Er merkte, wie nah er vor ihr stand, und trat einen Schritt zurück. „Ist alles in Ordnung? Wollen wir uns setzen? Hier, komm hier entlang.“
Er führte sie um eine Ecke in den Bereich, in dem man sich umziehen konnte. Hier war man vor neugierigen Blicken geschützt. Eine schmale Bank zog sich rund um den Raum. Sie ließen sich nebeneinander auf ihr nieder.
„Was ist geschehen?“, wiederholte er.
Sie starrte auf den Boden. „Nichts. Ich wollte nur fragen, wie es ihnen geht. Arlen und Mutter.“
„Etahpe genießt die neue Freiheit. Endlich muss sie sich nicht mehr vor aller Welt verstecken.“
„Die Majestes lassen sie herumziehen?“
„Natürlich wird sie beobachtet, genau wie ich. Nehegelen ist ein vorsichtiger, misstrauischer Mann. Aber er lässt sie in Ruhe. Für Stabilität zu sorgen, hat Vorrang.“
„Weiß er, dass sie ihn ebenfalls beobachtet?“
„Zumindest ahnt er es. Er ist nicht dumm. Mach dir nichts vor: Eure Allianz ist eine brüchige. Arlen ist vielleicht der Stein, der alles ins Wanken bringt. Er hätte nicht zurückkehren sollen.“
„Er ist von sich aus gekommen. Die Kinder waren verschwunden, als wir Perth erreichten.“
„Ich weiß. Cehaj berichtete davon.“
„Ihr sprecht seine Sprache.“
„Drei Jahre unter ihnen. Ich spreche sie schlecht, aber ich verstehe sie ganz gut. Kaadaas Landessprache ähnelt ihr.“
„Seid Ihr ein Ureinwohner?“ Erstaunt sah sie ihn an und für einen Sekundenbruchteil versank er in ihren blauen Augen.
„Ich wuchs auf Kaadaa auf, bis meine Eltern nach mehreren Hungerjahren weggingen.“
„Das wusste ich nicht.“
„Woher auch?“
„Es soll nur ein paar hundert Leute geben, die frei auf Kaadaa leben.“
„Das stimmt.“
„Was ist mit den verletzten Chausselles geschehen?“
„Man pflegte sie. Doch eines Tages fanden wir sie erstochen in ihrer Zelle.“
Adiv riss die Augen auf. „Sie wurden umgebracht?“
„Nein. Nehegelen hätte sie leben lassen, ihnen vielleicht sogar verziehen, wenn sie bereut hätten.“
„Sie wollten kein Leben in Gefangenschaft.“
„Elphen versprach ihnen Freiheit, und die hatten sie gekostet. Statt erneuter Unterwerfung wählten sie den Tod.“
Bestürzt kaute Adiv auf ihrer Lippe.
„Hast du Mitleid mit ihnen? Sie haben euch angegriffen und in eine Zelle gesteckt. Sie hätten euch umgebracht.“
„Trotzdem.“
„Du bist eine seltsame Frau, Adiv Benelees.“ Seine Stimme wurde eine Spur heiserer. „Rätselhaft wie deine Mutter.“
„Findet Ihr?“
„Oh ja.“
„Arlen ist zur Quelle zurückgekehrt“, flüsterte sie. „Wisst Ihr darüber Bescheid?“
„Genug, um besorgt zu sein. Deine Mutter und der Älteste sind es ebenso. Und hast du die Blicke gesehen, die Cehaj und Nebunedzad sich zuwarfen? Sie alle sind es. Ich erinnere mich an einen lockenköpfigen Knaben, Adiv. Den Sohn deiner Freundin. Er spielte in der Küche und auf den Höfen. Das einzige fröhliche Kind, an das ich mich erinnere. Er war sechs, sieben allerhöchstens. Das war vor drei Jahren. Ich sah einen Jüngling vor mir vor drei Tagen. Was geschieht da?“
Sie stockte kurz, bevor sie das Wort ausstieß. „Magie.“
„Deine Mutter sprach von ihr.“
„Haltet Ihr uns für verrückt?“
„Vor drei Jahren hätte ich das. Dann traten die Majestes in mein Leben. Seither habe ich genug aufgeschnappt und genug gesehen. Entstellte Menschen wie Nehegelen. Männer mit dem Verstand eines Kleinkindes, Frauen, die grundlos aufeinander losgingen und dabei Laute machten wie Tiere. Die ihrem Kind die Kehle zerfetzten. Menschen, die sich bewegen, als sei ihr Geist schon vor Jahren abgestorben. Außerdem erinnere ich mich an meine Kindheit auf Kaadaa. Die Leute im Gebirge sind abergläubisch. Das färbt ab.“
„Arlen darf dort nicht sein“, flüsterte sie eindringlich. „An einer Quelle. Wir müssen ihn herausholen, ohne dass Elphen es erfährt. Selbst, wenn er es tut.“
„Nehegelen wird ihn vielleicht nicht gehen lassen.“
„Dann müssen wir kämpfen.“
„Gegen Tänzer wie Cehaj und Nebunedzad? Bru Nehegelen nad Tala hat ungezählte Söhne und Töchter, die ihm blind ergeben sind. Und ihr seid wie viele? Ein Dutzend?“
Adiv sog Luft ein und blinzelte. „Wir haben keine Wahl“, wisperte sie verzweifelt und entschlossen gleichermaßen.
Chries betrachtete sie fasziniert, nickte und rutschte dann näher an sie heran. Sie versteifte, rückte aber nicht von ihm ab.
„Ich habe Euch nie gedankt“, sagte sie stattdessen. „Meine Mutter wäre gestorben ohne Euch.“
„Sie ist eine zähe alte Haut. Außerdem bin ich es, der dir danken muss.“
Verwirrt blinzelte sie ihn an. Er lächelte und nahm ihre Hand. Ihre Wärme durchfuhr ihn wie ein Dolchstoß. „Du hast mich verändert, damals am Strand. Ich habe euch gehen lassen und danach wurde alles anders. Ich konnte nicht mehr der sein, der ich gewesen war.“
„Ihr hattet schon vorher begonnen, Euch zu verändern. Ihr wärt derselbe Mann geworden, der Ihr nun seid.“
Er schüttelte den Kopf, hielt ihre Hand aber weiterhin fest, spürte, wie sie sich langsam entspannte, genoss die Berührung ihrer Finger. „Glaubst du, ich hätte mich gegen die Ordnung gestellt? Gegen den Kommandanten? Nein. Ich hätte den Ärger geschluckt und weiter gemacht. Deine Mutter zeigte mir den Weg.“
„In den Untergrund.“
„Ja“, sagte er und begann, über die Innenseite ihres Unterarms zu streicheln. „Doch sie schien ihren Weg zu kennen. Ihre Aufgabe.“
„Informationen sammeln.“ Ihre Stimme klang schwerer und ihr Blick hatte sich verändert.
Er schickte seine Finger ihren Arm hinauf.
„Auskundschaften“, murmelte er und hörte, wie belegt seine Stimme klang.
„Unbeobachtet beobachten.“ Etwas flammte in ihren Augen auf, stachelte ihn an.
Sanft umfasste er ihre Oberarme und zog sie zu sich. Ihr Oberkörper berührte den seinen, setzte Hitzeschauer frei.
„Dich schützen.“ Er vergrub den Kopf in ihren Locken und küsste ihre Halsbeuge.
Adiv beugte sich ihm entgegen, von den Berührungen berauscht wie er selbst. Ein prickelndes Gefühl erfasste seinen Unterleib und er wurde kühner, küsste und leckte ihr Schlüsselbein und schließlich ihren Brustansatz.
Dann griff Adiv mit beiden Händen nach seinem Kopf und zog ihn an sich. Chries erwiderte ihre Küsse wie betäubt. Sie übernahm die Initiative, schlüpfte aus ihren wollenen Beinkleidern, schob sich breitbeinig auf seinen Schoß. Ihre Finger fummelten am Eingriff seiner Hose. Er schloss die Augen und hielt die Luft an. Gleich darauf spürte er weiche Haut, Feuchtigkeit und große Hitze. Adiv öffnete die Beine weiter und presste sich auf ihn. Er keuchte an ihrem Hals, bewegte sich in schnellem Rhythmus mit ihr. Sie stöhnte mit geschlossenen Augen, den Kopf in den Nacken gelegt. Seine Hände suchten nach ihren Brüsten, wühlten sie aus der Kleidung, rieben sie, bis sie aufschrie. Er erbebte Sekundenbruchteile später.
Anschließend sackte sie auf ihm zusammen. Er zog sie an sich, streichelte sie, küsste sie auf die Wange. „Danke.“
Sie lachte auf. „Danke?“
„Hat das noch nie einer zu dir gesagt?“
„Normalerweise schlafen sie ein.“
„Mir ist nicht nach Schlafen. Schade, dass wir zum Essen müssen.“
„Vielleicht sollten wir schnell noch einmal ins Wasser hüpfen. So klebrig an der kaiserlichen Tafel ... Das ziemt sich nicht.“
Diesmal war er es, der auflachte.
Der Geruch angebrannten Haferbreis weckte Akim. Kurz darauf hörte er die bellende Stimme Anisas. Er verzog das Gesicht, als er an das arme Mädchen dachte, auf das das Gewitter der korpulenten Köchin niederging. Rasch rollte er sich von seinem Lager, trat ans Fenster und lugte hinter die Vorhänge. Dunkelheit begrüßte ihn. Nur ganz weit im Osten konnte er einen schmalen Streifen Dämmerlicht ausmachen.
Wie er erwartet hatte, waren die Sumpfleute, Ylaiy und Sila bereits in der Halle versammelt. Syriakin und Gillok wanderten herum, vollständig eingekleidet für eine Reise in winterlicher Kälte.
„Warst du überhaupt im Bett?“, fragte er Syriakin, nachdem er die Anwesenden begrüßt hatte.
„Lang genug.“ Ungeduld züngelte in ihren Augen. „Wo sind die anderen?“
Adiv betrat die Halle, mit dunklen Ringen unter den Augen, aber seltsam aufgekratzt. „Morgen“, grüßte sie und stellte ihren Reisesack auf den Boden.
Gleich darauf schritt Chries durch die Tür. Die Uniform hatte er gegen wollene Kleidung getauscht. Nur der Mantel war derselbe wie am Vortag. Trotz der anstrengenden Tage, die hinter ihm lagen, wirkte er tatkräftig und konzentriert. Ohne sich um die Blicke der anderen zu kümmern, trat er neben Adiv und streichelte ihren Arm.
Shesh, Jonoy und Mehlau betraten die Halle einige Zeit später durch die Eingangstür. Sie stapften sich Schnee von den Füßen. „Brr“, schüttelte sich der Bär und rieb sich die Hände. „Frostig. Die Pferde sind bereit. Rana und Sem warten bei den Ställen. Alle fertig?“
„Cehaj und Nebunedzad fehlen“, antwortete Akim. „Habt Ihr sie nicht wecken lassen, Ylaiy?“
„Ich war mit Talin oben“, erwiderte Sila. „Habe an die Tür geklopft.“
Sofort war die Kriegerin alarmiert. „Haben sie geantwortet?“
„Ich habe, ehrlich gesagt, nicht darauf geachtet. Talin quengelte und ich war noch nicht ganz wach.“
„Ich gehe nachsehen.“ Syriakin machte auf dem Hacken kehrt und stoppte abrupt, als eine Gestalt hinter Adiv und Chries auftauchte.
„Sie sind weg“, sagte Yvain ruhig. „Schon gestern Abend. Ihr werdet sie nicht einholen.“
Mit einem Freudengebrüll stürmte Thragesh an der Kriegerin vorbei, riss Yvain in die Arme und schwenkte ihn herum.
„Shesh“, presste Yvain heraus. „Du erdrückst mich.“
„Vorher versohle ich dir deinen Hintern“, brummte der Riese und stellte den blonden Jungen so vorsichtig ab wie eine wertvolle Vase. „Wir sind beinahe gestorben vor Sorge. Wo warst du? Wieso bist du hier? Geht es dir gut? Was ist passiert?“
„Shesh.“
Der ehemalige Leibwächter verstummte.
Yvain lächelte und verneigte sich dann vor Ylaiy. „Kaiser.“
„Hörst du wohl auf damit.“ Ylaiy trat auf seinen Vetter zu und umarmte ihn, derweil Syriakin, Gillok, Nou und Akim in alle Richtungen ausschwärmten und wachsame Blicke um sich warfen.
„Ich werde nicht verfolgt“, sagte Yvain. Seine Stimme klang tiefer als vor seiner Flucht. Er wies auf Chries. „Seine Ankunft blieb nicht unbemerkt. Die Späher warteten, bis die beiden Männer den Palast verließen, folgten ihnen bis weit vor die Stadt, änderten dann die Richtung. Am Fluss machten sie ein Fischerboot los und verschwanden nach Westen.“
„Perth“, erriet Jonoy.
„Anzunehmen.“
„Wessen Späher?“, fragte Gillok. „Elphens?“
„Gewiss. Sie verstehen es, sich in den Schatten zu verbergen.“
„Waren sie im Palast?“, wollte Ylaiy wissen.
„Nicht, so weit ich weiß.“
„Von wo aus hast du sie beobachtet?“
„Dächer. Keller. Friedhöfe. Die Stadt bietet ausreichend Verstecke.“
„Armer Junge“, flüsterte Sila. „Muss hart sein im Winter, das Leben auf der Straße.“
„Es geht mir gut. Am schwierigsten war es, neue Kleidung zu finden. Die alte passte mir nicht mehr. Ich musste sie stehlen“, entschuldigte er sich bei Ylaiy. „Ich habe mir die Orte gemerkt.“
„Der Palast wird die Opfer entschädigen.“
„Danke. Ist Arlen etwas zugestoßen?“
„Weshalb denkst du das?“ Syriakin nahm ihre Fellkappe ab und trat näher.
„Er verschwand. Ist er unter der Erde?“
„In der Boragha“, murmelte Adiv. „Chries kam, um es uns zu erzählen. Die beiden Männer, Cehaj und Nebunedzad, kommen aus der Boragha. Sie sind unsere Verbündeten.“
„Wieso schleichen sie bei Nacht und Nebel aus dem Palast? Ohne euch?“
„Weil sie Vater warnen“, antwortete Chries. „Ihre Pflicht verlangt es.“
„Wehe, sie krümmen Arlen ein Haar“, stieß Adiv giftig hervor. „Kannst du ihn noch spüren?“
Traurig schüttelte Yvain den Kopf.
„Was ist mit Ciycain und Kian?“, wollte Gillok wissen.
„Ciycain redet weiter mit den Bäumen, Kian mit dem Sand.“
„Was?“ Adiv starrte den blonden Jungen an.
„So reden sie mit mir.“
„Die Bäume“, echote Gillok und wandte sich nach Syriakin um. „Das hast du auch gemacht als Kind. Du hast behauptet, sie sprächen mit dir.“
Ein Pfeilhagel finsterer Blicke durchbohrte den Sumpfmann. „Ich habe nie gesagt, sie sprächen mit mir. Ich sagte, sie redeten miteinander. Bäume, Pilze, der ganze Wald.“
Entgeistert drehten sich die anderen zu Syriakin um. „Kein Wunder, dass das Dorf dich mied“, stellte Adiv fest. „Du warst ein eigentümliches Kind.“
„Nein, das war sie nicht“, widersprach Yvain und schaute die Sumpffrau an, als sähe er sie zum ersten Mal. „Sie hörte einfach genauer hin. Akim hört auch, wenn der Sand singt.“
Akim und Syriakin musterten einander. „Kian ist nicht auf Berlen“, sprach der Wüstenmann dann. „Wie soll er mit dem Sand reden?“
„Sand gibt es überall, Bäume auch.“
„Was benutzt Arlen?“, fragte Ylaiy neugierig. „Und was du?“
„Arlen nutzt Steine. Felsen, Geröll, Straßenpflaster, Mauern. Ich nutze mich.“
„Wie?“
„Ich konzentriere mich auf meine Gedanken. Das ist sehr anstrengend. Ich kann es nur alle paar Tage. Hinterher brauche ich Ruhe.“
„Aber Gestein gibt es in der Boragha zuhauf“, gab Jonoy zu bedenken.
„Bedeckt von Erde“, schlussfolgerte Syriakin. „Keine Signale mehr.“
„Wie bei Wasser“, bestätigte Yvain. „Wenn Ciycain tief genug taucht, verschwindet sie. Ist das Wetter schlecht, gibt es ebenfalls Störungen. Wolkenwände sind ein Hindernis. Ihr solltet nun aufbrechen. Arlen ist in Gefahr.“
„Was ist mit dir?“, fragte Sila. „Bleibst du bei uns?“
Yvain nickte. „Die Späher sind weg. Im Palast bin ich vorerst sicher.“
„Vor allem mit mir“, brummte Shesh und baute sich neben Yvain auf. „Schließlich bin ich dein Leibwächter.“
„Die Chausselles werden nicht in die Boragha gehen“, mutmaßte Gillok. „Gegen die Majestes treten sie nicht an, schon gar nicht, wenn diese wachsamer sind wegen Arlen. Aber vielleicht sind sie aufgeschreckt und kriechen aus ihren Löchern. Akim, Jonoy und Mehlau sollten so schnell wie möglich nach Perth zurück. Ardanna muss gewarnt werden.“
„Kian auch“, meinte Akim, bereits im Gehen begriffen. „Wir brechen mit den anderen auf.“
„Was mache ich?“, fragte Ylaiy.
„Beschützt den Palast. Alle Nachrichten laufen in Zukunft über Euch. Vielleicht gelingt es uns, die Kinder hier zusammenzubringen.“ Mit diesen Worten stürmte die Kriegerin aus der Halle.
Sie betraten das Gefängnis durch das Haupttor. Ylaiys Passierscheine und Chries‘ Anwesenheit sorgten dafür, dass die Wärter sie ohne Umstände hinein ließen, auch wenn sie misstrauisch gemustert wurden.
Chries und Adiv führten die drei Sumpfleute auf dem kürzesten Weg zu Etahpes alter Behausung, zuerst oberirdisch, dann durch zunehmend enger werdende Korridore und Tunnel.
Nous Stimmung sank mit jedem Meter. „Ich hasse es hier“, zischte er Gillok in ihrer Muttersprache zu. „Allein finde ich nie wieder heraus. Wir sind um so viele Ecken gebogen, dass ich schon oben den Überblick verloren habe.“
„Dafür haben wir Adiv“, beruhigte Gillok.
„Dann lass uns gut auf sie aufpassen.“
Unter der Erde wurde es schnell stickig und so warm, dass sie die Mäntel öffneten, Mützen und Tücher in ihre Taschen stopften.
Etahpe empfing sie in dem Verschlag, in dem Adiv aufgewachsen war. Stumm schloss sie ihre Tochter in die Arme.
Gillok und Syriakin durchsuchten indes die überschaubare Wohnung, einen schmalen Schlauch, von dem winzige Nischen abzweigten.
„Hier ist ja nichts mehr, wie es war“, sagte Adiv. „Selbst seine Kritzeleien sind verschwunden.“ Sie trat an eine Wand, fuhr mit den Fingern über den Ruß.
Etahpe grinste bitter. „Vorhänge, Bücher, Kleider, Geschirr. Was das Feuer und die Wärter nicht genommen hatten, plünderten die Nachbarn.“
„Trotzdem redest du noch mit ihnen?“
„Wir hätten dasselbe getan. Sie hielten uns für tot.“
Gillok trat zu den Frauen. „Arlen ist weg.“
„Ja.“ Bekümmert sank Etahpe auf einen Lumpenhaufen, der offenbar als Lager diente. Die Gefährten warfen ihre Mäntel auf das improvisierte Bett und scharten sich um sie. „Cehaj und Nebunedzad holten ihn bald nach ihrer Ankunft. Sie verloren keine Zeit.“
„Haben sie ihn entführt?“, fragte Chries.
Die Diebin schüttelte den Kopf. „Sie kamen und baten freundlich.“
„Haben sie dich bedroht?“ Adiv musterte ihre Mutter von oben bis unten.
„Nein. Sie luden mich ein, mitzukommen, betonten, dass der Älteste Arlen nur sehen möchte.“
„Trotzdem bist du hier.“
Etahpe sah ihre Tochter beinahe hilflos an. „Er bat mich, hierzubleiben. Lächelte mich an, redete das erste Mal seit Tagen. Er meinte, er freue sich darauf, seine Familie kennenzulernen, Menschen wie ihn.“ Die grauhaarige Frau schüttelte sich.
„Du hättest dennoch mitgehen sollen!“
„Er hielt meine Hand, lächelte mich an, beruhigte mich. Ich saß hier und ließ ihn gehen. Habe ich ihn ins Verderben geschickt?“
Adiv stemmte die Hände in die Hüften und atmete tief ein. Syriakin zog sie zur Seite. „Er hat sie manipuliert. Sie kann nichts dafür.“
„Sie sind nicht seine Familie. Wieso sagt er so etwas?“
„Weil die Magie ihre Finger nach ihm ausstreckt. Deshalb ist er zurückgekehrt. Vielleicht auch, weil er ein Zuhause sucht. Wer weiß, was Nehegelen ihm versprach.“
„Er kennt ihn doch gar nicht.“
„Sie fühlen sich. Der Alte wird ihn beeinflussen.“
Gillok beugte sich zu Etahpe hinunter. „Seit wann ist er weg?“
„Noch keinen Tag. Geht ihr zu ihm?“
„Jetzt gleich.“
„Ich führe euch.“
Cehaj und Nebunedzad empfingen sie am Fuß des Lochs. Unbeweglich warteten sie, bis alle sechs die Felsstufen hinuntergestiegen waren. Gillok trat auf sie zu. „Ihr wisst, weshalb wir hier sind.“
Cehaj nickte. „Er erwartet Euch.“
Adiv musterte die beiden Majestes misstrauisch, doch sie machten keine Anstalten, sie anzugreifen. Ihre Gesichter blieben ausdruckslos, als sie sich am Ende des kleinen Trupps einreihten. „Ihr hättet auf uns warten können“, stieß sie aus.
Weder Nebunedzad noch Cehaj antworteten. Sie folgten den Gefährten in die Felsennische mit der Steinbank, verschmolzen dort mit der Wand. Vier weitere Tänzer umringten den Ältesten mit dem schlohweißen Haar. Adiv bemühte sich, nicht auf die Wölbung an seinem Unterleib zu schauen.
„Bru Nehegelen nad Tala“, sagte Syriakin, noch bevor der Älteste sie begrüßt hatte. „Der Vater aller Majestes. Sind Eure Söhne stolz darauf, dass Ihr ein Kind verführt?“
Die Wände gerieten in Bewegung, als sechs Männer einen Schritt vortraten. Der Älteste gebot ihnen mit einer matten Handbewegung Einhalt. „Syriakin. Ich bin froh, Euch zu sehen.“
„Das bezweifle ich. Wo ist Arlen? Habt Ihr ihn adoptiert?“ Verachtung sprühte aus ihrer Stimme.
„Nein.“
„Was habt Ihr ihm versprochen?“
„Ich wollte ihn sehen, mehr nicht.“
„Warum habt Ihr ihn nicht schon früher besucht?“, fragte Adiv. „Wenn er so besonders war? Ihr habt ihn doch gespürt?“
Nehegelen nickte. Silberne Augen strahlten aus seinen mumifizierten Zügen. „Ich spürte ihn und ich sprach mit ihm. Oft.“
„Was?“ Adiv zuckte merklich zusammen. „Das hat er nie erzählt.“
„Weil ich ihn darum bat. Ich erklärte ihm, dass wir beide ein Geheimnis teilten, nahm ihn mit zur Quelle.“
Zorn packte Adiv. „Seid Ihr wahnsinnig? Ihr wusstet, was die Quelle ihm antat!“
„Er lebte ein Leben lang in ihrer Nähe. Ich erzählte ihm nur, dass die Kloake etwas Besonderes wäre.“
„Ein Tümpel aus Scheiße?“, entfuhr es Chries. „Und das glaubte er?“
„Kinder glauben alles, vor allem hier unten. Für ihn war ich ein Märchenonkel, der ihm das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein.“
„Das war er. Seine Mutter liebte ihn über alles“, empörte sich Adiv.
„Sie war keine von uns. Sie liebte ihn, aber sie verstand ihn nicht.“
„Mein Vater verstand ihn!“
„Niemand von uns ahnte, wie besonders er war, bis der Norogdún ihn holen ließ. Unser habgieriger Bruder aus dem Norden. Er brachte die Kinder zusammen, potenzierte ihre Macht. Welche Kraft er hat, der Junge! Er hätte uns führen sollen. Ah!“ Nehegelen sackte in sich. Seine Augen glommen wie flüssiges Metall.
„Aber er hat Euer Angebot abgelehnt“, begriff Gillok. „Egal, was Ihr ihm versprochen habt, es bedeutete ihm nichts.“
„Er braucht uns nicht“, ächzte der Älteste. „Alles, was er will, ist die Magie.“
„Wo ist er?“, fragte Syriakin.
„An der Kloake“, flüsterte Etahpe. „Direkt an der Quelle.“
„Er will sie für sich allein!“, schrie der Älteste plötzlich „Er saugt sie auf. Ich fühle, wie er sie mir wegnimmt.“ Winselnd umklammerte er den eigenen Körper.
Syriakin musterte das Oberhaupt der Majestes sichtlich angeekelt. „Habt Ihr versucht, ihn aufzuhalten?“
Statt einer Antwort stöhnte Nehegelen. Nebunedzad trat vor und wies auf die Feuerstelle. „Neun von uns haben es versucht. Er fachte die Glut an. Mit seinen Gedanken. Drei atmeten feurigen Rauch ein.“
Chries zögerte, bevor er übersetzte.
Nou betrachtete den schwarzen Fleck am Boden. „Leben sie?“
„Zwei Atemzüge. Mehr brauchte es nicht.“
Adiv schlug die Hände vor den Mund und Etahpes Augen wurden kugelrund.
Gillok und Syriakin sahen sich an. Beide wirkten unschlüssig, taxierten die Tänzer, von denen zwei weitere Verbrennungen rund um Mund und Nase aufwiesen.
„Wir müssen ihn zurückholen“, flüsterte Gillok.
„Oder aufhalten.“ Der Blick der Kriegerin flackerte, aber sie sprach bestimmt.
Adiv fuhr herum. „Was meinst du? Du willst ihm doch nicht wehtun?“
„Nein.“ Die Kriegerin setzte sich in Bewegung. „Nichtsdestotrotz werde ich es tun, wenn ich muss. Er hat getötet, um an die Quelle zu gelangen. Er speist sich mit Magie. Er ist eine Gefahr für uns alle.“
Adiv hielt ihre Freundin fest. „Das kannst du nicht. Hörst du? Es ist Arlen! Er ist mein Sohn! Syra!“ Hysterie peitschte ihre Stimme in die Höhe. Sie sprintete der Sumpffrau hinterher, zog sie immer wieder am Ärmel oder Kragen zurück, stellte sich ihr in den Weg. Syriakin ignorierte sie, so gut sie konnte, wich ihr aus, zerrte sich los, erhöhte schließlich das Tempo.
Als sie im Labyrinth der Gänge nicht weiter wusste, sah sie Gillok bittend an. Dieser ergriff Adiv von hinten und hob sie in die Luft. Adiv heulte auf und schlug um sich, beruhigte sich erst, als Chries ihre Wangen streichelte und ihr leise zusprach.
Unterdessen war Etahpe an die Spitze geeilt, die Kriegerin und Nou im Schlepptau, Cehaj und Nebunedzad einige Meter zurück. Sie rannten um Biegungen und Ecken, stolperten über Wurzelwerk, stießen an aus den Wänden ragende Rohre, stoppten schließlich. Vor ihnen, weniger als hundert Schritte weiter, stand Arlen am Rand der stinkenden Grube.
„Verschwindet!“, rief Syriakin den zerlumpten Gestalten zu, die sich in der Nähe der Kloake herum drückten.
„Haut ab! Na los!“ Etahpe schwenkte ihren Arm. „Verzieht Euch!“
Keiner folgte ihrer Aufforderung. Obszöne Bemerkungen, Drohungen und Flüche regneten auf sie herab. Einige lachten lauthals, die meisten schwiegen und verharrten auf der Stelle.
„Dummköpfe“, murmelte die Diebin.
„Fleischlieferung!“, brüllte Chries schließlich von hinten.
„Lüge!“, schrie ein Mann zurück.
„Ich komme direkt vom Palast.“
„Lüge!“
„Wie Ihr meint.“
Unsicherheit schwappte über die Gesichter der Insassen und sie begannen miteinander zu tuscheln. Schließlich verschwand der Erste in den Tunneln. Andere tröpfelten ihm hinterher. Nur eine Handvoll Neugieriger blieb zurück.
Arlen schien von all dem nichts mitzubekommen. Er stand in der Mitte des Ganges, still und unbeweglich, ein Kind in der Gestalt eines Mannes, der Gegenwart entrückt. Von Magie war nichts zu sehen.
„Arlen?“, rief Syriakin ihn vorsichtig.
Langsam drehte er sich um und betrachtete sie ohne Wiedererkennen. Dann wandte er ihnen wieder den Rücken zu.
„Arlen!“, rief Adiv. „Komm zu uns. Komm mit uns nach Hause, bitte.“
Er reagierte nicht.
„Sieh uns wenigstens an“, flehte sie. „Rede mit uns. Rede mit mir!“
„Ist er ein Idiot?“, brüllte einer der Gaffer. Der Rest lachte.
„Verschwindet endlich!“, rief Gillok. „Ihr seid hier in Gefahr.“
„Ja, das sieht man“, sagte ein kräftiger Mann mit schmutziggelben Locken und keckerte. Er hob einen Stein und schleuderte ihn auf den Jungen.
Der Stein raste auf Arlen zu, stoppte jedoch Zentimeter vor dessen Gesicht. Dann stob er auf derselben Flugbahn zurück. Geistesgegenwärtig duckte der Mann sich zur Seite. Ein Fehler. Statt in seine Hand schlug der Brocken auf seine Schläfe und zertrümmerte sie. Der Häftling brach zusammen.
Jetzt kam Bewegung in die Gaffergruppe. Wütend hoben die Insassen weitere Steine auf. Arlen sandte sie als Geschosshagel zurück, ohne sich auch nur umzudrehen. Zwei Inhaftierten gelang es, sich rechtzeitig auf die Erde zu werfen, den anderen ging es wie dem ersten. Blutige Löcher zierten ihre Stirnen, Wangen und Schläfen. Panisch ergriffen die beiden noch Stehenden die Flucht.
„Arlen“, schrie Adiv erneut.
Keine Reaktion. Arlen stand und wartete, die Arme leicht ausgebreitet.
„Komm zu uns, bitte! Sprich mit uns.“
Nichts.
Syriakin setzte sich vorsichtig in Bewegung.
„Syra!“, flüsterte Adiv. „Was hast du vor?“
Die Sumpffrau antwortete nicht. Mit konzentrierter Miene schlich sie um den Jungen herum, wahrte dabei Abstand.
Die anderen hielten den Atem an. Gillok und Cehaj nickten einander zu und folgten der Kriegerin. Auch sie setzten ihre Füße, als bestünde der Boden aus Glas. Nou und Nebunedzad verharrten im Hintergrund und beobachteten mit angespannten Gesichtern.
Adiv schluchzte leise auf. Chries stand hinter ihr, streichelte ihre Schultern. Etahpe lauerte neben ihnen.
Plötzlich erhob sich der Wind. Erde und Staub stiegen auf, wischten über die Kämpfer, wirbelten in Spiralen um sie. Arlen wuchs. Sein Hemd spannte sich über Brust und Schultern, riss an den Nähten. Er drehte sich um und die Gefährten erstarrten. Mit leerem Blick musterte er Syriakin und die Männer. Er streckte die Arme, spreizte die Finger. Und dann sahen sie die Magie. Dünne Fäden purer Energie. Unsichtbar eigentlich, aber behaftet mit Erde und Gesteinsstaub. Sie flossen vom Rand der Grube direkt in seine Fingerspitzen.
Er hob die Hände und schüttelte sie. Eine Wolke schoss auf sie zu und blendete sie. Harte Krümel prasselten gegen sie. Sie sprangen zurück, spien Klümpchen aus, husteten, wischten sich die Augen.
„Das war eine Warnung.“ Gillok inspizierte seine Arme. Oberhalb der Metallschienen war der Stoff aufgeraut, an einigen Stellen zerfetzt. Rote Punkte sprenkelten die Haut darunter.
„Er nimmt uns wahr und doch wieder nicht“, sagte Nou, sichtlich erschrocken.
Syriakin musterte Adiv. „Wir erreichen ihn nicht mehr. Er wehrt uns ab. Für ihn sind wir Feinde.“
„Wir sind seine Freunde!“
„Nicht mehr.“
„Was hast du vor?“
„Das weißt du doch.“ Die Kriegerin straffte sich, nickte den Männern zu und setzte zu einem Spurt an.
„Nein, Syra, nein, du kannst ihn nicht töten! Syra! Nein!“ Adivs Schreie gellten durch den Gang. Sie sprang nach vorn und krallte sich in die Schultern der Sumpffrau.
Syriakin brauchte zwei, drei rasche Bewegungen, dann war sie wieder frei. Sie gab den Männern ein Zeichen. „Ich werde ihn nicht töten, wenn ich nicht muss. Ich will ihn nicht töten!“, sprach sie eindringlich zu Adiv. „Aber sieh ihn dir an! Das ist nicht mehr Arlen. Das ist er!“
Aus Adivs Kehle kamen Wimmerlaute. Arlen hatte beide Arme zur Decke erhoben und den Kopf in den Nacken gelegt. Viel zu weit in den Nacken. Die Haut schimmerte bläulich. Deutlich waren die Blutgefäße zu sehen. Sein Haar fiel aus, kräuselte sich, verkohlte, die Konturen von Nase, Ohren, Mund und Augenbrauen verschwammen. Der Körper verkrümmte, dehnte sich ins Groteske.
„Sein Gesicht wird blau“, heulte Adiv auf und klammerte sich an Syriakin.
Behutsam machte die Sumpffrau sich von ihr los. „Es tut mir leid“, flüsterte sie Adiv zu und wollte den vier Männern hinterher, die sich über die Flanken Arlen näherten.
Adiv riss die Kriegerin herum. „Nein! Er ist nicht der Norogdún! Er ist mein Sohn. Du kannst ihn nicht töten! Er ist ein Kind. Nicht einmal du tötest ein Kind!“
„Er ist kein Kind mehr“, sagte Syriakin im mildesten Tonfall, den sie aufbringen konnte. Ihr Gesicht sah verstört aus, als sie sich in Bewegung setzte.
„Syra!“, kreischte Adiv. Dann gaben ihre Beine nach.
Auf Knien kauernd, beobachtete sie, wie die Kriegerin sich über Gesten und Blicke mit den Männern verständigte, ihre Dolche in die Hände gleiten ließ und geduckt zu Arlen hetzte. Chries und Etahpe hockten sich neben sie, doch sie schenkte ihnen keine Beachtung. Tränenblind und wie betäubt starrte sie den Kämpfern hinterher.
Wie immer übernahm Syriakin wie selbstverständlich die Führung. Sie näherte sich über die Mitte, während die Männer sich nahe der Wände hielten. Dann verdichtete sich die Luft, wurde wie zäher Schleim. Sie legte sich auf die Lungen, erschwerte das Atmen. Staub flirrte plötzlich in der Luft, fegte in Kreisen um den Jungen. Erste Steinchen und Erdkrümel flogen heran. Felssplitter zerrten sich aus den Wänden, vereinigten sich mit Lehmbrocken und Unrat. Sie formten sich zu einer tanzenden Hülle um Arlen.
„Er zaubert“, murmelte Etahpe.
Die Geschwindigkeit der Angreifer verlangsamte sich, als müssten sie sich gegen die Luft stemmen. Ihre Haare stellten sich auf, wehten nach hinten. Es sah aus, als wateten sie gegen ansteigendes Wasser.
„Verrückt“, raunte Chries und zückte das Schwert.
„Los“, hörten sie Syriakin wie aus sehr weiter Entfernung rufen, obwohl die Kriegerin nur wenige Meter vor ihnen war. „Bevor der Schild sich schließt.“
Zu fünft stürzten sie sich auf Arlen, der den kahlen Kopf senkte. Adiv gefror das Blut in den Adern. Schlagartig tat sich die Eiswüste Drahórsuls vor ihr auf. Deutlich sah sie die Schelfeiskante, die meterhoch in den Himmel ragte, über den grüne Irrlichter jagten.
Nordlicht, purzelte ein Wort in ihren Geist. Ylaiy hatte es so genannt.
Vor der Kante erhob sich das Monstrum. Der Norogdún, der es liebte, Menschen zu quälen, der ihr Blut trank und Fleisch von ihren Knochen nagte. Alles nur wegen der Magie.
Mühsam wandte sie den Kopf nach rechts und sah das Loch, durch welches der Obelisk sie geschleudert hatte. Rund um ihn verlief ein Krater, dessen Kanten vibrierten wegen der unterirdischen Erschütterungen. Die Festung stürzte ein und begrub die Quelle unter sich.
Die Quelle. Die Kloake.
Das Bild Drahórsuls waberte aus ihrem Geist und unversehens wurde ihr Kopf so klar wie die Kälte im Eis. Die Quelle. Arlen brauchte sie. Er würde sie beschützen. Um jeden Preis.
„Er wird sie töten“, wandte sie sich Chries zu. „Alle. Er wird sie töten. Syra! Gillok!“, schrie sie, sich vom Boden aufraffend. „Zurück! Er wird euch umbringen!“
Ihr Warnruf kam zu spät. Syriakin war bereits nach vorn geschnellt wie ein von der Sehne schnappender Pfeil.
Arlen erwartete sie mit tödlicher Gelassenheit. Adiv rechnete mit Funken, Blitzen, Lichtern oder ähnlichem Magiewerk, aber nichts davon geschah. Lediglich der Erdschild um ihn flammte kurz auf, als Syra ihn berührte. Sie wurde in hohem Bogen davon geschleudert, prallte auf dem lehmigen Boden auf, rutschte über Splitter, welche ihr die Kleidung aufrissen. Flug und Sturz saugten ihr die Luft aus den Lungen und die Waffen aus den Händen.
Cehaj und Nebunedzad flogen ihr hinterher. Nebunedzad krachte mit dem Rücken gegen die Tunnelwand und blieb mit tauben Beinen liegen, sein Waffenbruder schälte sich das halbe Gesicht an scharfkantigen Steinen ab.
Die Sumpfmänner schafften es geradeso, außerhalb des Schilds zum Stehen zu kommen. Nur Kanouepes Dolch bohrte sich in den Schutzwall. Er wurde Nou so heftig aus der Hand gerissen, dass er aufschrie. Sein Handgelenk verdrehte sich und die Klinge rutschte am Handrücken ab, bevor sie durch den Gang zickzackte, von einer Wand zur nächsten wirbelnd, und sich in Cehajs Wade spießte.
Während Gillok und Nou zu den beiden Verletzten eilten, wälzte Syriakin sich vom Boden hoch. Offenbar war sie bis auf Schürfwunden unverletzt, denn in ihrem Antlitz glomm grimmige Entschlossenheit. Unwirsch wehrte sie Chries‘ helfende Hand ab und lief erneut nach vorn.
Vor dem Schild blieb sie stehen, reckte Arlen ihr schmutzbedecktes Gesicht entgegen. „Hör auf damit!“, brüllte sie den Jungen an, der sie aus geistlosen Augen ansah, schwimmend in seiner Hülle aus Dreck, Staub, Erde und Gestein.
Für einen Augenblick stand die Zeit still. Hatte er sie vernommen? War sie zu ihm durchgedrungen? Adiv hielt die Luft an.
Gillok überließ die Verletzten Nou, trat zu Syriakin, verharrte mit ihr vor dem Schild. Adiv wusste, dass sie ein ganzes Arsenal von Vernichtungswaffen bei sich trugen, die meisten winzig klein, einige giftig. Sie waren Meister der Kampfkunst. Nur die Klingentänzer waren noch unübertroffener. Sie hatten trainiert, unermüdlich und verbissen. Adiv hatte Syras blaue Flecken gesehen, immer neue, jeden Tag, bis sie alle Stellen ihres Körpers abgehärtet hatte wie niemals zuvor. Sie hatte Gillok humpeln sehen, angeschlagen von den täglichen Übungskämpfen. Sie hatte Nou mit kühlen Tüchern und Heilerde versorgt, Kiefer gerichtet, Muskeln massiert, Gelenke wieder eingerenkt. Manchmal auch bei sich selbst. Sie alle hatten gewusst, dass ein Tag wie heute kommen würde.
Und jetzt hatte ein Kind einen Schild um sich errichtet. Mit der bloßen Kraft seines Willens. Mit Magie. Es hatte sich eingesperrt und ließ sie nicht hindurch. Alle Waffen würden wirkungslos von ihm abprallen. Alle Kampfkraft reichte nicht aus, durch die Abwehr zu dringen.
Auch der Norogdún war unbesiegbar gewesen. Tage hatten sie gebraucht, um ihn zu vernichten. Arlen war stärker. Er war ein Besonderes Kind. Er stand vor der Quelle, die ihn ein Leben lang genährt, ihn zurück in ihren Schoß gerufen hatte.
Wenn sie kämpften, würde er sie töten.
Wenn sie nicht kämpften, würde die Magie ihn töten.
Wer sollte ihn aufhalten? Wer die Magie?
Sie ballte die Fäuste, schob Chries und ihre Mutter beiseite, trat so nah wie möglich an ihren Ziehsohn. „Arlen, Syra hat recht. Hör auf damit. Es ist falsch. Das weißt du.“ Ihre Stimme gehorchte ihr kaum.
Arlens Blick bohrte sich in sie, zuckte durch ihr Innerstes wie kalter Stahl. Schwarze Augen, lidlos, wimpernlos, ohne Pupille, ohne Grund. Nichts Menschliches stand mehr in ihnen. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie an die klaren, grauen Iriden dachte, in die sie so oft geschaut hatte. Sie hatten geleuchtet wie Bergseen, in denen sich Schieferfels gespiegelt hatte. Manchmal hatten Tränen sie verzerrt.
„Deine Mutter würde das nicht wollen. Wenn du es zulässt, ist sie umsonst gestorben. Videm wäre umsonst gestorben. Mannero und Ivson, Clothis, Olav. Erinnerst du dich an sie?“
Die schwarzen Löcher starrten sie unverwandt an, während Staub und Erde um den unförmigen Schädel flirrten. Sie sah, wie er den Mund öffnete. Einen lippenlosen Schlund. Und wieder marterten die Erinnerungen. Ein lachender Kindermund mit kirschroten Lippen, weißen Zähnen, einer Zunge, die im Mundwinkel klebte, wenn er über etwas nachdachte.
„Es ist stärker als ich“, vernahm sie eine Stimme, die nicht mehr seine war. Erdverklebt, erstickt, zermahlen.
„Du kannst es beenden, Arlen. Du musst es beenden. Ich bitte dich.“
„Sie ist zu stark. Ich kann sie nicht aufhalten. Ich brauche sie.“
Sie fiel auf die Knie. „Nein. Sie braucht dich. Und sie wird vernichten. Sie wird euch alle vernichten. Wir lieben dich, Arlen. Ich liebe dich. Aber du musst sie aufhalten. Nur du kannst es.“
Er antwortete nicht. Schwamm körperlos in seiner Hülle wie ein Korken auf dem Wasser. Cehaj und Nebunedzad richteten sich langsam auf, starrten das Wesen entgeistert und hilflos an.
„Tu es für Aan, Arlen“, flüsterte sie mit enger Kehle. „Bitte. Beende es.“
„Geht weg“, sagte er. Die Stimme wurde noch undeutlicher, verlor alle Modulationen, wurde flüssig wie die Umrisse seines Körpers.
„Nein, Arlen, bitte“, flehte Adiv, indes der Druck um sie zunahm und sie zu Boden presste.
Dann waren die Sumpfleute heran, alle drei gleichzeitig, rissen sie von der Erde hoch und schleiften sie nach hinten, weg von dem Wesen, das sie einst geschworen hatte zu beschützen. Die Majestes hinkten ihnen nach, Cehaj mit blutüberströmtem Gesicht.
„Arlen“, hauchte sie, erfüllt von Angst und Grauen.
Die Luft um ihn zerriss mit einem lauten Knall. Für einen Augenblick verschwamm die Welt. Dann begriff Adiv, dass der Schild verschwunden war und Arlen zerlief.
Sie merkte kaum, wie die Kriegerin und Chries ihr in den Arm fielen. Alles, was sie sah, war Arlen, der sich auflöste, Gillok und Nou, die irgendwie versuchten, an den Jungen heranzukommen, ihn zurückzuhalten, ihn zu retten. Die versuchten, den Zersetzungsprozess aufzuhalten, der eingesetzt hatte, als die Magie seinen Körper verließ und ihn mitnahm auf ihrem Weg zurück in die Quelle.
Ihr Verstand setzte aus. Immer wieder tauchten Chries und Syra vor ihr auf, um sie daran zu hindern, zu Arlen zu gelangen. Arlen, der unmenschliche Töne ausstieß, erstickte Gurgellaute und blubbernde Worte. Sie hörte nicht, dass sie selbst schrie, heulte und wimmerte. Ihre Arme ruderten durch die Luft, hieben und boxten. Sie merkte nicht, dass sie Chries von sich stieß, dass ihre Fäuste gegen seine Brust wirbelten, dass sie Syriakin ihren Ellenbogen ins Gesicht trieb, dass sie Etahpes Beine mit ihren Stiefelspitzen blutig trat.
Sie verstand nicht, dass die drei sie schützen wollten vor dem grausigen Anblick, vor dem Versuch, ihrem Sohn zu Hilfe zu eilen und dabei selbst den Tod zu finden. Sie sah, wie Syra sich vor ihr aufbaute, ihre Arme ausstreckte, ihr etwas entgegen brüllte, aber sie hörte nichts außer dem pfeifenden Atem Arlens, verstand nicht, warum Syras Augen in Tränen schwammen und Blut aus ihrer Nase lief.
Adiv stemmte sich gegen sie, schob sie rückwärts. Ihre Fäuste trommelten gegen sie, bis Syra unversehens einen Schritt zurückmachte und Adiv nach vorne stolperte, zusätzlich gezogen von einem kräftigen Ruck. Im selben Augenblick presste Syra sie so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb.
Der älteste aller Tricks, begriff Adiv, deren Verstand sich jählings klärte. „Lass mich los“, schrie und schluchzte sie gegen Syriakins Schulter an. „Lass mich. Ich muss ihm helfen. Helft ihm doch. Hilf ihm! Ich hasse dich!“ Sie stieß ihre Fäuste gegen Syras Rippen, aber die Schläge waren kraftlos nun, keine Herausforderung für die Muskeln ihrer Freundin.
„Das kann ich nicht“, murmelte die Kriegerin in Adivs Locken. „Es tut mir leid. Es tut mir leid, Adiv. Ich habe es versucht.“ Sie flüsterte weitere Entschuldigungen, bis Adiv gegen sie sackte.
Syriakin hielt sie fest, schirmte sie ab, wartete, bis ihr Weinen zu einem leisen Wimmern geworden war. Dann winkte sie mit den Augen Chries herbei, gab Adiv aus der Umklammerung frei und schob sie zu ihm. „Lass sie nicht zu ihm.“
„Oh, Syra, es tut mir leid“, wisperte Adiv, als sie die Spuren ihres Ellenbogens auf der Wange der Kriegerin sah. Sacht streckte sie die Hand nach der Schwellung aus. Die Sumpffrau wich den Fingern aus, wischte sich mit dem Ärmel die Blutschlieren unter der Nase weg. „Halb so schlimm“, versuchte sie ein verschnupftes Lächeln in Adivs Richtung und trat zu den Männern, die mit versteinerten Mienen am Rand der Grube standen.
Graues Licht sickerte durch die mannshohen Fenster. Müde starrte Sila durch die halb blinden Scheiben. Verhangener Himmel, dunstige Stille, Kälte. Bleigrau, das die Gedanken beschwerte und Gefühle erstickte. Erst am frühen Abend, wenn die Dunkelheit sich herabsenkte, würde die bedrückte Stimmung verfliegen. Bis dahin waren es noch einige lange Stunden.
„Ich hoffe, morgen scheint die Sonne“, brummelte sie halblaut.
„Ihr könntet Glück haben“, erwiderte eine sanfte Stimme aus dem Halbdunkel des Zimmers.
Sie fuhr zusammen.
„Es tut mir leid“, sagte Yvain. „Ich wollte Euch nicht erschrecken.“
Sila wischte sich über die Stirn. „Nein, es ist meine Schuld. Ich war in Gedanken. Dieses Wetter macht mich schläfrig.“
Und die kurzen Nächte.
Die Erinnerung an Ylaiy und sie zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.
Yvain lächelte zurück und für einen Augenblick fühlte sie sich ertappt. Manchmal schien es, als könne er in ihrem Geist lesen wie in einer der Schriften, die er so oft studierte.
Und wenn schon, dachte sie. Schließlich war sie erwachsen und tat nichts Verbotenes.
„Es ist schön, wie du mit Talin spielst“, sagte sie. „Ich bin dir sehr dankbar. Es entlastet mich und meine Mutter.“
„Er ist ein lieber Junge“, entgegnete Yvain mit einem warmen Blick auf den Knaben, der mit ihm auf einer Decke saß und geschnitzte Figürchen hin und her schob oder hölzerne Kugeln zu Yvain rollte, der sie zurück schubste.
„Du hast mehr Geduld als ich. Wie Rana. Ich spiele gern mit ihm, aber nach einiger Zeit verliere ich die Lust.“
„Wenn er älter wird, wird er andere Spiele mögen. Bevor Ihr Euch verseht, werdet Ihr Mühe haben, ihn im Pajut zu schlagen.“
Sila grinste. „Ich bin eine ausgezeichnete Schummlerin. Sonst hätte ich gegen deinen Vetter nie eine Chance gehabt. Im Kartenspiel und an den Würfeln gewinne ich öfter als er.“
„Ich habe fast immer gegen meine Mutter oder Shesh gewonnen.“
„Die Leute müssen unheimlich gern gegen dich gespielt haben.“
„Als ich klein war, ließ Mutter mich gewinnen. Sie dachte, ich merke es nicht.“ Schatten liefen über sein Gesicht, ließen es kindlicher aussehen. Wie so oft musste Sila sich ins Gedächtnis rufen, dass er genau das war: ein Kind. Ein Knabe von nicht einmal zehn Jahren.
„Warum hast du nichts gesagt? Mich hätte es fuchsteufelswild gemacht, wenn ich aus Gnade gewonnen hätte. Ich bin eine furchtbar schlechte Verliererin, aber ein geschenkter Sieg ist noch schlimmer, finde ich.“
„Sie wollte, dass ich mich gut fühle und ich tat ihr den Gefallen, denn so fühlte auch sie sich gut.“
„Ihr müsst euch sehr geliebt haben.“
Yvain zog leise die Nase hoch. „Wie Ihr und Talin“, erwiderte er heiser.
Der kleine Junge blickte zu seinem älteren Spielgefährten auf, als er seinen Namen hörte. „Talin“, brabbelte er.
„Talin“, wiederholte Yvain und piekste ihn mit dem Zeigefinger in den Bauch. „Das bist du. Talin.“
„Mama“, sagte der Kleine und zeigte auf Sila.
„Ja, Mama.“
„Omama?“, fragte Talin mit großen Augen.
„Sie hat zu tun.“
„Tommt bald?“
Yvain lächelte. „Ja, sie kommt bald.“
Mitten in das Lächeln hinein fuhr der Krampf wie ein Schwert. Mit einem Ächzen sank er aus dem Schneidersitz zur Seite. Sein Kopf schlug auf der Spieledecke auf.
Sila sprang aus dem Sessel und hockte sich neben ihn, während Talin mit weit aufgerissenen Augen steif sitzen blieb.
„Yvain!“ Erschrocken klopfte Sila auf seine Wangen und drehte ihn auf den Rücken. „Yvain! Was ist? Yvain! Komm zu dir! Yvain!“ Ihre Stimme wurde schriller, je öfter sie seinen Namen rief und er nicht reagierte. Panisch sah sie sich um. „Hilfe!“
Yvains Augen standen offen. Sie waren so weit nach oben verdreht, dass man nur noch das Weiße sah. Der Körper zuckte unter den Spasmen. Speichel flog von seinen Lippen, Blut trat aus seiner Nase.
„Hilfe!“, schrie sie erneut. „So helft doch einer! Ylaiy!“
Früher, wurde ihr mit einem Mal bewusst, hätten vor der Tür zwei Wachen gestanden, aber seit den Palastmorden war die Zahl der Uniformierten gesunken, patrouillierten die Männer an den Zugängen.
Wo zur Hölle war Shesh?
„Yvain!“ Mit der Faust schlug sie ihm auf die Brust, als keuchende Atemzüge aus den Lungen drangen. „Ihr werdet nicht krank! Niemals! Wach auf! Komm zu dir! Hilfe!“
Über Talins bleiches Gesicht krochen Tränen, doch er jammerte nicht. Stattdessen kam er unbeholfen auf die Füße und tapste Richtung Tür. „Omama.“
„Nein! Bleib hier!“
„Omama“, nuschelte der Knirps und sah Sila an. Dann hob er beide Arme. „Tür.“
„Talin“, hauchte sie. Unentschlossen schossen ihre Blicke zwischen ihrem Sohn und Yvain hin und her. Ylaiys Vetter zuckte. Schnaufendes Gurgeln drang aus seinem Inneren. Sein Schritt war durchnässt.
Sila stemmte sich in die Höhe und öffnete Talin die Tür. „Hol Omama“, sagte sie energisch und drückte ihn an sich. „Sei lieb. Hol Hilfe. Schnell!“
„Snell.“ Er nickte und lief los.
Ihm stumme Gebete hinterherschickend, kehrte sie zurück zu Yvain, kniete sich neben ihn und nahm seine Hand. „Halte durch. Gleich kommt Hilfe. Hörst du, Yvain? Ganz ruhig. Durchhalten. Atmen.“
Rasselnde Luftstöße quollen über seine Lippen. Eiseskälte kroch über seine Hand in ihre Finger. Sein Gesicht glänzte violett.
Sie sprach weiter zu ihm, kreuzte seine Hände auf der Brust, schirmte ihre eigenen über sie, streichelte das schweißnasse Haar, bis sie endlich Schritte hörte, die sich auf dem Korridor näherten.
Sem stürzte als Erster in den Raum und verharrte auf der Schwelle. Rana folgte ihm auf dem Fuß, Talin auf dem Arm. Sie erfasste die Situation mit einem Blick, reichte ihren Enkel an den Drechsler, sank neben ihrer Tochter auf die Knie und berührte Yvains Stirn.
„Keine Fieberkrämpfe“, stellte sie fest.
„Nein, es ging ihm gut. Der Anfall kam wie aus heiterem Himmel. Ist es Fallsucht?“
Ratlos zuckte Rana mit den Schultern. „Einige Anzeichen sprechen dafür, die Atemnot nicht.“
„Was tun wir?“
„Bei Fallsucht sorgt man nur dafür, dass der Betroffene sich nicht verletzt, räumt alles beiseite, lässt ihn entkrampfen. Manche Heiler stecken ihnen Beißkeile in den Mund, damit sie sich nicht die Zunge abbeißen, doch das führt manchmal zu weiteren Verletzungen.“
„Also warten wir einfach ab?“
„Lass ihn uns auf die Seite drehen, dass er besser Luft bekommt. Vorsichtig.“
Behutsam rollten sie Yvain in die bequemere Lage. Rana schob seinen Kopf in den Nacken, öffnete seinen Mund. Dann sank sie zurück und sah Sem an. „Vielleicht bringst du Talin woanders hin.“
„Wollen wir Evie besuchen? Bestimmt hat sie Sesamringe gebacken. Ein Held wie du hat sich eine süße Mahlzeit verdient.“ Der verhärmte Mann schaute Talin aus warmen Augen an.
„Ja“, krähte der Kleine.
Rana warf Sem einen dankbaren Blick zu und wandte sich wieder Yvain und Sila zu. „Schau. Er beruhigt sich. Gleich kommt er zu sich.“
In der Tat war das krampfartige Zucken einem leichten Zittern gewichen und langsam kehrte Farbe in Yvains Wangen zurück. Sein Atem normalisierte sich.
„Ihr Götter im Himmel!“, stöhnte Sila erleichtert. „Von dem Schrecken muss ich mich erst einmal erholen.“
„Er ist sehr kalt. Lass ihn uns einwickeln.“
Die beiden Frauen falteten die Decke um Yvain. Danach ließ Sila sich auf ihre Fersen sinken. „Was hat den Anfall ausgelöst?“
„Da gibt es viele Ursachen. Körperliche, seelische ...“
Ylaiy schlitterte über die Schwelle. „Ich traf Sem und Talin. Was ist geschehen?“
Sila berichtete, wie Yvain plötzlich zur Seite gekippt war. Noch während sie erzählte, schlug dieser die Augen auf und sah sie matt an.
„War dir schwindlig? Gab es ein Licht? Hattest du seltsame Sinneseindrücke?“, fragte Ylaiy seinen Vetter.
Yvain begann zu weinen. „Arlen ist tot.“
Gillok hörte sie herankommen, langsamer als sonst. Er streckte die Hand aus und kalte Finger schlossen sich um seine, dann schmiegte sie sich an ihn und starrte in die stinkende Grube. Von Arlen war nichts mehr übrig. Sein Körper hatte sich zersetzt.
„Als hätte er nie existiert“, sagte Gillok mit belegter Stimme. Er dachte an Ciycain und zwang ein Schluchzen hinunter, zog Syra an sich und presste sein Gesicht in ihre Halsbeuge.
Sie stand ganz still, atmete kaum. Er konnte das Verlangen beinahe spüren. Loszulassen, sich dem Schmerz hinzugeben. Natürlich tat sie es nicht.
Nou war am Rand der Grube zusammengesunken und glotzte in die dunkle Brühe. Cehaj und Nebunedzad standen neben ihm, ihre Gesichter so grau wie die Wände ringsum. Nebunedzad hatte sich vorgebeugt, die Arme auf die Oberschenkel gestützt. Abgesehen von Adivs Schluchzern war es gespenstisch still.
Deshalb klang das plötzlich einsetzende Geräusch beinahe ohrenbetäubend laut.
Plopp.
Fäkalien spritzten auf. Die Spritzer erreichten den Rand der Kloake nicht, dennoch traten alle einen Schritt zurück.
Weitere Einschläge. Wenige zuerst, dann immer mehr, in immer schnelleren Abständen.
Plopp, plopp. Plopp.
Die Brühe geriet in Bewegung. Wellen aus schwimmenden Exkrementen schwappten gegen die Einfassung. Winzige Krater entstanden. Der Geruch wurde schlimmer, so übel, dass Nous Magen zu revoltieren begann.
„Goj!“, rief Cehaj und riss seinen Bruder mit sich. Sie stützten sich gegenseitig, während sie den Gang zurückwichen. Nou sah an die Decke. Steine fielen hinunter, kleinere, größere. Erde rieselte herab, prasselte in die Kloake und den Stollen.
„Sie stürzt ein“, sagte er, mehr verdutzt, denn erschreckt.
„Weg hier.“ Gillok zerrte Syra und Nou zu Adiv und Chries. Etahpe war bereits vorausgelaufen, gefolgt von den hinkenden Majestes.
„Was ist über uns?“, keuchte Gillok Etahpe zu.
„K’yr. Über tausend Meter Erdreich und Fels. Wir sollten machen, dass wir wegkommen.“
Sie rannten los, während um sie die Welt zerfiel.
Kindsgroße Wurzeln lockerten sich, stürzten auf sie. Erde bröckelte, Steine regneten herab. Längst versunkene Mauern lösten sich aus dem Erdreich wie faule Zähne. Insassen und Soldaten, die sich über ihnen nicht schnell genug in Sicherheit gebracht hatten, brachen durch die Decke, landeten auf Geröll, zerschellten, spießten sich auf. Gräber sackten in sich zusammen, gaben vermoderte Leichen frei. Knochen rieselten, uraltes Holz, versteinert und schwarz, krachte hinab. Das meiste platschte in die Kloake, ging unter, türmte sich auf, wuchs. Bald schon ragte ein Gebirge aus Stein, Schutt, Holz und Erde aus der Grube, unter der die Quelle lag.
Schreie ertönten ringsum. Menschen verließen ihre Behausungen, rannten panisch in alle Richtungen. Der Sog aus Leibern riss die Gefährten mit sich, schwemmte sie Gänge und Tunnel entlang, spülte sie in Keller, dann in Gebäude, anschließend nach draußen.
An der Oberfläche schien die Sonne, aber sie hatte sich verdunkelt. Staub verdichtete die Luft, verzerrte die Sicht. Menschen stellten sich ihnen entgegen, brüllten Zusammenhangloses. Sie schubsten sie weg, rannten weiter, eine Ewigkeit weiter, blieben erst stehen, als sie sicheren Boden erreichten, und blickten schwer atmend zurück.
„Davanas“, stöhnte Nou. K’yr, Veis stolze Berggarnison, war in sich zusammengesunken wie ein gigantischer Sack Getreide, den man aufgeschlitzt hatte. Das Hochplateau war weggerutscht und an den Hängen hinabgeflossen. Gewaltige Gesteinlawinen spritzten noch immer nach allen Seiten weg, rissen mit sich, was im Weg stand, stauten sich zu riesigen Geröllhaufen. Bäume, Felsen und Mauern waren auf das Gefängnislabyrinth geregnet, hatten Menschen und Häuser gleichermaßen unter sich begraben. K’yr hatte alles beerdigt, was in seiner Nähe gestanden hatte; hatte einen Krater in den Boden gerissen und aufgefüllt.
Menschenmassen wälzten sich ins Tageslicht. Hysterische Rufe, heulendes Klagen und panische Schreie stiegen in die Luft. Insassen und Soldaten in verblichenen Uniformen rannten gleichermaßen desorientiert über die von schmutzigem Schnee und Matsch bedeckten Höfe.
Etahpe drehte sich zu den anderen. „Schnell! Wir müssen hier weg. Chries vor allem.“
„Glaubt Ihr, es gibt einen Aufstand?“, fragte Gillok.
„Und ob.“ Mit dieser knappen Antwort drängte sie die Gefährten in Richtung Tor.
Cehaj und Nebunedzad schüttelten die Köpfe und die Hand der alten Frau ab. „Vater.“
„Später“, sagte Etahpe. „Verbergt Euch, wartet ab. Hier oben wird das Chaos ausbrechen.“
„Geht“, erwiderte Nebunedzad.
In diesem Moment trat eine Gruppe gertenschlanker Männer und Frauen zwischen Gebäudeüberresten hervor.
Cehaj erstarrte und zischte eine schmächtige Frau mit lehmgelber Haut an, die auf ihn zutrat und ihn mit düsteren Blicken durchbohrte.
„Wer ist das?“, murmelte Gillok.
„Novíes“, sagte Chries. „Zweite Familie. Auch sie gehorchen Nehegelen.“
„Warum lassen sie uns nicht gehen?“
Etahpe betrachtete nachdenklich die Gruppe. „Sie konfrontieren Cehaj. Scheint, als wäre ein Thronkampf unter den Majestes ausgebrochen.“
„Was nun?“, fragte Chries nervös.
Statt einer Antwort griff Syriakin an ihren Gürtel. Chries folgte ihrem Beispiel und angelte nach seinem Schwert.
Cehaj stieß gestikulierend Wörter in Richtung der Frau aus. Sein verschlossenes Gesicht zeigte erstmals Anzeichen von Erregung. Die Frau sah ihn hochmütig an und schwieg. Schließlich gab sie eine Reihe stummer Signale und die Tänzer der Novíes drängten sich an sie heran, keilten sie ein, schoben sie aneinander, bis Adiv, die seit Arlens Tod wie betäubt schien, zornig die Arme hob. „Was wollt ihr denn?“, bellte sie die Männer und Frauen an. „Der Junge ist tot. Reicht das nicht?“
„Eindringlinge“, knurrte die Anführerin zurück. „Unser Land. Unsere Magie.“
„Wir wollen eure Magie doch gar nicht!“
„Unser Land“, wiederholte die schmächtige Frau unbeeindruckt.
„Behaltet es!“
Etahpe und Chries griffen besänftigend nach Adivs Händen.
Nebunedzad stellte sich der Frau in den Weg. „Unser Land“, zischte er. „Nad Tala.“
„Nein. Nicht mehr!“ Blitzschnell hatte sie ihre Hand zu einer Kralle geformt und stieß ihre Fingerspitzen seitlich unter dem Kiefer in Nebunedzads Hals. Der Kämpfer brach augenblicklich zusammen.
„Vater ist tot“, fauchte sie Cehaj zu, der sofort in Angriffsstellung gegangen war, jetzt aber erstarrte. „Novíes. Ab heute.“
„Was ist mit Chausselles?“, fragte Syriakin laut und musterte die Anführerin und ihre Tänzer.
Statt einer Antwort spuckte die Tänzerin aus. „Würmer!“
„Sie könnten zurückkehren.“
„Sie kehren nicht zurück“, radebrechte die Tänzerin. „Wir sind stärker.“
Auf ihre Aussage hin erschienen weitere Männer und Frauen. Sie schienen direkt aus der Erde zu wachsen, schälten sich von Mauerstücken, erhoben sich aus dürrem Wintergras und Schneematsch. Klein und schmächtig allesamt, aber entschlossen und unbeirrbar.
Gillok hob die Hände. „Euer Zwist hat nichts mit uns zu tun. Es muss kein Blut vergossen werden. Cehaj und Nebunedzad können mit uns gehen.“
„Nein!“, rief Cehaj. „Wir bleiben. Wir kämpfen.“
„Sie sind in der Überzahl. Wo ist Eure Verstärkung?“
„Bei Vater“, mischte die Anführerin sich ein. „Sie betrauern ihn. Kämpfen gegeneinander.“
Cehajs Blick verdüsterte sich. „Wie starb er?“
„Er starb einfach.“ Die Tänzerin sagte es ohne Herablassung, aber auch ohne Bedauern. „Gleich darauf brach die Erde ein. Novíes.“
Cehaj hob die Fäuste. „Nad Tala.“
In dem Moment, in dem er die Tänzerin attackierte, sank ein halbes Dutzend Novíes ohne einen Laut zu Boden, als hätten sie einen unsichtbaren Hieb erhalten. Und noch während Cehaj und die Gefährten sich fassungslos ansahen, sackten weitere Tänzer in sich, als hätte man sie von Stricken geschnitten. Andere taumelten, griffen sich an Kehlen und Herzen. Auch das Gesicht der Anführerin wurde weiß und gleich darauf blau. Sie verdrehte die Augen und kippte zur Seite, als ihre Beine unter ihr wegbrachen wie morsches Geäst.
Manche Gefallenen wanden sich und zappelten, bevor sie verstummten. Ihre Brüder und Schwestern krochen zu ihnen, redeten auf sie ein, setzten sich schließlich neben sie, die Gesichtszüge leer und verloren.
Die Gefährten warfen sich fragende Blicke zu. Syriakin war die Erste, die sich aus dem Kreis löste und sich zu den am Boden Liegenden beugte. Sie beäugte sie, befühlte Einzelne, bevor sie sich wieder aufrichtete. „Tot. Einige zumindest. Die anderen scheinen einfach ... schwach.“
Cehajs Miene blieb unergründlich. Er ging zu einer der Überlebenden, zog einen grifflosen Dolch aus dem Gürtel und schlitzte ihr von hinten die Kehle auf. Sie leistete keinerlei Gegenwehr. Der nad Tala schritt zum Nächsten und wiederholte die Prozedur. Schließlich stellte Syriakin sich ihm in den Weg. „Genug. Ihr habt gewonnen.“
„Mischt Euch nicht ein. Geht!“
„Cehaj. Sie sind schon tot, selbst die, die noch atmen. Arlen hat ihnen die Magie genommen. Nur die keine oder wenig besaßen, haben überlebt.“
„Maji?“
„Ihre Lebenskraft ist erloschen. Kümmert Euch um sie. Sonst ist bald kein Majestes mehr übrig, nur Chausselles. Nehmt Euren Bruder. Sucht Überlebende.“
Er starrte sie an, bevor er langsam nickte. „Geht! Kehrt nicht zurück. Das ist unser Land. Nad Tala.“
Syriakin betrachtete das Toben um sie herum. „Viel Glück.“
„Vor Euch liegt eine Menge Arbeit“, sagte Gillok.
Cehaj nickte, hob eine Hand zum Abschied und half dann Nebunedzad auf die Beine, der seine Sinne wiedererlangt hatte und bestürzt um sich sah.
„Beeilt euch!“, drängte Etahpe. „Es gerät außer Kontrolle. Seht die Häftlinge an! Das ist ihr Befreiungsschlag. Niemand ist mehr sicher, die Wärter am allerwenigsten. Bringt Chries hier heraus! Nehmt ihn mit! Alles bricht zusammen!“ Die kleinwüchsige Diebin schubste Adiv mit einem Arm von sich.
Diese fuhr herum. „Was ist mit dir?“
„Mein Platz ist hier.“
„Es gibt hier keinen Platz mehr. Arlen ist tot, der Älteste ist tot, hunderte Menschen sind tot und weitere werden sterben. Die Boragha ist beerdigt. Das hier ist ein verdammter Friedhof!“ Adiv zitterte am ganzen Leib.
Etahpe lächelte und fasste nach der Hand ihrer Tochter. „Mein Platz ist hier. Komm mich besuchen, wenn alles vorbei ist.“
„Was denn? Dein Grab?“
„Cehaj und Nebunedzad leben.“ Etahpe wies auf die beiden nad Tala, die den geschwächten Novíes aufhalfen, die wie Kiefern im Sturm schwankten. „Ihre Reihen mögen sich gelichtet haben, doch sie sind nicht ausgerottet. Die Familien haben immer für Stabilität und Sicherheit gesorgt. Sie werden es weiterhin tun.“
„Ohne Magie“, stieß Adiv hervor.
„Dafür mit dem Wissen ihrer Vorväter. Sie können kämpfen und sie können herrschen. Bis Hilfe aus Yruish eintrifft, sorgen sie hier für Ordnung.“
„Ist dir klar, was du sagst, Mutter? Du willst in dem Gefängnis bleiben, das du zeit deines Lebens verlassen wolltest? Du willst den Menschen helfen, die du gefürchtet hast? Du willst helfen, etwas zu schützen, das uns alle fast umbrachte?“
„Das hier könnte etwas Neues werden. Ich hätte eine Aufgabe. Ich bin keine Najimi wie deine Ziehmutter, aber ich kann ihren Verletzten helfen. - Unschuldige sind in Gefahr, wenn das Chaos ausbricht. Wenn die Boragha sich auflöst, werden Verbrecher die Sieger sein. All die bösen Menschen.“
„Was ist mit mir?“, fragte Adiv mit brüchiger Stimme.
Etahpe lächelte und strich ihrer Tochter über die kalte Wange. „Du bist so stark. Du konntest diesen Ort verlassen. Du hast Freunde, eine Familie.“
„Mein Sohn ist tot.“ Eine Träne zog eine heiße Spur in Adivs Antlitz.
„Du wirst eine neue Familie haben. Deine Freunde brauchen dich, so wie ich hier gebraucht werde. Wir sehen uns wieder, ganz bestimmt.“ Sie drückte Adiv und umarmte Chries. „Los jetzt! Lauft!“
„Ortiz. Vamin.“ Kian löste sich aus der Gruppe um das Feuer und trat auf die beiden Neuankömmlinge zu. „Neuigkeiten?“
Der Jüngere und Verschlagenere offenbarte braunfleckige Zähne, als er grinsend drei Finger aneinander rieb.
„Kommt.“ Kian warf Blicke die Gasse hinauf und hinunter, bevor er sie überquerte und durch einen Hauseingang auf einen Hinterhof huschte, wo sie in undichten Schuppen ihr Winterquartier aufgeschlagen hatten. Der Besitzer akzeptierte die verlotterten, verlausten Kinder, denn sie hielten Plünderer und streunende Tiere auf Abstand. Letztere landeten nicht selten in den improvisierten Kochtöpfen der Waisen und Davongelaufenen.
„Wie viel?“, fragte Kian, sobald sie einen der Unterstände betreten hatten.
„Zwei Nächte“, forderte Vamin.
„Wir sind schon zu viele hier. Versucht es in den Booten oder in den Kerkern.“
„Eine.“ Ortiz‘ Stimme klang weniger selbstbewusst als die seines Bruders. Kian musterte ihn. Ortiz war abgemagert, grau im Gesicht, die Kleidung ein Sammelsurium irgendwo aufgelesener Fetzen, mal zu groß, mal zu klein; immer jedoch fadenscheinig und zu dünn für den Winter. Die Pocken hatten beide Eltern innerhalb von Tagen hinweg gerafft, zwei der ersten Opfer der Spätsommerseuche. Anfangs hatten sie allein in der desolaten Hütte gelebt, bis der Hunger sie auf die Straße getrieben hatte. Als sie zurückkehrten, hatten fremde Männer ihr Zuhause ausgeräumt und das Brüderpaar verjagt.
„Lasst hören.“
„Die Kerker sind wieder besetzt. Einer von Gurbandats ehemaligen Untergebenen hat jetzt den Befehl. Er hat uns verscheucht. Die Zellen sind voll von Trinkern und Gaunern. Im Winter lassen sie sich absichtlich erwischen.“
„Dann bleiben nur noch die Boote und ein paar Zelte in den Parks“, überlegte Kian laut.
„Letzte Nacht fand man zwei erfrorene Männer im Kirchengarten. Sackleinen und Qutúndecken schützen nicht annähernd bei der Kälte.“
„Was ist mit den Kirchen und Tempeln selbst?“
„Sie nehmen nur wenige auf. Heißes Wasser und ein Kanten Brot fallen meist ab, mehr nicht.“ Ortiz steckte die Hände in die Achselhöhlen. Im Gegensatz zu seinem Bruder trug er weder Handschuhe noch Kopfbedeckung.
„Anzeichen von den Graugewandeten?“
Vamin schüttelte den Kopf. „Nichts rund um die Kerker. Und bei der Heilerin ist alles ruhig.“
Kian blitzte die Brüder aus dunklen Augen an. „Ihr habt euch in der Nähe der Residenz herumgetrieben? Das solltet ihr nicht. Ihr bringt euch in Gefahr und vielleicht auch sie.“
Trotzig drehte Vamin die Kappe mit der verbliebenen Ohrenklappe so, dass sein rechtes Ohr nun erwärmt wurde. „Wir waren vorsichtig. Sind doch nicht blöde.“
Kian starrte den Kleineren an, bis dieser den Blick senkte und eine Entschuldigung murmelte. „In Zukunft haltet ihr euch fern.“
„Wir wollten nur helfen“, murrte Ortiz. „So wie die anderen.“
„Ich weiß. Trotzdem gibt es einen Plan, an den wir uns halten müssen. - Eine Nacht. Wartet.“ Kian kramte in seiner Kleidung, fischte zwei Winteräpfel und eine halbe Scheibe Brot heraus. Vamins Hand zuckte vor, aber Kian schlug sie weg.
„Dummkopf“, zischte Ortiz und verpasste dem Jüngeren eine Kopfnuss. „Sei nicht so gierig.“
„Hab Hunger“, nörgelte Vamin.
„Bitte ihn.“
Vamin sah Kian an, Verschlagenheit und Unterwürfigkeit gleichermaßen im Blick. „Bitte.“
„Teilen“, warnte Kian. „Verschwindet jetzt! Lasst die anderen das Essen nicht sehen.“
„Sind doch nicht blöde.“
Als die Brüder verschwunden waren, erschien ein trauriges Lächeln auf Kians Gesicht. „Arme Seelen“, flüsterte er und verkrampfte.
Mit einem erstickten Aufschrei fiel er auf die Knie und beugte sich nach vorn, bis sein Kopf beinahe das schneebedeckte Pflaster berührte, die Arme um den eigenen Körper geschlungen. Sand stob aus seinem Mund, wurde vom Wind davongetragen oder rieselte zu Boden. Lange blieb er in dieser Position hocken, schaukelte vor und zurück, wimmerte leise.
Erst als kalte Nässe durch sein Beinkleid drang und es zu schneien begann, raffte er sich auf und schleppte sich durch den Eingang auf die Gasse. Doch anstatt auf das Feuer zuzugehen, schlug er einen Bogen und entfernte sich langsam, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Arme wie einen Mantel um sich gelegt.
Einer der Jungen an der Feuerschale bemerkte ihn und stupste seine Nachbarn an. Getuschel setzte ein. Schließlich löste sich ein älterer Knabe aus der Gruppe, lief Kian hinterher, berührte ihn scheu und redete auf ihn ein.
Kian schüttelte ihn ab, ohne ihn anzusehen, und sagte etwas. Achselzuckend kehrte der Junge zu den anderen zurück.
„Was is?“, erkundigte sich ein krumm gewachsener Knabe.
„Weiß nich. Er brabbelt immer nur dieses eine Wort: Arlen.“
„Arlen?“, horchte ein schwarzhaariger Bursche auf. „Der Ziehsohn der Heilerin?“
„Vielleicht ist was passiert“, mutmaßte der Krumme.
„Hm“, sagte der Schwarzhaarige und spuckte aus. „Tepes, Cillion, Yaell, los! Wir behalten ihn im Auge.“
Chries zog die anderen mit sich in Richtung der Ställe. „Zu den Pferden!“
Nou verlor schon nach wenigen Metern den Überblick. Die verschachtelten Höfe des Gefängnisses stellten bereits in gewöhnlichen Zeiten eine Herausforderung für Besucher und Fremde dar. Jetzt, in den Augenblicken von Auflösung und Chaos, rannte er blindlings Chries hinterher, der sich, Haken schlagend wie eine Sumpfratte, durch Trümmer, Erdhaufen und Menschengruppen schlängelte.
K’yr hatte Häuser und Menschen mitgerissen und unter sich begraben, die jahrhundertealte, marode Ordnung der Boragha in weniger als einer Stunde zermalmt. Nou sah, wie immer mehr Häftlinge herbeiströmten, aus dunklen Ecken, verborgenen Winkeln, windschiefen Hauseingängen und fensterlosen Kerkern, aus Erdlöchern und verwinkelten Tunneln. Mit stumpfen Sinnen erfasste er, wie Wut und Hass durch die Menge fegten, Männer und Frauen gleichermaßen in bösartige Raubtiere verwandelten. Zähne blitzten auf, Finger formten sich zu Klauen. Insassen, jahrzehntelang unter die Erde gepfercht, in enge Verschläge und Kerker gezwungen, gefoltert, misshandelt, mangelernährt, richteten sich auf, wuchsen zu einem Rudel blutrünstiger Wölfe.
Wärter wurden zu Fluchttieren, niedergerissen von geifernden Händen, zu Tode getrampelt von zornigen Stiefeln. Die Meute jagte sie, hetzte ihnen nach, fetzte ihnen Kleidung und Waffen von den Körpern, steinigte sie, prügelte sie zu Klump.
„Chries!“
Nous Kopf zuckte herum. Adiv beschleunigte neben ihm, holte auf, überholte Syriakin, die dicht an ihrer Seite rannte. Chries lief weiter, ohne sich umzusehen, sprintete querfeldein über die Höfe, schlingerte um Hindernisse, stieß heranstürmende Gestalten beiseite.
„Chries!“, rief Adiv erneut. „Zieh den Mantel aus!“
„Später!“, keuchte der Wärter zurück. „Erst die Pferde! Wir müssen hier raus!“
„Aber ...“
„Er hat recht“, brüllte Gillok, einen heranwankenden Häftling beiseite stoßend. „Schnell! Das hier wird ein Schlachtfeld.“
Nou sah zurück. Johlend, pfeifend, kreischend und brüllend wieselten Insassen durch das Labyrinth der Höfe und Gebäude; ein aufgepeitschtes Menschenmeer, angeführt von Mördern, Räubern und Brandstiftern. Dazwischen Soldaten mit blutigen Gesichtern und verdrehten Körpern und leblose Häftlinge, niedergetrampelt im wütenden Ansturm ihrer Nachbarn und Mitinsassen. Krakeelend zogen die ersten Plünderer durch Ruinen, aus denen es kaum etwas zu bergen gab.
„Das ist ein Schlachtfeld“, flüsterte er, drehte sich um und rannte in ein erhobenes Schaufelblatt.
Der Schmerz schaltete alle Sinne auf einmal aus.
Als er Sekunden später wieder zu sich kam, blinzelte er durch einen Vorhang aus Blut. Benommen tastete er nach seiner Stirn, fühlte einen tiefen Schnitt und pulsierende Pein. Dann rissen Gilloks Arme ihn auf die Füße und er schaute in das besorgte Antlitz des Freundes.
„Gut“, ächzte er. „Es geht mir gut.“
„Kannst du laufen?“
„Ja“, versicherte er, während Schmerz die linke Gesichtshälfte erfasste wie ein Flächenbrand.
Taumelnd umrundete er einen Mann mit nacktem Oberkörper und zweigeteiltem Kopf, in dem die Schaufel steckte, mit der er Nou angegriffen hatte. Gillok passierte den Kadaver, ohne ihn zu beachten. Nou folgte seinem Freund, ohne Fragen zu stellen.
Drei weitere Häftlinge versperrten ihnen den Weg. Brandnarben entstellten ihre Wangen und Arme. Spärliches Haar klebte auf ihren ausgemergelten Schädeln. Hunger und Krankheiten hatten ihre Muskeln schwinden lassen, doch Ekstase leuchtete in ihren Augen und sie schienen erregt von Raserei und Hass, entblößten lächelnd schadhafte Zähne. Der eine schwang ein von einem Wärter erbeutetes Kurzschwert, der zweite ein schartiges, allem Anschein nach selbst gebasteltes Messer, der dritte eine rostige Stange, die er aus einem der baufälligen Zellengitter herausgerissen hatte.
Ohne Vorwarnung griffen sie an. Bis Nou und Gillok ihre Gefährten erreichten, waren Chries und Syriakin bereits in Zweikämpfe verwickelt, wohingegen Adiv vor dem Mann mit dem Messer zurückwich. Gillok und Nou stürzten sich auf ihn, doch in dem Handgemenge gelang dem Häftling ein Ausfallschritt gegen Adiv, die aufschrie, als die stumpfe Klinge sich in ihre Schulter bohrte. Sekunden später hatte Gillok den Kerl mit zwei Faustschlägen ausgeschaltet.
Chries focht gegen den Mann mit der Stange. Ihm war es gelungen, sein Schwert zu ziehen, aber der Häftling hielt ihn mit der provisorischen Waffe auf Abstand. Trunken lachend stieß er nach Chries, rollte wild mit den Augen, spuckte Worte in einem Dialekt aus, den niemand verstand. Gillok gab Nou ein Zeichen, bei Adiv zu bleiben, und näherte sich dem Gefangenen von hinten.
Adiv rieb sich die Schulter und zischte, als sie die Wunde berührte.
„Schlimm?“, fragte Nou.
„Oberflächlich“, gab sie zurück und musterte ihn. „Was ist mit dir? Du redest undeutlich.“
„Geschwollene Wange. Mein Kopf ist klar.“
„Komm her.“ Linkisch wegen der verletzten Schulter schlang sie dem Sumpfmann ein Tuch um die Stirn und verknotete es.
Im selben Moment sprang Gillok dem Sträfling in den Rücken und brachte ihn damit zu Fall. Chries stürzte von vorn dazu. Zu dritt gingen sie zu Boden, rangen kurz miteinander, dann schnitt Chries‘ Schwert die Kehle des Angreifers und dessen Lachen entzwei.
Indessen wich Syriakin den Schwertstreichen des dritten Häftlings aus. Obwohl ihr Gegner ohne Sinn und Verstand kämpfte, beobachtete sie ihn angespannt, offensichtlich auf der Hut vor seiner ungezügelten Euphorie.
„Achtung!“, rief Chries und alle fuhren herum. Neue Gefangene tauchten auf, Männer und Frauen in zerrissenen Kleidern, Verstreute des Menschenschwarms, bewaffnet mit Steinen, Scherben, Knüppeln und dem abgerissenen Arm eines Wärters. Von einem Augenblick zum nächsten fanden sie sich umzingelt wieder, eingesperrt in der Mitte der rachedurstigen Meute.
Chries sprang zu Adiv und zog sie hinter sich; Gillok riss Nou heran. Eine der zerlumpten Frauen stieß ein durchdringendes Geheul aus und Tumult brach los.
Kanouepe vergaß die Schmerzen im Gesicht und das Pochen hinter den Schläfen. Gemeinsam mit Gillok und Chries boxte und trat er gegen die Angreifer, drückte sie von sich, wich ihnen aus. Chries bohrte das Schwert in magere Leiber, fetzte Schlagadern auf, schlug blutende Wunden. Adiv und Gillok fochten mit Messern und Dolchen. Nou zog die kleine Streitaxt aus dem Gürtel, dieselbe, die Syriakin in der Arena getragen hatte, und hämmerte auf die Gegner ein.
Die Reihen der ausgemergelten Häftlinge lichteten sich schnell. Einer nach dem anderen ging schreiend oder stöhnend zu Boden.
Nous Kampfrausch verflog, sobald er realisierte, dass die Überzahl der Insassen keine wirkliche Gefahr für sie darstellte. Gillok, Chries und Syriakin hielten die Meute in Schach. Adiv, die einhändig kämpfte, wich wie er ein wenig zurück und überließ den unverletzten Gefährten das Feld.
Plötzlich jedoch gelang dem Schwertkämpfer ein ungeschicktes Ausweichmanöver und er trampelte brüllend auf Adiv zu. Flugs riss Syriakin den Schmetterling aus ihrem Gürtel und schleuderte ihn auf den Angreifer. Die Waffe traf das Schulterblatt des Mannes, doch dieser schien den Schmerz nicht zu spüren. Unbeirrt rannte er auf Adiv zu und hieb ihr das Schwert mit so viel Wucht in die Seite, dass die Diebestochter mit einem Stöhnen zusammenbrach. Einen Herzschlag später spaltete Nou den Kiefer des Häftlings mit der Axt, während Gilloks Faust einen weiteren Angreifer niederstreckte und Chries die letzte Überlebende des Packs aufspießte.
Chries war der Erste, der zu Adiv stürzte und sie in den Arm nahm. Gillok und Nou beugten sich neben ihm hinunter, wohingegen Syriakin stocksteif stehen geblieben war.
„Adiv“, flüsterte Chries. Zärtlich strich er über ihr aschfahles Gesicht und die rotblonden Locken.
„Druckverband. Schnell. Tücher. Irgendwas.“ Adiv sprach schwimmend und stockend. Sie hatte die Finger auf ihre Seite gepresst, drückte die Wunde zusammen, konnte dennoch nicht verhindern, dass Blut ihre Kleidung tränkte.
Die Männer nestelten Halstücher los und wühlten nach Verbänden.
„Syra“, stöhnte Adiv. „Schau in deinen Taschen nach. Ardannas Tinktur. Hast du noch etwas? Eigene Medizin? Ich habe alles meiner Mutter gegeben.“
„Etahpe. Wir müssen sie zu Etahpe bringen“, drängte Chries.
„Syra“, sagte Adiv erneut. Sie versuchte, Schärfe in ihre Stimme zu legen.
Die Sumpffrau nickte und tastete in ihren Taschen herum, bis sie ein Döschen fand, das sie Gillok gab, der es an Adiv weiter reichte.
„Ihr ... müsst meine Sachen aufschneiden. Die Salbe ... muss auf die Haut.“ Adivs Lider flackerten. „Blutverlust. Körper verfällt in ... Schock. Schnell.“
Gillok kniete nieder, zückte ein Messer und zerschnitt mit raschen Bewegungen mehrere Schichten Kleidung. In Adivs Taille klaffte ein tiefer Schnitt, aus dem Blut sprudelte. Sie begann zu zittern, als Gillok die Salbe auf ein Tuch strich und dieses auf die Wunde presste. Dann faltete er die verbliebenen Tücher zu einer Kompresse zusammen und legte sie darüber. Das Ganze verschnürte er mit einem Verband rund um Adivs Leib.
„Syra“, ächzte Adiv mit blauen Lippen. „Was gegen die Schmerzen. Eins von deinen Kräutern. Carajes. Graja. Ilanis.“
„Das ist ein Gift.“
„Ich weiß. Geringe ... Dosis ... lindert. Zu viel ...“
„Lähmt. Das Herz bleibt stehen.“ Die Sumpffrau sprach unbewegt.
„Genau. Gib ...“ Ein Aufschrei drang von Adivs Lippen, als sie bittend den Arm ausstreckte.
„Rechtes Bein“, sagte Gillok, beide Hände noch immer auf der Kompresse. „Mach schon, Syra. Wach auf. In einem Yoanag-Blatt.“
Fahrig wühlte die Kriegerin in einer länglichen Beintasche nach dem Blatt, ohne die Augen von Adiv zu nehmen. Gillok faltete es auseinander und half Adiv, sich aufzurichten, was sie erneut aufschreien ließ. Sie befeuchtete ihren Finger, presste die Kuppe in das gelbliche Pulver und leckte sie ab.
„Gebt mir ... davon alle sechs Stunden. Nicht früher“, gebot sie. „Und nun weg hier.“
„Zu Etahpe“, befahl Chries. „Sie kann dich heilen. Nou sieht auch aus, als könnte er Hilfe vertragen.“
„Nein“, sagte Adiv matt. „Raus hier. Die Häftlinge ... Böse Menschen ... Weg. Jetzt.“
„Wohin?“, fragte Gillok. Behutsam half er Adiv beim Aufstehen.
„Ardanna.“ Die Kriegerin sah die Männer düster an. „Sie muss nach Perth.“
„Was ist mit Ylaiy?“, wandte Gillok ein. „Er muss hiervon erfahren, Hilfe schicken. Alle Nachrichten laufen über ihn.“
„Ich bringe sie zu Ardanna.“
„Ich begleite Euch“, sagte Chries hastig. „Versucht gar nicht erst, mich davon abzubringen.“
„Gehen wir.“
„Dann reiten Nou und ich nach Yruish“, beschloss Gillok. „Hinter dem Damm trennen wir uns. Ihr nehmt die Uferstraße durch die Südprovinzen, bis ihr übersetzen könnt. Ihr müsst eine der Fähren finden.“
Syriakin nickte zu jedem seiner Vorschläge, während sie sich in Bewegung setzte.
Ein Spalier aus Yoanags versperrte ihr den Weg. Sie kämpfte mit Ästen und Zweigen, zog schließlich ein langes Hackmesser.
„Tu es nicht“, ertönte jählings eine Stimme. Südmundart. Die Sprache des Deltas. Die Sprache der Heimat.
Ihre sandgrauen Augen bohrten sich in das Geflecht vor ihr. „Wer ist da?“
Das Spalier teilte sich, ohne dass Geäst abbrach, sacht, beinahe von selbst.
Die Augen der stämmigen Frau wurden groß. „Du.“
Ciycain verneigte sich. „Sei gegrüßt, Herad.“
„Wir dachten, ihr wärt weg.“
„Ich bin wieder hier.“
Misstrauisch blickte Herad um sich. „Wo sind deine Leute?“
„Ich kam allein.“
„Allein? Durch die Sümpfe?“
„Ja.“
Herad rümpfte die Nase. „Ganz die Mutter. Habt ihr den Hof erreicht? Euren Freund gefunden?“
„Ja.“
„Was ist geschehen? Warum sind die anderen nicht bei dir?“
„Es gab Kämpfe.“
„Kämpfe?“, wiederholte Herad argwöhnisch. „Gegen wen?“
„Menschen, die uns Böses wollen. Thronräubern. Mördern.“
„Was geht euch der Thron an? Warum mischt ihr euch ein?“
„Weil der Frieden bedroht ist“, entgegnete Ciycain. „Das Reich in Gefahr. Alle Völker. Deshalb müssen wir helfen.“
Herad stieß einen verächtlichen Laut aus. „Sind sie tot?“, fragte sie dann barsch. „Deine Eltern und mein Halbsohn?“
Traurigkeit umwölkte Ciycains Stirn und ihre Stimme wurde leiser. „Nein. Aber gute Menschen, die uns halfen.“
„Weshalb sind sie nicht bei dir?“
„Sie werden gebraucht. So wie du. So wie wir alle.“
„Du sprichst in Rätseln.“
„Herad.“ Ciycain trat einen Schritt vor und Herad hätte schwören können, dass Zweige und Blätter sich bewegten, bevor das Mädchen sie berührte. Sie schluckte. Ciycain jagte ihr keine Angst ein, aber etwas umgab die junge Frau, eine unsichtbare Hülle, etwas verborgen Bedrohliches, das sogar die Bäume ihre Äste einziehen ließ. „Die Zeit ist reif.“
„Wofür?“
„Für die Fraga-í. Ich bin gekommen, euch zu holen. Ihr müsst uns helfen.“
„Wem denn? Deiner Mutter und ihren fremdartigen Freunden? Sie ist Innuq. Sie hat uns verraten, die Soldaten zu uns gelockt. Wegen ihr starb unser Dorf. Meine Familie.“
„Das ist nicht wahr. Tief in deinem Inneren weißt du das.“
„Gar nichts weiß ich.“ Herad spuckte auf einen Baum zu ihrer Linken.
