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Kapitel: | 8 | |
Sätze: | 765 | |
Wörter: | 11.574 | |
Zeichen: | 69.052 |
Es war laut. Das Stampfen von Stiefeln auf den regennassen Boden, raschelnde Kleidung und so viele Stimmen. Ein Stimmenchor aus hunderten Mündern vereinte sich zu einem donnernden Hintergrundgeräusch. Die aufgewühlten Rufe der Menschen dröhnten über den Platz, versuchten ihren Nebenmann in der Lautstärke zu übertrumpfen. Das Publikum hatte sich in der Mitte der Stadt, auf einem der vielen Marktplätze zusammengedrängt. Zierliche dreistöckige Häuser säumten den Platz, schlossen die freie Fläche zwischen ihnen ein. Mehrere Straßen führten auf das, was man den „Platz der blutigen Tränen“ nannte, um das stetige Treiben von Handwerkern, Händlern und Fabrikanten im Fluss zu halten. Dieser Marktplatz war ein Besonderer. Er mochte nie offiziell benannt worden sein, doch er hatte sich seinen Namen redlich verdient. Eines der Gebäude, das einzige herausstechende in der Masse an glatten weißen Steinfronten, war der Amtssitz der hiesigen Juristerei. Gefängnis und Gericht in einem imposanten Komplex vereint, war es Dreh- und Angelpunkt für die wichtigsten Straffälligkeiten der Hauptstadt. Einem Taschendieb wäre die Ehre einer Verurteilung in solch geschichtsträchtigen Hallen niemals möglich geworden, diese Wertschätzung hatten sich nur die besonderen Straftäter verdient. Vinras Meinung nach ein geringer Trost, endete fast jedes Urteil an diesem Strafhof im Tod. Nur hier war der Boden aus dunklem Granit, war er doch in der restlichen Stadt genauso weiß wie der Kalk, aus dem die Steine geschlagen wurden. Man sagte, dass der Boden so gewählt worden war, damit man weder das Blut noch die Tränen der Trauernden, Flecken auf dem Platz hinterlassen würden. Die Stadt sollte sich nicht an die Verstorbenen erinnert fühlen.
Und am heutigen Tag weinte keine Ehefrau, kein Kind, kein Freund, nur der Himmel erbarmte sich ihrer und ließ dicke Tropfen herabregnen. Klatschnass hingen ihr die Haare vor das Gesicht, dicke Strähnen ihrer rotblonden Locken klebten ihr am Körper. Sie hörte die Rufe, den Lärm, und doch drang kaum etwas davon an ihre Ohren. Jeder Ton klang dumpf, wie durch Watte gepresst, als würde ihr Geist sich den Geschehnissen verschließen wollen. Verdrängen war ihre Strategie in den letzten Tagen gewesen. Auf ihren anfänglichen Schock über die Ereignisse war Hoffnung gefolgt, dann Furcht und schließlich die süße Umarmung der Verleumdung. Der starrsinnigen Verleumdung jeglicher Konsequenzen und Geschehnisse. Vinras Geist beschloss, die Fensterläden zuzuziehen und sich in das Innere ihres Verstandes zurückzuziehen. Seit Tagen hatte sie nicht gegessen, doch selbst ihr Magen knurrte nicht. Stundenlang hatte sie in ihrem Bett gelegen, die bemalten Tapeten betrachtet, die hübsche Einrichtung und die verriegelte Tür. Es war kein extravagantes Zimmer gewesen, aber liebevoll eingerichtet. Überall feine Details, bestickte Säume an den Vorhängen, Blumen auf dem Teetischchen und feine Kratzspuren am Holz der abgeschlossenen Fenster. Mit den Fingern hatte Vinra sie ertastet, bei ihrem eigenen Versuch, die Fensterscheibe aus ihren Angeln zu heben. Hoffnungslose Mühen, die sie sich gemacht hatte, denn wer auch immer ihr Vorgänger in diesen Zimmern gewesen war, war auch nicht entkommen. Selbst das Fenster einzuwerfen war keine Möglichkeit. Fingerdicke Kristalle saßen an allen Seiten der Scheiben, summten kaum hörbar vor sich hin. Mit Virum angereicherte Steine, deren Aufgabe es war, das Glas vor Schaden zu schützen.
Daraufhin war sie in Stase versunken. Wartete auf den Tag aller Tage.
Nun war er da und mit müden Schritten wankte sie über den Platz. Flankiert von jeweils zwei Wachen vor und hinter ihr wurde Vinra zum Podest geleitet. Ein Monument aus dunklem Granit erhob sich in der Mitte des Platzes aus dem Boden. Glatt gehauener Stein formte eine breite Fläche, auf der ein Altar thronte. Die Menschenmenge teilte sich vor ihr, machte der Mörderin Platz. Wüste Beschimpfungen flogen ihr entgegen. Mit gesenktem Kopf passierte sie die Schaulustigen, ertrug die Schande, ohne etwas zu sagen. Mit wackligen Beinen wurde sie die schwarzen Stufen hinaufgeführt. Das erste Mal erhob Vinra ihren Blick, suchte in der Menge nach den ihr so vertrauten Gesichtern. Ihre nackten Füße fühlten sich kalt auf dem Boden an, ihr langes weißes Kleid hing ihr in mehreren Schichten durchnässt bis an die Knöchel. Auf einer Tribüne am anderen Ende des Gerichtsplatzes saß, vor Wind und Wetter geschützt, die imperiale Familie. Gekleidet in weiß-goldene Roben, beschmückt mit farbigen Schärpen und verdienten Orden saßen sie regungslos auf ihren Stühlen. Die grauen Augen ihres Vaters, waren sie ihren eigenen doch so ähnlich, blickten ihr aus unbewegter Miene entgegen. Der letzte Funke tiefsitzender Hoffnung, das letzte bisschen familiärer Zuneigung, dass ihr noch geblieben war, erstarb. Ihre Schwester saß ebenfalls dort oben, ihr abschätziger Blick fest auf Vinra gerichtet. Liebe sah sie dort keine. Nur der Stuhl ihres Cousins blieb leer. Vinra sah sich weiter um und entdeckte den einen anderen Meschen, den sie noch ein letztes Mal sehen wollte. Ihren Ehemann. Umringt von seinem eigenen Gefolge stand er am Rand der Menge. Seine Arme vor der breiten Brust verschränkt, die silbrigen Haare hingen tropfend in seine gebräunte Stirn. Die grünen Augen eines Raubtiers sahen ihr entgegen, blinzelten nicht, sondern starrten nur. Er wendete den Blick nicht ab, doch seine Gesichtszüge blieben hart. Fünf Jahre Ehe, und geblieben war ihnen nur das Wissen, dass es nie hätte gut ausgehen können. Fünf Jahre Ehe und er empfand nicht mehr für sie als ein Wolf für eine Ameise. Die Hoffnungen ihres jüngeren Ichs waren zerschlagen und lagen in Scherben zu seinen Füßen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Mitleid zu empfinden. Nun stand sie auf dem Podest und nichts als Hass und Abneigung waren ihr geblieben. Die Menschen verurteilten sie, ihre Familie verriet sie und ihr Ehemann hatte nie mehr als Abscheu für sie empfunden.
Eine tiefe Stimme dröhnte über den Platz. Der Richter, ein untersetzter Mann mittleren Alters, war herangetreten und verlas laut, das Urteil.
››Vinra Aena Thefaran ist angeklagt und verurteilt worden wegen des Mordes an Ziva Lembris. Ihre Tat war heimtückisch und verdorben, getrieben von bloßem Ehrgeiz. Ihr hoher Vater, Herr unseres Landes, Imperator Igim Zylve Thefaran, hat sich von seiner Tochter losgesagt und ihr ihren Platz am Hofe und all ihre Rechte aberkannt. Im Namen unseres Gerichts wurde sie, aufgrund der Schwere ihrer Tat, zum Tode verurteilt. In all seiner Weisheit hat der Imperator Gnade gezeigt und ihr einen ehrvollen Tod erlaubt.‹‹
Kaum waren die finalen Worte verklungen, wurde Vinra von den Wachen weg von der Kante, zum Altar gezogen. Sie kannte das Prozedere, hatte selbst schon mehrfach auf der Tribüne gesessen und Angeklagten bei ihrem letzten Gang zugesehen. Wie eine Puppe ließ sie sich mit dem Rücken auf dem blanken Stein des Altares nieder. Winzige blaue Kristalle waren im Untergrund eingearbeitet worden. Kühl fühlten sie sich unter ihren Fingern an. Dieser Platz war so alt wie die Stadt selbst, historisch bedeutend und ehrfurchtgebietend. Man hatte Vinra gesagt, dass sie sich als Verräterin glücklich schätzen konnte, ihre Strafe hier antreten zu dürfen. Doch Glück zählte nicht zu den Gefühlen, die sie gerade empfand. Der Regen prasselte ihr ins Gesicht, während sie hinauf zum wolkenverhangenen Himmel sah. Sie wusste nicht, ob sie sich in diesem Moment lieber Sonnenschein gewünscht hätte. Ob die warmen Strahlen auf ihrer Haut den Abschied erleichtert hätten. Gedankenverloren sinnierte Vinra über das Wetter, als ihre Arme und Beine mit seidenen roten Bändern an den Ecken des Altares festgebunden wurden. Obwohl festgebunden der falsche Ausdruck dafür war. Die weichen Stoffschlingen wurden sanft über ihre Knöchel und Handgelenke gestülpt, hingen danach locker an ihren Gliedern hinab. Es war nicht mehr als ein ritueller Akt. Niemanden würden diese Bänder vom Aufbegehren abhalten, doch wohin sollte man in einer solchen Situation fliehen? Es gab keinen Ausweg mehr, jeder Gedanke an Flucht war aussichtlos. Man sagte, dass es ein Zeichen des Respekts für die Angeklagten wäre, dass sie mutig ihrem Tod entgegenblicken könnten. Eine Gnade, die der Imperator gewährte. Doch für Vinra lag nur Spott in dieser Situation. Selbst im Angesicht ihres Henkers wusste jeder Anwesende, dass sie keine Macht besaß. Keine Macht, um sich selbst aus dieser Lage zu befreien, die ultimative Unterwerfung.
Die Rufe in der Menge waren verstummt. Eine schaurige Stille erfasste die Menschen, während ihre Vollstreckerin auf sie zuging. Wie aus dem Nichts war sie in ihrem Augenwinkel aufgetaucht, das Gesicht durch einen roten Schleier verdeckt. Ihr Körper war in lange, rote Roben gehüllt. Ein Amulett in der Form eines geschlossenen Auges hing um ihren Hals und kennzeichnete sie als eine Hohepriesterin. Eine Frau, die ihr Leben und Virum den Göttern verschrieben hatte, deren Gesicht man nie wiedersehen würde. Sie war ihre Henkerin, gekleidet in den Farben des Blutes, um sie in das erste Reich zu überführen.
Da kam die Angst. In Wellen peitschte sie durch Vinras Körper, rüttelte sie aus ihrer Trance. Ihr Atem beschleunigte sich und das Blut begann in ihren Ohren zu rauschen. Wie Hufe im Galopp donnerte Vinras Herz in ihrer Brust. Das verhüllte Gesicht beugte sich über ihren Kopf, aufgemalte, geschlossene Augen starrten ihr entgegen.
››Möge dein Blut den Boden nähren, dein Virum der Welt Leben geben. Möge dein Geist Frieden finden und dein Körper zu Staub zerfallen.‹‹ Fast zärtlich kamen der Priesterin die Worte über die Lippen.
Mit den Fingern strich sie Vinra die nassen Strähnen aus der Stirn und legte eine behandschuhte Hand an ihre Wange. Wäre ihr der Mut geblieben, hätte Vinra geschrien und um ihr Leben gefleht. Doch in ihr war nur die Angst übriggeblieben, versteinernde, alles verschlingende Angst. Zwischen ihren Beinen lief es ihr warm herunter, machte ihre Schmach komplett. Die lange Nadel tauschte nur einige Sekunden in der Hand der Priesterin auf, dann war es auch schon zu spät. Ein feiner, spitzer Schmerz traf Vinra erst rechts, dann links am Hals. Die Priesterin bewegte sich um ihren festgebundenen Körper herum, stach sie in beide Handgelenke und Knöchel. Mit gezielten, schnellen Bewegungen punktierte sie sechs große Gefäße unter Vinras Haut. Sie trieb kleine silberne Röhrchen in sie hinein. Blut quoll aus den Kanülen hervor, bildete einen stetigen Strom aus dicker roter Flüssigkeit. Schon bald bildete sich eine große Pfütze unter ihr und Vinra merkte schon bald, wie ihre Sinne schwächer wurden. Sterben war offensichtlich sehr einfach.
Trotz ihrer Panik war Vinra zum Lachen zu mute. In einem kurzen Anfall des Wahnsinns war sie fasziniert davon, wie einfach sterben war. Sie hatte es sich dramatischer vorgestellt.
Vinra wollte nicht sterben. Hier in ihren letzten Momenten merkte sie erst, wie sehr sie leben wollte, und doch gab ihr Körper das Leben einfach so her. Ihr Blut tränkte den Boden und ihre Kraft schwand mit jedem Tropfen. Wahrlich ein tapferes Ende. Wie ein Lamm auf der Schlachtbank, anstelle des Löwen, der sie hätte sein sollen. Doch ein Leben auf Knien, bedeutete ein Ende auf Knien.
Die Welt um sie herum wurde stetig dunkler, nur ein leichtes Glimmen neben ihrem Kopf erregte plötzlich Vinras Aufmerksamkeit. War es eben auch schon da gewesen?
Sie spürte einen Sog an ihrem Körper, auf einmal zog etwas ihre Lebenskraft aus ihr heraus. Erst war es ganz leicht, dann immer stärker. Als würde eine unsichtbare Macht an ihrem Inneren zerren. Noch nie hatte sie etwas Vergleichbares gespürt. Was war das? Es fühlte sich an, als würde nicht nur das Blut aus ihr herausgezogen werden, irgendetwas wollte noch mehr von ihr.
Vinra ließ ihren müden Blick noch einmal über den Platz schweifen. Da sah sie ihren Cousin. Unter schweren Lidern blinzelte sie in seine Richtung. Der Erbe des imperialen Throns schrie in ihre Richtung, kämpfte mit den auf ihn eindrängenden Wachen. Eine Feuerwand walzte über die Soldaten hinweg, fegte sie alle nieder. Wer nicht verbrennen wollte, rettete sich in die Menge, doch die meisten schafften es nicht, sich zu verteidigen. Zu stark war die Magie ihres Cousins, zu stark sein Wille, Vinra vor dem Tod zu bewahren. Kraftlos fielen ihr die Augen zu.
Das wutverzerrte, panische Gesicht ihres Cousins würde ihr letzter Anblick werden, sein Leid, sie zu verlieren, die letzte Emotion, die sie sehen würde.
Mit einem Schlag wandelte sich Vinras Angst zu Wut. Wut über die Ungerechtigkeit ihrer Situation, Wut über das puppenhafte Leben, das sie geführt hatte. Nichts hiervon war ihre Wahl gewesen. In ihrem Leben hatten andere über sie bestimmt und Vinra hatte es mit sich machen lassen. Heiß brannte es in ihrem Inneren, etwas flutete weiterhin ihren Körper, brach seinen Weg durch ihr Blut in den Boden. Sie spürte, wie es in den Granit sickerte, konnte fühlen, wie es sich unterhalb der Stadt ausbreitete. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ein sich ausbreitendes Netz unterhalb der Stadt. Pulsierende Linien bildeten eine Spirale im Boden.
Mit letzter Kraft zog sie an diesem Strom. Ihr Geist bäumte sich auf und versuchte mit imaginären Fingern, ihr Leben zurück in ihren Körper zu ziehen. Plötzlich spürte sie eine Veränderung im Fluss der Energie. Irgendwo auf ihrem Weg staute sich der Fluss auf, bildete einen wirren Strudel. Vinra konnte die Unstimmigkeit wahrnehmen, spürte tief in sich, wie der Sog in ihrem Blut stoppte. In einem letzten Versuch, angetrieben von ihrer neu verspürten Wut, zog sie an dem Band Energie. Kaum noch spürte sie das Heben ihres Brustkorbs, kaum die Luft in ihren Lungen, doch mit aller verbleibenden Kraft stemmte sich ihr Geist gegen den Strom. Ein Ruck ging durch die Energie. Der gebildete Strudel löste sich schlagartig auf, aber anstatt ihren Weg fortzusetzen, schoss die Energie zurück. Prallte auf mit Wucht auf Vinras Körper. Es fühlte sich an, als würde sie ertrinken, als die Gesamtheit ihrer Lebenskraft zurück in ihre Glieder floss. Vinra wusste, dass ihr Blut noch immer unter ihr auf dem Boden große Lachen bildete, spürte es klebrig an ihren Gelenken. Der Tod hatte Vinra noch immer in seinem Griff, während die pure Macht sie zu zerreißen drohte. Ihr Brustkorb hörte auf sich zu bewegen und ihr Herz machte seinen letzten Schlag. Ihre letzten Tropfen Blut landeten kaum hörbar auf dem Granitboden.
Sie starb und doch nicht ganz.
Laut nach Luft schnappend setzte Vinra sich auf. Schweiß rann ihr den Rücken hinunter, ihr Atem kam stoßweise und ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Schiere Panik hatte ihren Verstand übernommen. Mit den Fingern umklammerte sie den weichen Untergrund, spürte den kühlen, samtigen Stoff unter ihrer Haut. Nur langsam sickerten diese Eindrücke durch den Nebel ihrer Angst in ihren Verstand.
Vinra zwang sich tiefe, gleichmäßige Atemzüge zu nehmen, den Strom der Luft durch ihren Körper zu verfolgen. Stetig klärte sich ihr Kopf und machte Platz für neue Eindrücke, die sie in sich aufnehmen konnte. Das Erste, was sie wahrnahm, war der Geruch. Es roch nach frischen Blumen, ein sanfter, angenehmer Geruch. Ein Hauch Parfum lag in der Luft. Etwas in ihr erinnerte sich an diesen Duft. Dann kamen ihre Augen. Erst sah sie nur verschwommen, schemenhafte Strukturen schattiert in Hell und Dunkel. Vinras Sicht klärte sich mit jedem Augenblick, eröffnete ihr Farben und feste Linie. Langsam ließ sie ihren Blick schweifen.
Sie saß auf einem Bett, einem großen, mit Schnitzereien verziertem Himmelbett und mit einem mit Blüten bestickten Baldachin. Ihre Hände griffen in hellblaue Laken. Helles Holz fand sich überall im Raum, am Bett, den Schränken, Tischen und Stühlen.
Warmes Sonnenlicht fiel durch die Fenster. Das weitläufige Zimmer wurde in ein sanftes Licht gehüllt und Vinra wusste, dass schon Mittag sein musste.
Sie runzelte die Stirn, fragte sich, woher diese Annahme kam, und blickte sich erneut im Raum um. Der Ort kam ihr seltsam vertraut vor, als würde sie sich in einem Traum befinden, den sie schon einmal geträumt hatte.
Sie erkannte ihre Lieblingsblumen in einer Vase auf einem schmalen Beistelltischchen und ein, ihr bekanntes Buch auf dem Kopfkissen. Die Abhandlungen von Veresi über die hundert Fehler der Buchführung. Ein dicker, unhandlicher Welzer, eingeschlagen in blauem Samt. Sie hatte das Buch aus reiner Langeweile angefangen zu lesen, nicht wissend, dass es ihr einmal das Leben retten würde. Die Erkenntnis traf Vinra wie ein Hammerschlag.
Dies war ihr Zimmer. Zumindest das Schlafzimmer, in dem sie die ersten dreiundzwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte.
Diese Möbel waren speziell für sie ausgesucht worden, handverlesen durch ihren Cousin. Ein Geschenk zu Vinras Volljährigkeit.
Ihre Gemächer hatten auf der Südseite des Schlosses gelegen, wo die Sonne ab mittags die weißen Steine der Schlossmauern erwärmte. Fast täglich hatte Vinra auf ihrer Fensterbank gesessen und mit einem Buch vor der Nase der Nacht entgegengeblickt.
Sie liebte die Wärme, den Sonnenschein. Zu viele trübe Tage gab es in der Hauptstadt. Die Nähe zum Meer brachte kühle Luft und Regen mit sich. Jeden Fetzen Sonnenschein hatte sie genossen wie eine Katze das Feuer im Kamin.
