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Juliane und die Liebe

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14.10.24 22:43
16 Ab 16 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt

Juliane war nicht glücklich, aber eigentlich war sie auch nicht unglücklich - sie war unzufrieden. Ihr ging das Kribbeln im Bauch oder in den Gliedern ab - das war ihr Problem. Aber das stimmte seit Anfang der Woche eigentlich nicht mehr, denn die Erwartung der neuen mail von Christian ließ ihr Herz schon wieder heftiger klopfen - aber was sollte daraus wohl werden? Spätestens wenn er von ihrem Lotterleben erfuhr, würde es aus sein.

Das immerhin hatte sie Viktor zu danken - sein Entschluß, sich von ihr zu trennen, hatte ihr endlich Anlaß gegeben, sich Gedanken darüber zu machen, was sie eigentlich wollte. Sie wollte Liebe - oder wenigstens regelmäßig Sex. Viktor war für sie offenbar wirklich nicht der Richtige gewesen. Nach zuletzt recht frustrierenden dreieinhalb Monaten, die sie mehr oder weniger zusammen waren - fast alle ihrer Freunde hatten es jedoch für nötig befunden zu fragen, was das denn sei zwischen ihr und Viktor - hatte er ihr am 18.3. den Laufpaß gegeben.

Ja, sie hatte Freunde. Mit dem Rollenspiel war Juliane erst in schon recht reifen Jahren in Berührung gekommen - in Form des nichtkommerziellen Systems Demiurgon. Die Erfinder hatte sie im Laufe der Zeit über ihre beste Freundin kennen- und schätzen gelernt und gehörte so plötzlich zum inneren Kreis einer Clique, von denen fast alle zumindest sechs Jahre jünger als sie waren. Sie beteiligte sich an der regelmäßigen Publikation - dem Projektbrief - mit eigenen Beiträgen und hatte sogar ein Abenteuer entwickelt. Natürlich traf sie sich mit den Demiurgen nicht nur zum Rollenspiel, sondern auch zu sonstigen geselligen Anlässen, wie Ausflügen, Geburtstagsfeiern und Treffen im Metro oder zu happenings (wie den Brückenparties an den jetzt gerade noch in der Zukunft liegenden Mittwoch-Abenden auf der Cäcilienbrücke, die die Renovierungsarbeiten an der historischen Hubbrücke im August begleiteten).

Viele von ihren Rollenspiel-Freunden traf sie Mittwochs im Metro bei Die Andere Seite. Die Grufti-Musik sagte Juliane zwar wenig zu - sie fand es sehr schwierig, dazu zu tanzen -, aber sie schätzte die Unterhaltung mit ihren Freunden und insbesondere die Möglichkeit, die Leute hier sicher anzutreffen, wenn irgendwelche Absprachen für die nächste Rollenspielrunde anstanden. Meist unterwarf Juliane sich sogar der Kleiderordnung und war ganz in Schwarz, aber es konnte auch vorkommen, daß sie eine blutrote, figurbetonende Weste dazu trug, oder einen langen, hellgrauen Schal.

Julianes farbenfroheren Freunde waren regelmäßig im Amadeus anzutreffen - dem Ama - wie das Metro in der Oldenburger Innenstadt. Juliane selbst bevorzugte die Mittwochs- und Freitags- Rocknächte zum Tanzen, aber gelegentlich besuchte sie auch das monatliche Out of the Dark, das Dienstags stattfand. Das Publikum an den Dienstagen wies selbstverständlich Überschneidungen mit dem des Metro an Mittwochen auf.

Sie fand bemerkenswert, wie viele Leute - ebenso wie sie - Mittwochs bis in die frühen Morgenstunden zwischen den beiden Discos pendelten. Sie war in der Regel bereits gegen elf Uhr in der Stadt, um den kostenlosen Eintritt mit der nite-card des Ama zu nutzen. Damit fielen auch die Getränkemarken weg, so daß Juliane an Mittwochen regelmäßig in Metro etwas trank. Außerdem gab es im Ama kein Jever.