Ciycains Stirn zog sich zusammen, doch ihr Gesicht blieb ruhig. Langsam ging sie zu dem Yoanag, legte die Hand auf seine Rinde, streichelte ihn, flüsterte mit ihm.
Herad beobachtete sie beinahe angewidert. „Du bist genauso wunderlich wie deine Mutter.“
„Erzähl mir von ihr“, bat Ciycain. „Du kanntest sie, seit sie ein Kind war.“
Die Alte spie einen abfälligen Laut aus und steckte das Messer in ihren Hüftgurt. „Ich muss Goja sammeln.“
„Bitte. Ich helfe dir mit den Beeren. Du weißt, ich finde immer welche.“
Die Frau schüttelte den Kopf und wollte an Ciycain vorbei, aber das Mädchen trat ihr entgegen und fasste nach ihrem Handgelenk.
Herad zuckte zusammen, weniger aus Schmerz, denn aus Überraschung, wenngleich die Berührung brannte, als hätten sich Dornen um ihren Arm geschlungen.
„Bitte“, wiederholte Ciycain, diesmal nachdrücklicher.
„Was soll ich erzählen? Deine Mutter und ich sind uns nicht wohlgesonnen. Du hast gehört, wie sie mir drohte.“
„Warum hat sie Tarolf den Tod gewünscht?“
„Dafür bist du zu jung.“
„Wieso, Herad?“ Ciycains Stimme hatte sich verdunkelt, kroch unter Herads Haut, presste ihr Herz zusammen.
„Er wollte sie zur Frau“, quetschte die ehemalige Hebamme hervor.
„Gegen ihren Willen?“
„Gewiss. Sie war noch fast ein Kind, so alt wie du.“
„Ihr wolltet sie mit neun verheiraten?“
„Nein, sie war ... - Warte. Neun bist du erst?“ Herad verdrehte die Augen nach oben, als sie in ihrem Gedächtnis forschte und rechnete. „Ja, das kommt hin. Du siehst um einiges älter aus, vor allem mit dem kurzen Haar.“
„Du warst dagegen?“
„Natürlich! Er hatte bereits eine Zweitfrau, mit der ich ihn teilte. Und dann wollte er sie! Ein halbes Kind. Ausgerechnet sie! Die Widerspenstige. Ich wusste gleich, dass sie Ärger bedeutete, schon als sie das Dorf betrat. Sie stand hinter ihrer Mutter. Stumm und störrisch. Voller Ablehnung. Beobachtete alles und jeden. Lehnte jedermann ab, der ihr zu nahe kam, ließ niemanden an sich heran.“
„Man hatte ihr ihre Heimat und ihren Vater genommen.“
„So ist das nun mal. Meine dritte Tochter wurde einem Jäger aus den Ostsümpfen zur Frau gegeben. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass sie einen Sohn gebar. Ich habe sie nie wieder gesehen.“
„Das tut mir leid.“ Ciycains sanfte Stimme glättete einige Furchen auf Herads Stirn.
„So ist das nun einmal.“
Ciycain sah die alte Frau schweigend an. In ihren Pupillen tanzten goldene Punkte, in denen Herad sich verlor. Sie brachten ihre Wut zum Verglimmen.
„Schön, sie hatte kein leichtes Leben. Erst die Fremde, dann starben ihr Zweitvater und ihre Mutter, noch bevor sie erwachsen war. An Paglongtoai hing sie, auch wenn sie ständig stritten. Nur Monate später stellte Tarolf ihr nach, aber sie wehrte sich und lebte lieber allein.“
„War sie wie ihre Mutter?“
„Ja. Nach dem Tod ihres Zweitmannes erzog Paglongtoai Diran allein, nahm sie mit auf ihre Wanderschaften und auf ihre Tauschgänge zu den Garnisonen. Heilkräuter und Rauschmittel gegen rostige Waffen, verschlissenes Schuhwerk und andere nutzlose Dinge.“
„Paglongtoai“, sprach Ciycain den Namen ihrer Großmutter aus. „Ein ungewöhnlicher Name. Flüsterte sie wirklich mit den Bäumen?“
„Pagtoa. So nannten wir sie. Ausgezeichnete Jägerin. Und Fischerin, obwohl sie schlecht schwamm. Konnte ein Boot lenken wie keine Zweite, sogar die Segelboote der Eindringlinge. Brachte Diran viel bei. Aber sie war auch ein bisschen verrückt.“
„Wieso das?“
Herad zuckte mit den Achseln. „Manchmal streichelte sie die Bäume, sprach mit Gesträuch. So wie du eben. Deine Mutter trieb sich auch die meiste Zeit im Wald herum. Ostfrâgg eben. Hausen im Geäst wie Affen.“
„Es ist ihre Heimat. Das Delta ist die deine.“
„War.“
„Du wirst zurückkehren, wenn die Zeit gekommen ist.“ Ciycains Stimme klang so zuversichtlich, dass Herad leise die Nase hochzog.
„Warum redet ihr mit Bäumen?“
Ciycain lächelte. „Es beruhigt.“
Herad schniebte. „Du hörst dich genauso sonderbar an wie deine Großmutter.“
„Es steht alles miteinander in Verbindung. Die Bäume, ihre Wurzeln, das Geflecht der Pilze, Sträucher, Buschwerk, Gräser, Moos. Sie reden, Herad. Sie sprechen miteinander, sogar mit uns. Man muss nur lernen, ihnen zuzuhören.“
„Was erzählen sie denn?“
„Von sich, ihren Kindern, Räubern, Wunden. Viele von ihnen sind älter als wir. Sie berichten von der Vergangenheit.“
„Und was erzählst du ihnen?“
Ciycains Lächeln vertiefte sich, und es war, als leuchte die Sonne aus ihr. „Vor allem lasse ich sie Grüße ausrichten.“
„An wen?“
„Meine Freunde. Ich lasse sie wissen, dass es mir gut geht. Ich sende ihnen Hoffnung.“
„Du bist verrückt, Mädchen. Alle Frauen in deiner Blutlinie sind es.“
„Nein“, widersprach Ciycain. „Anders vielleicht, aber nicht verrückt.“
„Na ja. Wenigstens bist du umgänglich. Nicht stolz wie Pagtoa oder verstockt wie deine Mutter. Innuq.“
Ciycains Lächeln erstarb. Die goldenen Funken in ihren Pupillen verblassten. Traurigkeit legte sich über sie. Sacht berührte sie den Baum mit ihren Fingerspitzen, fuhr Rinnen und Furchen nach.
Herad schnaubte. „Wenn du das nächste Mal mit deinen Bäumen sprichst, richte meiner Tochter und meinen Enkeln einen Gruß aus. Falls sie den Krieg überlebt haben.“
„Das werde ich“, erwiderte Ciycain ernst. „Ich werde ihnen auftragen, sich zu uns zu gesellen. Wir brauchen ...“
Mitten im Satz zuckte sie zurück, zog ihre Hand an sich, als hätte sie sich verbrannt, schwankte kurz und ging in die Knie.
Herad beugte sich zu ihr. „Hast du dir wehgetan?“
Stumm schüttelte das Mädchen den Kopf. Plötzlich wirkte es kraftlos, gebrechlich beinahe. Es sank weiter in sich zusammen, lehnte die Stirn gegen die Rinde des Yoanags.
„Was ist denn? Ist dir übel?“ Auf Herads bulligem Gesicht erschien echte Besorgnis. „Brauchst du Medizin?“
Wieder schüttelte Ciycain den Kopf. Ihre Augen standen offen, aber sie blickten leer, irrten umher, ohne zu sehen. Mit einem Mal erbrach sie etwas, das aussah wie Blätter und Mooskrümel.
„Ich hole Hilfe“, beschloss Herad.
„Nein.“ Das Wort fuhr wie ein finsterer Blitz herab und ließ Herad in der Bewegung innehalten.
Die Walruferin lehnte an dem Baum, starrte auf die Furchen des Holzes. „Nein. Lass mich hier. Ich will niemanden sehen.“
„Aber ...“
„Geh zurück nach Yanois. Verstreute werden kommen, Fraga-í aus allen Himmelsrichtungen. Sie bringen unsere Geschichte mit. Nehmt sie auf und hört ihnen zu.“
„Was ist mit dir?“
„Ich komme nach. Zuerst muss ich allein sein. Mich ... verabschieden. Geh. Ich bringe Goja mit. Bald. Morgen.“
Sie erreichten Wyickham, die trostlose Grenzstadt am westlichen Ende des Damms, mitten in der Nacht, stiegen mit steifen Beinen und verfrorenen Händen von den Pferden; gutmütigen, ungesattelten Stuten, die Chries als unbedenklich für die unerfahrenen Reiter eingestuft hatte, lehnten sich gegen die zitternden Flanken.
„Wir müssen die Geschwindigkeit drosseln“, sagte Chries und nahm dankbar ein Stück Salzfleisch entgegen, das Gillok ihm reichte. „Die Tiere brechen sonst zusammen. Ist bei der Dunkelheit sowieso schlauer. Die Straßen hier sind nicht wie der Damm und die Küstenstraße Kaadaas. Unter dem Schnee lauern Löcher, Äste und Wurzeln.“
Gillok musterte Adiv, die sich erschöpft an Chries klammerte. Ihr Gesicht leuchtete käsig im dünnen Mondlicht. „Wie geht es dir?“
„Dank des Ilanis besser als erwartet, aber mir ist kalt und meine Seite fühlt sich taub an. Letzteres ist wahrscheinlich ein Segen.“
„Wenn die Straßen sich verschlechtern, werden die Schmerzen zunehmen“, warnte Gillok.
Adiv rang sich ein Lächeln ab. „Noch ein Grund, nicht so schnell zu reiten.“
„Zu lange zu rasten, bringt auch nichts“, sagte Syriakin. „Wir müssen zu Ardanna, bevor die Wunde sich entzündet. Das Ilanis reicht nicht ewig.“
„Ein paar Minuten nur“, bat Chries. „Adiv strengt das Reiten an, auch wenn sie es nicht zugibt.“
„Es ist halb so schlimm“, wehrte die junge Frau ab.
„Ein paar Minuten“, schnitt die Kriegerin dem ehemaligen Wärter, der Adiv widersprechen wollte, das Wort ab, und verschwand in der Dunkelheit.
„Sie hätte auf mich warten können“, murmelte Adiv und machte sich von Chries los. „Meine Seite mag zerschnitten sein, aber meine Blase funktioniert bestens. Vielleicht sollte ich nichts mehr trinken. Ist sowieso nicht gut bei Verletzungen.“
„Bei inneren“, beruhigte Gillok sie. „Sollen wir dir helfen?“
„Lieber pinkele ich im Stehen. Nein, ich versuche es allein, danke. Geht ihr Männer einfach ein paar Schritte weiter.“
Immerhin ließ sie es zu, dass Chries sie zu einem Busch abseits der Straße geleitete und ihr beim Aufknöpfen der Hose half. Danach scheuchte sie ihn weg.
Wenige Minuten später standen alle wieder bei den Pferden, tranken Wasser, kauten Dörrfleisch, rieben ihre Handflächen aneinander, sprangen auf der Stelle und machten Kniebeugen, um sich aufzuwärmen und zu lockern, während die Stuten Wintergras aus dem Schnee zupften.
„In der Kälte spüre ich wenigstens mein Gesicht nicht“, sagte Nou.
„Man sieht den Schaufelabdruck sogar im Dunkeln“, erwiderte Gillok. „Morgen früh wirst du aussehen wie ein Schwerverbrecher.“
Syriakin stieß sich von ihrem Pferd ab. „Das sind nur noch ein paar Stunden. Lasst uns aufbrechen. Ich möchte ungern die Nacht draußen verbringen.“
Mit Chries‘ Hilfe stemmte Adiv sich auf den Rücken ihrer Stute. „Wirst du bequem auf deine alten Tage?“
Die Sumpffrau erwiderte nichts. Sie hielt die Zügel, bis Chries hinter Adiv gerutscht war, und trat danach zu Gillok. „Wir warten in Perth auf euch. Anó au i‘a kin.“
Gillok zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Pass auf sie auf. Und auf dich.“
Sie nickte ihm und Nou zu, schwang sich auf ihr Pferd, brachte es dazu, sich in die richtige Richtung zu drehen, und trabte los.
Gillok wartete, bis die drei außer Sichtweite waren, bevor er sich an Nou wandte. „Ich reite allein weiter. Du kehrst um. Westzipfel. Tanaa. Du kennst den Weg.“
„Du schickst mich in die Sümpfe?“
„Finde sie! Ich bitte dich als Freund. Suche Ciycain. Bringe sie zu uns, zu Syra und mir. Bitte.“
Der junge Mann wendete bereits sein Pferd. „Anó au i‘a kin.“
Die Uferstraße im Süden ersparte ihnen den Umweg über den Palast, verkürzte den Ritt um einen halben Tag, zumal die milden Meerwinde die Straße nahezu schneefrei hielten.
In der zweiten Nacht mussten sie rasten. Sie waren den ganzen Tag geritten, hatten nur angehalten, um die Pferde zu schonen und ihre Gliedmaßen zu lockern. Nahe des Städtchens Pellant fiel Adiv um ein Haar vom Pferd. Die wenigen Schritte zum Stall eines kaum besuchten Wirtshauses schaffte sie, an Chries‘ Arm geklammert, gerade so mit zusammengebissenen Zähnen und sank ins Stroh, sobald ihre Stiefel es berührten. In jener Nacht schlief Chries neben ihr, seinen Körper um ihren geschlungen, um sie warm zu halten, wohingegen Syriakin sich außen an den Verschlag lehnte, halb Wache haltend, halb im Sitzen dösend.
Im Morgengrauen brachen sie auf und verbrachten einen weiteren endlosen Tag auf dem Rücken der zuverlässigen Tiere. Wunde Stellen brannten auf ihren Oberschenkeln. Dazu gesellte sich dumpfer Kopfschmerz, hervorgerufen durch das stetige Auf und Ab, das Klappern der Hufe, die verkrampften Muskeln, den Schlafmangel, die nagende Sorge um den Schnitt in Adivs Seite.
In der folgenden Nacht schlief nur Adiv, eingegraben in eine Kuhle aus Laub und Reisig, betäubt von einer Fingerspitze Ilanis, bedeckt von Chries‘ Uniformmantel und den Decken, die er aus den Wärterwohnungen geborgen hatte, bevor sie die Boragha verließen. Westwind trug den beißenden Gestank von Gerberhütten heran und brachte Neuschnee. Chries und Syriakin, schlotternd in den Sommeruniformjacken, die ebenfalls aus den Spinden des Wärtertraktes stammten, schlummerten in Halbstundentakten, standen immer wieder auf, um sich zu bewegen.
Der Fährmann an der unbekannten Anlegestelle schrak vor ihren übermüdeten Gesichtern zurück, erwies sich jedoch als barmherzig, als die verletzte Frau auf sein Flachboot wankte.
„Legt sie dahinten hin“, brummte er und wies mit dem Daumen auf ein handtuchgroßes Lager hinter einem Verschlag. Sie wickelten Adiv in leere Säcke und Planen und sahen dabei zu, wie der Schmerz tiefe Linien in ihr Antlitz fraß.
Während der Überfahrt sank die Sonne und scharfer Seewind fuhr ihnen durch alle Kleiderschichten. Sie froren erbärmlich und rückten näher zusammen.
Anschließend ritten sie über Prants verdorrte Felder, die bedeckt waren von glitzerndem Schnee. Adiv wurde stetig leiser. Die wenigen Worte zogen sich auseinander, waren immer häufiger durchsetzt mit Stöhnen und Ächzen.
Syriakin wirkte erleichtert, als Chries im letzten Abendlicht eine verlassene Scheune ausmachte und umgehend darauf zuhielt. Der Schober war ein Segen: warm und gefüllt mit weichem, duftendem Heu. Adiv nahm eine Fingerspitze Gift. Chries erneuerte den Verband um ihre Hüfte, prüfte die Wunde und erschrak vor der Hitze und den Schwellungen. Er lächelte Adiv an, befahl ihr, zu schlafen und ging hinaus zu Syriakin, die sich um die Pferde kümmerte und die Vorräte überprüfte.
„Es ist soweit“, sagte er. „Der Schnitt ist entzündet.“
„Wie viel Ilanis hat sie noch?“
„Nichts. Wann sind wir in Perth?“
„Morgen Abend, hoffe ich. Wir haben kein Fleisch mehr und das Hartbrot wird knapp.“
„Adiv isst sowieso kaum noch.“
„Wenn das Fieber kommt, wird sie nur trinken wollen. Schnee haben wir zum Glück ausreichend.“ Mit düsterem Gesicht schaute die Sumpffrau in die Ferne. „Schlaft ein paar Stunden, dann löst mich ab. Hier kriegen wir Ruhe. Sie wird uns allen guttun.“
Mit dem Anbruch des nächsten Tages brachen sie wieder auf.
Am Mittag stand die Sonne hoch am Himmel, tauchte die karge Landschaft in gleißendes Licht, das wenigstens ein bisschen Wärme spendete. In den letzten Stunden waren sie stumm geradeaus getrabt, in direkter Linie auf Perth zu, dessen Türme sie bereits sehen konnten.
„Singst du manchmal, Syra?“, unterbrach Adiv plötzlich das Schweigen. Ihre Stimme klang eine Spur kräftiger als am Vorabend.
Die Sumpffrau schreckte aus ihren Gedanken. „Nein.“
„Warum fragst du?“, wollte Chries wissen.
„Meine Mutter kannte ein Lied“, stieß Adiv hervor und verzog das Gesicht, als das Pferd eine holprige Bewegung machte. „Immer, wenn ich krank war, sang sie es. Es wirkte besänftigend.“
Die Kriegerin runzelte die Stirn. „Ein Heillied?“
„Etwas in der Art. Die Melodie würde mich beruhigen.“
Chries musterte Adiv besorgt. „Schmerzt die Wunde so sehr?“
„Oh ja. Ja. Ziemlich.“
Syriakin lenkte ihr Pferd ungeschickt neben Chries‘ Stute und sah Adiv an. Dann biss sie die Lippen zusammen. Zwei tiefe Falten erschienen auf ihrer Stirn.
„Manchmal begleite ich deine Mutter zu den Kranken. Sie summt ihnen eine Melodie vor. Vielleicht ist es das Lied, das du kennst.“ Chries dachte kurz nach, bewegte die Finger der linken Hand zu einer unhörbaren Tonfolge, räusperte sich und begann dann, leise zu summen, unsicher und belegt zunächst, doch zunehmend klarer. Er traf nicht jeden Ton, aber er hatte eine warme, angenehme Stimme.
Adiv schloss halb die Augen und lauschte. „Das ist sie“, flüsterte sie. Sie lehnte sich stärker an Chries, seufzte und schien sich etwas zu entspannen.
Syriakin hörte mit unbewegter Miene zu. „Das habe ich schon einmal gehört“, sagte sie, nachdem Chries geendet hatte. „Du hast es für Akim gesungen, damals, unter der Erde.“
Adiv lächelte. „Du hast ein gutes Gehör.“
„Hast du es auch für mich gesungen?“ Die Kriegerin richtete ihre dunklen Augen auf die Diebestochter, deren Lächeln sich vertiefte.
„Glückwunsch, Syra. Du hast nur drei Jahre gebraucht, bis du herausgefunden hast, woher du die Melodie kanntest.“
„Verratet ihr mir, wovon ihr sprecht?“ Chries merkte, wie heißes Blut über seine Finger tröpfelte. Er konnte die Wunde nicht sehen, aber er erkannte die Sorge im Antlitz der Kriegerin, fühlte, wie Adiv immer schwerer gegen ihn sank, hörte, wie ihre Stimme leiser wurde. Also redete er weiter, zwang sich zu einem ruhigen Tonfall, tauschte Blicke mit der Sumpfjägerin.
„Sie wurde krank. Auf ... Drahórsul“, quetschte Adiv heraus. „Fiel einfach um. Wir wussten nicht, was los war. Die Männer ... gruben eine Höhle und ich ... summte. Das war alles, was mir einfiel.“
„Heute wüsstest du mehr. Du würdest sie heilen. Du warst Etahpes und Ardannas Schülerin.“
„Das Fieber“, sagte Adiv zu Syriakin, ohne die Augen zu öffnen. „Wir hatten solche Angst. Aber das Summen beruhigte dich. Hast du noch nie gesungen, Syra?“
Die Sumpffrau hockte steif auf ihrem Pferd, die Beine an den Tierleib gepresst, die Zügel verkrampft in der Hand. „Als ich klein war.“
„Wirklich. Mit Gillok?“
„Der singt furchtbar.“
„Bringst du mir ein Lied aus den Sümpfen bei?“
„Adiv.“
Adiv öffnete die Augen und grinste. „Ich nehme dich doch nur auf den Arm.“ Dann runzelte sie die Stirn. „Was ist los? Warum schaust du mich so an?“ Mit diesen Worten kippte sie zur Seite.
Mit einem Satz sprang Syriakin von ihrer Stute, breitete die Arme aus und stützte Adiv, die langsam aus Chries‘ Händen rutschte. Vorsichtig ließ sie die Diebestochter zu Boden gleiten. Chries band die Pferde an einen Baum und kniete sich neben sie.
Die Kriegerin wies auf Adivs Taille. „Sie blutet.“
Chries betrachtete seine klebrige Hand, bevor er sie im Schnee abwischte. „Wir müssen die Wunde abbinden.“
„Das haben wir schon.“
„Fester.“ Chries zwirbelte sein Halstuch zusammen und presste es auf die Wunde. „Wir brauchen etwas zum Abdrücken. Der Schnitt klafft immer wieder auf.“
Hastig erhob sich Syriakin, stopfte Wurfaxt und Messer in ihre Jackentaschen, nestelte ihren Gürtel aus der Hose und schlang ihn um Adivs Taille.
„Zieht so fest zu, wie Ihr könnt!“
„Sie ist schrecklich blass“, sagte die Sumpffrau leise, nachdem sie die Wunde verbunden und Adiv behutsam auf die Seite gedreht hatten. „Und heiß.“
„Vielleicht sollten wir den Schnitt nähen. Könnt Ihr das?“
„Nicht annähernd so geschickt wie ein Heiler. Sie würde eine hässliche Narbe behalten.“
„Ich halte sie nicht für besonders eitel.“
„Ich bin keine Ärztin. Ardanna muss die Entzündung behandeln, bevor sie sie von innen vergiftet. Das Blut ist eitrig. Wir müssen uns beeilen.“ Sorge dezimierte ihre Stimme zu einem heiseren Flüstern.
„Schneller können wir nicht reiten. Sie rutscht mir vom Pferd, wenn sie halb bewusstlos ist.“
„Dann legen wir sie auf ein Pferd und schnallen sie fest.“
„Und einer von uns läuft?“
„Ja. Ich.“
„Ein Mantel, Jacken, Decken. Mehr haben wir nicht. Es sei denn, Ihr habt irgendwo ein Seil versteckt.“
„Nur ein Netz.“
„Wir verknoten alles miteinander und führen es unter dem Pferd durch, schnüren sie ein. Das müsste reichen. Unbequem und unsicher, aber besser als gar nichts.“
„Los.“ Die Kriegerin sprang auf, krempelte ein Hosenbein hoch und angelte das Netz aus einer Innentasche.
„Wollt Ihr wirklich laufen?“ Schnaufend half Chries der Sumpffrau, Adiv auf die Stute zu wuchten; ein Unternehmen, das sie beide an den Rand ihrer Kräfte brachte.
„Reiten liegt mir nicht“, ächzte Syriakin, breitete die Decken und eine ihrer Jacken über Adiv und zog die Ärmel an den Seiten des Pferdes hinunter. Dasselbe wiederholte sie mit Chries’Mantel.
Der Soldat knotete das Netz an die Ärmel. „Das sieht man.“
Die Kriegerin tauchte unter der Stute hindurch. „Sumpfleute laufen lieber. Ihr reitet voraus und nehmt die Zügel von Adivs Pferd. Ich renne hinterher.“
„Ihr wollt bis nach Perth rennen? Das sind Stunden. Glaubt Ihr, Ihr könnt mithalten?“
„Das werden wir sehen.“
Es dunkelte, als sie die verwinkelten Vororte Perths erreichten. Adiv war während des holprigen Ritts mehrere Male zu sich gekommen, hatte vor Schmerzen gestöhnt und orientierungslos um sich geschaut. Sie wollte nichts essen, bat aber immer wieder um Wasser. Ihr Fieberdurst zwang sie zu vielen kurzen Pausen, die Syriakin nutzte, um aufzuholen, sich vornüberzubeugen, Atem zu holen, ihre Beine zu dehnen und ihre Arme über dem Kopf zu schwingen.
„Könnt Ihr noch?“, fragte Chries, als sie in einer engen Gasse anhielten.
„Ja“, murmelte sie hinter dem Tuch, das sie sich gegen die kalte Luft vor Mund und Nase gezogen hatte. Ihre Augen glänzten und ihr Haar war zerzaust.
„Trinkt und esst etwas. Ihr rennt seit Stunden hinter uns her.“
„Mir würde nur übel werden. Besser, mein Magen bleibt leer.“
„Wenigstens ein, zwei Schlucke.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wie Ihr wollt.“ Er verstaute Trinkschlauch und Zwieback in seinem Beutel.
Die Sumpfjägerin trat an Adiv heran, die sie aus müden Augen anblinzelte. „Wie ist ihr Zustand?“
„Fieber und Schmerzen. Manchmal weint sie, dann wieder ist sie so still, dass mir angst und bange wird. Ich weiß nicht, ob sie noch blutet.“
„Ihr Gewicht ist wie ein weiterer Druckverband. Es bringt nichts, sie herumzudrehen, kostet nur Zeit.“
Wortlos schwang Chries sich auf sein Pferd, ergriff Adivs Stute am Zügel und schnalzte. Gehorsam setzte das sanfte Tier sich in Bewegung.
Syriakin verfiel in Laufschritt, ignorierte das Brennen in Waden und Oberschenkeln und die Verspannungen in Nacken und Schultern, beobachtete Adiv, die mit den Bewegungen des Pferdes hin und her schaukelte, als wäre alle Kraft aus ihrem Körper verschwunden.
Chries warf immer wieder Blicke zurück, sah, wie die Entfernung zwischen ihm und der Sumpffrau sich unablässig vergrößerte. Sie war mit ihren Kräften am Ende, auch wenn sie anderes behauptete. Er drosselte das Pferd und wartete, bis sie heran war. „Ihr hinkt.“
„Es geht schon.“
„Glaub ihr nicht“, flüsterte Adiv und drehte den Kopf mühsam in Syriakins Richtung. „Ist es das Knie?“
„Es zuckt“, gab die Sumpffrau zu.
„Wir müssen langsamer werden“, sagte Chries.
„Nein. Ihr reitet allein weiter. Ich komme hinterher.“
„Ich kenne den Weg nicht. Ihr müsst bei uns bleiben.“
Plötzlich stöhnte Adiv laut auf und krümmte sich krampfartig zusammen. Aus ihrem Mund drangen Wimmerlaute und dann klatschte Erbrochenes auf das Straßenpflaster.
Syriakin trat zu ihr, hob Adivs Kopf an, band das Tuch von ihrem Hals, wälzte es im Schnee an der Straßenseite und wischte damit über Adivs heißes Gesicht. Dann sah sie Chries an. Angst stand in ihren Augen.
„Wie weit noch?“, fragte der junge Mann.
„Quer durch die Stadt. Reitet los!“
„Was ist, wenn ich mich verirre?“
„Dann kommen wir zu spät.“ Frustriert schlug sie sich in die Handfläche, drehte sich um die eigene Achse, spähte in die Gassen und nach oben zu den Dächern.
„Wonach sucht Ihr?“
„Den Jungen“, murmelte sie.
„Welchen Jungen?“
„Straßenjungen. In Perth wimmelt es normalerweise von ihnen, aber wir sind weit draußen und sie halten sich gut versteckt.“
„Kein Wunder bei der Kälte.“
Chries richtete sich auf dem Pferd auf und schaute in alle Richtungen. Er erschrak, als die Sumpfjägerin jählings ihre Stimme erhob. „Kian!“
Der Name hallte von den Häuserwänden wider.
Lauschend drehte die Kriegerin sich im Kreis. „Kian!“, brüllte sie erneut, diesmal aus voller Kehle. „Du musst uns helfen!“ Beim letzten Wort setzte ihre Stimme aus und Chries sah, wie sie sich die Augen wischte.
Er fühlte dieselbe Verzweiflung, zumal Adiv sich wimmernd unter den verknoteten Jacken hin und her wälzte. „Kian!“, donnerte er in die Gassen hinein, hoffte, dass sein Bariton weiter tragen würde.
Beide lauschten wieder, hörten Getrappel, gedämpft durch Pulverschnee. Die Gassen um sie gerieten in Bewegung. Sekunden später entdeckten sie die Schöpfe zweier Knaben, die hinter einer Häuserecke hervorlugten.
„Holt Kian!“, rief die Sumpffrau ihnen zu. „Wir sind seine Freunde.“
Die Knaben sahen sich an, reagierten jedoch nicht.
„Lauft schon!“ Sie rannte auf die Jungen zu, die sofort die Beine in die Hand nahmen. „Sucht Kian! Bringt ihn her! Schnell! Wenn sie stirbt, werde ich euch finden!“
Sobald die Kinder verschwunden waren, sackte sie gegen eine Hauswand, rutschte langsam zu Boden, zog das rechte Bein heran und massierte es.
Chries behielt sie im Auge, während er vom Pferd stieg und die Jacken enger über Adiv spannte. Dann nestelte er den Wasserschlauch los und hielt ihn der Sumpffrau hin. „Hier. Gegen die Krämpfe.“
Wortlos entkorkte sie den Schlauch und trank in langen Zügen.
„Gebt mir Euer Bein. Ich kann es dehnen.“
Syriakin schüttelte den Kopf und stemmte sich an der Wand hoch. „Steigt auf Euer Pferd. Kian wird uns unterwegs finden. Zumindest hoffe ich das.“
„Ihr seid völlig erledigt.“
„Das Gehen wird mir helfen.“
Skeptisch schaute Chries zu, wie sie zu Adiv humpelte und die Zügel ergriff. „Nein. Nehmt mein Pferd“, befahl er. „Ich laufe. Nun macht schon.“
Nach kurzem Zögern schwang sie sich auf die Stute.
In diesem Augenblick ertönte ein Pfiff. Gassenjungen wuselten aus allen Ecken und Enden herbei, umringten die Pferde, trieben und drängten sie die Gasse hinunter. Neugierig und besorgt zugleich folgte Chries dem Schwarm, der sich stumm zu immer neuen Mustern formierte. Auf ihrer Stute hockend musterte die Sumpffrau die schmutzigen Gesichter, als suche sie nach bekannten Zügen. Sie ließ sich widerstandslos mittreiben, was Chries beruhigte.
Schließlich fanden sie sich in einem abgelegenen Unterstand wieder.
Ein Knabe trat aus den Schatten heraus und sah sie ernst an. Seine Haut war so dunkel, dass sie mit der Nacht verschmolz. Dafür leuchtete das Weiß der Augen umso heller.
Syriakin schob sich vom Pferd. „Kian“, begrüßte sie ihn sichtlich erleichtert.
Der dunkelhäutige Junge musterte Chries, bevor er zu Adiv trat. „Was ist geschehen?“, fragte er Syriakin.
„Ein Schwertstreich in die Seite. Die Wunde hört nicht auf zu bluten. Du musst ihr helfen. Kommst du an sie heran?“
„Das muss ich nicht.“ Kians Stimme klang abwesend. Er nahm Adivs Kopf in beide Hände, strich rotblonde Locken von der fieberschweißigen Stirn, presste die Finger gegen Adivs Schläfen. Dann schloss er die Augen.
„Wie ernst ist es?“, wollte Chries wissen.
Kian antwortete nicht. Er hatte das Gesicht dem Himmel zugewandt und bewegte die Lippen wie in einer Art Gebet. Seine Finger färbten sich purpurn. Chries kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an, als winzige Pulsstöße Kians Fingerspitzen verließen und unter Adivs Haut rollten. Wie Funken flackerten sie Adivs Nervenbahnen entlang, verschwanden unter der Kleidung.
Plötzlich zuckte der Junge zusammen. Seine Augen klarten auf, sein Bewusstsein kehrte zurück. Verwirrt sah er Syriakin an.
„Was ist?“, fragte diese.
„Beeilen wir uns. Ardanna wird uns bereits erwarten.“
Sie hielt ihn fest. „Wie ernst ist es?“
„Ernst. Sie hat nicht Eure Kraft. Nur ...“
„Nur was?“
„Später. Ihr müsst ins Warme. Ihr zittert schlimmer als sie.“
Kians Späher hatten Ardanna informiert. Akim, Sphita, Mehlau und Jonoy hatten daraufhin die Residenz in Zweiergrüppchen verlassen, der Geselle und sein Meister durch den Hintereingang, der Wüstenmann und Sphita über eine Nebentür des Spitals.
Als Kian mit den Frauen und Chries eintraf, führte Warmuth sie direkt zu den Ställen, wo Ardanna und Igra sie frierend erwarteten.
Die Heilerin umarmte Kian und Syriakin flüchtig, musterte Chries mit scharfen Blicken, bevor sie sich Adiv zuwandte. „Trage“, befahl sie knapp.
Igra klappte die Liege auseinander, während Ardanna, Chries und Syriakin Adiv von Jacken und Netz befreiten. Warmuth kämpfte in der Enge mit den Pferden, bis Kian ihnen in die Nüstern blies und besänftigende Worte murmelte.
„Ins Haus der Kranken?“, fragte Syriakin leise, als Adiv mit einem Seufzer auf die Trage gesunken war.
„Vouker muss das nicht sehen. Er hat schon zu viel Merkwürdiges in diesem Haus mitbekommen.“ Ardanna reichte ihr und Chries ihre Jacken zurück. „Ihr seht halb erfroren aus.“
„Wieso ist er dann noch hier?“
„Er ist ein ausgezeichneter Assistent. Ich weiß nur nicht, wie weit ich ihm trauen kann. Besser, wir gehen auf Nummer Sicher.“ Ardanna gab ein stummes Signal. Warmuth und Chries bückten sich und hoben die Trage auf. Kian und Igra eilten voraus zum Haupthaus, Syriakin und Ardanna folgten ihnen.
„Ist das Chries?“, fragte die Najimi.
„Mhm.“
„So hat er sich uns angeschlossen?“
„Seit Yruish sind er und Adiv unzertrennlich.“
„Was macht Euer Knie?“
„Fühlt sich merkwürdig an. Nachgiebig.“
„Überanstrengt. Sobald Ihr könnt, legt Ihr es hoch. Schont es die nächsten beiden Tage. Kühlt es, am besten mit Schnee oder Eis.“
Syriakin hörte nur mit halbem Ohr zu. „Könnt Ihr sie retten?“
„Es sieht ernst aus. Wie lange ist es her?“
„Viereinhalb Tage. Wir gaben ihr Ilanis und den Rest von Eurer Tinktur. Gestern entzündete sich der Schnitt. Sie hat eine zweite Wunde an der Schulter, einen Messerstich. Harmlos, sagt sie selbst.“
„Ihr habt gekämpft?“
„Ja.“
Ardanna wartete auf Erklärungen, aber da Syriakin nicht weiter redete, wechselte sie das Thema. „Das Fieber ist offensichtlich. War sie verwirrt?“
„Nur still. Abwesend manchmal. Wenn sie wach war, sprach sie klar.“
„Atmung und Herzschlag?“
„Schienen normal.“
„Habt Ihr nicht kontrolliert?“
Syriakin senkte schweigend den Kopf.
„Schon gut. Wurde ihr schwindlig?“
„Zwischendurch, ja. Sie hat sich erbrochen, aber das kann daran gelegen haben, dass sie bäuchlings auf dem Pferd lag.“
„Hat sie regelmäßig uriniert?“
„Ich ... “ Unschlüssig brach die Sumpffrau ab.
„Was ist los mit Euch, Syra? Ihr kennt Euch mit Verletzungen gut genug aus, um auf solche Symptome zu achten. Verminderte Ausscheidung von Urin kann auf eine Blutvergiftung hinweisen, das wisst Ihr. Also wann hat sie sich zuletzt erleichtert?“
„Heute morgen, denke ich. Hinter der Scheune.“
„Seither nicht mehr?“
„Sie war festgeschnallt. Wir konnten sie nicht jedes Mal herunterheben. Möglicherweise. Sie trank viel.“
Die Heilerin schüttelte den Kopf und lief nach vorn, um Chries und Warmuth zu instruieren. Syriakin blieb kurz stehen, stieß den Atem aus und schlüpfte als Letzte durch die Tür.
Sie fand sich in dem Raum wieder, in welchem sie selbst vor einigen Monaten erwacht war, erinnerte sich an die hochsommerliche Hitze, die unwirklich schien, wenn einem Schneewasser von den Stiefeln tropfte. Bleich, mit bläulichen Lippen und violetten Halbmonden unter den geschlossenen Augen, lag Adiv auf dem Krankenbett, um sich hell leuchtende Öllampen. Sie wirkte kaum größer als ein Kind.
Syriakin lehnte sich neben Chries an die Wand, hüllte sich in die dünnen Jacken und beobachtete, wie Ardanna die blutigen Verbände abwickelte. Sie schluckte, als sie die geschwollenen Wundränder sah, den Eiter, der sich mit dem Blut vermischt hatte. Chries keuchte leise.
„Geht besser hinaus“, raunte sie ihm zu.
„Ich kann doch nicht gehen“, protestierte er, die Hand an den Mund gepresst. „Sie ist ... Ich kann sie nicht allein lassen.“
„Ardanna wird sie betäuben. Seid da, wenn sie aufwacht.“
„Sie hat recht“, polterte die rotgesichtige Köchin. „Ihr kommt mit mir. Hier stören wir nur. Ich mache Euch einen Tee und bringe Euch trockene Sachen, bevor Ihr Euch erkältet. Warmuth wird das Feuer anheizen.“
Der Bedienstete nickte und hielt die Tür auf. Zögernd folgte Chries ihnen nach draußen, von Igra mehr gezogen, als aus eigenem Willen.
„Wo sind Akim und die anderen?“, fragte Syriakin, während Ardanna Adivs Kleidung aufschnitt und mehr Haut frei legte.
„Veranstalten ein Ablenkungsmanöver, falls Elphen in der Nähe ist. - Kian, kannst du ihr den Sud einflößen? Syra, hier, macht Euch nützlich. Fädelt den Faden durch die Nadel, aber wascht Euch vorher die Hände in Alkohol.“
Zögernd löste Syriakin sich von der Wand, trat an den Tisch und tauchte die Hände in eine Wanne mit stinkender Flüssigkeit.“
„Gründlich waschen“, befahl Ardanna. Ihre Stimme, hell und scharf, duldete keinen Widerspruch. „Nehmt die Bürste.“
Die Sumpffrau tat, wie ihr geheißen. Indes begann Ardanna damit, die Wundränder mit einem Lappen abzutupfen, was Adiv aufschreien ließ. „Der Sud wirkt gleich“, murmelte sie Adiv zu, diesmal in viel tieferer Tonlage, sanft und beruhigend. „In ein paar Minuten merkst du nichts mehr. Mach die Augen zu. Zähle. Eins, zwei, drei ...“
Syriakin wartete, bis ihre Hände getrocknet waren, und langte nach dem Faden, der vor ihr auf einem Tablett lag. Dann nahm sie die Nadel und hielt sie vor ihre Augen, doch ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Faden nicht durch die winzige Öffnung bekam.
„Was ist los?“, fragte Ardanna, ohne die Augen von ihrer Patientin zu nehmen. Konzentriert säuberte sie den Schnitt, spreizte danach die Wundränder weiter, begutachtete den Wundeingang, tastete ihn ab, leuchtete mit einem verspiegelten Löffel hinein. „Verschwimmt der Faden? Mir passiert das häufiger in letzter Zeit.“
„Mir ist nur kalt. Meine Finger sind steif.“
„Trotz des Alkohols? Ihr kippt mir doch nicht um, Syra?“
„Sie kippt nicht um“, sagte Kian, nahm der Sumpffrau Nadel und Faden aus der Hand, fädelte mühelos den Zwirn durch das Öhr und hielt Ardanna alles hin. „Näht Ihr gleich zu?“
„Ja. Danach geben wir eine dicke Schicht Graja darauf. Kopis, Allaran. Dasselbe, was ich Euch gab, Syra. Wollt Ihr mir inzwischen erzählen, was in der Boragha geschehen ist?“
Syriakin lehnte sich wieder an die Wand, die Arme vor der Brust verschränkt. „Schlimmes“, presste sie heraus. Ardanna schoss ihr einen kurzen Blick zu und musterte dann Kian, der in die Öllampen starrte.
„Ja“, seufzte sie leise. „Das haben wir befürchtet.“
Schweigend stellte sie die Ölflamme höher, vernähte die Wunde mit geübten Stichen und überließ es Kian, die Medizin aufzutragen, derweil sie den Messerstich an der Schulter inspizierte, säuberte und neu verband.
„Es blutet“, sagte Kian plötzlich. Syriakin fuhr aus ihren Grübeleien auf und kam an das Bett. Die Kompresse um Adivs Mitte färbte sich erschreckend schnell hellrot.
„Muss doch was Inneres sein.“ Hastig wickelte Ardanna die Binden wieder ab. „Ein Blutgefäß oder ein Organ. Das ist schlecht, sehr schlecht.“
„Verblutet sie?“ Syriakins Stimme klang belegt.
„Ich muss die Naht wieder öffnen und nachsehen.“
„Lasst mich.“ Kian schob ihre Hände beiseite, nahm eine winzige Schere und durchschnitt die frische Naht. Dann tauchte er mit den Händen in die Wunde, ungeachtet der Blutfontäne. Diesmal schickte er keine Pulsstöße aus, vielmehr schien es, als taste er suchend Adivs Inneres ab.
Die Sumpffrau erinnerte sich an das eigentümliche Gefühl, ihn in ihrem Körper zu spüren. In sie war nur seine Magie eingedrungen wie ein fremdartiges Wesen, das sich warm in ihr ausgebreitet hatte. In Adiv steckte er bis über die Handgelenke, als bade er die Hände in ihr. Ihr wurde übel. Helle Punkte tanzten um sie. Sie beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie.
„Ihr kippt nicht um, Syriakin“, sagte Kian und sie realisierte, dass er klang wie Akim.
„Kannst du auch deine Stimme verstellen?“, fragte sie.
„Wirkt es?“
Langsam richtete sie sich auf. „Ja.“
Kian zog die Hände aus Adiv und hielt sie vor seinen Körper. Sie sahen aus, als trüge er rote Handschuhe. Ardanna reichte ihm ein Tuch.
„Es ist eine Blutbahn.“
„Verflucht! Ich brauche kleinere Instrumente.“
„Ich habe den Schnitt verschlossen. Seht Ihr? Sie blutet nicht mehr.“
Fassungslos sah die Heilerin zu der offenen Wunde. Blut tränkte das Bett rund um den Schwertschnitt, doch es sprudelte nicht mehr aus Adiv heraus.
„Wie hast du das gemacht?“
„Zugeklebt. Aber sie ist sehr schwach. Ihr Zustand ist äußerst kritisch.“
„Schick deine Magie in sie“, sagte die Kriegerin.
Kian lächelte bekümmert. „Das habe ich schon. Draußen.“
„Dann mache es noch mal.“
Er schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht wie Ihr. Ihr Blut ist ... leer. Sie besitzt keine Magie oder hat sie ausgeschwemmt. Bis auf einen Hort in der Mitte. Ich habe ihn vorhin schon gespürt.“
Ardannas Stirn legte sich in Falten. „Wie meinst du das?“
„In ihrem Unterleib gibt es eine Manifestation. Halb so groß wie der Halbmond eines Fingernagels.“
„Magie?“
„Innerhalb des Klümpchens, ja.“
„Sie hat also ein winziges Reservoir.“
„Es ist wie ein Fremdkörper. In Syriakin schwimmen Magietröpfchen in den Blutbahnen. Bei Adiv konzentriert sich ein winzigkleiner Vorrat in der Mitte.“ Kian sah die beiden Frauen an. Die Heilerin und die Kriegerin schauten ratlos zurück, bis Ardanna aufstöhnte und sich an die Stirn griff. Ihre Finger hinterließen schmierige Abdrücke.
„Was?“, fragte Syriakin.
„Chries.“
„Chries? Was ...?“
„Wie nah sind sie sich gekommen?“
„Was hat das mit ... Wartet. Sie ist schwanger?“
„Höchstens ein paar Tage. Fingernagelgroß, sagtest du?“
„Fingernagelhalbmondgroß“, antwortete Kian. „Nicht einmal.“
„Sie wird es noch nicht bemerkt haben.“
Syriakin rieb mit den Handballen über ihre Augen, trat zurück an die Wand und ließ sich gegen sie fallen. „Gehört die Magie ihr oder dem Kind?“
„In den nächsten Monaten macht das keinen Unterschied.“
„Kann Kian sie dennoch heilen?“
Ardanna schaute den Wüstenjungen an. „Was passiert, wenn du Magie in ihren Körper schickst?“
„Ich weiß es nicht. Vermutlich verbindet sie sich mit ihrer.“
„Damit verstärkt sich ihre Wirkung. Doch was für Syriakin ein Segen war, könnte für einen Säugling das Todesurteil sein.“
„Für Adiv ebenso. Die Magie verteilt sich nicht. Fließende Wärme bei Syriakin, bei Adiv möglicherweise ein Hitzestau.“
„Haben wir eine Wahl?“, fragte Syriakin nach längerem Schweigen.
„Ihr habt Kian gehört“, erwiderte die Heilerin. „Ihr Zustand ist kritisch, der des Säuglings somit auch.“
„Dann tun wir es.“
„Sollte Chries nicht mitentscheiden? Er ist der Vater, nehme ich an.“
Syriakin stieß sich von der Wand ab. „Ich hole ihn.“
Akim und Sphita kehrten nach Mitternacht zurück. Jonoy erhob sich von den Stufen der Treppe, die von der Halle aus in das obere Stockwerk führte.
„Und?“, fragte er.
„Wir haben niemanden gesehen“, antwortete Akim.
„Wir auch nicht.“
„Was ist mit Adiv?“
„Sie lebt, trotz Komplikationen. Ardanna sagt, sie sei über den Berg, nicht zuletzt dank Kian.“
Akim und Sphita sahen sich erleichtert an.
„Ist er noch hier?“, fragte der Wüstenmann.
„Nein. Er verschwand vor über einer Stunde.“
„Ging es ihm gut?“
„Den Umständen entsprechend. Gedankenabwesend und traurig. Erschöpft.“
„Das bin ich auch“, sagte Sphita gähnend. „Ist meine Mutter noch wach, Jonoy?“
„Sie ist bei Adiv, zusammen mit Chries. Wie ich sie kenne, schläft sie im Krankenzimmer.“
„Dann gehe ich ihr eine gute Nacht wünschen.“ Das Mädchen lächelte den Männern müde zu und verschwand im Seitenflügel.
Akim setzte sich neben Jonoy auf die Treppe. „Wo ist Syra? Hat sie etwas erzählt?“
„Ich habe sie nur kurz gesehen. Sie wirkte ziemlich mitgenommen, bekam kaum den Mund auf. Gill und Nou unterrichten Ylaiy, viel mehr sagte sie nicht. Sie wollte in die Küche.“ Brummend strich der Alte sich über die Hüfte und rutschte auf der Stufe hin und her. „Verdammte Kälte! Das reinste Gift für meine Blessuren.“
„Geht zu Bett.“
„Gute Idee.“ Schnaufend erhob sich Jonoy. „Aber vorher rede ich mit Mehlau. Der Junge ist mir zu bedrückt. Manneros Tod nagt unablässig an ihm. In letzter Zeit sprechen wir vor dem Einschlafen oft von ihm und zu Hause.“
„Vielleicht solltet Ihr ihn zurückschicken.“
„Daran arbeite ich. Er geht nur nicht ohne mich. Ob aus Pflichtgefühl oder Furcht ist mir noch nicht ganz klar. Du wirst nach Syra schauen?“
„Ja. Nicht, dass sie in der Küche eingeschlafen ist.“
Jonoy verzog die Runzeln zu einem Lächeln, schlug seinem einstigen Schützling auf die Schulter und stapfte steif die Stufen hinauf.
Akim machte sich auf die Suche nach Syriakin, fand in der Küche jedoch nur Martila und Denogenes vor, die schläfrig die letzten Pfannen trockneten.
„Sie war hier“, bestätigte Martila. „Ich habe ihr Suppe gemacht, aber mit einem Mal ging sie wieder. Keine Ahnung, wohin. Sie sah aus, als wollte sie allein sein.“
Er suchte in ihrem früheren Zimmer, dann in dem Zimmer, das sie mit Gillok geteilt hatte. Ohne Erfolg. Er setzte sich auf das Bett, dachte nach, versetzte sich in sie. Plötzlich sprang er auf, lief zurück in den Küchentrakt, öffnete den schmalen Dienstboteneingang und studierte mit geblähten Nasenflügeln die Spuren im Schnee.
Wenig später betrat er die Ställe, wo er sie frierend und mit geröteten Augen in einem der leeren Verschläge auf dem Boden sitzend fand. Wortlos reichte er ihr eine Decke und eine Schale dampfende Suppe und hockte sich neben sie. Sie zog sich die Decke über Kopf und Schultern, als wolle sie sich darunter vergraben.
„Ist Arlen tot?“, fragte er nach einiger Zeit.
Sie zog die Nase hoch, bevor sie antwortete. „Aé.“
Akim sah zu Boden. „Kian fühlte es. Als ich ihn zuletzt traf, war er völlig verstört.“
„Es war nicht aufzuhalten“, sagte sie mit brüchiger Stimme.
„Aber Adiv wird es schaffen. Dank dir und Chries.“
„Dank Ardanna und Kian.“
Akim schwieg eine Weile, bevor er leise fragte: „Findest du ihn verändert? Sieht er aus wie Arlen?“
„Nein. Arlen war ... nein.“
„Bist du sicher?“
„Es war die Quelle. Kian ist nicht an der Quelle. Er ist nicht wie Arlen. Arlen war ...“
Er erschrak, als sie abbrach, beobachtete fassungslos die Tränen, die in die Suppe tropften, und nahm ihr die Schale ab. Leise schluchzend hüllte sie sich tiefer in die Decke und wandte sich ab.
„Du brauchst eine Pause“, sagte er. „Es war alles zu viel.“
„Ich muss Ciycain finden.“ Mühsam brachte sie ihre Stimme unter Kontrolle, wischte sich Augen und Nase ab und sah ihn an. „Ich will bei ihr sein. Sie beschützen.“
„Und das wirst du. Aber jetzt brauchst du Ruhe.“
„Dass ich Kian gerufen habe, war wahrscheinlich nicht der schlaueste Einfall.“
„Er war vorsichtig.“
„Elphen ist kein Dummkopf. Vielleicht stöbert er ihn nun auf.“
„Für Adiv hätten wir alle getan, was getan werden musste. Iss deine Suppe. Wärme dich auf. Schlaf ein bisschen.“
„In letzter Zeit reden die Leute ständig mit mir, als wäre ich aus Glas.“
„Niemand von uns ist unzerbrechlich. Wir brauchen all unsere Kraft für das, was vor uns liegt.“
Sie musterte ihn lange, bevor sie tief Luft holte. „Ich habe es gemerkt, weißt du?“
„Was meinst du?“
„Arlen zerstörte die Quelle, indem er einen Berg zum Einsturz brachte. Einen Berg. Stell dir das vor.“ Sie hielt inne, als begriffe sie erst jetzt, wovon sie Zeugin geworden war. „Ich habe gemerkt, wie etwas in mir schwand, als er die Quelle verstopfte.“
„Wie?“
Sie trank einen Schluck Suppe, während sie nach Worten suchte. „Mich überkam Schwäche. Mutlosigkeit. Leere. Ich merkte es, als wir gegen die Männer kämpften. Irgendwie war es nicht wie sonst. Ich fühlte mich nicht ganz, war nicht richtig bei mir.“
„Wie Ardanna.“
Fragend sah sie ihn an.
„Beim Nachmittagstee fiel ihr die Tasse aus der Hand, einfach so. Sphita sagt, sie wäre auf dem Stuhl geradezu zusammengesackt. Ardanna erzählte was von niedrigem Blutdruck. Ich finde, sie ist immer noch blass und wirkt zerfahren, gar nicht wie sie selbst. Ich wette, sie spürt Ähnliches wie du.“
„Was ist, wenn meine Kraft mit der Magie schwindet?“
„Wenn überhaupt, dann nur ganz wenig. Kian sagt, deine Eigenmagie macht dich widerstandsfähig.“
„Die von den Quellen gespeist wird, wenn auch nur gering.“
„Du bist einfach erschöpft. Iss. Ruhe dich aus. In ein paar Stunden geht es dir besser.“
„Ich habe ihn verfehlt“, murmelte sie. „Den Kerl mit dem Schwert.“
„Selbst die Besten verfehlen hin und wieder. Eine kluge Frau hat mir das vor langer Zeit beigebracht.“
„Ich hole noch ein paar Decken. Willst du mehr Suppe? Brot?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Bis gleich.“ Leise schloss er die Tür hinter sich.
Sie setzte sich auf das provisorische Lager, schnürte ihre Stiefel auf, zog sie aus und massierte ihre Füße, die, obschon sie in Socken steckten, vor Kälte und Anstrengung taub geworden waren. Dann rollte sie eine Decke zusammen, stopfte sie unter ihr rechtes Knie und fiel aufatmend auf die harte Unterlage. Noch während sie ihre Jacke aufknöpfte, schlief sie ein.
Akim, der Minuten später mit den Decken zurückkehrte, lächelte erleichtert. Es war schwer genug gewesen, sie zu überreden, mit ihm ins Haus zu kommen und ein Zimmer zu teilen. Immerhin blieben ihr weitere Grübeleien und Selbstvorwürfe erspart, vorerst jedenfalls.
Geräuschlos glitt er in den Raum, schüttelte die Decken aus und breitete sie über sie. Dann stellte er ihre nassen Stiefel vor den Kamin.
Nachdem er die Kerze gelöscht hatte, überfiel ihn die Nacht mit zermürbender Stille und tausenden Gedanken. Ruhelos lag er auf dem Bett, die Augen aufgerissen, der Geist hellwach. Er lauschte auf Syras tiefe Atemzüge, roch die klamme Kleidung, die sie noch am Leib trug, schmeckte die Erschöpfung, die von ihr aufstieg. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, was genau vorgefallen war in der Boragha. Arlen war tot, die Quelle verschlossen, das Gefängnis versunken in Chaos und Zerstörung. Adiv gerettet. Sein Herz tat einen Sprung vor Erleichterung. Gillok und Nou bei Ylaiy und Yvain, am Leben. Zum Glück. Aber Arlen war tot. Eins ihrer Kinder - tot. Sie hatten es nicht retten können.
Heiße Tränen rannen aus seinen Augen beide Wangen hinab, versickerten neben den Ohren. Er überließ sich dem Weinen, schniefte kaum, auch wenn die Nase anschwoll und verstopfte.
Wie hatte das geschehen können? Sie hatten ihn aus den Klauen des Menschenfressers befreit, ihn in Ardannas Haus gebracht. Fast drei Jahre war er bei liebenden Menschen aufgewachsen, hatte gewusst, dass die Magie ein noch schlimmeres Monstrum war als der Bluttrinker. Sie hatten ihn vor Tikt gerettet, vor Maxim und Elphen, aber vor der Magie hatten sie ihn nicht bewahren können. Was war mit den anderen Kindern? Konnten sie widerstehen? Würde Kian es können?
Der Gedanke nagte an ihm. Chada war nicht böse gewesen. Sie war an der Quelle, war in Ki akku ninu gewesen, mehr als einmal. Wenn Chada es ausgehalten hatte, konnte Kian es dann auch? Konnten es Ciycain und Yvain? War Arlen einfach stärker infiziert gewesen? Willensschwächer? Wussten sie von Arlens Tod, so wie Kian es geahnt hatte? Yvain war im Palast, bei Menschen, die ihn trösten würden, so wie sie versucht hatten, Kian zu trösten, aber wo war Ciycain? Wer tröstete sie? Gillok und Syra mussten verrückt werden bei dem Gedanken an ihre Tochter.
Er biss sich die Lippen wund, während er darüber nachdachte, steif und regungslos in seinem Bett, um Syriakin nicht zu wecken, mit scheinbar nie versiegenden Tränen und endlos wirbelnden Gedanken. Erst im Morgengrauen schlief er ein.
Der Hunger weckte sie, als die Sonne bereits hell ins Fenster schien. Einen Augenblick lag sie still da und horchte auf ihren knurrenden Magen, blinzelte ihre Stiefel an, die vor dem inzwischen erloschenen Kamin standen, und genoss die Wärme unter dem Deckenberg. Erst als sie ihr rechtes Bein dehnte und Schmerz durch ihr Knie zuckte, kehrte der gestrige Tag zurück. Adiv, der Lauf nach Perth, Kian, die Operation, der Schock über Adivs Schwangerschaft. Chries‘ Entscheidung, Adiv um jeden Preis zu retten.
Sie rollte sich auf die Seite und sah Akim, der mit dem Rücken zu ihr lag, das Gesicht zur Wand gedreht. Er schlief noch. Das war ungewöhnlich für ihn, selbst, wenn die Nacht lang gewesen war. Offenbar hatte er schwer in den Schlaf gefunden.
Langsam und leise erhob sie sich, schlich zum Kamin und fischte nach den Winterstiefeln, einem Geschenk Ylaiys. Gute Stiefel. Nicht so weich und geschmeidig wie ihre eigenen, dafür robust und wetterbeständig, groß und bequem genug, um mit dicken Socken lange darin zu laufen.
Akim hörte sie dennoch, wälzte sich mit verknittertem Gesicht zu ihr herum. Wortlos starrte er sie an, vergewisserte sich, dass es ihr gut ging. Mittlerweile kannte sie den forschenden Blick.
„Ich gehe etwas essen“, sagte sie, während sie in die Stiefel fuhr. „Kommst du nach?“
„Gleich.“ Seine Stimme klang rauer als sonst.
Als sie die Stufen hinunter stieg, fühlte sie jeden Muskel ihres Körpers. Ihr Knie zwickte, aber sie wusste, dass Bewegung helfen würde, deshalb vergeudete sie keinen Gedanken daran.
In der Küche traf sie auf Igra und Sphita, die mit der nie enden wollenden Essensvorbereitung beschäftigt waren.
„Ihr seid spät auf“, begrüßte Sphita sie. „Habt Ihr Euch erholt?“
Sie widerstand dem Impuls, auf dem Hacken kehrtzumachen, und bejahte.
„Wollt Ihr etwas essen? Bis zum Mittagsmahl dauert es noch, aber wir haben Eier, Brei und Dörrobst übrig. Oder kalte Suppe von gestern.“
Igra wartete Syriakins Entscheidung nicht ab, sondern drückte sie auf einen Stuhl in der Ecke, klatschte eine Kelle dampfenden Haferbrei in eine Schüssel, goss heiße Milch darüber und schob ihn der Sumpffrau hin. Anschließend häufte sie in der Pfanne gerührte Eier auf einen Teller und stellte ihn daneben. Zum Schluss füllte sie warmes Bier in einen Becher.
„Kein Bier“, wehrte die Kriegerin ab.
„Dünnbier. Wenig mehr als Getreidesud. Nahrhaft und bekömmlich. Ihr werdet davon nicht betrunken, das schwöre ich. Und nun esst, damit Ihr endlich was auf die Rippen bekommt. Ihr seid so dünn, dass der nächste Wintersturm Euch wegbläst.“
Kichernd wandte Sphita sich ab, dieweil die Sumpffrau die Köchin anstarrte, dann aber ihren Löffel in den Brei tunkte und zu essen begann.
Einige Minuten später stieß Akim zu ihnen. Igra stellte ihm dieselbe Mahlzeit hin, prophezeite ihm, dass sie ihn umpusten könne, wenn er nicht mehr aß, und kümmerte sich wieder um ihr Mittagsmahl.
Akim rutschte neben Syriakin. „Das macht sie immer“, flüsterte er.
„Gebracht hat es nichts“, sagte die Sumpffrau kauend.
Der Wüstenmann trank einen Schluck Bier. „Meist bin ich schon hiervon satt. Doch sie meint es gut. Das Ganze hier ... Es geht nicht nur ums Essen.“
„Sie füttern ihre Seele.“
„Manchmal. Gib zu, es tut gut.“
„Es füllt meinen Magen.“
„Und es wärmt.“
„Ja“, lenkte sie ein und machte sich über die Eier her.
Eine Weile aßen beide schweigend, beobachteten Igra und Sphita, die mit Kesseln und Pfannen klapperten, das Feuer im Herd anfachten, Gemüse hackten und Fleisch würzten.
„Neuigkeiten von Adiv?“, fragte Akim schließlich laut.
„Meine Mutter nahm sich Zeit zum Frühstücken, also denke ich, es geht ihr besser. Chries hat sich allerdings noch nicht blicken lassen“, erwiderte Sphita.
„Ist sie wach?“
„Zwischendurch immer mal wieder. Mutter gibt ihr starke Medikamente, die sie müde machen und den Schmerz betäuben. Sie wird die meiste Zeit schlafen.“
„Können wir zu ihr?“
„Nicht vor morgen, denke ich. Mutter wird sagen, dass sie Ruhe braucht. Das sagt sie immer.“
„Dann sehen wir nach Kian“, schlug Syriakin Akim vor.
„Machst du dir Gedanken wegen Elphen?“
„Das tue ich. Außerdem ist er durcheinander wegen Arlen.“ Sie brachte den Namen ohne zu stocken über die Lippen. „Vielleicht will er reden.“
„Ardanna und er haben sich gegenseitig getröstet. Für uns sah es aus, als würden sie sich nur anschweigen und anstarren. Dennoch schien es zu funktionieren. Ich weiß nicht genau, wie sie das macht.“
„Ich auch nicht, aber sie ist gut darin.“ Syriakin sah sich nach Igra um und hielt ihr das leere Geschirr entgegen.
„Fein“, lobte die Köchin. „Und jetzt raus hier, wenn ich bitten darf. Wir haben viel zu tun.“
„Wo sind Jonoy und Mehlau?“, fragte Akim.
„Für die Herrin Besorgungen machen.“
Akim sah Syriakin an. „Wollen wir?“
„Gib mir ein paar Minuten.“
„Hier.“ Akim hielt der Sumpffrau ein Zahnholz hin. Das aufgefächerte Ende war mit einer Paste aus diversen Kräutern und Ölen bestrichen.
Auf den Hölzchen kauend und sich leise unterhaltend, liefen sie durch die kalten Straßen Perths. Die Sonne schien und verwandelte die dünne Schneeschicht in Matsch, die wieder gefrieren würde, sobald die Dämmerung hereinbrach.
„Kian spürte, dass Arlen tot war?“, fragte Syriakin nach einer Weile.
„Ja. Am Abend vor unserer Ankunft tauchte er mit Freunden vor Ardannas Tür auf. Er war in einem furchtbaren Zustand. Die Jungen berichteten, dass er durch die halbe Stadt geirrt sei wie ein Betrunkener.“
„Das war gefährlich.“
„Warmuth und Sphita behandelten ihn wie einen Patienten. Drinnen brach er zusammen.“
Beide verstummten, warfen die Zahnhölzchen weg, tauschten sie gegen Minzblätter und stapften, ihren Gedanken nachhängend, durch den Matsch.
„Hast du nichts gemerkt?“, fragte die Sumpfjägerin schließlich. „Ciycain sagte, du leuchtest. Sie spürt Magie in dir.“
„Ich nicht.“
„Deine Sinne sind beinahe wie Magie. Haben sie sich verändert?“
„Ich halte sie unter Verschluss, das weißt du.“
„Denk nach.“
Akim tat ihr den Gefallen. Syriakin beobachtete ihn genau, sah, wie seine Stirn sich plötzlich kräuselte.
„Es gab da diesen Moment, in dem ich mich fühlte wie damals unter dem Eiswasser. Als sei ich von der Welt abgeschnitten. Das Ganze dauerte nicht länger als ein Fingerschnipsen. Ich habe es kaum bemerkt.“
Die Sumpffrau spuckte ihr Kaublatt aus und schritt schneller aus. „Wenn eine Quelle stirbt, holt sie all ihre Magie zurück“, fasste sie zusammen. „Deshalb spüren Menschen mit viel Magie in sich es am heftigsten.“
„Warum erst am Abend?“
Ratlos hob Syriakin die Schultern.
„Vielleicht reagierte er nicht nur auf die Quelle, sondern auf Arlens Tod“, dachte Akim laut.
„Arlen starb vor dem Einsturz.“
„Möglicherweise hat sein Sterben so lange gedauert.“
Abrupt brachen beide ab, entsetzt von dem Gedanken.
„Sind sie beeinträchtigt seither?“, fragte die Sumpffrau zwei Straßen weiter.
„Meine Sinne? Nein, ich glaube, alles ist wieder so wie vorher.“
„Kannst du es prüfen?“
„Du willst, dass ich meine Sinne öffne? Wieso? Fühlst du dich denn immer noch schwach?“
„Nein. Aber auch nicht stark.“
„Die vergangenen Tage hängen dir in Knochen und Geist.“
„Wahrscheinlich. Trotzdem?“
Akim nickte. „Aí.“
Er atmete ein, blähte die Nasenflügel und öffnete die Augen eine Spur weiter. Syriakin sah, dass seine Pupillen sich zusammenzogen. Er schob die Zungenspitze zwischen die Lippen und spannte seinen gesamten Körper an. Selbst seine Ohren schienen sich zu spitzen. Wie ein Tier auf Beutezug drehte er den Kopf in alle Richtungen, saugte Eindrücke und Empfindungen auf.
Syriakin blickte ihm gespannt zu. „Und?“
„Es scheint alles wie vorher. Nicht mehr wie vor drei Jahren, aber das sind normale Abnutzungserscheinungen. Du kannst dich beruhigen. Es war wirklich nur ein Moment.“
„Gut.“
„Warte“, sagte er plötzlich. Diesmal schwenkte nicht nur sein Kopf, sondern sein ganzer Körper im Kreis.
Augenblicklich war Syriakin alarmiert. „Was?“
„Blut. Eine Menge. Frischer Darminhalt.“
„Bauchwunde?“
Mit großen Augen sah er sie an. „Verbranntes Holz, Asche, Schmutz, ungewaschene Kleidung. Gassengeruch.“
Er drehte sich um und rannte nach Süden. Die Sumpffrau preschte hinterher und merkte bald, dass sie selbst ausgeruht und ohne angeschlagenes Knie kaum mehr mit ihm hätte mithalten können. Ihr jugendlicher Begleiter war schnell geworden wie der Wüstenwind.
Akims Sinne leiteten sie zu einem der schmalen Kanäle, über die Prants Hauptstadt mit Rohstoffen, Handelswaren und Nahrung versorgt wurde. Ein Schwimmsteg führte aufs Wasser hinaus. Rechts und links von ihm schaukelten flache Kähne. Akim rannte den Steg entlang bis zum Ende.
Sie erkannten den kleinen Körper schon von Weitem. Er lag in einem der letzten Boote, der Länge nach aufgeschnitten. Dampfendes Blut hüllte den Leichnam ein. Gedärme hingen heraus, verbreiteten einen fürchterlichen Gestank.
Akim stöhnte und vergrub das Gesicht in der eigenen Armbeuge. Ihr Halstuch vor Mund und Nase ziehend, tastete Syriakin sich an die Leiche heran. „Ein Junge. Höchstens eine Stunde tot. Ein präziser, durchgehender Schnitt. Langmesser, würde ich sagen.“
Mit Tränen in den Augen schob Akim sich näher. „Den kenne ich“, würgte er hervor. „Er gehört zu Kians Bande. Der Bucklige.“
Beide fuhren herum, als der Steg unter ihnen zu wanken begann, und blinzelten die drei Gestalten an, die ihnen entgegenkamen. Einer lief vorweg, stieß schon von Weitem Schreckenslaute aus.
„Yaell“, flüsterte Kian, als sie heran waren. „Ein kluger Kopf. Hatte das Herz auf dem rechten Fleck, obwohl das Schicksal ihm schlimm mitgespielt hatte. Es ist sehr schade um ihn. Baroosaalem.“ Schluchzend ging er in die Knie, presste sich an die Beine seines Bruders, der sich tröstend über ihn beugte.
„Was geht hier vor?“, schnaufte Jonoy, der gemeinsam mit Mehlau kurz nach Kian eintrudelte.
„Jemand hat Yaell gemeuchelt“, erwiderte die Kriegerin steif.
„Weshalb?“, stotterte Mehlau. „Warum tötet er all die Kinder?“
Syriakin und Akim atmeten hörbar ein und musterten Jonoy fragend.
„Wir haben noch einen gefunden. Einen Knaben namens Vamin. Sein Bruder war wie von Sinnen vor Angst und Entsetzen. Er faselte etwas von grauen Männern.“
„Elphen“, realisierte Syriakin sofort.
„Wahrscheinlich. Wir konnten Ortiz nicht befragen, denn plötzlich wurde Kian unruhig, witterte Gefahr. So kamen wir hierher.“
Akim hockte sich vor seinen Bruder. „Wo sind sie jetzt? Ihre Spuren sind nicht mehr zu erkennen, wir selbst haben sie zerstört. Der Wind auf dem Wasser ist zu eisig für Gerüche und alles, was ich schmecke, sind Fisch, Teer und vermoderte Pfähle. Ich brauche deine Sinne.“
Kian wischte sich die Tränen aus den Augen und konzentrierte sich. „Überall“, flüsterte er. „Verteilt in der Stadt. Was ist, wenn sie alle umbringen? Nur, um mich zu finden?“
Das Antlitz der Sumpffrau verkrampfte sich. „Das ist meine Schuld.“
„Du wolltest Adiv helfen“, widersprach Akim.
„Der Preis ist zu hoch. Adiv hätte das nicht gewollt.“
„Hör auf!“ Der Schmied stieß seinen Stock auf die Bohlen, dass der Steg schwankte. „Die Zwillinge brachten diese Kinder um. Du versuchst, Leben zu retten!“
Die Kriegerin starrte den Greis an, zog das Tuch über ihren Kopf und drehte ihm den Rücken zu.
Kian rappelte sich auf, trat hinter sie und umschlang sie mit beiden Armen. Sie versteifte augenblicklich. „Ihr tragt keine Schuld. Ihr seid ein guter Mensch.“
„Lass das mit der Stimme“, sagte sie rau.
„Elphens Späher brachten Kunde von Cehaj und Nebunedzad, die zurück in die Boragha flohen. Das schreckte ihn auf. Vielleicht sah er mich und meine Freunde, als ich an Ardannas Tür hämmerte an dem Abend, an dem Arlen starb.“
„Oder er sah euch schon im Kerker. Dorthin kamt ihr wegen mir.“
„Hör auf!“, rief Akim. „Wenn wir anfangen, so zu denken, können wir gar nichts mehr tun. Es beweist nur, wie kaltblütig Elphen handelt.“
Düster blickte die Kriegerin über das Wasser. „Ich muss ihn finden.“
Kian wischte sich die Nase am Ärmel ab. „Nein. Ich werde fliehen.“
„Wohin denn?“, stieß Akim hervor.
„Ki akku ninu.“
„Das ist das, was er will“, sagte Jonoy. „So findet er dich und die Quelle.“
„Ganz genau.“
Bei Kaa, das tut weh!
Mit zusammengebissenen Lippen rutschte sie auf dem Leinenlaken umher, fand jedoch keine bequemere Position. Sie wusste, dass Ardanna an ihren Matratzen nicht sparte. Die Polsterung aus Heu, Daunen und Wolle war weder zu weich noch zu hart, und doch war das Liegen eine Qual. Sie brauchte Bewegung.
Kurz dachte sie an Ardannas strikten Befehl, dann richtete sie sich vorsichtig auf.
„Ah!“, zischte sie, als glühender Schmerz in ihren Körper stach, und tastete nach dem dicken Verband an ihrer Taille, den ein Nachtkleid aus weißem Qutún verbarg. Darunter puckerte heiß die Wunde. Langsam zählte sie bis zehn und zwang sich zu ruhigem Atmen, bevor sie die nächste Bewegung wagte.
Sie benötigte mehrere Minuten, um die Decken abzustreifen, saß danach schwer atmend und schwitzend auf der Bettkante. Während sie auf ihre Füße starrte und sich auf die nächste Anstrengung vorbereitete, lauschte sie auf die Geräusche des Hauses, in welches Bewegung gekommen war.
Besucher.
Ylaiy? Hatten Gillok und Nou ihn hierher geholt? Welcher Tag war heute? Wie lange hatte sie gelegen? Sie erinnerte sich an die kurzen Wachzeiten zwischendurch, an die Gesichter ihrer Freunde, an Chries, der am Bett gesessen hatte, an Ardanna, die sie wusch, umzog und nach ihren Wunden sah. An Gespräche erinnerte sie sich nicht. Zu müde war sie gewesen, eingelullt von Schmerzen und Betäubungsmitteln. Was hatte sie verpasst? Wo war Chries?
Zeit für den ersten Schritt. Behutsam setzte sie einen Fuß auf den Boden und zuckte, als sie die Kälte spürte. Dann schob sie sich steif von der Bettkante.
Eine Woge der Übelkeit zwang sie zurück auf die Matratze.
Nur der Kreislauf.
Erneut zählte sie, erhob sich und blieb diesmal stehen, die Hände auf das Bett gestützt, wartend, dass der Schwindel nachließ.
Nach zwei zaghaften Schritten wurde ihr abermals flau. Mit geschlossenen Augen tastete sie nach Wänden und Gegenständen, um sich festzuhalten.
Atme.
Danach ging es besser als erwartet. Zwar schwankte sie beim Gehen und stöhnte bei jeder Bewegung, aber Schritt für Schritt näherte sie sich der Tür, öffnete sie, spähte den Gang hinunter und horchte. Aus der Halle kamen Geräusche. Sie erkannte Sheshs Brummstimme, tapste zur gegenüberliegenden Wand und benutzte sie als Anker.
Alles Gemurmel verstummte sofort, als sie ins Licht der Eingangshalle trat.
Yvain hatte sich nach ihr umgedreht und Gillok kam ihr bereits entgegen. Dankbar ließ sie sich von ihm mitziehen in die Mitte der anderen, wo Chries die Arme um sie legte.
„Morgen“, sagte sie und wunderte sich über ihre heisere Stimme.
Ardanna musterte sie mit düsterer Miene. „Du solltest im Bett bleiben.“
„Ich kann nicht mehr liegen.“
„Sei nicht so störrisch.“ Die Heilerin klang missgelaunt.
„Nur für eine halbe Stunde“, bat Adiv.
„Dann setz dich wenigstens hin.“
Shesh schob einen Stuhl heran, auf den Adiv sich erschöpft sinken ließ. „Ein Flur, und ich fühle mich, als hätte ich eine Heldentat vollbracht“, stöhnte sie.
„Du siehst aus wie ein Gespenst“, brummte Shesh.
Sie sah an ihrem Nachtkleid hinunter. „Ja, Weiß steht mir nicht.“
„Wenigstens hast du deinen Humor nicht verloren“, sagte Ylaiy schmunzelnd und hauchte einen Kuss auf ihre Hände. „Ich bin so froh, dich am Leben zu sehen.“
„Werdet bloß nicht sentimental“, erwiderte sie lächelnd und nahm einen Becher Wasser von Yvain entgegen.
„Tragt sie in das kleine Esszimmer“, sagte Ardanna. „Ich hole Decken.“
Minuten später saß Adiv unter einem Deckenberg im Kreise ihrer Freunde. Chries hockte, ihre Hand haltend, an ihrer Seite. Erleichterung stand in seinem Gesicht.
„Wo sind die anderen?“, fragte sie.
Betreten sahen die Umstehenden einander an und augenblicklich befiel sie ein mulmiges Gefühl.
„Nou ist auf dem Weg in die Sümpfe“, begann Gillok. „Ich habe ihn geschickt, um nach Ciycain zu suchen. Lieber weiß ich sie hier bei uns als allein irgendwo.“
„Was ist mit Syra?“
„Sie wirkte befreit, als ich ihr davon berichtete.“
„Wo ist sie?“
„Draußen. Sie sieht nach Kians Freunden.“
Adiv runzelte die Stirn. „Wieso?“
„Elphen hat Straßenkinder gemetzelt, um Kian zu enttarnen. Sie finden immer noch Leichen.“
„Was?“, fuhr Adiv auf.
Ardanna mischte sich ein. „Kian ist geflohen, gemeinsam mit Akim, Jonoy und Mehlau. Er hofft, Elphen von hier wegzulocken. Sie sind bereits auf dem Weg nach Berlen.“
„Zur Quelle?“
Ardannas Gesicht verdüsterte sich noch mehr, als sie nickte. Ihre Hände krampften sich umeinander.
„Wir werden ihnen morgen folgen“, setzte Gillok hinzu.
„Was ist mit mir?“
„Du bist verletzt“, sagte Chries. „Ich bleibe bei dir.“
„Ich muss mit! Wir brauchen jeden.“
„Sei nicht närrisch!“, fuhr Ardanna sie an. „In deinem Zustand kämst du nicht einmal bis zur Haustür. Du wirst genauso leichtsinnig wie deine Freundin.“
Adiv zuckte vor dem harten Ton der Heilerin zurück. Ardanna schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
„Sie hat recht“, sagte Gillok leise. „Es wäre mehr als unvernünftig, dich mitzunehmen.“
„Du musst dir keine Sorgen machen“, fügte Shesh hinzu und drückte Adivs Schulter. „Wir sind genug Leute.“
„Aber Nou fehlt ebenso und jetzt auch noch Chries.“
„Und ich“, tönte eine dunkle Stimme von der Tür her.
Adiv lächelte. „Syra.“
Die Kriegerin erwiderte das Lächeln nicht.
„Ihr wollt nicht mitkommen?“, fragte Ylaiy erstaunt.
„Außer Chries gibt es niemanden mehr hier, der in einem Ernstfall das Haus schützen könnte. Keinen, der auf Kians Freunde aufpasst.“
Die anderen hielten für einen Moment die Luft an, dann redete jeder gleichzeitig, abgesehen von Ardanna und Syriakin, die sich stumm musterten.
„Es ist beschlossen“, sagte die Kriegerin letztendlich in den Tumult hinein.
Gillok trat auf sie zu. „Bist du sicher? Ohne dich ...“
„Jemand muss Adiv beschützen“, unterbrach sie ihn. „Auf die Najimi aufpassen, hier sein, falls Nachricht von Ciycain und Nou eintrifft. Ihr werdet es schaffen. Yvain und Kian sind bei euch.“
„Ist Sphita auch bei ihnen?“, erkundigte sich Ardanna mit rauer Stimme. „Habt Ihr etwas herausgefunden?“
„Was?“, rief Adiv aus. „Sphita hat sich Akim angeschlossen? Und das habt Ihr zugelassen?“
„Sie hat sich heimlich aus dem Staub gemacht“, erwiderte Syriakin. „Sie wurde gesehen, wie sie allein einen Mietkahn Richtung Korth bestieg. Wahrscheinlich will sie zur Fähre nach Yruish.“
„Ich weiß nicht, was mich mehr verrückt macht“, flüsterte Ardanna, ihre Hände knetend. „Der Gedanke, dass sie allein den anderen hinterher reist oder dass sie mit ihnen gegen Elphen kämpft.“
„Warum tut sie so etwas?“, fragte Adiv entsetzt.
„Sie will helfen und sich beweisen“, entgegnete Gillok, Ardanna mitleidig musternd.
„Haltet die Augen nach ihr offen“, riet Syriakin. „Vielleicht sammelt ihr sie unterwegs ein.“
Die Karawanserei quetschte sich in eine riesige Bodensenke, umgeben von lichten Laubwäldern auf der einen und Zederngehölzen auf der anderen Seite. Dichter Frühnebel von der nahen Küste raubte Mehlau die Sicht, also verließ er sich auf Kian und Akim, die unbeirrt ausschritten.
„Woher weißt du, wo du lang musst?“, fragte Mehlau den Knaben. „Man sieht fast nichts.“
„Ich sehe nicht nur mit meinen Augen.“
„Wie das?“
„Ich erkenne Umrisse, rieche Objekte und Lebewesen, schmecke Materie, höre und fühle, wie der Untergrund sich ändert.“
„Trotzdem ist alles verwässert“, brummte Akim. „Nebel streut Gerüche, so wie er Geräusche dämpft und die Sicht nimmt.“
Mehlau sah sich furchtsam um. „Wenn uns also jetzt jemand angriffe, würdet ihr ihn zu spät bemerken?“
„Später“, betonte Akim. „Doch bedenke, dass Angreifer uns genauso wenig ausmachen können. Elphen wäre dumm, uns hier und jetzt zu überfallen. Zu nah an anderen Menschen, zu unsicher, was das Überraschungsmoment angeht.“
„Oder er schert sich nicht um solche Dinge.“
Kian legte ihm die Hand auf den Arm und sah ihn beruhigend an. „Du musst dich nicht fürchten. Wir sind gleich da.“
Mehlau erwiderte das Lächeln des dunkelhäutigen Jungen nur halb und seufzte erleichtert, als die ersten Umrisse der Karawanserei sich aus den Schwaden schälten.
„Im Winter ist es schwer, eine Karawane zu finden“, sagte Jonoy zu Akim. „Es sind kaum Leute hier.“
„Ich weiß. Es gibt zu wenig Ställe für die Kamele, nicht genug Unterkünfte für die Reisenden. Im Sommer lagern wir auf dem großen Platz, unter Zelten oder aufgespannten Decken. Die Brunnen schenken ausreichend Wasser und die Garküchen bereiten gute Nahrung. Heute rieche ich kein einziges Herdfeuer.“
„Ist sie verlassen?“
„Nicht ganz“, antwortete Kian an Akims Stelle. „Am Osttor ist jemand.“
Leise gingen sie durch den verwaisten Innenhof der Anlage. Mehlau musterte die verschlammte Erde, die Umrisse der einstöckigen Gebäude, die rings um den rechteckigen Platz verliefen, die Brunnen. Er erinnerte sich an den Tag, an dem sie Julas Kamele hier abgeliefert hatten, an das Feilschen der Händler, das Sprachengewirr, das Blöken der Tiere. Der Geruch von Minztee hatte den Gestank der tellergroßen Ausscheidungen der Tiere überdeckt. Sie hatten damit gefeuert, fiel ihm ein. Der Dung war härter gewesen als die Fäkalien anderer Tiere und in der Hitze schnell getrocknet. Perfekter Brennstoff. Ob er zum Schmieden geeignet war? Darüber hatten Mannero und er damals gar nicht gesprochen. Gedanklich waren sie ganz und gar bei dem bevorstehenden Fußmarsch gewesen, hatten sich auf den Palast gefreut. Aber Mannero war gestorben, ohne je einen Fuß in die Hauptstadt gesetzt zu haben. Der Gedanke machte ihn trübsinnig. Es gab so vieles, das Mannero nicht getan oder gesehen hatte.
„Der Nebel reißt auf“, rief Kian. „Und dort hinten sind Leute. Ich sehe ihre Gestalten und höre ihre Stimmen.“
Mehlau lauschte und nickte. „Männerstimmen.“
„Sie sprechen meine Sprache. Akim, es sind Madif!“
„Ich höre es“, gab der ältere Bruder zurück.
„Das Glück ist auf unserer Seite“, wandte Kian sich wieder Mehlau zu, ein Strahlen im Gesicht. „Akim wird sie kennen. Er kennt fast alle, die für die Karawanen arbeiten. Wir reiten nach Hause.“ Der Junge beschleunigte seine Schritte.
„Nach Hause“, echote Mehlau.
Jonoy schob sich an seine Seite. „Es ist nicht so weit von hier. Näher als Puard. Viel näher als Ki akku ninu. Und viel weniger gefährlich. An der Furt steigst du ab und ziehst einfach weiter nach Norden. Du kennst den Weg. In einer Woche wärst du bei deiner Tante und Ciana. Sie werden dich wie einen Helden willkommen heißen.“
„Sie werden einen Angstmeier zurückkehren sehen. Der Held liegt in der Fremde begraben.“
„Du bist kein Feigling. Du hast gegen Elphens Mannen gekämpft, Frauen und Kinder verteidigt. Vergiss das niemals!“
„Dafür erschrecke ich jetzt vor meinem eigenen Schatten.“
„So ging es uns allen nach Drahórsul. Du wirst dich erholen.“
„Vielleicht ist auch nicht jeder zum Helden geboren.“
„Vielleicht wollen Frauen wie Ciana gar keine Helden, sondern ehrliche, verlässliche Männer. Und das bist du. Kehre zurück, Mehlau.“ Eindringlich sah Jonoy ihn an.
„Ich denke darüber nach. Bis zur Furt habe ich ja noch ein paar Tage Zeit.“
„Taan!“, beendete Kians freudiger Ausruf ihr Gespräch. „So bist du hier!“
Ein schmaler, dunkelhäutiger Mann in dunklen Gewändern trat auf sie zu, nahm erst Kians, dann Akims Hände in die seinen und lächelte.
„Für wen arbeitest du?“, erkundigte sich Akim auf Yr.
„Mah Warach. Der größte Geizhals der Wüste. Er stellte mich im Spätsommer ein. Ich kam mit der letzten Karawane hierher. Mit den ersten Händlern im Frühjahr kehre ich zurück.“
„Wie viele seid ihr?“
„Sechs. Zum Glück. Allein verlöre ich den Verstand bei der Einsamkeit und Kälte in diesem Land.“
„Ein Stück nach Westen liegen warme Wasser, nur wenige Stunden von hier. Dort könnt ihr euch aufwärmen und Menschen treffen. Ein besonderer Ort, gut gegen die Einsamkeit. Wer verwaltet diesen Posten?“
Taan zuckte mit den Schultern. „Im Moment wir, so wie es aussieht. Im Sommer wimmelte es hier von Menschen. Köche, Wirte, Barbiere, Handwerker, käufliche Mädchen, Wäscherinnen. Seit der Kälte sind sie alle verschwunden. Wer sind deine Freunde?“
„Von dem Schmied wirst du gehört haben. Er ist Julas Freund. Mehlau ist sein Geselle.“
Höflich verbeugte Taan sich und lächelte. Die Zähne in dem runden Gesicht leuchteten weiß.
„Wie wäre es mit einem Tee? Ceai?“
„Ceai“, wiederholte Mehlau holprig. „Sicher. Gern.“
Taan und seine Begleiter hausten in einem der verlassenen Ställe. Mehlau fand den Unterschlupf dunkel und stickig, aber recht behaglich. Dicke Decken und Kissen waren über Stroh gebreitet. Am Eingang stand ein Dreifuß aus Zinn, an dem ein Kessel über einem kleinen Dungfeuer schaukelte. Die Kamele lagerten in den Verschlägen rundum, blinzelten ihn aus großen, feuchten Augen an, kauten auf Strohhalmen oder blökten leise.
„Wir bringen sie jeden Tag ins Freie“, sagte Taan. Diesmal sprach er in seinem Heimatdialekt und Akim übersetzte. „Führen sie herum. So bekommen sie Auslauf. Parha ist gerade mit zweien unterwegs.“
„Wir haben ihn nicht gesehen“, erwiderte Kian.
„Kein Wunder bei dem Nebel. Seid ihr von Osten gekommen?“
„Ja. Von der Fähre in Tut.“
„Ah. Wir reiten meist nach Norden. Selbst im Winter gibt es viel Gras auf den Wiesen dort.“
Er winkte seine Freunde heran, allesamt junge Männer in seinem und Akims Alter. Zwei von ihnen waren wie Taan in nachtblaue Gewänder gekleidet, einer trug eine türkisfarbene Tracht, einer war in weiße Tücher gehüllt. Sie alle waren klein, schlank und von nussholzbrauner Hautfarbe. Ihre Häupter bedeckten Stoffe, die in komplizierten Mustern verschnürt waren. Freundliche Gesichter schauten sie offen an.
Mehlau nickte ihnen scheu zu, bevor er sich wie sie im Schneidersitz am Feuer niederließ, Jonoy zu seiner Rechten, Kian zu seiner Linken. Akim rutschte neben Taan, der augenscheinlich der Sprecher der Gruppe war.
„Das sind Morha, Merhut, Arjan und Wessech“, stellte Taan seine Begleiter vor. „Arjan und Morha sind Madif von der Südküste, Merhut und Parha stammen aus den südlichen Oasen, Wessech aus Puard.“
„So kennt Ihr Jula?“, wandte Jonoy sich an Wessech, den Mann in Weiß.
Wessech verzog sein rundes Gesicht zu einem Lächeln. „Jeder kennt Jula. Auch Euch habe ich schon einmal bei einem Eurer Besuche gesehen. Senaa’it. Der Mann mit dem Dach.“
Jonoy lachte dröhnend und drehte sich zu Mehlau. „Die Madif kennen kein Wort für Hut. - Ich weile öfter in Puard“, erklärte er Wessech und nahm einen Becher dampfenden Tee entgegen. „So seid ihr gemeinsam mit Taan aufgebrochen?“
„Wir alle. Es hieß, Jula hätte im Spätsommer über Nacht eine kleine Karawane losgeschickt. Daraufhin ließ Mah Warach auch noch einmal aufsatteln.“
„Mah Warach ist Wessechs Onkel“, warf Taan schnell ein. „Doch erzählt: Was treibt euch in diese Gegend?“ Neugierig musterte er das Brüderpaar.
„Kian“, seufzte Akim, als erkläre das alles.
„Er kam mit mir nach Puard.“
„Aí. Gegen meinen Willen.“
Taan schoss Kian einen vorwurfsvollen Blick zu. „Das hast du verschwiegen.“
Kian senkte verlegen den Kopf.
„Ich traf ihn in Puard, ihn und Jonoy. Kian trieb die Abenteuerlust, Jonoys Gesellen ebenfalls. Wir machten uns auf die Suche nach den beiden. Jetzt sind wir auf dem Rückweg.“
Taan fixierte Akim. „Eine lange Suche.“
„Mehlau wollte die Handwerker sehen“, schob Jonoy nach. „Also besuchten wir Perth. Dort grassierte die Seuche, hielt uns wochenlang fest. Dann kam der Winter. Schließlich jedoch wurden wir ruhelos und beschlossen, aufzubrechen.“
„Seid ihr erkrankt?“, fragte Morha argwöhnisch und suchte ihre Gesichter nach Anzeichen ab.
„Nein“, gab Akim zurück. „Wir hatten großes Glück.“
„Wo ist der andere Geselle?“
„In Perth geblieben.“
„Und jetzt?“, wollte Taan wissen, nachdem alle von ihrem Tee geschlürft hatten.
„Jetzt suchen wir Kamele.“
„Wirklich.“ Wessech pustete in seinen Minztee. „Mein Onkel gilt als Raffzahn. Wie viel könnt ihr zahlen?“
Jonoy klimperte mit einem Beutel Münzen. „Genug.“
Wessech bekam große Augen. „Habt Ihr jemanden ausgeraubt?“
„Gute Handwerker verdienen ausreichend in einer Stadt wie Perth. Vor allem, wenn die Seuche die anderen Schmiede frisst. Also - was würde dein Onkel sagen?“
Auf Wessechs Gesicht erschien ein breites Grinsen. „Er würde Euch seinen besten Freund nennen.“
Eine Stunde später waren vier Kamele gesattelt und ein Berg Münzen wechselte den Besitzer. Für eine weitere Handvoll packten die Wüstenmänner zusätzlich leichte Qutúntücher in die Satteltaschen.
Kurz vor dem Aufbruch traf Parha mit zwei Kamelen in der Karawanserei ein und bestaunte die Neuankömmlinge.
