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Kapitel: | 8 | |
Sätze: | 107 | |
Wörter: | 1.513 | |
Zeichen: | 8.904 |
Der Regen fiel in feinen, kalten Schnüren, als Niklas Lorenz aus dem Seminarraum trat. Es war einer dieser dunklen Berliner Nachmittage, an denen die Straßen glänzten, die Blätter auf den Gehwegen feucht und träge klebten und der Himmel sich nicht zwischen Dämmerung und Nacht entscheiden konnte.
Er zog den Mantelkragen hoch, steckte die Hände in die Taschen und überquerte langsam den Bebelplatz. Die Humboldt-Universität lag hinter ihm – ein Gebäude voller Geschichte, das für ihn längst zur Kulisse geworden war. Seit Jahren lehrte er hier Literaturwissenschaft, analysierte Texte, führte endlose Diskussionen mit seinen Studenten.
Doch wenn er ehrlich war, hatte er sich selbst längst aus dem Leben zurückgezogen.
Und dann sah er sie.
Anna Michelson stand einige Meter entfernt unter einem Laternenpfahl, das Gesicht vom blassen Licht erhellt. Sie hielt ihr Telefon in der Hand, wirkte gedankenverloren. Das blonde Haar fiel ihr über die Schultern, und als sie den Kopf hob, erkannte er ihre Augen – diese hellen, fast durchsichtigen Augen, die er einst so oft angesehen hatte.
Es war Jahre her.
„Anna?“
Sie drehte sich um. Ein Moment der Stille. Dann dieses zaghafte Lächeln.
„Niklas.“
Sie saßen in einem kleinen Café in Mitte, zwischen den dunklen Holztischen und den beschlagenen Fenstern.
„Ich bin wieder in Berlin“, sagte sie und rührte ihren Kaffee um.
„Wegen der Arbeit?“
Ein kurzes Zögern. „Nicht wirklich.“
Er fragte nicht weiter. Doch er wusste, dass sie eine Antwort zurückhielt.
Früher hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, während ihres Studiums an der Humboldt-Universität. Sie war wild gewesen, ungebunden, voller Träume. Und er? Er hatte sie bewundert, sich in sie verliebt, aber es nie ausgesprochen.
Dann war sie nach London gegangen, hatte dort geheiratet. Und er hatte irgendwann aufgehört, an sie zu denken. Dachte er zumindest.
„Und du?“ fragte sie jetzt. „Schreibst du noch?“
Er lachte leise. „Ich korrigiere Hausarbeiten. Analysiere andere Texte. Aber meine eigenen? Nein.“
„Warum nicht?“
Er sah aus dem Fenster. „Vielleicht, weil nichts mehr bleibt, worüber es sich zu schreiben lohnt.“
Sie schwieg.
Anna hatte London nicht nur verlassen – sie war geflohen.
Ihre Ehe mit David war von Anfang an ein Kompromiss gewesen. Nicht nur ihrerseits, sondern auch von seiner.
Er war ein erfolgreicher Investmentbanker, wohlhabend, gut vernetzt, ein Mann, der sein Leben mit kühler Berechnung führte. Gefühle waren in seiner Welt kein notwendiges Gut – nicht einmal in Beziehungen. Eine Frau musste präsentabel sein, stilvoll, intelligent, aber nicht fordernd. Anna passte perfekt in dieses Bild. Sie war kultiviert, sprach mehrere Sprachen, konnte sich in jeder Gesellschaft bewegen, ohne sich aufzudrängen.
Er liebte sie nicht. Aber er schätzte sie. Sie war angenehm, unaufgeregt, eine Frau, mit der er sich sehen lassen konnte, die man in Restaurants und bei Veranstaltungen bewunderte. Sie verstand es, sich im Hintergrund zu halten, wenn es nötig war, und zu glänzen, wenn es erwartet wurde.
Und sie hatte lange Zeit geglaubt, dass das vielleicht genug war.
Doch irgendwann begann sie sich wie ein Accessoire in seinem Leben zu fühlen – sorgfältig ausgewählt, elegant präsentiert, aber austauschbar. Sie saß an endlosen Dinner-Tischen mit Investoren, Künstlern und Designern, sprach über Ausstellungen, über Theaterpremieren, während David sich über Marktstrategien unterhielt. Ihre Tage flossen ineinander, ein endloser Strom von oberflächlichen Gesprächen, von makellosen Oberflächen, hinter denen nichts lag.
Es gab keinen Streit. Keine Eifersucht. Keine großen Dramen.
Nur eine leise, unsichtbare Abwesenheit.
