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| Kapitel: | 2 | |
| Sätze: | 186 | |
| Wörter: | 1.751 | |
| Zeichen: | 10.531 |
Es regnete an jenem Dienstag im November, als Leo das Paket fand. Nicht der gewöhnliche Berliner Nieselregen, der sich durch die Straßen zieht, sondern ein seltsamer, vertikaler Regen, der aussah, als würde die Erde zu einem riesigen Nudelsieb umfunktionieren.
Leo war fünfundzwanzig Jahre alt, 1,55 Meter groß (was, wie seine Mitbewohnerin Sabine gerne betonte, "die perfekte Höhe für Flugzeugsitze und nichts anderes" war), und arbeitete in einem Plattenladen namens "Vinyl Dreams", wo niemand mehr Platten kaufte. Sein Chef, ein siebzigjähriger Mann namens Herbert, der aussah wie eine Mischung aus Einstein und einem verärgerten Gartenzwerg, bestand darauf, dass die Rettung des Geschäfts "jederzeit kommen könnte".
"Vielleicht morgen", sagte Herbert jeden Abend beim Abschließen.
"Vielleicht", antwortete Leo, der es nicht übers Herz brachte, ihm zu sagen, dass morgen wahrscheinlich genauso aussehen würde wie heute: leer, staubig, voller Jazz-Alben, die niemand wollte.
Das Lagerhaus hatte Leo vor drei Monaten entdeckt. Oder vielleicht hatte es ihn entdeckt – bei solchen Dingen war Leo sich nie ganz sicher, was vermutlich an seinem chronischen Mangel an Orientierungssinn lag. Es stand am Rand von Kreuzberg, zwischen einem türkischen Supermarkt und einer verlassenen Autowerkstatt. Niemand ging dort hin. Niemand außer Leo. Und manchmal eine dreifarbige Katze, die ihn ansah, als wäre er eine mittelmäßige Fernsehserie – nicht gut genug, um begeistert zu sein, aber interessant genug, um weiterzuschauen.
An jenem Dienstag saß die Katze auf einem rostigen Metallregal und beobachtete ihn mit kritischer Miene.
"Du siehst heute besonders urteilend aus", sagte Leo zu ihr.
Die Katze blinzelte langsam. Das war ihre Art zu sagen: Du hast eine Nudel im Bart.
Leo fuhr sich schnell über das Kinn. Keine Nudel. Aber auch kein richtiger Bart. Nur der spärliche Flaum, den das Testosteron ihm nach zwei Jahren gnädigerweise geschenkt hatte. Es war mehr "jugendlicher Versuch" als "maskuline Würde", aber Leo nahm, was er kriegen konnte.
Dann sah er das Paket.
Es lag auf dem Boden, zwischen Glasscherben und einer erstaunlich gut erhaltenen Ausgabe der Bild-Zeitung von 1987 ("SENSATION: Mann beißt Hund!"). Klein. In Plastik eingeschweißt. Es sah aus, als hätte es schon immer dort gelegen.
Leo hob es auf.
Die Katze miaute. Ein Warnlaut ?
"Ich weiß", sagte Leo. "Aber weißt du, was mein Therapeut gesagt hat? Ich soll mehr Risiken eingehen. Neue Erfahrungen machen."
Die Katze sah ihn an, als würde sie sagen: Dein Therapeut meinte wahrscheinlich einen Tanzkurs, nicht das Öffnen suspekter Pakete in verlassenen Lagerhäusern.
"Du hast wahrscheinlich Recht", sagte Leo. Und öffnete es trotzdem.
Im Paket: Fotos von Menschen, die er nicht kannte und die alle aussahen, als hätten sie gerade schlechte Nachrichten erhalten. Eine Zahlenreihe, die nach einer Telefonnummer aussah, es aber definitiv nicht war, es sei denn, jemand hatte ein Telefon mit siebenundzwanzig Ziffern erfunden. Und eine kleine schwarze Pistole, die in dem schwachen Licht glänzte.
Leo starrte die Waffe an.
"Okay", sagte er laut. "Das ist offiziell die seltsamste Woche meines Lebens. Und letzte Woche bin ich in der U-Bahn in einen Mann gelaufen, der einen lebenden Hahn spazieren führte."
Die Katze sprang vom Regal und bewegte sich zur Tür.
"Wohin gehst du? Wir sind mitten in einer Krise!"
Die Katze drehte sich um und sah ihn an, als würde sie sagen: Deine Krise. Nicht meine.
Dann verschwand sie durch ein Loch in der Wand.