„Hast du unterwegs jemanden gesehen?“, fragte Akim.
„Nein.“
„Keine Fremden? In graues Leder gewandet?“
„Nur ein paar Bauern. Ich treffe sie häufiger.“
Akim nickte, schnalzte seinem Kamel zu und hieb die Fersen sanft in die Flanken. Kian folgte ihm. Jonoy und Mehlau hatten Mühe, die Tiere zu wenden und in die richtige Richtung zu lenken. Mehlau erinnerte sich an die ersten Male des abenteuerlichen Auf- und Absteigens. Mittlerweile saß er weniger verkrampft im Sattel zwischen den beiden Höckern.
Parha führte seine Tiere zurück in die Ställe. Seine Freunde nahmen ihn in Empfang und winkten den Gefährten zum Abschied. Nur Taan trat Akim in den Weg. „Treibt sie nicht zu sehr an. Sie sind die Sande gewohnt.“
„Ich weiß. Meinen Gruß an deine Familie, Taan.“
„Du wirst sie vor mir sehen.“
„Vielleicht“, lächelte Akim verzerrt.
Taan griff nach den Zügeln. „Was von deiner Geschichte ist wahr, Akim?“
Akim zögerte. „Das meiste.“
„Was hast du weggelassen?“
„Es ist besser, wenn du das nicht weißt. Vertrau mir, Taan.“
„Ich weiß, dass Kian vor ein paar Jahren schon einmal verschwand. Ich erinnere mich an den Aufruhr. Danach bist du verschwunden. Mit Gradh. Dann kehrtet du und Kian Monate später ohne Gradh zurück. Was ist geschehen? Im Dorf kursieren alle möglichen Geschichten.“
„Du weißt doch, wie die Leute sind. Sie reden und reden.“
„Haben wirklich Dämonen ihn entführt?“
„Wenn wir uns das nächste Mal sehen, erzähle ich dir davon“, versprach Akim. „Jetzt müssen wir los.“
„Wieso? Weshalb die Eile? Hat es etwas mit den Graugewandeten zu tun?“
„Wir halten sie für Räuber“, sagte Kian und fing Taan mit seinem Blick ein. „Eine Zeit lang folgten sie uns. Hütet euch vor ihnen. Verbergt eure Münzen.“
„Sind sie gefährlich?“
„Bis jetzt haben sie uns nichts getan, aber geht ihnen trotzdem besser aus dem Weg. Nehmt die Kamele und verschwindet bis morgen in den nördlichen Wäldern. Versteckt euch. Brecht auf, sobald wir den Hof verlassen haben.“
Während Kian sprach, bohrte er seine Augen in Taans, ließ ihn nicht los. Taan strich sich über die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. „Gut.“
„Taan?“
„Ja?“
„Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.“
„Aí.“
„Vielleicht tauchen auch andere Fremde hier auf. Mit einem Knaben bei sich, einem Burschen eher. Mit hellen Haaren.“
„Sind sie gefährlich?“
„Sie sind unsere Freunde. Helft ihnen.“
„Gut.“
„Viel Glück, Taan.“
„Die Fähre von Bostwick nach Tut ist bei Reisenden beliebt“, erläuterte Ylaiy. „Manche kommen nur hierher, um im Brunnen von Mahtepu ein Bad zu nehmen. Anschließend setzen sie nach Tut über, um in den Terrassenbädern zu entspannen.“
„Sie nehmen all die Strapazen auf sich, um zu baden?“, hakte Gillok ungläubig nach. „Es gibt doch genügend Flüsse und Seen.“
„Es geht ihnen nicht um Sauberkeit. Der Brunnen gehört zu einer Tempelanlage einer kleinen Glaubensgemeinschaft, die ursprünglich auf Staleph beheimatet war. Im Brunnen reinigt man sich seelisch. Man befreit sich von schlechten Einflüssen.“
Gillok sah Shesh stirnrunzelnd an. Der Bär zuckte mit den Schultern. „Glaubenskram“, sagte er wegwerfend. „Aber ich hörte von der Schönheit des Brunnens. Der Tempel ist längst verfallen, oder?“
Ylaiy nickte. „Doch der Brunnen ist wie ein Magnet für Pilger und andere Reisende.“
„Und die Terrassen?“, fragte Gillok.
„Warmes, mineralreiches Wasser, das über breite Stufen in die Tiefe stürzt. Manche Menschen trinken es, weil sie glauben, es heile Krankheiten.“
„Wart Ihr hier schon einmal?“
„Nein. Ich suchte einst die Quellen von Balandyis auf. Nicht so spektakulär, aber auch warm.“
Thragesh zog die Schultern hoch. „Ein bisschen Wärme käme mir recht. Es ist nicht mehr so kalt wie bei unserer Abreise, doch immer noch unangenehm.“
„Es wird wärmer werden, sobald wir am Wasser sind“, entgegnete Yvain. „Die Tut’che-See ist Teil des Berlenmeeres. Sind wir erst drüben, ist es nicht mehr weit bis zur Wüsteninsel.“
„Meint ihr, Akim und seine Leute sind schon auf der anderen Seite?“, fragte Shesh.
„Bestimmt. Sie haben drei Tage Vorsprung“, erwiderte Gillok.
„Jonoy ist bei ihnen“, gab Ylaiy zu bedenken. „Wir sind wahrscheinlich schneller unterwegs.“
„Sie hatten Mietpferde wie wir und der Schmied ist ein zäher Bursche. Der würde Mehlau notfalls auf dem Rücken nach Berlen schleppen“, entgegnete Shesh lachend.
Für einen Augenblick fielen alle in Thrageshs Gelächter ein, wurden jedoch rasch wieder ernst.
„Beeilen wir uns“, brummte Shesh schließlich. „Ich habe nach wie vor das unangenehme Gefühl, dass Elphen uns einige Schritte voraus ist. Wir müssen die anderen erreichen, bevor unsere Hilfe zu spät kommt.“
Bostwick war eine ungewöhnliche Stadt. Erbaut von abtrünnigen Gläubigen Stalephs, unterschied sie sich auffallend von den schmucken, einfallslosen Städten der Elboin. Weit auseinandergezogen verteilten sich niedrige Häuschen entlang der sanften Hügelketten. Im Osten dominierten Hütten, die halb in der Erde vergraben lagen, während im Westen seit Jahrhunderten Behausungen in Felswänden bewohnt wurden. Im Norden, nicht weit entfernt von der flachen Tut’che-See, thronte der verfallene Tempel von Mahtepu unter üppig belaubten, selbst im Winter duftenden Zederngewächsen. Bostwick wirkte farbenfroh und geschäftig, wenngleich die Farben längst abblätterten und die Schindeln der Häuser klapperten. Ungeachtet der maroden Gebäude und Straßen drängten Einheimische, Zugezogene und Reisende gleichsam durch die Stadtmitte, teilten sich Gehwege mit frei herumlaufenden Affen, Ziegen, Hunden und Katzen, indes Schwärme von Möwen und Tauben die Dächer bevölkerten. Es herrschte ohrenbetäubender Lärm.
„Ist es hier immer so laut?“, brüllte Shesh dem Kaiser zu, der unerkannt an der Seite der Gefährten durch die vogeldreckbespritzten Gassen lief.
„So wie alle Handelsposten am Meer. Lasst uns so schnell wie möglich den Hafen finden. In Richtung des Tempels, glaube ich.“
Der Leibwächter machte sich lang. „Ich sehe hohe Türme dort hinten.“
„Dann los.“
Außerhalb des Zentrums mit seinen Basaren, Künstlervierteln und Handwerkerstuben wurde es rasch ruhiger und die Luft besser.
„Für Akim und Kian war dies sicherlich ein Albtraum“, sagte Ylaiy, sobald sie durch regenverhangene Zedernwäldchen wanderten.
„Dafür ist es hier schön.“ Tief sog Yvain die duftende Waldluft ein und schlug an einem Wegkreuz ohne zu zögern einen Pfad nach Westen ein. Die anderen folgten ihm, ohne seine Entscheidung infrage zu stellen.
Eine gute Stunde später schälten die Säulen des Tempels sich aus den Baumkronen heraus. Im Sonnenschein hätte die Ruine trotz ihres Verfalls imposant gewirkt, doch Regenschleier und Kälte ließen die feuchten Steinquader ungemütlich und abweisend wirken. Kletterpflanzen rankten sich zwischen den Mauern empor. Die Natur Nordyruishs war längst dabei, sich ihren Platz zurückzuerobern.
„Im Sommer wird es hier von Schlangen und Echsen wimmeln“, vermutete Gillok.
„Außerdem von Affen und Ratten“, sagte Ylaiy. „Sie turnen auf den Überresten herum. Besucher berichten immer wieder von wahren Scharen. Mittlerweile getraut sich kaum noch jemand in die Anlage hinein. Ein Jammer. Es gäbe viel zu entdecken.“
„Lass uns hierher zurückkehren“, schlug Yvain unerwartet vor. „Wenn alles vorbei ist.“
Ylaiys Augen leuchteten auf. „Ein Forschungsprojekt?“
„Wenn du die Zeit findest.“
Während die beiden Elboin Zukunftspläne schmiedeten, stapften Gillok und Shesh voran, bis sie auf eine Gruppe von Menschen stießen, die am Rande eines gewaltigen Wasserbeckens standen und ehrfürchtig hinab starrten.
„Ist das der Brunnen?“, fragte Gillok und schob sich näher an den Beckenrand heran.
„Man nennt ihn Treppenbrunnen“, sagte Ylaiy. „Wegen der Stufen.“
„Stufen!“ Shesh lachte laut auf. „Das sind ausgewachsene Stockwerke! Seht! Wie ein Tempel, den man nach unten gebaut hat. Mit Säulen und Emporen und Götterstatuen! Und hier geht man baden?“
„Nicht im Winter. Nach heftigen Schneeschmelzen steigt der Wasserspiegel bis unter den Rand.“
Shesh sah sich um. „Ziemlich viele Besucher hier, trotz des schlechten Wetters.“
„Sie bewundern die Baukunst und verehren die Heiligen in den Nischen“, sagte Yvain. Er stand stockstill. Sein Blick war auf eine einsame Gestalt gerichtet, die verhüllt auf der anderen Seite des rechteckigen Brunnens saß und in Gedanken versunken schien.
Den drei Männern war Yvains abwesende Stimme nicht entgangen und so folgten sie dem Blick.
„Ist das Sphita?“, flüsterte Ylaiy.
Statt einer Antwort hob Yvain unversehens beide Arme und winkte, bis die kleine Gestalt aufsah, aufsprang und einen halblauten Schrei ausstieß. Sie und Yvain setzten sich gleichzeitig in Bewegung.
„Den Göttern sei Dank!“, rief sie bereits von Weitem.
„Sphita!“, begrüßte Yvain das Mädchen, das vor Erleichterung die Hände vor das Gesicht schlug und in Tränen ausbrach.
„Was tust du hier?“, fragte Gillok sie, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. „Geht es dir gut?“
„Ja“, antwortete die Tochter der Heilerin, sich die Kapuze vom Kopf ziehend.
„Du siehst erschöpft aus. Hast du gegessen?“
Beschämt senkte Sphita den Kopf. „Nicht viel. Als ich los bin, habe ich nur wenig Proviant eingesteckt und noch weniger Münzen. Wasser gab es zum Glück genug.“ Sie streckte die Handfläche in den Regen.
„Wie ist es dir ergangen?“ Shesh hielt ihr einen harten Apfel hin, den sie gierig verschlang.
„Ganz gut“, murmelte sie zwischen großen Bissen.
„Vergiss das Kauen nicht“, ermahnte Gillok.
„Ich wollte Akim hinterher, aber der Mietpferdmann wollte mir keins geben. Ich musste mit dem Mietkahn zur Fähre schippern, was sich als Glück herausstellte, denn wir waren nur wenige Fahrgäste und deshalb ziemlich schnell. Ich hatte gehofft, sie am Hafen einzuholen, doch sie waren schon weg. Ich nahm die nächste Überfahrt nach Yruish und eine Kutsche nach Osten, so weit mein Geld reichte. Den Rest musste ich laufen. Zweimal fuhr ich heimlich auf Fuhrwerken mit, nächtigte nahe Poststationen, in Heuschobern und Kirchen. Akim und die anderen fand ich nicht.“
„Wahrscheinlich sind sie der Küste gefolgt“, überlegte Ylaiy laut.
Gillok sah das Mädchen tadelnd an. „Das war sehr gefährlich und gedankenlos. Deine Mutter erstickt vor Sorge.“
Tränen rollten über Sphitas Wangen. „Ich wollte nur helfen. Richtig helfen. Auf Mehlau aufpassen. Er hat so viel Angst seit Manneros Tod.“
Die Männer blickten sich an.
„Ich verstehe“, sagte Gillok dann. „Leichtsinnig bleibt es dennoch.“
„In der dritten Nacht bekam ich Heimweh“, flüsterte Sphita. „Allein zum Umkehren war es zu spät. Ich hätte bis zur Küste laufen können, aber die Fähre zurück hätte ich nicht mehr bezahlen können.“
„Und wie wolltest du die Überfahrt nach Tut bezahlen?“, fragte Gillok sanfter. „Wie von dort nach Berlen gelangen?“
Wieder senkte das Mädchen den Kopf. „Darüber denke ich noch nach.“
„Wieso bist du nicht zum Palast gegangen?“, wollte Ylaiy wissen. „Sila hätte dir geholfen.“
„Daran habe ich nicht gedacht.“ Sphita biss sich auf die Unterlippe.
„Seid nachsichtig mit ihr“, bat Yvain und lächelte Sphita an. „Sie handelte aus gutem Willen. Dafür sollten wir sie nicht tadeln.“
Gillok schüttelte den Kopf und sah Sphita ernst an. „Ein gutes Herz allein reicht nicht. Denke das nächste Mal besser nach, bevor du leichtfertig handelst.“
„Eure Tochter ist auch allein unterwegs“, murmelte Sphita.
„Dies ist die falsche Zeit für Trotz“, sagte Gillok mild. „Ciycain ist erfahrener in der Natur, stärker und widerstandsfähiger. Wehrhafter.“
„Ihr habt mich Kämpfen gelehrt.“
„Nicht genug für einen Ernstfall.“
„Gillok“, bat Yvain.
Der Sumpfmann hielt inne, betrachtete Sphita und seufzte. „Dass Ciycain allein unterwegs ist, macht mich verrückt vor Angst. So, wie deine Mutter verrückt vor Angst um dich ist. Jetzt komm.“
„Schickt Ihr mich zurück?“
„Nein. Wir können niemanden auf dieser Mission entbehren und haben keine Zeit für eine Umkehr. Du hältst dich im Hintergrund. Keine törichten Handlungen mehr, hast du verstanden?“
Mit feuerrotem Gesicht nickte Sphita.
„Am Hafen gibt es bestimmt eine Poststation“, sagte Ylaiy. „Wir werden eine Nachricht an Ardanna verfassen. Die Zustellung ist langwierig, unsicher und teuer, aber einen Versuch ist es wert.“
Das Abendessen verlief schweigsam. Zu viert saßen sie um den Tisch im kleinen Esszimmer, stocherten in Gemüse und Fisch, vermieden Gespräche und Augenkontakt. Adiv, immer noch angeschlagen, entschuldigte sich zeitig und ließ sich von Chries auf ihr Zimmer begleiten.
„Es ist fünf Tage her“, sagte die Heilerin in die unangenehme Stille hinein. „Solange ist sie verschwunden.“
Syriakin piekte ihre Gabel in den Fisch, führte sie jedoch nicht zum Mund. Stattdessen schob sie den Butt auf dem Teller hin und her.
„Noch keine Woche, doch die Sorge bringt mich um den Verstand. Wie haltet Ihr das aus? Seit Monaten?“
„Gillok beteuert fortlaufend, sie sei stark. Alle tun das.“
„Aber das hilft nicht, nicht wahr?“
„Nein.“ Die Sumpffrau legte die Gabel hin und die Hände auf den Schoß. „Auf der Reise stellten Akim und ich fest, dass wir beide die Kinder aus unseren Gedanken verbannt hatten. Wir schoben sie aus unseren Köpfen, versperrten uns alle Erinnerungen an sie. Das half uns, nicht verrückt zu werden.“
„Schafft man das? Sie zu vergessen?“
„Mal mehr, mal weniger. Am schlimmsten sind die Nächte.“
„Wacht Ihr auf, weil Ihr geträumt habt von ihr?“
„Oft.“
„Manchmal will ich gar nicht schlafen“, flüsterte Ardanna. „Weil ich mich vor den Träumen fürchte. Vor dem Aufwachen. Dann wiederum will ich nur noch schlafen und vergessen.“
„Wenn man wach ist, kann man etwas tun. Beschäftigung lenkt ab.“
„Ihr seid besser im Tun als ich.“
Syriakin runzelte die Stirn. „Ihr arbeitet den ganzen Tag.“
„Nicht daran, sie zu finden.“
„So wollt Ihr sie suchen?“
„Ich will, dass Ihr sie sucht.“
Die Sumpffrau starrte die Heilerin an.
„Seit Adiv verwundet wurde, seid Ihr nicht mehr dieselbe. Ihr gebt Euch die Schuld an ihrer Verletzung, die Schuld am Tod der Jungen, vielleicht sogar an Arlens Tod.“
Langsam atmete die Kriegerin aus. Ihr Blick wurde brennend, ihre Ruhe gespenstisch. „Ganz recht. Ein Mann griff sie an, ein einfacher Verbrecher, kein Kämpfer. Er entwischte mir und ich traf schlecht. In Perth rief ich nach Kian und damit Elphen auf den Plan. Und Arlen starb, weil ich nicht gut genug war. Weil ich nicht kommen sah, dass er in seine Heimat zurückkehren würde.“
„Und nun hockt Ihr hier und leckt Euch Eure Wunden.“
„Ich lecke keine Wunden.“
„Ihr seid hier. Das ist nicht Eure Natur. Ihr solltet dort draußen sein mit den anderen, sie verdammt noch eins anführen. Ihr müsst keine Schuld abbüßen, indem Ihr auf Adiv aufpasst.“
„Ich büße nicht.“
„Wo ist Euer Zorn geblieben? Eure Ungeduld? Euer Kampfgeist?“
Die Sumpffrau richtete sich auf. „Was ist, wenn er hierher kommt?“
„Wir wissen beide, dass Elphen längst auf und davon ist.“
„Seine Schergen könnten noch hier lauern.“
„Dann ist das so!“ Aufgebracht sprang Ardanna auf und blitzte die Kriegerin an. „Doch die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, und das wisst Ihr. Straßenjungen, Adiv und ich sind unbedeutend im Vergleich zu den Quellen und den Kindern.“
„Sie ist schwanger“, hielt die Sumpffrau dagegen. Auch ihre Stimme war lauter geworden.
„Und sie ist Eure Freundin, ich weiß! Ein Mädchen, das Ihr beschützen musstet und immer noch beschützen wollt. Aber Eure Freunde dort draußen brauchen Euch mehr. Und Ihr braucht Sinnvolleres zu tun, als hier zu sitzen, mit mir in Kummer und Sorge zu ertrinken und Eure Schuldgefühle zu hegen! Tut, was Ihr am besten könnt! Kämpft! Rettet sie!“ Schluchzend sank Ardanna zurück auf ihren Stuhl und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
Syriakin hockte auf ihrem Stuhl wie festgenagelt. Ihr Brustkorb hob und senkte sich sichtbar. Schließlich stand sie so abrupt auf, dass ihr Stuhl nach hinten kippte, und schritt zur Tür.
„Syra!“, rief Ardanna ihr hinterher und die Kriegerin stockte. „Ich kann es nicht, versteht Ihr? Ich kann heilen, umsorgen, trösten, helfen. Aber ich kann nicht kämpfen. Ich weiß, dass nicht nur die Schuld Euch hier hält. Ich weiß, dass das Kämpfen Euch aufzehrt, körperlich und seelisch, und dass Ihr Euch davor fürchtet. Ich weiß, dass jeder Verlust Euch auffrisst. Ich weiß, was ich von Euch verlange. Aber sie ist meine Tochter! Ihr müsst sie retten! Ihr müsst helfen, dafür zu sorgen, dass dies alles endet. Elphen. Die Magie. Ihr könnt es.“
Die Kriegerin drehte sich zu Ardanna um. Ihre Augen glitzerten düster.
„Ich verspreche Euch, auf Ciycain aufzupassen wie auf meinen Augapfel, falls sie vor Euch eintrifft. Wir alle werden es.“
Syriakins Wangenmuskeln zuckten. Dann nickte sie, wandte sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort.
Regen begrüßte sie, als sie am nächsten Morgen die Hinterpforte öffnete. Der Frost war klammer Kälte gewichen, die durch alle Kleiderschichten drang. Missmutig betrachtete sie das Matschwasser, das die Straßen hinab lief.
„Hier.“ Igra hängte ihr ein rechteckiges Stück Filz um. „Der Mantel gehörte meinem Mann. Er arbeitete oft als Schauermann und schwor darauf. Ist ein bisschen zu groß für Euch, aber er wird Euch vor der Nässe schützen.“
Dankend zog Syriakin sich das kratzende Tuch über den Kopf.
Die Köchin reichte ihr zwei weitere, diesmal schmale und längliche Tücher. „Und die hier wickelt Ihr um Stiefel und Unterschenkel. Mit aufgeweichten Füßen erkältet Ihr Euch sonst.“
„Auch von Eurem Mann?“
„Nein, von Warmuth.“ Ardanna trat an die beiden Frauen heran. „Er bringt Euch zum Kanal. Sein Neffe besitzt ein kleines Fischerboot. Damit könnt Ihr den Kanal entlang bis zum Fluss und später bis zur Küste rudern. Das offene Meer ist allerdings eine andere Sache. Es gibt keine direkten Fähren nach Berlen, von denen ich weiß. Es wäre wirklich sicherer, den Weg Eurer Freunde zu nehmen.“
„Das ist ein gewaltiger Umweg“, murmelte die Kriegerin, während sie die Wickeltücher anlegte. „Außerdem bin ich noch nie auf einem Kamel geritten. Lieber schwimme ich über das Meer.“
„Seid Ihr von Sinnen?“
„Ich habe ein Boot und das Berlenmeer ist warm.“
„Woher wollt Ihr das wissen?“
„Es ist ein Binnenmeer, begrenzt von Wüsten. Zumindest im Norden.“
„Und voller unbekannter Gefahren.“
„Wie jedes Gewässer.“
„Syra! Ihr sollt auf Euch aufpassen!“
„Hat Warmuths Boot ein Segel?“
Ardanna schaute Igra an, die unschlüssig die Schultern hob. „Sein Neffe fischt im Kanal, an stillen Tagen im Fluss. Er braucht kein Segel.“
„An Küsten gibt es Hochseefischer. Ihre Boote werden seetauglich sein.“
Ardanna schnappte nach Luft. „Ihr wollt eins stehlen?“
„Wenn es sein muss.“
„Und wie findet Ihr von der Küste nach Ki akku ninu?“
„Immer nach Norden. Es gibt zwei kleine Oasen als Orientierungspunkte, außerdem Senken und Schluchten. Jedenfalls, wenn Ylaiys Karten und Akims Berichte präzise genug waren.“
Ardanna schlug die Hände vor ihr Gesicht. „Ich hoffe, ich tue das Richtige und schicke Euch nicht ins Verderben.“
„Macht Euch keine Gedanken um mich. Da ist Warmuth.“
Igra nestelte ein Päckchen aus ihren Schürzentaschen. „Proviant. Und in dem Schlauch ist Dünnbier.“ Sie band der Sumpfjägerin den Trinkschlauch um die Taille, bevor sie sie linkisch umarmte und sich Tränen aus den Augenwinkeln wischte. „Bringt Sphita zurück, hört Ihr? Alles Gute.“
Überrumpelt murmelte die Kriegerin einige Abschiedsworte, zwängte sich aus den Armen der Köchin, nickte Ardanna zu und verschwand mit Warmuth im Regen.
Nach einer ungemütlichen, kurzen Nacht in einer Absteige am Hafen und einer unwirtlichen Überfahrt nach Staleph standen die drei Männer neben Sphita und Yvain am Fuß der imposanten Terrassen und blinzelten in das Sonnenlicht, das sich auf den Kalkablagerungen brach. An der Binnenküste der lang gestreckten, schmalen Insel war das Klima ganzjährig mild. Selbst jetzt, im Winter, sorgten warme Meeresströme und Winde aus Berlen für angenehme Temperaturen. Bereits auf der überfüllten Fähre hatten sie Tücher, Mützen und Handschuhe in ihren Beuteln verstaut.
„Das ist wunderschön“, sagte Sphita und reckte ihr Gesicht in die Luft. „Aber es riecht eklig.“
„Schwefelgase“, antwortete Ylaiy und sah Gillok an. „Wie im Styf-thal.“
Grimmig nickte Gillok. „Ich erinnere mich.“
„Adiv nannte es Dämonenloch. Dagegen sieht das hier paradiesisch aus.“
Die anderen murmelten ihre Zustimmung und beobachteten die vielen Besucher, die von überall herbeizuströmen schienen. Diejenigen, die mit ihnen auf der Fähre gewesen waren, stapften behutsam die schneeweißen Terrassen empor oder balancierten auf den Rändern der natürlichen Wasserbecken. Einheimische und Gäste, die schon vor Tagen angekommen waren, wateten hingegen barfuß und mit hochgekrempelten Hosenbeinen und Kleidern durch das milchige Wasser.
„Ist das Wasser warm?“, fragte Sphita.
„Lauwarm bis heiß“, erwiderte Ylaiy. „Deshalb kann man selbst im Winter darin baden. Das Wasser erhitzt sich unterirdisch.“
„Wir haben keine Zeit für Vorträge“, ermahnte Gillok den Kaiser. „Und auch nicht für ein Bad. Wir müssen weiter. Der Tag ist noch jung. Lasst uns die Kamelhändler suchen. Die Einheimischen wissen sicher den Weg.“
Yvain hielt den Sumpfmann zurück. „Wartet. Die Schwefelgase verstopfen zwar meine Luftwege, aber eine Ansammlung von großen Tieren sollte ich riechen können.“
„Ich dachte, nur Akim und Kian können das“, sagte Sphita.
„Ich will es trotzdem versuchen.“ Er entfernte sich von den Wasserbecken und ihren Dampfschwaden, hob den Kopf, schloss die Augen, drehte sich langsam im Kreis und wies schließlich in Richtung Nordosten. „Dort.“
Shesh kniff die Augen zusammen und streckte sich. „Da ist etwas Seltsames. Sieht aus wie eine weitere Ruine. Steinhaufen und merkwürdige Gebilde. Häuser, die aussehen wie Pilze. Oder wie Brunnen mit Deckeln.“
„Das ist keine Ruine“, entgegnete Ylaiy nach kurzem Nachdenken, während sie sich zu dem Ort aufmachten. „Nicht im eigentlichen Sinn. Das ist eine Nekropole, eine Totenstadt. Die Brunnen sind Särge, die Pilze Wachtürme.“
„Wachtürme? Wegen der Grabräuber?“
„Eher wegen der Geister.“
„Geister“, schnaubte Thragesh.
„Legenden umwehen Orte wie jenen, genug, um Abergläubische zu verschrecken. Manche halten sie für verflucht, andere glauben, dass die Toten als Geister auferstehen, wenn man nicht über sie wacht, wieder andere verehren die Spukgestalten als Schutzgeister. Die Totenstadt ist uralt. Seht ihr die grasbewachsenen Hügel? Das sind Begräbnisstätten, angelegt von entfernten Vorfahren. Wahrscheinlich liegen unter diesen Häusern noch ältere Gräber.“
„Da finden wir gewiss keine Kamele“, knurrte Shesh. „Höchstens tote.“
„Ich ahne nur die Richtung“, gestand Yvain. „Kian ortet präziser. Doch irgendwo hinter der Nekropole sind Tiere.“
Sphita zog den Kopf zwischen die Schultern. „Müssen wir durch sie hindurch?“
Gillok wandte sich ihr zu. „Es ist ein Friedhof, nichts weiter. Nachts neben Poststationen zu nächtigen, ist das größere Wagnis, vor allem für ein Mädchen, das allein reist.“
„Fangt Ihr schon wieder an?“
„Bis du es einsiehst.“
Schweigend setzte Sphita sich in Bewegung, reihte sich zwischen Yvain und Ylaiy ein, indes der Sumpfmann den Trupp anführte und der Leibwächter sein Ende bildete.
Sobald sie die verlassene Stadt der Toten betraten, verstummten sie, als fürchteten sie, die Vergangenen zu wecken. Unnatürliche Stille hing über den Grüften und Gräbern. Von den Besuchern der nahen Terrassen war hier nichts zu hören, sogar das Meer schien kaum mehr als eine Ahnung am Horizont. Sie waren nur eine Meile ins Landesinnere gegangen, aber das Wetter hatte sich erneut verändert. Der Wind hatte nachgelassen und mit ihm der Geruch nach faulen Eiern, doch mit den Gasen war auch die Wärme verschwunden. Zwar strahlte weiterhin die Sonne, dennoch war die Luft merklich frischer geworden.
Sphita bemerkte, dass selbst der Zottelbär seine kindersarggroßen Stiefel leiser aufsetzte. Es sah aus, als zolle er den Toten Respekt.
Aus Ylaiys Augen leuchtete Neugier. Immer wieder drehte er den Kopf in alle Richtungen, studierte die rundlichen Grabhügel, die hausförmigen Sarkophage und die Totenhütten.
Yvain hingegen war eindeutig angespannt. Er hielt Abstand zu den Gebäudeeingängen, die sie wie offene Münder anschrien, spähte über das hohe Wintergras, beäugte die zerlöcherten Dächer. In dem Moment, in dem der Mann seitlich hinter ihnen aus einer der Totengruben spritzte, fuhr der Junge mit gezücktem Schwert herum.
Sphita quiekte, wich zurück, fühlte, wie der Sumpfmann sie zu sich zog und mit dem Körper verdeckte. Der Angreifer schlug Yvains Schwert beinahe achtlos mit den lederumringten Unterarmen beiseite und sprang Shesh mit beiden Füßen gegen den Brustkorb, sodass der Bär, angestrengt nach Luft schnappend, in die Knie ging, bevor er Zeit gehabt hatte, eine seiner Waffen zu ziehen. Danach blieb er gebückt stehen und musterte Yvain mit unverhohlenem Interesse. „È a’o?“, fragte er mit eigentümlich hoher Stimme.
„Aé“, erwiderte Ylaiy in der Sprache der Fraga-í. „Das ist er.“
„Welcher?“, würgte der schmale Mann, der die Statur eines größeren Knaben aufwies, in der fremden Mundart hervor.
„Yvain. Der Sohn der Frau aus Fedaj.“
„Fadal“, übersetzte Gillok den Namen der Stadt.
„Frau mit Honighaar. Kahet.“ Beinahe stolz quetschte der Chausselles das letzte Wort heraus.
„Wie hat sie gekämpft?“, fragte Yvain mit blassem Gesicht und an die Hosennähte gepressten Armen.
Der Angreifer legte den Kopf schief und musterte ihn. Yvain erwiderte den Blick gefasst, studierte die nichtssagenden Züge des Klingentänzers, die von der Maske aus Erde und Kalk ausgewischt wurden, die straff nach hinten gestrichenen Haare, die Lederreifen um Hals und Arme, das aus Leder und Bast geflochtene Wams über dem Brustkorb, die schmucklosen Beinkleider.
„Schlecht. Doch sie wehrte sich wie eine Bärin. Verletzte zwei Männer von Maxhuna’hir." Die Worte kamen aus seinem Mund gestolpert, schwer verständlich und falsch aneinandergefügt. Für einen Mann, dessen Familie seit Jahrhunderten im Sprachtiegel der Boragha hauste, sprach er Yr auffallend ungenügend.
„Silberkopf“, übersetzte Gillok das Fremdwort.
„Wer hat sie getötet?“ In Yvains Wimper glitzerte eine Träne, doch seine Stimme klang weiterhin beherrscht.
„Yvain“, unterbrachen Ylaiy und Shesh gleichzeitig, aber der Knabe brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.
„Viele.“
„Wart Ihr dabei?“
„Aé“, nickte der Angreifer, zum ersten Mal nach merklichem Zögern.
„Wart Ihr einer der vielen?“
Etwas passierte mit Yvain. Um ihn. Sphita fühlte es wie ein Kribbeln auf ihrer Haut. Sie hob den Kopf. Der Wind war verschwunden. Eine Flaute, schwer und träge, hatte sich auf die Totenstadt gelegt, drückte das Gras nieder. Die Stille wurde allmächtig. Vögel stellten ihren kärglichen Gesang ein, selbst die trockenen Halme hörten auf zu flüstern.
Der Chausselles schüttelte den Kopf. „Wir brachten sie in den Palast. Getötet haben sie die anderen. Männer von Maxhuna’hir.“
„Vei.“ Ylaiy spuckte den Namen seines Stiefvaters mit den spitzen Nadeln aus, die er aus der Tasche gekramt hatte, als sie die Nekropole betreten hatten.
Mit einem leisen Wutschrei fuhr der Mann zurück. Nadeln steckten in seinen Wangen und seiner Stirn, eine dicht unter der Augenbraue. Shesh und Gillok nutzten den Moment der Ablenkung. Der Sumpfmann schnellte nach vorn, donnerte die Fäuste gegen den Kopf des Angreifers. Der ging in die Knie, rollte sich jedoch zusammen wie ein Igel, überstand so die Fußtritte des Leibwächters, der sich rasch aufgerappelt hatte. Sekunden später entfaltete er sich plötzlich wieder zu voller Größe, zwei lange Dolche in den Händen, Pirouetten drehend wie ein Wirbelsturm.
„Passt auf!“, schrie Sphita erschrocken, doch die Männer waren längst nach hinten gewichen. In Gilloks Faust schwang ein Beil mit einem Widerhaken auf einer Seite, Thragesh und Ylaiy umklammerten ihre Schwerter.
„Beschütze Sphita!“, bellte Ylaiy seinem Vetter zu, der mit dem Gegenangriff aus seiner seltsamen Starre erwacht war.
Yvain nickte und sprang an Sphitas Seite. Zu dritt näherten sie sich dem Chausselles, fächerten auf, kreisten ihn ein. Der Mann hatte sich die Nadeln aus dem Gesicht gepflückt und blutete aus den winzigen Einstichstellen.
Er kämpfte, wie sie erwartet hatten: rücksichtslos, verbissen, ausdauernd, unfassbar schnell. Thrageshs Langschwert schleuderte er mit einer kunstvollen Bewegung der Fußspitze in die Luft und trat es außer Reichweite, so gezielt und kraftvoll, dass Shesh sich ducken musste, um nicht von der eigenen Klinge geköpft zu werden. Anschließend rollte er über den breiten Rücken des Leibwächters und schnetzelte mit den Dolchen ein blutiges Muster in Sheshs Hemd und Mantel.
Ylaiys Schwert fing er mit gekreuzten Dolchen vor seinem Kopf ab, federte es wuchtig zurück, brachte Ylaiy ins Stolpern. Dann hieb Gilloks Beil mit dem Widerhaken zwischen die Dolche, riss sie aus seinen Händen.
Wieder waffenlos, brachte der Tänzer zwei Schritte Abstand zwischen sich und den Sumpfmann und musterte ihn mit einer anerkennenden Serie von Schnalzern. „Ich verrate dir meinen Namen“, sagte er, nur leicht außer Atem. „Höre ihn.“
„Warum?“ Unbeeindruckt schlich Gillok um den Gegner herum, wirbelte das Beil in den Händen.
„Weil er für dich das letzte Wort auf dieser Erde sein wird.“
Ansatzlos holte Gillok aus, diesmal mit der Klingenseite des Beils. Der Mann setzte zurück, doch das Beil fetzte sein Wams auseinander, sodass seine Brust nun frei lag. Im nächsten Augenblick entrollte sich ein Netz aus Gilloks linker Handfläche und senkte sich über den Tänzer. Mit einem weiten Sprung gelangte der Sumpfmann hinter seinen Gegner und riss ihn zu sich heran.
Noch bevor der Klingentänzer sich von dem Netz befreit hatte, sprang Ylaiy mit beiden Stiefeln frontal gegen die nach vorn gewölbte Brust. Mit einem hörbaren Krachen brachen mehrere Rippen gleichzeitig.
Ylaiy beugte sich zu dem Mann hinunter. „Mein Name ist Ylaiy. Hörst du ihn?“
Mit blut- und erdverschmiertem Gesicht nickte der Angreifer.
„Nenne deinen Namen.“
„Wozu?“ Die Lippen des Klingentänzers färbten sich blau.
„Weil ich wissen möchte, wer meine Feinde sind.“
„Memardazee.“ Er stieß den Namen in vier Silben aus.
„Er war in Mutters Haus dabei. Ich erinnere mich an ihn“, sagte Sphita.
„Wie viele seid ihr?“, fuhr Ylaiy fort.
„Ich habe viele Brüder.“ Ein Lächeln erschien auf den bläulichen Lippen, bis ein Schwall Blut es hinweg wischte. Nach zwei weiteren angestrengten Atemzügen verstummte er.
Bleich starrte Ylaiy auf den Angreifer. „Ist er tot?“
Gillok nickte. „Ihr habt den Brustkorb zerschmettert, Lunge oder Herzspitze getroffen.“
Ylaiy taumelte, stützte die Hände auf die Oberschenkel.
„Geht es?“
„Schwummerig“, murmelte Ylaiy mit geschlossenen Augen. „Ich glaube, ich muss mich setzen.“
„Dafür ist keine Zeit“, sagte Yvain.
„Weshalb nicht?“, fragte Gillok, dieweil er Ylaiy stützte.
„Er war nicht allein. Das Schnalzen. Es war eine Warnung.“
Sofort kesselten die Männer Sphita und den Jungen ein, bückten sich nach ihren Waffen und nahmen die Dolche des Tänzers an sich. Nichts regte sich. Lediglich der Wind wehte wieder.
„Er muss in der Nähe sein, wenn er das Klicken gehört haben soll“, flüsterte Shesh.
„Ja“, wisperte Yvain, sich um sich selbst drehend.
„Sie lieben die Erde“, murmelte Gillok und fasste das Beil fester.
Auf Sphitas Armen bildete sich Gänsehaut. Mit angsterfüllten Augen betrachtete sie die Grabkuhlen, die unterirdischen Grabkammern und zuletzt die von groben Blöcken eingefassten und von Erdwällen umgebenen Steingräber, die teilweise unter dem Erdreich verborgen lagen.
„Ich wette, er ist in einer von diesen“, hauchte sie.
Yvain konzentrierte sich, öffnete die Augen weit und erstarrte, während er den näheren Umkreis absuchte.
„Kann er durch Stein sehen?“, raunte Shesh Ylaiy zu.
Erschöpft hob Ylaiy die Schultern. „Vielleicht spürt er auch nach Körperwärme. Wir werden es nie ganz verstehen.“
Nach langen, angespannten Minuten erwachte Yvain und nickte Sphita zu. Dann wies er auf eins der Gräber.
„Die Eingänge sind nur halb so hoch wie ein Mann“, murmelte Thragesh. „Wir müssten hineinkriechen. Damit sind wir so gut wie tot. Er kann uns einen nach dem anderen meucheln.“
Gillok sah sich um. „Holz“, sagte er.
Ylaiy musterte den Sumpfmann. „Ihr wollt ihn ausräuchern?“
„Stört Euch das?“
„So wie Euch. Jemanden auf diese Art zu töten ist unehrenhaft.“
„Seid kein Narr.“ Der Fraga-í wandte sich ab und bückte sich nach Jomas Nadeln.
„Gill.“
Seufzend richtete der Angesprochene sich wieder auf und übergab Ylaiy die Nadeln. „Wir haben zwei Kinder bei uns. Wir sind im Krieg. Stellt Eure Gefühle hintenan.“
Reisig war schnell gesammelt. Auf den Grabhügeln wuchsen schlanke, gerade Bäume, jung im Vergleich zu den nahen Zederngehölzen, aber älter als die Stadtwälder Yruishs und Perths.
Jederzeit fluchtbereit, schichteten sie die Äste vor dem niedrigen Eingang des unterirdischen Steingrabs auf und warteten mit gezückten Waffen.
Als nichts passierte, nickte Gillok Thragesh zu. Der entnahm seiner Brusttasche ein Säckchen, schüttelte Feuerstein, Zunder und Narrengold in seine Hand und schlich zu dem Haufen.
„Warte.“ Yvain packte seinen ehemaligen Leibwächter am Arm. Erneut verfiel er in eine absonderliche Starre. Sekunden später züngelten Flammen aus dem Reisig hervor.
Shesh schüttelte Yvains Hand ab. „Hör auf damit! Immer, wenn du das machst, juckt mein Fell! Verzieh dich! Na los! Überlass das Kämpfen uns!“ Zornig stopfte der Riese sein Feuerzeug zurück.
Yvain sah ihm betroffen nach.
„Spare deine Kräfte“, riet ihm Gillok in sanfterem Tonfall. „Benutze Magie nur, wenn ein Leben in Gefahr ist. Ansonsten lass sie ruhen! Wir wissen nicht, was sie in dir anrichtet.“
„Wie Ihr wünscht“, entgegnete der blonde Knabe leise und folgte Sphita, die sich in sicherer Entfernung aufstellte.
In der Zwischenzeit waren erste Rauchfäden aufgestiegen und verdichteten sich zu Schwaden. Gillok und Ylaiy zertraten das brennende Astwerk und verteilten es vor dem Grabeingang. Bald schon stand eine Rauchwand vor dem niedrigen Durchlass.
Obwohl sie ihn erwartet hatten, schreckten sie zusammen, als er, erdbeschmiert und kalkbestäubt wie sein Gefährte, durch den Rauch gerollt kam, zwischen ihre Beine kugelte und mit Messern um sich zu hebeln begann.
Sie stoben auseinander, als hätten sie eine Schlange aufgeschreckt, die nun ihre Giftzähne entblößte.
Schnell erkannten sie, dass ihr Angreifer eine Frau war. Wie Tijua war sie knabenhaft schlank und flachbrüstig, biegsam wie eine Weidenrute und nicht weniger gefährlich als ihre Schwester. Im Unterschied zu Elphens Schatten jedoch schienen ihre Gesichtszüge unter der Tarnung gefälliger. Ihr Haar, schwärzer als das ihrer Brüder, schmiegte sich fülliger an den Kopf.
Wie ihre Geschwister kämpfte sie beinahe geräuschlos. Shesh erinnerte sich an die Schaukämpfe, die er früher mit Armeekumpanen, später mit den Gefährten ausgetragen hatte: an das Stöhnen, Keuchen, Ächzen, Brüllen. Die Würmer fochten in enervierender Stille. Cehaj und Nebunedzad hatten ebenso gekämpft: aufmerksam, sparsam, gezielt, jede Bewegung überlegt, wohl dosiert, effizient und nahezu lautlos, abgesehen von den Luftzügen ihrer Schwünge, Hiebe und Tritte, und dem Aufklatschen ihrer Fußspitzen, Sohlen, Oberschenkel und Schienbeine auf den Körpern ihrer Gegner.
Auch sie trug lederne Ringe und ein kurzes Wams, das ihren Brustkorb bis unter die Schlüsselbeine bedeckte. Plötzlich war Shesh dankbar für das monatelange Training mit Syriakin, Adiv, Sphita und Sila, denn es hatte ihn gelehrt, Frauen nicht zu schonen, tief sitzende Hemmungen abzubauen. Vor allem die Kriegerin hatte ihm rasch deutlich gemacht, wie leichtsinnig es in einem Kampf war, Frauen zu unterschätzen und ihnen mit Rücksicht zu begegnen.
Die kleine Chausselles zeigte nicht nur ihre Giftzähne, sie biss gnadenlos zu. Ihre langen grifflosen Messer erinnerten an Spieße. Keine Schneiden, dafür tödliche Spitzen. Thragesh sah sie immer wieder in ihren Händen aufblitzen, viel zu schnell für sein Auge. Mal warf sie sie in die Luft, mal fasste sie sie vorn und schlug mit dem stumpfen Ende zu, mal wirbelte sie sie zwischen den Fingern wie ein Spielzeug. Innerhalb von Minuten humpelten er und Ylaiy. Die Verletzungen waren oberflächlich, abgefangen von Hosenbeinen und Stiefelschäften, dennoch brannten die Löcher und behinderten sie.
Gillok gelang es schließlich, ihr die Spieße aus den Händen zu ziehen. Unvermutet und unelegant warf er sich mit der ganzen Wucht seines Körpers auf sie, begrub sie unter sich, zwang ihr die Messer aus den Fingern. Ihrer Kehle entwich ein halbes Schnalzen, dann schlängelte sie sich mithilfe von akrobatischen Bewegungen, Kopfstößen und Beinhebeln unter ihm hervor und malträtierte ihn kurz darauf mit schmerzhaften Fußtritten.
Ylaiy, dessen Nadeln die kreiselnde Frau kaum getroffen hatten, sprang hinzu. Augenblicklich ließ sie von Gillok ab, duckte sich tief mit weit gespreizten Beinen, stützte sich auf ihre Arme und wirbelte ihren Unterkörper herum. Ihr ausgestrecktes Bein traf Ylaiy quer über die Brust und raubte ihm den Atem. Schlaff sank sein Schwertarm herab.
Thragesh erkannte, dass sie zu flink für schwere Waffen war, fasste an die kurze Kette, die er statt eines Gürtels trug, und rollte sie von den Hüften. Sofort erfasste sie die Situation und brachte sich mit einigen Überschlägen aus der Reichweite der drei Männer.
Yvain und Sphita stoben auseinander, als die Klingentänzerin ihnen gefährlich nahe kam, und rannten in unterschiedliche Richtungen davon. Einen Herzschlag lang dachte Shesh, sie wolle Sphita möglicherweise als Geisel nehmen, doch sie setzte Yvain nach, der in Zick-Zack-Bögen das Weite suchte, dann Haken schlug und zu ihnen zurückkehrte, während Sphita sich hastig hinter einer Ansammlung von Grabhäusern versteckte.
„Schlauer Kerl“, raunte der Bär Gillok und Ylaiy zu. „Er bringt sie zu uns zurück.“
„Er ist fast so schnell wie sie“, meinte Ylaiy beeindruckt. „Und er denkt strategisch.“
„Soldat eben. Militärische Ausbildung, seit er laufen kann.“
„Teilt euch auf!“, befahl Gillok. „Wir müssen ihr gleichzeitig zusetzen. Kraft und Masse statt Geschwindigkeit.“
„Hauptsache, wir verletzen uns nicht gegenseitig“, murmelte der Leibwächter, die kurze Kette mit dem Handgelenk in Schwingungen versetzend.
Yvain beendete den wilden Kampf auf seine Weise. Sobald er vor dem qualmenden Reisighaufen angekommen war, blieb er ruckartig stehen, wandte sich um und stieß ein Husten aus. Glühende Asche stob kegelförmig auf, blendete die Tänzerin, stoppte sie so abrupt, dass sie beinahe vornüber fiel. Klirrend ringelte Sheshs Kette sich um ihren Hals und riss sie um. Dann war der Riese heran und drückte den Stiefel auf ihre aufgerissene Kehle. Gillok setzte sich auf ihre Schienbeine, Ylaiy stellte sich auf ihre Handgelenke.
Mit blinden Augen starrte sie nach oben, hustete, würgte beißenden Qualm aus ihrer Luftröhre. Eine Schicht Ruß überdeckte nun ihre Züge. Junge Züge, wie die Männer erkannten, so jung, dass Verunsicherung sie überkam.
„Sie ist kaum älter als ich“, bemerkte Sphita erstaunt, nachdem sie mit langen Sprüngen herangesprintet war. „Aber sie hat schon viele Narben.“
„Die stammen nicht aus Kämpfen“, sagte Ylaiy. „Sie sind Überbleibsel einer Erkrankung. Der Pocken oder auch schwerer Akne.“
„Die Chausselles mögen Narben“, ergänzte Gillok. „Vielleicht erklärt es, weshalb sie bereits Teil von Elphens Armee ist.“
„Das und ihre Kampfeskunst“, brummte Shesh. „Die Kleine teilt gut aus.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich die zerschrammten Beine.
Yvain beugte sich zu der jungen Frau. „Wie ist Euer Name?“
Diese wandte den Kopf mühsam in seine Richtung, antwortete jedoch nicht. Ihre Lippen waren schwarz vor Ruß und gesprenkelt mit Brandbläschen.
Yvain betrachtete sie forschend. „Sprecht lieber“, forderte er sie auf. Seine Stimme klang freundlich, wohingegen die Luft um die kindliche Tänzerin bleiern wurde und das Atemholen sichtlich zur Qual. Auf ihren Lippen begann es zu qualmen. Winzige Glutpünktchen erschienen, als die Aschereste sich entzündeten. Sie stöhnte und wand sich.
„Yvain!“, herrschte Ylaiy seinen Vetter an, aber der beachtete ihn nicht.
„Sprecht“, wiederholte er, nachdrücklicher diesmal. Die Stimme war eine Spur heller geworden und schneidend wie ein Grashalm.
Der Ruß in ihren Augen glomm auf und sie begann zu schreien. Flüssigkeit lief aus ihrer linken Augenhöhle, als der Augapfel verdampfte.
Ylaiy riss den Jungen von der Kämpferin weg. „Genug! Das ist nicht unsere Art!“
In Yvains Augen blitzte es kurz auf. Ylaiy zuckte zusammen und massierte sein Handgelenk, über das ein dünner roter Strich verlief. Eine Brandnarbe, wie nach der Berührung mit einem Nesseltier. Ungläubig starrte er Yvain an, der wiederum ihn anglotzte, als sei er soeben aus tiefem Schlaf erwacht.
Ylaiy ließ ihn stehen und beugte sich über die Kämpferin. „Versteht Ihr mich?“
Ein leichtes Nicken.
„Nennt Euren Namen.“
Sie setzte mehrfach zum Sprechen an, bis sie die Silben herauswürgte. „Digarizi.“
„Sind noch andere hier?“
Ein Kopfschütteln, angestrengt unter Sheshs Stiefelsohle.
„Wer ist mit Elphen und Kalphon gezogen?“
Ihr Kehlkopf bewegte sich krampfhaft auf und ab. „Tijua. Almutasam. Kananan. Pazure. Ich. Memardazee.“
„Dann sind sie noch zu sechst?“
„Sechs, ja.“
„Ihr seid die Nachhut? Memardazee und Ihr?“
„Wir ... sind die Jüngsten. Die ... Untersten. Wollten es sehen.“
„Es?“
„Das Kind. Das Wunder. Wollten es einfangen.“
„Für Elphen?“
Ein Lächeln erschien auf ihren verkochten Lippen. „Ja.“ Dann wischte tiefe Trauer es hinweg wie eine Hand, die ein Sandbild zerstört. „Er wird enttäuscht sein.“ Mit einem Knurren bäumte sie sich auf, sodass Sheshs Sohle abrutschte. Ihr Kopf schnellte auf Ylaiy zu, der Mund geöffnet wie ein Maul. Shesh riss Ylaiy zurück und ihre Zähne zerbissen die Luft. Ihr verbliebenes, halb blindes Auge sah den Stich nicht mehr kommen. Sheshs Klinge fuhr durch die Augenhöhle hindurch ins Erdreich.
Sphita schrie auf, schlug die Hände vor das Gesicht und sank wimmernd zu Boden. Gillok kroch an ihre Seite, legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Ylaiy und Shesh gingen beide in die Knie und starrten auf die junge Kämpferin.
Yvain fing sich als Erster. „Wir sollten gehen, bevor jemand auf uns aufmerksam wird. Der Qualm lockt Leute hierher. Weitere Verzögerungen gefährden Kian und die anderen.“
„Wir haben gerade ein halbes Kind getötet“, brachte Shesh hervor.
„Sie haben Arlen und meine Mutter getötet. Sie wollen Kian töten.“ Dumpf und unbeteiligt tröpfelten die Worte aus Yvains Mund.
Bestürzt schwiegen die Männer, starrten den Jungen an, als sähen sie ihn zum ersten Mal.
Gillok rappelte sich auf, Sphita behutsam mit sich ziehend. „Magie tötete Arlen. Dieselbe böse Magie, die du eingesetzt hast. Sie wird dich verändern, wie sie Arlen veränderte. Sie wird dich töten oder dich dazu bringen, andere zu töten. Du darfst sie nur in Ausnahmefällen benutzen.“
„Um die Quellen zu verschließen.“ Yvains Augen glühten wie die Asche auf Digarizis Lippen.
Namenlose Furcht legte sich über die Gefährten.
„Ja.“ Gillok kämpfte gegen das Wort an, drängte und schob es aus seinem Mund heraus. „Damit ihr leben könnt. Kian, Ciycain und du. Das willst du doch?“
Yvain schwieg lange, bis er nickte. „Das will ich.“
„Wir wissen, dass es schwer ist. Wir werden euch helfen.“
„Es ist nicht schwer“, gab Yvain zurück. „Ganz im Gegenteil. Es wird immer leichter. Seht her!“
Noch bevor einer der Männer protestieren oder gar eingreifen konnte, hatte Yvain den Mund geöffnet und tief eingeatmet. Seine Pupillen vergrößerten sich so sehr, dass die Augen rabenschwarz wirkten. Ylaiy und Shesh krümmten sich und griffen nach ihren Beinen, als hätten Wadenkrämpfe sie erfasst. Nach einem langen Moment erst entspannten sie und sahen einander fassungslos an.
„Gift“, erklärte Yvain mit seiner normalen, vom Stimmbruch angeschlagenen Stimme. Seine Augen strahlten in tiefstem Blau. „Es war an ihren Klingen. Jetzt ist es weg.“
Ylaiy erhob sich vorsichtig, schüttelte die Beine aus, krempelte die Hosenbeine hoch. Rosige Einstichstellen und Schnitte, kaum Blut.
„Deine Magie“, sagte er zu Yvain, „heilt und verletzt gleichermaßen.“ Zum Beweis zeigte er allen die Hand mit der Verbrennung. „Offenbar kannst du sie kontrollieren. Dennoch solltest du dich an Gilloks Ratschlag halten: Lass sie ruhen. Den Kampf hätten wir auch ohne dich gewonnen.“
„Jeder Kampf schwächt. Je schneller er beendet wird, desto besser.“
„Lieber langsamer, als euch an die Magie zu verlieren. Unsere Verletzungen sind unbedeutend dagegen.“
„So ist es“, stimmte Shesh zu. „Im Ernst, Yvain. Dieses Gezaubere jagt mir Schauer über den Rücken. Lieber ein ehrliches Kräftemessen mit den Spielzeugen dieses begnadeten Drahtziehers. Immerhin - wir wissen jetzt, gegen wen wir antreten und dass sie nicht hier sind.“
„Und dass Elphen seine Truppe kaum mit Informationen versorgt“, ergänzte Ylaiy düster. „Er streut Brosamen, macht sich seine Untergebenen gefügig. Memardazee kannte nicht einmal Yvains Namen und Digarizi hielt die Kinder für Wunder. Ich habe noch nicht begriffen, was genau er mit den Kindern vorhat. Will er sie einfangen, ihren Willen beugen? Was erhofft er sich von den Quellen? Glaubt er, die Magie mache ihn stärker? Denkt er, die Kinder lenken die Magie aus der Quelle in ihn?“
„Das finden wir bald heraus.“ Gillok wartete, bis alle ihre Sachen eingesammelt und sich formiert hatten, vergewisserte sich, dass Sphita in seiner Nähe war, und schritt den anderen hinterher, das Gesicht düsterer als die Gräber der Totenstadt.
Mehlau reckte sich und hörte, wie seine Wirbel knirschten. Sein Kamel, das den unaussprechlichen Namen Oleagurea trug, schnaubte kurz und zuckte, sodass er rasch wieder in seine Hockhaltung zusammenfiel. Missmutig beobachtete er die anderen. Jonoy, Akim und Kian erreichten nicht annähernd seine Körpergröße; ein Segen, wenn man zwischen den Höckern der schaukelnden Tiere wippte. Sie saßen sichtlich bequemer als er, wenngleich der Schmied aufgrund seiner fassähnlichen Statur eingezwängt wirkte.
„Wann sind wir da?“, rief er nach vorn und bereute die Frage sofort. Er wollte nicht wie ein nörgelndes Kleinkind klingen und räusperte sich. „Müsste die Furt nicht langsam auftauchen?“
Kian war der Einzige, der sich die Mühe machte, ihm zu antworten. „Bald.“
„Ich hoffe, wie legen wenigstens eine Rast ein“, murmelte Mehlau zwischen zusammengekniffenen Lippen. „Mein Hintern ist steif.“
„Keine Sorge“, rief Kian über die Schulter nach hinten.
Er fluchte innerlich. Immer wieder vergaß er das beängstigende Gehör dieses Jungen. Stumm schaukelte er weiter, fühlte, wie die Gereiztheit mit jedem Meter wuchs, ahnte, dass nicht nur der unbequeme Ritt dafür verantwortlich war, sondern auch die Entscheidung, die er treffen musste. Die Frage, die ihn quälte, seit sie von der Karawanserei aufgebrochen waren. Länger schon, wenn er ehrlich war.
Sollte er heimkehren?
„Mehlau!“, riss Jonoys Bass ihn aus den Grübeleien. „Sieh dort! Eine Morula! Sie sind extrem selten.“
Der Geselle kniff die Augen zusammen und spähte in das Unterholz, machte einen unförmigen Klumpen aus. Erdfarben, mit rostroten Flecken, einem Knochenkamm über einem asymmetrischen Schädel und einem Zackenschwanz. Eine Echse, unansehnlich und gewöhnlich wie alle Echsen, abgesehen von den drei Augen, den drei Beinpaaren und dem stechenden Geruch, den sie verströmte.
„Ein gutes Omen“, dröhnte Jonoy.
„Weshalb?“, erkundigte sich Akim. „Ist sie so nahrhaft?“
„Würdest du sie essen?“, fragte Kian mit angewidertem Gesicht.
„Wenn ich am Verhungern wäre.“
„Sie gelten in vielen Gegenden als ausgestorben“, erklärte Jonoy. „Und wohl deshalb als Glücksbringer.“
Mehlau schnaubte. „Ein hässliches Ding wie das da?“
„Warum nicht? Auch ...“
„Duckt Euch!“, zerschnitt Kians Schrei den Satz.
Jonoy gehorchte, ohne nachzudenken. Der Reflex rettete ihm möglicherweise das Leben, denn das schmale Beil flog an seinem Kopf vorbei und landete auf der anderen Seite des schlammigen Weges.
Kian und Akim sprangen von ihren Kamelen ab und stürzten sich, die Echse verscheuchend, ins Unterholz. Mehlau hingegen kämpfte mit Oleagurea, die verschreckt auf den Sohlen tänzelte. Auch Jonoy hatte Mühe, sein Tier zu bändigen. Durch die Ausweichbewegung war er in Schieflage geraten und drohte nun, von den Satteldecken zu rutschen.
Dem Brüderpaar einen hektischen Blick hinterherwerfend, brachte Mehlau mit vielen „Ohs“ und „Shs“ das Kamel endlich zum Stillstand. Er wartete nicht, bis es umständlich in die Knie gegangen war, sondern rutschte ungelenk zu Boden, rannte zu seinem Meister und drückte ihn wieder in die Aufrechte. Zeitgleich griff er nach den Zügeln und beruhigte Jonoys Stute, die panisch mit den Augen rollte.
„Lass mich“, blaffte Jonoy ihn an. „Hilf den anderen! Ich komme zurecht. Lauf ihnen nach, na los!“
Mehlau gehorchte, ohne zu zögern. Mit dem Kopf voran stob er durch die dichte Vegetation, sich Spinnennetze und Raupenlarven aus dem Gesicht wischend, den klickenden Geräuschen und Schmerzenslauten entgegen. Zweige schlugen gegen seine Stirn, Nistvögel flatterten aufgeregt aus dem Geäst, dann stand er plötzlich am Wasser.
Die Furt. Ein schmaler Streifen Meer, so breit wie drei Flüsse.
Im Sand kauerten Akim und der Beilwerfer sich gegenüber. Es kam selten vor, dass der Wüstenmann einen anderen überragte, auch wenn er für einen Madif eine ungewöhnliche Größe erreicht hatte, doch dieser Gegner war um einiges kleiner. Außerdem wies er einen ungleichmäßigen Körperbau auf: auffallend kurze Beine im Vergleich zu den langen Armen, die Körpermitte nach unten verschoben. Gesicht und Körper waren eingerieben mit einer Mischung aus Erde, Harz, Moos und Flusssand. Baumnadeln sprenkelten das rindenbraune Haar. Er sah nicht aus wie einer der Tänzer aus Ardannas Residenz. Mehlau versuchte, sich an ihn zu erinnern, an die seltsam nach oben gekrümmten Augenbrauen, den merkwürdig verzogenen Leib, aber es gelang ihm nicht.
Schwer atmend sah er sich um und sprang dann an Kians Seite, der etwas abseits der beiden Männer lauerte. „Ist er allein?“
„Ich spüre nur ihn“, gab der Knabe zurück, die Augen auf den älteren Bruder gerichtet. Ungewöhnlicher Ernst umgab den Wüstenjungen.
„Was tun wir?“
„Warten.“
„Aber ...“
„Lass ihn. Beobachte. Außerdem ist dein Meister auf dem Weg.“
Mehlau wandte sich um und lauschte. In der Tat vernahm er krachende Äste.
„Du könntest auf die Kamele aufpassen“, schlug Kian vor.
In dem Moment, in dem Mehlau antworten wollte, griff der Mann an.
Akim hatte den Gegner blitzschnell eingeschätzt. Kurze Beine, schlechter Läufer. Lange Arme, guter Werfer. Das Beil - Feuerstein, wenn er richtig gesehen hatte - war in perfektem Bogen auf Jonoy zugesegelt und hätte dessen Stirn gespalten. Muskelbepackt waren die Arme, sehnig und lang. Er musste auf sie aufpassen. Auch die Finger waren auffällig lang. Die Finger des Blaukopfs blitzten in ihm auf, die biegsam bis weit über menschliche Schmerzgrenzen hinaus gewesen waren, seine Krallen. Der hier hatte keine Krallen, nicht einmal lange Fingernägel, aber Finger, die gekrümmt waren wie Klauen.
Er wich ihnen aus, mühelos, mit einer kleinen Drehung des Oberkörpers. Sein Gegner behielt ihn im Auge, streckte die Arme aus, auch die Finger, tastete mit ihnen nach seinen Händen. Akim schlug sie weg, erneut ohne große Anstrengung. Fast war es, als spiele der Angreifer nur mit ihm. Wieder die Finger, die nach seinen Unterarmen fühlten. Plötzlich begriff er. Klebende Hände hatte Nebunedzad es genannt. Und einen Namen.
„Pazure“, sagte er laut und sein Gegner erstarrte.
Seine Hände kleben an dir, hörte er Nebunedzads Worte im Geist. Sie alle können das, aber er kann es am besten. Und er erinnerte sich, wie Nebunedzad ihn im Kreis herumgejagt hatte, stundenlang, Runde um Runde, bis er um eine Pause gebeten hatte oder wenigstens einen Richtungswechsel.
Steh niemals still, hatte der Majest’i’ti erwidert, war Akims Schlag mit einer Drehung ausgewichen, die er im Bruchteil einer Sekunde in einen Angriff auf Kanouepe verwandelt hatte. Du bist schnell, aber du musst noch schneller werden. Also war er gelaufen, zuerst allein, dann, als er begriffen hatte, dass er schnellere Läufer brauchte, um besser zu werden, mit Nou, Syra und Gillok.
Sie üben das, hatte Nebunedzad hinzugefügt. Im Kreis laufen. Jahrelang. Bis jede Drehung Angriff, Blocken und Ausweichen zugleich ist. Also müsst ihr es auch üben. Er erinnerte sich, wie verzagt er sich in diesem Moment gefühlt hatte. Alles um ihn hatte sich gedreht und er hatte sich in die Sägespäne gesetzt. Klebende Hände, hatte er gemurmelt. Drehungen. Das lernen wir nie.
Nebunedzad hatte ihn mitleidlos angesehen. Dann hast du verloren.
Er hatte sich aufgerafft und weitergemacht. Wie sie alle. Schwache Momente wie dieser hatten sie begleitet, die Trainingsmonate hindurch, jeden Tag. Er erinnerte sich, wie oft Adiv abends neben ihn gerutscht war und sich an ihn gelehnt hatte, manchmal mit Tränen in den Augen. Wie Mehlau sich in Ecken gesetzt hatte und nicht wieder aufstehen wollte, wie Jonoy seinen Stab gegen eine Wand warf und fluchend den Raum verließ. Wie Shesh und Nou sich stritten und tagelang aus dem Weg gingen, wie Ylaiy Sila auf dem Fußboden liegen ließ, nachdem sie sich geweigert hatte, eine Serie von Übungen noch einmal zu wiederholen. Wie Ylaiy den Kopf schüttelte und Cehaj schubste. Wie Gillok eine heulende Sphita in den Hof schleifte und später Syra anbrüllte. Wie Syriakin diesen und jeden anderen verbalen Angriff ihrer Freunde mit versteinertem Gesicht über sich ergehen ließ oder sich umdrehte und verschwand. Sie war wiedergekommen, jeden Tag aufs Neue. Wie sie alle.
Unbewusst streckte er sich, konzentrierte sich auf Pazures Hände. Chausselles‘ Tänzer beherrschten viele Kampftechniken, doch auch sie hatten Vorlieben. Pazures waren Hände. Finger waren seine Waffen. Er konnte sie ihm nicht aus der Hand schlagen, aber er konnte sie verletzen.
Ansatzlos setzte Akim sich in Bewegung, kreiste um den Gegner, öffnete seine Sinne. Sofort schlugen Eindrücke auf ihn ein, verdichteten sich zu Empfindungen. Pazures Hände auf den seinen, warm und schweißig. Behaarte Handrücken, ungewöhnlich für die Graugewandeten, Dreck unter den abgenagten Nägeln, Lederriemen um Handgelenke und Arme.
Pazure fing Akims Angriffe weich und elastisch ab, ging die Bewegungen mit. Er leistete wenig Gegenwehr, hielt die Finger an Akims Unterarme, nahm die Bewegungsmuster in sich auf. Erst als Akim die Geschwindigkeit erhöhte, Schläge und Hebel variierte, veränderte sich der Kampf, wurde aggressiver. Bald schon hagelten Ellen und Speichen gegeneinander, krampften sich Finger ineinander, donnerten Ellenbogen gegen Ellenbogen und Handkante gegen Knöchel.
Mit angehaltenem Atem verfolgte Mehlau das rasante Hin und Her der Hände und Arme. Pazure und Akim vermieden Schwünge und Drehungen, setzten auf gerade, kurze Schläge, zielgerichtet, gewaltsam und so schnell, dass er die Treffer nicht zählen konnte. Er erschrak, als er sah, dass Akim die Augen schloss, und fasste nach Kians Arm. Dieser stand völlig ruhig, verströmte verstörende Gelassenheit.
„Er hört“, sagte er.
Mehlau begriff die Worte erst, als er sah, wie Akim die Hiebe des Gegners beinahe zu erwarten schien. Selbst, als Pazure den Schlagtakt änderte und sich um den Wüstenmann bewegte, reagierte Akim mit nahezu gespenstischer Voraussicht. Er hörte die Schläge, bevor er sie sah, hörte Muskelbewegungen, Gelenkknirschen, reibende Sehnen, das Rascheln von Hosenbeinen, Schritte im Sand. Dadurch war er schneller als Pazure. Atemberaubend schnell. Als Pazure ein Bein ausstellte und mit dem Finger auf Akims Auge zielte, trat Akim gegen das Kniegelenk und hielt den Finger fest. Dann überdehnte er ihn, bis das mittlere Glied barst. Das knackende Geräusch, kaum wahrnehmbar für Mehlau, musste in Akims Ohren geradezu hallen, denn der Fährtenleser riss die Augen wieder auf, packte die anderen Finger und knickte auch sie entzwei. Jetzt erst gab der Tänzer ein Klacken von sich, versetzte Akim einen Schlag in die Rippen, steckte die unbrauchbare Hand unter die Achsel und schoss von Akim weg.
Jonoy brach durch das Geäst, als hätte er auf diesen Moment gewartet. Der Stab donnerte gegen Pazures Schulter, anschließend gegen seine Kniekehle. Chausselles‘ Tänzer ging zu Boden. Augenblicklich stand Akim über ihm, sprang auf das Gelenk der gesunden Hand, das knirschend zersplitterte. Ein Schrei stieg aus der Kehle des Angreifers, hoch und schrill. Jonoy warf Akim den Stock zu. Akim fing ihn und rammte ihn senkrecht in den Handrücken des kleinen Mannes. Der Schrei wurde unmenschlich, wehte über das seichte Wasser. In ihn mischte sich panisches Getrampel.
„Die Kamele!“ Kian schreckte auf und verschwand durch das Gehölz.
Mehlau verharrte unschlüssig. Mit zwei zerschmetterten Händen war der Tänzer eigentlich bezwungen, aber man wusste nie. Monatelang hatte man ihm eingebläut, wie gefährlich die Chausselles seien, wie gnadenlos und berechnend. Als hätte es dieser Warnungen bedurft. Unbewusst strich er sich über den Bauch, fühlte die Narbe, sammelte allen Mut und näherte sich Jonoy und Akim, die mit Stab und Stiefeln die Arme des Gegners bearbeiteten. Systematisch. Ellen, Speichen, Ellenbogen. Mittlerweile jaulte der Tänzer und verwünschte sie in seiner Sprache.
„Lasst ab!“, hörte Mehlau sich sagen. „Das reicht!“
Akim und Jonoy gehorchten, beide schwer atmend.
„Ihr habt ihn besiegt.“ Dennoch hielt Mehlau Abstand, als er um den Angreifer herum ging.
Akim schüttelte die Arme aus und beugte sich vor. Er spuckte in den Sand, warf einen letzten Blick auf den Gegner, lief zum Wasser und tauchte die Arme bis zu den Ellenbogen ein.
Mehlau beäugte den Mann am Boden, dann den Schmied. „Er ist besiegt“, wiederholte er leise.
Jonoy schnarrte etwas, das Mehlau nicht verstand.
„Was habt ihr mit ihm vor? Ihn fesseln?“
Jonoy stellte den Stab auf den Kehlkopf des stöhnenden Mannes. „Bist du allein? Wo warten die anderen? Was genau hat Elphen vor? Antworte und wir verschonen dich.“
Pazure atmete schwer, beide Arme neben sich wie nutzlose Flügel. „Tötet mich.“
„Wo sind deine Gefährten? Was wollen sie? Die Quelle macht nur die mächtiger, die Magie besitzen. Welchen Nutzen hat sie für euch?“
Pazure lächelte und blickte zur Seite, wo Kian gerade durch das Gesträuch trat. „Die Zweige haben sich bewegt, habt Ihr das gesehen?“, wandte er sich an Jonoy. „Sie haben sich bewegt, bevor er sie berührte. Sie verneigen sich vor ihm.“
Entgeistert schaute Jonoy seinen Gesellen an.
„Er meint Kian.“
„Kian“, krächzte der Tänzer. „Bringt ihn her. Ich will ihn sehen.“
„Nein“, sagte Akim vom Ufer her und erhob sich. Wasser tropfte von den geschwollenen, aufgerissenen Händen.
„Dann rede ich.“
Unschlüssig musterten sich die Männer. Kian nahm ihnen die Entscheidung ab, indem er auf den Verletzten zutrat und ihn neugierig ansah.
Pazure starrte zurück. „Ich will ihn berühren.“
„Nein“, wiederholte Akim. „Du fasst ihn nicht an.“
„Ich will ihn berühren.“ Mit der ihm verbliebenen Kraft versuchte der Mann, seine Arme zu bewegen.
„Warum?“ Kians kohleschwarze Augen suchten im Antlitz des Angreifers. „Was hat Elphen über uns erzählt?“
„Nicht Elphen. Bru Nehegelen.“
Akim zog die Stirn in Runzeln. „Der Älteste?“
„Vater berichtete von den Kindern. Von ihrer Kraft, ihrer Magie, ihrer wundersamen Wirkung auf andere. Götterkinder nannte er sie. Ogala’ban.“ Er drehte den Kopf zu Kian. „Bist du ein Gott?“
„Nein. Euer Vater hat Euch getäuscht.“
Pazure nickte und lächelte. „Er täuscht und manipuliert, weil unsere Familie ihn ängstigt. Doch die Magie ist real. Wir schützen sie seit Jahrtausenden.“
„Spürt Ihr sie?“, fragte Jonoy.
„Sie wird nicht allen gleich zuteil. Einige von uns spüren sie stark, andere schwach, andere gar nicht. Dennoch sind wir ihre Hüter. Wir alle.“
„Und Ihr selbst?“
„Ich spüre sie, aber nicht wie Vater, nicht annähernd wie Vater.“
„Was ist mit Elphen und Kalphon?“
„Meine Brüder sind wie ich. Wir wissen, dass sie existiert, fühlen, wenn wir uns nähern, schöpfen Kraft und Zuversicht aus ihr.“
„Glaubt Ihr, die Quelle wird euch zu Göttern machen?“
„Erst, wenn sie uns zu sich lässt.“ Pazure streckte die zertrümmerte Hand aus, so weit er konnte.
Kian warf Akim einen langen Blick zu, krempelte dann einen Ärmel hoch, beugte sich hinunter und legte seine Hand in Pazures. In dessen Augen trat ein Leuchten. Die gebrochenen Finger zuckten, krampften sich um Kians Handgelenk. Kian hockte stockstill und betrachtete Pazure mit wachen Blicken.
Plötzlich bäumte Pazure sich auf. Mehlau sprang vor Schreck zurück. Der Tänzer kugelte den Unterleib zusammen, als wolle er eine Rückwärtsrolle machen, hob den Rumpf und umschlang Kian mit den Beinen, während er den Griff um das Handgelenk verstärkte. „Wir sind Ogala’ban. Chausselles. Waren es immer schon.“
Kian sagte nichts. Pazures Stummelbeine drückten seinen Brustkorb zusammen und raubten ihm die Luft. Mehlau schrie. In den Schrei rauschte Jonoys Stab mit der Kraft eines Schmiedehammers herab, knackte Pazures Kopf wie eine Nuss. Gleichzeitig grub sich Akims zweischneidiger Dolch hinter dem Ohr in die weiche Stelle zwischen Schädel und Kiefer. Der Tänzer erschlaffte, gab Kian frei und fiel zurück in den Sand.
Mehlau beugte sich zu Kian, um ihm zu helfen, zuckte jedoch zusammen, sobald er ihn berührte. „Magie“, sagte er ungläubig und drehte sich zu Akim und Jonoy. „Meine Fingerkuppen sind taub. Kian hätte ihn betäuben oder gar umbringen können.“ Fassungslos betrachtete er den Knaben, der stumm und reglos neben ihm stand.
Akim zog den Dolch aus dem Fleisch des Tänzers. „Geht es dir gut?“, fragte er Kian.
„Mir fehlt nichts.“
„Ihr habt ihm die Arme und Finger gebrochen“, stammelte Mehlau. „Woher hatte er die Kraft, Kian festzuhalten?“
„Aus seinem Inneren“, erwiderte Akim.
Mehlaus Blick irrte zu Kian. „Hatte er Magie in sich?“
„Nicht viel“, sagte dieser.
„Und doch mehr, als ihm guttat“, brummte Jonoy. „Erinnert ihr euch an die Geschichten von den Missbildungen unter den Erdlingen? Sein Körper ist deformiert.“
„Trotzdem wollte er noch mehr davon“, begriff Mehlau. „Kian berühren, die Quelle finden. Das verstehe ich nicht.“
„Je näher wir ihr kommen, desto stärker ruft sie“, sagte Kian leise.
„Wie schwer ist es, ihr zu widerstehen?“, fragte Akim ihn.
„Es ist auszuhalten. Er war verletzt und fehlgeleitet. Ich wollte ihm nicht wehtun.“
Akim legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du hast richtig gehandelt.“
Jonoy rüstete seinen Stab. „Lasst uns zu den Kamelen gehen, nach Spuren suchen. Möglicherweise hat Elphen uns überholt.“
Kian wies auf die Furt. „Die Kamele sind durchgegangen. Ich konnte nur Akims beruhigen. Die anderen sind längst auf dem Weg nach Hause.“
In der Tat hatten Oleagurea und zwei weitere Tiere die Mitte der Furt bereits überquert.
„Verflucht!“ Jonoy hieb den Stab auf den Boden und fuhr sich durch den weißen Bart. „Das bedeutet einen Aufschub!“
„Es nützt nichts“, sagte Akim. „Wir müssen zu Fuß weiter.“
„Wir könnten frische Kamele bei Jula besorgen.“
„Das ist ein Umweg.“
„Kein langer. Auf Kamelen holen wir die verlorene Zeit schnell auf.“
„Ich möchte Jula nicht in Gefahr bringen. Ich habe schon Angst genug um Taan und seine Leute. Es ist besser, wenn wir am Südrand des Tals entlang gehen. In Chroa füllen wir die Vorräte auf und laufen in gerader Linie nach Ki akku ninu.“
Jonoy blickte düster. „Also Chroa. Das ist eine Tagesreise, oder?“
„Aí. Uns stehen große Strapazen bevor, Hitze und Durst. Am anderen Ufer bedecken wir unsere Köpfe, alle nackten Stellen unseres Körpers. Ihr müsst außerdem eure Augen schonen.“
„Wir werden ersticken“, stöhnte Mehlau.
„Du bist Schmiedelehrling“, wies ihn Jonoy zurecht. „An Feuer gewöhnt.“
„Zieht so viel Kleidung aus, wie ihr könnt“, befahl Akim. „Aber haltet eure Haut bedeckt.“
„Wir hätten die Gewänder von Taan nehmen sollen“, fiel Mehlau ein.
„In ihnen lässt sich schlecht kämpfen. Die Tücher müssen genügen.“
Furcht loderte in Mehlaus Augen auf. „Glaubst du, sie sind in der Nähe?“
„Nein“, sagte Kian, der mit Akims Kamel am Zügel zurück zu ihnen trat. „Es gibt keine Spuren außer unseren.“
„Zumindest nicht an diesem Übergang“, entgegnete Akim. „Entweder hat Elphen Pazure vorausgeschickt oder sie haben einen weiten Bogen um uns geschlagen. Allerdings müssten sie sehr schnell gewesen sein.“
„Schnell sind sie bestimmt“, überlegte Jonoy laut. „Und ausdauernd. Wenn Syra einen halben Tag hinter einem Pferd herhetzen kann, dann Elphen und seine Leute auch hinter einem trabenden Kamel. Vor allem, wenn sie ebenfalls Magiefunken in sich tragen.“
Akims Miene umwölkte sich sorgenvoll. „Vielleicht sind sie auf Kamelen unterwegs. Ich hoffe, Taan konnte sich rechtzeitig verstecken.“
„Womöglich wollte Pazure auch von sich aus als Erster hier sein“, schlug Mehlau vor. „Um Kian zu töten, zu berühren oder was auch immer. Weil er Eindruck bei Elphen schinden wollte. Oder er hat sich abgesetzt. Irgendwie kommt mir dieses ganze Majestes-Gebilde ziemlich morsch vor. Jeder will einen Vorteil für sich.“
Jonoy sah ihn nachdenklich an. „Das klingt gar nicht so unvernünftig.“
„Dennoch verstehe ich seinen Antrieb nicht. Magie muss für ihn derart begehrenswert sein, dass er bereit war, für sie zu sterben. Welchen Sinn macht das?“
„Nehegelen und Elphen haben seinen Geist verwirrt mit ihrem verdrehten Göttergeschwätz“, sagte Kian. „Lasst uns weiter gehen.“
Mehlau nickte und folgte dem Knaben, der nach Akim die Furt betrat. Erst auf halbem Weg nach Berlen begriff er, dass seine Entscheidung gefallen war.
Sandspiralen tanzten vor ihnen her und fächerten den lockeren Boden auf. Padchuri, schoss es Akim durch den Kopf. Wüstendämonen. Unter dem Gesichtstuch lächelte er über sich selbst.
„Vorboten“, flüsterte Kian neben ihm, die dünnen Schleier beobachtend.
Akims Lächeln erlosch. Unbehagen kroch unter seine Haut. Aufmerksam sah er sich nach allen Seiten um. Chroa, Kiesel in der Sprache der Madif, lag hinter ihnen im Südosten, inmitten einer gewaltigen Geröllsenke. Jonoy und Mehlau hatten die Abwechslung begrüßt anfangs, aufgeatmet, als Kiesel und Schotter das eintönige Sandmeer durchbrachen. Nach zwei Stunden hatten sie festgestellt, dass das Gehen auf dem porösen Untergrund nicht weniger anstrengte als das Waten im Sand. Schmerzhaft bohrte das Geröll sich in die Fußsohlen, sogar wenn man festes Schuhwerk trug wie sie vier.
Menschen bereisten die Gegend um Chroa höchst selten. Die Oase, ein Vegetationsfleck in der Einsamkeit der Sande, lag abseits der Handelsrouten und beherbergte nur eine Handvoll Familien. Dürftig sprossen die Palmen am Rand des halb ausgetrockneten Flussbetts, das Regenfälle, die in entfernteren Regionen niedergingen, nur gelegentlich auffüllten. Hunger nistete in den armseligen Hütten. Wie bei früheren Besuchen hatte Akim Chroa rasch wieder verlassen, jedoch nicht auf einer der Karawanenrouten, sondern in nordöstlicher Richtung.
„Nicht mehr lange“, murmelte Kian.
Akim warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Das Vorgebirge.“
„Mhm.“
„Erinnerst du dich nicht an es?“
„Nein. Ebenso wenig wie an die Kieselsenke. Wann hast du diese Gegend besucht?“
„Als ich mit Taan und Raban herumirrte?“
Der fragende Unterton beunruhigte Akim. „Bestimmt hast du eine Karte Berlens gesehen.“
Kians Gesicht hellte sich auf. „Bei Yvain. Das wird es sein!“
Akim schirmte die Augen mit der Hand vor der Sonne ab. „Bis jetzt ist dein Vorgebirge nicht mehr als eine Geistererscheinung.“
„Der Himmel ist verhangen. Wäre es klarer, würden wir es bereits sehen.“
Wieder quirlten Spiralen aus Sand um sie herum und woben sie ein. Die Brüder zogen die Tücher höher über Mund und Nase und warteten auf Jonoy und Mehlau, die mit schweren Schritten zu ihnen aufschlossen.
„Das Wetter schlägt um“, brummte der Schmied. Wie zur Bestätigung flackerten Böen auf. Heißer Sand stob in ihre Gesichter.
Akim nickte. „Bohub.“
„Bist du sicher?“ Jonoy äugte in den blassblauen Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen, dennoch schien die Sonne wie durch einen Vorhang bedeckt. „Es ist Winter. Ungewöhnlich.“
„Die Böen sind seine Vorboten.“
Jonoys Antlitz verdüsterte sich.
„Worüber sprecht ihr?“, fragte Mehlau. „Einen Sturm?“
„Sandsturm“, präzisierte Akim.
„Wegen der Böen? Aber die Sonne scheint. Es braut sich nichts zusammen.“
„Warte ab. Wir sollten zusehen, dass wir dieses Vorgebirge erreichen, von dem Kian spricht. Ohne Schutz wird ein Bohub schnell ungemütlich. Zieht eure Tücher über die Gesichter.“
Nach einem weiteren Rundumblick setzte Akim sich erneut in Bewegung. Jonoy und Mehlau trotteten hinterher, ersterer seine Hüfte massierend, der Geselle mit einem schicksalsergebenen Seufzen. Kian blieb zurück, schloss die Augen und streckte die Hände aus. Sand tanzte um seine Fingerspitzen und glitt unter seine Ärmel. „Bald“, flüsterte er.
Um die Mittagszeit herum erreichten sie das Vorgebirge, eine Kette aus kleineren Dünen und Geröllfelsen. Keuchend schaufelten sie sich eine der Anhöhen empor, die Hände gerötet vom heißen Sand.
„Dort hinten ist es“, schrie Akim gegen das zunehmende Brausen des Windes Jonoy zu und zog ihn am Ärmel zu sich auf den Grat. Schwer schnaufend nickte der Schmied, die Arme auf die Oberschenkel gestemmt.
„Was ist da?“, fragte Mehlau, sich das Tuch vom Kopf ziehend und damit das feuchte Gesicht abwischend. Seine struppigen Haare glänzten dunkel vor Schweiß, obwohl die Luft sich merklich abgekühlt hatte.
„Ki akku ninu. Du kannst es sehen.“
Mehlau kniff die Augen zusammen. „Die Berge?“
„Dahinter. Die Dünenkette ist der Eingang. Die Grenze. Mein Lehrmeister nannte Ki akku ninu das Herz, den Siedepunkt, den Ort der bösen Geister.“
Der Schmiedegeselle schluckte und knetete das Tuch. „Siedepunkt?“
„Wandernde Riesendünen. Sandgebilde, die unter deinen Füßen zerbröseln. Salzsenken. Luft wie brodelnder Dampf tagsüber, nachts bittere Kälte. Dort landete der Schwarze Felsen, auf dem Gradh den Tod fand. Er brachte Gewitterstürme und Sturzregen mit sich. Auf ihm reiste der Norogdún mit seinen magischen Geschöpfen.“
„Weshalb?“
„Weil nur die Bur-an-gnea fliegen konnten. Und selbst ihre Kraft reichte nicht, um lange Wege ohne Rast zurückzulegen“, erklärte Jonoy, der seinen Atem wiedergefunden hatte. „Ylaiy hat ewig darüber gerätselt. Er glaubt, der Felsen war das Gefährt, eine gigantische Kutsche sozusagen. Gleichzeitig speicherten die Steine Magie.“
„Was passierte mit ihm?“
„So weit wir wissen, steht er auf Drahórsul. Dort gab es eine Art Landeplatz, geformt aus Menhiren. Auch sie waren wie Magiespeicher.“
Akim schüttelte sich, wie immer, wenn er an Urdal’thonn dachte. Von allen merkwürdigen Orten Drahórsuls jagte die Senke ihm die meisten Schauer über den Rücken. Selbst die Leichenkammer des Bluttrinkers hatte ihn weniger verstört.
„Die Festung auf Drahórsul zerfiel zu Staub und Eis“, sprach Jonoy weiter. „Sie begrub die Quelle unter sich. Alles brach zusammen. Vermutlich auch der Felsen.“
„Aber genau wisst Ihr es nicht?“ In Mehlaus Stimme stand Angst.
„Es gibt niemanden mehr, der den Felsen lenken kann“, erklärte Kian leise. „Drahórsuls Magie ist versiegt.“
Mehlau sah Kian an. „Ihr könntet ihn lenken. Du und deine Freunde.“
Darauf erwiderte Kian nichts. Stattdessen wandte er sich ab und betrachtete das Sandgebirge vor ihnen. Sonnenlicht sickerte durch den Wolkenschleier. „Die Quelle liegt hinter diesen Dünen“, sagte er schließlich. „Als Akim und Jonoy hier waren, stand der Felsen auf ihr. Ich spüre sie. Sie zerrt an mir.“
Sorgenvoll musterte Akim seinen Bruder. Kians Gesicht war hinter dem Gesichtstuch verborgen, doch er erkannte die angespannten Züge. „Fühlst du dich schwach?“
„Im Gegenteil. Kraft tobt in mir. Es ist schwer, sie zurückzuhalten.“
„Was passiert, wenn sie ausbricht?“
Kians Augen schwenkten zu einem der Sandschleier. Die Spirale schraubte sich in die Höhe, sprang dann zurück auf den Boden, stiebte Sand in die Luft. Heißer Wind sprühte in ihre Gesichter, trieb Sandnadeln unter ihre Haut.
„Der Sturm. Das bist du!“ Entgeistert starrte Akim den Bruder an.
„Nicht allein. Yvain ist nah.“ Er wandte sich nach Norden. „Sie sind schnell. Kamele. Parud.“
„Halte es auf!“
„Es fließt aus mir heraus.“ Etwas anderes trat in Kians Blick. Eine Mischung aus Verzweiflung und Euphorie.
Akim dachte nach und gab sich einen Ruck. „Wir müssen hinunter. Über die Ebene bis zu den Riesendünen. Zwischen ihnen gibt es Schutz.“
„Was ist mit mir?“
„Du kommst mit.“ Entschlossen griff Akim nach Kians Arm.
Kian stemmte die Beine in den rutschenden Sand. „Je näher wir ihr kommen, desto mehr wächst die Kraft in mir. Ich habe das Gefühl, ich würde wachsen. Ich weiß nicht, was sie tut. Mit euch. Mit mir.“ Er sprach hastig jetzt. „Geht allein. Ich warte hier. Versuche, den Sturm zu kontrollieren. Aufhalten kann ich ihn nicht mehr.“
Akim kniff die Lippen zusammen und beobachtete den Sand, der um Kian kräuselte, sich zu neuen Schleiern und Spiralen formte.
„Wir lassen dich nicht hier“, widersprach Mehlau. „Diese Chausselles sind hinter dir her. Sie brauchen deine Kräfte, um an die Magie zu gelangen. So wie wir sie brauchen, um die Quelle zu verschließen.“
„Wie denn?“
„Woher soll ich das wissen? Aber Elphen und Nehegelen halten dich für einen Gott. Und Göttern traut man so einiges zu.“ Fragend sah Mehlau seinen Meister an, der wiederum stumme Zwiesprache mit Akim hielt.
„Wohlan“, brummte Jonoy schließlich. „Schauen wir, was unser Wunderkind vermag. Und du“, wandte er sich an den Gesellen, „streifst besser dein Tuch wieder über, bevor die Hitze dir zu sehr in den Kopf steigt.“ Sanft schubste er ihn den Abhang hinunter und rutschte mit langen Schritten hinterher.
„Du nanntest sie Vorboten“, sagte Akim leise zu seinem Bruder. „Vorboten eines Sturms. Doch vielleicht ist selbst der Sturm nur Vorbote von etwas noch Größerem.“
„Was meinst du?“
Akim wies nach Norden. „Siehst du die Staubsäule? Yvain bringt seinen eigenen Sturm mit. Verbinden sie sich, schaffen sie etwas Gewaltiges. Womöglich brauchen wir genau das, um die Quelle zu verschließen.“
„So schafft sie etwas Gutes? Die Kraft in mir?“
Langsam nickte Akim. „Ich glaube fest daran.“
„Was ist, wenn sie aus der Bahn gerät?“
„Dann sterben wir. Aber wir nehmen Elphen und seine Männer mit. Und diese verfluchte Magie. Deshalb sind wir aufgebrochen.“
Noch bevor sie den Fuß der Wanderdünen erreichten, tat sich vor ihnen eine Wand aus Sand und Staub auf. Höher als die Riesendünen, wälzte sie sich über die Ebene, hüllte sie ein wie ein schmutzigoranger Teppich, durch dessen Gewebe man die Umgebung nur schemenhaft wahrnahm. Heißer Wind brannte sich durch die Kleidung auf ihre Haut und raubte ihnen den Atem. Sand, durchsetzt mit Insekten, fegte über sie, knirschte zwischen den Zähnen, rieb in den Augen, glühte in Nase, Rachen und Ohren.
Geblendet, spuckend und hustend tauchten sie endlich in die Schatten der Dünen, rannten auf die windabgewandte Seite, kauerten sich zusammen. Eingehüllt in ihre Kleidung, hockten sie minutenlang am Boden, während der Sturm sich brüllend und fauchend wie ein wütendes Raubtier an dem Sandgebirge brach, den Tag in orange Düsternis tränkte und die Sonne in einen Feuerball verwandelte.
Taumelnd kamen sie schließlich wieder auf die Füße, sogen Luft in sich, spien Sand und zermahlene Käfer aus, rieben Körner aus tränenden Augen. Kian zog sie tiefer in das Tal hinein, weiter nach Ki akku ninu. Aus seinem Antlitz leuchtete Euphorie, strahlte pures Verlangen. Die anderen wankten ihm nach. Doch rasch stellten sie fest, dass die Wüste sich zu wandeln schien. Der Untergrund wurde breiig und zäh wie Baumpech. Akim spürte, wie er versank, wie Sandmus schmatzend in seine Knöchel biss. Der Sand wogte wie Brecher im Meer, ähnlich der Treibsandschollen an Kâneggs Westküste.
„Kian“, ächzte er.
Kian reagierte nicht. Unbeirrt strebte er weiter geradeaus, während sie hinterher wateten, so mühsam, als stemmten sie sich gegen anbrandende Dünung.