Bis sie verstand, dass es völlig egal war, ob sie da war oder nicht.
Der Moment der Entscheidung war unspektakulär gewesen.
Es war ein kalter Londoner Morgen, und David band sich vor dem Spiegel die Krawatte, während Anna mit einer Tasse Tee am Fenster stand.
„Ich bin nächste Woche in Zürich“, sagte er beiläufig. „Muss ein paar Dinge mit den Schweizer Partnern klären.“
Er erwartete keine Antwort. Tat er nie.
Anna beobachtete ihn, wie er seine Manschettenknöpfe schloss, einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel warf.
„David“, sagte sie plötzlich.
Er drehte sich um.
„Wenn ich gehen würde – würdest du mich aufhalten?“
Er runzelte die Stirn, als hätte sie eine Frage gestellt, auf die es keine logische Antwort gab. Dann zuckte er kaum merklich mit den Schultern.
„Wohin willst du denn?“ fragte er, als wäre es eine rein akademische Überlegung.
„Ich weiß es nicht.“
Er musterte sie einen Moment, dann sagte er ruhig: „Du wirst zurückkommen.“
Sie sah ihn an, lange, suchend. Aber da war nichts in seinem Blick. Keine Überraschung. Keine Angst.
Er reichte ihr die Kreditkarte. „Falls du etwas brauchst.“
Dann nahm er seinen Mantel und verließ die Wohnung.
Erst da begriff sie, dass er schon längst ohne sie lebte.
Sie packte eine kleine Tasche, verließ das Apartment, nahm den Zug nach Berlin.
Nun war sie hier. Und sie wusste nicht, was sie hier suchte.
Anna hatte gedacht, sie würde in Berlin neu anfangen können.
Doch ihre Eltern lebten noch immer in derselben engen Altbauwohnung in Prenzlauer Berg, die früher groß genug für sie gewesen war – jetzt aber bedrückend wirkte. Ihre Mutter, eine resolute Frau Mitte sechzig, verstand nicht, warum sie London verlassen hatte.
„Du hattest dort doch alles“, sagte sie immer wieder.
Ihr Vater las seine Zeitung, hörte zu, stellte aber keine Fragen.
Berlin war ihr Zuhause gewesen, doch nun fühlte es sich fremd an.
Und die Arbeitssuche? Sie hatte geglaubt, mit ihren Sprach- und Kunstkenntnissen etwas Interessantes zu finden – doch niemand suchte eine Frau Anfang vierzig ohne eine klare Spezialisierung. Schließlich nahm sie eine Stelle als Assistentin in einer kleinen Galerie in Kreuzberg an. Das Gehalt war bescheiden, die Arbeit monoton. Sie war zurückgekehrt, um frei zu sein – und stand nun in unbeheizten Räumen, schrieb Rechnungen für Kunstwerke, die niemand kaufte, und servierte Kaffee für selbstverliebte Galeristen.
Nach der Arbeit streifte sie durch die Stadt. Berlin war nicht mehr das Berlin, das sie verlassen hatte.
Oder war sie es, die sich verändert hatte?
Sie trafen sich oft. Spazierten durch den Tiergarten, standen an der Spree, sprachen über alles – und über nichts.
Manchmal schien es, als könnten sie einfach dort weitermachen, wo sie vor all den Jahren aufgehört hatten. Als könnte die Zeit zurückgedreht werden.
Doch mit jedem Treffen wurde ihnen bewusster, dass das eine Illusion war.
Sie suchten einander nicht aus Liebe – sondern weil sie in einander ihre verlorene Jugend sahen.
Niklas beobachtete sie, und in seinem Kopf tauchte das Bild der Anna von damals auf. Die, die voller Träume war, die in Sommernächten barfuß durch die Straßen gelaufen war. Und jetzt? Jetzt saß sie ihm gegenüber, mit müden Augen und einer Unsicherheit, die ihr früher fremd gewesen war.
Und Anna? Sie sah Niklas und fragte sich, warum sie geglaubt hatte, dass sie ihn noch immer lieben könnte. Vielleicht, weil sie sich einreden wollte, dass ihre Vergangenheit doch nicht umsonst gewesen war.
An einem verregneten Abend, als sie in einem ruhigen Café saßen, legte sie ihre Hand auf seine und sagte:
„Niklas… es wird nicht wie früher.“
Er sah sie lange an. Dann nickte er.
„Ich weiß.“
In diesem Moment verstanden sie beide, dass es vorbei war, noch bevor es begonnen hatte.
Am nächsten Tag kaufte Anna ein Ticket zurück nach London.
Als sie vor der Tür von Davids Apartment stand, zögerte sie. Dann klingelte sie doch.