Leo stand allein da, mit einem Paket voller Dinge, die definitiv nicht ihm gehörten und die definitiv zu Problemen führen würden.
Er tat das einzige Logische: Er steckte es in seine Tasche und verließ das Lagerhaus.
Marcus Wolff war fünfzig Jahre alt, 1,91 Meter groß, und hatte in seinem Leben siebenunddreißig Menschen getötet. Er hatte sich die Zahl vor drei Jahren aufgeschrieben, während er betrunken war, und sie in eine Schublade gelegt. Seitdem weigerte er sich, nachzuzählen, weil er befürchtete, sich verzählt zu haben, und das wäre peinlich.
Er saß seit zwei Stunden in einem schwarzen Mercedes gegenüber einem verlassenen Lagerhaus und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht auch nur auf das Ende seiner Thermoskanne Kaffee, den er mit zu viel Zucker getrunken hatte, weil er vergessen hatte, dass er seit drei Jahren versuchte, gesünder zu leben.
Das funktionierte nicht besonders gut.
Dann kam der Junge.
Klein. Dunkle Kleidung. Eine Tasche über der Schulter, die zu groß für ihn aussah. Er bewegte sich wie jemand, der versuchte, unsichtbar zu sein.
Marcus beobachtete, wie der Junge aus dem Lagerhaus kam. Schneller als er reingegangen war. Die Tasche sah schwerer aus.
"Oh nein", murmelte Marcus. "Er hat es gefunden."
Das war nicht Teil des Plans gewesen. Der Plan war gewesen: Paket verstecken, drei Monate warten, Kontaktperson abholen lassen, Beweise an die richtigen Leute geben, vielleicht ins Zeugenschutzprogramm gehen und in einem verschlafenen Dorf in Bayern Bienen züchten.
Bienen waren einfach. Bienen stellten keine Fragen.
Aber natürlich kam die Kontaktperson nie an, weil sie vor zwei Wochen tot in einem Hotelzimmer gefunden worden war, und jetzt hatte ein zufälliger kleiner Typ mit schlechtem Timing das Paket.
Marcus startete den Motor.
Der Junge ging schnell. Marcus folgte ihm langsam.
Das war seine Spezialität gewesen: langsames, geduldiges Verfolgen. Wie eine sehr große, sehr gefährliche Schildkröte
Leo spürte das Auto, bevor er es sah. Das war eine Fähigkeit, die er in Berlin entwickelt hatte – ein siebter Sinn für "Dinge, die mir folgen und mich wahrscheinlich umbringen wollen". Meistens waren es Straßenbahnen. Heute war es ein Mercedes.
Er drehte sich um.
Scheinwerfer. Der Regen machte sie zu verschwommenen Kreisen aus Licht und blendeten ihn.
Leo ging schneller. Seine kurzen Beine bedeuteten, dass "schneller gehen" für ihn eher "aggressives Trippeln" war, aber er gab sein Bestes.
Das Auto folgte ihm weiter.
Leo bog in eine Gasse ein. Die Gasse roch nach nassem Karton. Oder vielleicht nur nach Müll. Schwer zu sagen.
Das Auto hielt. Eine Tür öffnete sich. Schritte.
Leo drehte sich um und dachte kurz daran zu rennen. Dann erinnerte er sich daran, dass seine Kondition hauptsächlich aus "drei Treppen steigen und dann fünf Minuten schwer atmen" bestand.
Der Mann war... groß.
Sehr groß.
"Du hast etwas gefunden", sagte der Mann.
Seine Stimme war tief. Die Art Stimme, die in Filmen "und dann explodierte alles" ankündigte.
Leo überlegte kurz zu lügen. Aber er war ein schrecklicher Lügner. Einmal hatte er versucht, Sabine zu sagen, dass er ihre selbstgemachte Lasagne mochte und sie hatte sofort gewusst, dass er log, weil seine linke Augenbraue anfing zu zucken.
"Vielleicht", sagte Leo.
"Das Paket", sagte der Mann. "Aus dem Lagerhaus."
"Okay, hypothetisch gesprochen – wenn ich zufällig über ein Paket gestolpert wäre, und hypothetisch würde dieses Paket eine Waffe enthalten, würden Sie mir dann erklären, warum jemand Waffen in verlassenen Lagerhäusern versteckt? Weil das erscheint mir als äußerst ineffiziente Lagermethode."
Der Mann starrte ihn an.
Leo starrte zurück.
"Wie heißt du?", fragte der Mann schließlich.