Die Erinnerungen drohten Vinra zu übermannen. Hunderte Bilder ihrer Vergangenheit prasselten über sie herein. Ein Leben, das sie lange zurückgelassen hatte. Ein Leben, das erfüllt gewesen war von Zweifeln und Sinnlosigkeit.
Wollten die Götter ihr einen Streich spielen? Wenn dies der Tod war, war es ein makaberer Scherz auf ihre Kosten.
Vinra hatte viel über das Totenreich gelesen, über die Welt hinter dem Schleier. Das Leben nach dem Tod wurde nicht als Déjà-vu ihrer Vergangenheit beschrieben. Die Priesterinne beschrieben den Tod als Übertritt in das dunkle, ewige Reich. Ihr Jugendschlafzimmer wurde in den Überlieferungen nicht erwähnt. Gab es eine andere Erklärung?
Träumte Vinra? Befand sie sich vielleicht in einem Zustand des Übergangs? Irgendwie musste der Übergang ins erste Reich funktionieren, vielleicht war dies eine Art Abschied, der einem vergönnt wurde? Gab es nicht Berichte von Sterbenden, die das eigene Leben vor dem inneren Auge ablaufen sahen? Vinra wusste nicht, was sie denken sollte. Ihr Kopf schwirrte und pochte, als hätte ihr wirklich jemand einen Schlag versetzt. Eingänglich betrachtete sie ihre Handgelenke, fühlte die glatte Haut an ihrem Hals. Nirgendwo fand sie Spuren ihres Todes. Es gab keine Einstichstellen, kein Blut, kein Anzeichen dafür, dass sie kürzlich hingerichtet worden war.
Doch die Erinnerungen waren lebhaft in ihrem Kopf. Vinra konnte noch immer den Sog an ihrem Blut fühlen, die Kälte, als ihre Lebenskraft sie verließ. Ein Schaudern ging durch ihren Körper. Wenn dies ihr Ende gewesen war, war sie einen erbärmlichen Tod gestorben. Wie hatte sie so dumm sein können? Bis zum letzten Augenblick hatte sie wider besseres Wissen gehofft, dass ihre Familie ihr zur Seite stehen würde. Ein ersticktes Lachen drang aus ihrer Kehle.
Vorsichtig bewegte Vinra sich und setzte sich auf die Bettkante. Unter ihren nackten Füßen standen kuschelig aussehende Hausschuhe für sie bereit. Sie schlüpfte in die mit fellbesetzten Schuhe und genoss das bekannte Gefühl. An einem Haken am Bett hing ein auf die Bettlaken farblich angepasster Morgenmantel, den sie wie von selbst über die Arme zog. Und obwohl sie diese Bewegung so oft gemacht hatte, kam es ihr nun komisch vor, es wieder zu tun.
Mit leisen Schritten ging Vinra hinüber zum Spiegel.
Ein großer, in Gold eingerahmter Spiegel stand, genau dort, wo sie ihn erwarten würde, an der rechten Seite des Raums. Vorsichtig näherte sie sich, wappnete sich für den Anblick. Vinra wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch das Bild, das sich ihr in der glatten Oberfläche präsentierte, hinterließ sie sprachlos.
Schockiert betrachtete sie ihr eigenes Antlitz, erkannte sich selbst kaum wieder.
Es waren dieselben lockigen Haare, dieselbe ihr bekannte Statur. Im Grund hatte sich nichts an ihrem Äußeren verändert. Doch ihr Gesicht wirkte jünger und rosiger, als sie es in Erinnerung hatte. Ihre Haut war schon immer blass gewesen, doch die vergangenen fünf Jahre hatten Vinra dauerhaft krank aussehen lassen. Ihre Erscheinung hatte immer mehr dem Geist geglichen, dessen Verhalten sie imitiert hatte. Ihre grauen Augen waren tief traurige Seen. Sie waren leblos und stumpf geworden. Der einzige Teil an ihr der Geschichten, der von ihrer erlebten Zeit erzählte.
Mit Ehrfurcht griff Vinra nach ihrem Spiegelbild, ließ die Finger über die spiegelnde Oberfläche gleiten. Zu ihrem Erstaunen verschwand das Bild nicht. Ein Teil in ihr vermutete noch immer eine Täuschung hinter der Situation. Würde sie sich nur festgenug bemühen, würde das gesamte Szenario wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Fest kniff Vinra sich in die Nase. Tränen stiegen ihr in die Augen, doch anstatt aufzuwachen, klopfte es an der Tür.
Vinra riss den Kopf hoch und starrte auf den einzigen Eingang zu ihrem Schlafzimmer. Es klopfte erneut, wieder blieb sie angewurzelt stehen.
»Eure Hoheit?«, fragte eine ihr vertraute Stimme von der anderen Seite der Tür. Sie wusste nicht, was es mit alledem auf sich hatte, nur weiterhin die Tür anstarren konnte sie auch nicht. Vinra räusperte sich, suchte die passenden Worte. Kurz dachte sie, dass sie das Sprechen verlernt hätte, da kamen die Töne über ihre Lippen.
››Komm herein‹‹
Daraufhin öffnete sich die Schlafzimmertür. Eine zierliche Frau betrat, vor sich einen Servierwagen schiebend, den Raum. Ihr graues Kleid war schlicht, aber elegant, und ihre braunen Haare hatte sie zu einem hohen Knoten gebunden. Kleine Sommersprossen wanderten von ihren Wangen bis über ihre zierliche Nase. Die junge Frau blickte Vinra freundlich entgegen, als sie das Wort ergriff. Sie hatte warme, wohlwollende Augen, die Vinra einen Stich im Herzen verursachten.
››Ich dachte, ihr hättet vielleicht Hunger. Euer Fieber war sehr hoch die letzten Tage und ich hatte gehofft, etwas zur Stärkung würde euch guttun.‹‹
Es dauerte einen Moment, bis Vinra der passende Name wieder einfiel. Es war nicht so, dass sie ihn nicht kannte, doch ihr Verstand schien mit den vielen Eindrücken überfordert zu sein.
»Lieben Dank, Sharien, du kannst es gerne hierlassen«, erwiderte Vinra und betrachtete ihre Zofe eingehend, während diese einen Teller mit Suppe und einen kleinen Korb mit Brot auf dem Teetisch abstellte. Sie waren ungefähr im gleichen Alter gewesen, erinnerte Vinra sich.
»Sharien… wie alt bist du?«
Verwundert hielt ihre Zofe in ihrer Arbeit inne, blickte zu Vinra hinüber.
››Dreiundzwanzig seit gestern eure Hoheit. Ihr habt mir dieses Armband geschenkt.‹‹ Zur Bestätigung ihrer Worte hielt Sharien ihr Handgelenk in die Höhe. Ein schmales silbernes Band schlang sich um ihren Unterarm. Vinra konnte sich an dieses Geschenk erinnern. Sie hatte ein Armband mit einem blauen Stein ausgewählt, da es zu den hellen Augen ihrer Zofe passte. Es war eine kleine Aufmerksamkeit für die vielen Jahre der Dienste gewesen, Jahre der ehrlichen Zuneigung, die Vinra für ihre Zofe empfand.
››Wenn dein Geburtstag gestern war…‹‹ Vinra ließ den restlichen Satz in der Luft schweben, zu absurd kam ihr dieser Moment vor. Es war Jahre her, dass sie mit Sharien gesprochen hatte, Jahre, in denen Vinra ihre Zofe wahnsinnig vermisst hatte. Jetzt stand sie ihr gegenüber, den Kopf schräg gelegt, als würde sie versuchen, schlau aus Vinras kryptischen Sätzen zu werden.
Nichts daran konnte real sein, und doch fühlte es sich sehr real an.
››Euer Geburtstag ist drei Tage nach meinem. Die Vorbereitungen für eure Feierlichkeiten sind schon in vollen Zügen‹‹, antwortete Sharien ihr.
››Ich werde bald dreiundzwanzig‹‹ stellte Vinra laut fest, erntete weitere verwirrte Blicke ihrer Zofe. Vinra brachen die Beine weg. Schwankend musste sie sich an der Lehne eines nahestehenden Stuhls abstützen, um nicht zu stürzen.
››Eure Hoheit‹‹ Rief Sharien entsetzt und eilte ihr entgegen. ››Ihr solltet eigentlich noch gar nicht auf den Beinen sein! Ich hatte gedacht, euch noch im Bett vorzufinden. Das Fieber ist bestimmt noch nicht ganz weg, ruht euch erstmal noch weiter aus.‹‹
Vorsichtig, aber bestimmt dirigierte ihre Zofe Vinra zurück an die Bettkante. Dort angekommen schüttelte Sharien die großen Kopfkissen auf und ließ Vinra sich zurücklehnen. Gebettet auf den frisch aufgeschüttelten Kissen, breitete ihre Zofe die Bettdecke über ihr aus und steckte die Seiten an ihrem Körper fest. Eingehüllt wie in einen Kokon, lag Vinra dar. Sie lächelte über die fast schon anmaßende Besorgtheit ihrer Zofe. Schon immer hatte Sharien sich rührend um Vinra gekümmert.
Nach einer weiteren höflich formulierten Standpauke über die Schonung von Körper und Geist, verließ Sharien ihre Gemächer.
Vinra war wieder allein. Blinzelnd starrte sie an die Decke ihres Himmelbettes. Fünf Jahre hatte sie diese Stickereien nicht mehr betrachtet. Allein der Baldachin musste ein Vermögen gekostet haben. Feinste Handwerksarbeit, wohin sie auch sah, jede Naht, jeder Knoten saß perfekt. Vinra hatte ein Händchen für filigrane Arbeiten, doch dieses Niveau hätte sie nie erreichen können.
Mit der flachen Hand schlug Vinra sich auf die Wange. Ein brennender Schmerz breitete sich auf ihrer Haut aus. Wieder geschah nichts. Scheinbar träumte sie nicht. Zumindest fiel ihr keine andere Möglichkeit ein, diese Theorie auf die Probe zu stellen. War sie also tot?
Auch das schien ihr nicht plausibel. Vinra konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass das erste Reich so aussehen würde. Was war also geschehen? Dreiundzwanzig Jahre alt wäre sie in drei Tagen, dabei hatte sie vor einem halben Jahr ihren achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert. Dies war nicht ihre Zeit, oder zumindest nicht die Zeit, in der sie zuletzt gelebt hatte.
Vinra wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. War sie an einem alten Punkt in ihrem Leben wieder aufgewacht? Hatte ein Streich des Schicksals dazu geführt, dass sie ihr Leben noch einmal leben musste?
Sie ließ ihre letzten Sekunden auf dem Schafott vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Die Stiche mit der Nadel, der kalte Stein unter ihrer Haut, das Gefühl, als das Blut an ihrer Haut hinunterlief, all das war gerade erst geschehen.
Eben erst war Vinra gestorben und nun saß sie in ihrem Jugendbett und erholte sich von einem Fieber, das sie schon vor fünf Jahren ausgestanden hatte.
Das Gefühl ihres letzten Atemzugs saß ihr tief in den Knochen. Bei der Vorstellung davon, wie sich der Tod angefühlt hatte, bekam Vinra eine Gänsehaut. In ihren letzten Augenblicken hatte sie erkannt, dass sie nicht sterben wollte. In Ihrem Leben war Vinra kaum für sich selbst eingestanden, hatte andere über ihre Zukunft entscheiden lassen. Sie erinnerte sich an das Bedauern, das sie auf dem Schafott empfunden hatte. Bedauern und einen unglaublichen Zorn auf all jene, die ihr das angetan hatten. Wenn das hier eine zweite Chance war, wie würde Vinra sie nutzen? Was würde sie aus ihrem Leben machen? Diese Fragen drehten sich in ihrem Verstand und suchten nach Antworten. Doch Vinra wusste schlicht noch nicht, was sie darauf erwidern sollte. Es würde Zeit brauchen, um wieder Fuß in diesem Leben zu fassen, Zeit, in der Vinra herausfinden musste, was mit ihr geschehen war. An Zufall glaubte Vinra nicht, und was auch immer mit ihr passiert war, würde sie vielleicht wissen, was zu tun war.
Es musste einen Grund geben, dass sie wieder hier war, etwas, das getan werden musste. Zumindest hoffte Vinra das, denn wenn nicht, dann wäre sie auf sich allein gestellt. Wenn es keinen höheren Plan für all das gab, dann könnte sie nur auf sich selbst vertrauen. Vinra musste bei dem Gedanken schlucken. Selbstbestimmung war bisher nie eine Option in ihrem Leben gewesen, sie wusste nicht, ob sie nun einfach so damit anfangen konnte.
Vinra wusste, zu welcher Zeit sie wieder aufgewacht war. Ihr dreiundzwanzigster Geburtstag stand bevor, der Tag, an dem sich alles änderte. Der Anfang vom Ende, niemals hätte sie diesen Tag vergessen können.
Mit geschlossenen Augen lag Vinra auf ihrem Bett. Versucht ihre kreisenden Gedanken zu ordnen und ihre nächsten Schritte zu planen. Vielleicht würde etwas Schlaf ihrem Geist guttun, noch immer spürte sie die Tage der Gefangenschaft an ihrem Körper zehren. Obwohl dieser Körper das alles gar nicht erlebt hatte.
Kein Auge hatte Vinra zugetan, stundenlang hatte sie sich im Bett hin und her gewälzt, bei dem Versuch einzuschlafen, doch leider vergebens. Zu aufgewühlt war sie von den Ereignissen des letzten Tages. Den eigenen Tod mitzuerleben, ging nicht spurlos an ihr vorbei. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren müden Augen ab, stumpf wirkte ihr Blick.
››…eure Hoheit?‹‹
Erschrocken blickte Vinra auf, sah in der Spiegelung hinter sich ihre Zofe fragend zwei Paar Ohrringe in die Höhe halten.
››Die Blauen. Danke Sharien‹‹, antwortete Vinra ihr und deutete auf die glänzenden Saphirohrringe. Eingelassen in eine silberne Fassung, baumelten mehrere feingeschliffene blaue Steine an den Ohrringen herab, ließen das Licht zwischen ihnen tanzen.
Mit nichts als ihrem Unterhemd und Morgenmantel bekleidet saß Vinra vor dem Spiegel und ließ sich seit mehr als einer Stunde von ihrer Zofe frisieren. Ihre langen Haare wurden in aufwendig geflochtenen Strängen auf ihrem Hinterkopf aufgetürmt, ließen ihren Hals länger und ihr Kinn markanter wirken. Beinahe hatte Vinra vergessen, wie aufwendig die Mode in der Hauptstadt war.
Die Nägel gefeilt, die Haut eingeölt, parfümiert und gepudert, jedes falsche Härchen mit Stumpf und Stiel herausgerissen. Adlige Frauen verbrachten große Teile ihres Tages damit, ihren Körper zu perfektionieren. Die männliche Routine war im Generellen wohl etwas kürzer, denn ihre großen Verantwortungen hatten Priorität, doch auch sie unterlagen einem Ideal.
››Eine sehr gute Wahl. Mit Verlaub, ihr wirkt heute etwas neben euch, soll ich euch gleich noch einen Tee zubereiten?‹‹ Aufmunternd lächelte Sharien ihr durch den Spiegel entgegen, während sie den Schmuck an Vinras Ohren befestigte. ››Nach so vielen Tagen der Bettruhe ist das auch kein Wunder. Etwas Stärkendes kommt da genau richtig‹‹
Noch bevor Vinra etwas erwidern konnte, klopfte es an der Tür. Mit stolzem Schritt kam ihr Cousin in ihre Gemächer geschlendert, ließ die Tür hinter sich offenstehen.
››Ich habe gehört, du seist genesen. So viele Tage krank, es wurden sich schon Sorgen um dich gemacht.‹‹ Vinra konnte sich noch daran erinnern, als die Stimme ihres Cousins sich kaum von einem Mäusepiepen unterscheiden ließ, doch das Heranwachsen hatte aus dem Piepen einen dunklen Bariton gemacht.
››Mir geht es schon besser, Fenian. Danke, dass du an mich gedacht hast. Hat Vater sich auch Sorgen gemacht?‹‹, erkundigte sie sich scheinheilig. Daraufhin lächelte Fenian nur und trat näher an sie heran. Sanft drückte er mit der Hand ihre Schulter, blickte mit vertrauten blauen Augen auf sie hinab.
››Natürlich mache ich mir Sorgen um dich, wen habe ich denn sonst außer dir?‹‹
Vinra lächelte zurück, fühlte die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter, den Trost, den er ihr damit spenden wollte. Es war nicht verwunderlich, dass Fenian ihren Vater nicht erwähnte. Ehrliche Fürsorge hatte es in Vinras Richtung von ihm noch nie gegeben. Wäre sie aufgewacht und hätte ihren Vater weinend an ihrem Bett vorgefunden, wäre sie sich sicher gewesen, doch in einem bizarren Traum gefangen zu sein.
››Niemanden, genauso wenig wie ich. Deswegen brauche ich dich auch so‹‹, erwiderte Vinra und betrachtete durch die Spiegelung den imposanten Ring am Finger ihres Cousins. Ein roter Kristall eingelassen in rotes Gold. Sie dachte wieder an die Feuerwand, die er bei seinem gescheiterten Rettungsversuch erzeugt hatte.
››Umso besser, dass du nun wieder gesund bist. Dein Geburtstag ist bald und ich habe für dich das schönste aller Geschenke gefunden.‹‹ Freudig klatschte Fenian bei seinen Worten in die Hände. Die Aufregung war ihm ins Gesicht geschrieben.
››Ich freue mich schon darauf.‹‹ Vinra zupfte mit Mühe an ihren Mundwinkeln, setzte sich ein Lächeln auf die Lippen. Die freudige Erwartung ihres Cousins konnte sie nicht teilen, zu sehr lagen ihr die Aussicht auf die kommenden Tage wie ein Stein im Magen. Schon den gesamten Morgen hatte Vinra mit Übelkeit zu kämpfen gehabt und versuchte, das gegessene Frühstück nicht über den Schlafzimmerteppich zu verteilen.
››Ich möchte dich auch gar nicht länger aufhalten. Ich weiß ja, wie ihr Frauen beim Fertigmachen seid, da möchte man lieber nicht stören. Du siehst aber wie immer bezaubernd aus.‹‹ Mit diesen Worten drückte Fenian noch einmal ihre Schulter, hauchte Vinra einen Kuss auf den Haaransatz und verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.
››Da wird man schon neugierig, was für Geschenke ihr zum Geburtstag erhalten werdet.‹‹ Sharien, die während des Gesprächs mit Fenian still neben ihr gestanden hatte, machte sich wieder ans Werk. Heiter sprach sie über die kommenden Festivitäten und den neusten Klatsch aus dem Palast. Doch Vinra hatte keinen Kopf für diese Belange. Sie plante ihren Tag. Die Bibliothek ihrer Familie hatte hunderte von Texten und Abhandlungen, dort würde sich sicherlich etwas finden, das ihr weiterhelfen konnte. Sie würde notfalls jeden Text über die Götter und die Reiche durchforsten, um Antworten zu erhalten. Niemandem würde dieses Verhalten komisch vorkommen, denn sie hatte ihre Jahre im Palast ständig mit Lernen verbracht.
Noch einen Blick in den Spiegel und Vinra beschloss, mit kleinen Maßnahmen etwas zu verändern, alte Gewohnheiten Schritt für Schritt abzulegen.