„Kian“, erhob sich Jonoys Bass, doch der Junge schien auch ihn nicht zu hören.
„Lasst ihn vorausgehen“, meldete sich Mehlau in Akims und Jonoys Rücken. „Haltet Abstand zu ihm. Seht! Der Sand ist nur um ihn herum so weich. Als würde seine Körperwärme ihn schmelzen.“ Fasziniertes Staunen schwang in seiner Stimme mit. „Merkt ihr, dass die Luft kühler ist hinter ihm?“
„Er ebnet uns den Weg“, murmelte Jonoy in jähem Begreifen. „Saugt die größte Hitze auf. Sie umgibt ihn wie ein Schild. Wir müssen in seiner Nähe bleiben, ohne ihm zu nahe zu sein. Mehlau hat recht.“
Verstört warf Akim einen Blick zurück, musterte den wütenden Sandsturm hinter den Dünen. Er wirkte wie ein Lebewesen. Sandspiralen schraubten sich von ihm hinweg wie Finger; Krallen, die damit begonnen hatten, die Dünenberge abzutragen. „Er gräbt sich hindurch“, flüsterte er, schluckte mit trockener Kehle und stapfte den beiden Schmieden nach, die jetzt mehr Abstand zu Kian hielten.
Kurz darauf schrien seine Instinkte und Sinne auf. Im selben Augenblick befand er sich im Würgegriff eines Mannes, der geradewegs aus dem Boden hinter ihm getaucht sein musste.
Drei Sekunden, dann bist du so gut wie tot.
Der hysterische Gedanke befeuerte Akims Muskeln und Gelenke. Innerhalb eines Lidschlags hatte er das Kinn gesenkt und dem Angreifer in den Schritt geboxt. Er verdrehte die ihn umklammernde Hand, bohrte einen Ellenbogen in den Magen des Chausselles‘, rutschte aus dessen Griff, zog den Kopf des Mannes nach unten und rammte ihm das Knie mitten ins Gesicht.
Elphens Kämpfer stöhnte auf, kugelte aus Akims Reichweite, kam auf die Beine und starrte ihn boshaft an. Blut sprudelte aus beiden Nasenlöchern, tränkte Kinn und Brust. Er atmete durch den Mund und betastete abgebrochene Zähne. Dann duckte er sich und sprintete erneut auf Akim zu. Dieser wehrte den Hieb mit dem linken Arm ab, griff blitzschnell nach dem Schlagarm des Kämpfers, packte ihn hinter dem Ellenbogen. Mit der rechten Hand stieß er in die Kehle des schlanken Mannes und hebelte ihn von den Füßen. Der Angreifer lag erstickt atmend vor ihm, noch bevor Jonoy und Mehlau ihn erreichten. Sofort rammte der Schmied seinen Stab auf die Brust des Klingentänzers, doch der federte die Waffe mit beiden Handflächen zurück nach oben. Die schiere Wucht brachte Jonoy ins Stolpern. Im selben Augenblick stand der Tänzer wieder auf den Beinen, entwand ihm den Stab und hieb ihn in die Vertiefung am Schlüsselbein. Der Greis brüllte auf.
Klingen blitzten in den Händen des Mannes auf, schmale, scharfe Spitzen ohne Heft, eingeklemmt zwischen den Fingern. Bösartig fauchten sie durch die Luft. Hastig zerrte Mehlau den Schmied von dem halb nackten Kämpfer weg.
Akim ließ seinen Dolch aus dem Ärmel in die linke Hand gleiten, sprang Elphens Schergen von der Seite an. Metall traf auf Metall. Funken stoben auf. Dann fühlte Akim die Klingen des Gegners über seine Hand fahren. Schneidender Schmerz raste seinen Arm hinauf, während Blut sich in der Handfläche sammelte. Zwei, drei Ausfallschritte des Tänzers, und Akim ließ den Dolch fallen. Blutblumen waren auf seinem Arm erblüht. Und die Schneiden schnitzelten weiter, schnell und unbarmherzig, ritzten Muster in seine Haut.
Hastig sprang er zurück. Zu seiner Überraschung setzte der Angreifer nicht nach, sondern wandte sich um und sprintete davon.
„Kian!“, keuchte Akim auf und stürzte ihm hinterher. Nach wenigen Schritten zwang der Schmerz ihn in die Knie. Sekunden später war Mehlau heran und machte Anstalten, ihm zu helfen.
„Nein!“, brüllte er den Gesellen an. „Lauf ihm nach! Du musst ihn aufhalten. Er ist hinter Kian her! Lauf!“
Benommen gehorchte der schlaksige Mann. Mit ungelenken Sprüngen hetzte er dem gewandten Tänzer hinterher, dieweil Akim stöhnend auf seine Fersen sank. Im selben Augenblick trudelte Jonoy ein und zerrte ihn auf die Beine. Speer und Stab hatte er unter die verletzte Schulter geklemmt. „Geht es?“
„Gleich“, antwortete Akim mit zusammengebissenen Zähnen, den zerfetzten Arm umklammernd.
„Was hat er mit Kian vor? Tot nützt er ihm nichts.“
„Vielleicht braucht Elphen ihn, um an die Magie zu gelangen. Wir müssen sie aufhalten.“ Akim sprach abgehackt und schmerzverzerrt. Hitze und Durst mochten ihm weniger zusetzen als Landfremden, aber er verlor Blut und die vielen Schnitte brannten. Dennoch begann er zu rennen. Jonoy drückte ihm den Speer in die Hand und schickte ihm und Mehlau ein Stoßgebet hinterher.
Unterdessen näherte Elphens Handlanger sich Kian. Der Junge schien ihn nicht wahrzunehmen. Wie ein Schlafwandler schritt er weiter, den Blick starr geradeaus gerichtet, Mulden aus weichem Sand hinterlassend. Zum Glück war auch der Tänzer angeschlagen. Er blutete, hatte vermutlich Stunden in der Sonne auf sie gewartet, trug weder Obergewand noch Kopfbedeckung. Hin und wieder brach er zur Seite aus und strauchelte. Mehlau holte auf.
Akim preschte dem Gesellen hinterher, taumelte jedoch ebenso wie der Klingentänzer. Mit letzter Kraft schleuderte er den Speer durch die flimmernde Luft. Er schlitzte den Arm des Angreifers der Länge nach auf und brachte den Tänzer ins Trudeln. Mehlaus beherzter Sprung in seinen Rücken riss ihn vollends von den Beinen.
Doch Elphens Kämpfer brauchte nur drei, vier ungenaue Schläge, dann wälzte Mehlau sich wimmernd neben ihm im Sand. Der Tänzer sah sich nach Akim um, rappelte sich in fliegender Hast auf und rannte weiter. Fluchend sprintete Akim an Mehlau vorbei, stoppte jedoch nach wenigen Schritten und starrte verdutzt nach links, weil in seinem Augenwinkel etwas Weißes aufgeblitzt war.
Der Tänzer sah nicht, was ihn traf. Vielleicht, weil seine Sicht flimmerte von Akims Schlägen und dem aufgerissenen Arm. Vielleicht, weil Durst und Hitze seine Sinne verwirrten, vielleicht auch, weil er sich auf das Kind konzentrierte, das er beinahe erreicht hatte. Etwas Großes rammte ihn so hart, dass er meterweit durch die Luft segelte, trampelte anschließend über ihn hinweg.
Akim verzog das Gesicht, als er das Knacken der Knochen hörte und sich vorstellte, wie der Rücken des Klingentänzers zersplitterte. Geschockt setzte er sich in Bewegung, langte gemeinsam mit Jonoy bei Mehlau an. Der Geselle saß bereits wieder, stöhnte jedoch mit schmerzverzerrtem Gesicht und hielt sich den Nacken.
Jonoy zog Mehlaus Gesichtstuch herunter. „Bist du verletzt?“
„Es geht schon“, sagte Mehlau, während er vorsichtig aufstand. „Er hat mir ein paar Hiebe versetzt. Mein Schädel brummt und mein Nacken fühlt sich taub an, aber sonst fehlt mir nichts.“
„Das war ein kühner Sprung“, lobte der Alte, Mehlau Sand vom Rücken klopfend.
„Was war das? Ein Kamel?“
„Julas Leitkamel. Parud. Prächtiger Bursche.“
„Jula? Euer Freund? Ist er hier?“
„Sie sind alle hier“, sagte Akim, nachdem er mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung abgesucht hatte. Besorgt beobachtete er das Kamel, das, wehleidige Töne ausstoßend, in blinder Panik im Kreis rannte, während Jula auf seinem Rücken angestrengt versuchte, es zu beruhigen.
„Dem Himmel sei Dank“, seufzte Jonoy erleichtert. „Verstärkung. Was ist mit Kian?“
Akim wies nach rechts. „Steht dort wie eine Steinsäule.“
„Zaubert er?“
„Ich glaube, er versucht, den Sturm zu zähmen. Yvain ist nicht bei den anderen. Vielleicht geht es ihm ebenso. Seht Ihr die Staubsäulen weiter hinten?“
Die buschigen Augenbrauen des Schmieds wanderten die Stirn hinauf. „Meinst du, er kontrolliert seinen Sturm?“
„Denkt daran, wie sie in Perth aufeinandertrafen. Sie vermeiden eine Kollision.“
„Wo genau liegt die Quelle?“, fragte Mehlau. „Wie weit von hier?“
„Tausend Schritte nach Westen. Zumindest fanden wir da den Felsen.“
„Dann warten Elphen und seine Leute dort? Sollten wir die Jungen hier zurücklassen?“
„Das besprechen wir mit den anderen“, beschloss Akim und ging Jula entgegen, der Parud gewendet hatte und auf sie zusteuerte.
Akim trat dem Tier in den Weg, legte ihm die unverletzte Hand auf die Nüstern. „Shao. Shao.“ Paruds Flanken zitterten, aber Akims Stimme beruhigte ihn, brachte ihn endlich zum Stillstand.
Jula rutschte vom Sattel, nahm die Zügel und streichelte Parud. Das Tier zuckte mit verdrehten Augen und schnaubte leise.
„Seid Ihr wohlauf?“, erkundigte sich Akim.
Der Karawanenbesitzer lächelte. „Uns geht es gut. Besser als dir.“ Er musterte Akims zerschnittene Hand und das Blut auf dem Hemd.
Akim lächelte zurück. „Es ist schön, Euch zu sehen. Lasst mich die anderen begrüßen. Parud braucht noch ein wenig Ruhe.“
Jula nickte und wandte sich wieder seinem Kamel zu.
Akim ging mit schweren Schritten zu der Leiche des Klingentänzers und wartete auf die eintreffenden Gefährten. Mit viel Mühe brachten sie ihre Kamele zum Stehen und rutschten linkisch herunter, sobald Akim die Tiere mit sanften Befehlen dazu gebracht hatte, sich hinzuknien.
Sphita zuckte zusammen, als sie den zerdrückten Tänzer sah. Shesh spuckte angewidert in den Sand. Schließlich traten alle zueinander und reichten sich die Hände. Mehlau zog Sphita ungelenk in seine Arme, Jonoy und Gillok klopften einander auf Schultern und Rücken.
„Ihr lebt“, sagte Mehlau mit leuchtenden Augen zu Ylaiy, der als Letzter zu der Gruppe getreten war. „Welch Glück. Und du bist auch hier?“, blinzelte er die Tochter der Heilerin an.
„Eine lange Geschichte“, beantwortete Gillok die Frage. „Ihre Mutter ist in großer Sorge.“
„Sind die anderen wohlauf?“, fragte Akim.
„Sie waren es, als wir sie verließen. Wir sind drei Tage nach euch aufgebrochen. Adiv hatte das Schlimmste hinter sich. Chries ist bei ihr.“
„Wo ist Eure Gefährtin?“, wollte Mehlau von Gillok wissen.
„Bei Ardanna.“
„Sie kommt nicht?“ Unglauben loderte hinter Mehlaus Augen auf.
Stumm schüttelte Gillok den Kopf.
„Wie sollen wir das schaffen? Ohne Nou? Ohne Adiv und ohne Syriakin?“
Akim tauschte einen Blick mit Gillok und straffte sich. „Es muss eben so gehen.“ Er beugte sich zu dem Toten. „Diesen haben wir geschafft.“
„Ja“, knurrte Jonoy. „Und es war ein wilder Ritt. Der Kerl hat uns ganz schön in Atem gehalten. Mein Arm ist taub.“
„Wenigstens könnt Ihr noch atmen“, stöhnte Shesh. Er benutzte das Gesichtstuch, um sich den Schweiß von Stirn und Brauen zu wischen. Sein buschiges Haar war zu einem Schopf zusammengerollt, der hoch auf dem Schädel thronte. „Diese Hitze schmilzt mich.“
„Kananan“, murmelte Ylaiy, der sich neben Akim in den Sand kniete. „Pazure oder Almutasam. Digarizi erwähnte ihre Namen. Sie und Memardazee überfielen uns auf Staleph.“
„Pazure griff uns an der Furt an“, erwiderte Jonoy, sich die Schulter reibend. „Akim erkannte ihn aus den Erzählungen Nebunedzads wieder.“
„Ich glaube, dieser war Kananan“, sagte Ylaiy. „Digarizi zählte sie in einer bestimmten Reihenfolge auf. Sie und Memardazee waren die untersten in Elphens Hierarchie, die jüngsten und unerfahrensten. Dann kam Pazure, nun Kananan. Oder seid ihr auf weitere Kämpfer getroffen?“
Akim und Jonoy schüttelten die Köpfe.
„Elphen, Kalphon, Tijua, Almutasam“, fasste Ylaiy zusammen, indem er die Namen an den Fingern abzählte. „Weit können sie nicht sein. Wir sollten uns hüten.“
„Nehmt die Kinder in die Mitte“, befahl Gillok. „Wir bleiben beisammen. Akim, Shesh, Jonoy, wir vier bilden den Außenring. Mehlau, Ylaiy, ihr bewacht die Kinder.“
„Ich bin kein Kind“, protestierte Sphita.
„Bleib dennoch in meiner Nähe“, bat Mehlau.
„Du musst nicht auf mich aufpassen.“
„Aber du auf mich. Bitte.“ Sein Lächeln wirkte verzerrt.
„Ist es klug, die Jungen aufeinandertreffen zu lassen?“, fragte Shesh. „Yvain hat eine rotierende Säule aus Sand um sich aufgeschichtet, als wir das Tal betraten. Und seit über einer Stunde beobachten wir den Himmel auf eurer Seite.“ Mit finsterem Blick wies er auf den dunkelorangen Filter im Süden.
„Kian entfachte einen Sandsturm“, erklärte Akim. „Er staut ihn hinter dem Taleingang.“
„Sieht aus, als würde etwas Riesiges an den Bergen nagen“, sagte Sphita verängstigt.
Jonoy verzog das Gesicht. „Der Sturm lässt sich nicht ewig zähmen. Sobald er sich durch die Dünen gefressen hat, wird er sich im Tal austoben. Auf Yvains Sandsäule treffen. Wir sollten die Knaben lassen, wo sie sind. Nicht umsonst sind beide von selbst stehen geblieben.“ Zur Bekräftigung seiner Worte stieß er den Stab in den Boden.
„Also gut“, meinte Gillok. „Neue Aufstellung: Wir rücken in einer Reihe vor. Mehlau und Sphita bleiben hinter uns, halten Abstand, behalten die Jungen im Auge. Elphen und Kalphon dürfen auf keinen Fall zu ihnen gelangen.“
„Was wollen diese Männer?“, fragte Jula, der auf weichen Sohlen näher getreten war, geradeheraus.
„In Ki akku ninu liegt eine Quelle“, antwortete Jonoy.
„Wasser?“
„Magie. Menschen, die bereits Magie in sich tragen, macht sie stärker. Unbesiegbar, wenn sie lernen, sie zu kontrollieren.“
„So sind Eure Gegner wie Kian und der Blonde?“
„Wir sind uns nicht sicher“, gab Ylaiy zu.
„Sie haben Magiespuren in sich“, widersprach Jonoy. „Pazure gab es zu. Allerdings nicht besonders stark. Die Kinder sind ihnen haushoch überlegen. Wahrscheinlich denkt Elphen, an der Quelle wird die Magie in ihm wachsen.“
Jula wandte sich erneut an Ylaiy. „Wer ist dieser Elphen?“
„Der Anführer einer uralten Familie. Seine Vorfahren lebten an der Urquelle, besaßen Magie im Überfluss und setzten sie ein, um die anderen Sippen zu vernichten. Dann schlossen die drei mächtigsten Clans eine Art Pakt. Sie teilten das Land unter sich auf, verschlossen die Quelle, hausten von da an unter der Erde im Verborgenen, behüteten die Magie.“
„Und diese Männer sind ans Licht geklettert?“
„Maji ließ sich nicht vollständig bannen. Die Mutterquelle gebar Kinder. Eins in der Wüste, eins auf der Eisinsel, eins im Südmeer. So lange sie existieren, gelangt Magie in unsere Welt.“
„Ihr wollt sie verschließen. Und diese Männer wollen es verhindern.“
„Magie gewährt unglaubliche Macht. Elphen sieht sich als ihr Hüter. Er betrachtet die Quellen als sein Erbe.“
„Auch wenn sie den Tod bringen?“
„Er glaubt, sie kontrollieren zu können.“
„Ein Größenwahnsinniger?“
„Ja und nein. Elphen ist schlau und willensstark. Kein Monster wie der Norogdún.“
„Und ob“, warf Gillok ein. „Er hat unschuldige Menschen getötet. Kinder. Eine angekettete Frau gefoltert.“
Ylaiy legte dem Sumpfmann eine Hand auf den Arm. „Ich verurteile seine Taten genau wie Ihr. Zweifellos ist er ein gefährlicher, skrupelloser Mann. Aber ich glaube nicht, dass er die Magie nur für seine eigenen Zwecke einsetzen will. Ich glaube, er will sie tatsächlich erforschen.“
„Wie? Nimmt er die Magie mit in seine Heimat?“, hakte Jula nach.
„Wir denken, dass er hier sein Reich erschaffen will. An der Quelle.“
Jula lachte auf. „Nicht einmal Madif können hier leben.“
„Deshalb die Kinder. Der Norogdún hegte einen ähnlichen Plan. Die Kinder gefangen nehmen, sie umdrehen. Beeinflussen in seinem Sinne.“
„Wie denn?“
„Manipulation, Erpressung, Folter. Wir wissen es nicht.“
„Wozu?“
„Damit sie die Erde umformen“, sagte Gillok. „Die Wüste in fruchtbares Land verwandeln.“
Julas Auge wurde groß. „Das können sie?“
„Elphen denkt, dass sie es können. Aber sie sterben dabei. Die Magie frisst sie auf. Ihren Geist, ihren Körper, ihr Gewissen. Alle Magiebegabten. Kriege würden ausbrechen wie bei den ersten Menschen. Sie würden sich gegenseitig zerfleischen. Maji macht aus Menschen Monstren. Nur scheint Elphen das auszublenden.“
„Weil er denkt, sie ließe sich kontrollieren“, pflichtete Ylaiy Gillok bei. „Von willensstarken Menschen wie ihm. Den Hütern. Den Bewahrern. Den Erschaffern dieser Welt. Auserwählten wie ihm und den Kindern.“
Shesh legte sein Breitschwert über die Schulter. „Oder sie töten die Kinder, falls sie ihnen im Weg stehen. Sie bedeuten Konkurrenz.“
„Elphen weiß, dass er gegen ihre Magie nicht ankommt“, widersprach Ylaiy. „Wenn, dann tötet er uns.“
„Er manipuliert sie“, wiederholte Gillok. „Droht ihnen mit unserem Tod. Er wird versuchen, sie zu überzeugen, die Quellen am Leben zu lassen, sie bestärken, dem Sog der Magie nachzugeben. Wir müssen uns beeilen.“
„Keine Verhandlungen“, befahl Akim, Finsternis im Blick. „Kein Hinhalten.“
„Was tue ich?“, knarzte Jula.
Jonoy hieb ihm mit dem unverletzten Arm auf die Schulter. „Ihr, alter Freund, bleibt mit den Kamelen in der Nähe. Dies ist nicht Euer Kampf. Flüchtet, wenn wir verlieren, bringt uns zurück, wenn wir siegen.“
Der Dattelkern wanderte von einer Wangentasche in die andere. „Bevor ihr in den Krieg zieht, solltet ihr euch stärken. Ich habe Verbände. Medizin. Essen. So viel Wasser, wie wir tragen konnten.“
Mit flatterndem Gewand stand Jula auf der Anhöhe, die Zähne auf den Dattelkern gepresst, der seine linke Wange ausbeulte. Sein Auge schweifte über das Tal ringsum. In einiger Entfernung sah er Yvain stehen, den wortkargen, etwas steif wirkenden blonden Knaben mit den Himmelsaugen. Als er und seine Begleiter vor der Jurte aufgetaucht waren, hatte Bitterkeit sich in seinem Rachen ausgebreitet. Der Geschmack von Furcht. Der Junge stand leblos, aufrecht wie ein Feldherr der frühen Kriege, inmitten einer riesigen Staubspirale.
Kian ragte ebenso unbeweglich aus dem Sandmeer. Zärtlichkeit strömte in ihn, als sein Blick über ihn glitt. Ein Gefühl von Liebe, wie ein Großvater sie für seinen Enkel empfinden mochte. Wehmütig dachte er an Kians Besuche in Puard, an die Plänkeleien mit ihm, die Witze, die Streiche. Nie schien der Kleine ernst sein zu können. Leichtigkeit umgab ihn, hob auch Jula empor. Selbst in jener Nacht, als er, Akim und Jonoy geflohen waren wie Verbrecher, hatte Kian Zuversicht ausgestrahlt wie ein warmes Licht. Nun stand er stumm; eine Statue im Sand, den brüllenden Sturm im Rücken, der an den Dünenhälsen nagte wie ein hungriger Löwe und den Himmel schwarz-orange färbte. Ein betörendes Farbenspiel, bedrohlich und bezaubernd gleichermaßen.
Unter ihm marschierten die Männer und das Mädchen in Richtung Nordwesten über flirrenden, roten Sand. Sie gingen mit zwei Armlängen Abstand nebeneinander, der Sumpfmann und der zottelige Riese ganz außen, Akim und der zu kurz geratene Schmied in der Mitte. Das Mädchen lief hinter den Männern, flankiert von dem Schmiedegesellen und dem Kaiser. Dem Kaiser. Den Anblick verdaute er noch. Er konnte sich nicht erinnern, dass Kaiserin Ylaive jemals einen Fuß auf Berlen gesetzt hatte. Oder ihr Vater. Oder sonst irgendein Höfischer, abgesehen von Offizieren und Gelehrten. Akim und Jonoy hatten wirklich etwas losgetreten damals, nachdem sie sich halb verdurstet und verhungert nach Puard geschleppt hatten. Ein bisschen was hatte sich herumgesprochen seither. Man flüsterte an den Lagerfeuern. Von dem entführten Jungen aus Ranand, von unheimlichen Wesen, von Magie. Wahrscheinlich war mehr davon wahr, als er sich eingestehen wollte.
Jula schluckte Speichel hinunter und kniff das Auge zusammen. Akims linker Arm war bandagiert, leuchtete weithin. Die Gesichtstücher hatte er, entgegen seinen Ratschlägen, abgenommen wie seine Freunde auch. „Übersicht“, hatte der Sumpfmann ihm knapp erklärt. Gillok. Der erste Frâgg, den er je gesehen hatte. Bronzefarben, beneidenswert groß und kräftig. Offenbar litt man in den Sümpfen keinen Hunger.
Jula hatte die Antwort akzeptiert. Er war kein Kämpfer. Doch Akim und seine Gefährten sahen aus, als wüssten sie, was sie erwartete. Sie waren vorbereitet, trugen Kleidung aus weichem Leder, Stiefel, Ringe aus Metall. Die Schienen hatten sie unterwegs ablegen müssen, weil sie so heiß geworden waren, dass sie ihre Arme verbrannten. In ihren Gürteln steckten Klingen aller Art, Seile und Schleudern. Akim hielt den Speer wurfbereit in der Hand, Jonoy den Stab, der Riese ein Schwert. Weitere Waffen befanden sich in verborgenen Taschen, in Sohlen und langen Ärmeln.
Die Knaben trugen nichts. Sie standen hunderte Meter voneinander entfernt, der eine südöstlich des länglichen Tals, der andere nordöstlich, während der kleine Trupp nach Nordwesten marschierte, nach Ki akku ninu hinein, dorthin, wo der Himmel vor drei Jahren geleuchtet hatte.
Almutasam war Kalphons neuer Schatten, begriff Gillok sofort. Der purpurrote Kopf hatte ihn vorschnell verraten, als er neben Tijua aus dem Untergrund hechtete. Trotz des Sandes, der auf jeder Körperstelle zu kleben schien, leuchtete der kahle Schädel weithin. Hautfetzen verunzierten ihn, hingen von der haarlosen Stirn. Die Sonne schälte ihm buchstäblich die Haut vom Kopf, blätterte den Nasenrücken und die Wangen ab. Gillok verstand nicht, wie der Mann noch kämpfen konnte. Die Hitze hätte ihn längst umbringen müssen.
Magische Reserven.
Zuweilen wünschte er sich, er hätte sie ebenfalls. Dann dachte er an Yvain. Der Junge war stiller und stiller geworden in den letzten Tagen, hatte sich von der Welt zurückgezogen, aß und trank nur das Nötigste, schlief kaum. Manchmal hatten sie ihn tragen müssen, weil Schwächeanfälle ihn zusammenbrechen ließen. Zu anderen Zeiten wiederum war er vor ihnen gelaufen, mit ungeduldigen Schritten und diesem Verlangen im Blick. Wie schwer es sein musste, ihr zu trotzen.
Ciycain zuckte durch seinen Kopf und kurz kam er aus dem Takt. Das Messer zischte nur Zentimeter neben seiner Wange vorbei. Frauen widerstehen ihr besser, hatte Elphen behauptet. An den Gedanken klammerte er sich. Ciycain war eine halbe Welt entfernt. Die Zungen der Magie erreichten sie nicht.
Mit neuer Tatkraft trat er Almutasams Klinge beiseite, wich dessen Schlagring aus und beobachtete aus dem Augenwinkel Jonoy und Shesh, die Tijua von zwei Seiten aus angriffen. Sein Blick zuckte zu Ylaiy und Mehlau, die wachsam um Sphita kreiselten, schwenkte zu Kian und Yvain, die in sicherer Entfernung aus dem Sand ragten wie die Wegmarken auf Kânegg. Anschließend schnellte er zurück auf den Kämpfer mit dem verbrannten Kopf und den ungleichen Augen. Eines war schiefergrau, das andere lugte hellsilbern zwischen einem hängenden Lid hervor. Beide glitzerten gefährlich und hoch konzentriert. Gillok wartete, bis Akim Almutasam mit dem Dolch angriff, dann hämmerte er seinen Fußballen auf den eisenharten Oberschenkelmuskel des Mannes.
Almutasam klickte, wich Akims Klinge mit einer Oberkörperdrehung aus und hieb die Ferse in Gilloks linkes Schienbein. Der Sumpfmann schnappte nach Luft und sprang nach hinten. Fluchend rieb er sich das getroffene Bein. Nichts schien gebrochen, aber Blut tränkte seine Hose und Schmerz strahlte bis in Fuß und Oberschenkel, pochte sogar unter der Schädeldecke.
„Seine Stiefel!“, brüllte er Akim zu, der Kalphons neuen Schatten mit kurzen, schnellen Dolchstößen auf Abstand hielt. „Pass auf seine Füße auf! Er hat Klingen in den Stiefeln!“
Akim nickte flüchtig, veränderte den Schlagtakt jedoch nicht. Unablässig griff er den kahlen Mann an, der nicht minder flink auswich und abwehrte. Sobald der Schmerz ein wenig abgeklungen war, fiel Gillok in den wilden Tanz der beiden ein. Er suchte die Pausen zwischen Akims Angriffen, schnellte vor und teilte mit Fäusten und Beil aus, während seine Augen an Almutasams Stiefeln klebten. Die kurzen Klingen, die aus Fußspitzen und Fersen ragten, schnitten in ständig wechselnden Mustern durch die Luft. Mal trat der Tänzer gerade von vorn zu, mal von der Seite, gleich darauf halbmondförmig von außen oder innen. Mal zielten die Schneiden auf Schienbeine und Knie, dann wieder rasten sie auf Lendenhöhe auf ihn zu. Mal richtete er den Fuß auf, einen Herzschlag später drehte er ihn, um mit den Außen- oder Innenkanten zuzutreten. Mal kniete er nieder und beschrieb mit dem gestreckten Bein einen großen Halbkreis, mal wummerte er mit dem Knie zu. Im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern benutzte er die Hände kaum.
Almutasam tanzte. Mit Klingen an den Füßen und ohne die Akrobatik der anderen, dafür stürmisch und in komplizierten Figuren. Gillok und Akim gerieten rasch außer Atem. Bald schon merkte Gillok, wie ihm schwindlig wurde vor Anstrengung und Hitze. Schweiß lief über sein Gesicht, strömte Rücken und Brust hinunter. Dies war ein Gefecht, das sie schnell beenden mussten. Akim schien denselben Gedanken zu haben, denn er erhöhte die Geschwindigkeit. Wie Gillok behielt er die Stiefelklingen im Blick, konzentrierte sich jedoch auf Almutasams Oberkörper. Er zielte auf Brustkorb und Bauchhöhle, hielt den Gegner an den Armen fest oder rammte ihn immer wieder mit der Schulter, um ihn aus dem Rhythmus zu bringen. Lange Minuten wogten sie so hin und her. Salz brannte in Gilloks Augen, trübte die Sicht.
Plötzlich hob Almutasam den Fuß, senkte die Fußspitze aber ab und trat von oben zu. Gillok schrie auf, als die Klinge sich durch das Stiefelleder in seinen Fuß bohrte, und fiel nach hinten. Almutasam setzte mit hochrotem Kopf nach. Seine Beine säbelten durch den Sand, trieben den Sumpfmann vor sich her. Wie eine Krabbe wich Gillok den Tritten aus. Er fühlte, wie der Stiefel sich mit warmem Blut füllte, schmeckte Salz und Sand auf den Lippen, schnaufte vor Anstrengung. Almutasams haarloses Antlitz wuchs in Groteske, verzerrte sich, und Gillok begriff, dass er drohte, ohnmächtig zu werden. Auch die Sümpfe kochten in den heißen Monaten, aber die Hitze hier war trocken und brannte in der Kehle. Sie war ein weiterer Feind, viel erbarmungsloser als Elphen und seine Kämpfer. Mit aller Macht konzentrierte er sich auf das Gesicht des Gegners, auf die zweifarbigen Iriden, die farblosen Brauen und Wimpern.
Akim rettete ihn, indem er dem Tänzer kurzerhand auf den Rücken sprang und die Arme um dessen Hals presste. Blitzschnell ging Almutasam in die Hocke und drückte sich wieder nach oben, donnerte dabei den Kopf gegen Akims Kinn. Akim ließ los und taumelte zurück.
Doch der Augenblick der Ablenkung hatte genügt. Gillok kam auf die Beine, wenngleich das linke bedrohlich schlingerte. Mit beiden Fäusten griff er den Majest’i’ti an. Gleich darauf war Akim wieder heran, warf den Speer zwischen Almutasams Beine, brachte den Kahlkopf ins Schwanken. Gilloks Fußschwert fuhr in die Achselhöhle des Tänzers. Der Seitwärtstritt schmetterte in den Nervendruckpunkt und tötete Almutasam auf der Stelle. Auch Gillok ging mit rasselndem Atem zu Boden. Mit schwindenden Sinnen sah er, dass Sphita, Mehlau und Ylaiy in seine Richtung gerannt kamen, dann brach er zusammen.
Jonoy bemerkte, dass Tijua stetig versuchte, die fahlorange Sonne im Rücken zu haben. Er steuerte gegen, aber letztlich war es wichtiger, sich gegen ihre Angriffe zu verteidigen. Er war alt, steif und focht mit nur einem funktionierenden Arm. Der rechte hing nutzlos herunter, hielt den Stab, der im Augenblick zu wenig mehr nutze war, als Tijua auf Abstand zu halten. Kananans Schlag wirkte immer noch nach. Zwar fühlte er mittlerweile wieder ein Kribbeln, was bedeutete, dass das Gefühl zurückkehrte, doch jede Bewegung schien kraftlos und unkoordiniert. Zum Glück hatte ein Leben als Schmied ihn den Umgang mit beiden Armen gelehrt. Regelmäßig hatte er den Schmiedehammer von einer Faust in die andere gleiten lassen, damit seine Muskeln nicht erlahmten. Und so schlug er einhändig zu, hart und gerade von oben oder vorn. Verzichtete auf Kreiseltechniken und Achterbewegungen. Konzentrierte sich auf Atmung und Herzschlag, achtete darauf, den Stab nicht zu verlieren. Solange er ihn in der Hand hielt, kam Tijua trotz ihrer herausragenden Kampfkünste nicht an ihn heran, zumal Thragesh sie mit Schwert und Kette attackierte. Allerdings keuchte der Zottelbär schlimmer als Ardannas lungenkranke Patienten und aus den hochgesteckten Zöpfen lief Schweiß wie Wasser seine Schläfen hinab.
Auch Tijua schwitzte. Ihr eng am Schädel anliegendes Haar glänzte nass, wellte sich am Hals. Das ärmellose Lederwams quietschte bei jeder Bewegung. Wenn es verrutschte, sah man blutige Striemen, dort, wo sie in die Haut einschnitten. Anders als Shesh schien die Kämpferin Schmerz und Hitzeempfinden jedoch ausschalten zu können, denn ihre Luftsprünge und Ausweichrollen wirkten frisch. Jonoy schielte auf ihre Seite, auf die Stelle, die Adiv mit einem Pfeil durchbohrt hatte. Nichts schien von der Verletzung zurückgeblieben zu sein. Elphens Leibwächterin kämpfte unbelastet.
Die Sonne leuchtete hinter schmutzigorangen Staubschleiern. Gegen ihr Licht sah Jonoy, wie Gillok und sein Gegner fast zeitgleich zu Boden gingen, und sein Herz setzte für zwei Takte aus. Dann rannten Mehlau, Sphita und Ylaiy zu dem Sumpfmann, zogen ihn weg, bedeckten ihn mit feuchten Tüchern, benetzten die Lippen mit Julas Wasser. Sekunden später regte Gillok sich wieder.
Den Göttern sei Dank.
Akim stob, einen Dolch in der Hand, von der Seite heran.
„Nein!“, rief Jonoy ihm in seinem Heimatdialekt zu. „Wartet auf eine günstige Gelegenheit! Und seht euch vor Überraschungen vor!“ Sein Madif war dürftig, aber Akim nickte, zog sich zurück, gab Mehlau und Ylaiy die Anweisungen weiter.
Er sah, wie sie ausschwärmten, dann richtete er alle Sinne wieder auf die farblose Frau mit der Höckernase und den weit auseinanderstehenden Augen. Kurz zuckte ihr Kopf zu Akim und den anderen. Ihr Blick trübte sich dunkel, als sie den Leichnam ihres Kampfgefährten wahrnahm.
„Gebt auf“, wechselte Jonoy in die Reichssprache, wiederholte die Worte in der Sprache der Fraga-í. In der Mundart der Sumpfleute beherrschte er kaum mehr als die drei Dutzend Begriffe, die er von Gillok oder Ciycain aufgeschnappt hatte.
Statt einer Antwort erschien ein Lächeln auf den Wangen Tijuas. Mit einer weiteren Luftrolle sprang sie Sheshs klirrender Kette davon, schraubte sich seitlich in die Höhe und prallte gegen die Seite des Bären. Wenn sie gehofft hatte, den bezopften Mann damit aus dem Gleichgewicht zu bringen, sah sie sich enttäuscht. Thragesh stellte einen Fuß zur Seite aus und wankte nur kurz. Tijua schnalzte verärgert, brachte sich aus Sheshs Reichweite und nahm erneut Jonoy ins Visier.
„Ihr könnt gegen mich gewinnen“, stieß er hervor, während er ihren Schlaghagel mit vorgestrecktem Stab abwehrte. „Gegen Einzelne von uns. Nicht aber gegen uns alle. Nicht gegen die Kinder.“
„Ogala’ban“, grunzte sie und klickte tief in ihrer Kehle.
Ein Signal? Ein Laut der Anstrengung oder der Bestärkung?
Ogala’ban. Götterkinder. Dasselbe Wort, das Pazure gebraucht hatte. Bru Nehegelens Wort.
„Götter kann man nicht töten“, sagte er langsam zu der tänzelnden Frau, beobachtete ihre Finger, zwischen denen kleine Spieße aufgetaucht waren, ihre Beine, die nie still zu stehen schienen.
„Es sei denn, man wird selbst einer oder dient einem“, radebrechte sie in einer Mischung aus Yr und Sumpfsprache.
„Sprecht Ihr von Elphen? Er ist kein Gott!“ Mit einem linken Aufwärtshaken schlug Jonoy ihr gegen die Hände. Zu seinem Erstaunen traf er und eine Serie von Schnalzgeräuschen brandete ihm entgegen.
Sie war wütend.
Gut.
„Er ist nur ein Wurm mit ein bisschen Allerweltsmagie.“
Ihre rechte Hand schnellte vor. Spieße fuhren über seine Wange, rissen Löcher in den Bart. Helle Klickerlaute mischten sich in seinen Aufschrei. Sein Stab zuckte in ihre Richtung und erwischte sie an der Hüfte. Sie drehte sich um die eigene Achse, wischte den Stab beinahe achtlos beiseite.
„Die Kinder wischen mit Elphen Chausselles den Boden auf“, tönte Sheshs Bass durch die Staubschleier, die sich dichter zusammenzuziehen schienen. Die Kette in seiner Faust klirrte, als sie durch die Luft schlingerte.
Tijua duckte sich unter ihr durch, stützte sich auf ihre Hände, schwang ihren Unterkörper herum und schleuderte lang gestreckte Beine gegen Thrageshs Knie. Mit einem Brüllen ließ Yvains ehemaliger Leibwächter die Kette fallen.
„Er wird euch töten“, zischte Tijua drohend.
„Und dann?“, schnaufte Shesh, mit der Faust das Knie umklammernd. „Wenn wir tot sind, hat er nichts in der Hand.“
Tijuas Augen verengten sich. „In der Hand?“, fragte sie, den Kopf zur Seite geneigt.
„Wie will er sie sonst für seine Zwecke einspannen? Gehorchen werden sie ihm nie, Weib. Wir sind ihre Freunde. Ihr macht sie höchstens stinksauer.“
„Sie brauchen euch nicht. Nur die Quelle.“
„Und Elphen braucht die Kinder. Was nun?“
„Ihr sterbt.“
Tijua sprang erneut in die Höhe, täuschte einen Angriff an, tauchte ab und vollführte eine weitere Drehung. Mit ihrem Stiefel fischte sie die Kette aus dem Sand und schleuderte sie in die Luft, fing sie auf und warf sie auf Jonoy. Ihre Augen wurden groß, als Jonoy den Stab kurzerhand in der Mitte auseinanderriss. Die Kette schaukelte zwischen den Kurzstäben hindurch, klirrte gegen Jonoys Brust und pendelte gegen seinen Unterkiefer. Dem Schmied entfuhr ein Stöhnen, doch er schwang bereits die Stabhälften in zwei Achterbewegungen und schlug von beiden Seiten gleichzeitig gegen Tijuas Ohren. Mit einem Schrei riss die Tänzerin die Hände an den Kopf.
„Jetzt!“, brüllte Jonoy und drei Männer reagierten zeitgleich. Sheshs Schwert spaltete Tijuas Hinterkopf der Breite nach, Ylaiys Nadeln bohrten sich in ihren Hals und Akims Dolch segelte in ihren Rücken. Blutüberströmt sackte die Klingentänzerin zu Boden. Sand wirbelte auf, vermischte sich mit den Spiralen und Schleifen der nahenden Wirbelstürme.
Schwerfällig plumpsten Jonoy und Thragesh neben sie. Sphita eilte mit einem Wasserschlauch herbei und entkorkte ihn. „Trinkt. Schnell.“
Gehorsam schluckten die Männer das warme Wasser, äugten erschöpft zu Ylaiy und Mehlau, die mit Gillok in ihrer Mitte heran staksten.
Ylaiy nahm die beiden Stabhälften in die Hand. „Ein Gewinde. Raffiniert. Habt Ihr den Stab auseinandergeschraubt, während Ihr sie gereizt habt?“
„Ein Mann in meinem Alter muss auf Tricks zurückgreifen“, sagte Jonoy und rülpste laut. „Joma Casall mag ein Schwätzer sein, aber er ist ein begnadeter Handwerker.“
Gillok blinzelte durch den Dunst. „Wo stecken Elphen und Kalphon?“ Seine versandete Stimme setzte beim Sprechen immer wieder aus.
„Weit können sie nicht sein“, entgegnete Akim. „Tijua und Almutasam waren ihre Leibwächter. Irgendwo in den Sanden vor uns.“
„Ogala’ban, he?“, schnaufte Shesh.
„Götterkinder“, sagte Jonoy, sich Wasser über die Stirn gießend.
„Halten sie sich dafür? Oder die Kinder?“
„Sowohl als auch“, erwiderte Ylaiy. „Das Wort kommt aus Eurer Sprache, nicht wahr, Gillok?“
Der Sumpfmann trank zwei weitere Schlucke. „Ogala, ja. Wir benutzen es für Tiere. Für ungewöhnlich große Exemplare.“
„Nicht für Götter?“
„Unter den Sumpfleuten sind die Riesen Legenden, für ältere und abergläubische Fraga-í durchaus Tiergötter. Eigentlich sind sie Launen der Natur. Falokk erzählte mir, dass Syras leiblicher Vater an dem Biss von einem Papanayihi starb. Ein Tausendfüßer, giftig, aber normalerweise nicht mehr als eine Wespe oder eine Spinne. Das Gift dieses Exemplars tötete einen ausgewachsenen Mann.“
„Schon wieder Zauberei?“ Mehlau klang verzagt.
Gillok schüttelte den Kopf. „Eine Abnormität. Sie sind höchst selten und leben sehr versteckt. Treffen Jäger auf sie, versuchen sie, einen Kampf zu vermeiden. Wenn ein Gigant stirbt, trauern wir. Mabareoene ließ sich lieber beißen, als das aufgescheuchte Tier zu töten.“
„Ich hätte gewettet, ein Sieg über diese Tiere bringe Ansehen.“ Thragesh fädelte die Kette aus Tijuas erschlaffter Hand und stemmte sich auf die Füße. „Dass man einen Teil ihrer Kraft und Ausdauer gewinnt.“
„Gegen einen Ogala gewinnt man nicht.“
„War Ciycains Wal ein Ogala?“, fragte Ylaiy, dieweil er Jonoys Stab zusammenschraubte und Mehlau half, den Alten auf die Beine zu ziehen.
„Schwer zu sagen. Wale sind oft riesig.“
„Dieser trug vier Kinder.“ Ylaiy schulterte sein Schwert und beugte sich zu Tijua. Als er sah, dass die Nadeln in blutigem Sand vergraben waren, verzichtete er darauf, sie auszugraben, zumal die Zeit drängte. Kians Sturm fegte bereits in waagerechten Böen über abgestumpfte Dünengipfel hinweg und trieb Dunstschleier durch das Tal.
Einige Minuten standen sie schweigend, ratlos und unentschlossen, starrten auf die tote Tänzerin und auf die Sandschwaden, die über den Boden wehten, manchmal geradezu sprangen.
„Es wird lauter“, sagte Mehlau schließlich.
„Und kälter.“ Erstaunt musterte Sphita die Gänsehaut auf ihren Armen.
„Na ja“, brummte Shesh. „Ich habe immer noch das Gefühl, zu verglühen.“ Der zottelige Mann schüttelte sich, dass Schweißtröpfchen nach allen Seiten flogen.
Plötzlich streckte Akim den Finger aus. „Seht dort!“
Angestrengt blinzelten sie gegen die Sandböen an. „Sieht aus, als würde sich etwas formen“, murmelte Ylaiy. „Es weist nach Norden. Nordwesten.“
„Ein Wegweiser“, sagte Akim. „Kian und Yvain zeigen uns den Weg. Dort, wo er endet, liegt die Quelle.“
„Und die Zwillinge, fürchte ich“, fügte Gillok hinzu.
„Dreihundert Meter“, schätzte Ylaiy. „Gehen wir.“
Im Gegensatz zu ihren Untergebenen wühlten Elphen und Kalphon sich nicht aus dem Sand, sondern traten hinter einem der eingesunkenen, verwehten Steine hervor, die man aus der Ferne nicht hatte ausmachen können. Selbst Akims außergewöhnlichem Sehsinn waren sie verborgen geblieben.
„Urdal’thonn“, murmelte er mit tauben Lippen.
Es ergab Sinn. Auf Drahórsul hatte der Steinkreis den Landeplatz des Felsens markiert. Sie waren am Ziel. Vor ihnen lag die Quelle.
Akim musterte den Boden, sah nichts als Sand. Hier kroch sie heraus, die Magie. Er horchte in sich, spürte nach Empfindungen. Urdal’thonn hatte Sorgen und Ängste herauf beschwört, doch hier geschah das nicht, im Gegenteil: Trotz Erschöpfung und Schmerzen fühlte er sich ausgeruht. Bereit. Seine Sinne schärften sich, rückten Elphen und Kalphon messerscharf in den Fokus. Trotzdem nahm er die Umgebung deutlich wahr. Fast war es, als sehe er in alle Richtungen gleichzeitig. Ohne sich umzuschauen, wusste er, dass Kian und Yvain sich in Bewegung gesetzt hatten, dass Jula die Kamele streichelte, um sie zu beruhigen. Er spürte, dass Kians Sturm eine Bresche in die Dünen geschlagen hatte und sich mit Yvains Sandsäule vereinigte. Der Zwillingssturm kappte ganze Dünenspitzen und katapultierte Sand und Geröll durch das Tal.
Elphens und Kalphons Gesichter nahmen stärkere Konturen an. Sie erwarteten ihn und seine Freunde mit unbewegten Mienen. Doch er erkannte rasch, dass die Gelassenheit aufgesetzt war. Vor allem in Kalphons Zügen schwelte unterdrückte Wut.
Akim hielt sich nicht mit Gesprächen oder anderem Vorgeplänkel auf. Sobald er nah genug war, stieß er den Speer ansatzlos aus der Hüfte. Die steinerne Spitze drang seitlich in Kalphons Oberschenkel. Er stürzte hinterher, rammte sie bis zum Schaft hinein, drehte den Speer und riss ihn wieder heraus.
Blut schoss aus der Wunde, färbte das graue Leder dunkel. Kalphon brüllte. Ein zorniges Brüllen, begleitet von Speichelspritzern. Ungestüm und mit gesenktem Kopf stürmte er auf den Fährtenleser zu. Akim ließ den Speer fallen, sprang leichtfüßig zurück und überließ Shesh und Gillok den nächsten Angriff.
Jonoy, Mehlau und Ylaiy indes scharten sich um Elphen, argwöhnisch auf dessen erste Attacke lauernd. Der Anführer der Chausselles bewegte sich nicht, studierte die drei Männer in aller Seelenruhe. Doch in seiner Körperhaltung lag Wachsamkeit.
„Sieh an“, sagte er im Plauderton. „Ihr seid einen weiten Weg gekommen, Kaiser. Lasst Ihr Euern Palast schutzlos zurück, nach allem, was geschehen ist?“
„Er ist nicht schutzlos“, erwiderte Ylaiy ruhig.
„Wer schützt ihn? Die Kämpferin?“
„Welche von ihnen meint Ihr?“
Auf Elphens Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. „Nun denn. Tanzen wir.“
Die Zwillinge waren von unterschiedlichem Wesen. Äußerlich mochten sie sich ähneln, wenngleich Kalphon größer wirkte, eckiger und kantiger. Doch ihr Innerstes konnte ungleicher kaum sein. Ihre Mutter hatte einen Bullen und eine Schlange zur Welt gebracht. Kalphon, der Bulle, kämpfte aggressiv und roh, mit mühsam gezügelten Emotionen. Bedrohlich und gewaltsam trat er auf, aber es war Elphen, dessen gelangweilte Blicke ihr die Eingeweide zusammenzogen.
Es lag an seiner Schläue, begriff Sphita. An der Taktiererei, dem Ränkespiel. Elphen war der Mann, der im Schatten lauerte, der die Fäden zog, der unmenschlicher wirkte. Kein Wurm. Eine Schlange. Ein Reptil, das sich im Gras verbarg, um im rechten Moment zuzubeißen. Gillok schien ihn ähnlich einzuschätzen, denn er glitt zu Ylaiy, Jonoy und Mehlau, überließ den Bullen Shesh und Akim.
Kalphon schwitzte, knirschte mit den Zähnen. Er hatte Akims Speer aufgeklaubt und weit weg in die Sande geschleudert. Auf seinem Antlitz glühte Wut.
War Kalphon der Stier und Elphen die Schlange, so war Shesh der Braunbär der stalephschen Steppen. Riesig und furchteinflößend, mit rollenden Augen und viel Kampfgebrüll, umkreiste er schwertschwingend den Zwilling, ganz offensichtlich bemüht, diesen einzuschüchtern. Vielleicht auch, um sich selbst Mut zu machen.
Sphita kniff die Augen zusammen, einerseits weil Stürme und Düsternis ihre Sicht einschränkten, andererseits, weil Angst sich in ihr türmte. Angst um Yvains Leibwächter, dessen Drohgebärden und urtümliche Kraft es nicht mit Kalphons Meisterschaft aufnehmen konnten. Der ältere Chausselles hatte Thrageshs Schwachstellen nach wenigen Schwertstreichen ausfindig gemacht und verschwendete keine Zeit. Mit einer Serie komplizierter Schlag- und Zugbewegungen entriss er Shesh die Kette, schwang sie in weitem Bogen zurück um dessen Hals, stand plötzlich hinter ihm. Sein Körpergewicht nutzend, hängte er sich an die Kette, zog Thragesh hintenüber.
Der Riese stöhnte, schnappte verzweifelt nach Luft, ließ das Schwert fallen und fasste nach Kalphons Armen. Vergeblich. Auch Kalphon herrschte über beachtliche Kräfte, schnürte Shesh die Atemluft ab, hielt ihn gleichzeitig wie einen menschlichen Schild vor sich.
Entsetzt kreischte sie auf.
Akim kam zu Hilfe, indem er auf Kalphon einprügelte. Dieser ließ den Leibwächter los, trat ihm brachial auf den Brustkorb und wandte sich dem kleineren Mann zu.
Akim verwandelte sich in einen Skorpion. Schnell, wendig, immer wieder zustechend. Rückzug, Angriff, Rückzug, Angriff. Eine Flucht, als Kalphon ihm nachsetzte, gefolgt von einem kurzen Wettrennen und einem Spurt. Dann abruptes Stehenbleiben, Umdrehen, Zustechen, erneute Flucht. Sphita rannte panisch mit ihnen, unsicher, ob sie eingreifen sollte.
Die unermüdlichen Läufe ermüdeten den Wüstenläufer ebenso wie Kalphon. Schließlich beendete Elphen unerwartet den Kampf, indem er Jonoy den Stab aus der Hand trat und ihn mit einem zweiten Fußtritt gegen Akims Rücken katapultierte, sodass dieser auf die Knie stürzte.
Sphita heulte auf. Ohne nachzudenken, sprintete sie zu Akim, der jedoch bereits wieder auf den Beinen war, herumwirbelte und sie heftig wegstieß, bevor er sich duckte und zur Seite sprang, um Kalphons Tritt zu entgehen.
„Bleib weg!“, zischte er Sphita zu und richtete sich halb auf, die Arme abwehrbereit vor den Körper gehoben.
Schnaubend und berauscht vom Kampf griff der Bulle an. Ununterbrochen traktierte er Akims Arme mit wuchtigen Schlägen wie Jonoy, wenn er auf seinen Amboss einhämmerte. Akim federte den Schlaghagel mit zusammengebissenen Zähnen ab. Kalphon tobte sich an ihm aus, schmetterte Hieb um Hieb auf den wankenden Wüstenmann, dessen Gegenwehr erlahmt schien.
Sphita biss sich auf die Lippen. Unhörbar murmelte sie Akims Namen, während Tränen ihre Wangen hinab liefen.
Plötzlich öffnete Akim die Abwehr, tauchte unter den Armen des Bullen hindurch, schmiegte sich an dessen Brust. Fast sah es aus, als umarmte er den Gegner, doch dann griff er auf Hüfthöhe zu und brachte den stämmigen Mann mit einem simplen Hebel zu Fall.
Elphen schnalzte ungehalten, klickte tief in seinem Gaumen.
Sphita jauchzte auf, verstummte jedoch, als eine Windböe sie um ein Haar von den Füßen riss. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Sand sich zu Wehen türmte.
Indes war Akim wie ein Gliederfüßer auf Kalphon gekrabbelt, verhakte seine Beine in denen des Gegners und zog die Knie vom Boden. Damit keilte er Kalphon ein und bekam die Arme frei. Kalphon bockte und bäumte sich auf, aber der Wüstenmann hielt ihn beinahe mühelos unten, derweil er den Oberkörper und Kopf des Zwillings mit den Fäusten bearbeitete.
Elphen wurde unruhig. Die gelangweilte Maske zeigte erste Risse. Immer öfter wanderten seine Augen zu seinem Bruder. Seine Angriffe verstärkten sich, wurden brutaler und schneller. Jonoy traf eine Fußspitze in die deformierte Hüfte, was ihn wie ein Faltmesser zusammenklappen ließ. Ein weiterer Tritt landete unter dem Kinn. Der Schmied kippte in eine der Wehen, die sich um sie herum geformt hatten.
Ylaiy sank ebenso rasch in den aufgewühlten Sand. Sphita bekam nicht einmal mit, was genau ihn niedermähte, aber die Blutfontäne, die aus seinem Körper spritzte, verhieß nichts Gutes.
Zum Glück blieb Gillok auf der Hut. Der Sumpfmann trotzte den Ausfällen des Schlangenmannes, sprang zurück, parierte Schwünge und Tritte, lenkte ihn von Akim ab, lockte ihn von seinem Bruder weg.
Akim ließ mit blutenden Knöcheln vom Gesicht des älteren Chausselles ab, zog den Dolch, riss an Kalphons Schopf, bis die Kehle frei lag, und stach zu. Röchelnd wehrte Kalphon sich weiter, zerrte die Klinge aus dem Hals, während die Schlagader dicke Ströme Blut ins Freie pumpte.
Stirb. Stirb. Stirb.
Unentwegt hämmerten die Worte durch Akims Kopf, pulsierten im Takt des langsamer werdenden Herzens. Er hakte die Finger in Kalphons, riss die Hände herunter, die sich immer wieder auf den Schnitt pressten in dem verzweifelten Bemühen, das Unvermeidbare aufzuhalten.
„Mehta!“ Dasselbe Wort, hervorgestoßen in seiner Muttersprache.
Kalphon röchelte weiter. Seine Beine zuckten. Akim hockte auf ihm, die Finger von Blut besudelt, das Wort zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorwürgend.
Plötzlich prallte ein Körper gegen ihn, schleuderte ihn in den aufgepeitschten Sand.
Elphen.
Ohne nachzudenken, rollte Akim zur Seite und schaute gehetzt um sich. Jonoy am Boden, ein regloses Bündel, an dem die Stürme zerrten. Shesh im Sand, Ylaiy auf den Knien, das Wams zerfetzt von einer verborgenen Klinge, beide Hände auf die blutende Brust gepresst, bleich, selbst in der Düsternis der wogenden Böen. Gillok, ebenfalls auf den Knien, benommen, einen langen Schnitt quer über die Stirn, beigebracht von seinem eigenen Beil, welches jetzt in Elphens linker Faust schwang. Lediglich Mehlau stand noch aufrecht und starrte mit weit aufgerissenen Augen den Anführer der Tänzer an, währenddessen Sphita aufgeregt um sie herum rannte. Elphen hatte sie niedergemäht, einen nach dem anderen, ohne große Anstrengung, mit wenig mehr als einem Fingerschnipsen.
Akims Blicke zuckten zu Kian und Yvain. Der wirbelnde Sand ließ die Sicht verschwimmen, riss an Kleidung und Haaren, aber er sah, dass sie näher rückten, winzige Gestalten im tosenden Zwillingssturm.
„Was wollt Ihr?“, schrie er Elphen entgegen. Der Wind klaubte die Worte von der Zunge und trug sie davon.
Elphen sackte an der Seite seines in Todeskrämpfen zuckenden Bruders zusammen und nahm dessen Hand.
„Akim! Bring ihn um! Bring es zu Ende!“, hörte er Sphitas sich überschlagende Stimme.
Er schmeckte Blut. Blut und Sand. Erstaunt tastete er nach seiner Stirn, spürte eine Wunde, die Kalphon ihm irgendwann beigebracht haben musste, fühlte jählings, dass ein Auge zugeschwollen war und Schmerzen in seinem Gesicht wummerten. Sie hatte recht. Er musste angreifen, so lange Elphen angreifbar war.
Mühsam kam er auf die Beine, kämpfte gegen die Böen an, die um ihn pfiffen und fauchten. Sand wirbelte gegen ihn, schmirgelte über seine Haut, hobelte über seine Kleidung. Neue Dünen ragten um ihn auf, Sandverwehungen, die größer waren als Julas Kamele. Den einäugigen Greis hatte der Sturm verschluckt.
„Haltet durch, Jula“, raspelte er. Seine Kehle loderte. Sand hatte sie aufgeschürft und Hitze sie verbrannt.
Elphen sah ihm entgegen. Durch das Tosen hindurch vernahm Akim ein einsames Gaumenklicken, gefolgt von einer Aneinanderreihung von Schnalzgeräuschen und einer undeutlichen Armbewegung. Dann lag Kalphon endlich still.
Elphen und Akim verharrten in ihren Bewegungen.
„Was nun?“, krächzte Akim.
Elphen reagierte nicht.
Akim machte eine einladende Geste. „Die Quelle liegt zu Euren Füßen. Bedient Euch. Nun gehört sie Euch allein.“
Elphen starrte ihn ausdruckslos an.
„Euer Bruder ist für sie gestorben. Eure Schatten. Eure Tänzer. Sie sind alle tot. Was nun? Erklärt es mir. Was nun?“
Sand regnete auf sie wie seinerzeit der Schnee auf Drahórsul. Große, schwere Flocken, weich wie Asche, durchmischt mit spitzen Steinen.
Akim trat einen Schritt näher. „Sie lässt sich nicht trinken, sie lässt sich nicht essen. Spürt Ihr sie? Ich kann sie spüren.“
Elphens Blick zuckte kurz und bohrte sich dann unter Akims Haut.
„Sie schärft meine Sinne, befeuert meinen Kampfverstand. Aber ich kann sie nicht aus der Quelle schöpfen wie Wasser. Ihre Dosis nicht kontrollieren. Oder wie ich sie einsetze. Genauso wenig wie Ihr.“
„Sie können es.“ Seine Stimme klang weich, beinahe samtig. Keine Spur der gezügelten Gewalt hallte in ihr nach.
„Aí. Die Kinder sind Magie. Unbezwingbar, außer von Maji selbst.“
„Ogala’ban. Sie kontrollieren sie. Stellt Euch vor, was sie mit ihr bewirken könnten.“
„Nein. Denn sie endet heute.“
„Gutes, kahet.“ Eindringlich sprach Elphen nun, die rauchgrauen Iriden in Akims Augen versenkt. „Wir könnten dies Land fruchtbar machen. Stellt es Euch vor. Gras über dem Sand, Felder statt Geröll. Bäume. Bäche. Wasser. Stellt Euch das Wasser vor.“
Gillok erhob seine vor Schmerz angespannte Stimme. „Und dann? Wollt Ihr das Land besiedeln? In Frieden mit den Madif und den anderen Stämmen leben? Ihr seid Soldat, kein Bauer.“
„Niemand muss mehr sterben.“
„Die Kinder werden es“, sagte Gillok. „Die Magie macht sie zu Monstren, bevor sie sie umbringt. Euch. Alle, die in ihrer Nähe bleiben. Magie bewirkt nichts Gutes. Nichts, was von Dauer wäre.“
„Ich lasse Euch am Leben. Den Kaiser. Den Wüstenläufer. Wir zusammen schaffen es.“ Wie zum Beweis drehte er sich um und warf Gilloks Beil in die Hügel hinter sich, hob anschließend die unbewaffneten Hände.
Ylaiy richtete sich halb auf, stützte sich schwer atmend auf sein Schwert. „Kians Bruder, Ciycains Vater und mich, Yvains Vetter. Ihr seid berechnend, aber auch berechenbar. Ihr glaubt, Euch gelingt, was dem Norogdún nicht gelang: den Willen der Kinder zu brechen.“
„Ich will ihn nicht brechen. Ich will nicht ihr Herr sein.“
„Das werdet Ihr nicht“, bestätigte Akim. „Denn es endet hier.“
Aus dem Stillstand heraus sprang er auf Elphen zu. Schneller als ein Gedanke schraubte der Tänzer sich in die Höhe und stürzte sich frontal auf Akim, hebelte diesen über die Schulter. Akim landete seitlich auf dem Boden. Im selben Augenblick rammte Elphen ein Knie in seine Rippen und raubte ihm damit den Atem. Alles um ihn flimmerte. Sand, schwarz wie die Nacht, aufgewühlt aus tiefsten Erdschichten, prasselte auf ihn. Stöhnend wälzte er sich herum, streckte die Arme gegen Elphen aus, versuchte, den Kopf zu schützen.
Ylaiys Schwert schwirrte durch die flirrende Schwärze auf sie zu, verfehlte. Mehlau stieß Sphita beiseite, fegte die Klinge aus dem Sand und schwang sie gegen Elphen. Dieser beugte sich blitzartig zurück. Der Stahl zerschnitt Zentimeter über seinem Gesicht die aufgeladene Luft. Elphen sprang zur Seite und trat Mehlau in die Kniekehle, sodass dessen Bein einknickte. Mit einem weiteren flinken Schritt war er bei dem Gesellen und setzte zu einer Serie schneller Fingerknöchelschläge auf Mehlaus Schwertarm an. Als Mehlau das Schwert aufjaulend fallen ließ, fing er es auf, drehte es spielerisch in der Hand und rammte dem Lehrling den Schwertknauf unter das Kinn.
Sphita schrie auf.
Mehlau röchelte, riss beide Hände vor die Kehle, wobei nur der linke Arm ihm wirklich gehorchte.
„Lasst ab und Ihr dürft leben“, sagte Elphen leise.
Mehlau holte mit dem unverletzten Arm zu einem kraftlosen Schlag aus. Mühelos schnappte Elphen nach seinen Fingern und verbog sie, bis der Geselle wimmernd in die Knie ging.
„Lasst ihn los!“, schrie Sphita, rannte zu Elphen und versetzte ihm einen Faustschlag auf das Ohr.
Mit einer einzigen ruckartigen Bewegung brach Elphen Mehlaus Finger. Einen Herzschlag später fasste er Sphita um die Hüften und riss sie an sich.
Die Welle kam aus dem Nichts, zerschnitt Sphitas Kreischen und die benommenen Versuche der Männer, ihr zu Hilfe zu eilen. Sie brandete heran wie eine Springflut. Ein Gebilde aus Sand, massiv wie eine steinerne Wand. Unzählige Körnchen, zusammengepresst, geformt von der Magie, schwarz wie die Nacht, konturenlos, riesig wie die Wüste selbst, glühend vor Hitze. Sie fegte über sie hinweg wie eine feurige Woge und begrub sie unter sich.
„Ich glaube, Ihr habt Euch Euer Feierabendbier verdient.“ Ardanna ließ ihren Blick über die wenigen Patienten im Saal kreisen. „Keine neuen Fälle seit gestern Abend. Zwei Männer mit verdorbenem Magen im Sonnensaal, vier Leichtverletzte hier. Die Pfleger und ich haben das im Griff. Ihr könnt getrost gehen, Vouker.“
„Ich trinke keinen Alkohol“, erwiderte der junge Arzt etwas steif.
„Dann genießt Ihr Euren Tee.“ Behutsam schob Ardanna ihn in den Gang. „Ihr habt lange genug gearbeitet. Auch Heiler brauchen Pausen. Geht aus! Wenn Ihr stets nur hier herum hockt, findet Ihr nie Freunde.“
Vouker rümpfte die Nase.
„Na los! Perth hat gemütliche Schenken. Genau richtig für verregnete Nachmittage. In manchen wird musiziert.“
Der schlanke Mann verzog so erschrocken das Gesicht, dass Ardanna auflachte. „Oder Ihr zieht Euch mit Euren Studien in ruhigere Wirtsstuben zurück. Nur geht unter Leute. Kranke sind auf Dauer kein guter Umgang.“
„Habt Ihr über meine Bitte nachgedacht?“
„Das habe ich. Der Kaiser ist noch auf Reisen, aber das Anschreiben habe ich bereits verfasst. Ich überreiche es ihm, sobald er zurück ist. Versprochen.“
Nervös knetete er seine langen Finger. „Wie habt Ihr Euch entschieden?“
Ardanna lächelte. „Ich kann einen Assistenten wie Euch gut gebrauchen. Ich denke, ich werde Euch weiter ausbilden.“
„Das ist ... danke.“
„Dankt mir nicht zu früh. Ich verlange viel und zahle wenig. Unterkunft, Essen, ein Taschengeld. Zugang zu all meinen Schriften.“
„Das ist mehr als genug. Und die Arbeit scheue ich nicht.“
„Das weiß ich. Ihr habt es hinlänglich bewiesen. Jetzt muss Ylaiy Euch nur offiziell aus seinen Diensten entlassen. Das ist eine reine Formalität. Sorgt Euch nicht. Geht feiern.“
„Seid Ihr sicher? Jemand könnte ...“
„Ich schaffe das. Geht schon. Ich bin mit Adiv und Chries zu einem Spaziergang verabredet.“
„So heilt ihre Wunde?“
„Sehr gut sogar. Sie ist robust.“
„Eure Freunde sind Kampfwunden gewohnt.“ Hinter der Feststellung lauerte eine Frage. Neugier blitzte aus den tief liegenden Augen des Mannes.
„Leider“, erwiderte Ardanna knapp und komplimentierte ihn mit einem Lächeln Richtung Saaltür.
Sie winkte ihren Patienten, als der Saal jählings verlief wie Farben über ein Gemälde. Grelle Lichter zuckten vor ihren Augen, dann flockten schwarze Kreise am Rand ihres Sichtfeldes auf. Sie spürte noch, wie ihre Beine nachgaben, nicht mehr aber, wie sie inmitten des Ganges aufschlug.
Als sie zu sich kam, sah sie Voukers besorgtes Gesicht nah vor ihrem.
„Was ist passiert?“, flüsterte sie und setzte sich mit seiner Hilfe auf.
Er schob sie gegen ein Bettgestell und nahm ihr Handgelenk, um nach dem Puls zu tasten. „Ihr wurdet ohnmächtig. Habt Ihr Euch wehgetan?“
„Ich weiß nicht“, stieß sie verstört hervor. „Meine Hand schmerzt, glaube ich.“
„Euer Herzschlag ist immer noch niedrig, aber er normalisiert sich. Die Hand scheint nur verstaucht. Ich lege Euch einen Verband an.“
„Lasst nur. Das kann ich allein. Ich möchte nur einen Moment sitzen.“
„Ist alles in Ordnung mit ihr?“, rief einer der Patienten vom Bett aus. „Braucht sie Hilfe?“
„Nein, schon gut“, dankte Ardanna. „Nur ein kleiner Schwächeanfall. Er ist gleich vorüber.“
„Schwächeanfall“, murmelte Vouker. „Seid Ihr sicher? Letzthin lief es recht ruhig hier.“
„Ich schlafe nicht so gut, seit Sphita verschwunden ist.“
„Appetitlosigkeit? Ihr habt an Gewicht verloren.“
„Auch.“
„Das könnte eine Erklärung sein“, befand der Heiler.
„Bestimmt. Könnt Ihr Adiv und Chries holen? Sie warten auf mich. Bis sie hier sind, bin ich wieder auf den Beinen.“
„Ihr seid ziemlich blass. Was ist, wenn Euch erneut schwindlig wird?“
„Es gibt ja genug freie Betten.“ Sie lächelte ihm zu. „Bitte?“
Er sah sie lange durchdringend an, dann erhob er sich und verschwand.
Ardanna erwartete das Paar auf einem der Betten sitzend.
„Geht es Euch gut?“, rief Adiv schon von Weitem. Sie hatte sich bei Chries untergehakt, bewegte sich jedoch ohne Mühe.
Robust, dachte Ardanna, Adivs gesunde Gesichtsfarbe musternd. Dank Kian?
„Ein wenig wackelig vielleicht noch, doch das wird vergehen.“
„Schwächeanfall, behauptet Vouker“, sagte Adiv, als sie bei ihrer Ziehmutter anlangte und sich neben ihr niederließ, indes Chries sich vor den beiden Frauen aufbaute.
„Lassen wir ihn in dem Glauben.“
Chries runzelte die Stirn. „Wie meint Ihr das?“
„Magie“, antwortete Adiv für die Heilerin. „Habe ich recht?“
„So fühlt es sich an. Etwas ist weg.“ Ardanna klang verzagt.
„Heißt das, sie haben es geschafft? Die Quelle ist tot?“ Hastig stieß Adiv die Worte aus, zwang sich zu einem Flüstern.
„Ich hoffe es. Ja, ich denke ... ja.“
Adiv hob die Hände zum Mund. „Das ist ... gut!“
„Es fühlt sich nur nicht gut an.“
„Das geht vorüber. Denkt nur: Das bedeutet, dass sie zurückkehren. Bestimmt haben sie Sphita dabei! Eineinhalb Wochen, zwei. Dann sind sie hier. Freut Ihr Euch nicht?“
Die dunkelhaarige Frau hockte auf dem Bett und sah Adiv aus Augen an, die in ihrem blassen Gesicht wie tiefe Brunnen wirkten. „Doch. Aber ich habe auch Angst. Kehren sie alle zurück? Ist Sphita bei ihnen?“
„Geht nicht vom Schlimmsten aus“, riet Chries.
Ardanna versuchte ein Lächeln. „Ihr habt recht. Wir werden jedes Zimmer herrichten.“
Adiv hielt sie fest, als sie aufstehen wollte. „He! Ohne Sphita kommen sie auf keinen Fall zurück, das wisst Ihr. Sie werden jedes Sandkorn umdrehen, bis sie sie gefunden haben.“
Ardanna zog die Nase hoch. Tränen hingen in ihren Wimpern. „Ja. Der Magieverlust macht mich wohl trübsinnig. Aber eins schwöre ich: Nie wieder lasse ich mein Kind allein losziehen.“
„Das ist gut“, meinte Adiv. „Dann haben wir eine Heilerin dabei, wenn wir die letzte Quelle verschließen. Die Najimi. Fangt schon einmal an zu trainieren. Ihr werdet viel laufen müssen, in Wind und Wetter. Starten wir doch gleich jetzt mit einem schönen Spaziergang in kaltem Nieselregen.“
Im Spätherbst hatte es eine Überschwemmung gegeben. Bäche hatten sich in Flüsse verwandelt, Flüsse in Ströme, die das Deltaland überfluteten. Er erinnerte sich, wie das Wasser an den Stelzen gerüttelt und die Hütten knarzend geschwankt hatten. Wie die kleineren Boote auf den Ozean gespült wurden, wilde Schweine und Rotwild, vor Panik quiekend und blökend, an Grulorh vorbeigekreiselt waren. Wie Baumstämme sich an den Stelzen verkeilt und Menschen in den Tod gerissen hatten. Er erinnerte sich, wie er mit Freunden auf dem Dach einer Hütte gesessen und auf die Strudel hinunter gestarrt hatte, auf die Kieselsteine und kleineren Tiere, die in ihnen getrieben waren.
Jetzt, Jahrzehnte später, purzelte er über den Boden wie die Kiesel damals im Sog des Hochwassers. Die Sturmflut erfasste ihn und trieb ihn meterweit durch das Tal. Orientierungslos trudelte er in alle Richtungen, während zentnerschwere Sandmassen über ihn rauschten, ihm die Kleider halb vom Leib saugten, ihm Ohren, Nase, Mund und Augen verstopften.
Aller Sinne beraubt, blieb er schließlich liegen. Der ganze Spuk hatte kaum länger als einige Sekunden gedauert und doch schien es, als wäre ein Erdzeitalter vergangen, als er mühsam den Kopf hob und in die Sonne blinzelte, die gleißend vom Himmel strahlte. Er schüttelte den Kopf. Sand rieselte aus Haaren und Ohren. Flockig. Leicht. Wie eine warme Decke. Eine Decke, die ihn vor Sekunden beinahe erdrückt hätte.
Er lauschte. Stille, bis auf den Gesang der Dünen. Frieden. Dann das Getrappel sandalenbewehrter Füße. Jemand rannte auf ihn zu.
So schnell er konnte, wälzte er sich auf die Seite, drückte sich vom Boden hoch, fasste nach seiner Waffe, fand keine.
„Ich bin es“, hörte er Julas knarzende Altmännerstimme in schwer verständlichem Akzent.
Dunkle Füße und ein Kleidersaum schoben sich in sein Blickfeld, dann fühlte er Julas knorrige Hand um den Oberarm. „Trinkt“, forderte ihn der Karawanenbesitzer auf und hielt ihm einen Lederschlauch hin.
Gillok drückte ihn beiseite und sah sich um. „Was ist mit den anderen?“
„Liegen verstreut.“
„Leben sie?“ Stechender Schmerz fuhr durch seinen Fuß, als er aufstand, verdrängte das dumpfe Taubheitsgefühl im Rest seines Körpers.
Jula verkorkte den Schlauch wieder. „Sehen wir nach.“
Gillok riss die Augen auf, als er die Umgebung wahrnahm. Jula und er standen in einem Krater. Einem Krater, der vorhin noch nicht existiert hatte. In seiner Mitte erhob sich ein Berg aus rotem und schwarzem Sand, größer als die Riesendünen ringsum. „Waren das Kian und Yvain?“
Jula nickte. „Zwei Stürme. Zwei Ungeheuer, die sich vereinigten. Ich habe es gesehen! Aller Sand stieg vom Boden in die Luft, vermengte sich mit den Stürmen. Die Welle reichte bis zum Himmel.“
„Hat sie die Quelle begraben?“
„Was denkt Ihr?“
Gillok betrachtete den Berg und nickte. „Was ist mit den Jungen?“
„Sie fielen in sich zusammen, nachdem sie die Stürme losgelassen hatten wie wütende Hunde, die man von der Leine lässt. Sie leben. Ich gab ihnen Wasser und Schutz vor der Sonne.“
„Die Magie schützt sie nicht mehr“, begriff Gillok. „Ihr seid ein guter Mensch, Jula. Habt Dank.“
„Dankt mir später. Eure Freunde brauchen unsere Hilfe.“
Sie schwärmten aus.
Gillok klaubte Ylaiy aus dem Sand. Der Kaiser hielt sich die blutende Bauchwunde. Gillok nahm sie genauer in Augenschein und empfahl Ylaiy, sie mit Wasser zu spülen und fest zu verbinden. Schwach nickte Ylaiy und schleppte sich zu Akim, den Jula aufgestöbert hatte. Auch Akims Kleidung war verrutscht, teilweise zerrissen; sein Gesicht, besonders das linke Auge, stark geschwollen.
Shesh und Jonoy schlugen sie sanft auf die Wangen, bis sie zu sich kamen. Bis auf die Benommenheit wirkten sie unverletzt, klagten lediglich über unbestimmte Schmerzen. Nach einigen Schlucken Wasser klarten ihre Augen sichtlich auf.
„Wo sind Mehlau und Sphita?“, fragte Jonoy und leckte sich die Lippen.
„Und Elphen?“, fügte Ylaiy hinzu, der mit Julas Hilfe sein verrutschtes Tuch um sein sonnenverbranntes Gesicht wand.
Gillok sah fragend zu Akim, der mit den Achseln zuckte. „Mein Auge ist zu. Überall klebt Sand. Ich sehe so viel wie Ihr.“
Shesh rappelte sich auf. „Lasst uns nachschauen, Sumpfmann.“
„Seid auf der Hut.“ Gillok wischte sich Blut von der Stirn und humpelte nach links, während Shesh nach rechts ging.
Sie fanden Mehlau am Fuße des neu entstandenen Berges und zerrten ihn ans Tageslicht. Gillok goss Wasser über ihn und schüttelte ihn sacht. Der Lehrling blutete aus mehreren Kopfwunden und begann zu schreien und um sich zu schlagen, sobald seine Sinne zurückkehrten.
„Die Welle. Die Welle. Sie hat sie mitgenommen. Mitgenommen.“ Die Worte wieder und wieder murmelnd, sackte er in sich zusammen und weinte, bis Jonoy bei ihm anlangte und ihn in den Arm nahm. „Die Welle. Sie sind weg. Die Welle hat sie verschluckt.“
„Scht. Beruhige dich.“
„Die Sandwelle hat sie weggespült. Elphen und Sphita. Wie ... wie Treibgut. Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, als die Welle kam. Ich habe es versucht. Aber der Sturm ... und der Sand ...“
„Du warst sehr tapfer“, beschwichtigte Jonoy. „Niemand hätte es verhindern können. Die Welle hat uns alle besiegt.“
Der Geselle schluckte, spuckte aus, verrieb Sand, Tränen, Speichel und Blut auf seinem Gesicht.
Jonoy nahm Mehlaus Hände in seine. „Scht. Mehlau. Hör auf. Hör auf. Beruhige dich.“
Nur langsam drangen die Worte in Mehlaus Geist. Es dauerte Minuten, bis er still lag und zuließ, dass Gillok seine Augen mit Wasser spülte und Tropfen in seinen Mund träufelte. Dann fasste er nach Gilloks Hand. „Sie ist weg.“
„Wir werden sie suchen“, versicherte ihm Gillok.
„Elphen hat sie.“
„Wir werden auch ihn finden.“
„Sphita ...“
„Wir werden sie suchen.“
„Wann?“
„Bald.“
„Jetzt“, drängte Mehlau. „Elphen wird ihr wehtun.“
Gillok tauschte einen Blick mit Jonoy. „Es kann dauern, sie zu finden.“
„Sie sind auf der Welle geschwommen. Ich habe sie gesehen. Die Welle trug sie dorthin.“ Mehlaus Finger wies nach Nordosten.
Gillok erhob sich. „Dann gehen wir nach dort.“
„Schnell.“
„Ylaiy und Akim sind verletzt“, sagte Jonoy sanft. „Wir müssen uns erst um sie kümmern. Um die Jungen. Und um dich.“
„Mir geht es gut.“
„Deine Finger sind gebrochen.“
„So?“ Überrascht musterte der Geselle seine Hand.
„Und dein Kopf blutet, Mehlau.“
„Was?“ Er betastete sein verschwitztes, sandiges Haar, spürte dickflüssige Feuchtigkeit.
„Jomas Widerhaken, wie es aussieht“, erklärte Jonoy. „Elphen hat sie in deinen Kopf gerammt, als du Sphita befreien wolltest. Deshalb müssen wir dich versorgen. Wir alle müssen uns ausruhen, unsere Wunden behandeln, zu Kräften kommen, sonst bringt uns die Wüste um. Wir werden Sphita suchen, ich verspreche es dir, aber noch nicht jetzt.“
„Ihr glaubt, sie ist schon tot.“ Stumpf starrte Mehlau den Sumpfmann an.
„Ich hoffe und bete, dass sie es nicht ist.“
Ein Schatten schob sich über sie. „Ich suche sie. Jetzt gleich.“
„Shesh“, sagte Jonoy. „Geh nicht allein. Warte auf uns.“
„Mir geht es gut. Kümmert ihr euch um die Verletzten. Ich gehe das Mädchen suchen. Nordosten. Weit kann sie nicht sein.“
Der Saum von Julas Gewand raschelte, als er zu seinem Lieblingskamel ging. Sanft blies er Parud in die Nüstern und streichelte ihn, bevor er angespitzte Pflöcke aus den Satteltaschen zog. Er rammte sie in den Sand, kreuzte sie miteinander, wickelte ein Bastseil von einem der anderen Kamele, spannte es zwischen die Dreieckskonstruktionen. Aus weiteren Taschen wühlte er Gewänder, Tücher und Decken und hängte sie über die Pfähle und das Seil. Ein Zelt entstand, wenig mehr als ein Sonnenschutz. Jula ließ die schmalen Seiten offen, hatte sie so ausgerichtet, dass der Wind durch den Unterschlupf wehte. Anschließend ging er zu Kian, der teilnahmslos und mit glanzlosen Augen im Sand saß. Jula hob ihn auf seine Arme, trug ihn ins Zelt, legte ihn nieder und streichelte seine Wange. Kian drehte sich stumm zur Seite.
„Schlafe“, sagte Jula zärtlich zu ihm.
Jonoy beobachtete den einäugigen Alten, eine Hand auf der Brust des erschöpften Lehrlings. „Komm“, sagte er und half Mehlau hoch. Gemeinsam staksten sie zu Jula.
Gillok trug Yvain zu ihnen. War Kians dunkle Haut so grau und fleckig wie Asche, so glänzte Yvains wachsfarben. Eine Kerze, erloschen, stumpf, verbrannt. Der Sumpfmann bettete ihn neben Kian. Yvain blieb auf dem Rücken liegen und starrte an das Zeltdach. Keiner der Jungen reagierte, weder als sie sie ansprachen, noch als Jula ihnen Wasser auf die rissigen Lippen spritzte, noch als Gillok sie vorsichtig drehte, um nach Verletzungen zu suchen.
„Was ist mit ihnen?“, fragte Jula flüsternd.
„Erschöpfung“, erklärte Gillok. „Das Zaubern hat sie überanstrengt.“
„Außerdem hat die Magie sie verlassen.“ Akim war zu ihnen getreten, gebeugt wie ein alter Mann. Seine geschwollenen Lippen ließen ihn undeutlich sprechen. „Syra und Ardanna erlebten Ähnliches, nachdem die Kloake verstopft war. Sie spüren es körperlich und geistig.“
„Ardanna war in Perth, weit weg von der Boragha“, wandte Gillok ein.
„Dennoch. Kian und Yvain besitzen ein Vielfaches ihrer Magie und standen neben der Quelle. Ein Wunder, dass sie noch leben.“ Wogen der Entkräftung liefen über Akims Körper.
„Setz dich lieber auch hin“, riet Gillok.
„Setzt euch beide hin“, knarzte Jula. „Wenn Ihr Euch nicht um Euern Fuß kümmert, entzündet er sich.“
„Wenn ich mich setze, stehe ich so schnell nicht wieder auf“, seufzte Gillok. „Und Shesh braucht vielleicht unsere Hilfe.“
„So könnt Ihr ihm auch nicht helfen“, meldete sich Jonoy aus dem Unterstand zu Wort. „Ruht euch aus, alle beide. Ich kann gehen.“
„Gehen muss niemand“, entgegnete Jula. „Wir nehmen die Kamele, aber erst, wenn alle versorgt sind. Setzt Euch hin, Sumpfmann, und zieht Euern Stiefel aus.“
Während Gillok und Akim neben Mehlau in den Schatten plumpsten, rutschte Kian näher an Yvain und streckte die Finger aus. Kalt und schlaff berührten sich ihre Hände.
Die Welle spülte sie zurück an den Rand des Großen Tals.
Sandkörner schabten über ihre Haut, rissen sie auf, drangen in alle Körperöffnungen. Als die Woge sie schließlich gegen eine Düne schlug, schmerzten dutzende Wunden gleichzeitig. Nach Luft ringend, rutschten sie die Düne hinunter und blieben an ihrem Fuße liegen, indes Sand von oben auf sie rieselte.
Elphen bewegte sich zuerst, öffnete die Augen und sah das Mädchen, griff nach ihr und zog sie zu sich. Danach verlor er das Bewusstsein.
Er kam wieder zu sich, als sie strampelnd versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien. Sofort spürte er, wie gelenkig und kraftvoll ihr schlanker Körper war, und fasste sie fester. „Sachte“, warnte er. „Sonst muss ich dir wehtun.“
„Lasst mich los.“
„Ich lasse dich los“, versprach er. „Aber denke nicht an Flucht.“
„Wo soll ich denn hin?“ Verängstigt sah sie sich um. Er folgte ihrem Blick. Sandmeer überall.
„Hast du Wasser?“, fragte er.
„Nein.“
Langsam richtete er sich auf. „Dann komm.“
„Was habt Ihr vor?“
„Wir laufen.“
„Wohin?“
„Nach Osten.“
„Wo ist das?“
„Hast du nicht gelernt, dich an der Sonne zu orientieren?“
Benommen taumelte Sphita hinter ihm her. „Warum nach Osten?“
„Weil dort Staleph liegt. Wir folgen der Küste südostwärts bis ans Meer, setzen über nach Kânegg, gehen wieder an den Ufern entlang, bis wir das Südmeer erreichen.“
„Zur letzten Quelle?“
„Du hast von ihr gehört.“
„Sie liegt auf einer verbotenen Insel. Niemand gelangt dorthin.“
„Man gelangt überall hin, wenn man den Willen dazu hat.“
„Ich möchte nach Hause.“
„Dann sei schön brav.“
„Aber ...“
Elphen beugte sich zu ihr hinunter. Sein Gesicht war verschrammt und sonnenverbrannt, doch die rauchgrauen Augen betrachteten sie gleichgültig. „Deine Tränen berühren mich nicht, Kind.“
„Ich heiße Sphita.“
Er legte den Kopf schief. „Ein schöner Name. Ich werde ihn in Erinnerung behalten.“
„Was wollt Ihr mit mir? Ich halte Euch nur auf.“
„Ein Mädchen, das den weiten Weg von Perth zurückgelegt hat? Nein, ich glaube nicht. Zeig mir deine Arme.“
„Nein!“
Ungerührt packte er sie an beiden Ellenbogen. „Kräftig, so wie deine Beine. Du bist es nicht gewohnt im Sand zu laufen, so wenig wie ich, aber du bewegst dich geschickt. Gleichgewicht, gut. Bist du eine Kämpferin?“
„Ich tanze nur.“
„Eine Tänzerin.“ Zum ersten Mal flackerte so etwas wie Interesse in seinen Augen auf. „Möchtest du eine Kämpferin sein? Eine kahet? Ich kann dich viel lehren.“
„Nein. Ich möchte nach Hause. Bitte.“ Erneut fing sie an zu weinen.
Elphen setzte sich in Bewegung, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Sie dachte nicht eine Sekunde daran, ihm nicht zu folgen. „Wir müssen Wasser besorgen. Bis zur nächsten Oase sind wir verdurstet, also müssen wir schlau sein. In der Wüste wächst eine Pflanze, deren Wasser wir trinken können. Eine seltsame Pflanze mit Stacheln und breiigen Blättern. Wenn wir keine finden, müssen wir unseren Urin trinken.“
„Woher wisst Ihr so viel über die Welt? Ich hörte, Ihr wuchst unter der Erde auf. Im Gefängnis.“
„Ich hatte Lehrer. Schriften.“
„So könnt Ihr lesen?“
„Überrascht dich das?“
„Nun ... ja. Nicht viele Leute können das.“
„Du kannst es. Natürlich ist deine Mutter die Najimi. Eine gelehrte Frau.“
„Sie ist nicht gelehrt, nur schlau.“
„Mehr als das. Sie ist weise.“
„Ihr sprecht sehr respektvoll von ihr.“
„Weshalb sollte ich das nicht?“
„Weil Ihr gemeinhin das Leben nicht respektiert. Ihr habt unschuldige Kinder getötet, Adiv überfallen, Syriakin gefoltert, meine Mutter bedroht. Ihr habt den Kaiseringemahl umgebracht und viele andere Menschen.“
Er stoppte und drehte sich zu ihr um. „So hältst du mich für ein Monstrum?“
Sphita fror ein und musterte ihn furchtsam. Er wartete mit unbewegtem Gesicht. „Ja“, sagte sie schließlich mit allem Trotz, den sie aufbringen konnte. „Ihr seid ein Monstrum. Schlimmer als der Blaukopf, von dem Adiv mir erzählte.“
Er schüttelte den Kopf und stapfte wieder los. „Das würdest du nicht sagen, wärst du auf ihn getroffen.“
„Dann genauso schlimm.“
„Mag sein, ja.“
„Stört es Euch nicht, ein Monster zu sein?“
„Die Welt ist voller Monster. Die meisten tarnen sich als gewöhnliche Menschen. - Komm. Dort hinten ist eine von den hässlichen Wüstenzwiebeln. Sie wird uns Wasser geben, sogar Nahrung. Wir brauchen Kraft für den langen Weg.“
Ruckartig blieb Sphita stehen. „Ich werde nicht mitgehen.“
Elphen versetzte ihr eine schallende Ohrfeige, die sie in den Sand warf und aufschreien ließ. „Ich werde an der Pflanze warten. Wenn du nicht nachkommst, finde ich dich. Dann trinke ich dein Blut.“
Sie erbleichte und hielt sich die brennende Wange. Ihr Kopf dröhnte von dem Schlag, doch instinktiv wusste sie, dass er nur mit einem Bruchteil seiner Kraft zugeschlagen hatte. Und sie wusste, dass er keine leeren Drohungen aussprach.
Die Wüstenzwiebel entpuppte sich als mannshohe Pflanze mit vier meterlangen Blättern, die sich selbst wie verdurstet über den Boden schlängelten. Mit einem grifflosen Messer schlug Elphen die verwelkten Teile ab, spaltete die frischen längs in Hälften und saugte an ihnen. Anschließend aß er sie.
Sphita zögerte, folgte dann jedoch seinem Beispiel, und wurde überrascht. Tatsächlich rann Wasser ihre Kehle hinunter und das Pflanzenmark schmeckte erfrischend. Elphen und sie vertilgten alle essbaren Stücke der Pflanze, bis Sphita das Gefühl hatte, zu platzen.
„Wer weiß, wann wir wieder etwas kriegen“, sagte Elphen. „Und denk daran, deinen Urin aufzufangen.“
„Wie denn?“
„Nimm dein Kopftuch.“
„Das ist eklig.“
„Sterben ist nicht schöner.“
„Ich weiß, ich habe es oft genug gesehen. Zuletzt bei Eurem Bruder.“
Als er diesmal auf sie zu kam, wich sie erschrocken zurück. Dabei stolperte sie über ihre eigenen Füße und landete auf dem Hosenboden.
„Erwähne ihn nie wieder, hast du verstanden?“ Seine Maske hatte Risse bekommen. Deutlich sah sie die Trauer hinter der Wut.
Eingeschüchtert nickte sie.
Er blitzte sie düster an und setzte sich in Bewegung, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sphita rappelte sich auf und sah sich um. Sandberge, zwischen ihnen vor Hitze wabernde Ebenen. Menschenleeres, ödes Land. Heimweh und Furcht wallten in ihr auf und sie presste die Lippen aufeinander. Sie war diesem Mann ausgeliefert, so weit weg von Zuhause und getrennt von ihren Begleitern.
Mama, dachte sie, während ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog und ihre Kehle sich mit einem Kloß verschloss. Tränen liefen über ihre Wangen, als sie sich daran machte, Elphen Chausselles durch die endlosen Dünen zu folgen.
Die Falle schnappte dicht über dem Knöchel in Elphens Bein. An seiner Stelle schrie Sphita auf. Elphen schaute eher verwundert auf die Drähte und Nägel, die seinen Stiefel einklemmten. Als der Sand neben ihm sich hob und ein Drahtnetz sich über ihn senkte, hatte er die Fessel bereits mit dem anderen Fuß abgetreten und die heftlose Klinge gezogen.
Syriakin war schneller über ihm als der Wüstensturm. Ihre Handkanten hagelten gegen seinen Kopf und Oberkörper; ein Ausbruch von so urtümlicher Gewalt, dass er in die Knie ging und sich zusammenrollte. Sie prügelte auf ihn ein, bearbeitete ihn mit Fäusten und Stiefeln, ließ erst von ihm ab, als er erschlaffte und der Dolch aus seiner Hand glitt.
Sphita betrachtete das Blut, das neben seinem Kopf im Sand versickerte. „Ist er tot?“, fragte sie und kam zögernd näher.
Syriakin hob die Hand. „Bleib zurück.“
„Er rührt sich nicht mehr. Ihr habt ihn besiegt.“
„Bleib zurück.“
„Wo kommt Ihr her? Seid Ihr uns gefolgt?“
„Ich sah die Welle. Dann sah ich euch.“
„Ihr habt Euch eingegraben und hier gewartet?“
„Ihr gingt Richtung Osten. Das hier ist der beste Weg.“ Syriakin beugte sich vornüber und schluckte angestrengt.