Ihre heimliche Affäre hatte Juliane ihrem ersten, aus Frust geborenen und für sie höchst überraschend erfolgreichen Versuch, einen Mann anzumachen zu verdanken. Der Aprilabend hatte zu ihrem ersten echten Beischlaf geführt, aber noch in der Nacht hatte ihr heimlicher Geliebter ihre 'Affäre' klar geregelt: sie hatten keine Beziehung miteinander, würden also nach außen hin nicht als Paar in Erscheinung treten; in dem Moment, wo er wieder eine Beziehung habe, sei ihrer Affäre zuende und schließlich gäbe es nur gelegentliche tête-à-têtes.

Als sie ihn nach ihrer Toskanafahrt - zwei Wochen nach ihrer einzigen gemeinsam verbrachten Nacht - anrief, da war es schon zuende, denn er hatte eine alte Freundin wiedergetroffen. Nun war ihre heimliche Affäre keineswegs ihr Traummann gewesen - tatsächlich fand sie ihn sogar ziemlich unattraktiv, insbesondere im Vergleich zu Viktor, dem sie immer noch mal ab und zu eine Träne nachweinte - und so tat ihr die Trennung nur in sofern weh, als sie nicht wußte, wann sie denn wieder einmal Erfolg bei einem Mann haben würde.

Also hatte sich Juliane auf eine Odyssee durch die Oldenburger Männerwelt gemacht und so zwar nicht ihr Glück gefunden, aber an Selbstvertrauen gewonnen, als sie feststellte, daß sie nicht nur bei entfernten Bekannten auf Geburtstagen gemeinsamer Freunde Erfolg haben konnte. Eine kleine Affäre, etwas mehr als nur eine einmalige Geschichte, das wäre vielleicht die Lösung, also las und antwortete sie auf Kontaktanzeigen im Mox, und dann traf sie Nick wieder.

Das waren zwei wirklich verrückte Tage gewesen, die sie fast glücklich gemacht hatten - endlich hatte sie eine in den Jahrzehnten zuvor nie feststellbare Wirkung auf Männer gehabt. Mit Nick hatte sich allerdings auch keine dauerhafte Liebschaft entwickelt, nur eine zweimalige Intimität, aber immerhin hatten sie noch gelegentlich freundschaftlichen Kontakt.

* * *

Julianes größeres Selbstvertrauen steigerte anscheinend auch ihre Attraktivität, denn nach der heimlichen Affäre gelang es ihr, sogar wildfremde Männer am ersten Abend ins Bett zu kriegen, wie Dimitri, den Typen, den sie eines Mittwochsnachts im Metro kennengelernt hatte. Und obwohl es hieß, im Metro könne man - insbesondere Mittwochs - niemanden angraben oder gar abschleppen, war Juliane das problemlos gelungen.

Kurz vor vier hatte er noch hinter einem Bier allein an einem Tisch gesessen - sie an der Bar, das Jever, das der Barkeeper ihr der späten Stunde wegen ausgegeben hatte, in der Hand. Und er sah zu ihr herüber, lächelte fast ein wenig scheu - das hatte Juliane ermutigt. Sie war zu ihm gekommen, hatte gefragt, ob sie sich zu ihm setzen dürfe, denn es sei doch albern, wenn sie beide jeder für sich allein sitzen würden. Und er gestattete es. Sie begannen, sich über irgendwelche Nichtigkeiten zu unterhalten, schließlich waren die Flaschen geleert, und sie gingen hinaus, um nicht hinausgesetzt zu werden.

Diese Nacht Mitte Mai war sehr lau gewesen und so standen sie noch eine ganze Weile in der Nähe der Treppe, die hinunter zum Metro führte, redeten weiter - und Juliane wurde immer unkonzentrierter. Ihr ging der Gedanke nicht aus dem Kopf, wie Dimitri wohl küssen mochte. Seine Stimme war angenehm, der russische Akzent machte ihn interessant und seine Lippen waren wirklich schön. Und so fragte sie ihn schließlich - für ihn wohl plötzlich und zusammenhanglos, denn er war sichtlich überrascht - ob sie ihn küssen dürfe.