››Sharien? Wir nehmen doch die grünen Ohrringe.‹‹
››Guten Morgen Vater.‹‹
Vinra raffte ihre Röcke und sank in eine tiefe Verbeugung. Um sie herum bauschte sich ein Meer aus fliederfarbenem Tüll auf. So harrte sie aus, wartete auf ein Zeichen, dass sie sich erheben durfte. Es vergingen erst einige Sekunden, dann wurden es Minuten. Vinras Knöchel begannen zu schmerzen, das Blut in ihren Beinen staute sich unangenehm. Sie hörte das Klappern von Geschirr, von Messern und Gabeln, die über Porzellan wanderten. Niemals hätte Vinra aufgeblickt, wusste sie doch wie hoch ihr Vater Etikette schätzte und was für Konsequenzen ein Missachten hätte. Dieser Sinn für Rebellion war ihr nicht zu eigen, zumindest hatte sie es immer von sich gedacht. Doch nun hockte Vinra am Boden und wartete, verfluchte innerlich jeden einzelnen Moment. Es war ein unvertrautes Gefühl für sie, heißblütig war sie eigentlich nie gewesen. Sie erinnerte sich zwar an Zeiten, früh in ihrer Kindheit, als sie kurzfristig dem Trotz verfallen war. In dieser Phase hatte Vinra versucht über aufbrausendes, lautes Verhalten die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu erlangen. Wider besseres Wissen hatte sie in Wutanfällen die Gabel vom Tisch fallengelassen oder einem ihrer Kleider ungeschickt Flecken beschert. Es mögen Kleinigkeiten gewesen sein, aber hinter diesen Mauern waren auch Kleinigkeiten ein Grund bestraft zu werden. Eine dümmere Idee hätte sie demnach nicht haben können. Denn derartig die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu erregen war, in Vinras Fall, ein Schnitt ins eigene Fleisch gewesen. Diese Anfälle von kindlichem Leichtsinn hatte der Imperator ihr daraufhin einprägsam ausgetrieben.
››Bitte…bitte nicht!‹‹ schluchzend kniete sie am Boden. Ihre Knie waren bereits aufgeschürft und bluteten auf den Boden, denn seit Stunden hockte sie auf den Steinen vor dem Arbeitsstuhl ihres Vaters. Im Vorhinein war angewiesen worden, den ansonst dort ausliegenden Teppich beiseitezuräumen. So drückte Vinras Fleisch in den porösen Kalkstein. Den Rücken durchgedrückt, die Hände auf den Oberschenkeln und Tränen, die frei ihre Wangen hinunterliefen, so kniete sie. Sie war sechs Jahre alt.
››Das hast du dir selbst zuzuschreiben.‹‹ Der Tonfall ihres Vaters war unerbittlich. Sein Gesicht war ruhig und gefasst, die Hände hatte er hinter dem Rücken verschränkt. Keine Spur des Zögerns als einer der Diener ihren geliebten Hund an der Leine in den Raum führte. Er war ein Geburtstagsgeschenk von Fenian zu ihrem vierten Geburtstag gewesen, ein kleines weißes Energiebündel. Jede Nacht kuschelte er sich zwischen ihre Beine und legte seine winzige Schnauze auf ihren Fuß.
››Dein Verhalten ist eine Schande für die imperiale Familie, eine Schande für mich. Wenn du schon so kümmerlich geboren werden musstest, dann verhalte dich wenigstens anständig.‹‹ Fast wäre es Vinra lieber gewesen, wenn ihr Vater geschrien hätte, doch seine Stimme blieb kalt wie Eis. Seine Autorität war auch ohne Wut unmissverständlich.
››Ich werde artig sein!‹‹ Vinras Kopf kollidierte mit dem Untergrund. Warmes Blut lief über ihre Stirn. ››Ich werde artig sein‹‹
Ihr Vater drehte ihr den Rücken zu und griff das Messer von seinem Schreibtisch.
››Ich bin fertig.‹‹ Erklang die Stimme ihres Vaters, riss Vinra aus der Vergangenheit. Sie versuchte sich noch den Namen ihres Hundes ins Gedächtnis zu rufen, doch als Erinnerung geblieben war nur der Schmerz.
Das Knarren eines zurückgeschobenen Stuhles drang an ihre Ohren, dann waren Schritte zu hören. Dunkle polierte Stiefel tauchten in ihrem Blickfeld auf, doch sie verweilten nicht. Mit steten Schritten verließ der Imperator den familiären Speisesaal, lies Vinra ohne einen Kommentar am Boden zurück. Jahrzehntelanges den Kopf abwenden hatte dazu geführt, dass sie jedes ihrer Familienmitglieder und sogar die festen Bediensteten, ohne hinzusehen am Klang ihrer Schritte, ihres Atmens und Räusperns erkennen konnte.
Mit zusammengebissenen Zähnen wartete Vinra bis sie das Schließen der Tür vernahm und erhob sich dann. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund.
Ihr Blick viel auf den großen Essenstisch in der Mitte des kleinen Saals. Fast der gesamte Raum wurde von dem schweren Holztisch eingenommen, zu viel Platz für die wenigen daran stehenden Stühle. Drei Bedienstete standen an den Wänden des Raums, warteten still auf Anweisungen. Wahrscheinlich wurden sie oft gar nicht bemerkt, was die Verbreitung von Palastgerüchten erklären würde. In ihren dunklen Uniformen fügten sie sich gut in ihre Umgebung ein, fast als wären sie ein Teil der Inneneinrichtung. Der Stuhl am Kopfende des Tischs war frei. Dort hatte ihr Vater, bis zu seinem abrupten aufstehen, gesessen. Niemand anderes würde es wagen sich auf diesen Platz zu setzen. Zu seiner rechten saß wie immer Fenian. Mit seinen schwarzen, zurückgekämmten Haaren und der hellen Uniformjacke, die er trug, war er ein Paradebeispiel für einen aufrichtigen thyraischen Soldaten. Ihm Gegenüber war ebenfalls ein Stuhl freigehalten worden. Weiter links davon saß Vinras Schwester und daneben war ihr eigener Platz. Im Allgemeinen saßen die Frauen in Thyra links und die Männer rechts eines Tisches. Nur bei größeren Veranstaltungen fanden sich gelegentlich Abweichungen von dieser Ordnung. Man vertrat die Ansicht, dass die Vertreter des gleichen Geschlechts sich mehr an Konversation zu bieten hätten. Gepflogenheiten, die Vinra erst spät in ihrem früheren Leben hinterfragt hatte.
››Guten Morgen Fenian, guten Morgen Saida‹‹, begrüßte Vinra den verbliebenen Rest ihrer Familie.
››Guten Morgen Vinra, ich hoffe du hast gut geschlafen?‹‹, erkundigte sich ihr Cousin bei ihr und schenkte Vinra ein strahlendes Lächeln. Da Vinra durch ihr Fieber die letzten Tage vornehmlich im Bett verbracht hatte und gestern in der Bibliothek verschwunden war, freute er sich ganz offensichtlich sie wieder beim Frühstück anzutreffen. Nach einem kurzen Spaziergang durch den Palastgarten am gestrigen Vormittag, hatte sie sich auf unzählige Bücher gestürzt und alte Schriften gewälzt. In ihr brannte weiterhin die Frage wie sie es in der Zeit zurückgeschafft hatte, ob dies alles einen Grund hatte. All ihre Hoffnungen hatte Vinra in die Palastbibliothek gesetzt. Bis spät in die Nacht hinein hatte Vinra über den alten Texten gerätselt. Vor allem in den Schriften der roten Priesterinnen hoffte sie eine Antwort auf ihre Fragen zu finden. War dies alles der Wille der Götter? Bisher war dies ihre beste These, nur waren ihre Götter nicht dafür bekannt sich groß für die Lebenden zu interessieren. Immer wieder war sie die Ereignisse ihres Todes durchgegangen, hatte sich plötzlich an ein Glimmen in ihrem Augenwinkel erinnert. Es war schon spät in der Nacht gewesen und ihr Verstand begann schrecklich langsam zu werden. Was war dieses Leuchten gewesen? Doch egal wie sehr sich Vinra den Kopf zerbrach, in ihrem Zustand wollte ihr nichts dazu einfallen. Sie beschloss ins Bett zu gehen, der nächste Morgen würde vielleicht Licht ins Dunkle bringen. Denn nach ihrer erfolglosen Suche hatte Vinra einen neuen Plan gefasst.
››Ich habe ganz passabel geschlafen. Ich bin in letzter Zeit nur etwas aufgekratzt.‹‹ Ihre Worte waren eine Entschuldigung an ihren Cousin, dass sie ihn so vernachlässigt hatte. In Fenians Augen las sie Verständnis, aber auch Skepsis als er ihr Antwortete.
››Ich habe gehört du treibst dich neuerdings viel in der Bibliothek herum. Liest Bücher über den Schleier und das erste Reich‹‹
››Ich dachte es könnte nicht schaden sich etwas weiterzubilden‹‹
››Weiterbilden? Glaubst du nicht das ist verschwendete Lebensmüh? Ständig hängst du über deinen Büchern. Oder hast du jetzt Ambitionen den roten Priesterinnen beizutreten‹‹
Saidas Stimme triefte vor Spott. Jedes Wort war darauf ausgelegt Vinra zu verletzen. Als Schwestern teilten sie sich die gleichen grauen Augen, aber da endete auch schon ihre Ähnlichkeit. Obwohl Vinra die jüngere von ihnen beiden war, war sie ein gutes Stück größer als ihre Schwester. Saida war fast winzig, mit glattem kastanienbraunem Haar. Wohin sie auch ging, strahlte Saida eine quirlige Lebensfreude aus, immer ein schelmisches Grinsen auf den Lippen. Doch in ihrem Umgang mit Vinra wurde der Schelm zu Häme. Es war lange her, dass sie sich nahegestanden hatten.
››Mach dich doch nicht über deine Schwester lustig Saida‹‹, schalt Fenian die ältere Prinzessin. ››Du weißt doch, dass Vinra niemals eine Priesterin werden könnte. Sie besitzt kein Virum. Deine kleinen Stichelein kannst du dir wirklich sparen.‹‹
Auf seine Weise wollte Fenian Vinra in Schutz nehmen, aber ihren offenkundigen Makel laut ausgesprochen zu hören tat jedes Mal weh. Selbst nach achtundzwanzig Lebensjahren und dem eigenen Tod, kam Vinra nicht darüber hinweg. Zu tief lag der Schmerz, über ihre Unvollkommenheit. Der Makel das ihrem Blut keine Macht inne wohnte, würde für alle Tage auf ihr Lasten. Vinra hatte sich dieses Schicksal nicht ausgesucht, doch für ihren Vater und ihre Schwester war sie eine Schande.
››Weißt du, du könntest hin und wieder auch für mich Partei ergreifen Fenian. Es ist unter deiner Würde immer auf der Seite der geringeren Schwester zu stehen‹‹, beschwerte sich Saida, rollte theatralisch mit den Augen.
››Vielleicht mag ich die geringere Schwester einfach lieber‹‹, erwiderte Fenian und hob spöttisch eine Augenbraue. In der Zwischenzeit nahm sich Vinra eine Kleinigkeit vom bereitstehenden Frühstück. Wie von selbst wollten ihre Finger zur Gemüsesuppe greifen, doch im letzten Moment konnte sie sich aufhalten. Kleine Schritte hatte sie sich geschworen, also wanderte ihre Hand nach einem kurzen Zögern zu dem Korb mit den Brotscheiben. Essen war nie eine ihrer Leidenschaften gewesen. Zu angespannt waren die Mahlzeiten im Beisein ihrer Familie gewesen. Es war ein mechanischer Akt geworden, die reine Aufnahme von Nahrung. Sie hatte verlernt diesen Kleinigkeiten eine Bedeutung beizumessen oder sie gar zu genießen.
Der Schlagabtausch zwischen ihrem Cousin und Saida war kein seltener und Vinra würde abwarten, bis er zu Ende war. Die Beiden wollten in der Gunst des Imperators ganz oben stehen, teilten den Platz an seiner Seite nur ungern. Aufgrund der Ermangelung an Söhnen war Fenian der Erbe ihres Vaters, der zukünftige Imperator. Doch wenn Fenian der Stolz ihres Vaters war, dann war Saida sein Augapfel. Er verwöhnte seine älteste Tochter so sehr, wie er seine jüngere verabscheute. Vorsichtig verteilte Vinra etwas Butter und Konfitüre auf ihrem Brot, bevor sie davon abbiss. Es war ein herrlicher Geschmack. Fast wäre ihr ein Seufzen entwichen. Sie hatte vergessen wie lecker Nahrung sein konnte. Nachdem sie aufgegessen hatte und das Gespräch zwischen Fenian und Saida zu einem Ende gefunden hatte, richtete Vinra das Wort an ihren Cousin.
››Fenian wäre es möglich, wenn ich heute zum Tempel fahre?‹‹ Vinra sah ihren Cousin mit ruhiger Miene an, versuchte die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses zu kaschieren.
››Warum möchtest du denn zum Tempel? Du warst seit Jahren nicht dort.‹‹
››Ich möchte vor meinem Geburtstag eine Spende entrichten. Ich dachte das, dass vielleicht eine großzügige Geste wäre, da so viel Geld für mein Fest ausgegeben wird.‹‹
Ihr Cousin griff über den Tisch hinweg Vinras Hand und nickte ihr anerkennend zu.
››Man merkt, dass du erwachsener geworden bist. Früher hing dein Kopf immer in den Wolken. Eine wirklich nette Geste von dir. Soll ich dich zum Tempel begleiten?‹‹
››Ach nein, mach dir keine Umstände. Du hast schon so zu viel zu tun. Ich nehme eine Kutsche und bin dann auch gleich wieder zurück.‹‹
Fenian lehnte sich in seinem Stuhl zurück und strich sich nachdenklich über das Kinn.
››Ich habe wirklich noch einiges zu tun. Ich bearbeite gerade einige Unterlagen im Voraus, damit ich zu deinem Geburtstag frei verfügbar bin.‹‹
››Und an meinem Geburtstag hätte ich dich wirklich gerne dabei. Was wäre dieser Tag ohne dich? Vergiss nicht unser Duett, dass wir aufführen wollten‹‹, erklärte Vinra ihrem Gegenüber in einem verträumten Tonfall, jedes Wort präzise gewählt.
Wie jedes Jahr hatten die beiden geplant zusammen ein Stück aufzuführen. Fenians dunkle Stimme ergänzte ihr eigenes Klavierspiel hervorragend, sodass sie schon eine Menge Applaus für ihre Darbietungen geerntet hatten. Wohlwollend sah Fenian sie an.
››Ich hoffe du hast fleißig geübt. Dann wollen wir mal nicht so sein, dein Vater wird sicher nichts dagegen haben, dass du zum Tempel fährst.‹‹
››Danke Fenian!‹‹ Freudig sprang Vinra auf. Kurz zögerte sie, doch lief dann um den Tisch herum und hauchte ihrem Cousin einen Kuss auf die Wange.
››Ich bin bald wieder zurück, versprochen.‹‹
Eilig rauschte Vinra aus dem Speisesaal. Sie würde sich noch schnell umkleiden müssen und wollte keine Zeit verlieren. Ihr Geburtstag rückte immer näher und bis dahin musste sie Antworten finden, sonst würde ihre geschenkte Zeit wieder in einem Desaster enden.
››Du verwöhnst sie zu sehr, Vater würde nicht gutheißen, dass du sie so…‹‹ mehr von dem Satz ihrer Schwester verstand Vinra nicht mehr, als sich die schweren Doppeltüren hinter ihr schlossen. Vinra besaß nicht viel Kleidung, die für außerhalb der Palastmauern geeignet wäre, also musste ein etwas schlichteres grünes Kleid und ein leichter brauner Mantel ausreichen. Es war komfortabler sich, ohne die Mengen an Tüll und Seide zu bewegen, vor allem wenn man nicht wusste, wie der Untergrund auf dem Weg werden würde. Trotz alledem hatte ihr Umkleiden fast eine Stunde in Beschlag genommen. Es war ein Wunder, dass sie bei all dem Frisieren und Ankleiden in ihrem alten Leben überhaupt zu etwas gekommen war. In Begleitung von Sharien machte sich Vinra im Anschluss auf den Weg zu den Stallungen im obersten Schlosshof.
Im gesamten Palast waren dutzende Stallungen verteilt. Doch der oberste Bereich des Schlosses war der imperialen Familie und ihren Bediensteten vorbehalten, sodass hier nur wenige Pferde gebraucht wurden. Dementsprechend gab es nur eine Stallung an die Vinra sich wenden konnte, nicht das sie schon oft ausgeritten wäre. Ihr Weg führte sie hinaus aus den breiten kalksteinweißen Korridoren des Palastes, auf einen kleinen Hof. Gesäumt von hohen Mauern, bildete der Innenhof den Zugang zum innersten Teil des Schlosses. Er war als Kreis angelegt worden und hatte nur ein Eingangstor, das diesen Abschnitt mit dem restlichen Schloss verband. Ein großer Durchgang mit eisernen, ineinander gebogenen Streben, als doppelflügelige Tür. Diese Konstruktion selbst, würde nur mäßig als Verteidigung dienen, doch wichtiger als die Stärke des Materials selbst, waren die hunderten Kristalle, die in das Eisen eingelassen waren. Aktiviert würden diese Kristalle das Tor zu einem unüberwindbaren Hindernis für alle Eindringlinge machen. Kleine, ordentlich gestutzte Bäume standen am Rand des Kreises verteilt. Es waren Zierbäume, so gezüchtet, dass sie zu keiner Jahreszeit ihre dunkelgrünen Blätter verloren. Vinra hatte sich immer Obstbäume an ihrer Stelle gewünscht, Bäume mit Blüten und Früchten, die sich über die Wochen veränderten. Doch Veränderung war kein hoch angesehenes Gut hinter diesen Mauern. Außerdem könnten welkende Blüten oder herabfallendes Obst den perfekten Anblick ruinieren.
Die Stallungen lagen hinter einer, als Sichtschutz eingebauten Mauer. Diese Mauer zog sich wie ein Halbmond durch den Platz und verbarg das Treiben der Bediensteten vor den Augen ankommender Gäste.
Dort angekommen, wendete Vinra sich an den Stallmeister, ein älterer Mann mit schütter werdendem Haar und hagerer Gestalt.
››Wir brauchen eine Kutsche für eine kleine Ausfahrt.‹‹ richtete sie das Wort an den Stallmeister. Bevor dieser antwortete, fiel er in eine tiefe Verbeugung vor Vinra.
››Natürlich eure Hoheit. Euer Cousin hat uns schon über eure Pläne unterrichtet. Die Kutsche steht schon bereit. Wenn ihr mir einmal folgen würdet?‹‹
Mit einer ausschweifenden Bewegung deutete der ältere Mann auf einen Bereich knapp außerhalb von Vinras Blickfeld. Sie nickte, das Zeichen für den Stallmeister vorrauszugehen. Vinra und Sharien folgten ihm, bis seitlich der Stallung eine Kutsche in Sicht kam. Es war ein prächtiger Anblick. Eine weiße, mit Gold verzierte Kutsche mit vier großen Schimmeln als Zugpferde davor gespannt. Das Wappen ihrer Familie, die untergehende Sonne auf rotem Grund, war deutlich für jeden erkennbar auf den Seiten der Kutsche angebracht worden. Der Kutschbock war bereits besetzt und auch zwei Soldaten standen neben der Tür zum Innenraum bereit.
››Ihr werdet uns begleiten‹‹, erkundigte Vinra sich bei den Uniformierten.
››Jawohl, eure Hoheit.‹‹
Es folgte eine kurze Verbeugung auf die knappe Erwiderung, danach blickten beide Männer erneut starr gerade aus. Ihr Verhalten war nicht unhöflich gemeint, sie folgten schlicht der Etikette. Nie würde ihnen in den Sinn kommen die Prinzessin geradewegs anzusehen. Ein direktes Anstarren wäre eine intime Geste, die entweder herausfordernd oder anrüchig interpretiert werden könnte. Das Personal war darin geschult derartige Indiskretionen nicht zu begehen.
Doch man durfte dadurch nicht dem Irrglauben verfallen, dass die Soldaten nachlässig wären. Vinra wusste, dass die beiden Männer nicht in ihre Richtung zu schauen brauchten, um ihre Umgebung im Blick zu behalten. Trotzdem fühlte es sich komisch an aus Höflichkeit wie ein Geist behandelt zu werden.
Über eine kleine Treppe gelangten sie in das Innere der Kutsche. Die Sitzbänke und Wände waren mit einem grünen Samt eingeschlagen worden und mehrere verzierte Kissen sorgten für ein bequemes Sitzen. Nachdem Vinra es sich bequem gemacht hatte, klopfte sie zweimal gegen die Tür der Kutsche. Prompt setzten sie sich rüttelnd Bewegung.
Die Fahrt dauerte eine Weile. Das Schloss thronte auf einem kleinen Hügel mitten in der Hauptstadt Thyras. Insgesamt mussten sie durch drei einzelne Palastabschnitte fahren, bis sie überhaupt in der eigentlichen Stadt angelangt waren. Vom inneren Kreis in den mittleren Kreis bis in den niederen Kreis, danach passierten sie die Tore zur Kernstadt.