„Wieso? Hier sieht alles gleich aus.“
Langsam richtete die Sumpffrau sich wieder auf und wies auf einen Sandberg zu ihrer Linken. „Das hier ist die höchste Düne im Umkreis. Hoch genug, um Schatten zu spenden, und auf dem Weg nach Osten.“
„Schatten? Ihr seht ziemlich verbrannt aus.“
„Ich musste meine Spuren verwischen. Hast du Wasser?“
„Nein. Habt Ihr Durst? Ihr klingt durstig.“
Ohne eine Erwiderung ging Syriakin mit vorsichtigen Schritten um Elphen herum und wischte den grifflosen Dolch mit dem Fuß außer Reichweite. Der Tänzer lag wie ein Neugeborenes im Sand, den Kopf zwischen den Armen, die Beine an den Leib gezogen. Er rührte sich nicht.
„Ihr könnt nach einer Wüstenzwiebel Ausschau halten. Oder Ihr könntet Euren Urin trinken“, schlug Sphita vor.
Syriakin ließ Elphen nicht aus den Augen, während sie ihre trockenen Lippen leckte. „Urin hilft nicht.“
„Wieso nicht?“
„Er macht noch durstiger. Die Salze, denke ich.“
Angeekelt verzog Sphita das Gesicht, bevor sie erneut Elphen musterte. „Lasst Ihr ihn hier liegen?“
„Mal sehen.“ Ansatzlos trat die Kriegerin gegen Elphens Rücken. Er rutschte schlaff nach vorn, gab jedoch keinen Laut von sich.
„Passt auf. Er ist ein Monster. Ein Schlangenmensch.“
„Ich weiß.“ Wachsam zog Syriakin ihren eigenen Dolch und griff nach dem Drahtnetz.
„Erstecht ihn durch das Netz.“
„Das Geflecht ist zu dicht“, murmelte die Sumpffrau und zog das Netz von Elphen, während Sphita angespannt die Luft anhielt. Sie entlud sich in einem grellen Aufschrei, als Elphen mit blutüberströmtem Gesicht aufsprang, Syriakin den Dolch aus der Hand drosch und ihr einen Hieb unter das Kinn versetzte, der sie rückwärts schleuderte. Anstatt ihr jedoch nachzusetzen, hechtete er zu Sphita. Das Mädchen zappelte, schlug und trat nach ihm, aber alle Gegenwehr erlahmte, als er eine Hand um ihre Kehle legte und zudrückte.
Indes war Syriakin mit einer Rückwärtsrolle wieder auf die Beine gelangt und stürmte auf ihn zu. Er hielt ihr Sphita entgegen. „Nur zu, Frau.“
Abrupt stoppte sie. „Lasst sie gehen.“
Elphen schnalzte lächelnd und bohrte Sphita den Fingerknöchel in einen Rückenwirbel. Das Mädchen schrie auf und verrenkte sich.
„Sie ist keine Gefahr“, sagte Syriakin.
„Weil sie jung ist? Ein Kind noch? Seid nicht naiv.“
„Ich bin kein Kind“, murmelte Sphita, starrte jedoch weiterhin verängstigt zu Syriakin.
„Sie ist keine Kämpferin.“
„Nein. Sie ist eine Tänzerin.“
„Das ist nicht dasselbe.“
Elphen legte den Kopf schief und musterte die Kriegerin. „Furcht macht viele Menschen zu Hasen. Manche macht sie zu Wölfen. Man weiß nie, was man vor sich hat, bis man ihnen im Kampf gegenübersteht.“
„Sie ist ein Kind.“
„Das ändert nichts.“
„Verschont sie. Ich gehe mit Euch. Schickt sie zurück.“
„Damit Ihr mich im Schlaf meuchelt? Nein, danke.“
Sie hielt ihm ihre Hände entgegen. „So fesselt mich.“
„Ihr seid mir zu gefährlich. Sie habe ich unter Kontrolle.“
„Ich kenne den Weg auf die Rauchinsel.“
Er lachte auf. „Ich auch.“
„Meine Tochter wird Euch verschonen, wenn ich bei Euch bin.“
Elphens rauchgraue Augen färbten sich eine Spur dunkler. „Wisst Ihr, wo sie ist?“
Sie zuckte mit keiner Wimper. „Auf dem Weg. Sie wird uns finden.“
Elphen dachte nach. „Nein. Ich traue Euch nicht. Ihr seid zu gerissen.“
„Dann lasst uns um sie kämpfen.“
„Um Sphita?“ Er ließ den Namen über die Zunge rollen.
„Ja.“
„Ihr bittet mich um einen Kampf, kahet?“
Syriakins Blick wanderte über das Mädchen. „Ich bitte Euch.“
„Zu welchen Bedingungen? Niemals wärt Ihr so dumm, ihr Schicksal von einem Sieg abhängig zu machen. Also?“
„Sie erhält einen Vorsprung.“
„Je länger Ihr durchhaltet, desto weiter kommt sie? Desto größer wird ihre Chance, zu ihren Freunden zurückzukehren? Meint Ihr, ich würde ihr nicht nachsetzen, wenn sie weit genug weg ist?“
Syriakin erwiderte nichts.
Elphen schürzte nachdenklich die Lippen. Schließlich schnalzte er. „Sie ist frei.“
Sphita stolperte, als er sie von sich stieß, und schaute unsicher zu Syriakin. „Heißt das, ich kann gehen?“
„Du bist frei“, wiederholte Elphen. „Geh, bevor ich meine Meinung ändere.“
„Syriakin?“, wandte das Mädchen sich an die Kriegerin.
„Geh“, befahl diese. „Folge euren Spuren, solange sie noch da sind. Geh zurück nach Westen.“
„Westen?“
„Dorthin, wo die Sonne untergeht“, sagte Syriakin mit leichter Ungeduld in der Stimme. „Beeile dich.“
„Nein. Nicht ohne Euch. Er …“
„Geh“, schnitt Syriakin dem Mädchen das Wort ab.
„Lasst sie mit mir gehen“, flehte Sphita Elphen an. „Lasst uns einfach zurück.“
„Nein. Deine Freundin und ich werden kämpfen. Du musst nicht sehen, wie ich sie töte. Wie findest du das?“
Sphita sagte nichts, verharrte weiterhin unentschlossen.
„Geh“, wiederholte die Kriegerin. „Lass deine Mutter nie wieder so zurück.“
„Löscht ihn aus“, flüsterte Sphita und stob davon.
„Ihr tragt Metallringe“, lächelte Elphen, sobald das Mädchen verschwunden war. „Habt Ihr die Wintermonate gut genutzt?“
„Das werden wir sehen.“
„Eure Geschmeidigkeit ist zurück, Eure Kraft gewachsen. Euer Anblick gefällt mir. Ein Jammer, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen und Ihr kurz vor dem Verdursten seid. Glaubt Ihr, Ihr haltet durch?“
In Angriffsstellung gehend, streckte sie die Hände aus. „Spielt Ihr auf Zeit?“
„Durst, Hitze und kaum mehr Magie. Ihr müsst Euch ausgehöhlt fühlen.“
„Sorgt Euch lieber um Euch selbst.“
„Weshalb habt Ihr mich nicht aus der Ferne getötet? Hattet Ihr Angst, das Kind zu treffen? Verwirrt die Sonne bereits Euren Blick?“
„Ihr habt mir einen Kampf versprochen. Damals im Kerker.“
Elphen lachte auf. „Ich habe Euch auch versprochen, dass Ihr schreien würdet. Nun denn.“
Noch während er die letzten Worte sprach, zuckten seine Hände hinter dem Rücken hervor und verwandelten sich in die Krallen eines Adlers. Mit unbewegtem Gesicht strömte er auf sie zu und deckte ihre Körpermitte mit einem Schlaghagel ein. Den meisten Schlägen konnte sie ausweichen oder sie abwehren, aber die Treffer schmerzten. Punktgenau rammten die ausgestellten Fingerknöchel auf Bizeps und Ellenbeuge. Die Hiebe brachten sie nicht in Lebensgefahr, doch über kurz oder lang würden ihre Arme ertauben. Seine Hände mochten klein sein für einen Mann, aber in seinen Fingern und Unterarmen steckte enorme Kraft. Er verließ sich auf sie, auf Fauststöße, äußere und innere Handkanten, Handballen, Daumen und Fingerspitzen.
Sie ließ sich fallen, hebelte ihn aus und trampelte auf die Wunde, die die Falle hinterlassen hatte. Dann rollte sie zwischen seinen Beinen hindurch, trat ihm von hinten in die Kniekehlen und anschließend in die Hoden. Er schrie genauso wenig wie sie, aber er schnappte hörbar nach Luft, fluchte und hangelte nach ihren Fußgelenken, zog sie ruckartig nach vorn. Sie donnerte ihm ihre Fäuste zwischen die Beine, wand sich aus seinem Griff und schlängelte sich davon.
Er hielt sich den Unterleib und lachte leise, dieweil sie sich auf die Beine brachte. „Vergeltung für den Kerker?“, fragte er und zog die Nase hoch. „Es schmerzt wie die Hölle.“
Sie schnellte heran, wich den Handkanten aus, drehte sich um ihn und hämmerte ihm die Faust in Höhe der Nieren gegen den Rücken. Zischend bückte er sich und hebelte sie über seine Hüfte, lag plötzlich schwer auf ihr. Sofort schmetterte sie ihm die Elle gegen den Kehlkopf und verstärkte den Druck mit der anderen Hand. Als Elphen mit einem hustenden Geräusch zurückzuckte, rutschte sie halb unter ihm hervor und zwängte ihr Knie zwischen ihn und sich. Mit ungestümen Bewegungen kam sie schließlich frei und verpasste ihm mit der Stiefelkante einen Tritt gegen den Kiefer.
Während er benommen nach hinten sank, rannte sie um ihn herum und hämmerte ihr Schienbein gegen seinen Hinterkopf, bevor sie zurückwich und sich vornüber beugte. Rasselnde Laute drangen aus ihrer Kehle. Ihr Brustkorb hob und senkte sich heftig.
„Syra!“ Ihr Kopf ruckte hoch.
Thragesh kam über die Sande zu ihnen gerannt.
„Nein!“ Der Befehl kroch als heiseres Krächzen von ihren Lippen.
„Haltet durch!“ Die tiefe Stimme des Leibwächters überwand die Distanz mühelos.
Flirrend schaufelte Shesh sich Meter um Meter heran, so unscharf, dass sie beinahe an eine Halluzination glaubte. Sie sammelte alle Kraft und hetzte zurück zu Elphen, der blutend und benommen im Sand hockte, schwer angeschlagen, aber nicht besiegt. Sie erreichte ihn vor Shesh, schlug ihm aufs Handgelenk, anschließend gegen die Hüfte, wusste, dass sie gut getroffen hatte, dass Bein und Hand kribbeln und ihm nicht gehorchen würden.
„Das Schulterblatt fehlt noch, Frau“, sagte er, blutige Zähne fletschend. „Der Trizeps. Und natürlich das Knie. Wie geht es deinem?“
Seine andere Hand schoss vor und schloss sich um ihr rechtes Knie. Beißender Schmerz jagte durch ihr Bein und trieb ihr Tränen in die Augen, als er den Druck verstärkte und das Gelenk verdrehte. Stöhnend wehrte sie seine Versuche ab, sie auf seinen Schoß zu zerren, um sie als Schild gegen den bulligen Leibwächter zu benutzen. Sie strampelte, boxte, stach nach seinen Augen, kam jedoch gegen die eisernen Finger nicht an.
Dann war Shesh heran, zog sie ruckartig aus Elphens Griff und schleuderte sie aus der Reichweite seiner Arme.
„Nein“, raspelte sie, als Elphen die Klinge von unten in Sheshs Nabel rammte.
Ihre Hand flog an ihren Gürtel. Leer.
„Bastard“, sagte sie zu Elphen, der keuchend den erstarrten Leibwächter von sich schob, bevor er unsicher auf die Beine kam und sie von oben musterte.
„Wir nennen es unentschieden.“
„Nein.“ Sie drückte sich vom Boden hoch. „Wir beenden das.“
Mit dem blutigen Dolch wies er auf den Bären. „Er oder ich. Du kannst ihn noch retten.“
Ihr Blick irrte zu Shesh, flackerte leicht, kehrte zu Elphen zurück. „Vorher töte ich dich.“
„Nicht heute.“
Beinahe gelassen erwartete er ihren Ansturm. Einen Lidschlag, bevor sie ihn erreichte, bückte er sich und wirbelte ihr Sand in die Augen. Zeitgleich hebelte er sie über seine Hüfte und trat nach ihrem Kopf, sobald sie am Boden lag, traf ihre Arme, die sie instinktiv hochgezogen hatte. Ein, zwei rasche Griffe an ihren Gürtel, dann hielt er ein Messer und einige Widerhaken in der Hand.
„Bis bald“, flüsterte er. Im nächsten Moment verschwand er hinter den Dünen.
Mit tränenden Augen robbte Syriakin zu Shesh. Sie ertastete nur wenig Blut, lediglich eine kleine Einstichstelle, aber sie wusste, dass die Wunde lebensbedrohlich war.
Den riesigen Mann aufzuheben, erwies sich als unmöglich. Sie schaffte es, ihn an einem Arm ein paar Meter zu ziehen, dann fiel sie neben ihm in den Sand. „Shesh“, murmelte sie. „Ich gehe die anderen holen. Du musst durchhalten. Ich komme zurück.“
Der Bär antwortete nicht. Sie konnte sein Gesicht schlecht sehen, strich über die bärtige Wange. „Es tut mir leid. Du hättest nicht kommen sollen. Ich hatte ihn doch.“
Bevor Kummer sie niederzwingen konnte, stemmte sie sich hoch, tastete im Sand nach ihrem verlorenen Dolch, ihrem Beutel, fand nichts. Ohne Stichwaffen und ohne Ausrüstung machte sie sich auf den Weg nach Westen. Nach zwei Meilen brach sie zusammen.
Julas Leitkamel schnaubte und schnupperte am Sand. Mit hämmerndem Kopf sprang Akim von dem Tier.
„Shao“, sagte er, die Arme ausbreitend. „Oye do! Geh weg! Nicht! Nicht weiter!“
Parud prustete erneut und gehorchte. Brav blieb er stehen, tänzelnd auf breiten Sohlen. „So ist es gut“, brummte Akim. Er legte die Hand auf die Flanke und schob das Kamel sanft von dem Sandhaufen fort. „Shao. Geh. Geh.“
Anschließend kniete er nieder und begann, sie aus dem Boden zu wühlen. Sie lag auf der Seite. Sand war gegen sie geweht, hatte sie halb begraben. Doch sie atmete und murmelte undeutliche Worte.
„Syra“, rief er, drehte sie auf den Rücken, bürstete Sand von ihrem Gesicht, klopfte ihr auf die verbrannten Wangen. „Komm schon! Syra! Wach auf!“
Sie kam schnell zu sich und spuckte Sand aus. Erleichtert registrierte Akim, dass sie zwar desorientiert und benommen, ansonsten aber unversehrt schien; begriff, dass keine Kampfverletzung, sondern Durst und Hitze sie bezwungen hatten.
„Hier.“ Er half ihr mit einer Hand hoch, während er mit der anderen den Trinkschlauch vom Gürtel befreite. Gierig riss sie ihm den Schlauch aus den Fingern, entkorkte ihn mit seiner Hilfe, hielt ihn an ihre Lippen und stürzte das Wasser hinunter, ohne zwischendurch Luft zu holen.
„Langsam“, befahl er. „Kleine Schlucke. Sonst erbrichst du sofort alles wieder. Langsam. Es ist genug da.“
Gehorsam zwang sie sich zu kleinen, kontrollierten Schlucken. Als sie die Arme hob, um sich Wasser über den Kopf zu gießen, zuckte sie merklich zusammen.
„Nackensteife“, diagnostizierte Akim. „Anzeichen von Überhitzung.“ Er trat an das Kamel, zog ein langes, weißes Tuch aus der Satteltasche und schlang es in komplizierten Mustern um Syriakins Kopf und Gesicht, bis sie aussah wie eine Wüstenbewohnerin. „Das war dumm“, sagte er zu ihr. „Ohne Kopfbedeckung riskierst du in der Wüste schnell den Tod.“
„Ich hatte ein Tuch“, raspelte sie heiser. „Es ging im Sturm verloren. Und mein Beutel liegt irgendwo in diesem verfluchten Sand.“
„Du hast die Stürme überstanden.“
„Hab mich eingegraben. Ich habe noch nie so viel Sand geschluckt. Er ist überall. In meinen Stiefeln, selbst in meinem Leibband.“ Mit grimmigem Ausdruck spülte sie ihren Mund aus.
Akim musste lachen. Ihr Gesicht glänzte trotz seiner natürlichen Bräune rot, sie litt an Dehydrierung und einem mächtigen Sonnenstich, aber sie schien sich bereits zu erholen. „Trink, bevor du noch mehr austrocknest. Bist du verletzt?“
„Nichts Ernstes. Was ist mit dir? Du siehst aus, als wärst du gegen eine Wand gerannt.“
„Kalphons Fäuste. Mein Schädel brummt ordentlich.“
„Meiner auch.“
„Du bist ganz schön vom Weg abgekommen. Deine Fußspuren sehen aus, als wärst du in Spiralen gelaufen. Zum Glück fand dich das Kamel. Ich habe nicht mehr viel gesehen.“
„Richte dem Kamel meinen Dank aus.“
„Es wiegt zehnmal mehr als du und hätte dich leicht zertrampeln können.“
„Dann danke ihm doppelt.“
„Dreifach.“ Er nahm ihr den Schlauch aus der Hand und zog sie auf die Beine. „Es wird uns zurück zu den anderen tragen.“
„Ich kann laufen.“
Müde starrte er sie an. „Kamel.“
„Es sieht noch unbequemer aus als ein Pferd.“
„Du musst dich nur festhalten, besonders beim Aufsteigen.“
„Shesh ...?“, hob sie an, brachte die Frage jedoch nicht heraus. Er senkte den Kopf und schüttelte ihn.
Jula und Sphita kamen ihnen mit Wasserschläuchen entgegen, warteten, bis Parud grunzend in die Knie gegangen war, halfen Akim hinunter, stützten ihn, führten ihn unter ein Deckenzelt. Syriakin beobachtete, wie er sich im Schatten des Zeltes auf den Boden plumpsen ließ, schwang ein Bein über den vorderen Höcker und rutschte steif in den Sand.
Gillok kam barfuß und mit Kopfverband auf sie zugewankt, schloss sie in die Arme, dass ihr die Luft wegblieb und küsste sie, erst auf die Stirn, dann auf den Mund.
„Als Sphita kam und erzählte, du seist hier, dachte ich, sie fantasiert. Akim war schneller als ich gerüstet. Verzeih.“
Sie sank gegen ihn. „Gill.“
„Geht es dir gut?“, murmelte er in ihr Kopftuch.
„Shesh ist tot.“
Statt einer Antwort zog er sie noch enger an sich.
Sie schmiegte sich an seinen Hals. „Elphen ist geflohen.“
Er schob sie von sich und betrachtete sie. „Was wird er tun?“
„M‘tuauoa.“
„Was soll er dort? Allein?“
Matt hob sie die Schultern. „Der letzte Sieg, der ihm bleibt.“
Gillok schüttelte den Kopf. „Zuerst kehren wir zurück nach Hause. Wir alle brauchen eine Atempause.“
„Er ist verletzt. Wenn wir zu lang warten, schöpft er neue Kräfte.“
„Syra.“
„Sie war noch nicht da, als ich aufbrach“, sagte sie mit belegter Stimme.
„Sie lebt. Und seit heute ist ihr Leben ein wenig sicherer geworden.“
„Glaubst du, Nou ist bei ihr?“
„Ja. Vielleicht sind sie inzwischen in Perth. Wir holen Shesh, bringen Sphita zu Ardanna, helfen Ylaiy dabei, zu seiner Familie zurückzukehren und das Reich zu regieren. Wir schaffen Mehlau und die Kinder in Sicherheit. Den Rest machen wir ohne sie. Akim, Jonoy, du und ich.“
„Nicht Akim. Er ist zu jung. Sie sterben zu jung.“
„Er ist erwachsen. Ein Krieger wie du. Er hat Kalphon getötet. Und Frukte. Er ist anders als Mannero oder Ivson.“
„Auch anders als Videm und Shesh?“
„Hat er das nicht längst bewiesen? - Los jetzt.“ Sacht schob er sie von sich. „Zieh dich um. Diese Wüstengewänder sind viel bequemer und luftiger als unsere Kleidung.“
Der Regen schien nie wieder enden zu wollen. Trübsinnig wie das Wetter selbst saßen Adiv und Chries in Igras Küchenecke, zwei Becher dampfenden Tees vor sich. Als es an der Vordertür wummerte, blinzelten sie sich an und sprangen auf.
In der Haupthalle trafen sie auf Ardanna, die ihnen einen nervösen Blick zuwarf, bevor sie die Tür öffnete.
„Oh Kaa sei Dank“, stieß Adiv, die Hände auf ihr Herz gepresst, aus.
Sphita trat zuerst auf die Schwelle. Ardanna riss sie in ihre Arme, als wolle sie sie nie wieder loslassen. Chries hörte, wie Ardannas Emotionen sich sämtlich gleichzeitig entluden: Erleichterung, Schmerz, Ärger, Sorge. „Oje“, murmelte er und schob Mutter und Tochter behutsam aus dem Eingang, um die anderen einzulassen.
Adiv umarmte alle der Reihe nach: Akim, dessen Gesicht Spuren zahlreicher Faustschläge aufwies, Jonoy, der sich stärker als früher auf seinen Stock stützte, Mehlau, der blass und dünn hinter ihm aufragte, Kian und Yvain, die verhärmt wirkten, Ylaiy und Gillok, die beide hinkten, und Syriakin, die ihre Umarmung steif erwiderte. Dann kam Igra herbeigeeilt und stieß ein freudiges Flennen aus.
Ardanna gab ihre Tochter frei, die gleich darauf von den fleischigen Armen der Köchin erdrückt und von ihr hin und her gewiegt wurde wie ein Boot auf hohem Seegang. Anschließend warf sie sich auf Syriakin und drückte dieser einen schmatzenden Kuss auf die Wange. „Ich wusste, dass Ihr sie findet. Habt Dank!“
„Dankt nicht mir“, wehrte die Sumpffrau die aufgeregte Köchin ab. „Yvain fand sie.“
Mit einem Quieken fuhr Igra zu dem Jungen herum und stockte, als sie ihn genauer ansah. „Was ist mit deinem Haar?“
Schlagartig verstummten die anderen.
„Weiß“, quetschte Yvain heraus.
„Schock?“, fragte Ardanna, trat zu Yvain und strich zärtlich über dessen Wange.
„Anzunehmen“, sagte Ylaiy mit matter Stimme.
„Was noch?“
„Zitteranfälle, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen“, zählte Ylaiy auf. „Panikattacken und Schweißausbrüche, Stimmungsschwankungen. Von melancholisch bis zu Tode betrübt.“
„Reaktionen auf das Erlebte.“
„Zuerst mussten sie Magie wirken. Unmengen Magie. Dann verschwand sie schlagartig aus ihnen.“
Ardanna nickte zu Ylaiys Worten und zog Yvain und Kian in ihre Arme. „Ruht euch aus. Ich habe ein gemeinsames Zimmer herrichten lassen. Igra bringt euch eine Kleinigkeit zu essen. Ich schaue nachher nach euch.“ Sie sah Igra bittend an, die nickte und an jede Hand einen Jungen nahm.
„Sie sind nicht weiter gewachsen“, bemerkte Ardanna, sobald die Kinder außer Hörweite waren.
„Nein“, bestätigte Ylaiy. „Abgesehen von Yvains Haar gibt es keine körperlichen Veränderungen.“
„Immerhin das.“
„Ja. Langzeitfolgen kann natürlich niemand abschätzen.“
„Hoffen wir das Beste. Und jetzt kommt endlich herein.“
„Wo ist Shesh?“, fragte Adiv, die die Tür schließen wollte.
Erneut verstummten alle.
„Auf dem Weg nach Yruish“, sagte Ylaiy schließlich leise, indes Sphita aufschluchzte. „Er hat es nicht geschafft.“
„Was?“ Erbleichend taumelte Adiv gegen Chries.
„Er bekommt ein feierliches Begräbnis mit allen Ehren. Wir beerdigen seine Asche auf dem Soldatenfriedhof.“
„Oh nein“, schniefte Adiv.
„Das war der nächste Schock, vor allem für Yvain“, murmelte Jonoy betreten.
„Für die Kinder ist an dieser Stelle Schluss“, beschloss Ardanna mit einer energischen Handbewegung. „Mehr verkraften sie nicht. Sie bleiben bei mir und Vouker. Ihr müsst ihn freigeben, Ylaiy. Er wird hier gebraucht.“
„Wie Ihr wünscht“, stammelte Ylaiy überrumpelt. „Doch dürfte ich jetzt um einen Stuhl bitten? Ich fühle mich ein wenig wackelig auf den Beinen.“
„Martila und Warmuth zeigen euch eure Räume. Meldet euch bei ihnen, wenn es euch an etwas fehlt oder ihr medizinische Hilfe benötigt. Wir treffen uns am besten in ein paar Stunden zu einem Abendmahl.“
„Besser morgen früh.“ Jonoy gähnte ungeniert. „Wir sind so müde, dass wir im Stehen einschlafen.“
„Dann ziehen Sphita und ich uns jetzt für eine Weile zurück. Wir haben eine Menge zu bereden.“ Ardanna stupste das Mädchen an. „Du darfst in meinem Bett schlafen. Leg dich schon einmal hin.“
Sphita zog die Nase hoch, nickte und schlich in den Seitenflügel. Jonoy, Mehlau und Akim verabschiedeten sich und stiefelten die Treppe empor, gefolgt von Ylaiy, der sich steif und vorsichtig bewegte. Gillok und Syriakin blieben bei Ardanna stehen und sahen sie an.
„Sie ist nicht zurückgekommen“, sagte diese auf die stumme Frage hin fast entschuldigend, woraufhin beide sich abwandten und auf die Lippen bissen. Gillok legte den Kopf in den Nacken und atmete langsam aus, Syriakin verschränkte die Arme vor der Brust.
Als Gillok den Kopf wieder sinken ließ, wirkte er gealtert. Niedergeschlagen sah er Syriakin an und berührte ihre Schulter. „Ich ... verzeih“, entschuldigte er sich und strebte der Haustür zu, die hinter ihm ins Schloss fiel.
Chries drückte Adiv einen Kuss auf die Stirn. „Ich bleibe wohl besser in seiner Nähe.“ Erneut klapperte die Tür.
Ardanna und Adiv kreisten Syriakin ein, die mit leerem Blick auf die Tür starrte.
„Sie kommt zurück“, sagte Ardanna. „Ihr müsst daran glauben.“
„Die Jungen spüren sie nicht mehr.“
„Das bedeutet nicht, dass es Ciycain schlecht geht.“
„Elphen ist entkommen.“
„Was?“, stieß Adiv aus.
„Er wird nach ihr suchen.“
„Soll er doch! Ciycain ist viel zu schlau für ihn. Sie kennt die Sümpfe und das Wasser. Niemals wird er sie finden.“
„Er täuscht und blendet. Wer weiß, welche Tricks er gebraucht.“ Die Sumpffrau brach ab, kniff sich in die Nasenwurzel und rieb ihre Augen.
„Kopfschmerzen?“, erkundigte sich Adiv.
Syriakin wandte sich ab. „Ich gehe schlafen.“
„Syra.“ Ardanna hielt sie zurück. „Ich muss Euch noch danken.“
Aber Syriakin schüttelte sie ab und ließ die beiden Frauen stehen.
Entgeistert sah Adiv ihre Ziehmutter an. „Hat sie gerade geweint?“
„Wir müssen auf sie aufpassen.“
„Steht sie auch unter Schock?“
„Zumindest ist sie nicht weit davon entfernt. Ihre Magie schwindet ebenso. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Dazu die Sorge um Ciycain, all das Erlebte.“
„Sie wird nicht hierbleiben.“
„Ich weiß.“ Ardanna straffte sich. „Sie ging Sphita suchen. Jetzt bin ich wohl an der Reihe.“
„Wollt Ihr Ciycain suchen?“
„Ich werde auf Syra achtgeben, während sie sie sucht.“
„Das macht sonst Gillok.“
„Gillok ist genauso mitgenommen. Ich werde sie begleiten. Du passt auf Sphita auf.“
„Oh nein. Ich komme auf jeden Fall mit.“
„Adiv ...“
„Nein!“
„Du kannst nicht mit!“
„Es geht mir gut!“
Ardanna wollte erneut aufbegehren, winkte dann jedoch resigniert ab. „Morgen. Jetzt muss ich zu meinem Kind.“
Leise öffnete Ardanna die Tür zu ihren Gemächern. Als ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, machte sie ihre Tochter aus, die mit dem Gesicht zur Wand unter der Decke lag. Vorhin hatte sie überwältigt wahrgenommen, dass Sphita dabei war, sich zu einer jungen Frau zu entwickeln; jetzt sah sie ein Kind, das in einem viel zu großen Bett lag.
An Sphitas Atmung erkannte sie, dass sie nicht schlief.
„Du bist noch wach“, stellte sie fest, rutschte hinter ihre Tochter und legte einen Arm um sie. Sphita hatte ihren Zopf gelöst. Ihr Haar kitzelte sie unter der Nase. Es roch nach Schweiß und Regen.
„Es ist kaum erst Abend“, sagte Sphita. „Zu früh zum Schlafen.“
„Wenn man genügend erschöpft ist, kann man immer und überall schlafen. Es sei denn, der Geist arbeitet.“ Ardanna wartete kurz. Als keine Reaktion kam, fuhr sie fort: „Arbeitet dein Geist?“
„Könntest du bitte einmal nicht die Heilerin sein?“
„Ich kann nicht nicht deine Mutter sein. Was beschäftigt dich?“
Sphita lachte auf. Ein galliges Lachen, das Ardanna im Herzen wehtat. „Wo soll ich denn anfangen?“
„Fang einfach an.“
„Es sind so viele Dinge, sie drücken mir die Luft ab.“
„Du bist weggegangen. Heimlich. Fang damit an.“
„Es hatte nichts mit dir zu tun.“
„Ich weiß. Dennoch.“
„Es war schwer, schwerer, als ich dachte. Nicht die Entbehrungen, sondern das Alleinsein. Das Heimweh.“
„Dir hätte sonst etwas passieren können.“
„Tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht. Ich wollte nur ... helfen. Etwas tun. Alle anderen haben eine Aufgabe, nur ich sitze hier herum, schrubbe Kochtöpfe und wechsele Bettlaken.“
„Wie genau wolltest du helfen?“
Sphita zuckte die Achseln. „Kämpfen. Alle kämpfen doch. Aber ich war nur im Weg.“
„Das glaube ich nicht.“
„Sie haben mich beschützt. Immer. Nach hinten geschoben, aus dem Kampf geschickt, mir jemanden an die Seite gestellt. Als wäre ich ein Kind.“
„Du bist ein Kind.“
„Nein!“ Heftig fuhr Sphita herum und blitzte ihre Mutter an. „Die Jungen und Ciycain sind viel jünger als ich. Sie kämpfen!“
„Weil sie es können“, erwiderte Ardanna sanft. „Du bist nicht wie sie. Zum Glück.“
„Akim und Mehlau sind nur ein paar Jahre älter. Sie kämpfen.“
„Mehlau kämpft?“
„Nicht wie die anderen, aber sie lassen ihn.“
„Sie tun es nicht, um dich zu strafen. Sie wollen dich schützen. Das ist ein Urinstinkt. Und ich bin sehr froh darüber.“
„Ich nicht! Ich fühle mich nutzlos.“
„Ein guter Kämpfer ist vor allem wachsam. Er weiß, wann er zuschlagen muss, aber auch, wann er sich heraushalten muss. Unsere Freunde sind aufeinander eingespielt. Sie ergänzen einander. Wenn du unbeherrscht dazwischen gehst oder auch nur im Weg stehst, richtest du möglicherweise mehr Schaden als Nutzen an.“
„Aber sie haben mich mittrainieren lassen.“
„Sie haben dir Grundlagen beigebracht. Das reicht vielleicht, wenn ein Mann dich auf der Straße anpöbelt. Für Kämpfer von Elphens Kaliber genügt es nicht. Nicht annähernd. Du wirst deine Aufgabe finden. Gib dir Zeit.“
„Ich will Kriegerin werden. Wie Adiv und Syriakin.“
„Adiv ist keine Kriegerin.“
„Aber sie weiß sich zu wehren.“
„Sie war beinahe tot, als Syriakin und Chries sie herbrachten. Kämpfen hat nichts Abenteuerliches. Es ist blutig, gewalttätig, schmerzhaft. Vergiss das nie!“
„Was soll man denn sonst machen? Du willst dich heraushalten, keine Gewalt anwenden, aber das geht nicht immer!“ Aufgebracht sah Sphita ihre Mutter an. „Elphen hatte mich entführt und hätte mich umgebracht, wenn Syriakin nicht gekommen wäre. Ich will kämpfen können wie sie.“
„Was?“, brachte Ardanna tonlos heraus und richtete sich auf.
Sphita setzte sich ebenfalls hin, zog ihre Knie vor die Brust und krampfte ihre Finger um ihre Füße. „Sie verhandelte mit ihm. Sie für mich.“ Ardanna starrte ihre Tochter an. „Ich war so wütend auf ihn. Den Schlangenmann. Aber ich hatte auch schreckliche Angst. Ich will keine Angst mehr haben.“
„Kämpfer ohne Furcht sind schlechte Kämpfer.“
„Nicht Syriakin. Nicht Akim. Nicht Elphen oder Kalphon oder diese Tijua.“
„Syriakin wäre die Erste, die dir das eintrichterte. Ohne Angst verliert man die Vorsicht. Ohne Vorsicht ist man tot.“
Beim letzten Wort biss Sphita sich auf die Lippen und senkte den Kopf. Ardanna strich ihr das lange Haar aus der Stirn und wartete.
„Es gab viele Tote“, flüsterte Sphita schließlich. „Ich werde die Bilder nicht los.“
Ardanna verzog das Gesicht. „Auch das gehört dazu. Die wenigsten halten das aus. Die Erinnerungen an die Toten. Die Tode.“
„Sie schaffen es.“
„Tun sie nicht. Sieh sie dir an. Schau genau hin. Sie sind alle gezeichnet. Deshalb überlege, auf was du dich einlässt.“
„Manchmal geht es nicht anders“, wiederholte Sphita.
„Leider. Doch es darf nicht zum Lebensziel werden.“
Sphita schwieg eine Weile, legte das Kinn auf die Knie. „Sie schickte mich zurück zu den anderen. Ich ging nach Westen und traf auf Shesh. Er hatte sich aufgemacht, mich zu suchen.“ Eine Träne tropfte auf das Laken. „Mich. Ich wies ihm den Weg zu Elphen und Syriakin. Und dann kam er nicht zurück. Elphen hat ihn erstochen.“
„Das ist sehr traurig.“
„Er ist wegen mir gestorben. Ich habe ihn zu ihr geschickt.“
„Er war ein erwachsener Mann, der eigene Entscheidungen fällte.“
„Ich war die Schwächste, verstehst du das nicht? Deswegen nahm Elphen mich mit. Deswegen forderte Syriakin ihn heraus. Deswegen ging Shesh los und deswegen starb er. Und Syriakin beinahe auch.“ Sphita hob den Kopf. „Ich will nicht mehr schwach sein.“
„Das bist du nicht.“
„Natürlich bin ich das. Wir beide sind es.“
„Es gibt viele Arten von Stärke. Körperliche Stärke ist nur eine von ihnen.“
„Aber es ist die, die wir im Moment brauchen. Ich werde mitgehen, wenn sie Elphen suchen.“
Erschüttert starrte Ardanna ihre Tochter an.
„Ich muss es wiedergutmachen, verstehst du?“
„Du bist nicht wie Syra oder Elphen.“
„Gillok auch nicht. Er hasst das Kämpfen. Er tut es aus Notwendigkeit, genau wie der Kaiser oder Akim.“
„Ich habe geschworen, ich lasse dich nie wieder ohne mich ziehen.“
„So musst du mich begleiten. Ich gehe mit.“ Eiserne Entschlossenheit stand um Sphitas Mund.
„Das muss ich dann wohl“, erwiderte Ardanna, Sphitas fassungslosen Blick mit einem verzagten Lächeln begegnend. „Jemand muss schließlich auf euch aufpassen.“
Die Nacht brachte mehr Regen. Er prasselte gegen die Fenster, trommelte auf das Dach, verzog sich erst in der Dämmerung. Als sie in der Halle zum Morgenmahl zusammenkamen, wirkten sie alle verknittert. Müdes Schweigen hing über der Tafel. Kian und Yvain waren auf ihrem Zimmer geblieben, umsorgt von den beiden Köchinnen und Warmuth, der vor der Tür auf einem Stuhl Wache saß.
Ylaiy rieb sich die Augen. „Also. Wie geht es jetzt weiter?“
„Ihr kehrt in den Palast zurück“, entgegnete Ardanna. „Der Stich hat Euch glatt durchbohrt. Ihr könnt von Glück reden, dass Ihr noch lebt. Ich gebe Euch Medizin und Anweisungen für Rana mit. Schonung, Dran.“
„Aber ...“
„Kümmert Euch um Eure Familie“, sagte Gillok nach einem Seitenblick auf Syriakin. „Und um Euer Reich. Ihr habt genug getan.“
„Ihr ruht Euch auch nicht aus.“
„Es ist nur der Fuß. Und ein paar Prellungen, die längst abheilen.“
„Das stimmt“, warf Adiv ein. „Seine Beine schillern wie Regenbögen, aber die Verletzungen sind oberflächlich. Bis auf den Stich.“
„Dennoch“, setzte Ylaiy wieder an, doch Ardanna unterbrach ihn: „Nein. Als Eure Ärztin und Freundin rate ich Euch dringend zur Ruhe.“
„Ihr seid nicht meine Leibärztin.“
„Ich bin die Najimi.“ Ihre Stimme fand nicht zu der betörenden Kraft, mit der sie früher den Willen ihrer Patienten beeinflusst hatte, aber es blieb ein entschlossener Unterton, der alle zum Schweigen brachte.
Ardanna bemühte sich um eine versöhnlichere Stimmlage. „Gillok hat recht. Ihr seid der Kaiser. Ihr habt eine Familie. Ein Volk. Mehr Verantwortung als jeder von uns. Geht. Kehrt heim. Beerdigt Thragesh. Küsst Sila, Rana und Talin von uns. Den Rest erledigen wir.“
Überraschte Mienen wandten sich ihr zu. „Wir?“, echote Jonoy schließlich. „Heißt das, Ihr begleitet uns?“
„Ich bin die Najimi. Es braucht eine Heilerin bei Euren Ausflügen. Gerade jetzt, wo alle angeschlagen sind.“
„Ausflüge.“ Jonoy zupfte an seinem Bart. „Ihr macht Euch keine rechte Vorstellung, auf was Ihr Euch einlasst.“
„Oh doch. Ich bin nämlich die, die Euch immer wieder zusammenflickt. Deshalb kommt Ihr auch nicht mit.“ Sprachlos richtete Jonoy sich auf, dieweil die anderen ungläubige Blicke tauschten. „Ihr lauft krumm und schief wie eine Latsche, habt beständig Schmerzen. Ihr zieht das linke Bein nach und seit Neuestem gebraucht Ihr Arm und Schulter nur mit Vorsicht. Wie viel wollt Ihr Eurem Körper noch zumuten?“
„Es ist auszuhalten“, knurrte der Schmied.
Ardanna lächelte und nahm seine Hand. „Ihr seid zu alt, Jonoy. Es ist an der Zeit, das einzusehen.“
„Er ist ein wertvoller Kämpfer“, verteidigte Akim ihn. „Ihr beleidigt ihn mit Euren Worten.“
„Das ist nicht meine Absicht. Ich empfinde nichts als Respekt für seine Verdienste. Doch Euer Freund leidet. Er wird es niemals zugeben, aber es ist so.“
„Ihr wollt mich in den Ruhestand schicken?“, polterte der Alte los. „Mich ausmustern wie einen alten Gaul?“
„Ganz im Gegenteil. Ihr und Mehlau begleitet Ylaiy und die Jungen nach Yruish. Danach bringt Ihr Euren Gesellen nach Hause. Stellt sicher, dass er Guyut gesund erreicht. Dass er sich das Leben aufbaut, das er sich wünscht.“
Verwirrt schaute Jonoy sich um, musterte Mehlau, der mit roten Wangen in sich zusammengesunken war.
„Sie hat recht“, sagte Adiv nach längerem Schweigen. „Er gehört nach Hause.“ Mit einem warmen Lächeln sah sie den Gesellen an. „Er ist Handwerker, kein Krieger. - Ihr habt ein wahres Kämpferherz, Mehlau, aber das ist nicht Euer Weg. Kehrt heim. Unsere besten Wünsche begleiten Euch.“
„Und unser Dank“, fügte Ylaiy hinzu.
Mehlau brachte kein Wort heraus, senkte den Kopf und knetete seine unverletzten Finger.
„Bitte, Jonoy“, wandte Ardanna sich wieder an den Greis. „Kämpfe gewinnt man nur, wenn man weiß, wofür man kämpft. Ihr habt geholfen, die Kinder zu retten, eine Bedrohung zu vernichten, eine Zukunft aufzubauen. Jetzt helft den Jungen und Mehlau dabei, diese Zukunft auch zu leben. Sie haben es verdient. Und Ihr habt Euch noch ein bisschen Frieden verdient.“
„Das ist bitter“, murmelte Jonoy.
„Nein“, widersprach Akim überraschend. „Bitter wäre, euch alle nie wieder in Friedenszeiten zu sehen. Wir kommen Euch besuchen. Bis dahin habt Ihr noch viele Aufgaben und viele Meilen vor Euch. Yruish, Guyut, Puard.“
„Puard?“
„Ich freue mich darauf, Euch mit Jula unter dessen Palme zu begrüßen. Tee trinkend, rauchend, Datteln kauend.“
„Oder in einer Hängematte in Guyuts luftigeren Gefilden.“ Ein verhaltenes Lächeln stahl sich in die Runzeln des Schmieds.
„Auch das.“
Jonoy senkte den Kopf, blickte lange auf die Tischplatte, schlug schließlich mit der Faust darauf, dass Teller und Tassen klirrten, und nickte. „Es bricht mir das Herz, aber so sei es. Wir gehen nach Hause. Mehlau, hörst du? Heim. Es wird Zeit, dass du die Schmiede wieder aufbaust.“
Mehlau wischte sich verstohlen die Augen. Sphita lächelte, rutschte näher an ihn heran und legte einen Arm um ihn. „Ich werde dich sehr vermissen.“
„Ihr wollt Kian und Yvain also doch nicht bei Euch und Vouker behalten?“, vergewisserte sich Ylaiy nach einigen Minuten.
Ardanna schüttelte den Kopf. „Vouker muss mich hier vertreten. Keine leichte Aufgabe für einen unerfahrenen Mann. Die Jungen brauchen Ruhe, ein stabiles Umfeld, Frieden. Rana wird sich um sie kümmern, meint Ihr nicht?“
„Sie ist wie geschaffen dafür. Und das Spielen mit Talin lenkt beide ab.“
„Gut. Haltet sie von Pflichten und Verantwortungen fern. Sie müssen lernen, wieder Kinder zu sein. Und Euch selbst schont Ihr auch.“
„Ein Reich regiert sich nicht von allein.“
„Verteilt Aufgaben. Euer Rat muss funktionieren.“
Ylaiys Gesicht verzog sich zu einem lausbübischen Grinsen. „Ich habe Sila in ihn berufen, bevor ich abreiste. Sie dürfte die erste Bedienstete in der Geschichte sein, die in einer Regierung mitwirkt.“
„Setzt sie gleich neben Euch auf den Thron“, brummelte Jonoy.
„Alles zu seiner Zeit, mein Freund.“ Ylaiy wurde wieder ernst. „Ihr anderen reist also ohne uns nach M’tuauoa?“
Wie immer, wenn jemand den komplizierten Namen der Insel aussprach, verdrehte Adiv gequält die Augen.
„Elphen ist bereits auf dem Weg dorthin“, antwortete Syriakin. Es waren die ersten Worte, die sie an diesem Morgen sprach.
„Akim, Ihr, Gillok. Ardanna als Heilerin. Reicht das?“
„Das muss es“, erwiderte Gillok an ihrer Stelle.
„Chries und ich kommen ja auch mit“, sagte Adiv.
„Und ich“, setzte Sphita hinzu.
Syriakin richtete sich auf. „Nein. Chries, ja. Adiv und Sphita, nein.“
Adiv beugte sich vor. „Das hast nicht du zu entscheiden!“
„Du bleibst hier! Du bist verletzt.“
„Das ist fast einen Monat her.“
„Nicht lang genug.“
„Willst du die Narben sehen? Sie sind verheilt. Und ich bin ausgeruhter als ihr alle.“
„Wir nehmen dich nicht mit.“
„Das ist meine Entscheidung.“
„Adiv“, mischte sich Chries ein. „Vielleicht hat sie recht. Es ist zu gefährlich, so kurz ...“
„Ich komme mit! Ob ihr wollt oder nicht. Wenn es sein muss, komme ich nach.“
Syriakin wandte sich an die Heilerin. „Sie kann nicht mit. Redet mit ihr!“ Ihre Aufforderung glich fast einer Bitte.
„Das habe ich bereits“, seufzte Ardanna. „Ihr wisst, dass sie genauso stur ist wie Ihr.“
Syriakin biss die Lippen aufeinander und sah die gleichaltrige Frau eindringlich an.
„Ihr habt sie doch gehört. Sie wird auf jeden Fall gehen. Wir können sie nicht festketten.“
„Ich komme hinterher“, warnte Adiv erneut.
„Du erpresst mich“, stellte Syriakin fest.
„Wenn du es so sehen willst.“
Die Sumpffrau stand auf, stützte die Hände in die Hüften, blickte an die Decke und wandte sich dann an Sphita. „Ich nehme an, du kommst auch hinterher?“
Anders als Adiv zuckte Sphita unter ihrem Blick zusammen und erwiderte gar nichts.
„Ich passe auf sie auf“, sprang Ardanna ihrer Tochter bei. „Sie wird Euch nicht im Weg stehen. Ich passe auf. Auf Euch alle.“
Syriakin schüttelte den Kopf, drehte sich zu Gillok und Akim, die beide mit den Schultern zuckten.
„Adiv ist die beste Schützin“, sagte Akim. „Chries erfahren im Schwertkampf, Ardanna die beste Heilerin. Und Sphita hat bewiesen, dass sie die Nerven behält. Von dir kann sie viel lernen.“
Resigniert atmete die Sumpffrau aus. „Fein. Wann reisen wir ab?“
„Gebt mir zwei Tage Vorbereitung“, entgegnete Ardanna. „Zwei Tage, Syra. Übermorgen. Ihr könnt Euch also wieder setzen.“
„Ich würde lieber morgen schon abreisen“, erwiderte Ylaiy. „Wir waren lange unterwegs. Es zieht mich nach Hause.“ Jonoy und Mehlau nickten zu seinen Worten.
„Dann verlasst Ihr uns eher“, beschloss Ardanna.
„Und wir? Wie wollen wir vorgehen?“, wollte Akim wissen.
„Elphen wollte sich nach Staleph durchschlagen und der Küste folgen“, dachte Jonoy laut. „Wahrscheinlich will er danach über den Nordwesten Yruishs nach Kaadaa und von da aus ans Südmeer.“
„Nein“, widersprach Gillok. „Er wird die Boragha umgehen. Vermutlich ganz Kaadaa. Was hieße, dass er einen Umweg über Südstaleph und die Südspitze Kâneggs nimmt.“
„Warum?“, mischte Chries sich ein. „Kaadaa ist voller Schlupflöcher und Geheimgänge. Bestimmt kennt er sie alle.“
„Aber die verbliebenen Majestes werden sie kontrollieren“, wandte Adiv ein. „Wenn sie ihn entdecken, ist er so gut wie tot.“
„In der Boragha herrschen Auflösung und Zerfall. Zwist unter den Familien und Krieg unter den Häftlingen. Für einen Flüchtigen, der sich verstecken will, ein Glücksfall.“
„Nein“, sagte Syriakin nach längerem Nachdenken. „Das Risiko wäre für ihn zu groß. Er hat alles dafür gegeben, das Leben unter der Erde hinter sich zu lassen. Freiwillig kriecht er nicht zurück. Er will auf dem schnellsten und sichersten Weg zur Quelle. Sie ist seine letzte Chance.“
„Die Quelle allein nützt ihm nichts“, wandte Akim ein. „Er braucht ein Kind, um ihre Magie zu nutzen. Zumindest nach seiner Logik. Also muss er Ciycain finden.“
„Wie denn?“, fragte Gillok. „Die Sümpfe sind zu riesig. Es wäre, wie einen bestimmten Fisch in einem Ozean zu finden. Wäre ich er, würde ich die Quelle suchen und dort ausharren. Darauf hoffen, dass sie zu mir selbst spricht oder dass sie eins der Kinder anlockt, das mir als Gefäß dient.“
„Ciycain wird ihm nicht gehorchen“, rief Ylaiy aus. „Eher würde sie ihn bekämpfen. Das muss er doch wissen. Was also treibt ihn noch an?“
„Größenwahn“, gab Gillok zurück. „Befeuert von einer seit Jahrhunderten aufgebauten Mythologie über die Vorherrschaft der Chausselles. Über ihre Aufgabe als Bewahrer und letztlich Beherrscher der Magie. Ein Konstrukt aus Hirngespinsten, falschen Hoffnungen, abstrusen Mysterien und Legenden, die Kinder zu Göttern macht. Ich denke, wir reden nicht mehr von einem geistig gesunden Menschen. Er ist ein Opfer einer vergifteten Erziehung.“
„Und ein Mann, der alles eingebüßt hat“, setzte Ardanna hinzu. „Ein Verlorener auf der Suche nach einem Sinn. Die Quelle ist ein Neuanfang.“
„Also gut.“ Ylaiy atmete laut aus. „Der Quelle gilt all sein Sinnen und Trachten. Wenn ihr nun die Quelle vor ihm erreicht und verschließt, nützt Ciycain ihm nichts mehr, weil dann alle ihre Kräfte schwinden. Alle Magie wäre weg. Er geht zur Quelle, so wie Gillok gesagt hat. Hofft, dass etwas passiert. Dass die Magie ihn auserwählt, dass er ein Zeichen erhält - etwas in der Art. Vielleicht hofft er, dass Ciycain schon dort ist, dass er sie dazu bringt, ihm irgendwie zu helfen. Dass er tatsächlich von einem Götterkind lernen kann. Egal, welches Szenario, es wäre von Vorteil, vor ihm da zu sein.“
Erneut sprang Syriakin von ihrem Stuhl und funkelte die anderen an.
Seufzend erhob sich Ardanna. „Wir brechen morgen früh auf. Wir alle.“
Gedankenverloren musterte Akim die gepflasterte Straße vor ihnen.
Adiv zügelte neben ihm ihr Pferd. „Was ist?“
„Nicht weit von hier schlug Vei mir ins Gesicht.“
„Das würde er heute nicht mehr wagen.“
„Damals saß Jonoy neben mir und beschützte mich.“
„Heute würdest du ihn beschützen.“
„Ihr alle unterschätzt ihn. Er mag alt sein, aber seine Kraft ist enorm. Immer noch. Ich bedaure, dass er uns nicht begleitet.“
„Es war besser so und das weißt du.“
Seufzend brachte Akim sein Pferd mit den Fersen dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen. Seine Reitkünste erstaunten Adiv, standen sie doch Chries' kaum nach. Kamel oder Pferd - offensichtlich unterschied sich ein Ritt auf ihnen nur wenig.
Schweigend folgte der Trupp dem Fährtenleser, der trotz aufziehender Dunkelheit den Weg gut auszumachen schien. Glücklicherweise verlief die Straße über viele Meilen schnurgerade. Bis auf das Klappern der Hufe war kaum ein Laut zu vernehmen. Die Tierwelt der gebirgigen Insel hielt Winterschlaf oder war in wärmere Gefilde gewandert. Noch war der Frühling auf Kaadaa Wochen entfernt, wenngleich die Grasstreifen zu beiden Seiten der Straße bereits von knöchelhohem Schlamm bedeckt und die Pflastersteine vom Regen tückisch glatt waren.
Das Klappern in der kalten, stillen Landschaft schläferte Adiv ein. Eingehüllt in ihren Mantel, hockte sie auf ihrer Stute - derselben, die sie vor einem Monat schwer verletzt zu Ardanna getragen hatte - und bemühte sich, das Stechen in ihrer Hüfte zu ignorieren. Hin und wieder schob sie sich unauffällig in eine andere Position, um es erträglich zu halten.
Zum Glück war Ardanna ausnahmsweise mehr mit sich selbst beschäftigt als mit ihren Mitreisenden. Ihr war anzusehen, dass sie weite Strecken zu Pferd nicht gewohnt war. Schon auf Yruish war sie ständig unbehaglich in ihrem Sattel hin und her gerutscht.
„Wenn wir zurück sind, musst du anfangen, dich öfter zu bewegen“, hatte Sphita gesagt.
„Tanzen soll gut sein“, hatte Adiv sich eine Bemerkung nicht verkneifen können und sich einen strafenden Blick eingefangen. Bei der Erinnerung daran grinste sie.
Neben ihr blies Chries in seine klammen Hände.
„Meinst du, oben liegt Schnee?“, fragte Adiv ihn.
„Im Hochgebirge bestimmt. In den mittleren Lagen möglicherweise. Sobald es wärmer wird, brechen Lawinen los.“
„Davon habe ich noch nie gehört. Würden sie nicht auf die Boragha treffen?“
„Sie gehen meist zum Meer hin ab. Zwischen dem Hochgebirge und dem Gefängnis liegen außerdem Schluchten und Täler, natürliche Barrieren. Und auf den Basaltsäulen bleibt Schnee sowieso schlecht haften. Es kommt also darauf an, wo du dich befindest.“
„Du weißt eine Menge über die Inselwelt.“
„Ich bin hier geboren.“
Während er sprach, veränderte sich Chries‘ Stimme. Sie wurde zögerlicher, abwesender. Alarmiert richtete Adiv sich auf. „Was ist?“
„Ich wundere mich nur“, murmelte Chries.
Akim zügelte sein Pferd und auch Adiv verlangsamte. Ardanna und Sphita, die in der Mitte des Trupps ritten, erwachten aus ihrem Dämmerzustand. Gemeinsam warteten sie auf die beiden Sumpfleute, die zu ihnen aufschlossen, ihre Tiere umständlich bändigend.
„Warum halten wir erneut?“, fragte Gillok.
Chries‘ Stirn war nachdenklich gerunzelt. „Hier treibt sich nie viel Volk herum, aber man trifft doch auf einige Leute. Einheimische, Soldaten, Transporte.“
„Es ist spät und kalt“, gab Ardanna zu bedenken. Ihr Atem formte sich zu weißen Wölkchen, wenn sie sprach.
„Als wir den Damm verließen, war es hell. Seither haben wir keine Menschenseele gesehen. Niemanden. Weder in die eine, noch in die andere Richtung. Das ist seltsam.“
„Viele Wärter dürften die Gefängnisrevolte nicht überlebt haben“, mutmaßte der Sumpfmann. „Und Ylaiy hatte noch keine Zeit, neue Soldaten zu schicken. Transporte gibt es vermutlich auch nicht, bis die Boragha wieder halbwegs sicher ist.“
„Sollten wir nicht aber wenigstens auf Häftlinge treffen?“, fragte Sphita. „Das Gefängnis ist doch offen, warum fliehen die Leute nicht?“
„Wahrscheinlich flohen sie unmittelbar nach den Unruhen“, erwiderte Gillok.
„Dann ist die Boragha leer?“
Adiv schüttelte den Kopf. „Dann hätten wir mittlerweile von Flüchtlingsströmen gehört. Ich wette, die meisten wollen gar nicht fliehen. Sie kennen nichts anderes als das Gefängnis. Wo sollten sie auch hin?“
„Vielleicht lässt man sie auch nicht“, schaltete Syriakin sich ein. „Das Reich der Majestes braucht schließlich Untertanen.“
Gillok nickte. „Cehaj und Nebunedzad wollten sich um die Boragha kümmern. Nachdem die Chausselles verschwunden sind und viele Angehörige der Ersten und Zweiten Familie den Magieverlust nicht überlebt haben, rekrutieren sie vielleicht Mitglieder und errichten eine neue Herrschaft.“
„Werden sie uns einlassen?“, fragte Chries.
„Sie sind unsere Verbündeten“, entgegnete Adiv. „Mutter ist bei ihnen.“
„Lasst uns trotzdem vorsichtig sein“, sagte Akim.
Kurze Zeit später hielt der Fährtenleser eine Hand in die Luft und der Trupp kam zum Stehen. „Ein umgestürzter Baum“, erklärte er. „Quer über der Straße.“
„Eine Straßensperre?“, fragte Gillok.
„Ich nehme keine Menschen wahr“, entgegnete Akim. „Aber Schneeluft trägt Gerüche schlecht. Außerdem wissen Majestes sich zu tarnen.“
„Oder es ist nur ein Baum“, sagte Chries.
„Aus welchem Wald?“, murmelte die Kriegerin.
Plötzlich hellwach, sah Chries sich um. Sie hatte recht. Die Gebirgswälder lagen weit entfernt auf der anderen Seite des Gefängniskolosses. Und die Baumreihen entlang ihres Weges hatten sie schon vor einiger Zeit hinter sich gelassen.
„Obacht“, wandte Akim sich an Ardanna und Sphita, die den Weg nicht kannten. „In wenigen Metern beginnt ein Engpass. Links Zaun, rechts Fels. Wir steigen ab und nehmen die Pferde neben uns.“
In Zweierreihen gingen sie Akim hinterher, eingezwängt zwischen warmen Pferdeleibern, die Waffen gezückt. Ardanna fühlte sich schwindelig, musterte die anderen. Deren Körperhaltung verriet Wachsamkeit und Konzentration, doch trotz der Anspannung strahlten sie Selbstsicherheit aus. Sie selbst hingegen fürchtete sich. Ihr Mund war staubtrocken, ihre Achseln schweißnass. Und ihr Herz klopfte so stark, dass es in ihren eigenen Ohren hallte.
Nach einigen Schritten erkannte auch sie den Stamm, der quer über der Straße lag, und kniff die Augen zusammen. „Da stimmt etwas nicht“, murmelte sie.
Akim blieb stehen und wandte sich nach ihr um. „Was meint Ihr?“
„Der Baum. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. - Was genau kannst du ausmachen?“
„Wurzeln, Äste, Nadeln, Zapfen, Moos und Baumpilze.“
Die Heilerin merkte auf. „Welche Art von Pilzen?“
„Ist das wichtig?“
„Möglicherweise“, sagte Syriakin und schob sich neben Ardanna.
Akim konzentrierte sich. „Hell, würde ich sagen. Gelb oder orange vielleicht. Sie wuchern. Wie eine Kolonie. Zusammen bilden sie riesige Blütenformen. Jeder Einzelne ist ebenfalls wie eine Blüte.“
„Wie Korallen“, sagte Gillok.
„Pockenporling vielleicht“, erwiderte Ardanna. „Essbar, schmackhaft sogar, bewusstseinserweiternd, wenn als Teedampf eingeatmet.“
„Und?“, drängte Adiv.
„Er ist ein Parasit, der Laubbäume befällt.“
„Und das dort ist ein Nadelbaum“, raunte Syriakin.
„Kiefer“, vermutete Chries. „Die wachsen hier.“
„Das heißt“, schlussfolgerte Adiv, „der Pilz passt nicht zum Baum? Magie?“
„Nein“, erwiderte Akim. „Das ist ein künstliches Bollwerk. Ein Trick.“
„Was nun? Gehen wir weiter?“
„Wir haben keine Wahl“, entgegnete Gillok.
„Wir könnten umkehren und um die Nordspitze nach Staleph oder am Wasser entlang bis zur Straße von Tanaa reiten. Dann schwimmen.“ In Syriakin schwelte die Ungeduld. Man konnte sie förmlich riechen.
Gillok schüttelte den Kopf. „Die anderen schwimmen nicht wie wir. Außerdem ist das Wasser im Winter zu kalt für lange Strecken. Wir bräuchten die Boote der Einheimischen. Wir bleiben bei unserem Plan. Quer durch die Boragha und das Gebirge.“
„Hindernisse wie dieses halten uns auf. Die Boragha ist unsicheres Gebiet, die Berge erst recht.“
Gillok nahm ihre Hand. „Ich will ihn auch einholen. Der Weg quer über Kaadaa ist der kürzeste. An der Ostküste finden wir Boote. Wir können ohne weitere Umwege von hier aus nach M’tuauoa segeln.“
Sie zog die Hand aus seiner und gab ihrem Pferd einen Klaps, sodass es erschrocken wieherte und auf die Straßensperre zulief.
„Syra“, japste Adiv.
Aus dem Schlamm schossen angespitzte Pfähle und bohrten sich in die Fesseln des Tieres. Seinem Fluchtreflex folgend, beschleunigte es. Gespannt beobachtete die Gruppe, wie es zum Sprung über den Baum ansetzte, sich mit den Hufen im Astwerk verfing und es zu Boden fegte, ein Gewirr aus Stricken, Haken und Dornen freilegend. Dann verschwand es in der Nacht.
Bleich sahen die Gefährten sich an, dann regneten empörte Blicke auf Syriakin. Diese erstickte alle Proteste, indem sie stumm zurück starrte.
„Eine Falle“, sagte Akim schließlich.
„Mehrere Fallen“, erwiderte Chries. „Verborgene Stolperdrähte und Pfähle. Wer weiß, was noch.“
„Das finden wir heraus.“ Die Sumpffrau scheuchte die restlichen Pferde der durchgegangenen Stute hinterher.
„Du opferst sie!“, fauchte Adiv sie an.
„Vielleicht befreie ich sie auch.“
„Indem du sie als Fallensucher vorschickst?“
„Wenn es zum Kampf kommt, stehen sie nur im Weg.“
„Du hättest sie zurückschicken können.“
„Wolltest du lieber vorangehen?“
Syriakins Kaltschnäuzigkeit verschlug Adiv die Sprache. Sie ließ die Kriegerin passieren und beobachtete, wie sie mit Akim und Gillok Anweisungen austauschte.
Ardanna trat neben sie. „Das Schlimme ist, dass ihre Härte uns ans Ziel bringt.“
„Ich weiß. Dennoch macht es einen ... so ...“ Frustriert schlug Adiv sich in die eigene Handfläche.
„Ja. Komm.“
Drei weitere Hindernisse erwarteten sie. Dicke Stämme, alle drapiert mit falschem Gestrüpp, versehen mit verborgenen Dornen, Stacheln, Scherben und angespitzten Pfählen. Ardanna warnte sie vor giftigen Pilzsporen, die durch Berührung frei gesetzt worden waren; Gillok vor der mit Pech und Harz bestrichenen Rinde. Stolperdrähte säumten den Zugang zum Gefängnis, lösten Geschosse aus oder brachen Schlaglöcher in das Pflaster, die Menschen und Tiere stolpern ließen. Eine der Stuten fanden sie mit gebrochenem Bein in der Mitte der Straße, Flanken und Fesseln gesprenkelt von Einstichen. Mit feuchten Augen sah das Tier sie an, bis Syriakin sich Chries‘ Schwert auslieh und es dem Pferd in den Kopf rammte.
Kurz nach der vierten Barrikade stießen Akim und Ardanna gleichzeitig einen Warnruf aus, der die anderen auf der Stelle innehalten ließ.
„Menschen“, sagte die Najimi.
„Majestes“, präzisierte Akim. „Vier. Zwei auf den Türmen, zwei unten neben dem Tor. Sie haben unsere Pferde bei sich.“
„Also erwarten sie uns“, schlussfolgerte Gillok.
„Das tun sie, seit wir die erste Falle auslösten“, entgegnete Syriakin. „Vermutlich schon, seit wir die Insel betraten. Ihre Späher sind unsichtbar.“ Anerkennung schwang in ihren Worten mit.
Adiv wusste, was ihre Freundin dachte: Die Kämpfer der Majestes wären unschätzbare Verbündete. Doch die Geheimniskrämerei der uralten Familien sowie ihre unerbittlichen Thronkämpfe untereinander machten sie ebenso unberechenbar.
„Wir kommen in Frieden“, rief Gillok laut und steckte demonstrativ sein Schwert weg. Eine Geste, mehr nicht, trug er doch ein ganzes Arsenal an Waffen am Körper. Dann schob er sich vor Akim und ging langsam weiter. „Wir kommen als Freunde“, betonte er. „Die Mag’anags kennen uns.“
Eine schmächtige Gestalt löste sich von dem Zaun neben dem Tor. Um den nackten Oberkörper hatte sie einen breiten Streifen sackähnlichen Stoffes geschlungen, der sich auf Brust und Rücken kreuzte und in komplizierten Knoten auch Hals und Unterbauch bedeckte.
„Cehaj“, murmelte Akim und hob grüßend eine Hand.
Bru Nehegelens Nachkomme erwiderte den Gruß nicht. Er schnalzte seinem Verwandten etwas zu, bevor er mit unbewegtem Gesicht auf sie zu kam, mit weichem, kraftvollem Gang wie ein Wüstenluchs.
„Kehrt um.“ Cehaj hatte seine Stimme kaum erhoben. Die beiden Worte flossen wie beiläufig von seiner Zunge.
„Wir sind es“, sagte Gillok. „Wir kommen in Frieden.“
Cehaj zeigte sich unbeeindruckt. „Kehrt um.“
Adiv schob sich nach vorn. „Wir haben gemeinsam gekämpft. Die Narben in deinem Gesicht stammen von Arlen.“
„In der Vergangenheit.“
„Und heute? Sind wir jetzt Feinde?“
„Jeder, der sich der Boragha nähert, ist ein Feind. Dies Land gehört uns. Den nad Tala. Ihr wurdet gewarnt.“
„Das stimmt“, sagte Gillok. „Doch wir kommen nicht, um Anspruch auf das Land der nad Tala zu erheben. Wir wollen nur passieren.“
„Nicht in Zeiten des Krieges.“
„Herrscht denn Krieg?“
Cehaj sah dem Sumpfmann in die Augen. „Die nad Tala sorgen für Frieden. So soll es bleiben.“
„Was ist mit der Zweiten Familie passiert?“
Wieder schwieg Cehaj lange, als überlege er, wie viel er preisgeben dürfe. „Von den Novíes haben zahllose das Magiesterben nicht überlebt. Andere sind ohne Kräfte.“
„Und die nad Tala? Haben sie ihre Kräfte behalten?“
„Ihr seid neugierig, Sumpfmann.“
„Lebt Euer Bruder noch?“
„Ja. Wir führen die nad Tala an. Es ist unser Erbe.“
„So seid Ihr tatsächlich blutsverwandte Nachkommen Nehegelen?“
„Aé. Die Söhne seiner jüngsten Söhne.“
„Und ihr beide regiert jetzt die Boragha?“, hakte Adiv nach. „Mit den verbliebenen Majestes?“
Stumm nickte Cehaj.
„Was ist mit den normalen Gefangenen?“
„Viele starben in den Unruhen, einige flohen. Die meisten blieben.“
„Wer sorgt für sie?“
„Sie selbst. Wir, wenn sie es wollen. Die Tore nach Kaadaa stehen offen.“
„Aber nicht dieses hier. Nicht das Haupttor.“
Cehajs Gesicht verschloss sich noch mehr. „Nein.“
„Weshalb nicht?“
„Weil wir es nicht wollen. Und nun kehrt um. Geht.“
„Und wenn wir unbedingt hinein wollten?“ Syriakins dunkle Stimme wehte durch die Nacht wie ein eisiger Wind.
Cehaj sah sie an. Sie erwiderte den Blick unangestrengt.
Gillok schob sich vor seine Gefährtin. „Wir wollen keine Gewalt.“
„Sie schon“, widersprach Cehaj.
„Lasst uns über eine friedliche Lösung verhandeln. Aufenthalt für eine Nacht. Danach ziehen wir weiter. Sonst nichts.“
„Meine Mutter“, fügte Adiv hinzu. „Ich möchte sie sehen. Es gibt wichtige Neuigkeiten.“
„Welche?“, fragte Cehaj.
„Hauptsächlich solche privater Natur.“
Ardanna und Syriakin wechselten einen schnellen Blick.
„Welche noch?“
„Na ja, die Chausselles ...“
Gillok unterbrach sie. „Ihr erfahrt alles, was wir wissen. Aber erst, wenn Ihr zustimmt. Einlass. Unterkunft für die Nacht. Etahpe. Am Morgen brechen wir auf. Versprochen.“
Cehaj überlegte lange. Dann wandte er sich um und klickte. Der zweite Mann, der die Pferde an den Zügeln hielt, zischte den Majestes auf den Türmen etwas zu und einer der beiden verschwand.
„Ihr müsst warten“, sagte Cehaj. „Er holt Nebunedzad.“
„Was ist mit meiner Mutter?“, erkundigte sich Adiv.
„Sie ist oft unterwegs. Es kann dauern, sie zu finden.“ Er schnippte mit den Fingern und der zweite Mann warf ihnen einen Beutel zu, den Chries auffing. „Steckt eure Klingen hinein.“
„Ihr verlangt unsere Waffen?“, fragte Gillok entgeistert.
„Außerdem werdet ihr euch Fesseln anlegen.“
„Ihr traut uns nicht?“
„In Kriegszeiten gibt es kein Vertrauen.“
Proteste stiegen in die Schneeluft, am lautesten von Adiv. Syriakin und Akim schwiegen, durchbohrten Cehaj mit finsteren Blicken. „Wenn Ihr hinein wollt“, sagte dieser leise zu der Kriegerin, „gehorcht Ihr. Unsere Taram sind zu viele für Euch.“
Syriakin richtete sich auf, bis sie Cehaj überragte. „Das werden wir sehen.“
„Syra“, raunte Gillok warnend. „Wir haben keine Zeit. Fügen wir uns.“ Doch auch seine Kiefer mahlten und sein Gesicht wirkte verkniffen.
Cehaj und Nebunedzad, dessen Begrüßung ebenso frostig ausgefallen war wie die seines Bruders, führten sie über verwinkelte Wege zu einem steinernen Gebäude ohne Türen. Schmale, einst vergitterte Öffnungen dienten als Fenster. Auf dem Weg trafen sie auf keine Menschenseele. Überhaupt wirkte die Boragha wie ausgestorben. Sie sahen keinen Feuerschein, hörten keine Stimmen. Der Koloss lag in gespenstischer Stille und bedrückender Dunkelheit.
Nebunedzad schlüpfte zuerst in das Gebäude, klickte Minuten später aus dem Inneren. Cehaj schob sie über die zerstörte Schwelle, nicht besonders sanft, aber auch nicht übertrieben rücksichtslos. In einem zugigen Raum schaufelten die beiden nad Tala Schutt beiseite, bevor sie das Gepäck ihrer Gefangenen auf den Boden warfen und Stofffetzen vor das Fensterloch hängten, durch das der Nachtwind wehte. Eine ungemütliche Unterkunft, doch immerhin hatten sie ein Dach über dem Kopf und schützende Wände um sich. Schlussendlich fesselten sie die Gefährten neu, diesmal mit den Händen vor dem Bauch, statt hinter dem Rücken, was ihnen mehr Bewegungsfreiheit garantierte. Dann schulterten sie den Waffensack und verließen den Raum mit dem Versprechen, nach Etahpe zu suchen.
Müde und verärgert hielt Adiv nach einem Sitzplatz Ausschau, fand ein herausgebrochenes Mauerstück und ließ sich darauf nieder. Chries und Akim machten sich daran, die angrenzenden Zimmer zu durchsuchen, während Syriakin den beiden Majestes folgte und Gillok gemeinsam mit Ardanna und Sphita ein altes Bett aus der Ecke ans Fenster zerrte.
Akim und Chries fanden sich kurze Zeit später mit einem zerlöcherten Eimer und einem Baststuhl, der die Unruhen heil überstanden hatte, wieder ein. Zuletzt kehrte Syriakin in düsterer Laune zurück und lehnte sich neben dem Fenster an die Wand.
Ardanna zog ihren Mantel fröstelnd um sich. „Hier zieht es wie Hechtsuppe. Können wir kein Feuer anzünden?“
„Wir bleiben nicht“, entgegnete Syriakin. Sie hatte einen kleinen Wandvorsprung gefunden, über den sie nun ihre Fessel rieb.
„Was habt Ihr vor?“
Die Kriegerin starrte durch den löchrigen Vorhang. „Ich weiß noch nicht. Aber hier bleiben wir nicht. Ich habe kein gutes Gefühl.“
„Ich auch nicht“, bekräftigte Akim, der auf dem Eimer saß und mit den Zähnen an seiner Fessel nagte.
„Sie waren unsere Freunde“, stieß Adiv heraus. „Unsere Verbündeten. Meine Mutter hatte so recht, diesen Majestes nicht zu trauen!“
„Das ist alles sehr seltsam“, flüsterte Chries. „Das sind die alten Zellen. Die für die erste Woche. Nicht die schönsten Gebäude, aber intakt, als ich noch hier arbeitete. Hier ist einiges geschehen. Alles ist verfallen, leer, wie ausgeräumt. In dem Block hier liegt kaum mehr ein Stein auf dem anderen.“
Adiv brummte zustimmend. „Die anderen Häuser sahen auch so aus. Und ist dir aufgefallen, wie viele Umwege sie mit uns gelaufen sind?“
„Ja“, antwortete Chries. „Aber K’yr krachte auch mitten hinein. Vielleicht ist alles verwüsteter, als wir dachten.“
„Vom Zentrum sind wir noch ein ganzes Stück entfernt“, widersprach Adiv. „Hinter dem Haupttor gibt es Straßen. Wir hätten sie gehen können. Stattdessen führten sie uns über Halbrunde und Umwege hierher. Umständlich. Wir hätten viel schneller und bequemer hier sein können.“
„Wollten sie Zeit schinden?“, fragte Ardanna.
„Wofür?“
„Ich weiß nicht.“ Die Heilerin fröstelte. „Um etwas zu verstecken? Sich zu verbergen? Etwas vorzubereiten?“
„Deine Mutter zu suchen.“ Gilloks warme Augen legten sich auf Adiv.
„Ihr ist doch nichts zugestoßen?“ Angst schnürte Adiv jäh die Kehle ab.
„Machen wir, dass wir verschwinden.“ Syriakin spähte ein letztes Mal durch den Vorhang und stieß sich von der Wand ab. „Wenn sie uns bewachen, sehe ich sie nicht. Riechst du jemanden?“, wandte sie sich an Akim.
Dieser schüttelte den Kopf. „Sie reiben sich immer mit irgendetwas ein. Lehm, Erde, Asche, was sie gerade brauchen. Das übertüncht ihre Körpergerüche. Außerdem werden meine Sinne schwächer. Zwei Quellen sind verstopft.“
„Nicht genug“, entgegnete Ardanna leise. „Man spürt ihre Reste.“
„Ihr habt die Männer vor dem Tor gesehen“, erinnerte sich Syriakin.
„Geahnt. Und nur zwei von ihnen. Die mit Magie. Cehaj und einen auf den Türmen. Cehaj nur ganz schwach.“
„Das wird ihm nicht gefallen.“ Gillok entblößte die Zähne, als er säuerlich grinste. Dann wurde er wieder ernst. „Hat noch jemand Waffen? Etwas zum Schneiden?“
„Nein“, sagte Syriakin. „Sie waren gründlich.“
„Sie wussten ja, wo sie suchen mussten“, setzte Adiv hinzu. Die nad Tala hatten sie alle eingehend durchsucht, auch die Frauen. Sie waren methodisch und ohne anzügliche Gesten vorgegangen, dennoch erinnerte sie sich mit Grausen an die Hände auf ihrem Körper. Allein für diese Erniedrigung würde Syriakin die beiden umbringen.
Akim spie Seilfasern aus. „Mit den Zähnen brauchen wir Stunden. In den Räumen liegt nichts Brauchbares. Keine Scherben, keine Nägel, nichts. Selbst die Löcher in dem Blecheimer sind nicht scharf genug.“
In diesem Moment zuckte die Sumpffrau vom Fenster zurück. „Ch’e!“
Ein Gegenstand flog in den Raum und ein atemloses Zischen ertönte. „Dachkammer. Sofort. Schnell.“
Kies knirschte, dann Stille. Akim hechtete nach dem Messer, zerschnitt seine Fessel und befreite reihum die anderen.
„Das war deine Mutter“, sagte Syriakin zu Adiv. „Sie versteht sich ans Anschleichen.“
„Diebin“, erklärte Adiv knapp. „Nehmt eure Sachen! Los!“
„Wohin gehen wir?“
„Schnell. Über die Straßen. Keine Fußabdrücke.“
Es war ein seltsames Gefühl, über die alten Wege zu laufen. Adiv erinnerte sich an jeden Fußbreit und doch wirkte alles anders. Sie war noch keine neunzehn gewesen, als Aans Auge vor ihre Füße gerollt und Jorgen hinter ihr her gehetzt war, ihre Mutter sie eingefangen und in das Versteck gebracht hatte. Jetzt war sie nur wenige Jahre älter, aber zwischen damals und heute lag ein Lebensalter. Orte und Menschen, Kämpfe und Reisen. Bestien, magische und menschliche. Verletzungen. Viel zu viele Tote.
Arlen.
Die Erinnerungen rauschten durch ihren Geist, während sie die anderen zum Südwesthof brachte - oben entlang, da die Tiefe den Majestes gehörte -, Gedankenfetzen wie Motten um eine Lampe, ungezügelt und willenlos. Nur am Rand nahm sie ihre Umgebung wahr: die Schutthaufen entlang der früheren Gefangenenstraßen, die eingestürzten Gebäude, die Einschlaglöcher im Boden, die Krater und Senken, die Karren und Säcke, die säuberlich aufgeschichteten Ziegelhaufen. Verstrickt in Gedanken huschte sie durch die nachtschwarze Boragha.
Das verlassene Haus tauchte aus der Dunkelheit auf, vertraut und doch fremd. Es hatte schon vor drei Jahren leer gestanden, jetzt wirkte es wie ein Geisterhaus.
Ihre Mutter war fleißig gewesen, erkannte sie nach dem Eintreten. Geröll, Schutt, Holz, Kleider und andere Hinterlassenschaften lagen scheinbar wahllos herum. Das Geländer, an dem sie sich damals mühevoll in das obere Stockwerk gezogen hatte, hing an mehreren Stellen durch, war am unteren Ende geborsten.
Sie versetzte sich in den Geist ihrer Mutter und sah den Weg.
Ohne Fragen zu stellen, folgten die anderen ihr über Hindernisse hinweg, die mit Kies bestreut waren, sodass kaum Spuren zurückblieben. Sie wichen Löchern in der Treppe aus, hangelten sich kurze Strecken am Geländer entlang, kletterten auf umgestürzten Regalen empor.
Ihre Mutter erwartete sie in dem verborgenen Vorratszimmer. Wortlos umarmte sie ihre Tochter und Chries, begrüßte die Sumpfleute mit einem Handschlag, nickte Akim, Ardanna und Sphita zu.
„Klettern wir“, krächzte sie dann.
Erneut hagelten Erinnerungen auf Adiv ein, so stark, dass sie sich duckte und den Kopf zwischen die Schultern zog.
„Was ist?“, flüsterte Chries.
„Hier oben habe ich die wahrscheinlich schlimmste Nacht meines Lebens verbracht. Eingesperrt mit meinen Gedanken und in Todesangst, nachdem ich Aan gefunden hatte.“ Sie verstummte, trat zu einem Loch im Dach und steckte die Finger hindurch, atmete tief die feuchte Luft ein und wandte sich zu ihrer Mutter. „Lebst du jetzt hier?“
„Hin und wieder. Ich wechsle die Schlupflöcher.“
„Wovor versteckst du dich? Die Majestes kennen dich.“
„Bru Nehegelen hielt die Hand über mich. Seine Enkel akzeptieren mich, doch es wird schwieriger.“
„Inwiefern?“, fragte Gillok.
„Setzt euch“, sagte Etahpe. „Ruht euch aus, solange ich berichte. - Deine Sumpffreunde kenne ich“, fuhr sie, an Adiv gewandt, fort, „aber wer sind die anderen?“
„Akim“, stellte Adiv vor. „Ardanna und ihre Tochter Sphita.“
Etahpe sah Ardanna an. „Ihr seid ihre Ziehmutter.“
Ardanna lächelte. „Und Ihr ihre Mutter. Es ist schön, Euch kennenzulernen, sogar unter diesen Umständen.“
„Ist sie eine gute Tochter?“
„Das wisst Ihr selbst doch am besten. Ihr habt sie aufgezogen.“
Etahpe nickte. Ihre Zungenspitze rollte durch ihre Wangentasche. „Nehegelen starb und viele seiner Kinder mit ihm. Kinder aus allen Familien: nad Tala, Novíes und Chausselles. Ein paar kleinere Zweigfamilien. Die, die Maji am stärksten in sich trugen. Von den Überlebenden behielt mehr als die Hälfte Schäden zurück. Einige verfielen körperlich. Schwäche, Auszehrung, Fieber. Pupillentrübung bis hin zur Erblindung. Muskelzuckungen, schwärende Auswüchse, Brechsucht, Zahnfäule, Haarausfall. Gichtknoten. Solche Dinge.“
„Behandelbar“, sagte Ardanna. „Zumindest die Symptome.“
„Teilweise“, bestätigte Etahpe. „Aber es fehlt an Medizin. Ich verbringe eine Menge Zeit in den Talamales, suche nach Kräutern, Hölzern, Pilzen. Allerdings ist Winter. Ich finde wenig.“
„Im Laufe des Jahres werden sich zahlreiche Betroffene erholen. Zumal mangelnde Hygiene und Ernährung manches begünstigt.“
„All diese Krankheiten gab es hier schon immer, doch der Verlauf ist schneller und bösartiger. Viele weisen mehrere Symptome auf. Bei anderen löste sich der Geist auf. Sie wurden einfach ... blöde. So etwas habe ich nur bei sehr alten Menschen nach Hirnschlägen gesehen. Sie sabbern, verlieren die Kontrolle über Verdauung und Harndrang, kichern, schreien oder verstummen, stammeln unverständliches Zeug, stieren in die Luft. Fürchterlich mit anzusehen.“ Die Hand der Diebin zitterte, als sie sich eine dünne Haarsträhne aus dem Gesicht schob. „Es ist, als wäre mit der Magie alles Gesunde aus ihnen gewichen.“
Gillok gab ein unterdrücktes Geräusch von sich. Syriakin stand auf, trat an die Wand und schlug mit der flachen Hand dagegen. Auch Akim blickte bestürzt.
„Viele werden sich erholen“, wiederholte Ardanna mit fester Stimme. „Medizin, Ruhe, kundige Ärzte. Nahrung, saubere Wohnungen. Die meisten Symptome sind behandelbar, unmittelbare Schockreaktionen. Erschreckend, verstörend, aber nicht das Ende.“
„Es gibt hier keine Ärzte“, sagte Etahpe. „Keine Kundigen. Nicht einmal Heilerinnen oder Kräuterfrauen.“
„Es gibt dich“, entgegnete Adiv.
Ihre Mutter lachte auf, doch in ihre Augen traten Tränen.
Ardanna rutschte zu der verhärmten Frau. „Ihr habt getan, was Ihr konntet. Grämt Euch nicht. Diese Aufgabe ist zu groß für einen Menschen. Wir werden Euch helfen, sobald unsere Mission abgeschlossen ist. Ich verspreche es. Aber jetzt erzählt weiter.“
Etahpe schluckte, bevor sie weitersprach. „Das Throngerangel begann, noch bevor das Chaos ausbrach. Teile der Zweiten Familie beanspruchten ihren Platz, doch Nebunedzad und Cehaj errangen einen Sieg. Einen vorläufigen zumindest. Es flackern immer mal wieder Kämpfe auf, auch innerhalb der nad Tala. Eine klare Thronfolge war wohl nicht vorgesehen.“
„Offenbar glaubte Bru Nehegelen, ewig zu leben“, stieß Gillok hervor.
„Vielleicht hätte er das sogar. Die Magie nährte sich an ihm und den anderen, aber sie hielt ihren Wirt am Leben, wie viele Parasiten.“
Chries sah Etahpe neugierig an. „Haben Cehaj und Nebunedzad denn irgendwelche Ansprüche auf den Thron? Obwohl es einen Thron im eigentlichen Sinne hier ja nicht gibt.“
„Wer durchschaut das schon? Sie sind alle seine Kinder. Enkel, Urenkel, Ururenkel, Neffen, Großneffen, Großvettern und so weiter. Sie alle glauben, sie hätten einen Anspruch.“
„Wie Aasgeier sind sie“, würgte Akim aus. „Schlimmer.“
„Maji macht sie zu dem, was sie sind“, erwiderte Etahpe. „Zumindest zum Teil. Den Rest besorgt ihre verquere Erziehung, ihr Glaube an ihre Vormachtstellung in der Welt.“
„Gibt es keine Frauen unter ihnen?“, fragte Sphita.
„Machthungrige, meinst du? In den Reihen ihrer Taram gibt es ausgezeichnete Kämpferinnen, einige mit Ambitionen auf eine höhere Stellung. Die wenigen, die an die Macht drängen, agieren eher aus dem Hintergrund. Sie ziehen Strippen aus den Schatten heraus. Aber sie sind ausgesprochen selten. Die Politik der Majestes machen Männer.“
„Frauen widerstehen der Magie besser“, sagte Ardanna.
„So wird es berichtet, ja. Aber Nebunedzad und Cehaj sind Männer. Ihre Eroberung war blutig und grausam, ihr Regime gründet auf Schrecken, Angst und Unterdrückung. Sie schlugen die Novíes und die verbliebenen Chausselles nieder, dann die Insassen.“
Syriakin, die wie eine eingesperrte Löwin das kleine Viereck des Raumes ablief, blieb stehen. „Sie sind nur so wenige. Gegen so viele.“
„Sie sind herausragende Taram, sorgen für Essen und frisches Wasser. Gewöhnliche Häftlinge waren noch nie außerhalb der Mauern. Sie sterben im Gebirge, wie die wenigen, die dorthin geflohen sind. Die Majestes bringen ihnen Fleisch, Eier, Feuerholz. Sie halten Aufrührer in Schach, bauen Wohnungen wieder auf, versprechen Stabilität. Und sie sorgen für Beschäftigung. Für einen Sinn in ihrem Leben.“
„Welchen?“, fragte Adiv atemlos.
„Sie legen die Quelle wieder frei.“
Etahpes Enthüllung schlug ein wie ein Geschoss. Sogar Syriakin sank zwischen Gillok und Akim an der Wand nieder und starrte entmutigt in die Gesichter der anderen.
„Wenn wir ehrlich sind“, begann Ardanna langsam, „hätten wir selbst darauf kommen können.“
„Sie wollten uns nicht einlassen, damit wir die Aufräumarbeiten nicht sehen“, erwiderte Adiv mit geschlossenen Augen.
„Sie fanden deine Mutter nicht, weil diese auf der Flucht vor ihnen ist. Hat man Euch gedroht?“, fragte Gillok die Diebin.
„Das mussten sie gar nicht. Ich bekam ihre Pläne mit und Nebunedzad erkannte es. Er sah mich nur an. Ich verschwand in derselben Nacht. Sie kontrollieren den Eingang und die Tunnel. Der einzige offene Weg, den ich kenne, führt in die Talamales. Doch auch ich überlebe den Winter im Gebirge nicht.“
„Wie weit sind sie?“ Gilloks Stimme klang verzagt.
„Sie müssen einen Berg abtragen. Zentnerweise Schutt. Nicht weit. Aber sie haben genügend Arbeiter. Einen Staat voller Insassen. Noch vor dem nächsten Winter liegt die Kloake wieder frei. Vielleicht früher. Sie treiben sie zum Schuften an. Wer nicht arbeitet, bekommt nichts.“
„Von der Gefangenschaft in die Sklaverei“, seufzte Adiv.
„Eine freiwillige. Sie lassen ihnen die Wahl. Gehen oder arbeiten.“
„Keine echte Wahl.“ Syriakin sah die anderen reihum an. „Wir müssen sie aufhalten.“
„Nein“, widersprach Gillok. „Das hier hat Zeit. Ylaiy wird Truppen entsenden, das Gefängnisregime niederreißen. Bis dahin reiben die Majestes sich vielleicht gegenseitig auf. Erst Elphen. Die kleinere Quelle. Ciycain.“
„Erst Elphen“, wiederholte Etahpe. „So lebt er?“
„Als einziger“, sagte Adiv. „Die Quelle in der Wüste ist verschlossen. Kian und Yvain halfen. Jetzt erholen sie sich im Palast von dem Erlebten.“
Etahpe legte die Hand an ihre Stirn. „So viel ist passiert.“
„Da ist noch etwas“, sagte Adiv leise. „Ich glaube, ich bin schwanger.“
Ihre Mutter fuhr herum, Sphita schnappte hörbar nach Luft, Akim versteifte. Chries, Ardanna und Syriakin warfen sich lediglich stumme Blicke zu.
Etahpe raffte ihr Kleid und stand auf. Unmut schwelte in ihrem schwärzlichen Gesicht. „Was in Kaas Namen tust du dann hier?“
„Helfen.“
„Du trägst ein Kind! Du solltest zu Hause sein und dich schonen.“
„Ich bin nicht krank!“
„Aber auch nicht gesund. Man sieht, dass du Schmerzen hast. Zusätzlich zu der Schwangerschaft.“ Aus Etahpes Augen sprühten Funken. Sie drehte sich zu den anderen. „Wie konntet ihr sie mitkommen lassen?“
Ardanna erhob sich ebenfalls. „Wir haben versucht, es ihr auszureden, glaubt mir. Wir werden auf sie aufpassen.“
„Aufpassen?“
„Die Zeit drängt, Etahpe. Wir müssen fliehen.“
„So viel ist mir klar. Es gibt nur einen Weg hinaus.“
„Den ins Gebirge, ja. Das passt zu unserem Plan. Wir müssen über die Talamales zu den Fischgründen der Einheimischen. Wir brauchen ihre Boote, um zur letzten Quelle zu gelangen.“
Die Diebin kniff die Lippen zusammen. „Das ist ein verrückter Plan.“
„Wir leben in verrückten Zeiten und haben keine Wahl.“
Etahpe schwieg lange. Sie kaute auf ihrer Lippe, massierte ihren Armstumpf und starrte auf Adiv. „Ich komme mit.“
Ardanna lächelte. „Unbedingt.“
„Den ganzen Weg.“
„Unbedingt.“
Syriakin schob sich zwischen die beiden Heilerinnen. „Wo sind unsere Waffen?“
„In den Tiefen. Unerreichbar für uns.“
„Ohne sie sinken unsere Chancen.“
„Ich habe Waffen. Breitschwerter, Soldatendolche, das, was ich aus vergessenen Waffenkammern bergen konnte. Minderwertiges Zeug. Vieles ist rostig, schartig, stumpf.“
„Besser als nichts.“
„Einige sind vergiftet. Könnt Ihr mit ihnen umgehen?“
Adiv schnaubte und warf Gillok einen amüsierten Blick zu.
„Gehen wir“, war alles, was Syriakin sagte.
Etahpe hielt sie zurück. „Cehaj und Nebunedzad werden uns folgen. Wir sind Eindringlinge, die sich ihren Befehlen widersetzen und die um die Quelle wissen. Sie werden versuchen, uns aufzuhalten. Um jeden Preis.“
„Das ist mir klar.“
„Sie sind nicht mehr Eure Freunde.“
„Ich weiß.“ Ungeduld züngelte in Syriakins Worten. „Wir müssen zum Südmeer. So schnell wie möglich. Lasst uns gehen.“
Ylaiy stieß einen Seufzer aus, als das Tor sich hinter ihnen schloss. „Endlich.“
Jonoy beugte sich vor. „Belagern sie Euch jedes Mal, wenn Ihr das Tor durchquert?“
„Nicht nur mich. Jeden, der nach Almosen riecht.“
„Wissen die Bettler, wer Ihr seid?“, fragte Mehlau und verstummte gleich darauf, als sie den Palasthof betraten. Mit weit aufgerissenen Augen wandte er den Kopf in alle Richtungen gleichzeitig, um die eindrucksvolle Baukunst in allen Einzelheiten zu erfassen. Schon als die ersten Türmchen in der Ferne aufgetaucht waren, hatte eine sprudelnde Unruhe ihn ergriffen und er hatte dutzende Fragen gestellt.