Er öffnete und betrachtete sie mit einem ruhigen, fast wissenden Blick.
„Du bist zurück“, sagte er.
Sie senkte den Blick. „Ja.“
Er trat zur Seite. „Komm rein.“
Sie tat es.
Die Wohnung war noch genauso wie zuvor – modern, minimalistisch, durchdrungen von seinem unaufdringlichen Parfüm.
„Also?“ fragte er, während er ihr ein Glas Rotwein reichte. „War Berlin so, wie du es dir vorgestellt hast?“
„Nein.“
Er lehnte sich zurück und musterte sie nachdenklich.
„Du hattest eine Midlife-Crisis“, sagte er schließlich. „Du wolltest wissen, ob du ohne mich glücklicher bist.“
Sie lachte leise. „Vielleicht.“
Er schwieg. Dann sagte er: „Und?“
Anna betrachtete ihn. Sah, wie ruhig und selbstsicher er war. Wie vertraut.
Er hatte sie nie wirklich geliebt – und sie ihn auch nicht. Aber vielleicht war das nicht nötig. Vielleicht war Vertrautheit das, was nach der Liebe blieb.
Fast Liebe.
Als er erfuhr, dass sie gegangen war, war Niklas nicht überrascht.
Doch in den Tagen danach wurde sein Leben leer.
Er merkte erst jetzt, wie sehr er sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatte.
Wie sehr sie fehlte.
Und in dieser Leere spürte er etwas Neues – oder vielleicht etwas Altes, das wieder entfacht wurde.
Er begann zu schreiben.
Vielleicht war es das, was das Leben ausmachte – dass man die Dinge erst erkennt, wenn es zu spät ist.
Anna war nach London zurückgekehrt. Vielleicht hatte sie die richtige Entscheidung getroffen.
Und Niklas?
Er hatte nichts mehr.
Nichts – außer seinen Worten.
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Klatschkopie • Am 17.03.2025 um 11:22 Uhr | |
Hi Helena Der Anfang deine Geschichte liest sich gut. Dass sich der Himmel nicht zwischen Dämmerung und Nacht entscheiden könne, klingt neckisch und einnehmend. Die Stimmung ist da. Und vor diesem Hintergrund der auch innerlich vereinsamte Niklas, Literaturwissenschaftler seines Zeichens, der nicht mehr schreiben kann, weil es nichts gibt, worüber es sich zu schreiben lohnt. Die Geschichte liest sich gut, sie wirkt aber stellenweise ein wenig unausgearbeitet und überhastet. So z.B. im ersten Kapitel, als du aus dieser doch sehr dicht beschriebenen Atmosphäre heraus Niklas auf Anna treffen lässt. Da verpufft recht viel Potential. Ich hätte die imaginäre Kamera noch etwas länger auf Niklas gehalten, um eine längere Einstellung zu erhalten. Durch deinen abrupten Szenenwechsel wirkt Niklas' Vorgeschichte wie hingehuscht, nur wie ein künstlich erzeugter Aufhänger. Aber dass er einsam ist, macht doch seine Persönlichkeit aus? Und Anna? Kommt an einigen Stellen ein wenig klischeebehaftet daher. Wenn sie als junge Studentin mit nackten Füßen durch die Strassen geht. Klar möchtest du ihren Charakter fassen und im Grunde ist dagegen auch nichts zu sagen - der Leser kann sich in Anna hineinversetzen. Aber ihren Freiheitsdrang, ihr Anderssein, in das sich Niklas letztlich verliebt hat, hättest du auch durch andere Dinge schildern können. Aber das sind Versatzstücke! Die Geschichte an sich ist rund. Sie besitzt eine ruhigen Rhythmus, kommt im Ganzen auch nicht übereilt daher. Alles baut logisch aufeinander auf. Sie wirkt melancholisch, denn man fragt sich, ob beide ihr Glück gefunden haben. Ist Niklas glücklich, da er - vermutlich tut er das? - wieder schreiben kann und zwar über das Glück vergangener Tage. Und sie? braucht sie Vertrautheit mehr als Liebe? Fast-Liebe, welch passender Ausdruck. Ich bin an der Geschichte hängen geblieben, weil ich deine Art zu schreiben mag. Ein wenig erinnert mich die an die Nouvelle Vague, eine Filmrichtung aus Frankreich. Und es ist auch das Background der Geschichte, Berlin, die HU ... Da kommen Erinnerungen hoch. :-) Wie ich sehe, hast du noch mehr geschrieben. Ich schaue mich gerne um. LG KK Mehr anzeigen |
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