Alles in Thyra war aufgeteilt, streng reglementiert und geordnet. Dieses Prinzip nannte sich „der Weg zur inneren Ruhe“. Zumindest war dies der Name den ihr Großvater, der frühere Imperator, dieser Doktrin gegeben hatte. Jeder Einwohner der Stadt wohnte in einem ihm zugewiesen Abschnitt, oft schon seit dessen Geburt. Nur durch Heirat, Vermögen oder ein besonderes Hervortun in den Künsten des Virums konnte man die Grenzen seiner Geburt überwinden. Wenn man diesen Sprung jedoch nicht schaffte, wohnte man bis ans Ende seiner Tage im gleichen Bezirk der Hauptstadt. Womöglich zogen einige Bürger auch zurück aufs Land, doch das Wohnen in Mirthal war grundsätzlich schon ein sozialer Aufstieg. Vinra konnte sich nicht vorstellen, dass viele Bürger die Hauptstadt wieder verließen, wenn sie einmal eine Wohnerlaubnis erhalten hatten.
Insgesamt gab es vier Großbezirke, die wiederum aufgeteilt waren in kleinere Teilbezirke. Im Trim, dem alt thyrischen Wort für eins, wohnten, ganz nah am Palast, die obersten der Viraa. Wahre Meister im Umgang mit dem Virum. Zumeist hatten sie an der großen Akademie studiert, die sich ebenfalls im Trim befand. Nur die Besten der Besten durften hier ihre Lehre aufnehmen. Fenian war vor sechs Jahren, mit gerade einmal zweiundzwanzig Jahren der Beste seines Jahrgangs geworden. Auch Saida hatte dort studiert, jedoch ihre Studien frühzeitig abgebrochen, da ihr Vater eine aussichtsreiche Heiratspartie ins Auge gefasst hatte.
Daran schloss sich der zweite Großbezirk an. Hier wohnten die Adligen und überaus reichen Einwohner Mirthals. Es war ein elitärer Kreis, der nur höchst selten neuen Zuzug hatte. Die meisten Familien wohnten hier schon seit der Gründung des Reiches.
Im dritten und vierten Bezirk sammelten sich die Handwerker, Händler und Wohnviertel der weniger betuchten Bürger. Diese Orte kannte Vinra eigentlich nur vom Hörensagen, denn so weit unten war sie nie gewesen. Ihr Alltag brachte Vinra nie so weit fort vom Palast. Nur zweimal war sie durch die äußeren Bezirke gefahren. Am Tag nach ihrer Hochzeit, als das Leben sie für Jahre aus der Hauptstadt führen sollte. Sowie Tage nach ihrer Inhaftierung, auf dem Weg in ihren Arrest.
Die Aufteilung der Stadt mochte gute Gründe haben, aber für Vinra glich sie Käfigen. Jeder Bewohner hatte einen eigens für ihn bestimmen Käfig, nur die Farbe der Gitterstäbe unterschieden sich. Für Vinra war der Begriff Freiheit immer ein entferntes Konzept gewesen, zu sehr lebte sie in der Monotonie ihrer goldenen Fesseln. Sie hatte achtundzwanzig Jahre unter dieser Doktrin gelebt, ohne sie jemals in Frage zu stellen. Welch eine Närrin war sie gewesen. Vinra wusste noch nicht genau, was dieses neue Leben mit ihr vorhatte, doch die Schwere ihrer Fesseln war ihr nun nur allzu bewusst. Innerhalb dieser Mauern würde sie nur schwerlich frei atmen können.
Vinra schüttelte die trüben Gedanken ab, zu wichtig war es einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie brauchte Antworten, musste wissen, was mit ihr geschehen war. Die private Bibliothek des gehobenen Rings, hatte ihren Wissensdurst nicht stillen können. Zwar hatte ihr Vater so einige Bücher über das erste Reich und die Götter zusammengetragen, aber es waren hauptsächlich oberflächliche Texte. Keines der Bücher beschrieb ein Ereignis, das den Geschehnissen bei ihrer Hinrichtung auch nur annähernd glich.
Fragen konnte sie niemanden, zu suspekt wäre ihr Verhalten gewesen. Eine gute Anlaufstelle wäre die Akademie gewesen, doch dort war ihr der Zugang untersagt. Dafür hatte ihr Vater schon früh deutliche Worte gefunden. Jemand wie sie sollte die ehrwürdigen Hallen der Viraa nicht besudeln.
Selbst bei Aufführungen oder Wettkämpfen der Studierenden hatte Vinra nicht zugegen sein dürfen.
Ganz aufgeregt hatte Saida sich jedes Mal herausgeputzt, um die feinen jungen Männer zu beindrucken. Über Stärke und Mut schwärmend war sie nach Hause gekommen, triumphierend den Ansteckstrauß eines weiteren Verehrers präsentierend. Nur Vinra war zurückgeblieben. Oft hatte Sharien ihr Gesellschaft geleistet, um ihr etwas Trost zu spenden. Irgendwann, sie mag vielleicht sechszehn gewesen sein, war die Bitterkeit gewichen und Vinra hatte ihr Schicksal akzeptiert. Dem hinterher zu trauern, was sie nie würde haben können, war verschwendete Zeit gewesen.
So blieb Vinra nur der Tempel. An diesem Ort würde man weniger Fragen stellen. Und mit ihrer Spende hatte Vinra einen guten Grund gefunden die roten Priesterinnen zu besuchen. Vielleicht klammerte sie sich an Strohhalme, doch Vinra wusste sonst nicht weiter. Sie hatte nie gelernt über ihr eigenes Leben zu entscheiden. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob ihr die Befähigung dazu fehlte oder der Wille Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Im Nachhinein konnte Vinra sagen, dass sie schlichtweg gebrochen worden war. Gebrochen und ohne einen Weg zu fliehen, klammern sich die Menschen an Vertrautes. Für Vinra, die gerade erst damit begann sich einen eigenen Weg zu suchen, war es unerlässlich einen solchen Strohhalm zu finden. Etwas das ihr eine Richtung zuwies, den wüsten Gefühlen und Gedanken in ihrem Kopf einen Sinn geben würde. Deshalb dieses ganze Unterfangen. Ihr Drang nach Antworten war wahrscheinlich eher ein Drang nach neuausgerichteter Stabilität. All dies war Vinra bewusst. Trotz alledem fuhr sie zum Tempel. Mied die Konfrontation mit ihrer Familie und begrub sich weiter unter Schriftrollen und Büchern. Vielleicht, aber auch nur vielleicht würde sie in ihren einzigen Freunden eine Antwort zu sich selbst finden.
Sie sah aus dem kleinen Fenster, ließ die Stadt auf sich wirken. Der Tempel befand sich im zweiten Bezirk, es reihten sich prächtige Herrenhäuser, umgeben von eisernen Zäunen und eingerahmt von Hecken und Blumensträuchern, aneinander. Jedes Anwesen versuchte das nächste zu überschatten, baute höher, schöner oder weiter. Fast alle Gebäude in Mirthal wurden aus Kalkstein erbaut. Durch ihre Nähe zum Meer konnte der Stein verhältnismäßig einfach abgebaut und transportiert werden. Um der Verwitterung des anfälligen Gesteins hatten Handwerker mithilfe ihrs Virums Möglichkeiten der Versiegelung gefunden. Desto reiner und heller der Stein nach Abbau und Veredelung war, umso teurer wurde er gehandelt. Deshalb wunderte es nicht, dass die Bauten der Adligen die Sonne fast schmerzlich reflektierten. Scheinbar hatte niemand beim Wahn um die schönsten Steine an den Einfallswinkel der Sonne gedacht.
Es herrschte geschäftiges Treiben. Männer und Frauen liefen durcheinander, trugen Ausrüstung und Verpflegung, schlugen Heringe in den Boden oder spannten die Seile ab. Es wurden Befehle gebrüllt und ständig hallten laute Rufe über das Gelände. Arryn marschierte zwischen den bereits aufgebauten Zelten hindurch. Seine Stiefel knirschten auf dem matschigen Boden. Es war nur ein kurzer Schauer gewesen, der sie in der Nacht erwischt hatte, doch für Arryn war es genug gewesen, um seine Laune weiter zu senken. Er hasste den Regen. Etwas das er vor noch einigen Jahren nicht behauptet hätte. In seiner Heimat war der Regen ein seltener Segen und als Kinder hatten sie bei jedem Schauer in den entstehenden Pfützen gespielt. Doch in Nym war der Regen ein sanfter Gruß vom Himmel, warme Tropfen an ebenso warmen Tagen. Dann waren sie in den Bergen stationiert worden. Ein unfreundlicher, gefährlicher Ort, dessen Terrain und Wetter einen umbringen oder in den Wahnsinn treiben wollte. Zu viele Tage im Regen, zu viel Zeit in klammer, dreckiger Kleidung hatten ihn mürrisch werden lassen. Nun waren ihnen die Wolken bis in die Hauptstadt gefolgt. Arryn war froh, dass sich bei Sonnenaufgang der Himmel gelichtet hatte. Jetzt strahlte die Sonne auf sie herab, trocknete allmählich das feuchte Gras.
Die Nymerer schliefen in großen, runden Zelten. Dunkle Tuchbahnen waren zu riesigen Bahnen zusammengenäht worden, die mit langen Stangen und Seilen emporgezogen wurden. In der Mitte der Zeltdecke befand sich ein Wagenrad großes Loch. Da sich mehrere Soldaten ein Zelt teilten, bildete dieses meist auch den Lebensmittelpunkt der Gruppen im Lager. Deshalb wurden Feuerstellen im Inneren der Zelte errichtet und die eingearbeiteten Löcher sorgten für einen Rauchabzug. An sehr regnerischen Tagen konnte eine weitere Plane, mit etwas Abstand, über der Öffnung angebracht werden.
Sechs dieser Zelte wurden nun hier aufgestellt. Arryn hatte nur einen Teil seiner Soldaten mit zur Hauptstadt genommen. Er brauchte nicht die volle Stärke seines Regiments vor den Stadttoren aufmarschieren zu lassen. Die Bevölkerung Mirthals stand ihnen schon jetzt skeptisch genug gegenüber. Da brauchten sie nicht noch die Zähne zu fletschen. Außerdem mussten nicht alle seine Untergebenen den gleichen Umweg machen. Der Rest seiner Soldaten würde sich bereits auf dem Heimmarsch befinden, auf dem Weg in die verdiente Ruhe vor dem Sturm.
Arryn schlug die Zeltklappe zu seiner eigenen Unterbringung auf. Das Knistern von Feuer drang ihm an die Ohren und der Geruch von brennendem Holz stieg ihm in die Nase. Wärme umhüllte ihn beim Eintreten wie ein wohliger Mantel. Es war niemand im Zelt außer er selbst, doch bald würden seine engsten Vertrauten zu ihm aufschließen. Seufzend ließ er sich auf seiner Schlafstätte nieder. Im Schneidersitz saß er auf der mit Fellen ausgelegten Matte. Jetzt würde er warten. Er mochte es nicht, dass ihm so die Hände gebunden waren. Es lag in Arryns Natur Probleme in Angriff zu nehmen. Sein Vater hatte in seiner Erziehung viel Wert darauf gelegt seinem Sohn beizubringen Entscheidungen stets mit vollem Einsatz anzugehen. Nun musste Arryn jedoch unfreiwillig warten und das gefiel ihm nicht. Die Politik der Thyrier war ihm schon jeher zuwider gewesen. Da half es nicht, dass er nun in das Rattennest von Hauptstadt musste.
Bela lief schnellen Schrittes die Stufen des Hauptgebäudes hinab. Sie musste sich beeilen, um noch rechtzeitig am großen Tor anzukommen. Rennen war in den ausladenden Hallen des Tempels untersagt, deshalb trugen ihre Füße sie so flink, wie ein Gehen es noch zuließ. Trotz ihrer sechszehn Jahre hatte sie bald Seitenstechen und schwor sich in naher Zukunft etwas für ihre Konstitution zu tun.
Als die Meldung, über die baldige Ankunft der Prinzessin eintraf hatte Bela sich gerade in der Meditation befunden. Tief versunken in der Trance, damit beschäftigt ihr Virum tief in ihrer Blutbahn zirkulieren zu spüren, war sie abrupt herausgerissen worden. Ihre Meisterin hatte sie in der Meditationshalle aufgesucht und ihr aufgetragen die imperiale Besucherin in Empfang zu nehmen. Denn es wäre eine unweise Entscheidung das Lieblingskind seiner Majestät vor den Toren warten zu lassen.
Hohe, in sich selbst gedrehte Säulen flankierten auf beiden Seiten ihren Weg, während sie der Unterführung zum Ausgang folgte. Der Boden war aus schwarzem Granit, sehr im Kontrast zu den hellen Steinen der Wände und Decken. Dieser Tempel war vor zwei Jahrhunderten als große Spirale angelegt worden. In der Mitte der Anlage erhob sich ein massiver Turm aus der Erde. Es war das höchste Gebäude in der Hauptstadt. Von fast überall in Mirthal konnte man die gläserne Spitze des Bauwerks sehen.
Gerade erreichte Bela den äußeren Hof, da erschien eine imposante Kutsche am Eingang zum Tempel. Dieser wurde nur durch einen großen Bogen markierte, da der Tempel dort keine Türen oder Gitter besaß. Jeder Bürger hatte das Recht den Grund des Tempels zu betreten, um zu Trauern oder Rat zu suchen. Deswegen hatte immer eine der Novizinnen Dienst am Tor, um Gäste willkommen zu heißen und in die Tempelanlage zu geleiten. Trotz ihrer Gastfreundschaft wollten die Ordensführerinnen keine Ungeweihten aufsichtlos durch die gesamte Tempelanlage streifen lassen. Nur bei besonderem Besuch wurden spezielle Eskorten gestellt. Eben ein derartiger Fall trat jetzt gerade auf.
Bela schaffte es noch kurz zu Atem zu kommen und sich hastig ihre Gewänder glatt zu streichen. Sie trug eine knielange Tunika mit langen Ärmeln und eine lockere Hose. Alles aus tiefrotem Stoff gefertigt. Ein braunes Tuch war um ihre Hüfte geknotet und wies sie als Novizin des Ordens aus. Nicht das dies nötig gewesen wäre. Denn würde Bela eines Tages ihren Eid ablegen, müsste sie für den Rest ihres Lebens ihr Gesicht vor Außenstehenden verhüllen. Doch dieser Tag lag noch in weiter Ferne.
Die Türen der reich verzierten Kutsche öffneten sich und zuerst kam eine junge, braunhaarige Frau heraus. Ihr graues Kleid war hoch geschlossen und hatte einen eleganten fließenden Schnitt. Sie war hübsch, mit kleinen Sommersprossen um die Nase und aufmerksamen blauen Augen. Die, offensichtlich handelte es sich um eine Bedienstete, erste Frau bot einem weiteren Insassen die Hand an. Weiße Handschuhe ergriffen die ausgestreckte Hand, woraufhin eine weitere Frau aus der Kutsche stieg. Ein üppiges hellgrünes Kleid bauschte sich bis um ihre Knöchel und verengte sich, oberhalb der Hüfte, zu einem enganliegenden Mieder. Ein bestickter Ledermantel Mantel hing ihr lose um die Schultern.
Sie war eine der schönsten Frauen, die Bela je gesehen hatte. Trotz ihrer hochgewachsenen Gestalt hatte sie etwas Unwirkliches an sich. Als könnte sie jeden Augenblick in eine andere Welt entschwinden.
Bela deutete eine Verbeugung an. Die roten Priesterinnen waren autark, gehörten demnach nicht zum thyrischen Reich. Doch ihre Arbeit bedurfte einer engen Zusammenarbeit mit den Regierungen der Reiche und Thyra war das größte von allen. Aus diesem Grund schadete es nie höflich zu sein. Auch die Prinzessin senkte den Kopf, zollte Bela ihren Respekt.
››Ich bin gekommen, um eine Spende zu entrichten‹‹, erklärte Prinzessin Vinra und deutete mit einer Handbewegung auf ihre Zofe. Diese zog eine kleine Schatulle aus den Taschen ihres Gewandes und hielt sie präsentierend vor sich.
››Die roten Priesterinnen danken euch für eure Mildtätigkeit. Gibt es einen spezifischen Zweck, für den ihr eure Spende gedacht hattet?‹‹
Vinra lächelte und schüttelte den Kopf. Bela empfand es als bezauberndes Lächeln, doch bei genauem hinsehen hatte sie das Gefühl, dass die Augen der Prinzessin leblos blieben.
››Nein. Ich gebe dieses Geld ganz in eure Obhut, nutzt es nach eurem Gutdünken.‹‹
››Vielen Dank. Soll ich euch dann noch die Tempelanlagen zeigen? Die Gärten sind neu angelegt worden. Oder vielleicht steht euch auch der Sinn nach einer Tasse Tee?‹‹
Das Hofieren von großzügigen Spendern gehörte zum guten Ton, sodass Bela versuchte besonders freundlich zu klingen. Bei der Aussicht, die Prinzessin vielleicht sogar den gesamten Nachmittag herumführen zu müssen, wurde in Bela allerdings nicht gerade Begeisterung geweckt. Es gäbe hundert spannendere Verwendungen für diese Stunden als diesen. Doch sie hatte schon früh lernen müssen, dass zum Leben einer Priesterin mehr gehörte als nur sein Virum zu meistern. Ihre Meisterin sagte immer, dass nur eine gute Politikerin eine Ordensführerin wird.
››Ich danke euch. Gerne würde ich mir die Anlagen ansehen.‹‹
Vinra ging an ihr vorbei, dicht gefolgt von ihrer Zofe und trat zwischen den Säulen hindurch. Nur kurz drehte sie sich um und richtete das Wort an zwei Soldaten, die Bela vorher gar nicht bemerkt hatte. Nun standen diese ebenfalls vor der Kutsche und machten sich daran der Prinzessin zu folgen.
››Ihr könnt hier warten. Ich befinde mich in bester Begleitung.‹‹
Die Worte der Prinzessin waren deutlich, doch den beiden Männern schien der Befehl Unbehagen zu bereiten.
››Eure Hoheit…unsere Anweisungen waren eindeutig…‹‹ versuchte der ältere Soldat Vinra zu überzeugen. Es war ihm sichtlich unangenehm, mit seinen Befehlen zwischen den Stühlen zu stehen.
››Ich kenne eure Anweisungen, aber seit euch gewiss, dass mir hier keine Gefahr droht. Was würden die Bürger denken, wenn sich die imperiale Familie nicht ohne Wachen in den Tempel traut?‹‹
Der letzte Satz hing noch in der Luft, da drehte sich die Prinzessin wieder um und ging weiter in den Tempel hinein. Bela beeilte sich hinter ihr herzukommen.
››Was wollt ihr euch denn ansehen eure Hoheit? Wie wäre es mit den eben erwähnten Gärten oder den historischen Gemälden in der großen Halle…‹‹ jäh wurde Bela in ihren Ausführungen unterbrochen als die Prinzessin stehen blieb und sie erwartungsvoll ansah.
››Es gibt doch eine Bibliothek hier, oder nicht?‹‹
››Eine Bibliothek?‹‹ Verwirrt sah Bela die Prinzessin an.
››Genauer formuliert, eine Bibliothek mit Büchern über das Virum und die Götter‹‹, erklärte Vinra daraufhin.
››Hier befindet sich vielleicht die größte Sammlung an Schriften über die Götter, die jemals zusammengetragen wurde. Unsere Bibliothek wird dahingehend gut gepflegt.‹‹
Ein Leuchten trat in Vinras Augen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hatte Bela das Gefühl eine echte Emotion in der Prinzessin wahrzunehmen. Es war ihr komisch vorgekommen etwas derartiges zu denken, immerhin kannte sie die junge Frau überhaupt nicht. Bela hatte es auf hochmütiges Gehabe der Prinzessin geschoben, doch irgendetwas an ihr wirkte steif, fast hölzern. Wenn sie sprach oder sich bewegte wirkte, als wäre nichts dem Zufall überlassen. Alles war einstudiert und genaustens überdacht. Wie bei einem Theaterstück, doch nur die Prinzessin stand auf der Bühne.
››Wollt ihr sie sehen?‹‹, fragte Bela und erntete ein bestätigendes Nicken.
››Ja bitte!‹‹ Eifrig klatschte Vinra in die Hände.