Ylaiy lächelte verständnisvoll. Yruishs strahlende Mauern übten häufig diese Wirkung auf Gäste aus. „Wer weiß.“
„Beleidigt Euch das nicht? Immerhin seid Ihr der Kaiser.“
Kurz dachte Ylaiy an seine Jugend zurück. An endlose Bankette, Empfänge und Sitzungen, Turniere und Festtage. An die verhassten Repräsentationspflichten. An die Namen, die hinter seinem Rücken geflüstert wurden. Prinz Glück. Vul Dran’o. Der Büchernarr, der Hasenfuß, dem immer jemand nach dem Leben zu trachten schien. Ihm war nie ganz klar geworden, weshalb. Hatte Vei hinter den Anschlägen gesteckt? Andere Thronneider und Ehrgeizlinge?
„Nein“, erklärte er mit fester Stimme. „Im Gegenteil. Ich genieße die Anonymität.“
„Lange wird sie nicht anhalten“, entgegnete Jonoy. „Bislang hattet Ihr kaum Zeit zum Regieren und Repräsentieren.“
Ylaiy verzog das Gesicht. „Ratet, welche Obliegenheit ich jetzt schon verabscheue.“
„So reformiert das Protokoll“, meldete sich Yvain mit schwacher Stimme aus der Kutsche zu Wort. „Beschneidet unnötiges Zeremoniell und ausufernden Prunk. Bescheidenheit anstelle von Zurschaustellung.“
„Damit können wir uns später beschäftigen. Dringende Aufgaben zuerst. Wiederaufbau. Anwerben und Neueinstellungen von Soldaten und Wärtern. Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen. Die Hungersnot. Die Boragha.“
„Um so nötiger sind Sparmaßnahmen“, gab Yvain zurück und sank wieder gegen Kian, der die Einfahrt in den Palast verschlief.
„Die allerwichtigste ist die Einführung der neuen Regierung. Sila ist erst der Anfang. Ich plane, weitere Abgeordnete aus der Handwerkerstadt einzuladen. Gesandte aus den Sümpfen und Berlen. Eine Aufgabe für Kian und Ciycain, sobald sie alt genug sind.“
Jonoy strich sich über den Bart. „Das klingt nach einem Umsturz.“
Ylaiy schüttelte den Kopf. „Wir gehen es langsam an. Nachhaltige Veränderungen brauchen Zeit, kluge Köpfe, Vordenker. Sowie Yvain genesen ist, wird er meine rechte Hand. So er denn möchte.“
„Ich dachte, Sila ist Eure rechte Hand.“
„Sie ist meine linke. Die meines Herzens.“
Jonoy schmunzelte. „Das nenne ich eine Liebeserklärung.“
Ylaiy zügelte sein Pferd, brachte es mitten auf dem Palastplatz zum Halten. „Es fühlt sich richtig an“, sagte er zu dem Schmied. „Das alles hier. Es fühlt sich an wie eine Heimat. Der Hof, Sila, Talin, Yvain. Rana und Sem. Es ist eine Grundlage, etwas, das wachsen kann.“
„Dann machen wir mal, dass wir hineinkommen. Bei allen Schmiedefeuern, freue ich mich auf den Frühling!“
Eine Viertelstunde später betraten sie einen der Empfangssäle, angekündigt durch einen der Burschen, die als Knappen eine Ausbildung im Palast durchliefen. Sila erwartete sie. Sie hielt Talin auf dem Arm und strahlte über das ganze Gesicht.
„Ihr werdet mit jedem Tag hübscher“, verkündete Jonoy mit lautem Bass, bevor er sich streckte und sie auf beide Wangen küsste. „Und du, kleiner Mann, wirst mir bald über den Kopf wachsen.“ Er kitzelte Talin, sodass dieser seine Scheu schnell verlor und sich gluckernd krümmte.
Auch Ylaiy beugte sich zu seinem Sohn. „Papa“, krähte der Kleine und reckte sich Ylaiy entgegen, der ihn so behutsam aus Silas Arm nahm wie eine kostbare Kristallvase.
Sila lächelte. „Er zerbricht schon nicht.“
„Man weiß nie“, brachte Ylaiy heraus, neigte sich zu ihr und küsste sie, gerade, als Rana den Raum betrat. Der Kuss rutschte auf ihre Wange, geriet schüchtern, beinahe züchtig.
Rana sah ebenso gesund aus wie ihre Tochter: rotwangig und munter. Ihr kurzes, von silbernem Grau durchzogenes Haar kringelte sich um Ohren und Nacken.
„Ihr seht bezaubernd aus“, rief Jonoy ihr entgegen. „Ihr seid ein echter Glückspilz, Sem!“
Der Drechsler war hinter Rana im Türrahmen erschienen, nahm die Mütze ab und knetete sie in den Händen. Handwerkerhände, sah Jonoy sofort, knotig und kräftig, seinen eigenen nicht unähnlich. Er fühlte die Schwielen, als er sie schüttelte.
Sem erwiderte den Handschlag ohne Zaudern.
„Danke für das Kompliment, Jonoy“, sagte Rana nach einem Blick auf Sila und Ylaiy. „Ihr hingegen seht aus, als kämt Ihr aus einer Schlacht, vor allem die Jungen.“ Sie trat zu der Reihe gepolsterter Sessel, musterte besorgt Kian und Yvain, die halb in den Sitzen lagen, die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen.
„Wir waren in der Wüste“, erklärte Mehlau. Auch er lehnte in den Polstern.
„Das wissen wir. Ardanna schickte bald nach eurer Abreise einen Boten. Wart ihr erfolgreich?“
Mehlau senkte den Kopf. „Schon, doch wir hatten Verluste.“
„Shesh, ja“, sagte Rana leise. „Seine Asche erreichte uns vorgestern, zusammen mit Ylaiys Nachricht. Wir sind immer noch erschüttert.“
Sie setzte sich neben Mehlau auf einen Sessel und sah die Anwesenden traurig an. Sie erwiderten den Blick schweigend. Ylaiy vergrub sein Gesicht in Silas Haar. Selbst Talin wurde ganz still.
„Wir wollten ihn nicht in der Fremde lassen“, sagte Yvain mit matter Stimme.
„Er ist als Held gestorben“, fügte Kian hinzu, der klang, als hätte man ihn in aus dem Tiefschlaf gerissen.
„Denkt Ihr an eine offizielle Beerdigung?“, fragte Sila.
Ylaiy löste sich von ihrem Hals. „Eine ehrenvolle, aber in kleinem Kreis. Damit alle Abschied nehmen können.“
Sem räusperte sich. „Ich gehe einen Schrein für die Urne zimmern.“
„Ich kann Euch helfen“, bot Jonoy an. „Holz ist zwar nicht mein Werkstoff, doch ich bin geschickt.“
Sich die Mütze zurück auf den Kopf schiebend, nickte Sem.
„Könntet ihr vorher die Jungen in ein Bett bringen?“, fragte Rana. „Die Sessel sind zu unbequem zum Schlafen. Talin kann auch ein Nickerchen vertragen.“
„Sicher.“
Yvain gab keinen Laut von sich, als er schlaff in Sems Armen versank. Kian seufzte mit geschlossenen Augen, als Jonoy ihn an seine Brust hievte. Ylaiy lächelte Sila bekümmert an und gab ihr Talin, der kaum protestierte.
„Ich bin gleich zurück“, sagte Sila. Gemeinsam mit den Männern verließ sie den Raum.
Ylaiy schlurfte zu der Sesselgruppe und sank, ein Stöhnen unterdrückend, in die Polster.
„Ihr seid ebenfalls verletzt“, stellte Rana fest.
„Ein Stich in die Brust. Mehlau hat schwere Kopfverletzungen, die Jungen einen Schock, den Ardannas Meinung nach nur viel Ruhe heilen kann. Sie hat uns gewissermaßen aus dem Spiel genommen.“
„Spiel“, stieß Rana aus. „Wo sind die anderen?“
„Auf dem Weg nach Kaadaa. Sie wollen Elphen finden, bevor er noch größeren Schaden anrichtet.“
„Ist Ciycain aufgetaucht?“
„Nein. Nou auch nicht. Syriakin und Gillok befürchten, dass Elphen hinter ihr her ist.“
„Was hat er vor?“
„Wenn wir das wüssten.“ Mit einem tiefen Seufzen lehnte Ylaiy sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und rieb sich den Brustkorb. „Je mehr wir erfahren, desto mehr verlieren wir uns in Spekulationen und abstrusen Theorien. Magie. Quellen. Kinder, die in den Augen der Majestes wie Götter sind.“
„Wie meint Ihr das?“
„Elphen und seine Anhänger verehren die Kinder, beten sie geradezu an. Für sie sind sie die Verbindung zur Magie, ein ... Tor.“
„Aber wer zerstört seine eigenen Götter?“
„Ihr Glaube ist so wirr wie die meisten Glaubensrichtungen. Und Elphens Geist hat zweifellos Schaden genommen bei den Kämpfen und all den Verlusten. Wir wissen nur, dass er zu der letzten Quelle will und dass Ciycain das letzte Kind ist, dass noch die Kraft hat, ihm zu dienen.“
„Oder ihn zu bekämpfen.“
„Gibt es einen besseren Tod für einen besessenen Gläubigen? Entweder er stirbt von der Hand eines Götterkindes oder sie ist sein Eintritt zur Magie.“
„Irregeleitete Wahnsinnige“, flüsterte Mehlau. „Ich will zurück in mein Dorf, nie wieder etwas von diesen Verrückten hören und sehen.“
Ylaiy beugte sich unter Schmerzen vor. „Nach Sheshs Begräbnis geht ihr nach Hause.“
„Ihr verlasst uns?“, fragte Rana.
„Ich kann es kaum erwarten.“ Mehlau stieß ein Lachen aus. „Nun bin ich im Palast und will nichts weiter, als wieder weg von hier. Lieber heute als morgen.“
Rana rückte an den Gesellen heran. „Ihr seid ein wackerer Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. So wie Shesh, Ivson und Mannero. Redet Euch nichts anderes ein.“
„Dem Kugelkopf hätte es hier gefallen. All die Pracht.“
„Ihr könnt ihm davon erzählen. Ihr sprecht doch bestimmt manchmal mit ihm.“
„Verfluchen trifft es besser.“
„Erzählt ihm lieber von all dem Gold hier. Den hübschen Mädchen. Den Handwerkskünsten allerorts. All den Abenteuern, die Ihr erlebt habt.“
„Die will ich vergessen.“
„Sie verlieren ihren Schrecken, wenn Ihr darüber redet, glaubt mir.“
Mehlau seufzte. „Ich versuche es.“
„Das ist ein guter Anfang. Nun ruht Euch aus.“ Dann wandte sie sich an Ylaiy. „Ihr legt Euch auch hin. Auf Euch wartet eine Menge Arbeit.“
Zu ihrem Erstaunen wandte ihre Mutter sich nach dem Verlassen der Vorratskammer nach rechts und pirschte den oberen Flur entlang, bevor sie ein weiteres Zimmer am Ende des Ganges öffnete. Als sie es betraten, wehte ihnen kalter Wind entgegen. In der äußeren Ecke klaffte ein mannsgroßes Loch in der Mauer.
„Eine Bresche“, murmelte Gillok.
„Ein Fluchtweg“, erwiderte Etahpe. Sie trat zu der Öffnung und lugte durch sie nach oben. „Über die herausgebrochenen Vorsprünge gelangen wir aufs Dach.“
„Damals sind wir unten entlang“, erinnerte sich Adiv.
„Da gab es die Lücke noch nicht. Ein Wintersturm fegte die Schiefer an dieser Ecke hinunter.“
„Ein Sturm reißt keine Steinwände ein“, widersprach Gillok.
„Wenn man von innen ein wenig nachhilft, schon.“ Erneut lugte die Diebin in den Hof.
Syriakin trat neben sie und musterte die instabil wirkenden Wände.
„Sie halten, Kriegerin“, sagte Etahpe.
„Dann los.“ Syriakin lehnte sich nach draußen und wollte den ersten Vorsprung greifen, aber Etahpe schob sie beiseite und schüttelte kräftig den leeren Ärmel. Heraus fiel eine Art Schlinge, gefertigt aus Gürteln und Bändern. Mithilfe dieser Prothese schwang sich die Diebin gewandt zuerst an die Außenseite der Mauer, danach auf das Dach.
Syriakin kletterte ebenso mühelos nach oben. Auf dem First schlich sie geduckt zum anderen Ende des Daches und spähte nach allen Seiten.
„Bring sie zu den alten Wärterunterkünften südlich von hier“, befahl Etahpe ihrer Tochter, die unterdessen zu ihnen geklettert war. „Das zweite Dach ist stark beschädigt. Sucht den freistehenden Kamin. Er ist seit Ewigkeiten verstopft.“
„Eins deiner Verstecke?“, mutmaßte Adiv.
„Ihr braucht ein Seil mit Haken. Es liegt vier Schritte weiter unter einer Schindel. Wir gehen über die Dächer zum Küchengebäude. Von dort aus springen wir.“
„Bewachen sie diesen Weg nicht?“
„Natürlich. Aber er ist offen. Man darf ihn passieren.“
„Nur wir nicht.“ Syriakin half Ardanna, sich den letzten halben Meter auf das Dach zu hieven.
„Zwei Männer“, erwiderte Etahpe. „Wir müssen sie ausschalten. Dafür habt Ihr bestimmt einen Plan.“
Syriakin antwortete ihr nicht. „Du gehst vor“, gebot sie stattdessen Adiv.
Das Tor in die Talamales entpuppte sich als eine Mischung aus Rampe und Leiter, die über die Palisaden führte.
Sphita lag, eingezwängt zwischen Gillok und Chries, flach auf dem Dach des Küchengebäudes und lauschte in die Dunkelheit. Sie versuchte, die Zeit abzuschätzen und kam zu dem Ergebnis, dass keine drei Stunden vergangen sein konnten, seit sie das Gefängnis betreten hatten. Mitternacht war noch eine Weile hin. Die finstersten Nachtstunden würden sie im Gebirge verbringen, vermutlich ohne Feuer oder Fackeln, um die Majestes nicht auf ihre Spur zu locken. Es würde kalt werden. Und gefährlich. Wahrscheinlich würden sie Akims Sinnen vertrauen müssen.
Selbst hier, auf dem Hof des gigantischen Komplexes, war es beinahe stockduster. Und still. Erstaunlich, wenn man bedachte, dass einige zehntausend Menschen hier drinnen hausten. Hin und wieder hörte sie jemanden husten oder ein geflüstertes Gespräch, aber abgesehen davon blieb es enervierend ruhig. Hinter keinem der Fenster brannte ein Licht. Adiv hatte ihr erklärt, dass die meisten Behausungen unter der Erde standen, dass es mehrere Stockwerke unter der Oberfläche gab, ein Labyrinth aus Gängen, Tunneln, Stollen und Kanälen. Schwer vorstellbar, dass unter ihren Füßen, unter dem Küchengebäude, Menschen lebten wie Kaninchen in ihren Bauten.
Adiv hatte erläutert, dass Insassen wie Majestes den Untergrund vorzogen. Oben zu sein, bedeutete Gefahr und Unbilden. Wetterkapriolen, Kälte, Wärter, Schikanen. Der Untergrund verhieß mehr Sicherheit. Natürlich war es stickig. Es stank, es war eng, und allerlei Pack trieb sich dort herum. Dennoch: Das Unten gehörte den Gefangenen, das Oben den Wärtern. Offenbar selbst jetzt noch, obwohl es keine Bewacher mehr gab.
Von irgendwoher erscholl der Ruf eines Käuzchens. Um sie erstarrten die Männer und Frauen, dann sah sie, wie Gillok sich lautlos zum Rand des Daches schlängelte, ein Seil mit Haken in der Hand. Neugier brodelte in ihr, ein Verlangen zu sehen, was unter ihr geschah, aber sie hatte strikte Anweisung, sich absolut ruhig zu verhalten. Außerdem spürte sie die Finger ihrer Mutter an ihren Knöcheln. Also legte sie ihren Kopf auf die verschränkten Arme, atmete möglichst leise gegen das Holz und strengte ihr Gehör an. Sie vernahm gedämpfte Kampfgeräusche: abgewürgte Schreie, Stöhnen, das Kreuzen von Klingen, das Klatschen von Fäusten. Dann Gillok, der plötzlich aufsprang, seine Stiefelsohlen, als er auf dem Pflaster landete, ein gedrosseltes Gurgeln, schließlich erneut das Käuzchen.
„Los“, zischte Etahpe, die ihr ein bisschen Angst machte mit ihrem schwärzlichen Gesicht, den tief liegenden Augen und dem fast zahnlosen Mund.
Sphita half ihrer Mutter hoch und folgte den anderen. An der Dachkante zögerte sie kurz, bevor sie die Augen schloss und sprang. Der harte Aufprall dröhnte von ihren Fußsohlen hinauf bis zum Schädeldach.
Unten warteten Akim, Adiv, Syriakin und Gillok, die Leichen zweier Männer zu ihren Füßen. Vier gegen zwei, und doch atmeten alle heftig. Gillok zog den Haken aus der Wange des größeren Toten und schüttelte den Arm aus.
„Verletzt?“, flüsterte Ardanna.
„Nur verdreht. Schnell! Verschwinden wir.“
Rasch kletterten sie die Rampe, anschließend die Stiege hinauf und auf der anderen Seite der Palisade wieder hinunter.
Etahpe folgte dem ausgetretenen Pfad für etwa eine Meile, dann schlug sie sich rechter Hand ins Unterholz. Hier verlief ein schmaler, von Wurzeln überwucherter Weg, der kaum auszumachen war. Ihm folgten sie für weitere zwei Meilen, kreuz und quer um Schösslinge und mächtige Kiefern herum, immer wieder über Wurzeln stolpernd oder gegen niedrig hängende Zweige laufend, bis sie eine Felswand erreichten. Etahpe lief um den Felsen herum, verschwand plötzlich in einer senkrechten Spalte. Hinter ihr verbarg sich eine enge Höhle, in der sie zum ersten Mal verschnauften.
Die Diebin entzündete ein kleines Feuer aus Zunder, Reisig und trockenen Scheiten, die sie aus mehreren Einbuchtungen in der Felswand klaubte, während Chries draußen Wache schob.
„Wie viele Verstecke hast du?“, fragte Adiv, sich auf den Boden setzend. Sphita sank neben sie, verteilte Zwieback, entkorkte einen Wasserschlauch und reichte ihn reihum.
„Ich weiß nicht genau.“
„Wir können hier nicht bleiben“, sagte Syriakin, die, nachdem sie zwei Schlucke Wasser getrunken hatte, die geborgenen Waffen einsammelte und sich an der Felswand niederließ, um sie zu inspizieren.
„Seid nicht so ungeduldig“, rügte Ardanna und machte sich daran, Gilloks Handgelenk zu untersuchen.
„Bist du verletzt?“, fragte Etahpe ihre Tochter.
„Nein“, wehrte Adiv ab. „Ich habe mich aus dem Kampf herausgehalten.“
Etahpe kniff die Augen zusammen. Missbilligung stand in ihren Zügen.
„Mutter.“
„Verstecke gibt es unzählige hier oben“, berichtete Etahpe, ohne den Blick von Adiv zu nehmen. „Wurzeln, Höhlen, sogar Wasserfälle. Es gab wenig Schnee, aber viele Stürme. Die meisten Hochwiesen liegen frei. Hüfthohes Gras. Auch darin kann man sich verbergen. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, welche meiner Unterschlüpfe die Majestes kennen. Gut möglich, dass sie mich früher beobachtet haben.“
Etahpe stand auf und ging zu Akim, der schweigend am Feuer saß. Sie hob sein Kinn an und schaute in seine Augen. „Seid vorsichtiger mit Eurem Kopf. Man sieht noch die Faustspuren vom letzten Mal. Und jetzt blutet Ihr an der Schläfe. Ist Euch schwindlig?“
„Nein, es geht mir gut, danke.“
„Legt ein wenig Schnee darauf.“
„Das werde ich.“
„Die Waffen sind schäbig“, sagte Syriakin von ihrem Platz aus.
„Besser als nichts“, entgegnete Ardanna, Gilloks Hand verbindend.
Syriakin schoss ihr einen gereizten Blick zu und warf zwei Messer zur Seite. „Die sind so schartig, dass man sich eher selbst verletzt als einen Gegner.“
„Sortiert aus, was wir nicht gebrauchen können“, rief Etahpe ihr zu. „Aber seid vorsichtig. Behaltet die Drähte und die geschwärzten Dolchspitzen.“
„Cehaj und Nebunedzad haben sicher längst unser Verschwinden bemerkt“, sagte Gillok.
„Sie werden Suchtrupps zusammenstellen“, bestätigte Etahpe. „Kämpfer und Späher. Wir müssen weiter.“
„Wisst Ihr die Richtung noch?“, fragte Ardanna.
„Ja“, antworteten Etahpe, Adiv, Syriakin und Akim wie aus einem Mund.
Sphita lachte auf und auch Ardannas Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Das war offenbar eine dumme Frage.“
„Ich habe noch eine“, sagte Sphita. „Wie wollen wir in der Dunkelheit durch das Gebirge kommen? Ich habe Angst, mir an einem Zweig ein Auge auszustechen oder über eine dieser Wurzeln zu stolpern. Hier oben zieht man sich schnell einen umgeknickten Knöchel oder einen gebrochenen Arm zu.“
„Ich gehe vor“, bot sich Akim an. „Ich sehe die meisten Hindernisse. Zumindest die größeren.“
„Ich kann auch ganz gut sehen“, setzte Ardanna hinzu. „Überraschenderweise. Es bleibt eine Zitterpartie, aber es geht besser als erwartet.“
„Ich ebenso“, meinte Adiv.
„Was ist mit Euch?“, wandte Ardanna sich an Syriakin.
„Ausreichend.“
Ardanna ging zu ihr und inspizierte ihr Gesicht. „Ihr habt Kratzer auf der Stirn.“
„Wie wir alle.“
„Weitere Verletzungen?“
„Seid Ihr jetzt mein Kindermädchen?“
Statt einer Antwort fasste Ardanna nach Syriakins linker Hand und drehte sie nach oben. Die Sumpffrau hisste und ließ das Schwert, das sie gehalten hatte, fallen.
Ardanna seufzte ärgerlich. „Ihr werdet nie vernünftig, oder?“
„Was hat sie?“, wollte Adiv wissen.
„Einen Schnitt im Unterarm, wahrscheinlich von einem Schwert. Ich habe das Blut auf ihren Fingern gesehen, als sie getrunken hat. Einhändig. Alle anderen nehmen beide Hände.“
„Ich nicht.“ Etahpe war zu Ardanna getreten und inspizierte den Schnitt. „Soll ich Harz holen?“
„Oh ja. Unsere ungeduldige Freundin hier denkt immer noch, sie wäre gegen Infektionen und Blutverlust gefeit.“
„Und mögliche Vergiftungen“, fügte Etahpe hinzu.
„Das hätte ich längst bemerkt“, versetzte Syriakin.
„Das hier wird ein paar Minuten dauern“, sagte Ardanna zu Gillok und Akim. „Löst Chries ab, damit er rasten und etwas essen und trinken kann. Verteilt die Waffen, die wir gebrauchen können.“
„Gut. Wir überlegen uns außerdem, wer mit wem läuft“, erwiderte Gillok, nachdem er seiner Gefährtin einen strafenden Blick zugeworfen hatte. „Und wo entlang. Möglicherweise werden wir getrennt. Dann brauchen wir einen Sammelpunkt, zu dem wir alle finden.“
In der Zwischenzeit war Ardanna neben Syriakin gerutscht. „Wenn das Harz nicht hilft, müssen wir nähen.“
„Näht am besten gleich.“
Ardanna seufzte. „Wie Ihr meint.“
Ihre Mutter benötigte vier Doppelstiche, um die Wunde zu nähen; Zeit, die Akim nutzte, den Riss an seiner Schläfe mit Schnee zu kühlen und ihn ebenfalls mit dem Baumharz einzureiben. Sphita dachte daran, dass das Gemetzel am Zaun ihr sehr kurz und unbedeutend vorgekommen war. Nun gab es drei Verletzte. Ein ernüchternder Gedanke.
In Zweierreihen verließen sie die Höhle. Etahpe ging mit Akim voran, ihr folgten Adiv und Chries, dann sie und Mutter, zum Schluss die Sumpfleute. Schweigend schraubten sie sich auf verworrenen Waldwegen in die Talamales, die Himmelsberge. Sphita erahnte mächtige Felsengebilde zu ihren Seiten, hin und wieder umspült von Gebirgsbächen. Dichter Wald umgab sie anfangs, doch mit zunehmender Höhe ging der Baumbewuchs zurück. Die Kälte hingegen nahm zu. Als der Nadelwald endete, blies ihnen eisiger Wind unter die Kleidung und in die Gesichter. Sphita bemerkte, dass ihre Nase zu laufen begann. Die Tropfen gefroren auf ihrer Oberlippe.
Der Aufstieg war lang und anstrengend, obwohl Etahpe Pfade wählte, die sich in flacheren Schleifen nach oben schlängelten. Nur einmal nahm sie eine Abkürzung direkt durch den Wald. Doch nach wenigen Metern keuchten selbst Akim und die Sumpfleute so laut, dass sie weit zu hören waren. Außerdem rutschten sie beständig auf Wurzeln, bemoosten Buckeln und glatten Steinen aus, sodass sie den steilen Anstieg wieder verließen.
Kaum etwas zu sehen, war das Schlimmste, fand Sphita. Gillok, Chries und sie stolperten beinahe blind neben den anderen her, hatten die Arme von sich gestreckt, bewegten sich wie Schlafwandler. Auch das verhinderte nicht, dass sie ständig gegen Hindernisse stießen: Stämme, Steine, Wurzeln, selbst Felswände, die sich plötzlich vor ihnen auftaten. Stachelige Zweige zerkratzten ihr Gesicht und ihre Zehen schmerzten von den vielen Zusammenstößen mit unsichtbaren Findlingen. Einmal war sie in ein Loch getreten und hatte sich den Knöchel verdreht. Den anderen ging es kaum besser. Jeder war mittlerweile mehrfach gestürzt, an verschneiten Abhängen abgerutscht oder auf dem unebenen Gelände ausgeglitten. Immer wieder hörte sie unterdrückte Schmerzensschreie oder erschrockene Ausrufe, obwohl sich jeder bemühte, möglichst keinen Laut zu verursachen.
Nach mehreren Stunden hielt Etahpe an. Sphita strengte ihre Augen an und erkannte eine verschneite Lichtung. In der Nähe rauschte Wasser.
„Wo sind wir?“, flüsterte sie.
„Ein paar Meter oberhalb der Baumgrenze“, gab Etahpe leise zurück. „Hier beginnt das Hochgebirge. Der Wald verändert sich. Krummhölzer, Zwergbäume, mehr Büsche und Sträucher, weniger Verstecke. Weiter oben nur noch Flechten und Gräser, dann gar nichts mehr. Bis dorthin gehen wir nicht.“
„Warum nicht?“, fragte Sphita.
„Die Luft wird zu dünn und verursacht Kopfschmerz und Schwindel. Ab hier laufen wir an der Bergkette entlang. Sehr gefährlich wegen der vielen Hänge, Täler und Schluchten. Wir sollten bis zum Morgen rasten.“
„Was ist mit Verfolgern?“, fragte Syriakin.
„Es gibt hunderte Wege hier hoch und wir hatten einen Vorsprung. Ich sage, wir warten bis zur Dämmerung. Allerdings sollten wir auf der Hut sein.“
„Ich nehme keine Verfolger wahr“, sagte Akim, nachdem er witternd die Ränder der Lichtung abgelaufen war.
„Nicht einmal sie gelangen lautlos durch dieses Gehölz, zumal im Dunkeln“, sagte Chries. „Wenn wir leise sind, können wir sie vielleicht sogar überraschen.“
„Wir wissen nicht, wie viele es sind“, gab Gillok zu bedenken. „Sie könnten einen Spähtrupp vorschicken, an dem wir uns aufreiben. Dann hätten sie leichtes Spiel.“
„Ich denke, wir sollten weitergehen“, meinte Adiv.
„Und uns im Dunkeln das Genick brechen“, setzte Etahpe düster hinzu.
„Stimmt“, pflichtete Ardanna ihr bei. „Weitergehen ist reiner Selbstmord. Wir sehen ja kaum die eigene Hand vor Augen.“
Einige Minuten schwiegen sie, bis Syriakin schließlich einen Entschluss fasste. „Wir rasten bis zur Dämmerung. Im Hellen sind wir schneller. Außerdem sehen wir sie kommen. Wir kämpfen nur im Notfall. Die Flucht von der Insel hat Vorrang.“
Gillok nickte. „Gefechte reiben uns auf und kosten Zeit. Wir brauchen einen raschen Weg an die Küste.“
„Es gibt nur die Pfade am Rand des Hochgebirges entlang“, entgegnete Etahpe. „Mühsam und gefährlich, auch bei Tage.“
„Was ist mit den Höhlen?“, fragte Chries zögerlich.
Etahpe stieß ein kehliges Geräusch aus und schüttelte heftig den Kopf.
Adiv merkte auf. „Welche Höhlen?“
„Die Kristallhöhlen“, erwiderte Chries.
Etahpe spie aus. „Dorthin geht kein Mensch, der bei Sinnen ist.“
„Wieso nicht?“
„Weil man lebend nicht aus ihnen herauskommt.“
„Ich habe noch nie von ihnen gehört.“, gestand Adiv.
„Nur die Einheimischen kennen sie“, erklärte Chries.
„Nicht einmal die Majestes?“, hakte Syriakin nach.
„Nein!“, fuhr Etahpe dazwischen. „Ihr könnt die Kristallhöhlen nicht durchqueren!“
„Der Weg wäre kürzer“, gab Chries zu bedenken. „Und ihr Ausgang liegt auf Meereshöhe. Der Abstieg durch sie ist leichter, als die Klippen hinunter zu klettern.“
„Und wie wollt Ihr atmen in den untersten Kammern? Es gibt keine Luft dort.“
Wild gestikulierend liefen die Diebin und der ehemalige Wärter im Kreis umeinander herum. Akim nutzte die Zeit, um eine weitere Runde um die Lichtung zu drehen.
„Hört auf!“, rief Adiv schließlich. „Lasst uns lieber das Lager aufschlagen und leise nachdenken.“
Etahpe grummelte, führte sie aber an den bergzugewandten Rand der Lichtung und schlüpfte unter etwas, von dem Sphita vermutete, dass es die Wurzel einer umgestürzten Bergkiefer war. Dort kauerten sie sich zusammen, hüllten sich in ihre Mäntel und schmiegten sich aneinander. Es blieb ungemütlich, doch das Wurzelgeflecht schützte vor dem eisigen Wind und bot so ein karges Obdach. Akim, Syriakin und Gillok bezogen ihre Wachtposten an den drei offenen Seiten der Schneise. Wenig später spürte Sphita, wie ihr trotz der Aufregung und der Kälte die Augen zufielen.
Als sie geweckt wurde, malten sich erste Streifen Grau am Himmel. Ihr Mantel war steif vor Kälte, ebenso wie ihre Finger. Um sie lagen die beiden Sumpfleute und Akim, während Adiv, Chries und Etahpe am Rand der Lichtung standen und in alle Richtungen spähten.
„Steh auf“, flüsterte ihre Mutter. Um die Augen herum sah sie müde aus, aber auf ihren Wangen brannte ein kräftiges Rot.
Vorsichtig erhob Sphita sich. Ihr Rücken und ihre Beine schmerzten von dem anstrengenden Aufstieg und der unbequemen Nacht.
Ihre Mutter wies auf einen knorrigen Baum, der halb zur Seite gekippt war. „Geh dich dort drüben erleichtern und dann iss und trink etwas.“
Sphita gehorchte, ohne Fragen zu stellen. Ihr Geist fühlte sich trotz des ungestörten Schlafes betäubt an.
Als sie zurückkehrte, saßen Akim und Syriakin bereits aufrecht, während Gillok noch gegen die bleierne Müdigkeit kämpfte. Sie alle konnten nicht mehr als zwei Stunden geschlafen haben. Schlechtes Gewissen überfiel Sphita. Sie hatte den Wachwechsel glatt verschlafen.
Minuten später hatten sie ihre Habseligkeiten zusammengesucht und standen im Kreis umeinander. Nur Akim tigerte mit geschärften Sinnen um die Lichtung herum.
„Also?“, richtete Adivs Mutter das Wort an alle.
„Wir gehen durch die Höhlen“, erwiderte die Sumpffrau. „Es ist der kürzeste Weg.“
„Ihr wisst nicht, auf was Ihr Euch einlasst. In bestimmten Abschnitten der Höhle halten Menschen es nur Minuten aus.“
„Wart Ihr darin?“
„Nein, aber ich kenne die Erzählungen. Extreme Luftfeuchtigkeit, extreme Hitze.“
„Es ist gefährlich“, bestätigte Chries. „Ich will das nicht verschweigen. Sehr riskant.“
„Dann soll jeder selbst entscheiden, welchen Weg er gehen will.“
„Du willst, dass wir uns trennen?“, fragte Gillok seine Gefährtin.
„Nein, aber mit diesem Streit vergeuden wir wertvolle Zeit.“
„Dann stimmen wir ab“, schlug Etahpe vor.
„Meine Meinung kennt Ihr. Höhlen.“
„Höhlen“, fügte Chries hinzu.
„Höhlen“, piepste Sphita, als die anderen zögerten.
Ardanna warf ihrer Tochter einen Blick zu. „Bist du sicher?“
„Ja.“
Die Heilerin streckte sich. „Höhlen.“
Gillok trat zu Syriakin. „Ich würde mich lieber über die Berge durchschlagen, aber ich will mich nicht schon wieder trennen. Höhlen.“
Damit war die Entscheidung gefallen. Etahpe fluchte. „Ich habe euch gewarnt. Dann los. Ein Stück Gebirge bleibt uns nicht erspart.“
Sphita wartete bei Adiv und Akim, während die anderen im Gänsemarsch auf einen von Wurzeln überwucherten Steig abbogen und anschließend in eine Felswand stiegen. „Wie hättest du entschieden?“, fragte sie Adiv.
„Zum Glück muss ich darüber nicht mehr nachdenken. Und du?“, fragte Adiv Akim.
„Gebirge. An der Luft ist mir wohler. Hier finde ich mich besser zurecht als unter der Erde. Das sind deine Gefilde.“
Um die Mittagszeit herum erreichten sie den Rand einer Schlucht, die sich wie ein zackiger Riss in einen Abhang grub. Zum ersten Mal seit dem frühen Morgen rasteten sie, brachen Schnee von den Felskanten und ließen ihn auf der Zunge schmelzen.
Akim und Syriakin strömten aus und erkundeten das kleine Plateau. Sphita fühlte sich von der permanenten Unruhe der beiden angesteckt und musterte die Umgebung. Ein Hain aus Krüppelkiefern, gesprenkelt mit stachligen Gebirgsrosen, lag hinter ihnen; vor ihnen zog sich die Talenge als schmales Band durch den Felsen. Linker Hand erstreckten sich die Berghänge der Talamales, durchsetzt mit felsigen Stufen, Kuppeln und scharfkantigen Gebilden; rechter Hand streckten die Latschen ihre Zweige bis an die Schluchtwand aus.
Sphita trat an den Rand der Klamm und äugte vorsichtig hinunter. Ein Bächlein plätscherte auf dem Grund entlang. „Sehr tief ist sie nicht.“
„Tief genug, um sich alle Knochen zu brechen, wenn man hinunterstürzt“, entgegnete Adiv, die neben ihr nach unten linste. „Zumal bei den spitzen Felsen. - Müssen wir auf die andere Seite?“, wandte sie sich nach ihrer Mutter um.
„Ja. Sie hier zu überqueren, spart uns einen stundenlangen Umweg durch die Berge.“
„Es gibt keine Brücke.“
„Doch.“ Etahpe wies auf einen bemoosten Baumstamm, der über der engsten Stelle der Klamm lag.
„Haben die Einheimischen ihn umgestoßen?“
„Vermutlich“, erwiderte Chries. „Sie benutzen oft Bäume, um über Schluchten zu gelangen. Sie lassen die dicken Äste daran, damit man sich an ihnen festhalten kann.“
„Also gehen wir hinüber?“, fragte Adiv.
„Und zwar schnell“, entgegnete Akim. „Ich habe ein ungutes Gefühl.“
Gillok verständigte sich stumm mit Syriakin, bevor er auf den Baumstamm kletterte und rasch auf diesem entlang balancierte, ohne in die Tiefe zu sehen. Als er auf der anderen Seite angelangt war, prüfte er die Umgebung und winkte dann.
Chries bewegte sich langsam und vorsichtig über die Klamm. Auch er vermied Blicke nach unten.
„Sieh dich bei den bemoosten Stellen vor“, riet er Adiv und trat an den Rand, wohingegen Gillok das Wäldchen im Auge behielt. „Komm.“
Adiv meisterte ihren Übergang gewandt, schien jedoch erleichtert, als sie Chries‘ Hand greifen und zu ihm springen konnte.
Sphita sah sich nach ihrer Mutter um. Diese wirkte gefasst, hatte aber nervös die Finger ineinander verschränkt. „Soll ich mit ihr gehen?“, fragte das Mädchen.
Syriakin musterte Ardanna forschend, bevor sie nickte. „Wir laufen zu dritt. - Schafft Ihr es allein?“, wandte sie sich an Etahpe.
„Wollt Ihr mich beleidigen, Kriegerin?“ Der Ton der Diebin war scharf.
„Beeilt euch“, stieß Akim hervor. Seine Augen tanzten nervös über die Umgebung, verharrten immer wieder auf dem Wäldchen hinter ihnen.
Syriakin spähte lauschend in dieselbe Richtung. „Geht“, forderte sie Akim und Etahpe auf. „Wir drei bilden den Abschluss.“
Akim sprang auf den Baumstamm. Nach wenigen Schritten schoss sein Kopf plötzlich herum und aus seinem Mund drang eine Warnung. Im selben Augenblick brach ein Mann durch das Geäst. Geistesgegenwärtig schubste Syriakin Sphita und Ardanna beiseite, duckte sich und hebelte den auf sie zustürmenden Mann über ihre Schulter. In der nächsten Sekunde stieß sie ihn mit beiden Armen kräftig in den Rücken, sodass der Angreifer schreiend in die Schlucht stürzte.
Die Krüppelkiefern teilten sich erneut und ein zweiter Mann tauchte vor ihnen auf. Er preschte auf die Frauen zu, zwei knorrige Stecken in den Händen. Sphita und Ardanna schrien zeitgleich auf, während Akim und Etahpe auf der Baumbrücke Anstalten machten, ihnen zu Hilfe zu eilen. Syriakin stellte sich dem Angreifer in den Weg, den Stecken ausweichend, die er aus dem Handgelenk kreiseln ließ.
„Schnell“, brüllte Akim vom Stamm aus. „Syra, schnell!“
Die Sumpffrau tauchte unter den Stecken weg, wirbelte um den Mann herum und trat ihm von hinten in die Kniekehle, sodass er einknickte. Etahpe hechtete auf den Rücken des Kämpfers, warf die Schlinge ihrer Prothese über seinen Kopf. Zeitgleich ging Sphita mit den Fäusten auf den Majestes los. Syriakin gelang es, ihm die Stecken aus den Händen zu treten, packte einen und schmetterte ihn in sein Gesicht. Stöhnend brach er zusammen, Etahpe noch auf ihm. Brachial schlug die Sumpffrau ein zweites Mal zu. Der Mann erzitterte am ganzen Körper und lag dann still.
„Verschwindet!“, schrie Akim vom Baumstamm aus. Auch Adiv, Gillok und Chries gestikulierten wild. Die Krüppelkiefern und Gebirgsrosen hangabwärts waren in Bewegung geraten.
„Späher“, fluchte Syriakin und zog Etahpe, deren Armschlinge sich im Genick des Toten verfangen hatte, vom Boden hoch. Mit einem wütenden Grunzen trennte die Diebin sich von der Prothese und stieß Sphita in Richtung der Berge. Syriakin zerrte Ardanna, die mit weit geöffneten Augen dem Sekundenkampf gefolgt war, mit sich und trieb sie Etahpe hinterher einen steilen Pfad hinauf hinter eine Felskuppel, während Akim über die letzten Meter des Stammes und auf die andere Schluchtseite sprang.
Dreihundert Meter, schätzte Adiv.
Sie hatte ihre Schritte gezählt. Dreihundert Meter, stetig abwärts, nachdem sie die halbe Nacht nach oben gestiegen waren. Dreihundert Meter, seit sie sich durch den Eingang des Höhlensystems gezwängt hatten. Das halbrunde Loch hatte verborgen zwischen von Leimkraut und stachligen Rosenzweigen bedeckten Felsspalten gelegen. Im Frühjahr und Sommer, wenn die Pflanzen blühten und grünten, musste es nahezu unsichtbar sein. Sie hatten die Zweige wieder vor den Zugang gezogen, aber viel Hoffnung, ihre Verfolger abzuschütteln, hegten sie nicht.
Natürlich war ihre Zählung ungenau, denn ihre Schritte waren nicht gleichmäßig gewesen. Sie war ausgerutscht auf dem schlammigen Weg, hatte einige Partien kletternd zurückgelegt. Manchmal hatte sie rasch ausschreiten können, dann wiederum hatte sie unter niedrigen Felsspitzen hindurch kriechen müssen. Mit jedem Schritt in die Tiefe war die anfängliche Kälte zunehmender Hitze gewichen. Zuerst hatten sie sich ihrer Mützen und Handschuhe entledigt und ihre Mäntel aufgeknöpft, später ausgezogen und um ihre Hüften geschlungen. Als sich dies als bewegungseinschränkend entpuppte, hatten sie sie in Felsnischen gestopft.
„Wenn wir Kaadaa verlassen, kommen wir rasch in wärmere Gefilde“, hatte Gillok argumentiert. „Stopft nur eure langen Hemden in eure Beutel für die Überfahrt.“
„Was ist, wenn wir die Insel nicht verlassen?“, hatte Chries gefragt.
„Winterkleidung ist unser geringstes Problem, falls Cehaj und Nebunedzad uns einholen.“
Wenn, hatte sie in Gedanken korrigiert. Bei einer Spur aus abgelegter Kleidung.
Mittlerweile trugen sie nur noch Unterhemden, Winterhosen und Stiefel.
„Seht!“, stöhnte sie. „Die Luft dampft.“
„Extreme Luftfeuchtigkeit“, entgegnete Gillok. „Schlimmer als im Hochwinter in den Sümpfen. Die Umgebung ist so gesättigt, dass Schweiß nicht mehr verdunstet. Wir müssen uns beeilen. Lange halten wir das nicht aus.“
„Die Einheimischen nehmen große Fächer mit, wenn sie hierher kommen“, sagte Chries. „Die Luft kühlt die Feuchtigkeit auf der Haut. Trotzdem bleiben sie nie länger als eine halbe Stunde hier unten.“
Adiv befühlte den Schweißfilm auf ihren Armen. Ihre Kopfhaut juckte im Nacken, obwohl sie die Haare hochgesteckt trug. Sie musterte die anderen. Akims dunkle Haut glänzte, Chries‘ Hemd war durchtränkt und wies Salzränder auf. Nur Gillok schien die Feuchtigkeit weniger auszumachen.
Kurz darauf erreichten sie eine kreisrunde Höhle, die mehr als dreißig Männerschritte im Durchmesser maß. Säulen, viele über zwei Meter breit und baumhoch, wuchsen kreuz und quer aus Boden und Decke, versperrten ihnen die Sicht und den Durchgang. Milchweiß funkelten sie im Schein blakender Fackeln, als wären sie mit Sternen überzogen. Hohlspiegel aus Zink verstärkten das Licht.
„Was ist das?“, fragte Akim mit angehaltenem Atem.
„Kristalle“, gab Chries zurück. „Die Einwohner Kaadaas entdeckten sie vor einigen Jahrzehnten. Knapp unter der Oberfläche hatten sie Erz gefunden und sich aufgemacht, die Ader zu erkunden. Sie stießen auf das hier. In den Bergdörfern wird dieser Ort als Heiligtum verehrt und geheim gehalten.“
„Aber Ihr kanntet ihn.“
„Ich wuchs in den Talamales auf, bevor wir nach Yruish auswanderten.“
„Wie konnte so etwas entstehen?“ Adiv hatte den Kopf in den Nacken gelegt. „Das ist ... überirdisch. Sie sehen aus wie aus Eis gemacht. Sind sie kalt?“
„In dieser Hitze?“, gab Chries, angestrengt atmend, zurück. „Nein. Sie fühlen sich an wie Gips. Kommt. Wir dürfen uns hier nicht lange aufhalten. Weiter vorn liegen kühlere Höhlen.“
„Klettern wir?“, fragte Akim und wischte sich Schweiß von der Stirn.
„Ja. Und zwar schnell.“ Chries sprach nun deutlich abgehackter. „Je länger wir warten, desto mehr steigt unsere Körpertemperatur.“
Adiv warf Akim einen furchtsamen Blick zu. Der Wüstenläufer musterte das Wirrwarr der wie von einem wütenden Riesen hingeworfenen Kristallsäulen. Säulen, die aussahen wie geborstene Planken und Pfähle. Ein unzugänglicher Trümmerhaufen.
„Los“, japste Gillok. „Mein Herz rast.“
Ängstlich horchte Adiv auf ihr eigenes wild klopfendes Herz. Die Hitze laugte sie schneller aus, als sie erwartet hatte. Dampfende Luft lag bleischwer auf ihnen, presste sich durch ihre Atemwege.
Scheinbar willkürlich sprang Akim auf eine Säule, lief sie hinauf, nahm kurz Augenmaß und schnellte dann auf die nächste, mit den Armen an einem weiteren Kristallpfahl Halt suchend.
Adiv hüpfte ihm hinterher, langsamer und vorsichtiger. Als sie bemerkte, dass die Oberfläche trotz ihres kristallinen Aussehens porös und spröde war, fasste sie mehr Mut. „Wenn die Hitze und der Luftmangel nicht wären, würde das Spaß machen“, keuchte sie. „Man kommt ganz gut voran.“
„Sei trotzdem auf der Hut“, schnaufte Chries. „Die Ränder sind manchmal scharfkantig, und wenn du abstürzt, läufst du Gefahr, dich auf den kleineren Streben aufzuspießen.“
Adiv drosselte ihr Tempo und beobachtete Akim, der wie eine Heuschrecke von Säule zu Säule sprang. Schweiß brannte ihr in den Augen. Akims Handflächen hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Milchkristall. Auch er klang besorgniserregend kurzatmig.
Gillok nahm einen anderen Weg, schloss rasch zu ihr und Chries auf.
Plötzlich ertönte ein Sirren unter ihnen und sofort warf Gillok sich neben ihr auf die Säule und erstarrte.
„Cehaj“, flüsterte Adiv erschrocken.
„Weiter“, drängte der Sumpfmann. „Klettert! Beeilt euch! Einen Kampf hier drin wird niemand von uns überleben! Wir müssen in die nächste Höhle!“
Weitere Pfeile surrten zu ihnen hinauf, schwirrten über ihre Köpfe. Adiv verrenkte den Hals nach hinten, sah Cehaj und zwei seiner Männer. Sie waren mit Kurzbögen bewaffnet, hatten Pfeile zwischen ihre Lippen geklemmt. Die Pfeile wirkten kürzer und schlanker als Syras, die Bögen leichter. Wahrscheinlich würde ein Treffer sie nicht töten, wohl aber behindern. Sie hoffte, dass die Geschosse nicht vergiftet waren.
Aufgeschreckt schwang sie sich Gillok und Chries hinterher, jagte Spitzen hinauf, ließ sich auf tiefere Formationen fallen, klammerte sich an Zacken und Vorsprünge.
Akim langte als Erster am Ende der Höhle an und kauerte sich hinter zwei sich kreuzende Kristalle. Den Pfeilen ausweichend, streckte er ihnen die Arme entgegen. „Rasch!“
Schwindel überkam sie so heftig wie ein Fieberkrampf. Die Umgebung schwankte. War sie getroffen worden?
„Adiv!“, brüllte Chries. Er klang seltsam. Lang gedehnt und undeutlich. „Nicht ohnmächtig werden! Halte durch!“
Mühsam kämpfte sie gegen den Dampf der Luft und den Nebel in ihrem Kopf an. Sie wurde langsamer, taumelte. Akims ausgestreckte Hand fing sie auf, zog sie zu ihm. Gillok stützte sie von hinten. Gegenseitig zerrten sie sich durch einen Durchgang in die nächste Kaverne, wo sie über eine hohe Stufe zu Boden fielen.
Gillok rappelte sich sofort wieder auf. „Da ist Wasser. Davanas! Vier Schritte noch! Ihr schafft das!“
Der Sumpfmann rollte Akim wie einen Stein in Richtung eines Höhlensees und stieß ihn hinein. Chries kroch auf den Knien auf das Wasser zu. Adiv sah, dass seine Hosen durchnässt waren und spürte, wie auch sie die Kontrolle über ihre Blase verlor. Urin tröpfelte heiß ihre Beine hinunter, aber es kümmerte sie nicht mehr. Die Ohnmacht hatte sie bereits halb überwältigt, als sie sich emporgehoben fühlte, und im nächsten Augenblick kaltes Wasser über ihr zusammenschlug.
Nach Luft schnappend kam sie zu sich, strampelnd und zittrig keuchend. Neben ihr trieb Chries im See, das hochrote Gesicht der Kavernendecke zugewandt, die Augen geschlossen. Sie stieß ihn an. Er gurgelte unverständliche Worte, war jedoch bei Besinnung. Sie tauchte unter, spürte wohltuende Kühle auf Stirn und Wangen, merkte, wie Schwindel und Kopfschmerz verflogen. Mit beiden Händen schöpfte sie Wasser über Chries‘ Gesicht, bis dieser prustete und zu sich kam.
Gillok war untergetaucht und drückte Akim nach oben. Der Wüstenmann wirkte völlig kraftlos. Gillok kniff ihn, schlug auf seine Wangen.
„Gleich“, lallte Akim.
Adiv legte sich auf den Rücken, starrte in die düstere Höhle, registrierte erleichtert, wie ihr Befinden sich normalisierte.
„Bleibt im Wasser“, befahl Gillok. „Aber seid leise. Taucht eure Gesichter unter. Haltet euch nah am Rand. So seid ihr von oben kaum zu sehen.“
Er selbst zog sich aus dem See und tapste tropfend unter den Durchlass, der auf dieser Seite leicht überhing. Dort ging er in die Knie. Auch er wirkte erschöpft, aber nicht so ausgelaugt, wie Adiv und die beiden jüngeren Männer.
Minuten später tauchten Cehajs Leute taumelnd über Gilloks Kopf auf. Ihre Bogen mussten sie unterwegs zurückgelassen haben, entweder weil sie beim Klettern behinderten, oder weil sie ihnen vor Erschöpfung aus der Hand gefallen waren. So schwindlig, wie ihnen offenkundig war, würden sie sowieso keinen gezielten Schuss abgeben können.
Der erste Mann fiel Gillok direkt vor die Füße. In Sekundenbruchteilen war der Sumpfmann über ihm, zwängte ihn in eine Halsklammer. Adiv sah zwei, drei flüchtige Bewegungen, dann floss der Mann zu Boden.
Der zweite fluchte unterdrückt, wich zurück, tauchte gleich darauf wieder auf. Er hatte keine Wahl. Hinter ihm lag die Höllenhitze der dampfgeschwängerten Kristallhöhle, die ihn umbringen würde. Ein Kampf gegen vier Gegner schien die bessere Entscheidung. Cehajs Untergebener machte einen weiten Sprung über Gillok hinweg, kugelte über die Schulter ab, kam schwankend auf die Füße. Sein ausdrucksloses Gesicht glänzte, das Haar - schwarz vor Schweiß - tropfte, Haut und Kleidung dampften. Gillok hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, rollte wie eine Lawine auf den Majestest’i’ti zu. Der fing den Sumpfmann mit beiden Armen ab, doch Gillok preschte einfach in ihn hinein, schob ihn auf das Wasserloch zu.
Plötzlich blitzte eine Erinnerung in Adiv auf. „Morrhim“, murmelte sie und erschauerte. Eine andere Höhle, ein anderer See. Der degenerierte Koloss war gesunken wie ein Fels.
Gilloks Gegner wehrte sich verbissen, bis Akim und Chries kurzerhand von unten nach seinen Knöcheln fassten. Mit den Armen rudernd fiel er nach vorn. Seine Finger krallten sich in den steinernen Boden, doch der Kraft dreier Männer konnte er nicht standhalten und platschte in den See. Chries hievte sich auf seinen Rücken, Akim drückte den Kopf unter Wasser. Der Mann zappelte eine ewige Minute, dann erschlaffte er.
Gillok zog Akim und Adiv aus dem Wasserloch, dieweil Chries allein ins Trockene kletterte. Gemeinsam bugsierten sie Gilloks erstes Opfer unter den Durchlass, hockten sich daneben und warteten.
Die Talamales waren von schroffer Schönheit. Basaltsäulen ragten überall auf, Bergketten mit gezackten Kämmen sahen aus wie die Rücken urzeitlicher Drachen. Zwischen sie schnitten reißende Flüsse tiefe Täler. Manchmal reihten Säulen aller Höhen sich so eng aneinander, dass man bequem wie auf Stufen über sie steigen konnte, dann wieder krümmten sie sich allein nach oben wie erhobene Zeigefinger - unbezwingbar ohne Seile und Haken. Plateaus wölbten sich über ihnen, endlose Hochebenen, über deren Ränder sich brausende, schäumende Wasserfälle ergossen. Dazwischen bizarrste Formationen aus Stein und Fels: ein Schildkrötenbuckel, gegossen aus tausenden Basaltsäulen, Felsen, die wie Zähne aus dem Boden strebten, Säulenpyramiden, ein steinerner Büffelkopf. Nicht selten stolperten sie über waagerechte Felssäulen, die sie für Baumstämme hielten.
Manche Gipfel schienen den Himmel tatsächlich zu berühren. Nebel hüllte sie ein, derweil hunderte Meter tiefer die Sonne strahlte. Hochwiesen leuchteten, wogten trotz der Schneeschicht. Rotbelaubte und immergrüne Bäume beugten sich über Abgründe und Felshänge, Sträucher trugen violette und schwarze Beeren. Umgestürzte und von Stürmen weggeknickte Baumriesen versperrten hin und wieder den Weg. Unter ihren ausgerissenen Wurzeln fanden drei Menschen übereinander stehend Platz.
„Gute Unterschlüpfe“, brummte Etahpe. „Schützen vor Wind und Regen.“
„Wie letzte Nacht“, sagte Sphita.
„Was ist mit Raubtieren?“, wollte Syriakin wissen. „Ich habe Spuren von Katzen gesehen.“
Etahpe nickte. „Luchse, Berglöwen, ein paar Bären. Einzelgänger allesamt. Die Einheimischen lassen sie in Ruhe. Wilde Schweine sind die größere Gefahr, vor allem im Frühjahr. Die Menschen jagen Kleinwild oder räubern die Klippen nach Eiern aus. Es gibt jede Menge Vögel hier, hört Ihr? Steinkrähen, Bartgeier, Lerchen. Die seltsamen Klickgeräusche stammen von Auerhähnen und Schneehühnern. Massige Vögel. Schmackhaft. Außerdem zähmen die Hiesigen Bergziegen, pflanzen Getreide und Wurzelgemüse an. Wildkräuter gedeihen gut.“
„Fischen sie?“
„Nur wenig. Die meisten Küsten sind zu wild, der Weg ans Wasser weit und nicht ungefährlich.“
„Adiv erzählte, dass es keinen Weg aus dem Gebirge gibt.“
„Bis vor einigen Wochen patrouillierten Soldaten und Wärter an allen begehbaren Wegen und Pässen. Späher kontrollierten die Brücken. Es gibt nur ein paar hundert Einheimische; Fremde wurden sofort erkannt. Ausbrechern blieb nur der Weg durch schwer zugängliches Gelände. Wer des Nachts hier unterwegs ist, ist lebensmüde oder dumm. Wie wir.“
„Oder verzweifelt“, warf Ardanna ein. Die Heilerin bemühte sich nach Kräften, mit dem Tempo der Diebin und der Kriegerin mitzuhalten. Nebenher behielt sie Sphita im Blick, die leichtfüßig zwischen Etahpe und Syriakin lief.
„Hm. Schaut Euch um. Bei Tage ist das Terrain schon schwierig. Nachts ist es tödlich, hier oben noch mehr als da, wo wir unterwegs waren. Wurzeln, Spalten, Abgründe, Flüsse. Rasend schnell umschlagendes Wetter. Man kann im strahlenden Sonnenschein loslaufen, zwei Stunden und ein paar Höhenmeter weiter gerät man in einen Regensturm. Dann ist die Sicht gleich Null, selbst wenn man es schafft, eine Fackel zu entzünden. In dieser Richtung stößt man auf hohe Klippen, an denen ein wütendes Meer zerschellt. Dort, wo die Klippen kein natürliches Hindernis bilden, gibt es einen Palisadenzaun. Den überwindet nicht einmal Ihr, Kriegerin.“
„Niemand aus der Boragha hat es je von Kaadaa herunter geschafft?“, fragte Syriakin. „Außer über den Weg Eurer Tochter?“
„Keiner, von dem ich wüsste.“
„Zweifellos ist es schwer, aber unmöglich ist es nicht.“
Die kleinwüchsige Diebin hielt inne und blickte die Sumpfjägerin an. Dann grinste sie ihr zahnloses Lächeln. „Ihr seht aus wie jemand, der leichtsinnig genug wäre. Und vermutlich wärt Ihr erfolgreich.“
Ardanna schnaubte. „Das wäre sie, glaubt mir.“
Syriakin erwiderte nichts, beschleunigte nur ihre Schritte.
„Ihr versteht wirklich keinen Spaß“, rief die Najimi ihr hinterher, seufzte und fächerte sich Luft zu, bevor sie den nächsten Bergpfad erklomm. Ihre Waden und Oberschenkel brannten von der ungewohnten Anstrengung. Sie warf ihrer Tochter einen schrägen Blick zu, aber Sphita stieg ruhig neben ihr die Steinstufen empor. Augenscheinlich hatten die unzähligen Tanzstunden ihr Beinmuskeln beschert, die sie die Höhenmeter klaglos zurücklegen ließen.
Eine weitere Stunde lang wanderten sie am Rand einer fünfzig Meter hohen Klippe entlang. Unter ihnen breitete sich eine tellerförmige Schlucht aus, welche ein schmutziggelber Fluss durchzog.
„Seht ihr den Hügel, der sich wie ein Schneckenhaus in die Höhe windet?“, fragte Etahpe schließlich.
Ardanna legte die Hand an die Stirn und blinzelte. „Spiralförmige Felssäulen? Ja.“
„Man kann ihn bequem besteigen. Oben rasten wir, halten Ausschau nach Verfolgern. Am anderen Fuße des Hügels liegt der östlichste Punkt Kaadaas, seit K’yr nicht mehr existiert. Südlich der Meeresenge, die es von Eurer Insel trennt“, wandte sie sich an Syriakin, die wieder in gemächlicherer Geschwindigkeit lief.
„Der Straße von Tanaa?“
„Mhm. Eure Vulkaninsel liegt im Südmeer. Ihr könnt von hier aus hinschwimmen, ohne Land betreten zu müssen.“
„Das ist selbst für Frâgg ein elend weiter Weg über das Wasser.“
„Stimmt. Aber unterhalb des Schneckenhaushügels befindet sich ein Strandabschnitt, der etwas gemäßigter ist. Der Eingang der Kristallhöhle führt da heraus und die Einheimischen haben ihre Boote dort. Breite Schaluppen. Einige mit Segeln.“
„Ihr kennt Euch sehr gut aus. So, als wärt Ihr ständig draußen gewesen.“
Etahpe zuckte mit den Achseln. „Seit die Majestes mich aufgelesen haben, war ich das auch. Ich ging mit ihnen Holz sammeln. Außerdem Kräuter, Gewürze, Wurzeln, Pilze und Beeren. Sie kannten Pfade, die ich noch nicht entdeckt hatte. Seit Vei weg ist, sind die Soldaten verschwunden. Wir sind frei, wenn wir es wollen. Zumindest waren wir es bis zu den Unruhen.“
„Und die Höhlen? Das Boot?“
„Chries erzählte mir davon. Er hat zu den Hiesigen Kontakt aufgenommen. Einige sind entfernt mit ihm verwandt.“
„Wieso?“
„Weil Bru Nehegelen unberechenbar war. Auch für uns. Wir trafen Vorsorge, falls irgendetwas jemals schiefgehen sollte.“
„Ich verstehe.“
„Die Fischer wissen Bescheid. Wir können nach Kânegg rudern oder segeln, in die große Bucht im Süden. Das kürzt viel Weg ab. Elphen wird über Land gehen. Wasser ist nicht sein Element.“
„Woher wisst Ihr von der Bucht? Wart Ihr je auf Kânegg?“
Etahpe lachte. „Ihr seid ein misstrauischer Mensch. Ich kenne Karten, Kriegerin. Mein Mann sammelte sie. Unsere Wände waren mit ihnen gepflastert. Ich war nie auf Kânegg oder Berlen, aber ich weiß von ihnen. Eure verbotene Insel liegt über zweihundert Meilen südlich von der großen Bucht inmitten eines Archipels. Ihr erkennt sie daran, dass sie raucht. Wart Ihr jemals dort?“
„Nein.“
„Auch nicht auf dem Archipel?“
„Nein. Er liegt weitab unserer Jagd- und Fischgründe.“
Wieder lachte Etahpe auf, ein bellendes Geräusch, das tief aus ihrer Lunge kam und mehr einem Husten glich. Syriakins Antlitz verdüsterte sich. Ardanna und Sphita sahen sich verwundert an.
„Ich hätte meinen knochigen Hintern darauf verwettet, dass Ihr die Insel betreten habt.“
„Wie kommt Ihr darauf?“
Mit Mühe hieb die Diebin der hochgewachsenen Kriegerin auf die Schulter. „Weil sie verboten ist.“
Ardanna fiel in das Lachen Etahpes ein. Sphita verdrehte die Augen und trabte hinter Syriakin her, die ohne ein Wort weiter marschierte. Nach wenigen Metern jedoch blieb sie abrupt stehen, hob die Hand und lauschte. Die beiden Frauen verstummten schlagartig und duckten sich.
„Was ist?“, flüsterte Sphita. „Habt Ihr etwas gehört?“
„Im Gegenteil“, gab Syriakin leise zurück und warf Blicke in alle Richtungen.
Ardanna konzentrierte sich. „Die Vögel sind verstummt.“
Syriakin zog langsam ihr Messer aus dem Gürtel. „Legt euch hin“, befahl sie. „Im Gras seid ihr sicherer vor Pfeilen, Steinen oder Bolzen.“
Sphita und Etahpe gehorchten sofort, doch Ardanna stand wie versteinert.
„Macht schon!“, zischte Syriakin.
„Nein“, sagte die Heilerin. „Sie sind nicht hier. Sie lauern auf dem Schneckenhügel. Irgendwie haben sie uns überholt.“ Sie drehte sich in Richtung des Hügels. Ihre Pupillen zogen sich zusammen, wurden klein wie die Spitze von Syriakins Messer. Und ebenso metallisch.
„Was ist? Erdolcht Ihr die Kerle mit Eurem Blick?“ Syriakin zerrte die Najimi ins schneegepuderte Gras. „Sie können Euch auch sehen.“
„Vier Männer“, stieß Ardanna atemlos und mit Angst in der Stimme aus. „Nebunedzad befehligt sie. Cehaj ist nicht dabei.“
Etahpe und Sphita wechselten unbehagliche Blicke.
Auf Syriakins Stirn erschien eine nachdenkliche Falte. „Eure Magie ist intakt. Erstaunlich.“
„Ich weiß auch nicht. Ich kann die Männer sehen, wenn ich mich anstrenge. Wie durch mehrere Schichten Vorhänge.“
„Maji hat jahrtausendelang diesen Boden getränkt“, erklärte Etahpe. „Ihre Reste stecken im Erdreich. Hier wurde sie geboren.“
„Und sie graben sie wieder aus“, knurrte Syriakin und robbte auf den Hügel zu.
„Was habt Ihr vor?“, fragte Ardanna.
„Verhandeln. Für einen Überraschungsangriff ist es zu spät. Seid vorsichtig. Wenn sie in unsere Richtung kommen, sagt Bescheid, Ardanna.“
„Sie liegen versteckt hinter Felsen.“
Die Kriegerin nickte, winkte die Frauen an ihre Seite und kroch weiter.
Kriechen sah leichter aus, als es war, merkte Sphita schnell. Nach wenigen Minuten schmerzten Ellenbogen und Knie auf der verharschten Schneeschicht. Stachelige Wintergrashalme raubten die Sicht. Der Nacken verkrampfte. Vielleicht kam das aber auch von der Furcht. Immerhin warteten am Ende des Plateaus vier vermutlich bewaffnete Männer auf sie. Majestes. Kämpfer. Tänzer. Und nur Syriakin konnte es ernsthaft mit ihnen aufnehmen.
Am Rand der grasbewachsenen Ebene richtete die Kriegerin sich halb auf und rief laut: „Niemand muss sterben. Lasst uns in Frieden ziehen.“
Ein Pfeil sirrte heran, bohrte sich nur Zentimeter neben ihrem Bein in die Erde. Sofort rollten die Frauen auseinander.
Syriakin wandte sich an Ardanna. „Sind sie noch auf dem Hügel?“
„Ja.“
„Gut. Hier ist der Plan.“
Cehaj mochte geringe Magiereserven haben, doch ohne Zweifel verfügte er über erstaunliche Zähigkeit. Adiv und die drei Männer kauerten in der Kaverne, unmittelbar unter dem Durchlass zur Kristallhöhle. Die Zeit zog sich in die Länge, während sie mit gespitzten Ohren einander in die nassen Gesichter starrten, darauf wartend, dass etwas passierte. Das Warten marterte sie, zerrte an ihren Nerven.
Akim lauschte am konzentriertesten, schloss die Augen, öffnete Nase und Mund. Schließlich hob er einen Zeigefinger und nickte. Sofort schnellte Gillok aus der Hocke empor, krallte sich um Cehajs Knöchel und zog mit aller Kraft. Cehaj grunzte, als er auf dem Rücken aufschlug. Ungeachtet der schlängelnden Bewegungen zupfte Gillok ihn aus der höher gelegenen Höhle hinunter.
„Er hat einen Bogen!“, schrie Adiv in das Sirren eines Pfeils hinein.
Neben ihr riss Akim die Hände vor den Hals und fiel ächzend auf die Knie.
„Akim!“ Rasch kniete Adiv nieder, befingerte Pfeilschaft und Wunde, indes Gillok und Chries sich auf den nad Tala warfen und ihn in einem stürmischen Handgemenge unter sich begruben. Das Klatschen der Hiebe und Tritte ausblendend, zog sie das Geschoss aus dem Fleisch.
„Er ist nicht besonders tief eingedrungen“, murmelte sie. „Die Halsschlagader scheint unverletzt. Kannst du sprechen? Dich bewegen?“
„Schulter und Arm nicht“, keuchte Akim.
„Schlüsselbeinvertiefung. Lähmung“, dozierte Adiv aus dem Gedächtnis. „Er hat einen der Punkte getroffen. Blutet ganz schön.“ Während sie redete, hatte sie nach Akims Hemd gegriffen. „Durchgeweicht. Nützt nichts.“ Hastig sah sie sich um, erspähte den toten Tänzer, hechtete zu ihm, riss breite Streifen aus dessen Hosenbeinen.
Akims Gesicht hatte sich gräulich verfärbt, als sie wieder bei ihm anlangte, aber er war bei Bewusstsein. Straff wickelte sie die Stoffstreifen um Hals und Oberarm, was Akims Bewegungsfreiheit noch mehr einschränkte. Sie befahl ihm, sich hinzulegen, hielt seine Hand und beobachtete die Männer, die, ineinander verkeilt, über den Boden rollten.
So weit sie erkennen konnte, war Cehaj übersät von den Spuren der Schläge und Tritte. An mehreren Stellen war die Haut aufgeplatzt oder von der unebenen Erde aufgeschürft. Sein Gesicht schwoll bereits an. Blut lief von aufgeschlagenen Brauen und Lippen, tröpfelte in den Mund. Immer wieder spuckte er aus, zog die Arme schützend vor den Kopf.
Gilloks und Chries‘ Stiefel schmetterten unablässig in den Körper des nad Tala, und bei jedem Tritt verzog Adiv das Gesicht. Bestimmt fingen die Muskelschichten des Tänzers einen Großteil ab, dennoch mussten Eingeweide und Organe mittlerweile Schäden davongetragen haben. Trotzdem war er noch bei Besinnung, wehrte sich verbissen, obwohl er innerlich wahrscheinlich bereits verblutete. Wie Syriakin griffen die Majestes offenbar auf Reserven zurück, die es ihnen erlaubten, über das Menschenmögliche hinaus Schmerzen und Verletzungen zu ertragen. Vermutlich verfügte auch Cehaj über Eigenmagie, die die Widerstandskraft stärkte.
Sie erschrak, als der nad Tala sich aufbäumte und Chries so heftig von sich stieß, dass dieser hart auf Rücken und Hinterkopf aufschlug. Sofort setzte Gillok nach, aber mit einem Schrei, der seinen Brustkorb sichtlich dehnte, breitete der Tänzer die Arme aus und versetzte dem Sumpfmann zwei gleichzeitige Schläge mit der flachen Hand auf die Ohren. Brüllend fiel Gillok auf die Knie, die Kopfseiten umklammernd.
Adiv japste, schaute panisch zwischen ihren drei angeschlagenen Gefährten hin und her. Cehaj musterte sie kurz aus blutunterlaufenen, verquollenen Augen und sprang dann mit beiden Beinen auf Chries, der sich am Boden wälzte. Deutlich hörte sie, wie Chries‘ Brustkorb unter dem Gewicht brach.
Ihr Blick irrlichterte durch die Kaverne, erfasste Cehajs Bogen. Mit einem Knurren stob sie auf, raffte die Waffe an sich, schwang sie gegen Cehajs bereits blutende Schläfe. Seine Beine gaben nach, doch er schaffte es, sich mit einer Hand am Boden abzufangen. Mit der zweiten hielt er sie zurück, als sie sich auf ihn stürzen wollte, stieß sie von sich. Sie prallte mit dem Gesäß auf, rollte sich stöhnend auf die Füße, wankte erneut zu ihm.
„Nein!“, quetschte Chries hervor. „Lass ihn! Er ist sowieso erledigt.“
Cehaj schwankte wie ein Baum im Sturm. Sein Gesicht wirkte weich, zermatscht, als wäre jeder einzelne Knochen gebrochen. Die Hände hatte er auf den Magen gepresst. Das Blut, das er ausspuckte, glänzte bräunlich, landete klumpig auf seinem Hemd. Es stank.
„Bring dich nicht weiter in Gefahr“, beschwor Chries sie.
„Aber ...“
„Lass ihn gehen. Er ist bereits tot.“
Cehaj sah aus wie eine Leiche, doch er stand noch, wenn auch gebückt und verdreht. Er schlurfte, setzte die Füße unkoordiniert auf. Die Faust, die er Adiv entgegenhielt, schlingerte. „Unser Land“, sagte er so verschwommen, dass Adiv ihn kaum verstand.
Erschöpfung übermannte sie. „Wir wollen dein Land nicht. Das wollten wir nie.“
„Maji.“ Er glotzte sie an, schwankte, rülpste und hustete, spie Blutbröckchen aus. Dann drehte er sich um und torkelte davon.
„Maji“, wiederholte sie leise und plumpste neben Chries zu Boden.
Chries krümmte sich, als sie sein Hemd öffnete und ihn behutsam abtastete, aber er rang sich ein Lächeln ab „Nicht jetzt. Wir sind nicht allein.“
Adiv brachte ein schluchzendes Lachen zustande. „Hör auf zu sprechen, Tölpel. Ich muss deine Brust untersuchen.“
„Nicht da“, keuchte er. „Arm.“
Sie stutzte. In der Tat wies Chries‘ Brustkorb nur eine leichte Prellung auf. Offenbar hatte der linke Arm auf ihm gelegen, als Cehaj auf ihn gesprungen war. Vorsichtig hob sie den Arm an, was Chries aufschreien ließ.
„Gebrochen“, stellte sie fest. „Ellenbogen und Unterarm. Offene Brüche. Vielleicht sogar gesplittert. Sieh besser nicht hin.“
„Mir ist ...“, bekam Chries noch heraus, dann übergab er sich zur Seite hin.
Sie half ihm, sich aufzurichten. „Bleib sitzen. Presse den Arm an deinen Leib, ich werde ihn fixieren. Ardanna muss sich das später anschauen. Im Augenblick können wir nicht allzu viel tun. Gillok hat schmerzstillende Kräuter dabei. Das wird schon.“
Nachdem sie Chries den Arm mit langen Stoffstreifen aus der Kleidung des toten Tänzers an den Körper geheftet hatte, kümmerte sie sich wieder um Akim. Dieser lehnte an der Felswand und atmete flach. Der linke Arm lag auf seinem Schoß. Verkrustetes Blut klebte an Schulter und Schlüsselbein, doch der Verband schien zu halten. Seine Gesichtsfarbe hatte sich etwas normalisiert.
„Noch bei uns?“, fragte sie ihn.
„Du hast ihn gehen lassen“, krächzte er. Irgendetwas stimmte nicht mit seiner Stimme. Sie hoffte, dass die Heiserkeit vom Blutverlust kam und nicht von dem Bolzen, der sich im ungünstigsten Fall in die Kehle gebohrt hatte.
„Er kommt nicht weit.“
„Die ... anderen. Er ist eine Gefahr.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er will zurück zu Maji. In alle Höllen mit dem Dämonenzeug! Sie sind völlig verblendet!“
„Magie macht sie zu ihren Sklaven.“
„Und sie graben sie wieder aus! Wie töricht!“
„Deshalb musst du ihn aufhalten.“ Er legte die gesunde Hand auf ihre. Sie war kalt, viel kälter als ihre eigene nasse Haut.
„Er kommt nicht weit.“
„Er hat Arlen getötet.“
Sie versteifte und ihre Augen bekamen einen harten Glanz.
„Er ist ein Freund der Magie. Er schützt sie, anstatt sie zu vernichten.“ Trotz der Schwäche klang er bitter.
Sie strich über seine Wange und stakste zu Gillok. Der Sumpfmann saß auf den Fersen, die Hände noch immer auf den Ohren. Sie beugte sich zu ihm. „Könnt Ihr mich hören?“
Gillok nickte. „Aber mit vielen Nebengeräuschen. Und mein Schädel scheint zu bersten.“
Adiv half ihm hoch und führte ihn zu Akim und Chries, der sich aufgerappelt hatte und zu Akim gewankt war. Einige Augenblicke lang betrachtete sie die Männer, während ihre Gesichtszüge sich verkrampften. Dann trat sie zu Akim, griff hinter ihn und zog ein Messer aus seinem Hosenbund.
„Was hast du vor?“ Chries klang alarmiert.
„Bleibt hier. Ich gehe nachsehen, ob der Weg frei ist.“
„Bist du verrückt? Cehaj geistert hier herum und niemand weiß, ob seine Gefährten hierher unterwegs sind.“ Mit einem scharfen Zischen drückte Chries sich von der Wand ab.
Adiv hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück. „Ich werde vorsichtig sein, versprochen. Bin gleich zurück.“ Dann verschwand sie in dem Gang, in den auch Cehaj geschlurft war.
Sphitas Magen verkrampfte sich vor Angst. Nach Syriakins Friedensangebot waren neue Pfeile auf sie niedergeregnet. Keiner hatte getroffen. Etahpe hatte vermutet, dass sie eher als Drohung abgeschossen worden waren oder um herauszufinden, wo genau sie sich versteckt hielten.
Die Sumpffrau hatte eines der Geschosse aufgeklaubt, den kurzen Schaft beäugt, ihn in der Hand gewogen. „Sie taugen nichts auf weite Entfernungen. Viel zu leicht.“
„Vergiftet?“, hatte Etahpe gefragt.
Syriakin hatte der Diebin den Bolzen gereicht. „Frisch abgeschnitten. Eilig angefertigt, wahrscheinlich auf dem Weg hierher. Gibt es eine giftige Pflanze in diesen Bergen?“
„Turu ist die einzige hölzerne, die mir einfällt. Ein Zwergholz. Manche hier trocknen es, zerstoßen es und kauen die Brösel. Das Gift sorgt für Nebel im Gehirn, aber es hält Zähne und Zunge rein. Nicht getrocknet ist es stärker. Doch tödlich? Ich denke nicht.“
„Beeilt euch“, hatte Ardanna gewarnt. „Es tut sich was in ihrer Gruppe.“
Also waren sie ausgeschwärmt wie Eidechsen, fort von Syriakin, mit auffälligen Bewegungen, die das Gras knistern ließen, eine gut sichtbare Narbe in die Hochebene grabend. Jetzt hockten sie neben einem Findling, der sich seltsam platt ausnahm inmitten der Säulenlandschaft.
Der erste Gegner tauchte so unerwartet vor ihnen auf, dass Sphita ein japsender Laut entfuhr, sie nach hinten wich und hinfiel. Der Tänzer kam auf sie zu, ein schmaler Mann mit fadem Gesicht, gelblicher Hautfarbe, schiefergrauen Augen und erdbraunen Haaren. Ein Gewächs des Gefängnisses. Als er einen weiteren Schritt auf sie zutrat, spannte sich der Draht und der Angreifer stolperte. Etahpe wirbelte aus dem Gras, sprang auf seinen Rücken, trampelte auf den Hinterkopf. Ein kurzer Kampf ohne Anmut und Akrobatik, brachial und endgültig.
Die Diebin zitterte merklich, als sie von ihm abließ, doch für Überlegungen blieb keine Zeit. Ein zweiter Mann erschien aus dem Nirgendwo, zerrte Etahpe unter seine Achsel, klemmte ihren Nacken ein. Sphita erwachte aus ihrer Angststarre, rappelte sich auf und ging auf den Mann los, der sie mit dem freien Arm abwehrte. In diesem Augenblick tauchte der dritte Tänzer hinter seinem Kameraden auf, ließ Bogen und Pfeile ins Gras fallen und stürzte sich auf sie.
Ardanna brüllte auf, als sie ihr Kind in Lebensgefahr sah. Sie fegte aus ihrem Versteck herbei, den Draht in der Hand, den sie dem dritten Kämpfer um den Hals würgte. Der Metallriemen schnitt in ihre Handflächen und sie schrie, aber sie schaffte es, den Gegner von Sphita auf sich zu lenken.
Er hatte sie rasch überwältigt. Ein Ellbogenschlag in ihre Rippen, zwei, drei Fußbewegungen und sie flog durch die Luft und landete so hart auf dem Rücken, dass ihr Kopf klirrte. Panisch griff sie in die Erde, warf die Bröckchen in sein Gesicht, trat nach ihm, grapschte einen Stein, schmetterte ihn an seine Schläfe. Er grunzte nur, beugte sich über sie, erzitterte. Dann fiel er auf sie wie ein Baumstamm.
Ardanna heulte auf vor Schreck, schaufelte ihn von sich hinunter. In seinem Hals, direkt unterhalb des Ohres, steckten zwei Spitzen, abgebrochen von schartigen Dolchen. Etahpes bissiges Geschenk an Syriakin.
Wo ist sie?
Neben ihr schrie Sphita. Etahpe hing im Würgegriff des Majest’i’ti, bläulich im Gesicht, die Augen nach oben verdreht. Ihre Füße zappelten in der Luft. An den anderen Arm des Mannes klammerte sich Sphita. Sie krakeelte ihm Worte ins Ohr, die niemand verstand. Speichel flog von ihren Mundwinkeln. Dann biss sie ihn in den Arm, brüllte wieder. Ardannas Kopf klingelte, ihr Brustkorb schmerzte. Sie tastete um sich, erfühlte einen knorrigen Ast, den irgendein Sturm hierher geweht hatte, kam auf die Beine. Ihre Handflächen brannten.
Der Tänzer sah sie auf sich zukommen. Er ließ Etahpe los, schüttelte Sphita mit einem Handkantenschlag gegen die Schläfe von sich, wich ihrem Hieb aus, griff nach dem Ast, drehte ihn ihr aus den Händen, holte seinerseits aus. Ein Messer stoppte ihn mitten in der Bewegung. Es steckte in seinem Oberbauch.
Er ließ den Ast fallen und wankte.
Falsche Seite, Syra, schoss es der Heilerin durch den Kopf. Sie tauchte unter den langen Armen hindurch. Ihre blutigen Hände bekamen das Messer zu fassen, rutschten ab. Dennoch stöhnte er.
Sie kam nicht weit genug. Er mochte angeschlagen sein, doch seine Kräfte hatten ihn noch nicht verlassen. Seine Hände krallten sich in ihr Haar, rissen ihren Kopf nach hinten, sodass sie aufschrie.
Wie die Dolchspitzen und das Messer kam der Ast aus dem Nichts. Die Kriegerin hämmerte ihn gegen das Ohr des Angreifers, dass das Holz splitterte. Der Mann fuhr zu Syriakin herum, hieb die Fußspitze in ihr Schienbein. Die Sumpffrau hechtete, dabei sein Standbein aushebelnd, zur Seite. Er fiel, zog sie aber mit sich zu Boden.
In dem Gemenge aus Armen und Beinen verlor Ardanna den Überblick. Sie wusste, dass sie schnell reagieren musste, denn irgendwo lauerte Nebunedzad. Sie bückte sich nach dem Ast und stach mit aller Kraft zu, sobald der Mann auf Syriakin war. Der Ast drang nur Millimeter in den Hals des Kämpfers, bevor das spröde Holz vollends zerbarst. Der nad Tala schnaufte, richtete sich auf, stieß einen kehligen Laut aus. In diesem Augenblick riss Syriakin ihr Messer aus seiner Brust und rammte die blutige Klinge in sein Herz. Er brach auf ihr zusammen.
„Davanas“, keuchte die Kriegerin unter ihm. „Schnell.“
Sie rollte den Mann von sich, schubste Ardanna im selben Moment zur Seite. Ein weiterer Pfeil sirrte über sie hinweg. Syriakin blieb geduckt, musterte die Umgebung in der Richtung, aus der das Geschoss gekommen war.
Ardannas Herz galoppierte. Ihr Mund war trocken vor Angst und Sorge um Sphita und Etahpe, die sich stöhnend auf dem Boden wälzten.
„Erst er“, kommandierte Syriakin, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Konzentriert Euch auf ihn.“
„Was soll ich tun?“
„Todespunkte.“
Im nächsten Augenblick federte Syriakin in die Luft. Wie aus dem Nichts hatte Nebunedzad sich materialisiert. Ardanna begriff, dass alle Magie nutzlos war, wenn Panik in einem wogte.
Syriakin und Nebunedzad prallten gegeneinander wie zwei Naturgewalten, fochten so stürmisch, dass Ardanna schwindelte. Minutenlang droschen und traten sie aufeinander ein. Ardanna hörte das Auftreffen der Handkanten und Schienbeine, ansonsten verlief das Duell lautlos. Beide attackierten unablässig, wichen kaum aus. Schlagen, treten, blocken, schlagen. Harmonisch, wie eine eigene Melodie. Beide steckten harte Treffer ein, taumelten, fanden jedoch sofort wieder in ihren Schlagtakt. Doch weder Syra noch Nebunedzad griffen auf irgendwelche Finessen zurück. Ardanna erwartete Tricks von der Sumpffrau: geheime Waffen, Giftdorne, Täuschungen. Nichts geschah. Sie und das neue Oberhaupt der nad Tala hämmerten einfach weiterhin aufeinander ein, mit beinahe entrückten Mienen und funkelnden Augen, hoch konzentriert, gefangen im Rausch des Kampfes, im Rhythmus ihres wilden Tanzes.
In Ardanna wuchs Zorn. Ihre Tochter lag verletzt am Boden, ausgeschaltet von einem einzigen Schlag. Etahpe röchelte. Vermutlich war ihr Kehlkopf zerdrückt und würde sie noch tagelang mit Spasmen quälen. Sie drückte sich empor, wankte zu den Kämpfenden, wartete auf den richtigen Moment. Als Nebunedzad vor einem Tritt zurückwich, sprang sie ihm auf den Rücken, hielt Schultern und Hals umklammert.
„Los jetzt!“, herrschte sie die Kriegerin an.
Sie konnte förmlich sehen, wie Syriakin zurück in die Realität schnappte und augenblicklich gehorchte. Mit dem Fußballen brach sie Nebunedzad die Nasenwurzel. Der Mann stöhnte auf und taumelte rückwärts. Blut schoss aus der zertrümmerten Nase. Syriakin setzte nicht nach. Sie stand da und wartete. Ardanna meinte, so etwas wie Bedauern in ihren Augen zu erkennen.
„Syra!“, fauchte sie vom Rücken des Kämpfers aus.
Die Kriegerin atmete nur angestrengter. Nasenhiebe konnten Ohnmachten und sogar den Tod auslösen, wenn man so frontal und heftig traf. Doch Nebunedzad stand. Sobald die Schmerzwelle vorüber war, würde er weiter kämpfen. Syra wusste das, zeigte jedoch keine Reaktion.
Ardanna presste dem Mann ihre Finger in die Augenhöhlen und drückte zu. Fingerspitzen oder Daumen wären effektiver gewesen, aber aus ihrer Position heraus musste das genügen. Nebunedzad riss die Hände von den sprudelnden Nasenlöchern. Ardanna duckte sich vor den um sich schlagenden Fäusten weg, während ihre Finger die Glaskörper seines linken Auges zermalmten. Als er, heulende Schreie ausstoßend, begann, blindlings umher zu torkeln, klammerte sie sich mit den Schenkeln an seine Hüften.
„Syra!“, kreischte sie.
„Warum hast du uns nicht ziehen lassen?“, brüllte die Sumpffrau plötzlich den Majest’i’ti an. „Es ein für allemal beendet? Stattdessen grabt ihr sie wieder aus!“
„Sind ... die ... Ersten“, brachte Nebunedzad heraus. „Sie gehört uns.“
Aufgebracht blitzte Syriakin ihn an, bevor sie den Kopf schüttelte und ein resigniertes Schnauben ausstieß.
Ardanna fühlte, wie Flüssigkeit über ihre Finger tropfte. Ein heftiger Würgereiz erfasste sie. „Syra“, flüsterte sie. „Bringt es hinter Euch. Macht es schnell und seiner würdig.“
Der Stiefel der Kriegerin donnerte mit ganzer Sohle gegen den Brustkorb ihres Gegenübers. Nebunedzad schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Im selben Moment raste ihre Faust gegen seine Schläfe.
Ardanna sackte mit Nebunedzad zu Boden. Sie musste ihn nicht untersuchen, um zu wissen, dass sowohl Tritt als auch Schlag tödlich gewesen waren.
Syriakin schüttelte ihre Faust aus und wandte sich ab. Dann schritt sie zu den Toten, beugte sich zu ihnen, das Gesicht wie versteinert. Sie zog das Messer aus dem dritten Opfer, stieß es in die Erde. Die Dolchspitzen im zweiten ließ sie stecken. Sie half Etahpe, sich aufzusetzen, sprach leise mit Sphita, die wieder zu sich gekommen war. Anschließend ging sie ein paar Meter zur Seite und setzte sich mit dem Rücken zu ihnen ins Gras.
Ardannas Gedanken tröpfelten zäh durch ihren Geist. Nach Nebunedzads Ende war die Erschöpfung schlagartig über sie geschwappt. Langsam kroch sie zu ihrer Tochter und umarmte sie. Sphita lächelte bleich und mit blutigen Zähnen, vergrub ihr Gesicht in ihrer Halsbeuge. Ardanna hielt sie fest, tätschelte nebenbei Etahpes Hand.
Die Diebin sah sie stumm an, zog die Hand zurück, massierte sich Nacken und Kehle. Nach einiger Zeit rappelte sie sich auf. „Wir müssen weiter“, krächzte sie mühsam. „Cehaj ist wahrscheinlich den anderen hinterher. Adiv ist bei ihnen.“
Ardanna nickte, zog sich mit Sphita auf die Füße. Zu dritt betrachteten sie die Sumpffrau, die abwesend in die Ferne starrte. „Syriakin!“, rief Ardanna. „Kommt Ihr?“
Die Kriegerin drehte sich nicht um.
Nach einem Blick auf Sphita und Etahpe wankte Ardanna zu ihr und ließ sich ächzend neben ihr nieder. Syriakin sah sie nicht an. Ihre Kieferknochen mahlten.
„Ihr wolltet ihn nicht töten“, sagte Ardanna leise.
Über Syras Züge lief ein Zucken.
„Ihr habt ihm Frieden angeboten. Für Euch war er kein Feind.“
Syriakins Schultern hoben sich merklich, als sie zittrig einatmete.
„Aber sie ist es. Maji. Sie ist unsere Feindin. Wir müssen sie ausrotten. Ohne Euch schaffen wir es nicht.“
„Mit mir auch nicht.“ Syriakin sah Ardanna aus brennenden Augen an.
Ardanna betrachtete ihre klebrigen Hände, rang sich ein Lächeln ab. „Soll ich den anderen und Eurer Tochter sagen, dass Ihr aufgegeben habt?“
Syriakin schloss die Augen und legte den Kopf auf ihre Arme. „Ich hasse Euch.“
Ardanna lehnte sich an sie. „Von mir aus. Aber nur eine Minute. Dann müsst Ihr aufstehen.“
Sie fand Cehaj nicht weit entfernt vom Ausgang des Höhlensystems, ganz so, wie sie vermutet hatte. Die Blutspur, der sie gefolgt war - geduckt an der Felswand entlang, das Messer in der Faust - war gut sichtbar gewesen auf der krümeligen Erde, ebenso die Schlurfspuren der Füße. Die Fährte eines Mannes, der seine Sinne eingebüßt hatte.
Eine Leiche auf zwei Beinen.
Cehaj hatte sie bemerkt und sich nach ihr umgewandt, träge und dickflüssig wie das Blut, das von seinen Lippen schlierte. Beide Augen waren zugeschwollen. Er hatte das Kinn gehoben, als könne er sie so besser sehen. Wenn er überhaupt noch etwas sah.
Ihn zu töten wäre ein Leichtes. Das Messer lag wurfbereit in ihrer Hand. Es bestand aus geringwertigem Stahl und war miserabel ausbalanciert. Trotzdem würde sie treffen, denn dafür hatte sie trainiert. Monatelang. Jeden Tag. Mit Wurfwaffen aller Art. Doch sie zauderte. Einen kämpfenden Mann anzugreifen, jemanden, der sie oder einen ihrer Freunde attackierte, war eine Sache; einen lebenden Toten, der vor ihren Augen innerlich verblutete, eine andere. Sie könnte ihn zu einer Reaktion verlocken, ihm das Messer ins Herz rammen oder in die Halsschlagader, sein Leiden damit verkürzen. Aber er hatte die Arme erhoben, als unterwerfe er sich. Und so zögerte sie.
Ihre Hand krampfte sich um das Messer, so sehr, dass ihre Knöchel sich weiß färbten. Cehaj stand vor ihr, der Ausdruck auf dem zu Brei geschlagenen Gesicht unmöglich zu deuten. Lächelte er? Gab er auf oder plante er eine Finte? Er war ein Verbündeter gewesen. Andererseits hatten er und seine Familie die Magie über ihre Leben gestellt. Maji hatte Arlen getötet und die Majestes hatten es zugelassen. Sie hatten vom Blaukopf gewusst und ihn nicht bekämpft. Videm war seinetwegen gestorben. Sie hatten von Chausselles und Vei gewusst und sie ziehen lassen. Jetzt waren Ivson, Mannero und Shesh tot. Ardannas Bedienstete. Ihre Kehle zog sich schmerzhaft zusammen. Sie gruben die Quelle wieder aus. Die Mutterquelle, die weitere Kinder gebären würde. Alles wäre umsonst gewesen.
Cehaj wankte, stierte sie an.
„Sag etwas“, flüsterte sie, heiser vor Anspannung.