In diesem Moment kam ein Smartmobile um die Ecke, die die Hirschapotheke bildete - die Anlage bis zum Anschlag aufgedreht - wendete vor dem Zugang zum Metro, nur wenige Meter von Dimitri und Juliane entfernt, die sich - durch Julianes Rad voneinander getrennt - fast unbewegt gegenüber standen und fuhr wieder davon. Erst als von den Bässen nichts mehr zu hören war, rang Dimitri sich zu einer Antwort durch - man könne es ja mal probieren. Dimitri küßte nicht schlecht, natürlich landete Juliane noch in dieser Nacht mit ihm in seinem Bett und genoß ihren ersten völlig befriedigenden Sex, begleitet von den Klängen von Wolfsheim. Der Tag war schon angebrochen, als Juliane für einen Moment glaubte, ihr Glück gefunden zu haben.

Dimitri war plötzlich aufgesprungen, erschrocken über ihr Zittern und ihren knallroten Kopf, schon fast am Telefon, um einen Notarzt zu holen, bevor sie ihm klarmachen konnte, daß sie nur einen Orgasmus hatte. Mittags verabschiedete sie sich nach einem ausgedehnten Frühstück dann artig und hörte nie wieder von ihm.

Bis jetzt war Dimitri noch immer der einzige Mann, der wirklich gut im Bett gewesen war - und doch war es wieder nur eine Eintagsfliege gewesen. Auf die Dauer wurde es anstrengend und brachte doch nur für den Augenblick Freude. Inzwischen waren sogar einige Fehlgriffe zu verzeichnen.

Da war der 'Erste Mai', der einzige ihrer Männer, der älter als sie gewesen war, und mit dem sie nur aus Frust über ihr immer noch nicht geheiltes, von Viktor gebrochenes Herz ins Bett gegangen war - ohne mehr getan zu haben, als aneinander zu fummeln. Und nach seinen weisen Ratschlägen für ihr Leben war Juliane über seinen Rückzieher von einer Beziehung richtig erleichtert gewesen.

Dann war da noch Haro, die erste ihrer fruchtlosen Anzeigenbekanntschaften. Den hatte sie sich bei ihrem ersten Treffen schöngetrunken, weil sie unbedingt in dieser Nacht Sex haben wollte. Diesen eingebildeten, geschwätzigen und leicht untersetzten Dreißiger, der sich in seiner Anzeige als 'romantisch, nett und gutaussehend' bezeichnet hatte und es im Bett nicht brachte, ihr außerdem als Mensch ziemlich unsympathisch war und komisch roch, den wollte sie heute nachmittag abservieren.

Sie hatte gestern abend telefonisch das bei ihm geplante Treffen in das Café am Damm verlegt und hoffte nun, daß sie Haro nach den drei Mal, die sie ihm mit wachsendem Ekel erlaubt hatte, an ihr rumzumachen, höflich davon überzeugen konnte, daß er nicht der Mann war, mit dem sie noch länger zu tun haben wollte.

Falk dagegen, ihre zweite Anzeigenbekanntschaft, ein Sinologe und eloquenter Gesprächspartner, war als Mensch interessant und als Liebhaber sehr einfühlsam gewesen. Seiner Anzeige nach hatte er ja auch eine Frau gesucht, deren 'Luxusbody' er verwöhnen dürfe. Bei ihrem zweiten Treffen beklagte er allerdings, daß er ihren 'libidonösen Energien' nicht gewachsen sei und nach dieser Erklärung verabschiedete er sich vor dem Amadeus endgültig von ihr.

Dort hatte sie sich dann mit einigen Bieren trösten - nein richtiger in Selbstmitleid versinken wollen, wenn sie nicht zwei ihrer albernen Freunde dort aufgestöbert und davon abgelenkt hätten. Und ihr Kummer über diesen Verlust war schon längst vergangen. Vielleicht lag das auch an ihrem E-mail-Partner, dem jungen Mann aus Bremen, den sie vor anderthalb Wochen beim 8. Oldenburger Rollenspieletag kennengelernt hatte.