››Folgt mir. Die Bibliothek steht der Öffentlichkeit eigentlich nicht zu Verfügung, aber ich denke für die imperiale Familie darf ich eine Ausnahme machen.‹‹
››Vielen Dank Novizin...?‹‹
››Novizin Bela, eure Hoheit‹‹, erwiderte sie und führte die Prinzessin durch die Gänge.
>>Dann vielen Dank Novizin Bela. <<
Gemeinsam erreichten sie die Türen zur Bibliothek und Bela führte ihre Gäste hinein. Da die Bibliothek ein Teil des Turms war, waren die Bücher nicht in der begrenzten Fläche untergebracht, sondern in der Höhe. In dem großen runden Raum wuchsen die Regale gen Himmel. Dutzende runde Säulen bestehend aus Bücherregalen standen in der Bibliothek verteilt. Man musste den Kopf in den Nacken legen, um das Ende der Bücherreihen zu erahnen. Schmale Wendeltreppen umschlangen die Säulen und machten die Bücher erreichbar. Schon zu oft war Bela die Stufen hinauf und hinunter gegangen auf der Suche nach den richtigen Schriften. Der imposante Anblick der Bibliothek trug nicht zu ihrem Komfort bei. Licht drang durch unzählige kleine Fenster hinein, erhellte selbst den letzten Winkel des Raums. Zudem waren überall an der Wand durchsichtige Kristalle angebracht, die bei Nacht die Bibliothek erhellen konnten. Sollten diese Kristalle einmal erneuert werden müssen, würde das den Orden ein Vermögen kosten.
››Ein prächtiger Anblick, nicht wahr?‹‹, sagte Bela als sie die staunenden Gesichter ihrer Gäste sah. Sie deutete auf eine kleine Sitzecke, die zum bequemen Lesen eingerichtet worden war. Die Ordensführerin hatte seit einigen Jahren mit ihrem Rücken zu kämpfen und beschlossen, dass das Lesen der Schriften auch komfortabel möglich sein sollte. Deswegen wurden neben den klassischen Schreibtischen und Stühlen auch Sessel mit Hockern und große zum Sitzen gedachte Kissen eingeführt. Diese Kissen hatte eine der Hohepriesterinnen von ihrer Reise in die Provinz Nym mitgebracht. Die neuste der Provinzen Thyras war für ihre besonders unkonventionelle Lebensweise bekannt.
Nachdem sich die Prinzessin in einem der Sessel niedergelassen hatte, setzte sich Bela ihr gegenüber. Einige Meter entfernt setzte sich die Zofe an einen der übriggebliebenen Schreibtische und studierte beiläufig eines der noch herumliegenden Bücher.
››Gibt es etwas bestimmtes, das ihr sucht Prinzessin?‹‹ Eröffnete Bela erneut das Gespräch. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sich ihr Gegenüber nur aus reinem Interesse an der Architektur spezifisch die Bibliothek hatte zeigen lassen.
››Wenn ich ganz ehrlich mit euch sein darf, hatte mein Besuch hier nicht nur meine Spende zum Ziel. Ich wollte diskret etwas über das Virum herausfinden und die Arten wie es sich manifestiert.‹‹
››Über das Virum? Wieso fragt ihr nicht euren Lehrmeister, ob er euch…‹‹ Mitten im Satz brach Bela ab. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Im letzten Moment war ihr etwas eingefallen, die traurige Geschichte der Prinzessin. Es gab einen Grund, warum die jüngste Tochter des Imperators ein so behütetes Leben führte. Ein offenes Geheimnis, das ihren Vater dazu gebracht hatte, sich besonders um Vinra zu bemühen.
Die Geburt der Prinzessin war wohl keine einfache gewesen, Vinras Mutter Aena hatte unter schweren Komplikationen zu leiden. Schlussendlich gebar sie eine weitere Tochter und starb noch in derselben Nacht. Die heutige Ordensführerin Mavena war damals zur Leichenübergebung und Erkennung der neuen Prinzessin anwesend gewesen. Durch den Stress der eigenen Geburt war der Körper der Prinzessin sehr fragil geworden. Sie sei zu klein, zu zierlich gewesen. Mavena hatte Vinra schon in dieser Nacht einer Erkennung unterzogen und festgestellt, dass der Körper der Neugeborenen wahrscheinlich niemals würde Virum in sich aufnehmen können. Es war eine Tragödie gewesen. Der Imperator verlor seine geliebte Frau und wahrscheinlich auch seine Tochter. Das sie nun immer noch lebte, war ein halbes Wunder gewesen. Um ihre Gesundheit nicht noch weiter zu belasten hatte der Imperator seiner Tochter fast durchgehend Bettruhe verordnet.
››Entschuldigt meine vorschnellen Worte, ich wollte euch nicht beleidigen.‹‹
››Ihr müsst euch nicht entschuldigen, ihr habt nichts Falsches gesagt. Mein Zustand ist kaum ein Geheimnis. Dazu bin ich oft krank gewesen, sodass ich nie eine höhere Ausbildung im Bereich des Virums erhalten konnte.‹‹ Mit im Schoß gefalteten Händen sah sie hinaus aus einem der Fenster. Ein trauriger Zug legte sich um die Lippen der Prinzessin.
››Mit Verlaub, aber wieso kommt ihr extra den Weg in den Tempel, um solche Fragen zu stellen? Ihr mögt nicht an der Akademie gewesen sein, doch es muss für euch bessere Anlaufstellen gegeben haben als den Tempel.‹‹ Es kam Bela albern vor gerade die roten Priesterinnen nach dem Virum zu fragen. Für die meisten Belange war die Akademie der bessere Ansprechpartner, zu speziell funktionierte das Virum der Ordensmitgliederinnen. Zum Unterweisen Außenstehender waren sie nicht gut geeignet.
››Im Palast macht man sich schon Sorgen um mich. Wenn mein Vater erfährt, dass ich wie er sagt „meine Gedanken wieder in den Wolken habe“, dann sorgt er sich nur wieder unnötig.‹‹
Verständnisvoll nickte Bela. Sie wusste, wie es sich anfühlte die Erwartungen der wichtigsten Person in ihrem Leben zu enttäuschen. Ihre Meisterin war alles für Bela. Sie war der Mensch, dem sie nacheiferte, der ihr überhaupt diese Chance ermöglicht hatte. Doch der Makel von Belas eigener Geburt lastete schwer auf ihr. Das Gefühl niemals gut genug zu sein.
››Dann stellt doch mir eure Fragen. Ich mag zwar nicht das gesamte Wissen der Bibliothek beherbergen, doch ich habe viele Stunden hier verbracht und kann euch bestimmt die ein oder andere Frage beantworten. Dann müsste ihr auch nicht diese fürchterlichen Treppen laufen.‹‹
››Sehr gerne. Beim Anblick der Stufen war mir die Vorfreude auch schon vergangen‹‹, erwiderte die Prinzessin, mit einem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen. Es war ein aufrichtig freundlicher Moment.
››Was wollt ihr denn spezifisch wissen? Wie kann ich den Horizont der Prinzessin erweitern?‹‹
Vinra räusperte sich, ehe sie eine Antwort formulierte. Als wären ihr die nächsten Worte sehr unangenehm.
››Gibt es göttliche Interventionen im zweiten Reich? Und wie würden sie sich darstellen?‹‹
Bela lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und holte tief Luft.
››Im Allgemeinen gehen wir von nein aus. Die Götter greifen kaum ins zweite Reich ein, es ist ihnen im Endeffekt relativ egal.‹‹
Enttäuschung breitete sich auf dem Gesicht der Prinzessin aus.
››Wenn die Götter, die Herrscher über das Virum sind, könnten sie nicht die Zeit selbst beeinflussen?‹‹
››Ich glaube nicht, dass die Götter sonderliches Interesse an unserer Zeit haben, das zweite und erste Reich laufen in diesen Punkten nicht synchron.‹‹ Belas Ausführung schien Vinra noch betrübter zu stimmen. Die Prinzessin sackte in ihrem Stuhl zusammen. Und Bela kramte in ihrem Gedächtnis, um sie etwas aufzuheitern. ››Doch es gibt Aufzeichnung, dass es wahrscheinlich einmal sehr begabte Viraa gab, die die Zeit beeinflussen konnten.‹‹
Schlagartig kehrte leben zurück in die Prinzessin. ››Welche Aufzeichnungen?‹‹
››Ich müsste sie heraussuchen. Es war ein Text, den ich vor einer geraumen Weile überflogen habe. Ich fürchte nur er war nicht sehr aufschlussreich. Es stand dort nichts über die Praktik selbst geschrieben.‹‹
››Doch wie ist das möglich? Wenn nicht die Götter intervenieren und es Viraa waren, wie soll jemand ohne Virum etwas derartiges bewerkstelligen können?‹‹ Es war, als würde die Prinzessin zu sich selbst sprechen, murmelte wilde Sätze in sich hinein, deren Bedeutung Bela nur schwerlich fassen konnte.
››Eure Hoheit? Was genau meint ihr damit? Was wollt ihr bewerkstelligen?‹‹
Vinra fuhr sich über die Augen, stemmte das Gesicht in die Hände und seufzte.
››Genau da liegt das Problem. Ich bewerkstellige gar nichts. Ohne Virum bin ich praktisch nur eine Hülle.‹‹
Bela wusste nicht was in Vinra vor sich ging. Doch es war offensichtlich das sie schwer mit etwas zu kämpfen hatte. Sie wusste nicht, ob oder wie sie die Prinzessin trösten konnte. Eine Hand auf der Schulter? Sicherlich würde sie niemanden der imperialen Familie mit bloßen Händen berühren. Dann vielleicht ein paar aufmunternde Worte?
››Ihr seid keine Hülle, eure Hoheit. Ihr habt die ersten Tage eures Lebens gemeistert und das ist ein Wunder. Das Neugeborene, die bei der Erkennung kein Virum haben ihren Zugang noch selbst finden, ist wahnsinnig selten.‹‹
Langsam hob die Prinzessin den Kopf, blickte Bela stirnrunzelnd an. ››Den Zugang finden?‹‹
››Ja genau! Schon so jung müsst ihr eine Kämpferin gewesen sein. Die meisten Neugeborenen versterben innerhalb von Tagen, wenn sie den Fluss des Virums nicht in sich aufnehmen können. Ihr habt euren Weg dorthin, aber noch gefunden. Ihr mögt keine Viraa werden, doch lasst euch diese Leistung nicht nehmen.‹‹ Ermutigt von ihrer Reaktion hatte Bela einfach weiter drauflos geredet in der Hoffnung die Stimmung weiter aufzuheitern. Allerdings verstärkte sich nur der verwirrte Gesichtsausdruck Vinras.
››Ich bin…‹‹ Fing die Prinzessin ihren Satz an, stockt jedoch. Dachte kurz nach und forderte Bela dann auf. ››Erklärt. Was meint ihr damit?‹‹
Bela knetete ihre Hände, nicht sicher was die Prinzessin meinte. Hatte sie zu viel gewollt? Zu viel geschmeichelt? Vinra wirkte nicht verärgert, nur weiterhin durcheinander. Deswegen versuchte Bela es noch einmal mit dem informativen Ansatz.
››Spielt ihr auf den Fluss des Virums an?‹‹, fragte Bela hoffnungsvoll und erntete zu ihrer Freude ein Nicken. ››Ihr meint, wieso ihr überlebt habt?‹‹ Wieder ein Nicken.
››Dann beginnen wir ganz von vorne. Ihr wisst was das Virum ist…oder?‹‹ Es war eine alberne Frage, doch in diesem Moment war sich Bela nicht sicher, wie sie das Thema beginnen sollte. Die Prinzessin wirkte zu verwirrt, zu entfremdet von der Materie als das irgendetwas normal an dieser Situation wäre.
››Das Virum gedeiht in unserem Blut, es ist der Dreh und Angelpunkt für unsere Gesellschaft. Mit dem Virum können wir besondere Fähigkeiten entwickeln, die uns wiederrum im Alltag helfen.‹‹ Vinras Antwort war lehrbuchmäßig. Die Worte waren offensichtlich auswendig gelernt worden.
››Sehr richtig, doch wir können unsere Gaben nicht einfach so einsetzen. Das Virum ist unabdingbar mit unserem Blut, der Essenz unseres Lebens verknüpft, das eine kann, nicht ohne das andere. Aber wir haben keinen Zugriff auf die Macht in unserem Inneren ohne den richtigen Katalysator.‹‹
››Die Kristalle‹‹, erwiderte die Prinzessin. Sie lauschte aufmerksam vorgebeugt den Ausführungen der Novizin.
››Die Kristalle‹‹, bestätigte Bela. ››Kommen Kristalle mit unserem Blut in Berührung absorbieren sie das Virum und können diese Energie in umgewandelter Form wieder freigeben.‹‹
››Einige spenden Licht‹‹, sagte die Prinzessin und sah sich in der Bibliothek um. Sie deutete auf die Kristalle an den Wänden. ››Andere werden in der Verarbeitung von Materialien, dem Transport, der Rohstoffförderung und am wichtigsten im Militär eingesetzt.‹‹
››Das Militär hat für euch einen so hohen Stellenwert?‹‹ fragte Bela mit hochgezogener Augenbraue. Vinra zuckte mit den Achseln. ››Mein Cousin ist Soldat, mein Urgroßvater hat das erste dauerhaft stehende Heer aufgebaut, die Grundsteine meiner Familie wurden auf dem Rücken von Soldaten erlangt.‹‹
Es war eine Tatsache, dass Vinras Urgroßvater der erste Imperator gewesen war, der Mann, der den Kontinent einte. Zumindest das meiste davon. Doch für Bela hatten die Geschichten dieser ruhmreichen Helden immer einen faden Beigeschmack.
››Doch wo kommt das Virum her? Wie kann es sein, dass eine solche Macht in unserem Inneren schlummert und wir nur so begrenzt einen Zugang dazu haben?‹‹
Diese Frage war die Grundfeste des Tempels, Belas gesamtes Leben basierte auf diesen Zusammenhängen.
››Das Virum stammt aus dem ersten Reich und wird uns im zweiten Reich nur geliehen.‹‹
››Ganz genau eure Hoheit.‹‹ Bela holte einmal tief Luft und setzte zu einer ausschweifenden Erzählung an.
››Am Anbeginn der Zeit gab es nur ein Reich. Dieses Reich war ohne feste Form, ohne Körper oder Fleisch. Das Virum floss in ungezügelten Bahnen durch es hindurch und irgendwann bildete es Strudel. Diese Strudel gab es so lange, dass sie eines Tages ein Bewusstsein entwickelten, ein Gespür für das Sein und nicht Sein. Diese Strudel nennen wir Götter. Ihnen gehört das erste Reich. Dann nach einer ganz schön langen Zeit kam es zu Unregelmäßigkeiten im Fluss des Virums. Feste Körper formten sich, banden einen Teil des Virums in ihrer Mitte. Die Götter sahen das nicht gerne, denn sie mochten ihr Reich so wie es war. Doch sie zeigten Gnade mit den neu entstandenen Körpern und schenkten ihnen ein Reich. Sie spalteten einen kleinen Teil der Welt ab, formten es zu einer Blase und setzten die neuen Körper dort hinein. Die Körper konnten einen kleinen Teil des Virums mitnehmen und in sich speichern.‹‹
Gebannt lauschte die Prinzessin Belas Ausführung. Jedes Kind kannte die Erzählung von der Entstehung der Reiche, doch Vinra wirkte, als würde sie jedes Wort aufsaugen.
››Braucht man sein Virum denn nicht auf? Wie kann es sein, dass es sich nicht vollständig entleert?‹‹
Bela musste bei dieser Frage lächeln, es war, als würde sie mit einem Kind über die Thematik sprechen. Dabei war die Prinzessin schon einige Jahre älter als sie. Man musste aus Sorge um Vinra ihre Ausbildung wirklich sehr beschränkt haben, wenn sie nicht einmal so viel über ihren eigenen Körper wusste. Traditionell wurden die meisten Kinder einer Erkennung im Alter von zehn Jahren unterzogen, um dann speziell gefördert zu werden. Das eigene Virum zu erspüren wurde allerdings schon sehr viel früher beigebracht. Es waren Grundlagen, die jedes Kind beherrschen sollte. Bela beschlich ein ungutes Gefühl, während sie die Prinzessin betrachtete. Trotz allem fuhr sie mit ihrer Erklärung fort, stillte Vinras Wissensdurst.
››Das Virum kann nicht „leer gehen“. Es fühlt sich für euch vielleicht manchmal so an, aber solange ihr atmet, ist etwas davon in euch. Natürlich können wir es bis zu einem gewissen Grad aufbrauchen, doch nach einer Weile regeneriert es sich wieder. Die beiden Reiche sind nicht vollständig voneinander getrennt, wenn wir sterben, geht unser Virum zurück an das erste Reich und bis dahin können wir uns über unser Leben etwas aus dem ersten Reich borgen. Wie ich eben schon sagte, das Blut und Virum sind nicht trennbar. Wir können nicht ohne diese beiden Sachen leben. Der Fluss des Virums bricht bis zu unserem Tod nicht ab.‹‹
Die Miene der Prinzessin nahm einen leeren Ausdruck an, kurz starrte sie aus dem Fenster. Bela konnte sehen, wie es in ihrem Kopf ratterte und fragte sich, worüber die Prinzessin nachdachte. Dann drehte Vinra sich wieder zu Bela und stellte eine Frage, die sie überraschte.
››Wie kann es dann sein, dass ich gar kein Virum besitze?‹‹
Sprachlos schüttelte Bela den Kopf. Was für eine absurde Vorstellung herrschte im Verstand der Prinzessin? Vinra Aena Thefaran, zweite Prinzessin von Thyra, geliebte Tochter des Imperators und Paradebeispiel an höfischer Eleganz, saß vor Bela und schaute sie mit betrübten, leeren Augen an. Es lag ein Kummer in den tiefen dieser grauen Seen, die für mehrere Lebzeiten ausreichen würden. Es war, als säße dort der Schatten einer Frau, ein graues Abbild einer sonst so strahlenden Erscheinung. Und das alles aufgrund eines einfachen Gesprächs über das Virum? Ein Gespräch, das so schon viel früher mit der Prinzessin hätte geführt werden müssen. Wie hatte man ihr die Grundlagen beigebracht, wenn sie nicht einmal so viel wusste?
››Eure Hoheit, ich verstehe nicht ganz. Was meint ihr mit ihr besitzt kein Virum? Ich habe euch doch eben über den Fluss und die Verbindung zum ersten Reich erzählt. Da ihr mir sehr lebendig ausseht, habt ihr natürlich Virum in euch.‹‹
Es dauerte einige Herzschläge. Die Prinzessin blinzelte, einmal und dann ein zweites Mal. Plötzlich sprang sie auf, zeigte mit dem Finger auf Bela und erhob hektisch die Stimme.
››Wie könnt ihr es wagen euch über mich lustig zu machen? Sehe ich für euch aus, als würde ich gerne zum Gespött werden?‹‹
Panisch erhob Bela die Hände. Offensichtlich hatte sie gerade ordentlich etwas verbockt. Nur wusste sie nicht an welcher Stelle das Gespräch derartig gekippt war. Die Prinzessin war von freudig erregt, zu deprimiert, zu wütend gewechselt in einer Geschwindigkeit, davon schwirrte Bela der Kopf.
››Ich wollte euch nie erzürnen. Ich habe lediglich versucht eure Fragen…‹‹ Bela wurde von einer weiterhin erzürnten Vinra unterbrochen. Diese hatte begonnen ruhelos in kurzen Bahnen auf und abzulaufen. Die Bedienstete blickte besorgt zu ihnen herüber, offensichtlich unschlüssig, ob sie eingreifen sollte oder nicht.