„Maji“, raspelte er. „Ihr könnt nicht gewinnen.“
„Das habe ich schon einmal gehört. Es war eine Lüge.“
Sie hob das Messer. Ein Wurf. Wahrscheinlich war er immer noch schnell genug, um sich zu ducken. Dann würde sie nachsetzen.
Cehaj hustete, beugte sich vornüber.
Sie senkte den Arm.
Tu es, befahl sie sich, und hob den Arm erneut.
Plötzlich griff Cehaj sich an die Kehle und röchelte. Eine Pfeilspitze ragte aus seinem Adamsapfel. Adiv stand wie erstarrt. Cehaj tat ein, zwei unsichere Schritte auf sie zu und brach zusammen.
Hinter einem Felsvorsprung dreißig Meter entfernt trat Syriakin hervor, einen Kurzbogen im Anschlag, Haare und Kleidung triefend, als wäre sie gerade aus dem Wasser gestiegen. „Ist er tot?“, rief sie.
Adiv nickte langsam.
„Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn treffe, die Entfernung überhaupt schaffe. Diese Dinger sind viel zu leicht.“ Verächtlich warf sie den Bogen in die Büsche und kam näher. „Geht es dir gut?“
„Ja“, brachte Adiv hervor. „Was ist mit den anderen?“
„Sie steigen die Felsen hinunter.“
„Und du bist gesprungen?“
„Nur das letzte Stück. Hochzuklettern war leichter.“
„Meine Mutter sagt, die Klippen seien steil und hoch.“
„Fünfzehn Meter. Allerhöchstens.“
Adiv schüttelte den Kopf, dass Tropfen nach allen Seiten flogen. „Wurdet ihr angegriffen?“, fragte sie dann.
„Von Nebunedzad und drei Tänzern. Wir hätten sie verschont, aber sie wollten kämpfen. Gaben nicht auf.“
„Dasselbe bei uns. Wir müssen unsere Männer holen.“
Syriakins Augen verengten sich. „Sind sie verletzt?“
„Nicht lebensgefährlich.“ Kurz schilderte sie die Verletzungen, registrierte die Erleichterung auf Syriakins Antlitz. „Cehaj und seine Kampfgefährten sind tot. Alle.“
„Starben sie von deiner Hand?“
„Nein. Aber ich hätte ihn töten können. Er war nicht unschuldig an Arlens Tod. Ich konnte es nicht.“
Syriakin nahm ihr das Messer aus der Hand. „Es ist besser so. Es bringt Arlen nicht zurück, doch es hätte dich verzehrt.“
„Ich bin nicht wie du“, sagte Adiv und sah Syriakin an.
„Nein, das bist du nicht“, erwiderte die Kriegerin mit ungewohnter Sanftheit und ohne verletzt zu wirken.
„Ich konnte es nicht. Ich habe gezögert.“
„Das hast du.“
„Wie lange hast du schon gewartet?“
„Lang genug. Du konntest es nicht. So ist das.“
„So ist das“, wiederholte Adiv langsam. „Ich glaube nicht, dass ich weiter mitgehen möchte, Syra. Ich meine ... mit dem Kind. Ich ... ich kann das nicht. Nicht mehr. Nicht jetzt.“
Syriakin schwieg, dann nickte sie. „Warte hier auf deine Mutter, Ardanna und Sphita. Sie werden helfen.“
„Und du?“
„Ich muss Elphen aufhalten, bevor er Ciycain findet.“
„Allein? Das ist verrückt, selbst für dich.“
„Wir haben keine Zeit und ihr seid alle verletzt.“
„Was? Nein!“ Adiv griff nach Syriakins Ellenbogen. „Du gehst nicht allein! Das ist Selbstmord! Vergiss, was ich sagte! Ich komme mit, hörst du? Du gehst nicht allein!“
Syriakin löste Adivs Hand von ihrem Arm, sah über Adivs Schulter in Richtung Höhleneingang und lächelte. „Ich gehe nicht allein.“
Adiv fuhr herum. Der Sumpfmann war aus dem Dunkel der Kaverne getreten, einen Beutel und mehrere Hemden über dem Arm, die er den Toten abgenommen haben musste. Er sah blass aus und hielt den Kopf schief, als er auf sie zu kam, wirkte aber wacher als vorhin.
„Ich habe Akim und Chries dasselbe Schmerzkraut verabreicht wie mir“, sagte er zu Adiv. „In spätestens einer Stunde sind sie so weit auf den Beinen, dass sie nach Staleph übersetzen können. Lasst sie dort behandeln.“ Er reichte ihr zwei Hemden. „Zieh sie über, bevor du hier draußen erfrierst. - Und du“, sagte er zu Syriakin, „solltest dir auch etwas Trockenes anziehen. Auf dem Wasser wird es kalt sein.“
„Schwimmt ihr nicht?“, fragte Adiv.
„Unter uns liegen Boote“, erwiderte Syriakin. „Schnelle Einmaster.“
„Chries faselte etwas von Fischermänteln“, sagte Gillok. „Mit ein wenig Glück haben die Einheimischen sie in den Booten gelassen.“
„Nehmt wenigstens noch Akim mit“, bat Adiv. „Auf einen Kämpfer wie ihn solltet ihr nicht verzichten.“
„Nein“, entgegnete die Sumpffrau, derweil Gillok sich auf die Suche nach einem geeigneten Abstieg machte. „Sein Bruder braucht ihn mehr. Sorg dafür, dass er nicht hinterherkommt. Bitte.“
„Aber Elphen ist gefährlich und die Quelle ...“
„Adiv.“ Syriakins sengender Blick verschloss Adivs Einwände.
Seufzend hob sie den Arm und ließ ihn wieder fallen. „Lass mich wenigstens Chries hinterher schicken. Mit nur einem Arm wird er nicht kämpfen können, aber Ardanna kann ihn so verarzten, dass er ihr und Sphita helfen kann, eine von diesen Schaluppen zu steuern. Auf eine Ärztin solltet ihr nicht verzichten.“
„Also gut.“
„Passt auf euch auf, ja?“
„Wie immer.“
„Ich meine es ernst,“ sagte Adiv. „Stoppt Elphen und verrammelt die verdammte Quelle. Und dann kommt ihr zurück und bringt Ciycain und Nou mit, hörst du?“ Etwas linkisch umarmte sie Syriakin, winkte Gillok und lief zum Höhleneingang, ohne sich noch einmal umzusehen.
Gegen einen Baum gelehnt, betrachtete Falokk sie. Fremdartig wirkte sie, auch nach all der Zeit noch. Mit kahl geschorenem Kopf war sie aus den Wäldern aufgetaucht, dünner und größer als bei ihrem Weggang im Sommer. Schweigsam, doch ohne Scheu, hatte sie auf der Lichtung gestanden, flankiert von zwei Spähern, die sie am Waldrand aufgegriffen hatten.
„Bist du allein?“, hatte er sie gefragt.
Sie hatte genickt.
„Niemand war bei ihr“, hatte Efua bestätigt. „Sie saß auf einem Baumstumpf und schien auf uns zu warten.“
Aus Respekt vor den Regeln des Dorfes, hatte er sofort gewusst. Nicht, weil sie den Weg vergessen hatte. Schließlich war sie durch die Sümpfe gewandert. Allein.
So wirkte sie oft. Allein. Traurig, abwesend, verloren, besonders seit dem Anfall. Nicht wie das lebensfrohe Mädchen, das vor einem halben Jahr mit seinen Eltern Yanois betreten hatte. Mit dem Friedensstifter und Innuq. Eltern wie Sonne und Mond, wie Feuer und Wasser. Zwischen ihnen das Kind. Ein Kind, das anders war als die Dorfkinder. Jetzt noch mehr.
Kein Wunder nach all dem.
Er seufzte, versuchte, sich aufzurichten, erschrak bei den Qualen, die die Bewegung verursachte. Schmerz, den er nicht lokalisieren konnte, der in den Gelenken brannte, ihn beugte, ihn ächzen ließ.
Ihr Kopf wandte sich ihm zu. Dunkelgrüne Augen, intensiv leuchtend unter dem schwarzen Stoppelhaar, glitten über ihn. Ihr Gesicht, in nachdenkliche Falten gelegt, glättete sich. Mitleid wischte über ihre Züge.
„Halb so schlimm.“ Schief grinsend streckte er den Rücken. „Nur das Alter. Mal ist es das Kreuz, mal die Hüfte, mal die Knie.“
„Mal Eure Finger.“
„Die auch.“ Missmutig betrachtete er die oberen Fingerglieder, die sich nach allen Seiten krümmten.
Sie könnte machen, dass der Schmerz vergeht.
„Meine Eltern erlauben nicht, dass ich Magie einsetze, nicht einmal zur Heilung“, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
„Deine Eltern sind stark. Nicht nur körperlich.“
Sie nickte, langsam und abwartend.
Er trat neben sie, starrte in den Wald, wie sie es getan hatte. „Fühlst du sie?“
Sie sah ihn von der Seite an, forschte in seinen Runzeln. „Ihr habt nachgedacht über meine Erzählungen.“
„Oh ja“, knarrte er. „Unablässig, vor allem in den Nächten. Seit die ersten Leute aus den Sümpfen Zuflucht bei uns suchten und deine Geschichten mitbrachten.“
„Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht um Euren Schlaf bringen.“
„Alte Menschen brauchen wenig Schlaf. Vielleicht, weil der ewige Schlaf auf uns lauert. Nachdenken ist besser.“
„Glaubt Ihr mir?“
„Ich bemühe mich.“
„Danke.“ Sie wandte den Blick ab, musterte wieder den Wald vor sich.
„Also?“
„Ich fühle, dass sie leben. Dass sie an mich denken und dass sie leiden. Dass sie kämpfen. Dass sie Hilfe brauchen.“
„Für diese Quellen?“
„Für die letzte von ihnen. Kian und Yvain sind nicht mehr sie selbst.“
„Wie meinst du das?“
„Ihre Magie ist aufgebraucht.“
„Deine auch?“
„Nein.“
„Du bist stärker als die Jungen. Ciycain. Die Walruferin.“ Er schüttelte den Kopf, überlegte kurz. „Man sagt, du sprichst mit den Bäumen. Dass du in die Wälder gehst und stundenlang wegbleibst. Manchmal ganze Nächte. Und wenn du zurückkehrst, hast du keinen Kratzer, keine Schramme, nichts. Nicht einmal einen Spinnenbiss.“
Ciycain starrte schweigend auf den Boden.
„Etwas ist an dir, etwas ... Unbestimmtes. Ich kann es nicht erklären. Es macht mir Angst.“
„Ihr müsst keine Furcht vor mir haben. Ich tue Euch nichts.“
„Aber du könntest. Man spürt es, auch wenn man nichts über dich weiß. Es schimmert unter deiner Haut, hinter deinen Augen. Man spürt es.“ Falokks trübe Pupillen wanderten über ihre Gestalt, fasziniert und abgeschreckt gleichermaßen.
Ciycain suchte seine Finger und drückte sie sanft. „Ihr müsst keine Angst haben. Nicht vor mir.“
Falokk spürte die Wärme, die von ihr ausging, eine beruhigende, betörende Wärme, angenehm und dunkel wie ihre Stimme. Als sie die Hand wegnahm und sich abwandte, brannte die Haut wie nach einem Peitschenhieb.
„Warte.“ Er rang mit dem Wort, zog es von der Zunge wie Baumharz von der Rinde. „Efua war bei mir. Wir erwarten Besuch.“
Eine halbe Stunde später schloss Nou sie in die Arme und zog sie an sich, bis sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Falokk beobachtete, wie Ciycain sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Die Geste berührte ihn. Endlich wirkte sie wie ein Kind.
Dorfbewohner drängten herbei, umlagerten Kanouepe, tippten auf seine Arme und Schultern, klopften auf seinen Rücken. Seine Schüler eilten mit kleinen Willkommensgeschenken herbei: Schälchen mit säuerlichen Beeren, gewürzte Kauhölzer, Sprossen und Samen. Leckereien, die er dankend entgegennahm.
Ciycain trat beiseite, musterte lächelnd Baelis, deren Mutter, Tolan, Matantyuch und Herad, die Nou noch herzlicher in Empfang nahmen als die Einheimischen Yanois‘.
„Sie betrachten ihn für immer als ihren Retter“, raunte Falokk ihr zu.
Ciycain nickte. „Sie sind alles, was von Grulorh übrig blieb.“
„Hast du ihn auch gespürt?“
„Nein. Nicht wie meine Mutter.“
„Aber du standest am Dorfrand und spähtest in den Wald, als würdest du ihn erwarten.“ Der Blick des alten Mannes wehte über ihren Rücken.
„Eine Ahnung, mehr nicht.“
„Mehr nicht“, wisperte er und verschwand im Dunkel der Hütte.
Nach dem Abendmahl erschien Kanouepe auf der Schwelle des Ältesten.
„Komm herein.“
Mit einem Stock fachte Falokk die Glut an, verscheuchte seine Frauen, Töchter und Enkelkinder, klopfte auf den Erdboden. Nou ließ sich im Schneidersitz ihm gegenüber nieder und wartete, bis Falokk das Wort an ihn richtete.
„Du warst lange weg.“
„Ja.“
„Bist du wegen ihr zurückgekehrt?“
„Gillok bat mich, sie zu suchen.“
„Warum sucht er nicht selbst nach seiner Tochter?“
„Er ist ein besserer Kämpfer als ich.“
„Und gute Kämpfer braucht ihr.“
„Ihr wisst das so gut wie ich. Ciycain hat Euch alles berichtet.“
„Sie ist die Botschafterin eurer Sache. Von überall kommen Sumpfleute zu uns. Sie wandert von einem Schlupfwinkel zum nächsten, erzählt den Leuten unglaubliche Legenden von Magie, Thronräubern und Menschen aus der Unterwelt des Gefängnisses.“
„Sie sind alle wahr.“ In Nous Augen spiegelten sich die Flammen.
„Das befürchte ich auch.“
„Wir sind die Nachfahren. Wusstet Ihr das? Das Sumpfvolk. Wir stammen von ihnen ab. Von dem magischen Volk.“
„Sieh einer an. Die Alten erzählen sich schon immer, dass wir einst ein besonderes Volk waren. Kriegerisch, bewandert im Umgang mit Klingen und Giften. Kletterer, Schwimmer. Von Magie war allerdings nie die Rede.“
„Nicht jeder hat sie.“
„Zum Glück. Nach allem, was ich höre, frisst sie einen von innen auf.“
„Deshalb muss sie vernichtet werden.“
„Vor ein paar Wochen“, sagte Falokk leise. „Fand deine Zweitmutter das Mädchen in den Wäldern. Oder das Mädchen sie. Plötzlich bekommt sie einen Anfall. Heftig, unkontrolliert. Später erfahren wir, dass ein Junge gestorben war.“
„Arlen.“ Nou saß wie festgefroren, das Gesicht aschfahl. Nur seine Finger spielten mit einem qualmenden Hölzchen. „Ich war dabei.“
„Vor etwa zwei Wochen brach sie erneut zusammen. Oben, in der Hütte ihrer Freundin. Zuckte wie ein Tier, das schlecht getroffen worden war. Sie hatte Schaum vor dem Mund. Baelis und ihre Mutter hielten sie fest und schrien Hilfe herbei, sonst wäre sie vom Baum gefallen.“
„Die zweite Quelle. Die in der Wüste. Sie haben es geschafft.“ Ein zaghaftes Lächeln erschien auf seinen bleichen Wangen.
„Sie sagt, die beiden Jungen haben ihre Magie verloren.“
„Das erzählte sie mir auch.“
Der Dorfälteste beugte sich so weit vor, wie seine Gelenke und die Flammen ihm gestatteten. „Begreifst du? Wenn die Magie geht, hinterlässt das Spuren. Vielleicht bringt es sie um.“
„Ich werde auf sie aufpassen.“
„Was willst du tun? Gegen widernatürliche Kräfte kommst du nicht an. Niemand tut es.“
„Ich kann es versuchen. Außerdem ist sie stark, viel stärker als wir alle. Stärker als die Jungen. Und diese leben noch.“
„Aber die Meeresquelle ist die letzte! Keiner weiß, was passiert, wenn sie versiegt. Falls deine Gefährten es überhaupt schaffen.“
„Sie schaffen es. Doch sie brauchen Hilfe.“
„Du willst mit ihr nach M’tuauoa.“
„Wir zwei sind nicht genug. Wir brauchen mehr Leute.“
„Wir sind kein Kriegervolk mehr.“
„Wir könnten es wieder werden.“
„Klingen und Gift richten gegen Magie nicht allzu viel aus, fürchte ich.“
„Es ist ein Anfang.“
„Und vielleicht das Ende unseres Volkes. Die Magie betrifft uns nicht. Die Thronkämpfe betreffen uns nicht.“
Kanouepe schwieg, starrte den Alten an. Flammen tanzten in seinen Augen. Dann erhob er sich. „Wer die Magie kontrolliert, kontrolliert die Völker. Alle Völker. Ciycain und ich werden gehen, wenn sie sagt, dass die Zeit gekommen ist. Mit Euch oder ohne Euch.“
An den Torwächtern vorbei bahnte Etahpe sich ihren Weg in das Innere der Palaststadt und pflügte durch das Regenwasser, ohne sich umzusehen. Adiv war verdutzt, bis ihr einfiel, dass ihre Mutter den Palast kannte.
„Sieht es noch aus wie damals?“, erkundigte sie sich.
„Im Großen und Ganzen. Meist waren wir im Sommer hier, zu den großen Turnieren. Großartige Feste. Wir verdienten gut, lebten für einige Tage wie die Höfischen. Trinken, Essen, Gesang und Unterhaltung.“
„Unterhaltung? Ich dachte, das Hofprotokoll wäre so streng.“
„Nicht, wenn Alkohol in Strömen fließt. Es gab Aufführungen: Theater, Akrobatik, Sangeswettbewerbe. Dazu die Turniere. Ringkämpfe, Gelage. Wilde Tiere. Wilde Liebe. Das Gold saß locker, die Menschen wurden leichtsinnig.“
Adiv stöhnte auf. „Ihr habt sie bestohlen.“
Etahpe entblößte Zahnstummel. „Das ist eine Ewigkeit her.“
„Mutter.“
„Von irgendwas mussten wir schließlich leben. Die Aufführungen brachten nicht genug ein, wir hatten viele Mäuler zu ernähren. Hoffeste sind ein Segen für Leute wie uns.“
„Ihr habt Menschen beraubt!“
„So wie sie das Volk. Ich nenne es ausgleichende Gerechtigkeit. Ein paar Münzen weniger tun ihnen nicht weh, uns retteten sie über die Winter. Nicht ehrbar vielleicht, aber notwendig.“
Adiv setzte zu einer Antwort an, doch Akim fiel ihr ins Wort. „Sie hat genug gebüßt und längst wiedergutgemacht, allein, indem sie uns half.“
Dann hielt er inne, als hätte er einen Schlag erhalten. Adiv und Etahpe blickten ihn alarmiert an, aber im nächsten Augenblick erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht und er drehte sich zu einem Durchlass zwischen zwei Gebäuden um. Adiv kniff die Augen zusammen und nahm eine schmale Gestalt im Schatten der Häuserwände wahr.
„Ist das Kian?“
Akims Lächeln vertiefte sich. Sein Bruder kam ihnen entgegen, zögernd und langsam, doch allein und ohne zu schwanken. „Du kannst es noch“, begrüßte Kian den Fährtenleser und umarmte ihn.
„Was kann er?“, fragte Adiv, dem Jungen über das krause Haar streichend. Sein Haupt befand sich beinahe auf Augenhöhe.
„Er hat geflüstert“, erwiderte Akim, dieweil Kian Etahpe musterte, die ebenso unverhohlen neugierig zurück starrte. „Einen Witz, den ich ihm einst erzählt habe. - Hast du geahnt, dass wir kommen würden?“
Kians Gesicht verschloss sich. „Nein. Dass ich hier draußen bin, ist Zufall. Ich gehe jeden Tag um diese Zeit auf dem Hof spazieren. Ranas Anweisung. Sie hat unsere Tage streng eingeteilt. Ruhe, essen, schlafen. Ein bisschen Bewegung. Wieder essen. Spielen mit Talin und anderen Kindern, wenn es uns gut genug geht.“
„Langweilig, eh?“ Etahpe grinste den Knaben an.
Er lächelte, die Augen verdrehend, zurück.
„Du solltest dankbarer sein“, wies Akim den Jüngeren zurecht.
„Das bin ich, aber ...“
„... ein Mann braucht eine Aufgabe“, vervollständigte Etahpe den Satz. „Wenn du willst, kannst du mir die Palastanlage zeigen. Mal schauen, was sich so verändert hat in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Vielleicht kenne ich das eine oder andere geheime Plätzchen, das du noch nicht entdeckt hast.“
„Kennt Ihr Geschichten zu den Plätzen?“
Etahpe wackelte mit dem Kopf. „Oh ja. Allerdings sind sie nicht immer für Kinderohren geeignet. Die wenigsten, wenn ich es mir recht überlege.“
„Mutter!“
„Was? Auch ich war einmal jung. Ein bisschen kurz geraten vielleicht, doch nicht ganz unansehnlich.“
Adiv beließ es bei einem resignierten Seufzen.
„Zuerst aber könntest du uns in den Palast bringen“, wandte Etahpe sich zurück an Kian. „Ich habe noch nie das Hauptgebäude betreten, zumindest nicht auf dem offiziellen Weg.“
„Rana lässt gerade das Essen anrichten. Ihr kommt genau rechtzeitig.“ Plaudernd setzten die beiden sich in Bewegung.
Adiv lehnte sich an Akim. „Ich warte nur darauf, dass er ihr seinen Arm anbietet.“
Akim gluckste. „Als würden sie sich schon Jahre kennen.“
„Arlen war genauso. Bei Kaa, ich vermisse ihn. Ich vermisse, was er mit den Menschen gemacht hat, bevor dieser verfluchte Blaukopf auftauchte.“
„Ja“, sagte Akim und drückte sie an sich. „Aber es ist schön, Kian so zu sehen. Er wirkt beinahe wieder normal.“
Sila gab den Bediensteten eine letzte Anweisung, dann eilte sie in den Seitenflügel und öffnete die Tür zu einem der Gemächer und scheuchte die Jungen auf. „Es ist Zeit für das Essen.“
Talin zog eine Schnute, krabbelte jedoch folgsam von Yvain hinunter, der das Buch zusammenklappte und auf das Tischchen legte.
Sila beäugte den schmalen Band. „Der Kalender? Schon wieder?“
Langsam erhob sich Yvain. „Er mag die Bilder. Ich erzähle ihm Geschichten dazu.“
„Ausgedachte?“
„Ja. Zwei oder drei mag er besonders gern. Ich muss sie wieder und wieder erzählen.“ Liebevoll sah Yvain auf den Knirps.
„Du bist geduldiger als Kian. Wo ist er? Draußen?“
„Er wollte spazieren. Er baut lieber Türme mit Talin und freut sich auf die ersten Wettrennen die Korridore hinunter.“
„Oh je“, stöhnte Sila, lächelte aber. „Stellt sicher, dass meine Mutter dann nicht in der Nähe ist.“
Auf dem Gang schwangen sie Talin zwischen sich durch die Luft. Nach dem vierten Schwung überließ Yvain den Jungen Sila, die ihn auf den Arm nahm und den Saal ansteuerte, in dem sie die Mahlzeiten einnahmen, seit Jonoy und Mehlau abgereist waren.
Als sie die Tür öffnete, gefror sie auf der Schwelle. Um den Tisch saßen wie erwartet Ylaiy, Kian, Rana und Sem. Außerdem jedoch Akim, Adiv und eine klein gewachsene Frau mit einem Gesicht wie aus Holzkohle und nur einem Arm. Sie blieb sitzen, wachsam und neugierig, während Akim und Adiv freudestrahlend aufsprangen.
Sie stellte Talin ab und ließ sich von Akim in die Arme nehmen. Der Geruch seines Körpers brachte die Erinnerung an eine frühere Umarmung zurück. Die Wälder außerhalb Perths. Mehlau, der auf den eigenen Händen saß. Durst, Hunger, Ivson. Die Erleichterung, Akim zu sehen. Kurz schmiegte sie sich an den dunkelhäutigen Mann. „Ihr seid am Leben, den Göttern sei Dank.“
„Wenn auch nicht gerade gesund und munter.“ Seine Stimme klang, als hätte er Mühe, die Worte herauszupressen.
„Nicht mehr lange und wir machen Ardannas Spital Konkurrenz.“ Sila küsste Adiv auf beide Wangen. „Wie geht es dir?“
„Besser als Akim. Nur ein wenig angeschlagen.“
Adiv beugte sich zu Talin hinunter, tätschelte ihn. „Sei gegrüßt, Zwerg. Du bist ganz schön gewachsen.“
Talin betrachtete Adiv, dann schlang er die Arme um ihre Beine. Adiv hob den Knirps hoch, fühlte, wie er seine Wange an ihre legte. Überrascht musterte sie Sila. Diese lächelte achselzuckend und trat an den Tisch. „Ihr müsst Adivs Mutter sein. Willkommen.“
„Das ist also Eure Tochter“, knarzte Etahpe und sah Rana an, die steifer als sonst auf ihrem Stuhl hockte, eine Hand unter dem Tisch, vermutlich auf Sems Bein.
„Sila“, quetschte Rana heraus.
Sila schoss Ylaiy einen langen Blick zu und klatschte in die Hände. „Gut. Alle hinsetzen. Ich sage in der Küche Bescheid, dass wir mehr Gedecke brauchen, bevor wir auftragen lassen.“
„Ich helfe dir.“ Adiv ging in die Hocke und setzte Talin ab. Der Kleine lehnte sich an sie, streichelte ihren Bauch, legte sein Ohr daran, als horche er in ihren Leib. Dann lächelte er und tapste zu Rana, die ihn auf ihren Schoß hob.
„Das war seltsam“, sagte Sila, sobald sie den Raum verlassen hatten. „Ich wusste gar nicht, dass Talin und du so eine enge Verbindung habt.“
„Ich auch nicht.“
„Er hat deinen Bauch gestreichelt.“
„Hat Kian nichts gesagt?“
„Was gesagt?“
„Ich bin schwanger.“
Sila hielt kurz inne. „Bist du sicher?“
„Ich bin lange genug überfällig. Außerdem hat Kian das Kind gespürt, als Ardanna mich behandelte.“
„Nach ...“
„Arlens Tod, ja.“
„Gillok war hier und erzählte, du seist schwer verwundet. Erst viele Tage später erfuhren wir, dass du überlebt hattest. Wir waren krank vor Sorge.“
Adiv wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, also streichelte sie Silas Oberarm.
„Yvain brach zusammen, als Arlen starb. Wir dachten, er stirbt ebenfalls. Die schlechten Nachrichten reißen einfach nicht ab.“
„Immerhin waren alle am Leben, als wir Kaadaa verließen. Und nur Elphen ist noch übrig.“
„Wo sind sie hin?“
„M’tua. Syra und Gillok sind voraus gefahren, Ardanna, Sphita und Chries hinterher. Akim ist zu angeschlagen. Ich bin froh, dass er noch reden und den Arm halbwegs wieder gebrauchen kann. Zu viele Verletzungen in zu kurzer Zeit. Er spielt sie herunter.“
„Wie Ihr alle. Und du bist schwanger.“
„Das verändert einiges. Ich bin selbst überrascht.“
„Ist Chries der Vater?“
„Ja.“
„Er ist dort draußen. Macht dich das nicht wahnsinnig?“
Adivs Antlitz verdunkelte sich. „Was denkst du wohl?“
Sila schlug ihre Augen nieder. „Betest du zu deinem Gott?“
„Ich glaube nicht, dass er mich hört. Nicht nach Arlen und den anderen.“
„Ich denke immer noch jeden Tag an Ivson“, sagte Sila mit einer Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien. „Hätte nicht gedacht, dass ich den Kerl derart vermissen würde.“
„Fühlst du dich schuldig an seinem Tod?“
„Irgendwie schon.“
„So geht es uns allen. Wir fühlen uns schuldig. Für jeden Tod.“
Beide schluckten und starrten zu Boden.
„Jedenfalls bin ich froh, dass ihr da seid“, sagte Sila nach einer Weile. „Aber ich fühle auch ein wenig ... Beklommenheit.“
„Weshalb?“
„Ist dir nicht aufgefallen, wie steif meine Mutter wirkte? Gar nicht wie sie selbst.“ Sila blieb stehen und nahm Adivs Arm. „Erinnerst du dich an Videms Geschichte? Von Aans Geburt und der Zeit danach? Dass meine Mutter deine getroffen haben könnte, damals, in der Letzten Nacht?“
„Meine Mutter wollte Aan abtreiben.“
„Monate zuvor, aber das war gescheitert. Und als die Geburt heran war, war meine Mutter zufällig in Baratens Haus. Ylaiy glaubt, auch deine könnte dort gewesen sein. Baraten war verzweifelt, verstehst du? Sabyn drohte zu sterben.“
„Syra dachte das.“ Erinnerungsfragmente purzelten in Adivs Geist. „Als Videm es erzählte. Sie dachte dasselbe wie Ylaiy. Sie beide haben das Kind zur Welt gebracht. Deine und meine Mutter. Wir müssen sie fragen!“
„Das kannst du dir sparen. Ich habe Ylaiy gesehen am Tisch. Er hat unsere Mütter beobachtet. Glaube mir: Sein Gehirn arbeitet bereits. Das wird ein interessantes Tischgespräch.“
„Und ein langes. Wir haben auch das eine oder andere zu berichten. Es wird euch nicht gefallen.“
Ylaiy verschwendete keine Zeit. Sobald die Tafel abgeräumt und die Jungen zu Bett gebracht worden waren, wandte er sich an die Frauen. „Aan.“
Beide versteiften.
„Ich gab sie fort“, begann Rana schließlich mit bleichen Lippen. „Zu Schaustellern. Fremden Leuten, denen ich auf einem der Feste zum ersten Mal begegnet war. Sie wirkten wie ehrbare Menschen, nahmen sie gern mit.“
„Wenig überraschend“, entgegnete Etahpe. „Hübsche Mädchen sind eine gute Investition. Besonders, wenn sie einen hellen Kopf haben.“
„Ich bekam kein Gold für sie“, begehrte Rana auf.
„Ihr wisst, was ich meine.“
Wie immer verspürte Adiv ein Ziehen in den Eingeweiden, wenn sie an Aans Schicksal dachte. Rana schien es ähnlich zu gehen. Ihre ineinander verschränkten Finger zuckten.
Sem sah Rana durchdringend an. „Keine Vorwürfe mehr. Vei war ein niederträchtiger Lump. Du hast sie vor ihm gerettet. Punkt.“
„Nur, damit es ihr noch schlimmer erging? Etahpe wird dir sagen können, was einem Mädchen im Fahrenden Volk passiert.“
Alle Augen wandten sich Adivs Mutter zu.
„Ich weiß nicht mehr als Ihr“, wiegelte diese ab. „Ich war bereits inhaftiert, als Aan zum Volk kam. Sie sprach nicht über jene Zeit. Nie.“
„Trotzdem weißt du einiges“, widersprach Adiv.
„Was willst du hören? Ich selbst kam als Kind zum Volk. Es behandelte mich gut, im Großen und Ganzen. Ich liebte die Freiheit, das Reisen, das Leben von Tag zu Tag. Aber wir waren auch bettelarm, hungerten, froren, taten alles, um zu überleben. Übten ehrliche Arbeit aus, so lange sie uns ernährte, stahlen, wenn sie es nicht mehr tat. Ich lernte das Stehlen, als ich ein Kind war. Alle Kinder, die ich kannte, leerten die Taschen der Reichen auf den Markttagen und Festen. Meist jedoch stibitzten wir Essen. Oft nahmen wir das, was andere weggeworfen hatten. Hat Aan gestohlen und gebettelt, wenn sie Hunger hatte und fror? Mit Sicherheit. Haben ihre Leute sie an Männer verkauft, um an Geld zu kommen? Vielleicht. Hat sie freiwillig Männer umworben für ein warmes Bett? Wahrscheinlich.“
„Oh Kaa“, seufzte Adiv mit grauem Gesicht. „So etwas hatte ich befürchtet.“
„Aber du kanntest sie“, fuhr Etahpe mit sanfterer Stimme fort. „Sie war lebenslustig. Nicht ausgebrannt, nicht verbraucht wie so viele andere. Vielleicht hat sie das Schlimmste auch nicht erlebt. Und selbst wenn: Es hat sie nicht zerstört.“ Sie wandte sich an Rana und wiederholte: „Es hat sie nicht zerstört. Sie hatte eine Zukunft. Mit ihrem Sohn, den sie über alles liebte. Was hätte sie hier gehabt?“
„Uns“, murmelte Rana. „Ihre kleine Schwester und mich. Sie war hier glücklich, wisst Ihr?“
„Bis Vei kam.“ Etahpe mahlte auf ihren Zahnstummeln. „In der Boragha nannten wir ihn Wolf. Bösartig, tollwütig bisweilen.“
„Ihr tut den Wölfen unrecht.“
Ranas geflüsterte Bemerkung ließ Etahpe das Gesicht zu einem galligen Lächeln verziehen. „Wahrscheinlich.“
„Cledent Baraten kam zu Besuch, nicht wahr?“, mischte Ylaiy sich wieder ein.
„Regelmäßig“, bestätigte Etahpe. „Ihr habt ihm Aan gezeigt, ihm von ihr erzählt. Er gab es an Rana weiter.“
„Wir beide waren in Perth in jener Nacht“, berichtete Etahpe, nachdem sie Adiv einen Blick zugeworfen hatte. „Er hatte Leute ausgesandt, um nach Hebammen zu suchen. Ich war auf dem Weg zum Hof, genau wie Rana. Ein riesiges Fest war angekündigt: Krönung, die Geburt des Thronfolgers, Letzte Nacht. Ein Unwetter kam uns dazwischen. Es stürmte, schneite wie verrückt. Die Fähren wurden eingestellt und wir saßen auf Prant fest, nicht weit entfernt von Perth. Ich hockte in einer Wirtschaft, als ein Dienstmann hereinkam und nach Hilfe fragte. Unsere erhofften Einkünfte gingen gerade den Bach hinunter, also schlich ich ihm hinterher. Es war nicht schlau, sich als geburtenkundig auszugeben, wenn man keine echte Hebamme war. Baraten zuckte zusammen, als er mich erkannte, aber er ließ mich ein. Um seine Frau stand es schlecht. Ich dachte nicht, dass sie die Nacht überleben würde. Oder das Kind.“
„Blut“, sagte Rana und schüttelte sich. „Manchmal denke ich noch heute daran, obwohl ich mittlerweile mehrere Geburten erlebt habe, eigene und fremde. Meine erste Tochter, Silas leibliche Schwester, war eine Totgeburt, und auch das war ... schlimm. Vielleicht wusste ich deshalb, was zu tun war. Doch das Blut ... das war entsetzlich. Sabyn hatte es eimerweise verloren, so, wie es aussah. Das Bett schwamm darin. Etahpe und ich waren nicht die einzigen Helferinnen. Es gab noch zwei ältere Frauen. Gemeinsam schafften wir es irgendwie.“
„Es dauerte Stunden“, bestätigte Etahpe. „Als ich eintraf, hatte sie schon einen Tag lang in den Wehen gelegen. Ein Albtraum. Aber das Mädchen kam zur Welt. Kurz vor Mitternacht. Es atmete nicht, wurde blau.“
„Ihr habt es zum Atmen bekommen. Ihm auf den Rücken geschlagen, den Mund ausgewischt. Und dann wart Ihr verschwunden.“
„Baraten gab mir das Geld, sobald das Kind schrie, und ich floh.“
„Hat er Euch gedroht?“, fragte Ylaiy.
„Es war eher eine stille Übereinkunft. Er sagte nichts, ich sagte nichts. Ich ging einfach, bevor es für mich gefährlich wurde. Eine der älteren Frauen verschwand unmittelbar nach mir.“
„War sie auch keine Hebamme?“, erkundigte sich Adiv.
„Wohl nicht.“
„Cledent und Sabyn drückten mir Aan in die Hand, sobald Sabyn halbwegs bei Bewusstsein war“, erzählte Rana weiter.
Ylaiy beugte sich vor. „Beide gaben Euch das Kind?“
„Ja. Sie waren sich einig. Sabyn weinte, schluchzte herzzerreißend, aber sie hatte Angst. Damals dachte ich, vor der Schande, heute denke ich, dass Maxim der eigentliche Grund war.“
„Er war nicht dabei?“
„Er war hier bei den Palastfeiern. Mit Freunden, Verwandten, den Eltern seiner Schwiegertochter, deren Verwandten.“
„Ein großes, beschissenes Familientreffen“, murmelte Sila abschätzig.
„Ich weiß nicht, was sie Maxim nach seiner Rückkehr erzählten. Dass das Kind gestorben war, vermutlich.“
„Und Euch fragte keiner nach dem Neugeborenen“, schlussfolgerte Ylaiy.
„Niemanden interessierte das Kind einer Bediensteten. Die Kaiserin war froh, dass jemand Euch nährte.“
Bei dem Gedanken, dass er an Ranas Brust gelegen hatte, errötete Ylaiy und räusperte sich.
„Niemand weiß also, was genau passierte, nachdem Aan den Hof verlassen hatte. Sie verschwand einfach für zehn Jahre.“
„Wir werden nie erfahren, wer Arlens Vater war“, ergänzte Akim.
„Nein“, seufzte Ylaiy.
„Ist das wichtig?“, fragte Etahpe.
„Für Ylaiy ist es das“, gab Sila zurück. „Sein Geist mag es aufgeräumt. Alle Dinge müssen einen Sinn ergeben, ihren richtigen Platz finden.“
„Ein Suchender“, sagte Etahpe wehmütig. „Wie mein Mann.“
„Ohne ihn wüssten wir weniger“, entgegnete Ylaiy. „Viel weniger. Ebenso ohne Euch. Wir stehen tief in Eurer Schuld.“
Etahpe schnalzte mit der Zunge. „Hört schon auf. Ich habe es nicht so mit Gefühlsduselei.“
Das Lachen, das einsetzte, fühlte sich an wie ein Aufatmen.
„Wir dachten, du hättest Cledent Baraten erpresst“, sagte Adiv. „Dabei war er dir nur dankbar, dass du seine Frau gerettet hattest.“
„Das auch.“
„Was meinst du?“
Etahpe zog es vor, sich zurückzulehnen und zu schweigen.
„Ihr kanntet ihn!“, rief Ylaiy aus. „Schon vor der Abtreibung. Deshalb wusste er von Euch und Euren Künsten. Natürlich!“
„Wartet!“ Adiv sprang auf, den Zeigefinger erhoben. „Sprecht es nicht aus! - Du auch nicht!“, fuhr sie ihre Mutter an. „Sag mir nicht, dass du und Cledent Baraten ...“
„Wir hatten keine Liebschaft“, sagte Etahpe ruhig. „Wir kannten uns von den Festen. Genau genommen hatte ich versucht, ihn zu bestehlen. Er erwischte mich.“
„Er hat Euch nicht gemeldet?“, fragte Ylaiy ungläubig.
„Er war noch kein Inquisitor und das Ganze eine Kleinigkeit. Ein Pergament, auf das ich im Vorbeigehen einen Blick geworfen hatte.“
„Was war darauf?“
„Ein nackter Mensch.“
Ylaiy lachte auf. „Eine Liebesdarstellung?“
Etahpe lächelte. „Nein.“
„Es war eine anatomische Zeichnung, nicht wahr?“, fragte Rana. „Kein Mensch. Das Innere eines Menschen.“
„Nicht gerade verboten, aber auch nicht ungefährlich, vor allem, wenn man eine Frau war. Viele halten Heilerinnen noch heute für Hexen, vor allem in den Provinzen. Cledent erwischte mich, als ich sie stehlen wollte. Statt mich anzuzeigen, hat er mich befragt. Was ich damit wolle, ob ich mehr davon besäße, wer sie herstelle und vertreibe. Solche Dinge. Ich erzählte ihm die Wahrheit. Er schien mich zu verstehen. Wir freundeten uns an. Dann heiratete er, ich zog weiter, lernte Adivs Vater kennen, wir verloren uns aus den Augen. Ende der Geschichte.“
„Bis er Euch wegen der Abtreibung ansprach“, stellte Ylaiy fest.
„Mhm. - Aan erzählte nie etwas vom Volk, aber sie erinnerte sich an den Hof. Erst dachte ich, sie spinnt sich eine Vergangenheit zusammen wie viele Waisenkinder, doch manchmal entschlüpften ihr Details. Namen. Ranas zum Beispiel. Ereignisse. Feste, auf denen ich gewesen war. Und eines Nachts erinnerte ich mich an sie. An ein kleines Mädchen an Ranas Hand. Ein kurzes Zusammentreffen, mehr nicht. Plötzlich wusste ich, dass sie das Kind war, das Rana und ich zur Welt gebracht hatten. Cledent hatte mich damals laufen lassen, aber als ich Jahre später erwischt wurde, kam ich vor Gericht. Sein Gericht.“
„Er verurteilte dich“, sagte Adiv. „Obwohl er dein Freund war.“
„Er hatte keine Wahl. Ich war schuldig und offen gestanden froh, nur mit Diebstahl davon zu kommen. Cledent wusste mehr über mich.“
„Und du über ihn.“
„Was ich nicht beweisen konnte. Wir einigten uns auf die bestmögliche Lösung. Einen Arm für ein Leben. Zwei Leben. Auch dein Vater besaß merkwürdige Schriften und wusste über meine anderen Einkünfte Bescheid.“
„Baraten hielt die Hand über Euch“, erriet Ylaiy.
„Er litt. Man sah es ihm an, jedes Mal, wenn er in die Boragha kam. Das schlechte Gewissen, die Seelenqual. Es war ihm wichtig, dass es mir gut ging. So gut es einem eben in einem Gefängnis gehen kann. Ich stieg immer nach oben, bei jeder Gefangenankunft. Stellte mich stets auf denselben Platz. Bevor er abreiste, schaute er zu mir. Dann berührte ich meinen Armstumpf. Das Zeichen, das alles in Ordnung war. Berührte ich ihn nicht, arrangierte er etwas. Ein Pergament. Arbeit. Holz.“
„Und irgendwann nahmst du Aan mit nach oben“, schlussfolgerte Adiv.
„Er wusste es sofort, glaube ich.“
Adiv dachte an das Porträt in Cledents Arbeitszimmer.„Sie sah Sabyn sehr ähnlich.“
Alle verfielen in nachdenkliches Schweigen.
„Sind das genug alte Geschichten?“, fragte Etahpe schließlich. „Lassen wir sie endlich ruhen. Im Augenblick sind die jüngsten Entwicklungen drängender.“
Sila erhob sich. „Ich hole Tee. Wir alle können eine Erfrischung gebrauchen.“
Ylaiy lächelte sie an, küsste ihre Hand, als sie an ihm vorbei ging.
Rana runzelte die Stirn.
„Ihr könnt nichts dagegen tun“, sagte Adiv zu ihr und blinzelte Ylaiy zu.
Rana verzog das Gesicht. „Sagt Eurer Tochter, sie soll nicht so naseweis sein“, wandte sie sich an Etahpe.
„Lieber nicht. Sie scheint auf sehr vertrautem Fuß mit dem Kaiser.“
Adiv lachte auf. „Und der zukünftigen Kaiserin. Also Vorsicht, Mütter.“
Akim und Ylaiy schmunzelten, während Rana und Etahpe sich musterten.
„Damals trugt Ihr Euer Haar lang und dunkel“, murmelte Etahpe.
Rana fuhr sich durch die angegrauten Strähnen. „Genau wie Ihr, wenn ich mich recht entsinne.“
„Mausbraun und dünn. Adiv schlägt völlig aus der Art.“
Ylaiy beendete die Plauderei. „Die Boragha“, drängte er. „Warum die besorgten Mienen bei Eurer Ankunft?“
„Sie graben die Quelle wieder aus“, berichtete Adiv in dem Moment, in dem Sila die Tür öffnete, ein Tablett mit Bechern auf dem Unterarm balancierend.
Akim sprang zu ihr, nahm ihr das Servierbrett ab, brachte es zum Tisch.
„Welche Quelle?“, fragte Sila leise. „Die in der Kloake?“
„Die Mutterquelle“, erwiderte Etahpe düster. „Sie tragen alles ab. Wir müssen es aufhalten, sonst war alles umsonst.“
„Aber ... ich dachte, Arlen hätte die Quelle unter einem Berg begraben“, stammelte Ylaiy. „Nie im Leben ...“
„Sie werden es schaffen, Ylaiy“, unterbrach Adiv. „Tausende Insassen, rund um die Uhr. Sie werden diesen Berg abtragen, die eingestürzten Tunnel, alles. Ihr müsst etwas unternehmen, und zwar schnell!“
Ylaiy massierte sein stoppeliges Kinn. „Verflucht.“
„Sendet Truppen hin!“, schlug Sila vor. „Sie müssen das Ganze unterbinden!“
„Das wird nicht einfach. Veis Leute sind weg, haben Lücken gerissen. Die Usurpation hat Leben gekostet, der Zusammenbruch der Boragha und die Seuche auf Prant ebenso. Es dauert, Soldaten zusammenzuziehen, frische anzuwerben und auszubilden. Wie viel Zeit haben wir?“
Etahpe zögerte. „Ein Jahr? Rechnet mit weniger.“
„Wir haben der Schlange ihre beiden Köpfe abgeschlagen“, warf Akim ein. „Cehaj und Nebunedzad. Das verzögert die Ausgrabung.“
Etahpe überlegte. „Man wird Suchtrupps losschicken, die Toten finden, sich neu orientieren. Weitere Thronkämpfe. Ein paar Tage, vielleicht sogar Wochen, Aufschub.“
„Ich veranlasse, dass ein Trupp nach Kaadaa gesandt wird“, versprach Ylaiy. „Ich werde mit dem Rat sprechen. Aber auch dies ist keine dauerhafte Lösung.“
„Es ist ein Anfang“, sagte Akim. „Wenn die letzte Quelle vernichtet ist und wir neue Kraft geschöpft haben, lassen wir uns etwas einfallen. Notfalls bewachen wir die Boragha.“
„Ich auf jeden Fall“, erklärte Etahpe. „Die Magiekranken brauchen Hilfe. Wir können sie nicht im Stich lassen.“
„Ardanna wird helfen“, setzte Adiv hinzu. „Sie, Vouker, Sphita und ich.“
„Du bist schwanger“, widersprachen Rana und Etahpe wie aus einem Mund.
„Dann eben später. Uns wird etwas einfallen.“
M’tuauoa, am äußersten Ende eines halbmondförmigen Archipels gelegen, überragte ihre sieben Schwesterinseln in Höhe und Ausdehnung. Doch nicht nur sie rauchte. Die gesamte Inselgruppe schien von innen heraus zu brennen. Dichter Qualm stieg von überall empor und wehte über das Wasser, rasch aufgelöst von der kräftigen Brise. Während M’tuauoa und ihre namenlose Nachbarinsel den Anschein erweckten, als hätten Götter sie vom Meeresgrund aus mit der Faust emporgestoßen, sahen die anderen Eilande aus wie von oben eingedrückt: flache Krater, umspült von schäumenden Wellen. Eins von ihnen war so winzig, dass sie es in Minuten hätten umrunden können. Das mit vier Bäumen bewachsene Stück Fels, das aussah wie der Hut eines Riesen, schien auf dem Wasser zu tanzen wie ein hüpfender Stein.
M’tuauoa hingegen erstreckte sich in die Höhe, umschlossen von einem Streifen Sandstrand, den zum Landesinneren hin ein Ring aus dichter Vegetation ablöste, aus dessen Mitte sich ein einzelner, schlotartiger Berg erhob.
„Er ist nicht so hoch, wie ich dachte“, sagte Gillok, den Kopf in den Nacken gelegt. „Nur steil. Zum Glück müssen wir nicht dort hinauf.“ Mit dem Daumen wies er auf die Nachbarinsel, die aus den Wellen ragte wie ein verfaulter Zahn. Eine Zusammenballung von Klippen, die senkrecht aus dem Meer sprossen, die bizarren Spitzen von Rauch umhüllt.
„Aé.“ Syriakin lag bäuchlings auf der Bugspitze des kleinen Einmasters, spähte abwechselnd auf die Insellandschaft und das Wasser unter ihnen.
„Es stinkt auch nicht so schlimm, wie ich erwartet hätte“, bemerkte er.
„Das Wasser ist sauber. Keine toten Fische.“ Syriakin schob sich vom Bootsrand weg und richtete sich auf, die Bewegungen der Wellen ausbalancierend.
„Aber Ylaiy warnte uns vor giftigen Schwefelschlünden im Meer.“
„Zumindest damit hatte er unrecht. Alles andere ...“ Kopfschüttelnd brach sie ab.
„Beängstigend, nicht wahr? Er ist nie hier gewesen, doch seine Voraussagen stimmen bis ins Detail. Rauch. Krater. Vulkanbogen. Die Kraterformen. Sogar die Farben und Gesteine. Bimsstein, Basalt, Obsidian.“
„Er behauptet, das Meiste wüsste er aus Schriften und Büchern“, sagte Syriakin. „Aber die Inselgruppe dürfte ziemlich unbekannt sein, selbst unter unseren Leuten.“
„Er wird Reiseberichte von anderen Vulkaninseln kennen. Den Rest hat er sich zusammengereimt. Er ist ein Schlaukopf, gib es zu.“
„Er hat nicht herausgefunden, wo genau die Quelle liegt.“
„Ich bin erstaunt, dass sein Kopf noch nicht geplatzt ist, dass er überhaupt funktioniert, bei all den Katastrophen seit dem Thronraub. Der Mann ist aus hartem Holz geschnitzt.“
„Trotzdem bringt es uns nicht weiter. Wo fangen wir an zu suchen?“
„Am Strand. Wir halten Ausschau nach einem Lagerplatz, schlafen eine Nacht. Morgen erkunden wir die Insel, schmieden einen Plan.“
„Warum nicht gleich? Es ist noch früh.“
„Du willst losgehen, bei hereinbrechender Dunkelheit die Quelle aufspüren, sie zuschütten, einfach so?“ Gillok schnipste mit den Fingern.
Syriakin zuckte mit den Schultern.
„Wir sind nur zu zweit, haben keine Vorräte und seit Tagen kaum geschlafen. Wir müssen trinken, essen, Kräfte sammeln. Überlegen.“ Das letzte Wort betonte er.
„Was ist, wenn Elphen schon da ist?“
„Eben deshalb dürfen wir nichts überstürzen. Außerdem wissen wir immer noch nicht, wie wir die Quelle verschließen können.“
„Nehegelen sagte, sie befände sich in den Tiefen des Meeres.“ Sie kniff die Augen zusammen und suchte die Insel ab, dieweil er mit einer Hand an der Ruderstange das Boot ruhig hielt.
„Auf dem Meeresboden, ja. Unter einem erloschenen Vulkan.“
„Die Insel raucht noch.“
„Aber nicht der Berg. Der Qualm kommt aus anderen Rissen und Schlünden, wie auf Drahórsul. Ziemlich wahrscheinlich liegt die Quelle demnach im Inneren des Kraters. Im Wasser.“
„Glaubst du Nehegelen? Alle anderen Quellen waren an Land.“
„Ylaiy glaubt ihm, weil der Vulkanismus ständig die Oberfläche der Insel verändert, selbst für die Magie zu gefährlich sein mag.“
„Also suchen wir den Meeresboden unter dem Berg ab?“
„Wir sollten Ciycain erst die Möglichkeit geben, dich aufzuspüren. Außerdem ist sie die weitaus beste Taucherin von uns dreien.“
Syriakin fuhr herum. „Ich will nicht, dass sie in Elphens Nähe gelangt! Es ist schon schlimm genug, dass sie so nah an die Quelle kommt.“
„Wir brauchen ihre Magie!“
„Nein!“
„Hör schon auf! Das war der Plan! Ciycain ist stark, stärker als Kian oder Yvain. Das weißt du!“ Aufgebracht funkelte er sie an, widerstand ihren zornigen Blicken, fluchte laut, als sie unvermutet kopfüber ins Wasser sprang.
Sekunden saß er unentschlossen im schaukelnden Boot, trommelte auf die Pinne. Dann hechtete er ihr hinterher.
Sie kraulte mit wütenden Bewegungen, holte kaum Luft. Er jagte hinter ihr her, schleuderte seine langen Arme wie Mühlenflügel. Kurz bevor er sie einholte, tauchte er, stieß unter ihr hindurch, umschlang sie mit einem Arm, fing sich eine Kopfnuss und mehrere Schläge ein. Er reagierte ebenso wenig zimperlich, drückte ihren Kopf unter Wasser, zog sie mit sich. Am Ufer zerrte er sie den Strand hinauf, trat gegen ihre Beine, warf sich auf sie, machte sich schwer, presste einen Unterarm in ihren Nacken.
Unter seinem Gewicht erlahmten ihre Ausfälle bald. Er rollte von ihr herunter, setzte sich auf und beobachtete die Schaluppe, die dreihundert Meter entfernt führerlos in den Wellen schaukelte. Syriakin lag mit abgewandtem Gesicht neben ihm.
„Das Boot treibt ab“, sagte er.
Sie antwortete nicht.
„Versprich mir, dass du noch da bist, wenn ich zurückkomme. Keine Alleingänge. Wenn ich dich das nächste Mal einhole, kommst du nicht so glimpflich davon, das schwöre ich.“ Da sie nicht reagierte, stupste er sie unsanft in den Rücken. „Syra! Versprich es! Warte auf mich. Von mir aus erkunde den Küstenabschnitt, aber bleib in der Nähe. Wir rasten, überlegen, warten auf Verstärkung.“
„Du weißt doch gar nicht, ob sie uns findet.“
„Gedulde dich. Beruhige dich.“
„Nicht, so lange er irgendwo dort draußen ist und ihr auflauert.“
„Vertrau Ciycain. Sie riecht die Gefahr, geht ihm aus dem Weg. Morgen suchen wir die Quelle, wägen ab, was zu tun ist, warten auf Ciycain. Sie findet dich. Ihr beide findet euch immer.“
Endlich setzte sie sich auf und starrte auf das Meer. „Ich will nicht, dass sie durchmacht, was die Jungen durchmachen.“
„Das Überleben hat einen Preis. Ohne Ciycain können wir die Quelle nicht verschließen. Und das müssen wir. Also warte. Harre aus.“
Sie atmete tief ein. Dann nickte sie.
Nachdem er das Boot verzurrt und ihre Habseligkeiten in den Sand geworfen hatte, entdeckte er sie über sich am Rand des Bergwäldchens. In Unterhemd und Lederhose kroch sie durch das lichte Unterholz, ungeachtet der Blätter und Zweige, die sich in ihrem Haar verfingen.
Er breitete die Fischermäntel am Fuße der Düne aus, suchte ihre nassen Hemden und Stiefel zusammen, schüttelte alles aus und legte es in die Sonne zum Trocknen. Die Sachen aus dem Boot schichtete er ordentlich daneben. Dann zog er die eigenen Kleidungsstücke und Schuhe aus, bevor er erneut ins Wasser sprang. Diesmal tauchte er, stöberte nach Muschelbänken und Krabben, fand essbare Algen.
Als er zum zweiten Mal ins Lager zurückkehrte, stand die Sonne tief am Horizont und Syra war damit beschäftigt, Reisig und Dünengras aufzuschichten. Gerade eben brach sie einen Ast über ihrem Knie in zwei Hälften und steckte sie in den Sand. Er spießte die Krabben auf und legte die Muscheln auf den flachen Stein, den sie am Ufer gefunden hatte.
Das Feuer zu entzünden dauerte länger als gewöhnlich. „Wir sind außer Übung“, stellte Gillok fest, als sie mehr Reisig auf die kleine Flamme häuften. „Ich habe mir Blasen gerieben.“
„Kein Feuerstahl, kein Zunder.“
„Adivs Leseglas wäre auch von Nutzen gewesen.“
Stirnrunzelnd blickte Syriakin zum Himmel. „Nicht mehr hell genug.“
Gillok schob den flachen Stein in die Flammen, richtete die Spieße aus. „Wenn ich sage, dass wir für dieses Unternehmen armselig ausgestattet sind, untertreibe ich noch. Wir haben keine Vorräte, kein Wasser, keine Verbände, keine Medizin, keine vernünftigen Waffen. Nicht einmal einen Feuerstein.“
„Das Feuer brennt, dein Essen wird uns sättigen. Wir haben Kleidung, die wir zerreißen können, Mäntel als Decken. Wir können das Boot auseinandernehmen und die Nägel und Splinte als Waffen benutzen. Äste, Bootsplanken. Was wir so finden.“
„Wenn du jetzt noch mit den Schultern zuckst, garantiere ich für nichts.“
Sie sah hoch, fand in seinen Zügen keinen Anflug von Humor. „Wir sind nicht wehrlos“, sagte sie. „So schlimm ist es nicht.“
Er wollte etwas Scharfes erwidern, beherrschte sich jedoch. „Verzeih mir. Das meinte ich nicht so. Auch vorhin. Ich wollte dir nicht wehtun.“
„Schon gut. Ich weiß, dass das nicht du bist.“
„Wer dann?“
„Sorge, Angst, Erschöpfung.“
„Spürst du das nicht?“
Sie streckte die Beine aus, stützte sich auf ihre Ellenbogen, starrte auf das Wasser. „Doch.“
Er ließ sich lang nach hinten fallen. „Gut.“
„Was soll daran gut sein?“
„Es macht dich zu einem halbwegs normalen Menschen.“
Der Anflug eines Lächelns blitzte in ihrem Gesicht auf, bevor es wieder ernst wurde. „Am schlimmsten ist die Hoffnungslosigkeit“, gestand sie. „Sie schleicht sich ein, setzt sich fest. Es ist schwer, sie aus dem Kopf zu kriegen.“
Er erstarrte. „Du denkst, wir schaffen es nicht.“
„Manchmal. In letzter Zeit öfter. Nach Arlen besonders.“
„Ja“, stieß er aus.
„Gegen Elphen, Vei, die Majestes, selbst gegen den Blaukopf und seine Geschöpfe konnte man kämpfen. Man konnte sie anfassen, verstehst du? Aber Magie ... Wie bekämpft man die?“
„Mit Willenskraft“, antwortete er nach kurzem Nachdenken. „Ciycain hat eine Menge davon. Sie ist deine Tochter. Ein Mädchen. Sie kann widerstehen.“
„Nicht auf ewig.“
„Ist es das, wovor du am meisten Angst hast?“
„Du nicht? Was macht die Magie mit ihr? Wird sie ein Krüppel? Geistesgestört? Böse? Was dann? Müssen wir sie aufhalten?“ Mit einem Stöhnen ließ sie sich auf den Rücken fallen und presste die Handballen vor ihre Stirn.
Er robbte zu ihr hinüber, beugte sich über sie und nahm die Hände von ihrem Gesicht. „Hör mir zu!“, befahl er ihr. „Ciycain wird nicht verderben! Wir werden diese Quelle finden und sie schließen, bevor es dazu kommt. Wir beseitigen Elphen. Hast du verstanden?“
Er schüttelte sie, bis sie ihm in die Augen sah. „Ja.“
„Lass uns essen, Wasser suchen, schlafen. Morgen durchkämmen wir die Gegend.“
„Die Wälder sind steil, bedecken den Krater. In ihm liegt die Quelle. In den Tiefen des Meeres, geschützt durch die Kraterwände. Ich bin überzeugt, dass man von außen nicht an sie herankommt. Das wäre zu einfach.“
„Du willst doch nicht in einen Vulkan springen?“ Entsetzt sah Gillok sie an.
„Ich will in einen erloschenen Vulkan klettern. Vielleicht können wir ein Seil flechten.“
„Und dann bis auf den Grund des Ozeans tauchen“, stellte Gillok fassungslos fest.
„Hast du einen besseren Vorschlag?“
„Nein. Nicht, bevor ich den Krater aus der Nähe gesehen habe. Von Land und vom Wasser aus.“
„Der Weg zur Quelle führt durch ihn. Nur so passt alles zusammen.“
Gillok richtete sich kopfschüttelnd auf, suchte nach Worten. Schließlich reichte er ihr eine gebratene Krabbe. „Iss.“
Obwohl übermüdet, fand er keinen Schlaf. Syra schien es ähnlich zu gehen, denn er hörte, wie sie sich hin und wieder leise bewegte. Irgendwann kroch er an ihre Seite, schmiegte sich an sie, zog einen Fischermantel über sie beide.
„Du bist verrückt“, murmelte er.
„Es gibt keinen anderen Weg“, gab sie zurück und strich über seine Wange. „Vielleicht muss man verrückt sein, um ihn zu gehen. Weil das Ganze wider die Vernunft ist.“
„Ich hasse das.“
„Ich weiß. So bist du eben. Schlaf jetzt.“ Sie küsste ihn, bettete ihren Kopf an seinen Hals. Er konnte fühlen, wie sie sich entspannte und ihr Atem allmählich tiefer wurde, schloss die Augen und dämmerte ein.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war sie verschwunden.
Syriakin betrachtete den See unter sich. Meerwasser hatte den Schlot ausgehöhlt und ihn gefüllt. Zu ihren Füßen fielen steil und glatt die Kraterwände hinab - blanker Fels, durchsetzt mit Geröllbahnen. Sie würde nirgends Halt finden, außer an den armdicken Kletterpflanzen, welche über die Ränder des Kraters hingen, jedoch weit über dem Kratersee endeten.
Sie gestattete sich, einen Augenblick lang die unberührte Schönheit zu bewundern, die dieser Ort ausstrahlte. Bergwälder mit dichter Vegetation zogen sich um die äußeren Wälle des Kraters. Über ihr trieben weiße Wolken über einen tiefblauen Himmel und eine salzig riechende Brise kühlte ihre Haut. Der See schimmerte türkisfarben. Die Sonne ließ ihn intensiv leuchten. Um ihn verlief ein schmales, ringförmiges Plateau aus Geröll und Vulkanasche. Angesichts der Naturschönheiten vergaß man völlig, dass unter dem Türkis des Sees ein geöffnetes Maul lauerte, schwarz und hungrig. Der Durchgang zur Quelle. Die Bresche. Der Einlass.
Sie schloss die Augen, dachte an den endlosen Abstieg in die Unterwelt Drahórsuls, daran, dass das Eis sich aufgetan und sie alle verschluckt hatte. An den Fall durch die Gletscherspalte. An die Boragha mit ihren schmalen, schlecht belüfteten Gängen, an die Kerkerzelle in Perth. Sie bemerkte, dass ihr Herz gegen ihre Rippen hämmerte, ihre Hände schwitzten und ihr Magen sich umdrehte bei dem Gedanken an Finsternis und Enge. Kein Zweifel: Sie hatte Angst, Angst, so bodenlos wie der Abgrund vor ihr. Sie merkte, dass ihre Beine zitterten, nicht von der Anstrengung des Aufstiegs, sondern weil sie Furcht verspürte. Darüber musste sie lachen. Ein Auflachen, das von den blanken Wänden widerhallte und sie sofort wieder verstummen ließ.
Ich bin verrückt, sprach sie stumm mit sich selbst. Aber man musste verrückt sein, um das hier zu tun.
Ein letztes Mal, beschwor sie sich und holte tief Luft.
Im gleichen Augenblick nahm sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Noch bevor sie herumfahren konnte, schnürten Arme sie von hinten ein. Reflexartig ließ sie sich fallen. Mit Hüften und Gesäß stieß sie in Elphens Unterleib, fasste mit der linken Hand sein rechtes Handgelenk und zog ihn zur Seite. Gleichzeitig drosch sie ihren Ellenbogen in seinen Magen, rammte ihre Faust in seinen Schritt. Kein Vergleich zu einem Tritt, dennoch keuchte Elphen auf. Sein Griff lockerte sich für weniger als den Bruchteil einer Sekunde. Sie nutzte ihn, um sich nach vorn zu werfen.
Der klassische Konter, hundertfach geübt, hätte seine Wirkung bei den meisten Männern nicht verfehlt. Doch Elphen kannte ihn, hatte ihn erwartet. Er ließ nicht los, hielt sie weiterhin umklammert, ging ihre Bewegung mit, stellte ihr ein Bein. Sie stürzte so hart auf Schultern und Brust, dass ihr ein Ächzen entwich. Er landete auf ihr. Das zusätzliche Gewicht presste ihr die eigenen Arme unter den Leib.
Er zerrte eine Hand unter ihr hervor, krallte sie in ihr Haar, riss ihren Kopf ruckartig in den Nacken und schmetterte ihn auf den Boden. Sie stöhnte auf.
Als er ihren Schopf erneut nach oben zog, sah sie rote Pfützen unter sich und schmeckte Blut. Ihr Gesicht fühlte sich taub an, die Schmerzen würden später kommen. Sie hielt dagegen, als er sie wieder hinunterdrücken wollte, keuchte gegen seine Kraft und sein Gewicht an.
„Das war kein Schrei“, flüsterte er. „Ich warte auf den Schrei.“
„Das war doch gar nichts“, wisperte sie mit blutigem Mund zurück. „Strengt Euch mehr an.“
„Mit Vergnügen. Es ergötzt mich, mit Euch zu ringen, fast so viel wie mit Tijua. Ihr habt sie mir genommen.“ Seine Stimme war rau geworden. Sie fühlte, wie sein Unterleib sich hart an ihr Gesäß presste.
Erinnerungen prasselten auf sie ein.
Kello.
Ihre Arme drückten gegen ihren Magen.
Seine Kumpane.
Blutgeschmack füllte ihren Mund aus.
Der Blaukopf.
Übelkeit wallte in ihr hoch. Sie würgte, schluckte, schnaubte roten Rotz aus, wollte das Blut ausspucken, doch Elphen hielt ihren Kopf in den Nacken gezogen.
Erstickte Geräusche drangen aus ihrer Kehle. Elphen ließ ihr Haar los und endlich bekam sie ihren Rachen frei. Blut, vermischt mit Krabbenresten und Algenbrei, stob stinkend auf den Boden.
Elphens Erregung erschlaffte. Mit angewidertem Gesicht griff er in ihren Kragen und zog sie von der Erde hoch. Kaum war sie auf allen vieren, wirbelte sie herum, verhakte ihre Beine in Elphens, riss ihn von den Füßen, trat nach ihm, rappelte sich auf.
Er kniete noch vor ihr und sie zögerte keinen Augenblick. Mit hemmungsloser Wucht hieb sie ihr Knie in seine Rippen und stieß ihn anschließend um. Grunzend wich er aus, rollte sich hin und her. Sie setzte ihm nach, traktierte ihn mit Fußrücken, Fersen, Stiefelspitzen, zielte tief, auf Leibesmitte und Schenkel, damit er ihre Beine nicht zu fassen bekam. Zorn loderte aus ihrem Antlitz, Abscheu troff aus ihren Zügen. Ihr Blick wurde wild, ihre Augen schwarz. Fort waren Furcht und Erinnerungsstarre, ausgespuckt mit Blut und Magensäure.
Wie ein Wurm wand sich Elphen auf der Erde, die Arme vor den Kopf, die Beine vor den Unterkörper gezogen. Er wehrte sich kaum, ließ ihren Ausbruch über sich ergehen wie einen Gewittersturm. Sie trat und trat, tanzte auf ihm herum, traf Rippen, Nieren, Rücken, Gesäß. Hieb zu, bis er sich nicht mehr regte. Bis sie nicht mehr konnte. Erst da ließ sie von ihm ab, beugte sich trocken schluchzend vornüber, stützte die Hände auf ihre Knie.
„Du wirst nie so gut wie ich.“ Elphen richtete sich auf, stockend, ächzend, sichtlich gezeichnet von ihren entfesselten Tritten. Er sprach ernst und ohne Häme, das Gesicht verkrampft. „Du lässt dich von Gefühlen leiten wie mein Bruder. Gefühle sind hinderlich. Bringt man euch das nicht als Erstes bei?“
Sie wischte sich den Mund ab. „Bringen wir es zu Ende.“
Elphens Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, als er ein dünnes Lächeln aufsetzte. Wie ein aus dem Grab Auferstandener hinkte er näher. Sie ging ihm entgegen, langsam und taxierend. Von einem Lidschlag zum nächsten stieß er sich ab, raste auf sie zu, senkte die Schulter und rammte in sie.
Mit einem Stöhnen fing sie ihn ab, stemmte sich gegen ihn, aber ihre Stiefelsohlen rutschten unbarmherzig rückwärts. Sie versuchte, auszuweichen, sich unter ihm wegzudrehen, kam gegen seine Kraft nicht an. Er drückte und drängte weiter, bohrte die Fingerspitzen in ihre Seiten, in ihren Rücken, schob und schubste.
Plötzlich war der Boden unter ihren Füßen weg.
Sie ruderte mit den Armen, bekam die Kante kurz zu fassen, glitt ab, geriet in eine Geröllbahn. Dann raste sie in den Krater, wie ein Kreisel um sich selbst drehend, Beine und Arme von sich gestreckt, bis ihre Finger eine der überhängenden Lianen erwischten. Die ruckartige Bremsbewegung schleuderte sie gegen einen Felsvorsprung und wieder zurück. Einen Augenblick später schlug sie auf das Wasser.
Es fühlte sich an, als wäre sie frontal gegen eine Felswand gerannt.
Gelähmt und benommen vor Schmerz trudelte sie durch das Wasser. Erst nach endlosen Sekunden gelang es ihr, die Augen zu öffnen. Sofort merkte sie, wie ihre Sicht sich änderte. Die Unterwasserwelt verlor ihre Farben, ebenso die Blutschnüre, die von ihren Abschürfungen aufstiegen. Die Konturen, anfangs verschwommen, gewannen zunehmend an Schärfe. Das Geräusch des über ihr ins Wasser prasselnden Gerölls, nach ihrem Eintauchen dumpf und kaum zu orten, wurde präziser, sodass sie den sinkenden Brocken ausweichen konnte.
Sobald sie ihre Orientierung wieder gewonnen hatte, trieb sie dicht am Kraterrand noch einmal zur Oberfläche, um Atemluft in ihren Körper zu pumpen, bevor sie nach unten stieß.
Bereits nach wenigen Metern reichte das Sonnenlicht nicht mehr aus. Es wurde dunkler und dunkler, als sie auf den Schlund zusteuerte. Ihr wurde beklommen zumute. Dennoch tauchte sie weiter, folgte dem sich verengenden Felsenschlauch, der die Schlotwände immer näher rücken ließ.
Und dann sah sie den Riss. Wie eine Schlange ringelte er sich über den Meeresboden. In dieser diffusen Welt leuchtete er unnatürlich rot, tauchte die Umgebung in blutiges Licht. Eine entzündete Narbe im Schwarz der Tiefe.
Sie stoppte. Unwillkürlich fuhren die Fingerspitzen ihrer rechten Hand zu ihrer Wange. Das Wundmal war kaum mehr als ein dünner Strich, nachdem Ardannas Heilkünste das Gift entfernt hatten, doch sie erinnerte sich an das heiße Pochen unter ihrer Haut. Der Riss pulsierte und pochte ebenfalls, aber er fühlte sich nicht fiebrigheiß an, sondern verströmte Eiseskälte.
Aus dem Riss erhob sich ein gewaltiger Strudel, eine Säule aus Wasser und frostiger Magie, die sich rasend schnell um ihre eigene Achse drehte. Eine Säule von tödlicher Kraft, beinahe unsichtbar in der flüssigen Dunkelheit. Nur die Kadaver und Gegenstände, die in ihr trieben, erhellt vom blutigen Leuchten des Risses, verliehen ihr Gestalt.
Syriakin betrachtete den auffallend leeren Boden rund um das Rissgeflecht. Alles, was sich in der Umgebung der Säule befunden hatte, war von ihr aufgesaugt worden: Muscheln, Sandaale, Korallen, Krebse und Spinnen genauso wie Seegras, Geröll, Steine und Sand.
Durchgänge, dachte sie. Es musste einen Durchlass geben. Breschen in den Kraterwänden, Löcher, Lücken. Meerestiere trieben in der Säule. Irgendwie mussten sie hierher gelangt sein.
Sie schwamm an eine der Schlotwände heran, spürte sprudelndes Wasser und Temperaturveränderungen. Strömungen, manche kalt, manche unangenehm heiß. Unberechenbare Wasserbewegungen. Sie hielten viele Lebewesen von den Öffnungen fern, erschwerten den Weg ins Innere des Vulkanschlots. Aber es gab Zugänge, gefahrvoll, doch überwindbar. Sie entdeckte, dass die Felswände nicht gänzlich unbesiedelt waren. Fächerkorallen und Anemonen bedeckten kleinere Areale, unterarmlange Geistermuränen nisteten in Nischen, belagert von Putzergarnelen.
Als sie an der Wand entlang schwamm, gähnte vor ihr plötzlich ein riesiges Loch. Wasser perlte und schäumte an seinen Rändern, wogte heraus und herein. Ein Zugang, breit genug für einen Bur-an-gnea mit ausgebreiteten Flügeln. Dennoch war das Innere des Schlotes ungewöhnlich sauber. Was sich zufällig hinein verirrt hatte, war von der Quelle verschluckt worden. Nicht nur Kleinzeug, erkannte sie. Auch Schnapper und Felsbrocken. Ein Thun. Eine Schildkröte. Falterfische, Riffhaie und Zackenbarsche.
Sie hielt möglichst weiten Abstand, spürte trotzdem, wie der Strudel an ihr zerrte, mehr als die Strömung in ihrer Nähe. Und dann war da noch das Gift. Das, was die Magie zur Droge machte. War es etwas Physisches, das sie bei einer Berührung verseuchen würde, oder etwas Subtileres, das in den Geist eindrang? Wurde das Gift im Wasser gelöst?
Sie horchte in ihren Körper. Fühlte er sich bereits anders an? Stiche oder Bisse würde es nicht geben. Die Quelle war kein Lebewesen. Sie hatte keinen Mund, keine Stacheln oder Tentakel. Trotzdem bewegte sie sich, tanzte über dem Riss, sprudelte aus der Tiefe empor, schwärmte durch das Wasser. Doch abgesehen von unendlichem Unbehagen spürte sie keine Anzeichen, die auf Gift hinwiesen. Keine Lähmungen, keine Atemnot, keine Halluzinationen. Über Spätfolgen konnte sie jetzt nicht nachdenken. Sie musste handeln. Die Quelle verschließen, versiegeln, vernichten. Nur wie? Gemeinhin vertraute sie auf ihre Instinkte und spontanen Einfälle in Gefahrensituationen, doch hier unten gab es wenig, was sie tun konnte. Etwas auf den Strudel zu stoßen, war die naheliegende Lösung, aber was? Und wie sollte sie es bewegen? Gegen den Wasserwiderstand zu werfen, war unmöglich. Sie musste es fallen lassen.
In selben Augenblick kam Elphen Chausselles aus der Schwärze auf sie zu. Ihre Instinkte schalteten schneller als ihr Gehirn und ließen sie nach unten stieben. Flucht statt Angriff. Eine Reaktion, die ihr nicht behagte, aber vielleicht ihr Leben rettete. Soweit sie wusste, war er nicht besser an das Wasser angepasst als andere Menschen, auch wenn er zweifellos über erstaunliche Kräfte, enormes Durchhaltevermögen und eine gehörige Portion Größenwahn verfügte.
Sie tauchte tiefer, auf den Riss zu, der mit jedem Meter größer und blutiger zu werden schien und dicke Blasen nach oben warf, die das Wasser zum Schäumen brachten und ihre Sicht trübten.
Bald schon spürte sie den Druck des Wassers. Sie wusste, dass sie nicht endlos weiter tauchen konnte. Auch sie war kein Fisch. Ihre Lungen würden zerdrückt wie die seinen, wenn sie zu tief nach unten stieß. Zudem fühlte sie, wie die Kraft des Strudels stärker an ihr zu zerren begann.
Sie entschloss sich zu einer Finte. Aus der Bewegung heraus schnellte sie plötzlich zur Seite und gleich darauf nach oben. In Sekunden war Chausselles unter ihr und gegen den Wasserwiderstand schoss sie auf ihn zu.
Er musste auf einen Angriff gelauert, sich auf die Bewegungen des Wassers und seine Kämpferinstinkte konzentriert haben. Blitzschnell hatte er sich auf den Rücken gedreht und erwartete sie mit ausgebreiteten Armen und Beinen, die sich über ihr schlossen wie die Kiefer eines Krokodils.
Eingeklemmt wie in einen von Jomas Schraubstöcken, konnte sie nicht viel mehr tun, als ihre Bauchmuskeln anzuspannen, um den Druck zu vermindern. Chausselles hatte die Arme um ihren Oberleib geschlungen und presste ihr die Luft schneller aus den Lungen, als Tiefendruck und Atemnot es vermocht hätten.
Sie stieß den Kopf nach vorn, erwischte ihn hart über der Nasenwurzel, hörte den Laut, mit dem die Nase brach, sah die Atemblasen, die aus seinem Mund entwichen. Er rutschte an ihr hinunter und löste die Beinschraube, hielt sie aber mit beiden Armen unvermindert auf Magenhöhe fest umklammert. Vergeblich tasteten ihre Hände an den Hosennähten entlang. Sie besaß keine Waffen mehr, abgesehen von spitzen Zweigen, die sie auf dem Weg zum Krater eingesammelt hatte, und einem abgewetzten Messer aus Etahpes Geheimvorrat. Doch selbst, wenn sie an ihre Taschen herankam, hinderte Chausselles‘ stählerner Griff sie daran, etwas herauszuziehen.
Sie musste in die Tiefe. Dort lag ihre einzige Chance. Viele Frâgg lebten an Ozeanen, Seen, Flüssen, Deltas, Sümpfen, Bächen und Tümpeln. Die meisten von ihnen verbrachten mehr Zeit im und unter Wasser als an Land. Speerfischer jagten minutenlang ihre Beute über den Meeresgrund oder trieben geduldig in der Strömung, während sie auf Schnapper warteten. Perlentaucher und Muschelsammler stießen, beschwert mit Steinen, an langen Leinen hinab in die Tiefe. Auch ihnen genügte ein einziger Atemzug, bevor sie tauchten. Die Jagd war gefährlich. Oft kam es zu Kämpfen, in denen die Fischer ihr Leben verloren. Sehr selten hingegen starb ein Frâgg, weil ihm die Luft ausging. Frâgg waren an das Wasser angepasst. Es war ihr Lebensraum.
Doch auch ihnen drohte der Tod. Denn mit der Tiefe stieg der Druck, presste Lungen, Ohren, Nase und Stirn zusammen. Insbesondere fürchteten Frâgg sich vor suahaveles. Der Rausch überfiel Menschen ohne Vorwarnung. Sie wusste von Tauchern, die plötzlich von unerklärlicher Angst gepeinigt wurden, einer Angst, die sie blind machte und unüberlegte Dinge tun ließ. Andere wiederum hatten körperlich völlig ermattet am Strand gelegen, sich kaum noch rühren können, aber wahnsinnige Euphorie hatte aus ihren Augen gestrahlt. Ihre eigene Mutter hatte suahaveles erlebt auf einem ihrer Raubzüge. In etwa dreißig Meter Tiefe hatte sie Metall auf der Zunge geschmeckt und ein lautes Lachen gehört, während ihr Puls in ihren Ohren polterte. Tagelang, erinnerte sich Syra, war sie kaum von ihrem Lager aufgestanden, hatte geschlafen und geschlafen.
Fraga-í waren nicht immun gegen die Gefahren der Tiefsee, aber sie hielten ihnen länger stand. Gillok, Nou und Ciycain gehörten zu den Sumpfmenschen, deren Körper sich im Laufe vieler Generationen verändert hatte. Sie hatten rudimentäre Kiemen ausgebildet, Schwimmhäute entwickelt, Augen und Ohren den Druckunterschieden angepasst. Sie selbst war nicht am Meer geboren, besaß weder Kiemen noch Schwimmhäute, doch auch sie war vorbereitet. Brustkorb, Zwerchfell und die Muskeln zwischen den Rippen waren elastischer als bei gewöhnlichen Menschen. Ihr Körper war darauf trainiert, Atemluft überall zu speichern. Auf diese Reservoire konnte sie zugreifen, bewusst und gezielt, und damit den erhöhten Druck ausgleichen.
Chausselles kam ebenfalls aus der Tiefe, aber diese war nicht flüssig. Elphen war ein Geschöpf der Erde. Seine Trommelfelle würden reißen, später seine Lungen. Es war anzunehmen, dass er nie gelernt hatte, den Luftdruck in allen Körperhöhlen anzugleichen. Wahrscheinlich waren die Lungen bereits so zusammengepresst, dass keine Luft mehr in ihnen war. Sie musste auf Zeit spielen, auch wenn sie ihr eigenes Leben dabei riskierte.
Dreißig Meter, schätzte sie und befahl ihren Gliedmaßen, noch schwerer zu werden. Wie ein Gewicht hing sie in seinen Armen und ließ sich weiter fallen.
Doch Elphen war kein Dummkopf. Sie spürte, wie er Widerstand leistete, sich gegen die Abwärtsbewegung stemmte. Schließlich öffnete er die Armklammer, presste jedoch sofort die Finger auf ihre Schultern, als wolle er sie wie einen Pflock in die Erde treiben. Die Fingerkuppen bohrten sich in das Muskelgewebe nahe ihres Halses. Sie fühlte, wie Tränen in ihre Augen stiegen und ihre Sicht verschleierten. Außerhalb des Wassers hätte sie nach Luft geschnappt, um die Qual auszuatmen, aber hier unten hätte dies ihren Tod bedeutet. Sie konnte nur versuchen, weiter zu fallen, doch das hatte Elphen einkalkuliert, denn er zog sie ruckartig nach oben und begann, ihre Wirbelsäule mit den Fingerspitzen zu traktieren.
Der Schultergriff hatte ihre Muskeln verhärten lassen, schränkte die Gelenkigkeit ihrer Arme ein. Für einige Sekunden gab es nicht viel, was sie gegen die Fingerbisse entlang des Rückgrats tun konnte. Zum Glück verhinderten ihr verbissenes Gestrampel und die Bewegung des Wassers, dass Elphen exakt zielen konnte. Dennoch schmerzten die Treffer. Sie merkte, wie sie versteifte, um die Stiche zu kontern. Das wiederum verursachte Schmerzen im Brustkorb. Die gespeicherte Atemluft drückte von innen gegen sie.
Ihren Rücken bearbeitend, schob er sie zentimeterweise nach oben. An den Lenden änderte er die Technik, krümmte die Hände zu Krallen, bevor er zustieß. Diesmal konnte sie ein Ausatmen nicht unterdrücken. Luftblasen sprudelten aus ihrer Nase. Gleich darauf spürte sie Seitenstechen wie nach einem langen, schnellen Lauf. Elphens Attacken brachten ihren Lufthaushalt durcheinander. Bis sie oben ankamen, war sie vermutlich steif von seinen Fingern und halb ertrunken. Er hätte leichtes Spiel.
Sie verstärkte ihre Abwehrbewegungen, schaffte es, auszuweichen, bevor er ihr Steißbein traf. Er rutschte ab, wischte über ihren Oberschenkel. Für einen winzigen Augenblick bekam sie die Beine frei, trat sofort nach seinem Kopf, strampelte, rollte sich zusammen und gleich darauf wieder auseinander, wollte fliehen.
Er fing sie ab, hielt plötzlich zwei Messer in den Händen. Ihre Messer, geraubt im heißen Sandmeer Berlens.
Shesh.
Die Klingen rammten in ihre Beine. Abwehrstöße, mehr nicht. Kaum zu spüren durch das Leder. Nicht halb so schlimm wie das Lodern in ihrem Rücken oder das Brennen in ihrem Brustkorb.
Sie brachte Abstand zwischen ihn und sich. Elphen folgte ihr, verbissen wie sie selbst. Ein dritter Messerstich traf ihren nackten Arm. Sie floh erneut, eine Blutspur nach sich ziehend, tauchte tiefer, registrierte beinahe überrascht, wie nah sie plötzlich dem Strudel waren.
Schmerz toste ihre Nervenbahnen entlang. Sie sträubte sich dagegen wie gegen einen weiteren Feind, biss sich auf die Lippen, bis der metallische Geschmack des Blutes ihre Sinne klärte. Dennoch geriet die Welt um sie ins Wanken. Und der Strudel kam näher.
Sie stoppte. Drehte sich um. Stob Elphen entgegen. Seine Messer - ihre Messer - stießen erneut zu, doch sie wich ihnen aus, schwamm um den schlanken Mann herum, wollte in seinen Rücken, ihn angreifen, ihn überwältigen. Im selben Moment, in dem er die Messer fallen ließ und mit beiden Händen in ihr Haar griff, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte, dass sie seine Willensstärke und Ausdauer unterschätzt hatte, seine Reaktionen, seine Finten, seine Entschlossenheit.
Augenblicklich warf sie sich von ihm weg, doch auch sie musste gegen den Widerstand des Wassers anschwimmen, und die meiste Luft in ihrem Körper war verbraucht. Elphens Faust erhaschte ihre Kehle, drückte zu. Ihre Schläge und Tritte ignorierte er. Sein Gesicht wirkte aufgedunsen und verzerrt und sie wusste, dass er kurz davor stand, ohnmächtig zu werden. Er wusste es ebenso, deshalb gab er es auf zu kämpfen, presste lediglich seine Hand um ihren Hals und schnürte ihn zu. Sinnlos eigentlich, da sie unter Wasser sowieso nicht einatmen konnte. Ein mentaler Trick, den sie zu spät als solchen erkannte. Sie trat und schlug nach allen Seiten, erwischte ihn ein dutzendmal, ohne dass er die Umklammerung löste.
Und dann ging alles ganz schnell. An Haaren und Kehle zog er sie zum Strudel und schleuderte sie herum. Plötzlich war sie frei und Elphen stob nach oben. Sie wollte ihm nach, kam jedoch nicht von der Stelle. Etwas hatte sie gepackt, etwas, das sehr viel stärker war als der letzte der Chausselles.
Eiskalte Angst setzte ihren Überlebensinstinkt frei. Mit kraftvollen Bewegungen stieß sie sich nach oben, kämpfte gegen den Widerstand des Wassers, schwamm gegen die Atemnot an und spürte doch, wie aussichtslos das Ganze war.
Unbeeindruckt saugte der Strudel sie ein.
Sie wusste nicht mehr, was oben und unten war, in welcher Richtung die Sonne lag, der Ausweg. Um sie herum sprudelte es. Blasenketten stiegen von allen Seiten nach oben. Ein Vorhang aus Wasser. Überall Wasser.
Hoch. Hoch. Sie musste hoch. Sie war kein Fisch. Gillok, Nou und Ciycain hatten Kiemen und die Sumpfleute vom Meer ebenso, aber sie, sie hatte keine. Sie konnte klettern, auf Bäume, Berge, Häuser, Mauern. Sie war nicht im Meer geboren, sondern im Geäst. Oben. Hoch. In der Luft. Hoch. Sie musste hoch. Luft atmen. Luft trinken. Hoch. An die Luft. An die Sonne. Ins Helle.
Ihre Ohren schmerzten. Eine faserige Erinnerung schwebte heran. Drahórsul. Die Entzündung. Wie damals presste sie die Hände an ihren Kopf. Es half nichts. Ihre Trommelfelle spannten. Es fühlte sich an, als stecke ihr Schädel in einer Zwinge, deren Schrauben immer weiter zusammen gezogen wurden. Wie vor drei Jahren im Schnee drangen Töne kaum noch zu ihr. Alle Geräusche, die sie hörte, kamen aus ihrem Inneren. Ihr Herzschlag. Das Knirschen ihrer Lungen. Atemluft, die in ihrer Kehle rasselte. Ein Knall, als ihre Trommelfelle rissen.
Atmen. Sie musste atmen. Ihre Bronchien verkrampften sich. Der Drang, nach Luft zu schnappen, wurde übermächtig. Sie wehrte sich dagegen, bis ihr Sichtfeld zu flimmern begann und ihr Kopf zu platzen drohte. Dann reagierte ihr Körper und bezwang ihren Willen. Sie öffnete den Mund und atmete ein. Salzwasser schoss die Luftröhre hinab. Sofort überfiel sie krampfartiger Husten. Ihre Kehle verschloss sich und Schaum bildete sich in ihren Lungen. In ihren Ohren raste das Blut, der Druck in ihrem Kopf wurde unerträglich. Stakkatoartiges Rumpeln hüllte sie ein. Sie überließ sich der Umarmung des Wassers. Sie ertrank. Hier unten. Allein in der Dunkelheit.
Nein.
Nicht im Dunkeln. Sie wollte Licht. Wenigstens das. In ihrem letzten bewussten Akt öffnete sie die Augen. Bevor sie die Besinnung verlor, sah sie die Gestalten, die von allen Seiten auf sie zuschossen. Sie begriff nicht mehr, wer oder was sie waren. Die Schwärze löschte alles Denken aus.
Ardanna schloss die Augen und sprach ein stummes Gebet. Syriakins Silhouette brannte auf ihrer Netzhaut. Es lag in der Natur der Kriegerin, den schwierigeren Weg zu nehmen, den verschlungenen, überwucherten. Sie nahm es mit den Göttern auf, wenn es sein musste. Aber nun hatte Elphen sie gestoßen und war ihr hinterher geklettert.
„Mutter! Schau!“
Sphitas Aufschrei schreckte sie auf. Auf dem Rand des Kraters war eine kleinere Gestalt erschienen, wie Syriakin und Elphen von hier unten kaum zu erkennen, selbst wenn sie eine Hand abschirmend vor ihre Stirn legte.
Sphitas Augen sahen besser als die ihren. „Ciycain.“
Die Walruferin. Entschlossen wie ihre Mutter und ebenso starrsinnig.
„Was hat sie vor?“, flüsterte Sphita.
Stumm beobachteten sie, wie weitere Menschen aus den Bergwäldern auftauchten und sich auf dem Schlotrand aufreihten. Wenn man wusste, dass Ciycain dort stand, war es ein Leichtes, Gilloks breiten Körper und Kanouepes zierlicheres Profil auszumachen.
„Sie sind da.“ Sphita schluchzte fast.
Immer mehr Menschen strömten aus den Baumreihen, stellten sich um den Schlund wie Schösslinge.
Sumpfmenschen. Frâgg. Fraga-í. Altes Volk. Nachfahren der nad Tala. Ausgerottet, tot geglaubt. Doch ein Kind führte sie an. Ardanna versuchte, sich vorzustellen, wie die Walruferin sie an die Südküste geführt hatte, wie Männer und Frauen die Sümpfe und Wälder durchstreiften, dem Südgestade zu. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie sie ins Wasser stiegen, in die Brandung tauchten und sich auf den Weg über das Meer machten, diesem unbewohnten Eiland mit dem unaussprechlichen Namen entgegen. Schwimmend, auf Schilfbündeln, Einbäumen und Booten. Die schnelleren von ihnen mussten in ihrer Nähe gewesen sein, als Chries durch den Archipel steuerte, die Insel kurz vor ihnen betreten haben. Sie stellte sich vor, wie Ciycain vorweg geklettert war und die Menschen ihr folgten, wie sie auf Gillok getroffen war auf ihrem Weg nach oben.
Mit angehaltenem Atem beobachteten Ardanna und Sphita, wie Ciycain sich als Erste vom Rand abstieß, die Arme über den Kopf gereckt, der Körper bis in die letzte Sehne gespannt. Sekunden später fielen die Frâgg wie ein Schauer in die Fluten.
Sphita sah ihre Mutter an. „Retten sie sie?“
Ardanna zwang sich zu Zuversicht. „Bestimmt.“
„Und zerstören die Quelle?“
„Das ist der Plan.“
„Wie verschließt man eine Quelle im Meer? Wenn nicht einmal das Wasser die Magie aufhält? Wollen sie den Rest des Vulkans einstürzen lassen? Arlen ist dabei gestorben.“
Ardanna erwiderte den verzweifelten Blick ihrer Tochter mit einem traurigen Lächeln. „Lass uns hoffen, dass Ciycain etwas einfällt.“
„Mehr nicht?“
„Wir können ihnen dort unten nicht helfen. Aber wir werden hier sein, wenn sie unsere Hilfe benötigen. Los! Geh Chries hinterher! Wir müssen ein Lager errichten. Ein Spital. Beeilen wir uns!“
„Dann rechnest du mit Überlebenden?“
Mit einem Male klang Sphita so verzagt, dass Ardanna sie in ihre Arme nahm. „Ich vertraue auf Syras Entschlossenheit, Gilloks Erfindungsreichtum und Ciycains außergewöhnliche Kräfte. Auf ihr Volk und auf das Glück.“
Sphita schmiegte sich an ihre Mutter. „Wenn sie die Quelle schließen, beraubt sich Ciycain all ihrer Kraft. Sie wird nie wieder zaubern können.“
„Deswegen ist sie nicht weniger besonders.“
Haie! Ein ganzer Schwarm von ihnen.