Sie hatte ein selbst geschriebenes Abenteuer geleitet, und er hatte einen der fünf Charaktere gespielt. Da er das System - Demiurgon - noch nicht kannte, hatte er sich zuvor einiges von ihr erklären lassen, und als sie dann spielten, schienen sie zeitweilig die einzigen Personen im Raum zu sein. Was für nette Ideen er gehabt hatte, das Abenteuer zu lösen! Und einen Tag später kam seine erste mail, in der er überschwänglich schrieb, wie gut ihm das Abenteuer gefallen habe. Sie hatte ihm sofort geantwortet, diesem gutaussehenden blonden Riesen. Übers Rollenspiel tauschten sie sich seitdem aus, bevorzugte Lektüre, Ostasien und zuletzt Internetsoftware für den Atari. Und natürlich hatte sie ihn zu ihrem Geburtstag in dreizehn Tagen eingeladen.

Aber sie hatte sich am Vortag mit ihrer mail durch Hinweise auf ihre Gefühle Christian gegenüber wahrscheinlich zu weit vorgewagt und nun war damit zu rechnen, daß sie sich so die angenehme Korrespondenz verscherzt hatte. Ihrer jetzigen Erfahrung nach mochten zwar einige Männer direkte Frauen, aber nur für eine Nacht, während viele andere durch offenen Umgang mit den weiblichen Gelüsten gleich abgeschreckt wurden.

Sie hoffte, daß Christian wenigstens zurückgeschrieben hatte - so konnte sie vielleicht zumindest ein wenig positive Energie für das Treffen mit Haro schöpfen. Und abends war dann noch der Tanzkurs in der Uni, also mal wieder ein Treffen mit Viktor, doch das tat nicht mehr halb so weh wie am Anfang. Denn seit sie ihn um Tips gebeten hatte, wie sie Haro wohl loswerden könnte, hatten sie wieder ein fast unbeschwertes, freundschaftliches Verhältnis, so wie zu der Zeit, bevor sie ihn zu mehr gedrängt hatte, als er ertrug.

Nachdem sie die Cäcilienbrücke über- und den Schloßgarten durchquert hatte, kam sie an dem Haus vorbei, in dem ihr jugendlicher Liebhaber seit knapp einem Monat wohnte, und Juliane erinnerte sich daran, daß sie noch einige Comicalben von Nick bei sich neben dem Bett liegen hatte. Sie schmunzelte bei dem Gedanken an die Umstände, die sie bewogen hatten, die Alben auszuleihen.

* * *

Als Juliane Nick das erste Mal gesehen hatte - auf der Januarfete im Otto-Suhr-Wohnheim - war sie noch mit ihrem damaligen, ersten Freund zusammen gewesen. Nick hatte sie - und auch Viktor - ihrer dunklen Haarfarbe wegen für Spanier gehalten. Und dann hatte er auf ihre Frage, auf wie alt er sie wohl schätze, mit 'Mitte zwanzig' geantwortet, was angesichts ihres tatsächlichen Alters um 10 Jahre daneben lag. Er selbst hatte behauptet, er würde bald 25, erst später hatte sie erfahren, daß Nick tatsächlich zunächst erst einmal 24 werden mußte.

Aber Nick war damals auch ziemlich blau gewesen, hatte wohl dadurch den Mut gehabt, sie hemmungslos anzumachen und mit seinen Bemerkungen eine Menge zur Steigerung ihres Selbstbewußtseins beigetragen. Vorher hatte sich nie ein Mann so unverhohlen für sie interessiert, so überschwengliche Komplimente gemacht, nicht einmal Viktor, der die Kontrolle seiner Emotionen kultivierte, insbesondere im Umgang mit seiner 'oberflächlichen Beziehung', wie er es nannte.

Nick hatte ihr erzählt, daß er leider trotz Müdigkeit nicht ins Bett könne, da sein Freund sich in seinem Zimmer gerade mit einer Frau vergnügen würde - aber zu viert wäre es wiederum etwas anderes - und ob sie nicht Lust habe, ihn zu begleiten. Aber Juliane hatte nein gesagt, denn damals war sie ja noch mit Viktor zusammen gewesen und sie hatte die Hoffnung gehegt, daß Viktor sich an dem Morgen, der der Fetennacht folgen sollte, mal ein bißchen zugänglicher zeigen würde. Das war natürlich nicht so gewesen, zudem waren sie durch einen sehr frühen Anruf unsanft aus dem Schlaf gerissen worden; eine Frau hatte sich auf der Fete ihre Lederjacke klauen lassen und wollte nun von Viktor, als Angehörigem des Heimrates, wissen, ob sie sich vielleicht wieder angefunden hatte.