››Aber ihr habt mich erzürnt. Wie könnt ihr eine solch dreiste Lüge erzählen? Meine Erkennung geschah schon als Säugling, kaum ein paar Stunden war ich alt. Eure heutige Oberin selbst hat sie durchgeführt. Ich besitze keinen Funken Virum. Glaubt ihr das bereitet mir Freude? Glaubte ihr ich werde nicht jeden Tag meines Lebens daran erinnert? Wisst ihr wie es ist als Kind jedes Mal enttäuscht zu sein, wenn man versucht einen Kristall zu nutzen und nie passiert etwas? Wenn jeder einen überflügelt und man bleibt allein zurück? Gebrandmarkt? Mit nichts weiter als dem eigenen Verstand und dem seit Geburt kränklichen Körper?‹‹
Die Worte schnitten wie ein Messer in Belas Seele. So viel vom Schmerz der Prinzessin konnte sie nachempfinden, so viel davon hatte sie selbst schon in ähnlicher Weise gefühlt. Doch war Vinra einem Trugschluss anheimgefallen. Ein Trugschluss, der hätte aufgeklärt werden können, aufgeklärt werden müssen. Wie hatte jemand so fahrlässig mit der Prinzessin umgehen können? Obwohl, konnte man hier noch von fahrlässig sprechen? Oder war es bewusst geschehen? Doch warum sollte jemand der Prinzessin solch emotionales Leid zufügen wollen?
››Eure Hoheit.‹‹ Begann Bela, doch die aufgeregte Prinzessin reagierte nicht. Weiter lief sie umher, klammerte ihre Hände in die Lagen ihres Kleids. ››Eure Hoheit…Vinra!‹‹ Der Name kam Bela lauter über die Lippen als sie es gewollt hatte. Praktisch angeschrien hatte sie die Prinzessin und sie hätte sich schlecht für ihren unförmlichen Ausbruch gefühlt, wenn es nicht Wirkung gezeigt hätte. Abrupt bliebt sie stehen. Bela nahm all ihren Mut zusammen und näherte sich der Prinzessin. Vorsichtig griff sie Vinras Hand, legte die kühlen blassen Finger locker in ihre eigenen. Ihr Gegenüber bliebt stocksteif stehen, viel zu schnell hob und senkte sich ihr Brustkorb. In ihren Augen standen Tränen.
››Prinzessin Vinra ihr scheint meine Absichten falsch verstanden zu haben. Nie wollte ich euch kränken. Mein einziges Ziel war es euch aufzuklären.‹‹
››Wieso sagt ihr dann solch verletzende Dinge?‹‹
Bela überlegte, ob sie wirklich sagen wollte, was sie zu sagen gedachte. Möglicherweise würde sie sich damit für immer unbeliebt machen. Sollte ihre Meisterin davon erfahren, würde Bela wahrscheinlich gescholten werden. Doch Bela erkannte etwas von sich selbst in der Prinzessin wieder. Und ein Feigling war sie noch nie gewesen. Deshalb atmete sie tief durch und begann zu sprechen.
››Weil sie wahr sind.‹‹ Kurz machte Bela eine Pause. Sah Vinra tief in die Augen. ››Ich weiß nicht, warum ihr glaubt, kein Virum zu haben, wer euch in diesem Glauben gelassen hat, aber es kann schlichtweg nicht stimmen. Jedes lebendige Wesen in diesem Reich trägt den Fluss des Virums in sich. Ohne diesen überleben wir nicht. Wie ich bereits sagte, gibt es Kinder, die ohne diesen Zugang geboren werden, meist aufgrund von angeborener Schwäche oder Krankheit. Doch diese Kinder überleben ihre ersten Tage in dieser Welt nicht. Ihr Körper kann ohne Virum nicht existieren, denn das Virum ist Leben selbst. Die ehrenwerte Frau Oberin hat wahrscheinlich einen solchen Zustand bei euch festgestellt, aber es gibt Fälle, bei denen die Säuglinge verspätet ihren Zugang noch finden. Einen solchen Fall stellt wohl ihr dar. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Ihr mögt nicht viel besitzen und doch ist es irgendwo tief in euch.‹‹
››Warum kann ich dann keine Kristalle benutzen?‹‹
››Das kann ich euch auch nicht sagen…‹‹ Kurz überlegte Bela. ››Wurden euch denn die Grundlagen beigebracht? Das erspüren eures Virums? Den Fluss wahrzunehmen?‹‹
Vinra schüttelte den Kopf, drückte geistesabwesend Belas Hand. ››Nein. Man sagte mir es wäre vergeudete Mühe.‹‹
Bela zerriss es fast das Herz. Jemand, und es bestand die hohe Wahrscheinlichkeit, dass es ihr eigener Vater gewesen war, hatte Vinra ein großes Unrecht getan. Der imperiale Hof war ein größeres Konstrukt aus Lügen und Falschheit als sich Bela je vorgestellt hatte.
››Dann ist es kein Wunder. Kristalle zu benutzen ist nicht einfach, man muss es lernen. Kinder beginnen normalerweise schon damit, wenn sie gerade laufen können. Umso früher man beginnt, desto intuitiver ist der Umgang.‹‹
Ein hoffnungsvolles Glimmen trat in die eben noch so abwesenden Augen der Prinzessin. Sie nickte und verarbeitete offensichtlich das Gesagte. Gerade dachte Bela, dass sie die Situation entschärft hätte und wollte schon erleichtert durchatmen, da legte sich ein ernster Zug auf Vinras Miene.
››Es ist wahrscheinlich kein Geheimnis, ein großer Viraa wüsste davon, nicht wahr?‹‹
Bela war unbehaglich bei dieser Frage, wusste sie doch was die Prinzessin damit implizierte. Sie war in diesem Moment zu dem gleichen Schluss gekommen, den Bela eben selbst noch gedacht hatte.
››Ja. Ein Zufall wäre höchst…‹‹ Wieder wurde Bela in ihrem Satz unterbrochen. Die Prinzessin löste ihre Hand aus Belas Griff und entfernte sich einige Schritte. Ihr Gesicht zeigte keinen Ausdruck mehr, ihre Augen waren kalt. Vinra nickte ihrer Bediensteten kurz zu, woraufhin diese aufstand und an ihre Seite eilte. Mit besorgtem Blick griff die braunhaarige Frau den Ellbogen der Prinzessin. ››Danke für ihre Hilfe. Die Bibliothek ist wahrlich atemberaubend. Wir werden nun gehen‹‹, sprach Vinra in knappen Worten. Die Stimmung war merkwürdig, weder angespannt noch fröhlich. Es war, als wäre jedes Gefühl aus dem Raum gesaugt worden. Bela wollte noch etwas sagen, jedoch kam sie nicht mehr dazu. Ohne noch einmal zurückzublicken rauschte die Prinzessin in Begleitung ihrer Dienerin aus der Tür. Verwirrt blieb Bela zurück. Wie sollte sie das ihrer Meisterin erklären?
Es war schon spät am Abend als Bela zurück in ihre Kammer kam. Völlig erschöpft von den Ereignissen des Tages. Ihre Meisterin und die Ordensführerin hatten noch einen Bericht über den Besuch der Prinzessin von ihr verlangt. Bela hatte die Ereignisse grob geschildert, jedoch einige Punkte ausgelassen. Sie fühlte sich schlecht ihrer Meisterin etwas zu verheimlich, doch Bela konnte mit auf eine merkwürdige Weise mit Vinra mitfühlen. Wahrscheinlich würde sie die Prinzessin nie wieder sehen, aber der geteilte Moment in der Bibliothek fühlte sich zu intim an, um ihn mit anderen zu teilen. Außerdem waren dort Geschehnisse innerhalb der imperialen Familie ans Tageslicht gekommen, die wohl niemanden etwas angingen. Wer wusste warum der Imperator seiner Tochter gegenüber so geheimnistuerisch gewesen war. Immerhin galt sie als sein Nesthäkchen, obwohl Bela diese Aussage nach heute mit Vorsicht genießen würde. Aber wer war sie, die familiären Belange dieser spezifischen Familie zu hinterfragen zu stellen.
Mit ihren Fingern öffnete Bela ihre streng nach oben gesteckten Haare und ließ die schwarzen Wellen auf ihre Schultern fallen. Mit den Fingerkuppen massierte sie kurz ihre angespannte Kopfhaut und griff anschließend in das verstecke Fach in der Schublade ihres Schreibtischs. Seufzend fingerte sie das schmale Päckchen, das unter einem doppelten Boden verborgen war, hervor. Sie entfaltete den sorgsam eingepackten Inhalt und betrachtete die zum Vorschein kommende getrocknete Pflanze. Vorsichtig riss sie eines der Blätter ab. Sich auf den bitteren Geschmack vorbereitend legte sie sich das Blatt unter die Zunge. Dort würde es über die Nacht bleiben und seine Wirkung entfalten. Mit dem Gesicht in die Hände gestützt setzte sich Bela auf das Bett. Erstickte das Schluchzen, während Tränen ihre Wangen hinunterliefen.
Wie lange die Wirkung noch ausreichend sein würde, konnte Bela nicht sagen. Schon seit einer Weile bemerkte sie Veränderungen an sich selbst. Noch waren sie nur für Bela erkennbar, ein oder zwei dunklere Haare hier und da. Doch bald würde das Versteckspiel ein Ende finden. Sie wusste nicht, wie es dann weitergehen würde. Es gab niemanden, der ihm helfen konnte.
Wie konnte das sein? Wie hatte sie all die Jahre so dumm sein können? Ihr Leben hatte sie in Büchern verbracht. Das Anhäufen von Wissen war ihr ein steter Begleiter gewesen in der Eintönigkeit ihres Lebens. Wie war ihr nie in den Sinn gekommen ein scheinbar so allgegenwärtiges Wissen nachzuprüfen? Was hatte sie noch alles einfach so geglaubt? Vinra hatte fast drei Jahrzehnte nur in ihrem Kopf gelebt, nie eigenmächtig gehandelt, nie widersprochen. Alles, was sie sich aneignete und nachforschte, diente dem Wohle ihrer Familie. Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen von der Norm abweichend zu denken. Jedes Denkmuster war ihr vorgegeben worden. Und Vinra hatte es nicht einmal bemerkt.
Wasser perlte von ihrem Gesicht, wie kleine Nadelstiche stachen die kalten Tropfen in ihre Haut. Gleich nach ihrer Ankunft hatte sie ihre Zofe angewiesen eine Schüssel kalten Wassers bereitzustellen. Nach ihrem übereilten Aufbruch aus dem Tempel hatte Vinra nicht klar denken können. Alles in ihr tobte und wütete, versuchte sich einen Reim aus den Worten der Novizin zu machen. Wieder beugte Vinra sich vor, um ihr Gesicht in das eisige Wasser zu tauchen. Blubberblasen stiegen an die Wasseroberfläche als Vinra die Luft aus ihren Lungen blies. So verblieb sie bis Sekunden zu Minuten wurden. Als es kaum mehr auszuhalten war, ihre Haut unangenehm brannte und ihr Körper nach neuer Luft schrie, zog Vinra ihren Kopfsit aus der Schüssel. Keuchend ließ sie sich auf den Boden sinken. Es war zu viel, einfach zu viel.
>>Immerhin zu etwas bist du zu gebrauchen bist. << Die Worte ihres Vaters hingen schwer in der Luft. Nur ein kurzer Blick auf das Taschentuch in Vinras Händen, zu mehr ließ er sich nicht herab. Stunden hatte Vinra damit verbracht auf das weiße Tuch kleine Sonnen zu sticken. Immer und immer wieder das Wappen ihrer Familie. Mit ihren kleinen Händen presste Vinra das Tuch an ihre Brust, die Augen voller Tränen. Ihre Finger taten weh von den vielen Stichen in ihre Fingerkuppen. Dutzende neuer Taschentücher hatte sie anfangen müssen, weil Blut auf die vorherigen getropft war. Die Stimme des Imperators war kalt, keine Liebe oder Anerkennung schwang darin mit. Er ging weiter und ließ Vinra in dem Flur zurück, in dem sie ihn abgefangen hatte. Sehnsüchtig blickte sie seiner aufrechten Gestalt hinterher. Ihr erstes Kompliment, auch wenn es nur flüchtig war, für Vinra bedeutete es die Welt.
Vinra erinnerte sich daran als wäre es erst gestern gewesen. Dieser Moment hatte einen Grundstein ihres gesamten weiteren Lebens gelegt. Die untergehende Sonne, das Zeichen für das Ende der alten Königreiche und den Neuanfang des mächtigen Imperiums Thyra, alle geeint unter einer Sonne. Sorgfältig hatte sie das Garn ausgewählt, die Nadeln und das Tuch.
Ihre akademische Weiterbildung hatte sich auf das Schreiben von Briefen und einprägen der Etikette beschränkt. Vinra sollte in der Lage sein, grundsätzlich Bücher und Korrespondenzen zu lesen, zu Tanzen und Musizieren. Auf höhere Bildung wurde verzichtet. Niemals würde sie sich in einer wichtigen Position wiederfinden. Lange wurde sogar davon ausgegangen, dass sie nie einen eigenen Haushalt führen würde. Ein eigener Haushalt hätte eine Ehe vorausgesetzt und ihr Vater war kein Freund von der Idee gewesen das imperiale Virum weiter zu verdünnen.
Nach diesem einen Tag war Vinra besessen davon gewesen ihren Wert durch das Glänzen in anderen Bereichen zu beweisen. Angespornt von dem wenigen Wohlwollen, das ihr Vater ihr gezeigt hatte, stürzte sie sich in ihre Selbststudien. Sie wurde die perfekte Tochter. Immer elegant, immer ein höfliches Lächeln auf den Lippen, immer adrett gekleidet und niemals widersprechend. Ein Mantra, das fest in ihrem Kopf verankert gewesen war. Selbst nach all den Demütigungen und Anfeindungen durch ihren Vater hatte Vinra dieses Verhalten nicht ablegen können, ganz im Gegenteil. Auf hunderte abwertende Aussagen kam ein halbherziges Lob und Vinra war wieder gefangen gewesen. Immerwährend in dem Versuch sich selbst zu beweisen, angespornt durch etwas weniger grausame Worte.
Es kamen keine Tränen. Vinra hätte gedacht, dass sie weinen würde, doch ihre Augen blieben trocken. Nur das Wasser aus der Waschschüssel tropfte an ihrer Nasenspitze hinunter.
Vinra schloss die Augen und horchte in sich hinein. Sie grub tief in ihr Inneres, bis an den Ort, den sie das erste Mal auf dem blutverschmierten Altar gespürt hatte. Ein winziger Fleck in ihrem Innersten, den sie nie zuvor so eingehend betrachtet hatte. Dort wo ihr eigenes Herz lag, der sitz des Virums. Hier wurde es angesammelt, bevor es im Körper verteilt wurde. Ganz tief, fast nicht erkennbar entdeckte Vinra einen kleinen Strudel Energie. Die gleiche Energie, die bei ihrer Hinrichtung aus ihr herausgesogen worden war. Eine Energie, die seit ihrer Geburt dort stecken musste, gut verborgen vor der Welt. Ein kleiner, stark verknoteter Energiewirbel, mit einzelnen faserigen, losen Enden. Es war nicht viel und doch konnte Vinra es ganz klar erkennen. In ihrem Herz zirkulierte ihr eigenes Virum. Winziges Funken stoben bei jedem Herzschlag aus ihrer Mitte hinaus, verteilten sich durch ihre Blutbahn in ihrem gesamten Körper. Nun da sie wusste wonach sie suchte, konnte sie es wahrnehmen. Wie hatte sie es nicht bemerken können? War es schon immer genauso da gewesen oder hatte der Tag ihrer Hinrichtung etwas in ihr ausgelöst? Vinra erinnerte sich an das Gefühl des Sogs in ihrem Blut an das Glimmen in ihren Augenwinkeln. Schlagartig wurde ihr Bewusst, dass es Kristalle gewesen waren. Der dunkle Stein des Altars war mit durchsichtigen Kristallen besetzt gewesen und diese hatten geleuchtet. Ihr Virum hatte sie aktiviert. Gefräßig hatten sie an Vinras Blut geklammert und das bisschen Virum aus ihr herausgezogen, das gut verborgen in ihr geschlummert hatte. Möglicherweise hatte das ihr Virum zum Vorschein gebracht. Verzweifelt hatte sie nach Antworten gesucht, die erklären würden, warum sie in der Zeit zurückgereist war. War es ein Eingreifen der Götter gewesen? Eine mächtige Intervention eines Retters? Nichts davon stimmte. Niemand hatte sie gerettet. Sie selbst hatte sich vor dem Tod bewahrt. Etwas unmögliches war geschehen und das einzig durch Vinras eigene Kraft.
So viele Jahre hatte sie in dem Glauben gelebt, dass sie kaputt sei. Sie mochte nicht strotzen vor Kraft und vielleicht würde sie nie eine mächtige Viraa werden, wie ihr Vater es sich gewünscht hätte, aber Vinra war nicht so machtlos wie der Imperator es sie hatte glauben lassen. Wie ein jeder es hatte sie glauben lassen. Hatten sie es nicht gewusst? Waren sie einem Irrtum erlegen und hätten es Vinra besser erklärt, wenn sie es geahnt hätten? Die Antwort war so einfach wie schmerzhaft. Ihr Vater war einer der mächtigsten Viraa in Thyra und hatte jede erdenkliche Ressource. Ob im Bereich der Heilung oder der Lehre, jede Möglichkeit stand ihm offen. Er wird es gewusst haben und hatte sich entschieden sie aufzugeben. Kaum geboren, da warf er ihre Zukunft in den Müll. Wäre Vinra ausgebildet worden, hätte man ihr Virum früher gefördert, wer weiß was dann aus ihr geworden wäre. Doch dem Imperator war sie schon damals egal gewesen, nein schlimmer, er hatte sie gehasst. Diese einfache Tatsache war Vinra in ihrem vergangenen Leben nie in den Kopf gegangen. Nichts von dem, was ihr Vater ihr angetan hatte, hatte sie einsehen lassen, dass er nur Hass für sie empfand. Jeden Tag hatte sie sich an den Glauben geklammert, wäre sie nur gut genug, würde er sie anerkennen. Doch diese naive Hoffnung würde niemals eintreffen.
Der Imperator fand harte Worte für Vinras Existenz. Ob nun kein Virum oder wenig, für ihn machte es keinen Unterschied. Er bestrafte sie, indem er sie im Unklaren ließ. Eine einfache Kindergeschichte hätte es ihr erklärt, doch nie hatte ihr jemand Geschichten erzählt. Eine Zofe war ihr erst zugeteilt worden als es nicht mehr anders ging und ein Fehlen aufgefallen wäre. Eigene Bedienstete, ein eigenes Kindermädchen, anders als bei ihrer Schwester, hatte niemand nur Vinra zur Seite gestanden. Und später in ihrer Ehe? Vinra erinnerte sich an die dunklen Tage, weit entfernt von dem goldenen Käfig, den sie ihr Zuhause genannt hatte. Auch dort hatte kaum jemand mit ihr gesprochen und Vinra hatte diesbezüglich keine Fragen gestellt. Wieso hätte sie auch? Alle Tatsachen waren ihr bekannt gewesen. Zumindest hatte sie das geglaubt.
Jetzt wusste sie, dass es ihre eigene Kraft gewesen war, die sie gerettet hatte. Etwas das sie nie für möglich gehalten hätte.
Weiter auf dem Boden kniend betrachtete Vinra ihr Kleid. Mengen an grünem Tüll bauschten sich zu allen Seiten neben ihr auf. Eines ihrer einfacheren Gewänder und doch brauchte sie Hilfe es an und auszuziehen. Es schnürte sie ein, behinderte sie in jeder freien Bewegung. Selbst das Atmen fiel ihr durch das zu enge Mieder schwer.
Vinra griff in die sorgsam geschneiderten Falten, fühlte den Stoff zwischen ihren Fingern. Plötzlich war ihr alles zu eng. Sie fühlte sich eingesperrt wie ein Tier im Käfig. Und dann schrie sie. Alle Wut brach sich frei, während Vinra das Kleid packte und es in fahrigen Bewegungen zerriss. Wie im Wahn zerrte sie am grünen Tüll bis nur noch Fetzen an ihr herunter hingen. Und auch diese riss sie sich vom Körper. Vinra griff eine Schere von ihrer Frisierkommode. Mit Kraft drückte sie das kühle Metall durch die festen Bahnen ihres Korsetts. Ihre Hand schmerzte schon, da fiel der verstärkte Stoff zu Boden.
Nur noch in ihrem Unterkleid stand sie in dem von ihr errichteten Chaos. Eine Unstimmigkeit in dem ansonsten so sorgfältig gepflegten Raum. Vinra überkam eine sonderbare Befriedigung bei diesem Anblick. Angestachelt von diesem Gefühl nahm Vinra die Vase von einer der nahestehenden Kommoden. Sie selbst hatte die Vase verziert, kleine bunte Blumensträucher mit einem Pinsel auf das Porzellan gemalt. Mit einem Krachen zersprang die Vase an der Wand, hinterließ eine Pfütze und Scherben auf dem Boden. Ungläubig sah Vinra in ihre leere Hand. Hatte sie jemals etwas mutwillig zerstört? Ein hysterisches Lachen gurgelte aus ihrer Kehle. Vinra lachte und lachte, bis ihr der Bauch wehtat.