Kalter Schrecken wallte in ihm hoch, dann begriff er, dass er sich getäuscht hatte. Sie bewegten sich anders, hatten keine Flossen. Er hatte die Kriegerin für schnell gehalten unter Wasser, ihre Tauchkünste und Ausdauer bewundert, aber der Schwarm, der lautlos und anmutig in seine Richtung trieb, stellte ihr Können weit in den Schatten. Sie schwammen wie Fische, die Arme vor den Kopf gestreckt, die Körper bis in die Fußspitzen angespannt, mit den Beinen den Flossenschlag der Tümmler nachahmend, die er auf der Reise gesichtet hatte. Fasziniert beobachtete er, wie sie sich näherten, sich aufteilten, ihn einkreisten.
Ihre Augen waren wie die der Kriegerin: hellgrau, milchig bei einigen. Er hatte gehört, dass sie angepasst waren an das Leben im Meer, hatte die Schwimmhäute ihres Gefährten gesehen, sah jetzt die aufgeblähten Brustkörbe der Männer und Frauen. Atemluft. Luft, die er nicht mehr hatte. Er fühlte die Schwäche, die mit dem Sauerstoffmangel einherging, die stechenden Schmerzen. Das Gefühl für die Zeit hatte er bereits während des Kampfes mit Syriakin verloren, aber er wusste, dass er schon zu lang unter Wasser war. Viel zu lang für einen Menschen, der das Tauchen nicht gewohnt war. Er wusste, dass sie gekommen waren, ihn zu töten, sah Gillok und Nou inmitten des Schwarmes, sah die Armbewegungen, mit denen sie ihren Stammesgeschwistern Befehle erteilten. Er sah das Mädchen.
Ciycain.
Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie sah wunderschön aus. Schwarzhaarig, ungebändigt, mit ausdrucksvollen Augen, die auch unter Wasser strahlten. Ogala’ban. Ein Götterkind. So nah.
So nah.
Mit letzter Kraft schwamm er auf sie zu, lächelnd, betört von ihrer Macht. Sie war hier, dicht an der Quelle, und die Magie strömte durch jede Pore ihres Körpers, erleuchtete sie von innen. Inmitten der grauen, verwaschenen Schemen funkelte sie hell wie ein Stern.
Ihr Blick erfasste ihn und Wärme floss durch seine Adern. Neue Kraft. Er drängte auf sie zu, streckte einen Arm nach ihr aus. Gillok schob sich vor sie, verdeckte sie. Kälte sackte in sein Herz, machte seine Glieder gefühllos.
„Nein!“ Er schrie gegen das Wasser an, das jeden Laut erstickte.
Dann musterte Gillok ihn mit einem letzten Blick, hob den Arm und ließ ihn wieder fallen. In Sekundenschnelle schloss der Schwarm sich um ihn. Leiber schnürten ihn ein. Hände rissen seinen Mund auf. Er fühlte, wie Sumpflinge sich wie Gewichte an ihn hängten, ihn mit sich nahmen in die Tiefen. Nicht zur Quelle, nur in die ewige Dunkelheit.
Ciycain entdeckte sie zuerst, wies mit ausgestrecktem Arm auf die Wassersäule. Entsetzt starrten Nou und Gillok auf das strudelnde Wasser und auf den Riss, aus dem es schwach leuchtete.
Die Quelle. Gefährlich, toxisch, tödlich. Dennoch schossen sie ohne zu zögern auf den Strudel zu, auf Syra, die in ihm trieb, hin- und hergeworfen von den gewaltigen Kräften, wirbelnd in seinem Sog.
Gillok erreichte ihn als Erster, tauchte ins Innere der Säule und bemerkte sofort, wie sie nach ihm griff und die Luft aus seinem Körper presste. Der Druck war immens, stark wie in den Meeresgräben, welche selbst die Fraga-í mieden.
Nach einem Moment der Orientierungslosigkeit entdeckte er Syra über sich. Sein Herzschlag setzte aus, als er sie sah. Zuweilen gab die See die Menschen wieder frei, die sie geschluckt hatte. Strömung und Winde trieben sie an die Strände. Er hatte genug Ertrunkene gesehen.
Syras Leib war nicht aufgedunsen, noch nicht. Sie konnte nicht länger als eine Minute tot sein. Er fasste nach ihr, zog sie an sich, hielt sie fest. Ihre Haut, unter Wasser immer einige Spuren heller als an Land, glänzte wie der Bauch eines Fisches. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Gesichtszüge entspannt. Ihr Todeskampf musste fürchterlich gewesen sein, aber sie sah friedlich aus, wie sie in seinen Armen trieb. Er spürte keinen Herzschlag, keinen Puls, nichts.
Mit leerem Kopf blickte er durch den Vorhang aus magisch geladenem Wasser auf seine Tochter. Sah in ihr Gesicht, in dem Schrecken und Entsetzen standen, sah Nou, der um die Säule schwamm, auf der Suche nach einem Ausweg. Nur, dass es keinen gab. Selbst, wenn es ihm gelingen würde, den Sog zu durchstoßen, blieb die Frau in seinen Armen tot.
Für Sekunden pendelte Gillok im sprudelnden Wasser, unfähig, irgendetwas zu tun oder zu denken.
Nou holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er paddelte vor der Säule im Wasser und fuchtelte mit den Armen. Gillok runzelte die Stirn. Durch den Wasservorhang glaubte er zu sehen, wie Nou den Mund spitzte und Blasen ausstieß.
Plötzlich begriff er. Er riss Syra an sich und presste seine Lippen auf die ihren. Dann blies er. Zuerst kleine, zaghafte Atemstöße, die sofort wieder aus ihrer Nase perlten. Er drückte ihre Nasenflügel zusammen und blies abermals. Tiefer diesmal und so oft, dass ihm selbst schwarz vor Augen wurde. Während er Atemluft in Syras Körper pumpte, nahm er die Umgebung überdeutlich wahr: Nous und Ciycains Schemen, die gestikulierend um den Strudel schwammen, die Fraga-í, die an ihrer Seite auftauchten. Er registrierte das Gemisch aus Wasser und Magie in der Säule. Es war kalt, viel kälter als das Meerwasser um sie herum.
Sein Verstand setzte ein, eisig wie das Wasser und überraschend scharf. Kälte. Sie lähmte. Verlangsamte. Nicht nur Bewegungen, sondern auch Herzschlag und Atmung. Die Chancen gingen gegen Null. Doch er musste es versuchen. Sie war zäher als alle Menschen, die er kannte.
Davanas, Syra.
Noch während er blies, fühlte er, wie etwas mit ihr passierte. Ihr Körper schien leichter zu werden. Er füllte sich mit Luft, mit seiner Luft. Er wusste nicht, ob verbrauchte Luft, Luft, die durch Kiemen und Lungen gleichermaßen gewandert und gefiltert worden war, ihr helfen würde, aber ihr Körper reagierte. Er verlor seine Schwere, nahm Spannung an.
Er hörte auf zu pusten, als heftige Krämpfe ihren Leib erfassten, beobachtete sie mit einer Mischung aus Sorge und Hoffnung. Ihre Augen blieben geschlossen; sie zeigte keinerlei Anzeichen des Erwachens. Nur ihr Körper erzitterte. Gillok wusste, dass Tiere auch nach dem Ausweiden manchmal noch zuckten, tote Fische wieder aus den Netzen springen konnten. Er wusste, dass Körper sich noch bewegen konnten, selbst wenn der Tod längst eingetreten war, aber er hörte nicht auf zu hoffen.
Unterdessen hatten die Sumpfleute sich vor der Säule versammelt. Gillok sah Kanouepe, der sich aus der Masse an Leibern heraus schälte und auf sie zu schwamm.
Aussichtslos, dachte Gillok, wartete dennoch voller Spannung. Gleich darauf schoben sich Nous Schopf und seine Arme durch die Wand und griffen nach ihm und Syra. Gillok schüttelte den Kopf, doch in Nous Augen stand verkniffene Entschlossenheit. Er zog Syra zu sich, und Gillok blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Der Strudel wehrte ihn ab, wollte seine Gefangenen nicht hergeben. Es war, als würde er gegen eine Mauer stoßen. Sie wirkte weich, war gleichzeitig massiv wie Stein. Nou schwamm halb in der Säulenwand, an den Beinen gehalten von mehreren Fraga-í, diese wiederum gepackt von Reihen weiterer Sumpfleute.
Und dann sah er Ciycain. Sie trieb aufrecht, beide Arme erhoben. Sie war im Wasser, doch das Wasser erreichte sie nicht. Es war vor ihr zurückgewichen, so als würde eine unsichtbare zweite Haut auf ihr liegen. Langsam schwamm sie auf die Säule zu. Die Fraga-í machten ihr Platz, gerade so viel, dass sie den Rand des Strudels erreichen konnte.
Das Unfassbare geschah. An der Stelle, an der Ciycain die Magiesäule berührte, teilte sich das Wasser und die Quelle spuckte ihn, Nou und Syra geradezu aus. Ciycain stieß ihnen nach, streckte die Hände nach ihrer Mutter aus und streichelte deren Wangen. Gillok sah, wie die Finger seiner Tochter Syras Hals entlangglitten, die große Ader abtasteten, einen winzigen Puls auf die Reise schickten. Er sah, wie sie sich auf Syras Brustkorb legten und das Herz suchten. Als sie zudrückten, kräuselten kleine Wellen um die Kriegerin.
Entgeistert beobachtete er, wie Ciycain die Lippen bewegte. Das Wasser verschluckte ihre Worte, aber er las sie so deutlich, als spräche sie direkt in sein Ohr.
Rette sie. Schnell.
Er schoss los. Syra war ohne jeden Zweifel ertrunken, doch ihre Tochter hatte einen winzigen Rest Magie in ihr gespürt, einen letzten Funken Hoffnung. Magie war pure Energie. Vielleicht reichte ihre Kraft, ein Lebensfeuer wieder zu entzünden.
Er tauchte auf, so schnell es seine aufgezehrten Reserven noch zuließen, die Augen abwechselnd auf Syriakin und den hellen Fleck Himmel gerichtet, der viel zu langsam näher kam. Sumpfleute begleiteten sie, stießen ihn an. Einzelne schwammen an Syra heran und pumpten ihr Luft in den Mund. Gillok spürte, wie ihr Körper auf jeden Atemstoß mit Krämpfen reagierte, ihr Brustkorb sich kurz vor der Oberfläche seit Minuten zum ersten Mal zitternd wieder hob.
Die Schwere der Luft senkte sich auf ihn, sobald sie die Wasseroberfläche durchstießen. Wie immer brauchte er einige Sekunden, um sich an das mühevollere Atmen zu gewöhnen, und an die Bewegungen, die sich an Land stets behäbiger anfühlten.
Neben ihm tauchte ein Dutzend dunkler Schöpfe auf. Allein wäre es kein leichtes Unterfangen gewesen, eine bewusstlose Frau ans Ufer zu hieven. Mit der Hilfe des Stammes geschah es im Handumdrehen. Unzählige Hände stützten sie von unten, hoben sie auf den steinigen Untergrund des schmalen Plateaus.
Gillok schwang sich aus dem Wasser, noch bevor Syriakin vollends geborgen war, und zog sie ins Trockene. „Geht!“, sagte er zu den Fraga-í, ohne den Blick von seiner Gefährtin zu wenden, und die Männer und Frauen verschwanden wieder im Wasser. Nur Nou schaukelte noch an der Oberfläche.
„Geh“, befahl Gillok auch ihm, den Kopf auf Syras Leib gepresst. „Hilf Ciycain. Hier kannst du nichts mehr tun.“
Nou nickte nur.
Gillok sah ihm nicht hinterher. Er hatte die Hände auf Syras Brust gelegt und massierte ihr Herz. Zwischendurch holte er tief Luft und blies sie in ihre Lungen. Gute, reine Luft. Er sah, wie ihr Oberkörper sich jedes Mal aufblähte. Er pustete und presste, bis seine Arme sich schwerer anfühlten als ihr lebloser Körper, atmete, bis ihm der Schweiß aus allen Poren lief, drückte, bis ihm schwindlig wurde, hörte, wie irgendwann eine ihrer Rippen brach.
Das Knacken klang so laut und so fremdartig zwischen seinen panischen Atemstößen, dass er erschrocken zurückfuhr und die Hände von ihr nahm. Im selben Augenblick riss ein weiteres Geräusch seine Lippen zu einem Lächeln auseinander.
„Au.“
Tränen rannen aus seinen Augen, vermischten sich mit Schweiß und Meereswasser. Gleichzeitig lachte er, küsste Syra auf beide Wangen und rollte sie gleich darauf zur Seite, weil sie in einem keuchenden Hustenanfall Unmengen an Wasser erbrach.
Danach blieb sie reglos liegen. Er beugte sich über sie, betrachtete ihr Gesicht. Ihre Augen standen offen, starrten auf den Kratersee. Wasser lief aus ihren Mundwinkeln und lärmende Angst stürzte über ihm zusammen. Sie lebte, aber war sie noch dieselbe? Hatte sie Schäden davon getragen? Ernste Schäden? Nichts Banales wie Prellungen, Abschürfungen, Stichwunden und eine gebrochene Rippe? War ihr Geist geschädigt? Blieb sie gelähmt? Blind? Wie lange konnte der Körper ohne Atemluft sein? Wie lange das Hirn?
„Syra?“, flüsterte er, bemüht, nicht hysterisch zu klingen.
Sie reagierte nicht. Lag da, zitterte, stieß Meerwasser aus Nase und Mund. Atmete. Unregelmäßig, aber von allein.
Er rutschte um sie herum, tauchte zurück in den See, stützte sich auf den Plateaurand, suchte ihren Blick. Ihre Augen erfassten ihn nicht. Sie irrten umher, fokussierten nicht. Ihre Farbe wechselte von Grün zu Milchiggrau, als könne ihr Körper nicht unterscheiden, ob er im Wasser war oder an Land. Offensichtlich stand er unter Schock, verweigerte jede Kontrolle. Ihre Zähne klapperten aufeinander und ihre Lippen glänzten blau, ebenso Hände und Fingernägel.
Er tastete über ihren eiskalten Leib, sah, dass eines ihrer Beine im Wasser hing. Behutsam hob er es heraus, kroch um sie herum und schmiegte sich an sie. Sein Körper war von der Anstrengung und der ausgestandenen Ängste überhitzt. Vielleicht konnte er ein bisschen Wärme an sie abgeben.
Tief unter dem türkisfarbenen See, der sich im Kessel des ehemaligen Feuerberges gebildet hatte, weit unter den Süß- und Brackwasserschichten, rieb Ciycain sich über die Arme. Unschlüssigkeit pulsierte unter ihrer Haut, verstärkte das schmerzhafte Pochen, das der Sprung ins Wasser hinterlassen hatte. Sie war gesprungen, noch bevor Zweifel und Furcht sie hatten übermannen können, hatte Glück, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Einige ihrer Brüder und Schwestern hatten dieses Glück nicht gehabt. Mindestens vier von ihnen schwammen ungelenk und mit verzerrten Gesichtern. Zwei trieben weit über ihnen im Wasser. Entweder waren sie auf der Wasseroberfläche zerschellt oder auf dem schmalen Grat, der den See umlief. Die ersten Opfer ihres Volkes in diesem Kampf. Ihrem Kampf.
Kurz schloss sie die Augen, atmete ein, merkte, wie Salz in ihren Nasenhöhlen und Ohren prickelte. Die Luft, die sie aus dem Wasser filterte, war minimal. Nicht einmal sie konnte ewig hier unten bleiben. Ihre Brüder und Schwestern noch weniger. Sie starrten sie an, warteten auf eine Anweisung, einen Befehl. Wie von einer Heeresführerin. Das war sie nicht.
Wellenbewegungen unter ihr schreckten sie auf. Die Gruppe, die Elphen Chausselles entsorgt hatte, kehrte zurück, Männer und Frauen aus den verbrannten Weilern entlang der Küsten. Fischervolk. Einige aus den Pechadern der Sumpffelder. Sie hatte sie hierher geführt, hatte ihnen erzählt von dem blauen Mann aus dem Norden, den Kindern, ihren Rettern, den Zauberwesen, der Magie. Dem Verderben, das sie mit sich brachte. Sie waren ihr gefolgt. Zaudernd, zögernd, viele misstrauisch, manche aus Neugier, einige aus Abenteuerlust. Und jetzt sahen sie alle erwartungsvoll an.
Ein Mann stieß von oben durch den Ring aus Menschen, der sich um sie gebildet hatte. Nou. Mit ernster Miene sah er sie an, deutete dann nach unten auf den Riss, nickte energisch. Quelle, formte sein Mund.
Ciycain sah sie, die Magie. Sah, wie sie aus dem Riss quoll, unter dem Strudel über den welligen Meeresboden kroch. Ein dicker, zäher Strom, süß und verlockend wie Honig. Unbewusst leckte sie sich die Lippen. Sie schmeckte sie, genoss den Nachhall der Süße auf ihrer Zunge, ihrem Gaumen, spürte, wie die Substanz warm ihre Speiseröhre hinunter floss, sich in ihrem Magen ausbreitete. Sie mundete so gut.
Nou schob sich vor sie. In seinen Augen glommen Ungeduld und Unglauben. Beschämt wich sie dem Blick aus, schluckte mehrfach, setzte sich langsam in Bewegung. Wenige Meter neben dem Riss verwandelte sich die Magie. Der größte Teil strudelte als Säule nach oben, der Rest dünnte aus, verflüssigte sich. Der kostbare Sirup zersetzte sich, anfangs in Schlieren, dann in Tropfen, bis er sich im Meerwasser auflöste. Doch die Magie tränkte das Meer auf weite Entfernung. Wie der Tropfen einer Medizin, den man in einen Becher gab. Ein ganzer Becher Wasser, der trotzdem bitter schmeckte. Nur, dass die Magie süß war, süß und unwiderstehlich. Schon als sie am Ufer ins Meer gestiegen war, hatte sie sie geschmeckt, gerochen sogar. Der Geschmack hatte an Intensität zugenommen, je näher sie den Inseln gekommen war. Sie hatte das Wasser geschluckt und unter dem salzig-tranigen Geschmack Spuren der Süße wahrgenommen. Es kaum erwarten können, hierher zu kommen.
Auch jetzt war sie durstig. Sie wollte den Mund öffnen und trinken, die berauschende Wirkung spüren, die sie früher schon einmal empfunden hatte. Im Norden. Im Eis.
Nou stupste sie in die Seite, so grob, dass sie zusammenzuckte und die Blase um sie ungehalten waberte. Sie blitzte ihn an, aber er erwiderte ihren Blick und formte ein neues Wort. Arlen. Da erschrak sie, sah an sich hinunter. Ihre Haut war fischig grau, wie immer im Wasser. Schimmerte sie bläulicher als sonst? Ihre Finger fuhren an ihren Kopf, fassten in kurzes Haar.
Los!
Erneut schubste Nou sie. Die Blase erzitterte, aber nicht vor Wut, sondern vor Dankbarkeit.
Und Angst.
Dennoch tauchte sie auf den Riss zu, Nou und die Fraga-í wie einen Brautschleier hinter sich her ziehend, dem Strudel, der ihre Mutter umgebracht hatte, sorgsam ausweichend. Tränen verschleierten ihren Blick. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass das Wasser sich verdichtete, unsichtbare Wände sie einmauerten. War es Arlen so ergangen? Hatten Verzweiflung, Begierde und Trauer ihn ebenfalls eingesponnen, ihm den Atem abgeschnürt, den Verstand außer Kraft gesetzt? Hatte er dagegen angekämpft oder sich ergeben? Sie ahnte, sie wusste, dass die Magie sie mit zärtlichen Fingern liebkosen würde, wenn sie sich ergab. Dass die Mauern sich zu warmen Wasser verflüssigen würden, das sie umarmen würde wie eine Mutter ihr Kind. Sich ergeben war alles, was sie tun musste. Sich auf den Riss legen und von dem köstlichen, süßen Strom einfangen lassen.
Es war so leicht.
Nou zerrte sie weg und der schwerelose Traum platzte auseinander wie die Regentropfen, wenn sie auf den Sand von Grulorh trafen. Die Moorinsel. Sie zwischen ihren Eltern. Wehmut schwemmte über sie.
Nous Hand, die auf ihre Wange klatschte, jagte sie davon.
Ihr Blick klärte sich, schwankte auf die Säule, die Quelle. Sie bestand aus Kadavern. Sie tötete. Kein Honig quoll aus ihr, sondern kalter Schleim. Giftige Grütze, die Gedanken und Körper zersetzte. Maji vertilgte. Tiere, Menschen, Arlen. Sie.
Kian und Yvain hatten ihr widerstanden. Bestimmt hatten sie einen hohen Preis gezahlt, doch sie lebten, umgeben von Menschen, die sie liebten. Ihre Mutter mochte tot sein, aber ihr Vater lebte. Nou lebte. Die Jungen, Baelis und hoffentlich alle Gefährten.
Sie nahm Nous Hand, die noch im Wasser vor ihr schwebte, und presste sie auf ihre Wange. Dann drückte sie einen Kuss auf den Handrücken und lächelte ihn an, sah in seinen Pupillen den Widerschein ihrer aufstrahlenden Augen.
Sie taxierte die Sumpfleute, streckte den Arm aus und gestikulierte in Richtung der von Löchern und Breschen durchsetzten Vulkanwände. Ihr Stamm begriff, schwärmte aus. Zwei Männer blieben zurück, verharrten vor dem Riss, betrachteten ihn mit verklärten Augen. Ciycain zupfte Nou am Arm und wies auf die beiden. Nou nickte, schwamm zu ihnen, dirigierte sie zu den Kraterwänden.
Bald darauf polterten die ersten Felsstücke in den blutroten Riss.
Das Warten und Sorgen schläferte ihn ein. Er lag hinter ihr, Arme und Beine um sie geschlungen, besorgt über die Kälte, die ihr Körper verströmte. Bis auf den Schmerzenslaut war kein Ton über ihre Lippen gekommen. Ihre Muskeln zogen sich hin und wieder unkontrolliert zusammen. Sobald ein weiterer Krampf sie erfasste, massierte er die betroffene Körperstelle. Sie selbst war zu schwach, um sich auch nur einen Fingerbreit zu rühren.
Er dachte daran, ihr die nasse Kleidung ausziehen, wollte sie aber nicht unnötig bewegen. Also stemmte er sich über sie, rollte sie vorsichtig auf den Rücken, schob ihr Hemd hoch und zischte, als er die Abschürfungen an Bauch und Hüften frei legte. Behutsam zupfte er ihr die Stiefel von den Füßen und raffte ihre Hosenbeine bis über ihre Knie, inspizierte die Stichwunden.
Neue Narben.
Der Gedanke machte ihn tieftraurig.
Mehr konnte er im Moment nicht tun. Wärme, Schutz und Ruhe. Vertrauen auf ihre Selbstheilungskräfte, auf ihre Eigenmagie, solange die Quelle intakt war. Er dachte an Ciycain und stellte fest, dass er sich um sie weniger ängstigte als um Syra. Seine Gefährtin war stark und unempfindlich, aber sie war ein Mensch. Ciycain hingegen war etwas Anderes. Sie hatte ein Volk hierher geführt, hatte das Wasser geteilt und den Strudel geöffnet, ihre Mutter dem Tode entrissen. Wer sollte ihr etwas anhaben können? Ihre Kraft war übermächtig so nahe an der Quelle.
Schicke ein wenig Magie hier herauf, betete er im Stillen. Deine Mutter kann sie gebrauchen.
Ihr Plan funktionierte nicht. Der Strudel schleuderte die kleineren Felsbrocken sofort wieder empor. Nur die schwereren, die sie zu dritt oder viert in den Riss fallen ließen, plumpsten in tiefere Erdschichten. Bis sie einen Felsen von der Größe K’yrs abgetragen hätten, würden Monate ins Land gehen. Bis dahin hätte die Magie ihre Widerstandskräfte längst gefressen. Sie spürte, wie sie unablässig an ihr zerrte. Der Wasserschild bot nur unzulänglichen Schutz. Er schirmte ab und ermöglichte ihr längeres Atmen, aber die Magie kroch auch durch winzigste Poren.
Noch hielt er stand, noch hielt sie stand, doch am Ende würde die Magie siegen. Bevor sie sie umbrachte, würde sie sie zwingen, sich ihr zu unterwerfen, sie zu ihrer Sklavin machen. Vielleicht würde sie Blut trinken müssen wie der Norogdún. Andere Menschen unter ihr Joch beugen. Vielleicht müsste sie die bekämpfen, die sie liebte.
Plötzlich begriff sie, dass Arlen nicht verloren hatte. Er hatte Maji besiegt.
Seltsamerweise belebte der Gedanke sie. Sie konnte sie ebenfalls bezwingen. Sie musste sie nur nutzen. Nur diese eine Mal. Arlen war dabei gestorben und auch ihr Kampf würde Opfer fordern. Mehr Opfer. Aber es gab keinen anderen Weg.
Sie hatte den Wal gerufen. Jetzt rief sie wieder. Unhörbar unter Wasser, unhörbar für Menschen. Nicht unhörbar für die Wesen des Meeresgrabens, denen Elphen Chausselles als Nahrung dienen würde, für die Geschöpfe der Tiefsee; Geschöpfe so alt wie die Legenden der Fischer auf allen Inseln.
Sie lauschte, konzentrierte sich. Ihre Umwelt verschwand. Alle Empfindungen, alle Eindrücke schrumpften, reduzierten sich auf die Schildblase.
Schließlich ein Zittern. Ein Nadelstich in der Wasserhaut, hervorgerufen durch eine winzige Welle, auf die Reise geschickt von einem Lidschlag. Tief unter ihr, weit hinter den Breschen und Löchern der Schlotwände, hatte sich ein Auge geöffnet.
Irgendwann bemerkte er, dass sie nicht mehr zitterte, dass sie still lag auf dem spitzen Geröll, das ihn in die Seite stach, dass die Muskelkontraktionen aufgehört hatten.
Eine neue Welle der Panik erfasste ihn. Er sprang über sie hinweg ins Wasser und stemmte sich auf die Plateaukante. Tropfen sprühten ihr ins Gesicht und sie schloss reflexartig die Augen. Als sie sie wieder öffnete, strahlten sie ihm grün entgegen, durchsetzt mit türkisfarbenen Reflexionen des Sees.
„Bei allen Göttern“, entfuhr ihm ein tiefer Seufzer der Erleichterung.
„Katao tç kore“, krächzte sie und hustete. Dann würgte sie den letzten Rest Meerwasser, den sie noch in sich hatte, aus.
Er lachte, während sie sich mit seiner Hilfe aufstöhnend auf den Rücken drehte. „Kein Wasser mehr“, wiederholte er und zog sich zu ihr hinauf.
„Die Steine zwicken“, murmelte sie.
„Hältst du es aus?“
„Du hast mir eine Rippe gebrochen.“
Er senkte den Kopf und lächelte. „Es war keine Absicht.“
„Dann musste es sein“, gab sie schleppend zur Antwort, unverwandt in die Sonne starrend. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Erinnerte sie sich an das, was sie erlebt hatte? Oft löschte der Geist schlimme Erinnerungen aus. War es besser, es dabei zu belassen?
Sie nahm ihm die Entscheidung ab. „Was ist geschehen?“ Sie vermied jede Bewegung, während sie sprach.
„Elphen Chausselles ist tot“, erwiderte er vorsichtig.
„Gut. Das ist gut. Er hat mich besiegt.“
„Falokks Leute haben ihn ausgelöscht.“
Sie kaute auf dieser Antwort herum. „War Ciycain bei ihnen?“
„Nein. Sie war damit beschäftigt, dein Leben zu retten.“
Ihre Lider begannen zu blinzeln und ihre Stirn schob sich zusammen. Die Erinnerungen kehrten zurück, drohten sie zu überwältigen. Als wolle sie sich selbst davor bewahren, stützte sie sich auf ihre Ellenbogen. Fast schien es, als wäre sie dankbar für den Schmerz, den die gebrochene Rippe durch ihren Körper schickte.
Gillok seufzte, sah zu, wie sie sich auf die bereits blutenden Lippen biss, rückte hinter sie und half ihr, sich in eine sitzende Stellung aufzurichten.
Schwer lehnte sie sich gegen ihn. „Was ist mit der Quelle?“
Gillok warf einen Blick auf den Kratersee, der in der Sonne blitzte und hin und wieder erzitterte. „Sie arbeiten daran.“
„Sie wird es schaffen. Gill? Ich weiß nicht, wie, aber sie wird ... Ich konnte es nicht, doch sie… sie… Ich war entsetzlich dumm, nicht wahr?“
Er strich ihr durch das feuchte Haar, glättete verknotete Strähnen, betrachtete die Zeichnungen in ihrem Nacken. „Du warst entsetzlich leichtsinnig.“
Sie atmete tief ein und zuckte zusammen, als die Rippe protestierte.
„Aber du hast ‚Au‘ gesagt. Ein Laut, der niemals zuvor über deine Lippen kam. Deshalb verzeihe ich dir.“ Bei den letzten Worten verzog er den Mund zu einem Lächeln.
„Es tut weh“, verteidigte sich Syriakin in sein Lachen hinein. „Auch diese Steine. Sie piken mich. Ich werde zu alt für all das hier.“
„Stimmt. Du siehst aus wie ein altes Weib und du jammerst wie eines.“ Gillok lachte, unsäglich erleichtert darüber, dass sie redete und sich bewegte und augenscheinlich bei klarem Verstand war. Das Lachen war kurz, aber befreiend und ansteckend, schlich sich selbst in Syras ausgelaugte Züge.
Gillok schob ihr Haar beiseite und küsste sie in die Halsbeuge. „Du brauchst Ruhe.“
„Glaubst du, dass es heute endet? Dass es gut ausgeht?“
„Ja“, sagte Gillok, überrascht von der eigenen Überzeugtheit. „Ja, das glaube ich. Ich bin mir sicher, dass Ciycain dieses Ding da unten vernichtet, zusammen mit all den Leuten, die sie in den Dörfern aufgetrieben hat.“
„Dort hat sie sich all die Monate versteckt?“
„Haben wir das nicht gewusst? Es ist ihre Bestimmung, ihr Volk anzuführen, weißt du noch? Alles, was es brauchte, war ein wenig Überzeugung. Eine Erinnerung daran, wie wir einst waren. Nad Tala, das Volk der Klingen. Es hat sich entschlossen, mit uns zu kämpfen.“
„Dann sollten wir bei ihm sein.“
„Du hast deinen Teil getan. Jetzt musst du dich erholen.“
„Wir müssen helfen. Unser Kind ist dort unten.“
„Sie weiß, was sie tut.“
„Stirbt sie, wenn die Quelle versiegt?“
„Nein. Nein! Die Magie in ihr stirbt. Sie nicht.“
„Das kannst du nicht wissen.“
„Doch, ich weiß das.“
„Woher? Du hast Arlen schließlich auch gesehen.“
Er spürte Hysterie in ihr aufflackern und hielt sie fester. „Ciycain ist stärker als Arlen.“
„Aber…“
„Ich weiß, zu was sie fähig ist. Und du weißt es auch.“
Sie starrte auf das Wasser. „Das ist nicht richtig. Nichts davon ist richtig. Ich sollte ...“
„Du kannst ihr nicht helfen. Dabei nicht.“
Rufe erschollen vom Kraterrand. Gillok blickte nach oben und sah Falokk und Chries, die ihnen zuwinkten. „Den Göttern sei Dank. Chries ist da, Ardanna somit nicht weit. Sie wird dich versorgen.“
„Ich kann hier nicht weg.“
„Genug, Syra.“ Er sagte die beiden Worte sanft, aber so bestimmt, dass sie verstummte, streichelte ihre Wange und erhob sich.
Sie hielt seine Hand fest. „Gill.“
„Du kannst ihr nicht helfen.“
„Aber du.“
Sie suchte seinen Blick, sprach stumm mit ihm, bis er nickte und sie küsste. „Anó au i‘a kin. Ich sehe dich wieder.“ Dann sprang er ins Wasser und tauchte unter.
Etwas bewegte sich hinter ihm, etwas Riesiges. Es glitt aus dem Zwielicht herauf und verschluckte die letzten Spuren der Sonne. Unwillkürlich zog er den Kopf zwischen die Schultern, wagte es nicht, sich umzusehen. Stattdessen konzentrierte er sich auf seine Tochter.
Ciycains Gestalt leuchtete. Ihre Haut und die wie Stacheln von ihrem Kopf abstehenden Haare glänzten silbrig, als zerflösse der Mond auf einem stillen Ozean. Ihre Züge wirkten verschwommen und weich, schienen sich den Bewegungen des Wassers anzupassen, sich aufzulösen. Beständig wechselten sie Ausdruck und Alter, schwankten zwischen kindlich und greisenhaft.
Gillok war gefesselt von ihrem Mienenspiel, ihrer Furchtlosigkeit, ihrer Macht. In den eisigen Weiten des Nordens hatte sie den Wal herbeigerufen. Er begriff, dass dies nur ein Vorspiel gewesen war, nicht mehr als eine Fingerübung für das, was ihn nun erwartete. Er schielte in den Strudel, auf die Felsbrocken, die die Sumpfleute auf Ciycains Befehl hin hineingeworfen hatten, erinnerte sich an den Tag ihrer Geburt, an die Rosen, die im Sumpf geblüht hatten. An Syras abgewandten Blick, als sie mit dem Säugling in das Dorf zurückgekehrt war. An die Leere, die er empfunden hatte, als sie wortlos in ihre Hütte gestiegen war. An das Schweigen, das sie so lange getrennt hatte. Er hatte Ciycain aufwachsen sehen wie all die anderen Kinder im Dorf.
Jetzt erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht und ihre Hand hob sich, als sie das Geschöpf begrüßte. Gänsehaut erblühte auf seinen Armen. Langsam legte er den Kopf in den Nacken und sah nach oben. Der Theutissa, der dem Willen seiner Tochter gefolgt war, war unfassbar groß. Ein Gigant. Ein Ogala. Eine Legende der Meere, unheimlicher Bewohner der Tiefsee, Herrscher des Abyssals. Ein Einzelgänger wie seine kleineren Geschwister und Kinder. Die Mollusken besiedelten die Gräben und Gründe, kamen selten nach oben. Ihre Hässlichkeit war abstoßend, ebenso ihr Geschmack. Zähes, nach Urin riechendes Fleisch. Die meisten Fischer verschonten sie.
In majestätischer Langsamkeit zog das zylindrische Geschöpf an ihm vorbei. Fasziniert und betäubt sah Gillok ihm nach, studierte das fremdartige Aussehen. Den länglichen Körper, der ständig die Färbung zu wechseln schien. Mal schimmerte er silbrig, mal golden, dann wieder in der Farbe ausgeblichenen Rots. Den Organsack, aus dessen vorderer Öffnung ein Kopf mit riesenhaften Augen ragte, und dessen hinterer Teil zu einer Art Spitze zusammenlief, die in verkümmerten Flossen endete. Hautfetzen hingen zu beiden Seiten des Sacks herunter. In ihnen wimmelte es von Fischen, Krebsen, Muscheln, Würmern. Neben der Mundöffnung schwangen fleischige, von hellroten Adern durchzogene Arme. Zehn bootsmastdicke, von Saugnäpfen bedeckte Arme, von denen jeder einzelne aussah wie eine sich häutende Schlange. Die beiden längeren waren zu Tentakeln geformt, an deren Enden mehrere Reihen scharfer Zähne aufblitzten. Fangarme. Waffen, genau wie der steinharte Schnabel.
Ciycain, flehte er innerlich seine Tochter an, doch sie hatte den Arm ausgestreckt, als wolle sie den Giganten streicheln. In ihrem Gesicht, über das wellenartig die unterschiedlich alten Ausgaben ihres Selbst liefen, stand ein strahlendes Lächeln, das ihr Leuchten noch zu verstärken schien. Sie wirkte körperlos, ohne Substanz, ohne äußere Form, eins mit dem Wasser, aufgelöst in diesem.
Der Theutissa schwamm an sie heran. Seine Tentakel erreichten sie zuerst, tastend, forschend, zärtlich. Sie legten sich um sie, schnürten sie ein, doch Ciycain zeigte keine Furcht. Sie lachte, den Kopf zurückbiegend. Der König der Tiefsee schaukelte vor ihr, musterte sie aus Augen, die schwärzer waren als der Abgrund, aus dem er aufgestiegen war. Kurz hielt die Welt den Atem an.
Gillok schielte zu den Sumpfleuten, die erstarrt in einiger Entfernung schwammen, von kalter Angst gepackt wie er selbst und ebenso überwältigt. Sie sind geblieben, schoss es ihm jählings in den Sinn. Dabei konnte der Theutissa sie vernichten, sie alle. Ciycain wirkte winzig vor ihm. Ein Seestern, ein Staubkorn, ein Nichts. Ein Menschenkind aus den Sümpfen. Er konnte die Fraga-í mit einer einzigen Bewegung der meterlangen Fangarme auslöschen, sie vom Antlitz dieser Welt wischen, bevor er in die Unendlichkeit seines Imperiums zurückkehrte. Keine Spur würde von ihnen bleiben.
Dann bewegte sich das Kind. Seine Tochter. Sie nahm ihren Arm herunter und spreizte die Finger. Ihre Lippen flüsterten Worte, die im Wasser zerflossen. Ihr Atem schickte Luftbläschen auf die Reise.
Und der Theutissa gehorchte. Tentakel lösten sich von Ciycain, rollten sich ein. Der sternförmige Mund weitete sich, klaffte auseinander. Salzverkrustete Ringwellen pflanzten sich fort. Sie stanken, so wie das gesamte Tier einen unangenehmen Geruch verströmte. Derselbe Uringestank, der die Menschen davon abhielt, die Geschöpfe der Zwielichtzone zu essen. Gillok begriff, dass der Herrscher der Tiefe schrie, wenngleich kein Laut an sein Ohr drang.
Das Wasser erzitterte. Der bodenlose Abgrund geriet in Bewegung, als seine Bewohner sich aufmachten, ihrem König zu folgen. Sie stiegen empor, quetschten sich durch die Kraterwände, quollen in den Schlot. Heerscharen von Untergebenen. Stabsquallen, Squids, Kalmare, Kraken, Sepien, Seenattern. Die meisten von ihnen zylindrisch, andere mit halbrunden oder runden Körpern.
Weichtiere.
Würmer schwebten heran, wie Schnuralgen senkrecht im Wasser treibend, einige länger als ein ausgewachsener Mann. Plattwürmer strudelten in der aufgewühlten See. Die meisten leuchteten mattweiß, andere ähnelten von Farbe und Aussehen her einer überdimensionalen Zunge.
Käferschnecken strampelten sich empor, ungelenk in ihren plattenbewehrten Schalenpanzern. Normalerweise besiedelten sie die Böden, lauerten dort auf Beute. Manchmal fanden Perlentaucher versteinerte Exemplare. Lebende Schnecken hatten scharfe Zungen, mit denen sie ihren Opfern das Fleisch vom Knochen raspelten. Andere fraßen ihren Fang ohne einen Zahn im Mund. Gewöhnlich erreichten die gepanzerten Tierchen die Größe eines menschlichen Fußes. Diese hier waren mehr als doppelt so groß. In ihrem Gefolge schaukelten weitere Arten. Giftige Kegelschnecken, Kronenschnecken, Blitzschnecken. Hartschalige Tritonen und Austernbohrer. Nackte Seehasen. Viele von ihnen Räuber mit scharfen Zähnen und saurem Speichel. Alle überragten ihre harmloseren Geschwister in den Küstengewässern in Größe und Gewicht. Manche glitten durchsichtig an ihm vorbei, andere stießen purpurfarbene Wolken vor sich her.
Viele Arten hatte Gillok noch nie gesehen. Filigrane, schmetterlingsähnliche Wesen, die in ihren eigenen Schleimnetzen zu treiben schienen. Wunderschöne, von innen leuchtende Gebilde. Ciycains Magie brachte ihre Farben zum Strahlen. Türkis. Hellrot. Schnecken, die ihren übergroßen Kopf vor sich her schoben wie einen gezackten Schild. Schnecken, unscheinbar wie ihre Verwandten an den Stränden, bis sie prächtige Flügel auseinanderfalteten.
Fasziniert studierte Gillok die unbekannten Geschöpfe. Der Artenreichtum und die schiere Masse der Lebewesen überwältigten ihn. Sein Erstaunen wuchs, als er die Muscheln wahrnahm, die sich zwischen den Sepien und Schnecken tummelten. In seiner Welt bevölkerten sie sandige Böden, klebten an Felsen, Riffen und Klippen, versteckten sich im Seegras. Diese Muscheln bewegten sich. Sicher, einige schaukelten im Auftrieb der Kalmare und Schirmquallen, wurden von Tintenwolken nach oben gestoßen oder hatten sich an Schneckenhäuser geheftet, doch manche schwammen von allein. Er sah und hörte ihre Schalen klappern, fühlte ihre ausgestreckten Tentakel und Fühler über seine Haut streifen. Sie hinterließen winzige, beißende Wunden, die ihn aus seiner Hingabe rissen.
Im selben Augenblick bemerkte er Nou an seiner Seite. Mit angsterfüllten Augen zeigte der Freund nach unten und Gilloks Herzschlag beschleunigte sich.
Schnecken und Riffnattern besaßen Giftzähne und Giftstachel, Kalmare und Muscheln toxische Tentakel. Harmlos im Vergleich zu den langen, oft unsichtbaren Nesselschnüren der Seewespen.
Man fand sie extrem selten. Sie galten als scheue Einzelgänger, außer in der kurzen Paarungszeit. Die Jagd auf sie war lebensgefährlich. Dennoch begehrten seine Stammesgeschwister die Quallenart, denn das Gift - Hadulanis - galt als das stärkste der Welt.
Hunderte mussten es sein, vielleicht sogar tausende. Ein Schwarm, eine Armee. Rechteckige, weiche Körper von tödlicher Schönheit, durchscheinend, golden, fluoreszierend. Dazwischen Medusen mit pilzartigen Köpfen.
Hastig schlug er mit den Armen, strampelte mit den Beinen, um nach oben zu gelangen, bevor die Giftfäden ihn erreichten. In die Fraga-í kam ebenfalls Bewegung. Sie alle strebten aufwärts, weg von den Quallen und Polypen.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Gillok, wie der Theutissa auf ein Winken Ciycains hin Tentakel und Arme wie einen Fächer ausbreitete und seinen gesamten Mantel ausdehnte. Sofort begriff er die Absicht dahinter, signalisierte Nou und den anderen, ihm zu folgen. Wie Delfine glitten die Sumpfleute hinter den Giganten. Dessen Körper war gespannt wie ein Netz. Es hielt die Seewespen fern, lenkte sie von den Menschen weg.
Lediglich Ciycain pendelte noch im Weg des Schwarms. Doch sie schwamm in ihrer Blase aus Wasser. Kein Tierleib berührte sie. Keine Nessel streifte ihre Haut. Lautlos und tödlich strich die giftige Armada an ihr vorüber auf den Riss zu.
Immer mehr Geschöpfe quollen durch die Vulkanwände, Phantome aus einer lichtlosen Welt. Farbenprächtige Seevipern ringelten sich aus der Schwärze, Haie schossen heran. Fische mit bizarren Kopffortsätzen und riesenhaften Augen. Stachelige Bälle, die aus sich selbst zu strahlen schienen, ringförmige Gebilde mit langen Fäden, Dornenfische mit Mäulern von der Größe eines Kinderkopfes, Seegurken mit Saugnäpfen, Seesterne mit Augenpaaren auf jedem Arm. Fische mit angsteinflößenden Zähnen und federnden Stacheln. Jäger und Gejagte, Räuber und ihre Beute. Mollusken, Schalentiere, Krustenlebewesen, Gliederlose und Vielfüßer, Fische und Säugetiere. Farblose und durchsichtige, bunte und selbstleuchtende.
Sie alle kamen auf den stummen Befehl ihres Herrschers hin.
Sie alle kamen, um zu sterben.
Einer nach dem anderen strebte auf die Quelle zu. Die kleineren verschluckte der Riss sofort, die größeren saugte er ein.
Die Fraga-í warteten, unbeweglich, starr vor Entsetzen und Faszination, Felsbrocken in den Fäusten. Nur zwei von ihnen wirkten unruhig, paddelten mit Händen und Füßen. Nou schwamm unauffällig zwischen sie.
Irgendwann schien der Riss zu husten. Gillok sah, wie Ciycains Schildblase erzitterte und der Strudel an Kraft verlor. In ihm gefangene Kadaver, viele von ihnen seit Jahrhunderten mumifiziert, schwebten zu Boden, verschwanden in der Quelle. Sie stirbt, begriff er. Die Quelle verendete.
Der Theutissa tat einen Schlag mit dem Mantel, streifte einzelne Sumpfleute, schleuderte andere von sich. Das Meer geriet stärker in Bewegung.
Ogala, der Herrscher des Tiefseegrabens, glitt zu einer der Schlotwände, beschleunigte, prallte dagegen. Zitternd löste sich ein gewaltiger Felszapfen, um den er die Fangarme schlang. Gillok sah zu seiner Tochter, fing ihren Blick auf. Das Strahlen ihrer Augen war schwächer geworden, blendete kaum mehr. Ruckartig strebte er dem Giganten entgegen, auf den mächtigen Bugwellen tanzend, die der Koloss vor sich her schob. Andere Fraga-í stoben an seine Seite, fassten nach dem Gesteinszapfen, der auch unter Wasser alles und jeden zermalmen würde. Gemeinsam bugsierten sie ihn über den rülpsenden Riss.
Als schnappte er nach Luft wie ein waidwundes Tier.
Der Zapfen rauschte in die Tiefe. Er fiel langsamer, als er in der Luft gefallen wäre, gebremst durch Wasser und die sich verzweifelt wehrende Magie, nichtsdestotrotz mit tödlicher Geschwindigkeit. Als er in den Riss plumpste, meinte Gillok, ein Schreien zu hören. Unsinn, natürlich, Einbildung, gepaart mit Erschöpfung und Atemnot. Suahaveles.
Die beiden Sumpfmänner, die Nou die ganze Zeit im Auge behielt, zuckten merklich zusammen, ebenso wie Ciycain, deren Wasserblase sich in brodelnde Bläschen auflöste. Ihre Augen hatten allen Glanz verloren, so wie ihre Haut, die einen gräulichen Ton annahm und zu knittern schien. Erschrocken stieß Gillok zu ihr. Sie sah ihn betäubt an, schob ihn jedoch beiseite, schwamm zu dem Theutissa, berührte ihn.
Sie nimmt Abschied, dachte er und große Traurigkeit überkam ihn.
So majestätisch, wie es gekommen war, glitt das Weichtier über den Riss, zog Fangarme und Tentakel an den Körper und stieß in die Quelle. Alles, was von ihm blieb, war eine nach Urin stinkende Wolke.
Die Sumpfleute wichen vor dem Gestank zurück. Viele zeigten deutliche Anzeichen von Atemnot. Fraga-í aus dem Inland, aus Yanois, den Dörfern im Wawan, aus den nördlichen Wäldern. Er gestikulierte ihnen, zu verschwinden. Sie schauten zu Ciycain, die matt nickte, dann gehorchten sie und schossen in die Höhe.
Er selbst schwamm zu seiner Tochter, die sich von ihm in die Arme nehmen ließ, deutete in Richtung Oberfläche. Sie nickte wieder, war jedoch zu schwach für weitere Bewegungen.
Magieverlust.
Die beiden unruhigen Sumpfmänner zeigten ähnliche Symptome. Nachdem der Theutissa der Quelle endgültig das Maul gestopft hatte, waren sie zu ihr geschwommen, dicht gefolgt von Nou. Sie hatten auf sie gestarrt wie Trauernde, die ihre Angehörigen beerdigten. Nou zupfte sie behutsam mit sich, spendete stumm Trost, als sie sich krümmten wie unter Bauchkrämpfen.
Auch Ciycain schien Schmerzen zu haben. Weit besorgter war Gillok jedoch über ihre Teilnahmslosigkeit. Ihre Augen starrten so leer wie zwei Brunnen. Ihr Gesicht wirkte gealtert: knittrig, trocken und brüchig wie Steppengras. Ihr Haar glänzte dunkel wie eh und je, doch ihre Stirn wies feine Falten auf und die Haut in ihren Augenwinkeln kräuselte sich. Ein Stich fuhr in sein Herz; kurz darauf ein zweiter, als sie das Bewusstsein verlor.
Kein Beben erschütterte die Erde wie auf Drahórsul, kein Gebirge krachte auf sie herab wie in der Boragha, keine Sandflut rauschte über sie hinweg wie in Ki akku ninu. Deshalb kam der Schock so unerwartet.
Syriakin bäumte sich auf und schrie, stemmte sich gegen den provisorischen Operationstisch, als würde etwas aus ihrem Körper gezogen. Zeitgleich stolperte Ardanna vom Tisch zurück, griff sich an ihr Herz und sank stöhnend in die Knie.
Sphita warf erschrockene Blicke auf die beiden Frauen. „Haltet sie fest!“, rief sie Chries und Falokk zu und stürzte zu ihrer Mutter.
Alle Farbe war aus Ardannas Gesicht gewichen. Sphita nahm ihre Hand. Schlaff und kalt. Angst kroch in ihre Eingeweide.
„Es ist die Magie“, hörte sie durch das Rauschen in ihren Ohren Chries‘ Stimme. „Sie waren erfolgreich. Die Magie. Sie ist weg.“
Erfolgreich, hallte es in ihrem Kopf.
„Verschlossen“, flüsterte sie.
„Dasselbe passierte, als ihr in der Wüste wart. Sie wird sich rasch erholen. Sorge dich nicht.“
Wie zur Bestätigung seiner Worte drückte ihre Mutter ihre Hand und lächelte ihr zu. Sphita blickte zu Syriakin. Die Sumpffrau atmete heftig. In ihren Augen glänzten Tränen. Der Verband um ihre Rippen war verrutscht. Die Schürfwunden an Bauch und Hüften leuchteten rubinrot.
„Ihr könnt sie jetzt loslassen“, sagte Sphita zu den Männern.
Zu dritt zogen sie Ardanna auf die Beine, hielten sie fest, so lange sie schwankte.
„Es ist gut“, wehrte die Heilerin schließlich ab. „Geht. Bereitet weitere Krankenlager vor.“ Dann trat sie zu Syriakin. „Geschafft.“
Mühsam unterdrückte die Sumpffrau ein zittriges Schluchzen.
„Wird es gehen?“, erkundigte sich Ardanna, als sie mit Sphitas Hilfe den Verband um Syriakins Rumpf fester zurrte.
Syriakin erwiderte nichts, verzog aber das Gesicht.
„Fühlt es sich so anders an?“, fragte Sphita.
„Wir kommen darüber hinweg.“ Ardanna tätschelte Syras Hand, lächelte sie wehmütig an. „Ihr werdet lernen müssen, vorsichtiger zu sein. Keine schnellen, wundersamen Heilungen mehr.“
„Wo ist Ciycain?“, brachte die Sumpffrau heraus.
„Ich gehe sie holen“, sagte Sphita und winkte Chries.
Der Tag war außergewöhnlich still. Nach der Morgenmahlzeit hatte die Sonne sich endgültig hinter graue Wolkenbänke verzogen und schien die Zeit mit sich genommen zu haben. Die Stunden tröpfelten vorbei. Rana zündete die Leuchter an, stellte sicher, dass Kian und Talin ausreichend Licht in ihrer Ecke hatten, lächelte, als sie ihren Enkel versunken mit dem Wüstenjungen spielen sah. Sie bauten Türme und Häuser und seltsame Fantasiegebäude.
„Dein Einkommen scheint gesichert“, flüsterte sie dem hageren Mann zu, der neben ihr aufragte.
Mein Beschützer, dachte sie amüsiert und gleichzeitig von prickelnder Wärme erfüllt.
„Es sind nur Klötze aus Holz. Ich fertige sie aus Resten. Jomas Kinder haben auch gern mit ihnen gespielt. Die Mädchen wollten am liebsten Tiere. Jungen mögen Blöcke und Wagen.“
„Sem Casall, der Spielzeugmacher“, witzelte sie.
Auf Sems eingefallenen Wangen erschien ein Lächeln. „Kein schlechtes Leben auf meine alten Tage. Ich gehe im Palast ein und aus, habe ein Zubrot gefunden und eine schöne Frau an meiner Seite.“
„So, so.“
„Ich bin ein Glückspilz.“
„Oder ich.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss.
„Nicht vor den Kindern.“
Rana und Sem sahen sich um. Adivs blaue Augen blitzten sie belustigt an. „Macht es wie Sila und Ylaiy. Verzieht euch an einen privateren Ort.“
„Du hast wirklich ein loses Mundwerk“, gab Rana zurück. Ihre Wangen brannten, aber sie blickte Adiv streng an.
„Das hatte sie schon immer“, brummte Etahpe. „Und bevor Ihr ihre Erziehung rügt: Sila steht ihr in dieser Hinsicht in nichts nach.“
„Schweigt, alte Frau.“
Etahpe kicherte. „Wie Ihr meint. Wo ist Eure Tochter noch einmal?“
„Bei Ylaiy“, sagte Kian vom Boden herauf.
Aufstöhnend lehnte Rana ihren Kopf gegen Sems Brust, indes Adiv und Etahpe in Lachen ausbrachen und Akim und Sem erheiterte Blicke tauschten.
„Sie lieben sich“, murmelte Sem. „So ist das einfach.“
„Er hat ihr schon einmal das Herz gebrochen.“
„Diesmal wird es anders. Eine neue Zeit ist angebrochen.“
„Er wird sie wirklich heiraten.“ Fassungslosigkeit tränkte Ranas Stimme.
„Ja“, sagte Adiv. „Der Kaiser ehelicht seine ehemalige Kammerzofe. Verrückt, nicht wahr?“
„Nicht verrückter als alles andere in letzter Zeit.“ Akim stand auf und lockerte die Beine. Plötzlich zuckte er zusammen und fiel zurück auf den Sessel. Alarmiert ruckten die Köpfe der anderen hoch. Im selben Moment stieß Adiv einen Schrei aus und krümmte sich nach vorn, die Hände gegen ihren Leib gepresst, dieweil Kian die Bauklötze aus den Fingern purzelten.
Beunruhigt sahen Rana, Etahpe und Sem sich an, unschlüssig, wem sie zuerst helfen sollten. Dann sprang Etahpe zu ihrer Tochter, Rana hockte sich neben Kian und Sem beugte sich über Akim.
„Es geht schon“, wehrte Akim den Drechsler ab.
„Sicher?“
„Meine Beine fühlen sich ein bisschen weich an und in meinem Kopf surrt und klingelt es. Gleich ist es vorbei.“
„Ihr seht ziemlich blass aus.“
„Schaut nach Kian. Bitte.“
„Und was ist mit dir?“ Etahpe ging vor Adiv in die Knie, strich ihr Locken aus dem Gesicht.
Adiv atmete langsam ein und aus, blies die Wangen auf.
„Musst du dich übergeben?“
„Weiß nicht. Mein Bauch tut weh.“
„Ist es das Kind? Ist dir morgens übel?“
„Nein, das ist das erste Mal. Ich glaube, meine Nase blutet.“ Sie hielt die Hand vor ihr Gesicht. Schleimiges Blut tropfte über sie.
„Beug dich vor“, befahl Etahpe. „Sem, reicht mir die Schüssel, bitte.“
Hastig kippte der Drechsler eine auf einem Tischchen stehende Obstschüssel aus. Winteräpfel polterten zu Boden.
„Kneif dir in die Nasenwurzel.“
„Kneift lieber in ihre kleinen Finger“, empfahl Rana, die Kian herum gerollt hatte und ihm sacht auf die Wangen schlug. „Ardanna erzählte mir davon. Das soll das Blut schneller stoppen.“
„Stimmt“, nuschelte Adiv, ließ ihre Nase los und zwackte in ihre Fingerkuppen.
„Na, so was“, murmelte Etahpe.
„Helft mir mit dem Jungen!“, rief Rana. „Er krampft.“
Etahpe kroch zu ihr. „Sein Atem und seine Hautfarbe normalisieren sich“, konstatierte sie. „Scheint, als verebbe der Anfall.“
Erleichtert sahen die beiden Frauen sich an. Rana faltete Kians kalte Hände und legte sie auf ihren Schoß. „Er wacht auf.“
Etahpe rutschte zurück zu Adiv, die sich zurückgelehnt hatte, nahm ihr die Schüssel aus der Hand und äugte hinein. „Nur ein paar Tropfen.“
„Mir geht es besser“, bestätigte ihre Tochter.
„Ihm auch.“ Sem klopfte auf Akims Rücken.
„Euch ist klar, was das bedeutet?“, fragte Etahpe in die Runde.
„Die Magie ist weg.“ Rana sah die anderen an. „Das war die Quelle. Wie bei Yvains Anfall nach der Kloake, nur nicht so schlimm. Wo ist er?“
„Er wollte lesen“, erwiderte Sem. „Wir sollten nach ihm schauen.“
„Bleib bei deinem Bruder“, sagte Rana zu Akim, rappelte sich auf und warf einen Blick auf Talin. Ihr Enkel spielte mit den Klötzen, als sei nichts vorgefallen. Sie streichelte seine Wange. Mit großen Augen sah er sie an. Sie lächelte, aber er lächelte nicht zurück. Stattdessen legte er einen weiteren Stein auf sein Türmchen.
Eng umschlungen lagen sie im Bett, Ylaiy erhitzt und außer Atem. Besorgt strich Sila über die kreisrunde Narbe auf seiner Brust. Eine weitere zierte seinen Rücken. „Wir müssen achtsamer sein.“
„Hast du Angst um mich?“
„Was soll die Frage? Stellst du mich auf die Probe?“
„Ja, ich prüfe deine Loyalität mir gegenüber. Die Treue zu deinem Gemahl und Kaiser.“ Lächelnd pikte er einen Finger in ihre Hüfte.
„Vielleicht überlege ich mir die Sache noch einmal.“
„Bitte nicht. Rana würde mich umbringen. Danach der Rat.“
„Der war leichter zu überzeugen als meine Mutter.“
„Gut, dass Sem ihr Herz erweicht.“
Beide lachten leise auf. Dann wurde Sila wieder ernst. „Das wird eine gewaltige Aufgabe. Meine Nerven flattern, wenn ich daran denke. Auf dem Thron sitzen. Regieren. Du lieber Himmel!“
Ylaiy nahm ihr Gesicht in die Hände. „Gemeinsam.“
„Geteiltes Leid?“
„Gedritteltes. Yvain ist geboren für dieses Amt.“
„So ziehen wir Talin und Yvain zusammen auf?“
„Und zukünftige Kinder, hoffe ich.“
„Vielleicht löst Yvain dich eines Tages ab. Dann hätten wir Zeit für uns und andere Dinge.“
„Zum Beispiel?“
„Deine Forschungen.“
„Wärst du damit einverstanden? Yvain als Kaiser?“
„Sicher. Du bist ein guter Herrscher, doch dein Herz schlägt nicht dafür. Nicht wie das deiner Mutter.“
„Sie hat viele Opfer gebracht, wurde zur Kaiserin erzogen. Niemand hat sie gefragt, ob das ihr Wille war.“
„Aber du hast die Wahl, so denn Yvain zustimmt.“
„Dann lass uns die Regentschaft für ihn übernehmen, bis er alt genug ist, es allein zu schaffen. Wenn seine Kraft zurückgekehrt ist und er gelernt hat, sich von Macht nicht korrumpieren zu lassen.“
„Und du kümmerst dich um Blands Bibliothek. Um all die Teppiche, Kissenbezüge und Handtücher auf den Speichern. Du glaubst immer noch, in Blands geheimen Schriften steckten die Antworten auf alle Fragen. Und in Paíres begonnenen Aufzeichnungen.“
Er stockte. „Wird sie zwischen uns stehen?“
Sila dachte nach. „Nicht als Feindin.“
„Sie war eine edle Frau, das solltest du wissen. Ein guter Mensch.“
„Hast du sie geliebt?“
„Nicht wie dich.“
„Sie war schlau, nicht wahr? Du mochtest ihren Geist.“
„Ja“, sagte er, mehr nicht.
Sila verstummte für einen Augenblick. „Auch Wissen ist gefährlich.“
„Weniger als Halbwissen, Gerüchte, Aberglauben.“
„Du hast immer noch nicht aufgegeben. Diese Magie treibt dich weiterhin um. Woher sie kommt, was sie bewirkt, wie sie Menschen miteinander verbindet. Die Schicksale, die sie verknüpft.“
„Ich werde mich durch jedes Schriftstück arbeiten. Und reisen, denn nicht alles wurde niedergeschrieben. Das Meiste kursiert mündlich. Begleitest du mich? Wenn Talin älter ist?“
„Hört sich spannender an als ein Leben im Palast. Kein Protokoll.“
„Nur du, ich und unsere Kinder. Rana, wenn du möchtest.“
„Die hat Sem und genug vom Reisen.“
„Glaubst du, sie bleibt hier im Palast?“
„Wo soll sie denn sonst hin?“
„Vanstetten? Mein Aufklärungstrupp hat Evart und Ida auf dem Hof begraben, ganz so, wie du es wolltest. Neben Ivsons Gebeinen. Mein Unterhändler hat das Vieh verkauft, aber die Gebäude und Äcker sind gut erhalten. Rana könnte dort sesshaft werden.“
„Mit all den Erinnerungen? Fern von Talin und zukünftigen Enkeln? Nein, ich glaube nicht, dass sie nach Vanstetten zurückkehren möchte. Auch Sem hat Familie. Sie werden sich hier einrichten. Frag Adiv und Chries, ob sie ein Gut wollen. Oder verlose es an eine arme Sippe. Jemanden, der die Boragha verlassen möchte. Es wäre eine zweite Chance im Leben.“
Ylaiys Gesicht hellte sich auf. „Das Gut ist sogar groß genug für zwei oder drei Familien.“
„Dann haben wir einen Plan.“
„Einen ziemlich guten.“
Es klopfte an der Tür. Ylaiy sah stirnrunzelnd Sila an, die bereits aus dem Bett sprang und ohne Unterwäsche in ihr Kleid schlüpfte. Hastig zog er eine Hose an und warf ein Hemd über, bevor er barfuß zur Tür tapste und sie aufzog.
Yvain. Blass, schmal, an den Türrahmen gelehnt. „Es ist vorbei“, wisperte er.
Ylaiy zog ihn ins Zimmer. „Die Quelle?“
Yvain schlurfte zum Bett und ließ sich sinken.
„Ich sehe nach Kian.“ Sila stürmte aus dem Zimmer. Ylaiy hörte ihre nackten Füße auf dem Flur.
Er betrachtete den Jungen, der stark an Gewicht verloren hatte. Ylaiy wusste, dass er halbe Tage verschlief und nachts ruhelos durch die Gemäuer wanderte. Jetzt starrte er an die Wand, wie so oft. Rana hatte ihm gesagt, er solle Geduld mit ihm haben. Dennoch sprudelte Sorge durch seine Adern, als er die gebeugte, weißhaarige Gestalt sah.
„So haben wir gewonnen?“, fragte Ylaiy.
„Ja“, brachte Yvain mit brüchiger Stimme hervor.
„Das ist doch gut.“
Matt hob Yvain den Kopf und ein Schauer durchfuhr Ylaiy. „Du vermisst die Magie. Du willst sie zurückhaben.“
Für den Bruchteil einer Sekunde schäumte purer Hass in Yvains hellen Augen, dann kehrte der trübe Glanz zurück. „Es schmerzt“, gab er zu. „Mein Geist hungert nach ihrer Kraft. Er verlangt, gefüttert zu werden.“
„Das wird vergehen. Du wirst sie besiegen.“
„Ich will sie nicht besiegen. Ich will mich ihr unterwerfen.“
„Bleib stark. Mit jeder Stunde, die verstreicht, verliert sie ihre Macht über dich.“
„Ich denke immerfort an sie.“
„Dann müssen wir deinen Geist füttern.“ Ylaiy legte dem Vetter den Arm um den Nacken. „Mit Aufgaben und Herausforderungen. Lass uns mit der Planung eines Festes beginnen.“
„Welches Fest?“
„Ein Willkommensfest zur Ankunft unserer Freunde. Ein Freudenfest. Vielleicht eine Hochzeit.“
Der Anflug eines Lächelns erschien in Yvains Augenwinkeln. „Du verlierst keine Zeit.“
„Ich bin selber überrumpelt.“
„Was ist, wenn nicht alle zurückkehren?“ Yvains Finger spielten mit dem geflochtenen Zöpfchen, das an einer Schnur um seinen Hals hing.
„Dann werden wir trauern und die Toten ehren, so, wie wir es immer machen. Doch lass uns hoffen, dass es keine neuen Opfer zu beklagen gibt.“
„Du willst, dass ich bei der Planung helfe?“
„Auch dies gehört zu den Aufgaben eines Kaisers.“
Yvain sah auf die Haarsträhne. „Shesh mochte Feste. Kopf hoch. Das hätte er mir befohlen.“
„Nicht ducken, selbst wenn das Schicksal gerade austeilt. Shesh konnte sehr weise sein.“
Sie schafften es nicht alle. Drei Fraga-í ertranken, bevor sie die Oberfläche erreichten. Ihre Stammesbrüder zogen sie auf den Grat, genau wie die beiden, die beim Sprung gestorben waren. Trauernd hockten sie nun auf dem Plateau, nass und ausgelaugt, mit schmerzenden Lungen und Ohren, ihre Gesichter und Körper gezeichnet von den Ereignissen unter Wasser. Sie lagerten um die Toten, hielten Verletzte in den Armen, musterten ihn und Nou, starrten vor allem auf seine Tochter.
„Ogala“, flüsterte Nou und strich sich über den Hinterkopf, bis sein halblanges Haar das Gesicht bedeckte. Die Fraga-í folgten seinem Beispiel, zogen ihr Haar ins Gesicht, legten die Hände auf ihre Augen. Eine Geste der Anbetung und Unterwerfung gleichermaßen. Ein Dankesgebet. Gillok empfand wie sie. Eine Legende ihres Volkes hatte sie gestreift. Die Kraft des Wesens erfüllte sie. Dennoch fühlte ihr Sieg sich schal an.
„Er war…“, setzte Nou an, doch Worte reichten nicht aus, seine Gefühle zu beschreiben, und so senkte er das Haupt und verstummte wieder.
„Ja“, krächzte Gillok.
„Ich habe ihn gerufen. Nun ist er tot.“
Ciycains Stimme klang traurig und dunkel, rauchig wie die ihrer Mutter. Gillok blickte sie an. Sie schaute zurück, aus dunkelgrünen Augen mit langen Wimpern, in denen Tränen glitzerten. Eine junge Frau, ernst und verletzlich, mit ebenmäßigen Gesichtszügen und schwarzem Haar, das sich hinter den Ohren kräuselte. Die Ähnlichkeit zu Syra war so groß, dass sie beinahe schmerzte.
„Er kam aus freien Stücken.“
„Er war der letzte seiner Art. Einmalig.“
Gillok rutschte zu ihr. „Er ist für uns alle gestorben.“
„Ist sie tot?“ Endlich stellte sie die Frage, vor der sie sich am meisten gefürchtet hatte; die Frage, die er in ihren Augen gelesen hatte, seit sie aus der Ohnmacht erwacht war. Er wischte ihr Tränen aus den Augenwinkeln, dann schüttelte er den Kopf.
Ardanna seufzte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und schaute sich nach einem Platz um, auf dem sie sich ausruhen konnte.
Allmählich leerte sich der Strand. Noch vor wenigen Stunden waren sie und Sphita von Krankenlager zu Krankenlager geeilt, unterstützt von Chries, Falokk und seinen Helfern. Zum Glück gab es kaum Schwerverletzte. Die meisten Sumpfleute waren, nachdem sie ihre Schürfwunden verbunden und ihre verzerrten Gliedmaßen wieder eingerenkt hatte, auf Grasflößen und Booten Richtung Kânegg aufgebrochen, begleitet und geschoben von ihren unverletzten Freunden. Jetzt ruhten nur noch wenige auf den Matten am Strand. Männer und Frauen mit Knochenbrüchen, massiven Prellungen und Nesselgiftwunden, und diejenigen, die auf dem Weg nach oben das Bewusstsein verloren hatten, weil sie zu spät oder zu schnell aufgetaucht waren.
Sie erspähte eine freie Matte am Fuße einer Düne, überzeugte sich, dass Sphita weiterhin fest schlief, bewacht von Chries, der geistesabwesend im Schneidersitz im Sand hockte, den gebrochenen Arm im Schoß. Selbst bis auf die Knochen ausgelaugt, schleppte sie sich zur Grasmatte, schob sie an einen Sandberg und setzte sich aufatmend. Wie unendlich wohltuend es war, nach so vielen Stunden die Beine auszuruhen. Rücken und Kopf gegen die Düne lehnend, schloss sie die Augen.
Mehrere Minuten saß sie so, dämmernd im Sternenlicht, das von den Wellen millionenfach reflektiert wurde. Schließlich vernahm sie Schritte, leise, behutsam, zögernd. „Kann ich etwas für Euch tun?“, sprach sie freundlich und öffnete die Augen einen Spalt.
„Es kann warten“, sagte Gillok. „Ihr habt Euch Eure Ruhe wahrlich verdient. Verzeiht, dass ich Euch störte.“
„Schon gut.“ Sie klopfte einladend auf den Boden. „Solange ich sitzen bleiben darf und Euch der Sand recht ist. Falokks Matten sind zu schmal für uns beide.“
Nach einem erneuten Zaudern ließ er sich neben ihr nieder.
„Ein schlimmer Tag für Euch, nicht wahr?“, fragte Ardanna.
„Es gab schon bessere.“
„Habt Ihr Beschwerden?“
Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken „Nein, es geht mir gut. Unglaublich nach all dem.“
„So seid Ihr gekommen, um nach Eurer Gefährtin zu fragen.“
„Ihr könnt Gedanken lesen.“
„Genauso gut wie Ihr selbst. Habt Ihr sie gesehen?“
„Kurz. Da schlief sie Arm in Arm mit Ciycain.“
„Chries sagt, Falokk und seine Männer hätten ihre Sache gut gemacht. Im Handumdrehen hatten sie eine Rutsche mit Leinen daran gebaut. Sie zogen Syra schneller den Krater hoch als der Abstieg zu uns dauerte. Seine Helfer sind ältere Männer aus Yanois, doch sie klettern wie Bergziegen, selbst wenn sie nebenbei eine verletzte Frau auf einer Trage ziehen. Chries kam kaum hinterher.“
„Natürlich wollte sie lieber laufen.“
„Erstaunlicherweise nicht. Ob das an Falokks Autorität oder ihren Verletzungen lag, bleibt offen.“
„Geht es ihr gut?“
„Sie ist immer noch ziemlich unterkühlt, aber nicht lebensbedrohlich. Ich habe ihre Wunden behandelt und ihr zur Ruhe geraten. Abgesehen davon kann ich nicht viel tun.“
„Was ist mit ihrem Geist? Mit Nachwirkungen? So etwas geht doch nicht spurlos an einem vorüber.“
„Ihr Verstand scheint unbeschadet und ihr Körper wird sich erholen. Ich befürchte keine langfristigen Schäden, außer vielleicht für ihr Gehör und ihre Augen. Sie wechseln manchmal noch die Farbe. Ihre Gefühle sind eine andere Sache. Ihr werdet abwarten müssen. Sie wird das alles verarbeiten, genau wie Eure Tochter. Es braucht so seine Zeit.“
„Wo ist sie jetzt?“
Ardanna zog die Nase kraus. „Ich sah sie mit Ciycain sprechen. Das war vorhin irgendwann.“
„Dann werde ich Ciycain fragen.“
„Viel Glück, Gillok. Und gönnt Euch Ruhe. Ihr habt auch einigen Schrecken durchgestanden.“
Er lächelte ihr zum Abschied zu und ging zu seiner Tochter. Sie saß am Ufer, zwinkerte schläfrig, als sie ihn sah. Das Strahlen, das unter Wasser von ihr ausgegangen war, schien endgültig erloschen.
Er beugte sich zu ihr hinunter. „Geht es dir besser?“
„Erschöpft. Als die Magie verebbte, war es, als flösse alle Kraft aus mir heraus und mit ihr meine Eingeweide. Ich fühle mich leer.“
„Dann werde ich bei dir bleiben.“
„Nein, geh schon. Geh sie suchen. Ich komme zurecht. Nou wollte mir Gesellschaft leisten, aber mir ist nicht nach Reden. Ich brauche ein bisschen Zeit, um zu mir zu finden.“
Er schaute in ihr Gesicht. Es wirkte unsäglich traurig. Immerhin hatte die Ruhe ihre Haut wieder geglättet und ihr eine Spur ihrer natürlichen Farbe zurückgegeben. „Ruf mich, wenn du mich brauchst.“
Ciycain lächelte müde. „Sie wollte ein Stück laufen. Ist hinter dem Vorsprung dort hinten verschwunden. Ich hoffe nur, sie versucht nicht, auf einen Baum zu klettern.“
„Gut. Vielleicht bringe ich sie mit.“
„Das hat keine Eile. Lass ihr Zeit. Lasst euch Zeit.“
„Du sprichst immer noch nicht wie ein Kind“, sagte er kopfschüttelnd.
„Ihr seid auch nicht gerade die alltäglichsten Eltern auf dieser Welt.“
Darüber musste er schmunzeln. „Wir geben unser Bestes.“
„Ich weiß“, versicherte sie ihm und gab ihm einen Schubs. „Nun geh schon.“
Sie stand im seichten Uferwasser, die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick auf den Ozean gerichtet. Der Verband um ihren Arm leuchtete weithin.
Er erinnerte sich an ihre zerrissenen Trommelfelle und stapfte laut in ihre Richtung. Steif wandte sie sich um und sah ihm entgegen. Das Korsett um ihre Körpermitte ließ sie unbeholfen wirken. Ihr Antlitz studierend, trat er näher. Sie wirkte friedlich und entspannt.
„Schon wieder nasse Füße?“
„Ich dachte, wenn ich lange genug darin stehe, wird es vergehen. Aber ich kann einfach nicht weiter hinein.“ Erstaunen schwang in ihren Worten mit.
„Soll ich dich werfen?“, flachste er.
„Ich werde auf einem Boot übersetzen müssen.“
„Deine Rippe würde dir das Schwimmen sowieso übel nehmen.“
„Es ist nur eine Rippe. Du hast mein Leben gerettet.“ Ihre Augen versenkten sich in seine.
„Du kennst das doch. Du bringst dich in Schwierigkeiten, ich hole dich heraus. Meine Lebensaufgabe.“
„Anstrengend, hm?“
„Irgendwann muss es genug sein.“
Ihre Zungenspitze spielte mit ihrer Oberlippe, als sie zur Seite sah. „Ich verstehe.“
Er trat auf sie zu und hob ihr Kinn. „Am’are. Ich liebe dich. Aber diese ständige Angst um dich …“
„Ich kann auf mich aufpassen.“
„Du bist heute gestorben. Du warst tot. Begreifst du das? Begreifst du, was das mit uns macht? Mit Ciycain und mir?“
Statt einer Antwort wandte sie den Kopf erneut dem Wasser zu.
„Lass uns heimgehen. Bitte.“
„Wohin?“
„Nach Yanois.“
„Das geht nicht.“
„Natürlich. Es ist deine Heimat.“
„Aber nicht die deine.“
„Meine Heimat ist bei dir. Wir können uns eine Hütte am Wasser bauen. In der kleinen Bucht. Ciycain und ich hätten das Meer, du deine Ruhe, wenn dir das Dorf zu viel wird.“
Sie zog die Stirn kraus. „Sie haben mich verstoßen.“
„Sie haben dich aus der Quelle befreit und dir das Leben zurückgegeben. Das sollte als Wiedergutmachung genügen.“
„Sie sind Ciycain gefolgt, aber nicht mir.“
„Sie sind Ciycain gefolgt, weil sie ihnen von dir erzählt hat. Von einer Frau, die mutig genug war, es mit allen Feinden aufzunehmen. Einer Frau, die beschlossen hatte, zu kämpfen, anstatt sich weiter zu verstecken.“
„Hör auf.“
„Falokk ist alt. Er braucht einen Nachfolger. Eine Nachfolgerin.“
Sie hob die Hand gegen den Redestrom, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. „Du stammst von dort, Falokk ist ein entfernter Verwandter, du hast die Fraga-í befreit.“
„Wahai’tta! Ich habe keinen einzigen Sumpfmenschen befreit.“
„Dein Volk sieht das anders.“
„Mein Volk?“
„Du bist die, die es führen sollte.“
Regungslos starrte sie ihn an. „Bist du verrückt geworden?“
Gillok ergriff vorsichtig ihren Arm. „Sie wollen dich.“
„Ich will nicht.“
„Du bist losgegangen, damals. Um Bada zu retten. Du hast alles in Bewegung gesetzt. Als sie das verstanden hatten, folgten sie dir. Und natürlich ist es eine Entschuldigung.“
„Ich brauche keine Entschuldigung“, sagte sie. Aber ihre Stimme brach, als sie die Worte sprach. Sie wandte den Kopf ab und schluckte krampfhaft.
Gillok seufzte. „Ich möchte gehen. Nach Yanois. Mit dir und Ciycain.“
Sie starrte auf das Wasser, eine Statue im Mondlicht. Er betrachtete ihr Gesicht, in dem die Wangenknochen mahlten wie so oft, wenn sie nachdachte oder ihre Gefühle zu verdrängen suchte, versank in ihren Anblick, schreckte auf, als sie plötzlich wieder zu sprechen anfing.
„Ich will eine Hütte auf einem Baum.“
„Was?“
„Meinetwegen können wir auch eine Hütte am Wasser haben, aber ich möchte eine auf einem Baum. Eine für mich. Ich brauche eine Zuflucht. Manchmal. Das ist meine Bedingung.“
Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Nur die eine?“
„Sie soll oben sein. Nicht unten. Ich will etwas oben.“
„Oben. Sicher.“
„Oben“, wiederholte sie. „An der Luft, verstehst du? Nicht unter der Erde. Nicht unten. Oben. Nicht ...“
„Eine Hütte oben. Ich habe verstanden.“ Behutsam zog er sie an sich. Ihr Gesicht war fahl geworden und ihre Augen glasig. Er begriff, dass der Schock sie einholte, sah, dass das Begreifen einsetzte, ihre Verdrängungsmechanismen zusammenbrachen, Hysterie und Panik sie überfluteten.
„An der Luft. Draußen. Nicht drinnen. Nicht unten. Nicht im Dunkeln. Nicht unter das Wasser. Nicht nach unten.“ Ihre Stimme wurde heiserer. Sie sprach schneller und atmete heftiger, verschluckte sich.
„Ich weiß, ich weiß“, murmelte Gillok. „Ich verstehe, Syra. Oben. Dort, wo die Luft ist. Hier ist Luft. Jede Menge Luft. Kein Wasser. Du kannst atmen. Einfach atmen, Syra.“
Ihre Arme trommelten gegen seine Brust, während sie, nach Luft ringend, immer wieder dieselben Satzfetzen wiederholte. Gillok hielt sie fester, raunte beruhigende Worte in ihre Ohren, bis ihr Gestammel sich in tiefes Schluchzen verwandelte und sie so viel Luft einsog, dass ihr schwindelig wurde. Gillok wusste sich nicht anders zu helfen, als sich auf den Boden zu setzen und sie auf den Schoß zu ziehen, bevor ihre Beine wegknickten.
Dort saßen sie, Syra auf ihm zusammengekauert, sich den Nachwehen des jüngsten Schreckens ergebend. Er wiegte sie sanft hin und her, streichelte sie, lehnte sie an sich und ließ sie weinen. Seine Beine wurden steif, sein Gesäß ebenfalls, aber er hielt sie an sich gedrückt und war auf eine vollkommen unangemessene Art und Weise glücklich.
Irgendwann, weit in der Nacht, spürte er plötzlich ihre Lippen auf seinen. Er küsste sie zurück, wild und verlangend, küsste ihre salzigen Wangen, die dünne Narbe unter ihrem Auge. Sie hielt die Augen geschlossen, beugte den Kopf zurück. Er fuhr mit den Fingern unter ihre Kleidung, während er gleichzeitig an ihrer Halsbeuge saugte.
Es war anders diesmal. Er spürte es an ihrem Atem, der stoßweise in den Nachthimmel stieg und zunehmend heftiger wurde, an der Art, wie sie ihren Körper an seinen schmiegte, als wolle sie jeden Zentimeter ihrer Haut mit seiner verschmelzen lassen.
Eine Erinnerung überspülte ihn, ungewollt und pikend wie die Steine im Krater. Syra und er im Meer vor Yanois, ihr kurzes Liebesspiel im kühlen Wasser. Auch damals war sie traurig gewesen, verletzt von der Verbannung, verstört von seinem Bericht. Sie hatte sich nicht gewehrt, dennoch war er hinterher von Schuldgefühlen übermannt worden. Deshalb hielt er inne.
Sie öffnete die Augen und sah ihn fragend an.
„Bist du sicher?“, flüsterte er.
„Wegen dem hier? Absolut.“
Er bekam kaum mit, wie sie sich ihrer Kleider entledigten, spürte nur ihre Finger und ihre Lippen auf seiner Haut. Es dauerte nicht lange, bis er in den Sand zurückfiel und sie auf sich zog.
Es dauerte unendlich viel länger als damals im Wasser und es war unendlich befriedigender, auch wenn der Verband um ihren Leib sie beide einschränkte. Nachdem sie mit einem letzten Aufstöhnen auf ihm zusammengesunken war, spürte Gillok dem Zucken ihres Körpers nach, lauschte auf ihren galoppierenden Herzschlag und genoss die träge Schläfrigkeit, die sie kurz darauf beide einlullte.
„Sie denken über einen neuen Namen für dich nach“, sagte er leise.
Ihre Hände hörten auf, ihn zu streicheln, und er fühlte, wie Einsamkeit sich in ihm breitmachte.
„Ich auch. Ich nehme den, den du mir gabst.“
Er lächelte. „Mittlerweile nennen dich sowieso alle so.“
„Syra klingt ja auch schöner.“
„Dann kommst du mit uns?“
„Dachtest du, dass ich ewig durch die Sümpfe streiche?“
„So was in der Art.“
„Hin und wieder werde ich das tun.“
„Hin und wieder ist das kein Problem. Was ist mit dieser Anführersache?“
„Ich glaube nicht, dass ich die Richtige bin.“
„Falokk wird enttäuscht sein. Andere auch.“
„Und einige erleichtert. Herad zum Beispiel.“
„Das ist wahr. Also erst einmal Yanois?“
„Erst einmal, ja.“
Jonoy unterdrückte ein Rülpsen und strich sich über den Bauch.
„Satt?“, fragte Jula mit geschlossenen Augen.
„Das kann man wohl sagen.“
„Ihr esst zu viel.“
„Ein echter Mann braucht mehr als eine Handvoll Datteln.“
„Irgendwann wird die Hängematte Euch nicht mehr tragen.“
„Seid still, Bohnenstange.“
Jula grinste, ohne die Augen zu öffnen. „So wollt Ihr keine Neuigkeiten hören?“
Jonoys Kopf ruckte zur Seite. „Habt Ihr Akim getroffen?“
„Vor einigen Tagen. Kian und er suchten mich in Puard auf.“
Jonoy versuchte, sich mit den Ellenbogen auf der schaukelnden Unterlage aufzustützen. „Ging es ihnen gut?“
„Beide waren wohlauf. Sie kamen aus Perth zurück, waren auf dem Weg nach Ranand.“
„So reisen sie gemeinsam.“
„Im Moment arbeiten sie für mich. Die beiden sind ein gutes Gespann. Akim überlegt aber, Kian zu seinem Onkel in die Ausbildung zu schicken.“
„Zu dem Viath? Er kann Kian nicht in diesem Dorf versauern lassen.“
„Es ist noch nicht in Stein gemeißelt. Jol hat eigene Söhne, die in seine Fußstapfen treten möchten. Kian selbst zeigt wenig Begeisterung für die Aufgaben eines Dorfältesten.“
Jonoy lachte auf. „Dabei sollte er die Madif anführen.“
„Ein Schamane wie Chada wird er auch nicht. Seine magischen Kräfte sind verschwunden, ein Großteil seiner außergewöhnlichen Sinne ebenso. Akim hingegen ist immer noch ein ausgezeichneter Fährtenleser.“
„Veranlagung und eine harte Ausbildung. Man muss nicht magisch begabt sein, um Besonderes zu erreichen.“
„Das wohl nicht“, räumte der Einäugige ein und rekelte sich in eine bequemere Lage.
„Habt Ihr immer noch vor, ihm die Karawanserei zu vermachen?“
„Das Angebot steht. Bislang hat er weder zugesagt noch abgelehnt.“
„Er ist sehr jung, vergesst das nicht. Lasst ihn nachdenken.“
„So viel Zeit habe ich nicht mehr.“
„Unsinn, alter Freund!“ Lachend schlug Jonoy ihm auf die Schulter. „Ein paar Jährchen sind uns noch vergönnt. Akim und Kian werden ihren Weg finden. Jetzt sind sie bei ihrer Mutter. Wahrscheinlich unterhält Kian sie und die Dorfbewohner abends mit Abenteuergeschichten.“
„Ich weiß nicht. Er wirkte stiller als zuvor, ernster und in sich gekehrter. Wie sein schweigsamer Bruder.“
„Ist er weiter gewachsen?“
„Nein. Er sieht aus wie im Winter.“
„Den Göttern sei Dank! Immerhin das. Und sein Naturell kehrt wieder, vertraut mir. Akim ist zugegeben anders.“
„Ein einsamer Wüstenwolf.“
„Er hat viel zu verarbeiten.“ Jonoy verstummte und sah in den blauen Himmel, der zwischen dem Blätterdach hervor blitzte.
„Die Normalität wird ihm guttun. Ein gewöhnliches Leben.“
Jonoy ächzte, als er sich bewegte. „Wie unsere?“
„Wir sind alte Männer. Ruhen und Nichtstun wird von uns erwartet.“
Jonoy grinste. „Ich gebe zu, es fällt mir leichter als gedacht.“
„Ihr seid steinalt. Lasst Euren Lehrling nur machen.“
Mit zusammengekniffenen Augen beobachteten sie Mehlau, der, einen Korb mit Holzkohle auf dem Rücken, just in diesem Augenblick an ihnen vorüberging. Stumm warteten sie, bis er die Kohle in die essha gekippt und den Korb wieder geschultert hatte.
„Streng genommen ist er nicht mehr mein Lehrling“, brummte Jonoy. „Er ist erwachsen und sein eigener Herr.“
„Und beliebt bei den Frauen, scheint es.“ Mit einem Kopfnicken wies Jula auf Mehlau, der soeben einen Krug Wasser aus der Hand einer dunkelhaarigen Dorfschönheit nahm, sie anlächelte, den Krug an die Lippen setzte und mit langen Zügen trank.
Jonoy grinste. „Elbene. Cianas jüngere Schwester.“
„Was ist mit der älteren Schwester? Warb er nicht um sie?“
„Ciana betrachtet ihn als Freund aus Kindertagen, mehr nicht. Sein Herz war tagelang gebrochen. Zum Glück hat er sich einen Ruf als Abenteurer erworben, den er sorgfältig pflegt. Er kann sich vor Bewunderinnen kaum retten.“
Jula schmunzelte. „Ein Held.“
„Er ist ein guter Junge. Schaut Euch um! Er hat die Schmiede fast völlig wieder aufgebaut. Noch wagt er sich nicht an echtes Handwerk, aber das wird schon. - Brachte Akim Nachricht von den anderen?“
„Vom Palast und aus dem Haus der Heilerin.“
„Wirklich?“, rief Jonoy erfreut und rappelte sich in eine etwas aufrechtere Lage. „So sprecht!“
„Wo soll ich anfangen?“
„Beim Kaiser.“
„Es geht ihm gut. Er regiert, bildet seinen Schützling aus, hat seine Familie um sich. Forscht, wann immer seine Geschäfte ihm Zeit lassen.“
„Was ist mit der Boragha?“
„Unter Kontrolle, die Quelle weiterhin unter Verschluss. Dieser junge Mann befehligt die neuen Truppen, die der Kaiser dorthin entsandte.“
„Chries.“
„Ja. Akim berichtete, dass der Kaiser plane, moderne Gebäude auf den platt gewalzten Berg zu setzen. Hohe, wuchtige Gebäude.“
Jonoy strich mit dem Zeigefinger über seine buschigen Brauen. „Kloake, K’yr, brandneue Häuser. Mehr Schutz geht wirklich nicht. Was ist mit den Majestes?“
„Einige starben, einige blieben und fügten sich ein, einige flohen. Der Kaiser vermutet Nester auf Kaadaa, Kânegg und Staleph. Bislang sind sie keine Gefahr.“
„Völlige Sicherheit werden wir wohl nie haben. Wie mit der Meeresquelle. Zum Glück fiel Ylaiy ein, dass Lebewesen irgendwann verrotten, auch wenn es sich um einen halben Ozean Glibbergetier handelt. Ich habe keine Ahnung, wie wir diese Quelle verschlossen halten sollen, setze jedoch auf Ylaiys Verstand. Und auf den seines neuen Rats.“
„Akim erzählte von einigen Plänen. Felsen aus Steinbrüchen, die Insel absperren ... Unausgegorene Ideen, doch ein bisschen Zeit ist ja noch. So schnell verwesen die Meeresungeheuer wohl nicht. Ihr könnt den Kaiser ja selbst befragen, wenn Ihr zu seiner Hochzeit reist. Wann? Im Herbst?“
„Wenn die Sommerhitze vorüber ist, machen wir uns auf den Weg. Ylaiy empfängt uns gleichzeitig als Freunde und Gesandte.“
„Ihr sitzt in seinem Rat?“
„Als Sonderbeauftragte. Er will Botenstrecken zu allen Inseln einrichten.“
„Auch zu den Sumpflingen?“
„Es gibt bereits Poststrecken nach Fedaj. Ciycain und Gillok könnten regelmäßig eine der Stationen ansteuern.“
„Kommen Eure Sumpffreunde zur Hochzeit?“
„Davon gehe ich aus. Mhm, von dem Festbankett träume ich jetzt schon.“ Genießerisch fuhr Jonoy sich mit den Händen über den fassartigen Leib.
„Ihr seid unverbesserlich“, brummte Jula und schob einen Dattelkern mit der Zungenspitze in die andere Wangentasche. „Habt Ihr von ihnen gehört?“
„Wenig. Sie leben zurückgezogen wie eh und je. Ich denke, dass es ihnen in Yanois gut geht. Die Aussöhnung zwischen Syra und ihrem Volk ist bestimmt nicht einfach, aber sie ist nicht mehr dieselbe Frau, die einst aufgebrochen war. Ich glaube, sie sehnt sich nach Frieden. - Aber berichtet weiter! Was ist mit Adiv, Ardanna und Etahpe?“
„Die alte Diebin lebt weiterhin in der Boragha, kümmert sich um die Magiekranken und viele Häftlinge. Gemeinsam mit diesem jungen Arzt.“
„Vouker? Ardannas Assistent?“
„Der, ja. Die Heilerin ist zurück in ihrem Haus. Die schlimmsten Fälle aus der Boragha hat sie in ihr Spital verlegen lassen. Hin und wieder reist sie mit ihrer Tochter nach Kaadaa, um Medikamente und andere Sachen zu liefern und nach dem Rechten zu schauen. Sie und dieser Vouker erforschen die Auswirkungen der Magie, schreiben Abhandlungen.“
„Ohne Adiv?“
„Die ist ziemlich schwanger. Beide Mütter und ihr Mann haben ihr ewig zugesetzt, bis sie nach Perth zurückkehrte. Wenn Ihr zur Hochzeit reist, dürfte das Kind bereits auf der Welt sein.“
„Sagt nicht immer Ihr, Jula, sagt wir.“ Jonoy zwinkerte den Wüstenfuchs von der Seite aus an. „Ihr kommt natürlich mit, alter Freund, schließlich gehört Ihr zu uns. Aber bis dahin haben wir noch viel Zeit, einfach nichts zu tun.“
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Kapitel: | 76 | |
Überschriften: | 7 | |
Sätze: | 15.616 | |
Wörter: | 136.851 | |
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