Was war sie eifersüchtig auf diese dralle blonde Schnepfe gewesen, mit der Viktor auf der Fete auch getanzt hatte - viel besser als mit ihr. Damals hatten Viktor und sie verabredet, gemeinsam einen Tanzkurs zu besuchen, um dem abzuhelfen. Und das taten sie nun tatsächlich, jeden Mittwoch abend - obwohl es aus war und alle ihre Freunde sie deswegen für verrückt hielten.

Auf der nächsten Otto-Suhr-Party Ende April war es mit Viktor schon zuende gewesen. Mit einigen Bekannten war sie gegen ein Uhr nachts noch oben an seiner Zimmertür gewesen, da er nicht unten Thekendienst machte, wie er behauptet hatte, um sein Fernbleiben von einer anderen Verpflichtung an dem Abend zu entschuldigen. Sie hatte ihn gefragt - und das hatte ihren Begleitern, eher Viktors als ihre Freunde, die Schamesröte ins Gesicht getrieben -, ob er notfalls einige Gummis überhabe, falls sie auf der Fete mit einem jungen Mann anbandeln würde.

Konkret hatte sie dabei an Nick gedacht, was ja nicht unmöglich war angesichts seiner Zutraulichkeit auf der letzten Fete, und tatsächlich hatte sie ihn auf dem Weg nach oben zu Viktors Zimmer schon gesehen und kurz mit ihm gesprochen. Sie hatten sich sofort erkannt, wenn ihr auch sein Name entfallen war, und sie hatte ihm auch gleich gesagt, daß sie nun solo sei. Über Nick war Viktor natürlich im Bilde, denn über die Frage, ob sie denn wirklich nicht spanischer Herkunft sei, angesichts ihrer dunklen Haare und Augen, hatten sich Viktor und sie noch lange amüsiert.

Dabei war bei ihr vielleicht tatsächlich etwas von einer spanischen Urahnin zu sehen. Ursprünglich motiviert durch staatliches Diktat waren einige von Julianes Vorfahren in der Ahnenforschung aktiv gewesen - zumindest was die Abstammungslinien der eigenen Familie betraf. Insbesondere von ihrer Vaterseite war Juliane daher - glaubte man den Erzählungen, die ihr Großvater verbreitet oder tradiert hatte - rundherum Europäerin. Die Mutter ihres väterlichen Großvaters war in Italien zu ihrem Kind gekommen und die Mutter ihrer väterlichen Großmutter war eine Engländerin. Überhaupt gab es ein paar nette Geschichten über die englische Ahnenreihe. So hieß es, daß ein Earl, der später seinen Titel abgelegt hatte, sich von einem Spanienaufenthalt eine Nonne mitgebracht habe, die dann die Mutter seiner Kinder und Ahnin aller folgenden Generationen geworden sei.

Nun, Viktor blieb in dieser Aprilnacht auf seinem Zimmer - einen Monat später stellte sich heraus, daß er an dem folgenden Tag eine wichtige Prüfung erfolgreich absolviert hatte - und sie kehrte zurück zur Fete. Die Tanzfläche war so voll, daß man kaum stehen, geschweige denn tanzen konnte, also sah sie sich um, wen sie denn so kannte - außer Viktors Freunden. Sie fand Nick, der sich angeregt mit einer stark geschminkten Blondine unterhielt, grüßte ihn kurz, verweilte aber nicht, da sie es für fruchtlos hielt und außerdem einen Studienkollegen aus der Einführung in die biblische Literatur traf, mit dem sie sich, jeder eine Flasche Bier in der Hand, lange unterhielt, im Allgemeinen über Ex-Liebschaften und insbesondere über Julianes durch die Anmeldung schon konkret umgesetzten Plan, mit ihrem 'Ex' einen Tanzkurs zu besuchen.

Vielleicht hatten ihre Freunde sogar Recht gehabt, sie für verrückt zu erklären, denn nach den ersten Tanzstunden hatte Juliane sich jedes Mal furchtbar verlassen gefühlt, wenn sie Viktor wieder so nah gekommen, der seiner Weitsichtigkeit zu verdankende verträumte Blick wieder auf sie geheftet gewesen war. Vielleicht hatte sie sich deshalb vorzugsweise Mittwochs auf die Suche nach einem neuen Bettgenossen gemacht.