Nichts in ihrem Leben machte mehr einen Sinn. Sie war gestorben für eine Familie, die sie nie haben wollte. Kleingehalten, ausgebeutet und verraten für ihre Dreistheit zu existieren. Vinra hatte eine zweite Chance bekommen und hatte sich das Ziel gesetzt einen Neuanfang zu finden. Bisher hatte sie nicht gewusst, wie dieser Neuanfang aussehen sollte, wie sie es schaffen konnte ihrem bisherigen Schicksal zu entfliehen. Nun sah sich Vinra im Spiegel an.
Alles an ihrem Körper war ihr vertraut und doch fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Etwas in ihr hatte sich verändert. Mit dem Wissen über ihr Virum und einer möglichen Zukunft auf ihrer Seite befand sie sich das erste Mal in ihrem Leben in der Lage selbst zu entscheiden. Ein Entschluss formte sich in Vinra. Sie würde nicht versuchen sich ein glückliches, ruhiges Leben aufzubauen. Sie würde Rache nehmen.
››Eure Hoheit?‹‹ Die Frage von Sharien klang dumpf in Vinras Ohren. Mit vorsichtigen Schritten kam ihre Zofe in Vinras Blickfeld. Von unten starrte sie in Shariens verwirrtes Gesicht. Mit dem Rücken auf dem Teppich lag Vinra ausgebreitet auf dem Boden. Umgeben von dem von ihr verursachten Chaos. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht die Stofffetzen und Scherben wegzuräumen, irgendwie beruhigte sie der Anblick. Eine perfekte Ordnung zerstört und das nur durch ihre Hände.
››Ich brauche ein neues Kleid‹‹, stellte Vinra unnötigerweise fest. Noch immer trug sie nichts weiter als ihr dünnes hellblaues Untergewand.
››Das braucht ihr‹‹, bestätigte Sharien, die eine kurze Pause machte und sich umsah. ››Und jemanden der aufräumt‹‹
Es war eine der stärksten Eigenschaften ihrer Zofe. Als Kind einer eher kleinen und ländlichen Adelsfamilie war es eine Ehre gewesen, dass man sie als Zofe einer Prinzessin ins Schloss beordert hatte. Man hatte ein einfältiges Landei erwartet, doch Sharien war keineswegs auf den Kopf gefallen. Vinra zweifelte nicht daran, dass ihre Zofe und sie eine echte Bindung hatten. Für eine Freundschaft hatte es wohl nie gereicht, aber in dieser Beziehung hatte Vinra zu wenig Erfahrung, um das einschätzen zu können. Allerdings mischte sich Sharien nicht in Angelegenheiten ein, die sie nichts angingen. Rührend kümmerte sie sich um Vinra wenn diese mal wieder erkrankt im Bett lag oder andere Sorgen hatte. Doch bei auffälligen Unstimmigkeiten und Problemen innerhalb der Familie, hielt sie sich zurück. Ohne Nachfragen beseitigte sie einfach die Spuren.
Einigen würde dieses Verhalten vielleicht kalt vorkommen, aber Vinra störte es nicht. Viel eher begrüßte sie die Zurückhaltung ihrer Zofe. Es gab Themen, über die einfach nicht gesprochen werden sollte.
Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn Vinra mit jemandem über ihre Lage gesprochen hätte? Wenn sie sich jemandem anvertraut hätte, hätte ihr geholfen werden können? Sie bezweifelte es. Im Palast hatte sie keine Freunde. Für die Bediensteten war sie eine kränkelnde Prinzessin, die mit Samthandschuhen angefasst werden musste. Die wenigen, die mehr wussten, blickten weg. Niemand würde seine Anstellung riskieren für einen Zweifel an der imperialen Familie. Menschen ohne Anstellung verhungerten oder erfroren auf den Straßen, da war Vinras Situation für die meisten nicht von Belang.
Die Adligen sahen in ihr ein mittel zum Zweck, einen Preis, den man gewinnen konnte. Zu gut hatte der Imperator sie als geliebte Tochter inszeniert. Auch dort würde niemand wirklich für sie einstehen. Zu sehr hingen die Adligen speichelleckend an den Schuhsohlen ihres Vaters.
Es gab nur eine Person, die Vinra einfiel, deren Groll auf ihren Vater an den ihren herankam. Diese Person könnte sie retten oder ihren Untergang bedeuten. So oder so musste sie sich ihm stellen, denn ihr Geburtstag war schon morgen.
››Ich bringe euch etwas zum Ankleiden‹‹, sagte ihre Zofe und wollte schon den Raum verlassen, da setzte Vinra sich auf und bedeutete ihr mit einer Handbewegung zu warten.
››Das brauchst du nicht. Ich werde früh zu Bett gehen, morgen ist ein großer Tag, da möchte ich ausgeschlafen sein.‹‹
Vinra war nie aufgefallen, wie absurd viel Zeit sie vor Spiegeln verbrachte. Wieder saß sie vor ihrer Frisierkommode und hielt still, während Sharien ihre Haare hochsteckte. Der Morgen und somit ihr dreiundzwanzigster Geburtstag hatten wie immer ruhig begonnen. Vinra war früh wach gewesen, hatte grübelnd an die Decke ihres Himmelbettes gestarrt. Mit nichts weiter beschäftigt als Pläne zu schmieden und die Stunden verstreichen zu lassen.
In ihrem alten Leben wäre sie normalerweise zum Frühstück ins Speisezimmer gegangen, bestrebt ihre Familie zu sehen. Jeden Tag mit dem Funken Hoffnung, mehr als nur ein freundliches Gesicht am Tisch zu sehen. An ihren Geburtstagen jedoch war sie schon lange nicht mehr früh aus ihren Gemächern getreten. Dieser Tag war für die meisten in ihrer Familie eher ein Trauertag als ein Freudentag. Immerhin war heute auch ihre Mutter gestorben.
Da Vinra ihre Mutter nie kenngelernt hatte, konnte sie nicht so trauern, wie sie es gerne gewollt hätte. Auch Saida war bei dem Tod der imperialen Ehefrau erst drei Jahre alt gewesen, zu jung, um sich zu erinnern. Das hinderte sie nicht daran heute besonders viel Verachtung für ihre jüngere Schwester zu empfinden. Vinra trauerte viel mehr, um die harmonische Familie, die ihr mit dem Tod ihrer Mutter geraubt worden war. Die Vinra geraubt hatte, würde ihr Vater sie korrigieren. Sie schnaubte innerlich. Den Imperator bestürzte dieser Tag besonders schlimm. Es sei wahre Liebe gewesen munkelte man, deswegen hatte sich der Imperator auch nie wieder neu vermählt.
Wie jeden ihrer vorherigen neun Geburtstage hatte sie diesen abseits verbracht. Bis zum Empfang hatte sie auf ihrem Zimmer verbleiben sollen, doch Vinra wollte ihrem Vater unbedingt etwas zeigen. Für den heutigen Abend hatte sie das Lieblingsklavierstück ihrer Mutter einstudiert. Es hatte Vinra Wochen der Vorbereitung gekostet und sie wollte es ihrem Vater zeigen, bevor sie es vor Publikum aufführte. Vielleicht würde es seine Trauer besänftigen, vielleicht würde er ein Stück ihrer Mutter in Vinra wiedererkennen. Auf den Gemälden entdeckte Vinra eine gewisse Ähnlichkeit zwischen sich und ihrer Mutter. Die gleichen rotblonden Haare, die gleiche Nase. Nur das Lächeln wirkte bei Vinra einfach nicht genauso. Oft hatte sie es vor dem Spiegel geübt, versucht ebenso zu Lächeln wie ihre Mutter auf den Bildern. Doch Vinras gelang es nicht, das natürliche Strahlen ihrer Mutter nachzuahmen.
Vinra hatte an die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters geklopft und das verwaschene „Herein“ gehört, bevor sie eingetreten war. Noch ehe sie ganz durch die Tür hindurch war, zerschellte ein Glas knapp neben ihrem Kopf. Erschrocken fiel Vinra zu Boden, kauerte an der Wand.
>>Du!<< Noch nie hatte sie ihren Vater so gesehen. Dort stand nicht der würdevolle Imperator, Vater der Nation. Mit glasigem Blick und vom Weinen verquollenen Augen stand er wutentbrannt hinter seinem Schreibtisch. Vinra roch die vom Alkohol geschwängerte Luft, sah die offene Branntweinflasche.
Erstarrt saß sie da als ihr Vater mit schweren, ungelenken Schritten auf sie zu kam. Die Notenblätter drückte sie sich an die Brust, umklammerte das dünne Papier, um halt zu finden.
>>Es ist deine Schuld!<<
Mit seinen Händen packte er Vinra und knallte sie mit dem Rücken gegen die Wand. Panisch versuchte Vinra sich aus dem viel zu starken Griff ihres Vaters zu winden, doch es war, als würde eine Maus einen Löwen bekämpfen. Verunsichert und ängstlich biss Vinra ihrem Vater kräftig in die linke Hand. Vor Schmerzen grunzend ließ der Imperator sie überraschend los. Eilig versuchte Vinra von ihm weg und zur Tür zu gelangen, doch ihre kurzen Beine trugen sie nicht schnell genug. Mit einer Hand in ihrem Nacken packte ihr Vater sie, hielt sie an Ort und Stelle fest.
››Du wagst es die Hand gegen mich zu erheben? Ich werde dir zeigen, was mit denen passiert die sich mir widersetzten.‹‹
Eine winzige Bewegung in ihrem Augenwinkel. Mit einer Bewegung, ihrem Vater so vertraut wie das Atmen selbst, drehte er mit dem rechten Daumen den inneren Kranz des Rings am Ringfinger der gleichen Hand. Hell leuchtete der weiße, in den Ring eingelassene Kristall auf. Die Augen vor Schreck geweitet wusste Vinra was nun geschehen würde, obwohl sie das Virum ihres Vaters nie manifestiert erlebt hatte. Unbeschreiblicher Schmerz schoss durch ihren Körper. Freigesetzte elektrische Ladung suchte sich einen Weg durch Vinras Fleisch, setzte alles in ihr in Flammen.
Im Nachhinein konnte Vinra nicht mehr sagen, wie lange ihr Vater sie „gemaßregelt“ hatte. War es ein einziger Blitzstoß gewesen oder mehrere? Sie wusste nur noch, dass sie am Boden seines Arbeitszimmers wieder zu Sinnen gekommen war. Ihr Vater war wohl schon länger fort gewesen und Vinra hatte den restlichen Nachmittag zusammengekrümmt auf den kalten Steinen verbracht. Ob es der körperliche oder geistige Schmerz gewesen war, konnte sie nicht mehr sagen. Doch an jenem Geburtstagsabend, als das Schloss voller Gäste gewesen war und ihr Vater eine andächtige Rede zu ihren Ehren gehalten hatte, hatte Vinra ein anderes Lied gespielt. Die Notenblätter des Lieblingsliedes ihrer Mutter hatte sie nie wieder angerührt.
Nun saß sie wieder hier und ließ sich für eine Feierlichkeit in ihrem Namen herrichten. Kleine Perlen steckten in jeder Windung ihrer hochgesteckten Haare. Sie wurde behangen mit goldenem Schmuck und in ein feines, eierschalenfarbenes Kleid gehüllt. Goldener Staub war in die Schichten des Stoffs eingearbeitet worden, ließen Vinra bei jedem Schritt funkeln. Sie sah perfekt aus, doch Vinra wurde bei ihrem Anblick übel.
Ein Klopfen an der Tür, bevor sich diese öffnete und ihr Cousin eintrat. Er trug wie zu den meisten Feierlichkeiten seine Ausgehuniform. Die weiße, mit Gold und Rot bestickte Jacke der Offiziere, rote Hosen und ein paar schwarzer Stiefel. Mehrere Orden baumelten an seiner linken Brust, kennzeichneten ihn als Helden Thyras. Vinra war sich ziemlich sicher, dass er noch in keinem Krieg gekämpft hatte.
››Bist du bereit?‹‹, erkundigte er sich bei ihr.
Wieder sah Vinra in den Spiegel, blickte sich selbst tief in die Augen. Ruhig durchatmend setzte sie ein Lächeln auf, drehte sich dann zu Fenian um.
››Natürlich, immerhin warte ich noch auf dein Geschenk.‹‹ Sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie schon wusste, was er ihr schenken würde. Doch Vorfreude kam in dieser Situation ohnehin nur wenig bei ihr auf, zu kompliziert waren die Umstände.
››Du wirst nicht enttäuscht sein. Ich möchte mich nicht selbst loben, aber ich habe mich selbst übertroffen.‹‹ Fenian streckte ihr einladen den Arm entgegen und Vinra legte ihre Hand auf seinen Ellbogen. Kichernd ließ sie sich von ihm aus dem Raum geleiten. Am heutigen Abend zählte es eine gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
››Das bisschen Eitelkeit steht dir‹‹, schmeichelte sie ihm daher.
››Deine Komplimente erwärmen mir das Herz.‹‹
Gemeinsam erreichten sie die Tür zum Ballsaal, hörten schon die lauten Geräusche der versammelten Gäste. Kurz zögerte Vinra, stockte in ihrem Schritt. Liebevoll drückte Fenian ihren Arm.
››Ich bin da keine Sorge.‹‹
››Danke. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun würde.‹‹ Vinra blickte zu ihrem Cousin hoch, schenkte ihm ein warmes Lächeln. Er sah sie erst sie an und dann auffordern zur Tür. Sie nickte, erinnerte sich an all ihre Vorsätze. Es würde alles anders werden, nie wieder würde jemand sie kontrollieren. Der Grundstein dafür würde an diesem Abend gelegt werden. Die schweren Holztüren zum Ballsaal öffneten sich und Vinra und ihr Cousin traten ein.
Arryn stand mit dem Rücken angelehnt an eine der vielen Säulen. Der Ballsaal war festlich geschmückt worden. Blumengestecke und farbige Tücher waren an den Wänden und Säulen drapiert worden. Große Kronleuchter, die mit dutzenden handtellergroßen Kristallen bestückt waren und in unterschiedlichen Farben leuchteten. Sehr zu seinem missfallen gab es keine Fenster an den Wänden. Nur die weit entfernte Decke bestand aus kunstvoll drapierten Glasdreiecken. Immer vier dieser Glasdreiecke bildeten eine Pyramide. Die Spitzen der Pyramide zeigten gen Himmel. Jedes dieser Glasstücke konnte man einzeln öffnen, sodass ein Luftstrom erzeugt werden konnte. So konnte der Saal gelüftet werden und trotz der vielen Gäste wurde es nicht stickig. Arryn musste zugeben, dass es eine brillante Vorrichtung war. Je nach Windrichtung konnte entschieden werden welche Glasdreiecke man öffnen wollte, damit immer Durchzug hergestellt werden konnte. Strömte zu wenig oder zu viel Wind öffnete ein Bediensteter mit Hilfe seines Virums einfach eine andere Glasanordnung. Arryn beobachtete immer wieder, wie ein Diener die Vorrichtung bediente. Es war recht einfach die Bediensteten zu übersehen, fast verschmolzen sie mit den Wänden. Leise und unauffällig bewegten sie sich am Rand der Menge, um ihren Aufgaben nachzukommen und niemanden zu stören. Gerade öffnete wieder eine junge Frau eines der Dachfenster. Routiniert punktierte die Bedienstete, mit einer an ihrer dunkelgrauen Uniform angebrachten Nadel, die Fingerkuppe. Das herausquellende Blut nutze sie, um einen an der Wand angebrachten Kristall zu aktivieren. Prompt leuchtete der blaue Kristall auf und verschlang gierig das Virum der Frau. Kurz darauf schlossen sich einige Fenster in der Decke und andere öffneten sich. Fast hätte Arryn die Thyrier um ihre Fähigkeiten beneidet. Gelangweilt blickte er sich weiter um. In der Hand hielt er ein Glas mit einer prickelnden hellen Flüssigkeit. Sie schmeckte ihm nicht, doch er fand keinen Blumenkübel, in die er sie hätte hineingießen können. Außerdem hoffte er, dass er mit einem Glas in der Hand besser in die Szenerie passen würde. Bisher verlief der Abend ruhig, doch Freude empfand er nur wenig.
Arryn fühlte sich eingesperrt in diesem Raum, egal wie ausladend und pompös er gestaltet war. Ohne Fenster zu den Seiten und nur wenigen Türen zum ein und ausgehen war er nicht besser als ein Tier im Käfig. Zudem hatte man ihm speziell für heute eine Offiziersuniformen überreicht. Sie bestand aus einer weißen Jacke, schwarzen Hosen und einem roten Hemd. Arryn war den schweren Stoff auf seiner Haut nicht gewöhnt, der Schnitt war unkomfortabel und engte ihn ein. Er fürchtete die Nähte würden platzen, wenn er sich zu ruckartig bewegte. Deswegen stand er seit gut einer Stunde einfach nur da.
Viele Blicke flogen in seine Richtung, einige interessiert, einige abschätzend. Wenige versuchten direkt mit ihm zu reden und Arryn war froh, dass seine rechte Hand an diesen Stellen für ihn einsprang. Immer wenn ihm jemand zu nahe kam, verwickelte Darian die geschwätzigen Gäste in ein Gespräch und führte sie von Arryn weg.
Gerade kam Darian von einer solchen Ablenkung wieder in seine Richtung geschlendert. In den Händen hielt er einen Teller voller Essen. Arryn war fast beeindruckt davon, mit welcher Kunst seine rechte Hand das feine Porzellan bis zum Bersten vollgestapelt und es trotzdem wieder zurückgeschafft hatte, ohne eine Spur aus Essen zu hinterlassen.
››Eines muss ich diesen Thyriern lassen, die Verpflegung ist grandios‹‹, erklärte Darian ihm, als er neben Arryn zum Stehen kam, den Mund voll mit kleinen Häppchen.
››Findest du? Ich finde es geschmacklos. Es sieht nett aus, aber es fehlt ihm an tiefe. Wer soll von so kleinen Happen denn satt werden?‹‹, grummelte Arryn.
››Ich glaubte nicht, dass es das Ziel dieser Speisen ist von ihnen satt zu werden. Außerdem kannst du das nur sagen, weil du zu Hause immer die Köstlichkeiten deiner Schwester essen darfst. Dagegen schmeckt wirklich jede andere Mahlzeit fade.‹‹
Auch Darian trug das Weiß der Offiziere, nur im Gegensatz zum Rest der anwesenden Soldaten war er der Einzige, der seine Uniform ungeniert vollkrümelte. Innerhalb kürzester Zeit verschlang er knapp die Hälfte seines Tellers. Mit Sehnsucht dachte Arryn an seine Schwester und die heimischen Hallen. Er vermisste ihr heiteres Lachen und das sanfte Summen, das sie machte, wenn sie kochte. Er vermisste das Leben wie es einmal gewesen war.
››Glaub mir nichts wäre mir lieber als wieder daheim bei Nakisha zu sein‹‹, erwiderte Arryn.
››Es ist aber auch einfach dreist. Gerade ist Waffenruhe und wir hätten nach Hause gekonnt, da beordert uns der Imperator in die Hauptstadt. Sechs Monate waren wir wieder nicht zu Hause‹‹, beschwerte sich daraufhin seine rechte Hand lautstark.
Arryn klopfte ihm tröstend auf die Schulter. In seinem Blick lag genauso viel Wehmut wie in Darians.
››Ich möchte auch Heim. Wir sollten unseren Unmut nur nicht allzu laut kundtun. Der Imperator ist nicht dafür bekannt, dass er gerne Widerworte oder gar Kritik hört. Denk einfach daran, nur noch dieses kleine Spektakel, dann können wir zurück nach Nym‹‹, versuchte Arryn seinen langjährigen Freund aufzuheitern. Doch seine Worte trafen auf taube Ohren. Darian verschränkte die Arme vor der Brust und starrte abfällig auf die tanzenden Gäste.