"Leo. Und bevor Sie fragen: Ja, wie das Sternzeichen. Nein, ich identifiziere mich nicht damit. Ich bin ein Skorpion."
"Ich habe nicht vor, nach deinem Sternzeichen zu fragen."
"Oh. Gut. Das wäre auch komisch gewesen."
Der Mann rieb sich die Schläfen, als hätte er plötzlich Kopfschmerzen. "Ich bin Marcus."
"Hallo, Marcus. Schön, Sie kennenzulernen. Normalerweise treffe ich neue Leute in weniger bedrohlichen Kontexten. Zum Beispiel in Supermärkten. Oder Zahnarztwartezimmern."
"Ich habe das Paket vor drei Monaten dort versteckt", sagte Marcus. "Jemand sollte es abholen. Diese Person ist wohl tot."
"Oh." Leo schluckte. "Das tut mir leid."
"Mir auch. Sie schuldete mir noch zwanzig Euro."
War das... ein Scherz? Leo konnte es nicht sagen. Marcus' Gesicht war wie eine Steinmauer.
"Was ist in dem Paket?", fragte Leo.
"Beweise gegen sehr böse Menschen."
"Wie böse? Auf einer Skala von 'falsch geparkt' bis 'völkermörderisch'?"
"Menschenhandel."
"Ah. Das ist... definitiv am oberen Ende der Skala."
Marcus trat einen Schritt näher. Leo trat instinktiv einen Schritt zurück und stieß gegen die Wand.
"Du bist klein", stellte Marcus fest.
"Wow. Wirklich? Ich hatte keine Ahnung. Danke, dass Sie das erwähnen. Mein ganzes Leben ist jetzt neu kontextualisiert."
Marcus blinzelte. Dann – und Leo hätte schwören können, dass er es sich einbildete – zuckte sein Mundwinkel. Nur eine Millisekunde. Aber es war da.
"Du hast Humor", sagte Marcus.
"Es ist eine Abwehrstrategie. Wenn ich Witze mache, kann ich nicht schreien."
"Funktioniert es?"
"Nicht wirklich. Ich schreie innerlich die ganze Zeit."
Marcus seufzte. Es war ein tiefes, langes Seufzen.
"Hör zu, Leo. Ich brauche das Paket zurück. Aber wenn du es mir jetzt gibst, werden die Leute, die mich suchen, dich trotzdem finden. Sie werden denken, dass du mehr weißt, als du tust."
"Und wenn ich es nicht gebe?"
"Dann werden sie dich definitiv finden."
"Das sind beides schlechte Optionen."
"Willkommen in meinem Leben."
Leo sah ihn an. Marcus hatte dunkle Augen mit goldenen Flecken, wie kleine Funken in einem Feuer, das fast ausgegangen war. Es gab Falten um seine Augen. Narben an seinen Händen. Er sah aus wie jemand, der zu viel erlebt hat.
"Was schlagen Sie vor?", fragte Leo leise.
"Morgen früh. Zehn Uhr. Das Café mit den roten Stühlen, Oranienstraße. Kennst du es?"
"Ja. Da machen sie guten Kaffee und schlechte Croissants."
"Genau das. Bring das Paket mit. Wir reden."
"Und dann?"
"Dann entscheiden wir, wie wir beide überleben."
Marcus drehte sich um und ging zurück zu seinem Auto.
"Marcus!", rief Leo.
Marcus hielt inne.
"Die Katze im Lagerhaus. Die dreifarbige. Kennen Sie die?"
Marcus drehte sich um "Sie war da, als ich das Paket versteckt habe. Hat zugesehen. Sehr kritisch. Als hätte sie bessere Verstecke vorschlagen können."
Leo lachte. "Sie ist so."
"Hat sie einen Namen?"
"Ich nenne sie Sensei. Weil sie aussieht, als würde sie über die Geheimnisse des Universums nachdenken. Oder über Thunfisch. Schwer zu sagen."
Marcus lächelte. Wirklich lächelte. Es verwandelte sein ganzes Gesicht.
"Sensei", wiederholte er. "Das passt."
Dann war er weg.
Leo stand allein in der Gasse, durchnässt, mit einem gestohlenen Paket und dem seltsamen Gefühl, dass sein Leben gerade eine Richtung eingeschlagen hatte, die definitiv nicht in seinem Fünfjahresplan stand.
Sein Fünfjahresplan war hauptsächlich: "Nicht sterben, vielleicht eine Katze adoptieren."
Das lief nicht gut.
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