››Unsere Soldaten kampieren weiterhin vor den Toren der Stadt. Ihnen wird immer noch kein Einlass gewährt. Wir kämpfen ihre Schlachten und sie behandeln uns wie minderwertige Soldaten.‹‹ Arryn verstand seinen Zorn. Es war eine unfaire Behandlung und alle wussten es. Der Imperator demonstrierte damit seine Macht über die nymerischen Soldaten, verwies sie mit einer deutlichen Geste auf ihren Platz. Er mochte sie herbeordert haben, aber er duldete sie nicht in seiner Stadt. Nur Arryn selbst und seinen engsten Untergebenen war der Zutritt zu Mirthal genehmigt worden.
››Es mag ist eine Frechheit sein und doch wir haben keine andere Wahl. Trink noch etwas, erfreue dich an deinen Häppchen. Wir verhalten uns unauffällig und lassen den Abend über uns ergehen. Uns wurde nur befohlen bis zur Geburtstagsfeier der Prinzessin zu bleiben, danach hält uns hier nichts mehr. Gleich morgen früh nehmen unsere Kameraden und ziehen nach Hause.‹‹ Daraufhin schnaubte Darian und schob sich ein weiteres Küchlein in den Mund. Kauend lehnte er sich neben Arryn an die Säule.
Den Blick durch den Ballsaal schweifen lassend suchte Arryn nach dem Geburtstagskind. Es dauerte nicht lange, da konnte er sie zwischen den Gästen ausmachen, denn schwer zu finden war sie nicht. Saida, die ältere Prinzessin stand umringt von adligen Damen etwas abseits der Tanzfläche. Gehüllt in roten Tüll strahlte sie eine Lebensfreude und Heiterkeit aus, die die Gäste anzog. Sie unterhielt die umstehenden Adligen mit Anekdoten, während ihre jüngere Schwester zurückhaltend neben ihr stand. Prinzessin Vinra stand ruhig neben ihrer Schwester, das Kinn erhoben und die Hände vor den hellen Falten ihres Kleides gefaltet. Ein feines Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie hin und wieder mit den Anwesenden plauderte. Es war ein Anblick reiner Würde. Als würde nicht einmal ein Sturm sie aus der Fassung bringen können. Kein einziger Makel fand sich an ihrer Erscheinung, sie war eine glattpolierte Perle.
Etwas bei diesem Anblick ließ Arryns Nackenhärchen sich aufstellen. Ohne Zweifel war sie schön, aber eine Hülle ohne Inhalt war doch nur leer. Das Imperium gestattete seinen Frauen nur wenig Rückgrat und bei der Prinzessin vermutete er gar keins. Nicht, dass sie schon einmal miteinander gesprochen hätten. Bisher hatten sich ihre Leben noch nie gekreuzt und es würde wohl auch nie wieder der Fall sein.
››Wunderst du dich nicht, dass wir überhaupt hierher eingeladen wurden? Noch dazu auf eine solche Festlichkeit?‹‹, dachte Arryn laut. Es wurmte ihn, dass er nicht wusste, warum sie ausgerechnet jetzt einbestellt wurden. Der Befehl war völlig unvermittelt eingetroffen. Gerade noch hatte er, aufgrund der nahenden Regenzeit, den Rückmarsch befohlen, da traf das Schreiben mit dem imperialen Siegel ein. Ein Befehl vom Imperator höchstselbst. Niemand wagte es, sich dem zu widersetzten. Anstatt zu seiner Schwester heimzukehren, hatte Arryn sich auf den Weg in die Hauptstadt machen müssen. Selbst den Schlamm aus dem Gebirge hatte er noch unter seinen Stiefeln getragen, so sehr hatten sie sich beeilen müssen. Es war kaum Zeit geblieben für eine längere Rast.
In Anbetracht dessen war es vielleicht sogar ganz gut, dass man ihm neue Gewänder gegeben hatte. Im Feld trug er nur pragmatische Kleidung, seine feineren Gewänder lagen alle gut verstaut in Nym.
Vinras Mundwinkel taten bereits weh vom vielen Lächeln. Schon seit gefühlten Ewigkeiten stand sie neben ihrer Schwester, lauschte den Gesprächen zwischen den adligen Frauen. Immer mal wieder verwickelte sie einer der Gäste in eine kurze Unterhaltung, doch Vinra beendete stets höflich die Gespräche nach kurzer Dauer.
Sie lernte nichts neues aus ihnen. Es war bizarr, denn Vinra kannte jedes einzelne der besprochenen Themen. Sie erinnerte sich gut an diesen Abend und jedes Wort aus dem Mund von Saida war identisch zu denen in ihrem vorherigen Leben. Der Abend verlief genauso wie damals. Eigentlich war es wenig überraschend, hatte Vinra doch bisher nichts getan das die Geschehnisse verändern dürfte. Der größte Unterschied zu damals war ihr Besuch im Tempel gewesen, doch der hatte kaum Auswirkungen auf ihr Leben im Palast gehabt. Einerseits freute Vinra sich darüber, so musste sie auf weniger Eventualitäten vorbereitet sein. Andererseits zogen sich die verbleibenden Augenblicke bis zur großen Rede für sie damit ins Unermessliche.
Allerdings durfte niemand die Veränderung in ihrem Inneren mitbekommen also überspielte Vinra ihre Langeweile. Es würde früh genung aufregend werden, da konnte sie die Ruhe vor dem Sturm noch einen Moment genießen. Auch wenn sie dafür ihr Gähnen und ein sarkastisches Augenrollen unterdrücken musste.
Immer wieder traten junge Männer an Vinra und Saida heran, versuchten mit netten Worten und Schmeicheleien das Interesse der beiden Frauen zu wecken. Sie alle waren Motten, die vom Licht angezogen wurden. Die imperiale Familie mochte die Sonne sein, aber sie verbrannte jeden der ihr zu nahekam. Brav blieb Vinra an Ort und Stelle stehen und lächelte über die plumpen Annäherungsversuche hinweg. Gerade driftete sie in Gedanken ab, da wurde sie von der Seite angesprochen.
››Eure Hoheit seht ihr das genauso?‹‹ Schnell richtete Vinra ihre Aufmerksamkeit zurück in die gesellige Runde. Vier junge Frauen scharrten sich um die beiden Prinzessinnen. Gefragt hatte eine junge Rothaarige, deren glattes Haar einige Nuancen dunkler war als das von Vinra. In zwei Jahren würde sie einen reichen Adligen heiraten, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Er war dreimal so alt wie sie und die Ehe weit davon entfernt glücklich zu werden. Wenn Vinra sich recht erinnerte hatte sie sogar eine Virumqualität. Für Vinra war das eine grobe Verschwendung von Potential. Geistig machte sie sich eine Notiz, verstaute das Wissen für später in einer geistigen Schublade.
››Der Krieg in Torkan bindet einige Ressourcen, ein schnelles Ende wäre wohl zu begrüßen‹‹, antwortete Vinra und nippte vorsichtig an ihrem Glas. Sie vertrug keinen Alkohol und trank nie mehr als ein Getränk am Abend. Eine alte Angewohnheit, aber in diesem Fall wahrscheinlich keine der schlechten.
››Mein Vater sagt man kann es kaum Krieg nennen. Er sagt, dass die Barbaren in den Bergen unsere Truppen hinterhältig angegriffen haben und diesen Scharmützeln jegliche Ehre fehlt‹‹, meldete sich eine andere Frau der Gruppe zu Wort. Zu ihr hatte Vinra kaum Anhaltspunkte, sie spielte in der Zukunft wohl keine besonders entscheidende Rolle.
››Unser Vater sagt, dass die Barbaren keine zwei Sommerperioden mehr standhalten können.‹‹ Saida sprach lauter als notwendig, ihre Wangen gerötet von den vielen Sektgläsern. Vinras Schwester wusste, wie man einen guten Abend hatte. Sie würde sich nie die Blöße geben und betrunkene Dummheiten machen, aber einem leichten Rausch verwehrte sie sich nicht.
››Wir werden sehen, wie wir vorankommen‹‹, meinte Vinra daraufhin, denn wenn ihr Vater mit einer Einschätzung falsch lag, dann mit dieser Prognose. Das Ende der Auseinandersetzung mit der Region Torkan lag zumindest nicht in den nächsten fünf Jahren. Die Kämpfe würden mit den Jahren nur blutiger werden und es war nicht einmal zum Zeitpunkt ihres Todes ein Ende in Sicht. ››Zumindest machen wir einige Fortschritte, seitdem Soldaten aus Nym in den Bergen eingesetzt werden‹‹, fügte Vinra hinzu.
››Mein Vater sagt, dass die Soldaten aus Nym eher wilden Tieren gleichen als richtigen Soldaten.‹‹ Wieder meldete sich die uninteressante Frau zu Wort. Nun rollte Vinra doch die Augen.
››Dein Vater hat aber zu vielen Themen eine Meinung.‹‹
Leicht eingeschnappt wollte die Braunhaarige schon zu einer Antwort ansetzen, da griff Saida beschwichtigend in das Gespräch ein.
››Sie mögen unkonventionell sein, aber Nym ist nun eine Provinz Thyras. Wir sollten nicht zu harsch mit ihnen ins Gericht gehen, außerdem ist ihr Kommandant doch ein wahrer Augenschmaus meint ihr nicht auch?‹‹
Zeitgleich blickte das gesamte Grüppchen in die Richtung in die Saida ihre Hand bewegte. Angelehnt an eine der dekorierten Säulen stand ein großer, breitschultriger Mann. Seine Haut war einige Nuancen dunkler als die der Küstenbewohner in der Hauptstadt und seine Haare hatten die Farbe von angelaufenem Silber. Entgegen der thyraischen Mode trug er seine Haare nicht in einem hochgesteckten Zopf. In der Provinz Nym bevorzugten die Männer kürzere Frisuren und schnitten sich die Haare meist bis an die Ohren ab. Einige rasierten sich gleich den gesamten Schädel. Der Kommandant hatte sich dazu entschieden seine silbrigen Locken bis kurz vor seine Augen fallen zu lassen. Er war muskulös und füllte seine Uniform bis zum Rand des Möglichen aus. Doch das Imposanteste an seiner Erscheinung waren die stechend grünen Augen, die stetig durch den Saal zu wandern schienen. Auf seiner Stirn, kurz oberhalb der Augenbrauen, saß, eingebettet in seine Haut, ein grüner Kristall. Ein sanftes Glimmen ging kontinuierlich von ihm aus.
Kurz trafen sich Vinras und sein Blick. Vinra hielt die Luft an, spürte ein unangenehmes Gefühl unter ihrer Haut. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf und ihr Herz schlug plötzlich viel zu schnell. Es waren nur ein Wimpernschlag, dann verzog der Kommandant seine Mundwinkel und wendete den Blick ab. Vinra entließ die Luft, die sie unbewusst angehalten hatte aus ihren Lungen. Sie verfluchte sich selbst, so würden ihre Pläne nichts werden. Die Angst musste sie unter Kontrolle kriegen und durfte ihre Gefühlregungen nicht offen nach außen tragen. Ihr altes Leben lag hinter ihr und sie würde ihr neues nicht meistern, wenn sie immer vor Schreck erstarrte. Das Vortäuschen von Emotionen hatte sie immer gut gekonnt, der imperiale Hof war in diesem Bezug ein williger Lehrmeister gewesen. Nun musste Vinra nur lernen diese Fähigkeiten besser einzusetzen. Es war an der Zeit zu agieren, nicht zu reagieren. Dieser Mann war für Vinras Pläne unabdingbar. Sie musste lernen ihre alten Gefühle abzulegen, ansonsten würde sie nicht weit kommen.
Während die Frauen den grünäugigen Mann weiterhin anschmachteten, ertönte ein helles Klirren im Raum. Fast sofort verstummten alle Geräusche im Ballsaal. Die Musiker hörten auf zu spielen, die tanzenden Gäste hielten mitten in ihren Bewegungen an. Vielleicht hörte der ein oder andere sogar auf zu atmen. Zumindest Vinra hatte früher oft genug das Atmen verlernt, wenn ihr Vater eine Rede anstimmte. Nur er würde in diesen Hallen die Aufmerksamkeit derartig aus sich lenken.
Dies war der Moment, auf den sie gewartet hatte, jeder Albtraum der letzten fünf Jahre hatte an diesem Punkt begonnen, an der Geburtstagsrede ihres Vaters. Für wenige Herzschläge schloss Vinra die Augen und klärte ihren Geist, bevor sie ihr Augenmerkt auf den Imperator lenkte. Er stand mitten im Raum, das Glas erhoben und die Hand einladend nach Vinra ausgestreckt. Alle Blicke richteten sich auf sie.
››Meine geliebte Tochter, würdest du mir die Ehre erweisen an meine Seite zu kommen?‹‹ Der Imperator spielte seine Rolle mit Bravour. Zu ihrem Glück hatte Vinra ihre eigene ebenfalls perfektioniert. Dies waren ihr bekannte Gewässer.
Mit dem größten, ihr möglichen Lächeln eilte Vinra an die Seite ihres Vaters, legte ihre Hand in seine. Seine Haut fühlte sich kalt an. Vinra bekam eine Gänsehaut. Jedes Jahr und nur zu dieser Gelegenheit, hatten sie und ihr Vater direkten Körperkontakt. Es war für sie fast unerträglich diesem Mann so nahe zu sein.
››Ein weiteres Jahr ist vergangen an dem ich den Göttern danke, dass sie meine wunderschöne Tochter noch nicht zu sich geholt haben. Mit ihren letzten Bemühungen schenkte mir meine verstorbene Frau dieses bezaubernde Kind und ich schwor sie vor allem Übel zu beschützen.‹‹ Wie Säure sickerten seine Worte in Vinras Verstand. Die gleiche Rede, der gleiche poetische Nonsens, den er schon damals ausgesprochen hatte. Würde sie sich nicht beherrschen, würde Vinra ihrem Vater vor die Füße brechen. Er machte eine kurze Pause und erntete klatschenden Beifall aus der Menge.
››Nun ist meine Tochter zur Frau geworden, aber weiterhin von kränklicher Natur. Zu oft musste sie das Bett hüten und ich sagte mir, dass wenn sie jemals einen ehrlichen Wunsch an mich hätte, dann würde ich ihn erfüllen.‹‹
Wieder eine dramatische Pause. Der Imperator baute die Erwartungen der Menge auf, lenkte geschickt ihr Interesse. Er war ein Meister der Manipulation, dass musste Vinra ihm lassen.
››Heute trat sie an mich heran und verkündete mir, dass sie sich unsterblich verliebt hätte.‹‹
Ein schockiertes Raunen ging durch die Menge. Es hatte keine imperiale Hochzeit seit der ihrer großen Schwester mehr gegeben. Und da Saida bereits verwitwet und theoretisch noch in Trauer war, hatte niemand mit einer solchen Ankündigung gerechnet. Nun stand plötzlich eine weitere imperiale Vermählung in Aussicht und jeder wollte ein Stück vom Kuchen abhaben. Wer würde der glückliche Auserwählte werden? Wem hatte die zurückhaltende Vinra derartig unverhofft ihre Gunst geschenkt? Erwartungsvolles Stimmengemurmel erhob sich im Raum. Aufgeregt blickten sich die Gäste um, suchten nach dem besten Kandidaten. Mit nur einer Handbewegung brachte ihr Vater die Menge zum Schweigen. Erst dann sprach er weiter.
››Ich lud ihn aufgrund seiner Heldentaten zu uns ein. Kaum hätte ich ahnen können, dass meine Tochter dadurch ihre Liebe entdecken könnte.‹‹ Der Imperator ließ seinen Blick bedeutungsvoll über die Menge gleiten. ››Arryn Lembris tretet vor.‹‹
Man musste dem Kommandanten Nyms eines zugutehalten, er verlor seine unbewegte Miene nur für den Bruchteil eines Augenblicks. Hätte Vinras Aufmerksamkeit nicht schon auf dem grünäugigen Mann gelegen, wäre es sogar ihr entgangen. Doch für einen Wimpernschlag stand absoluter Schock in sein Gesicht geschrieben.
Er musste geahnt haben, dass es mehr Gründe für sein Erscheinen am Hofe gab, als er kannte, aber mit dieser Wendung hatte er sicher nicht gerechnet. Er stieß sich von der Säule ab und kam mit großen Schritten auf sie zu marschiert. Sein Gang war stolz und aufrecht, er strahlte eine natürliche Autorität. Er war ein geborener Anführer. Die Menge teilte sich vor ihm, starrten stumm auf das sich vor ihnen entfaltende Spektakel. Kurz bevor Arryn ihren Vater erreichte, ging er auf die Knie und senkte den Kopf. Eine merkwürdige Haltung, für einen so imposanten Mann.
››Mein Imperator.‹‹ Arryns Stimme war dunkel und weich, ein melodischer Dialekt lag schwer in seiner Aussprache. Das letzte Mal hatten sie ihn bei ihrer Hinrichtung gesehen, seine kalten desinteressierten Augen. Nun kniete er erneut vor ihr, bereit sich für seine Provinz zu opfern.
››Arryn Lembris ihr seid ein starker, tapferer Mann. Ein Mann würdig die Liebe meiner Tochter zu empfangen. Werdet ihr Vinra Aena Thefaran die Ehre erweisen, sie zur Frau zu nehmen? Macht ihr mein Kind glücklich und eint unsere beiden Völker mehr als es Papier und Worte jemals könnten?‹‹
Ihr Vater formulierte es als Frage, doch Arryn musste bewusst sein, dass es kein war. Selten gab es gab einen Moment, der so wenig Entscheidungsfreiheit aufwies wie dieser. Niemand sagte nein zum Imperator. Erst recht nicht wenn der gesamte Hofstaat anwesend war. Vinras Liebe zurückzuweisen könnte als Brüskierung der imperialen Familie ausgelegt werden. Das wäre keine sehr weise Entscheidung. Blieb noch davonlaufen oder kämpfen, jedoch würde beides seine Provinz dem Untergang weihen. Eines war klar, der Kommandant war weder feige noch dumm, deshalb gab es nur eine mögliche Antwort. Die Knöchel des Kommandanten traten weiß hervor, so fest ballte er seine Fäuste. Doch seine Arme blieben still neben seinem Körper hängen.
››Ihr erweist mir eine unendliche Ehre Imperator‹‹, sprach Arryn und besiegelte damit sein Schicksal. Es war kein „Ja“ das seine Lippen verließ, jedoch war es allen Anwesenden Antwort genug.
Tosender Beifall erklang aus jeder Ecke des Raums. Selbst ihr Vater stimmte mit ein. Vinra stand unbewegt daneben. Sie sah hinab auf ihren ehemaligen und zukünftigen Ehemann. Noch immer kniete er am Boden, den Kopf gesenkt. Vinra bezweifelte, dass es sich um eine Geste der Ehrerbietung handelte. Viel eher versuchte er wohl seinen Zorn nicht durchscheinen zu lassen. Sie konnte es ihm sehr gut nachfühlen. Er musste sich ohnmächtig fühlen, jeder Entscheidungsfreiheit beraubt. Sie betrachtete ihn eingehend. Sein Erscheinungsbild war ihr vertraut, doch Vinra kannte kaum mehr von ihm. Fünf Jahre hatte sie an der Seite dieses Mannes verbracht, ohne ihn wirklich kennenzulernen.
Das letzte Mal war sie geflüchtet. Geschockt von der Verkündung ihres Vaters hatte sie sich sofort zurückgezogen. Sie schob es auf ihren anfälligen Körper und ließ die Anwesenden ohne ein weiteres Wort im Ballsaal zurück. Dieses Mal kniete Vinra sich direkt vor Arryn auf den Boden.
››Ihr dürft euch erheben‹‹, flüsterte sie ihm zu. Obwohl sie ihre Stimme nicht hätte senken müssen, um nicht belauscht zu werden. Zu laut waren die aufgeregten Gespräche um sie herum. Niemand würde sie hören.
››Wieso?‹‹ Wut und Abscheu standen in Arryns Augen geschrieben als er den Kopf hob und Vinra ins Gesicht sah.
››Offensichtlich, weil ich euch liebe‹‹, erwiderte Vinra und erhob sich. ››Niemand entkommt dem Imperator. Erst recht nicht Nym.‹‹
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ließ ihn in der Mitte des Ballsaals zurück. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass der Kommandant sich erhob und ihr mit düsterem Blick hinterher starrte.
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Kapitel: | 8 | |
Sätze: | 765 | |
Wörter: | 11.574 | |
Zeichen: | 69.052 |
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