Dann sah sie Nick wieder - diesmal allein - und er fragte, ob er ihr ein Bier holen solle, dafür müsse sie aber seines und das seines Freundes halten. Sie bat um ein Jever, Nick brachte es nach einer kurzen Weile und Nicks Freund tauchte wenig später auch auf, aber das störte sie beide nicht. Juliane war fasziniert von Nick, von seinen blonden Haaren, seinen hellen Augen.

*


Bis dahin war sie der Meinung gewesen, nur dunkelhaarige, breit gebaute Männer etwa in ihrer Größe seien einen zweiten Blick wert - eben solche Typen, wie Viktor einer war, dessen Größe von einsachtzig beim Tanzen oft zu wenig waren, weil er immer sehr flache Schuhe trug und sie nur mit Hacken gut tanzen konnte. Nick dagegen war ein gutes Stück größer als sie, athletisch aber schlank und blond. Zudem behaart, wie sie im weiteren Verlauf der Nacht entzückt feststellen konnte - und er sagte so wunderbare Sachen: daß er ältere, dunkelhaarige, intelligente Frauen mit Brille faszinierend fände, sie genau sein Typ sei - folglich konnte sie nicht anders, als dahinzuschmelzen.

Zwei Bier hatte sie schon getrunken, nun wurde ihr noch ein drittes Jever in die Hand gedrückt. Das leicht schwebende Gefühl des Angeduselt sein hatte sich schon vor einer Weile eingestellt, aber es war sehr angenehm, enthemmte sie völlig und sie war zu allem bereit mit diesem jungen Mann, dem sie ihrerseits nun wieder Komplimente über sein Aussehen machte. Und plötzlich, als sein Freund gerade auf die Tanzfläche verschwunden war, standen sie sich dicht gegenüber und küßten sich lange.

Wie immer wirkte es sofort, schon der Kuß allein entzündete ihre Lust. Ursprünglich hatte sie das Phänomen auf den Magnetismus ihrer großen Liebe - Viktor - geschoben. Aber nachdem es ihr mit ihrer heimlichen Affäre wieder begegnet war, wunderte es sie nicht mehr, es auch mit Nick zu erleben. Sie sprachen kaum noch etwas, sondern gingen hinauf in sein Zimmer, zogen sich gegenseitig aus und Juliane fragte: "Hast Du Gummis?"

Nein, er hatte nicht! Er wollte wissen, wie lange ihre letzte Regel denn her sei, möglicherweise wäre es doch ganz ungefährlich, aber schnell brachte sie ihn auf den Teppich zurück. Mit ihrem Glück, so sagte sie, würde sie sicher gleich schwanger werden. Dieses Argument zog mehr, als es ein Hinweis auf AIDS getan hätte. Sie hatte ja gleich erzählt, daß sie bis zu diesem Moment erst mit einem einzigen Mann Sex gehabt hätte und das sei nicht ihr Exfreund, der 'Spanier', gewesen.

Nick hatte eine Freundin gehabt, eine Französin, im Januar war es mit der gerade vorbei gewesen, aber er trauere ihr immer noch nach und sei überzeugt, wenn er nur einen Tag mit ihr verbringen würde, hätte er sie wieder. Doch die Zeit habe er jetzt während des Semesters leider nicht. Während der Ferien war er im Skiurlaub gewesen, bei dem wirklich munteres Treiben geherrscht hätte, und mit zwei oder drei der jungen Mädchen, die dabei gewesen waren, war er wohl je ein- oder mehrmals in die Kiste gesprungen. Asienbegeistert sei er, Koreanisch lerne er, nach dem Examen würde er eine Weltreise unternehmen und auf dieser in Korea länger verweilen, um Land und Leute besser kennenzulernen - aber er hatte keine Kondome zuhause.

Spaßeshalber schlug Juliane vor, doch bei Viktor zu fragen, der müsse noch welche haben, denn gekauft habe er welche. Tatsächlich waren sie ja mit ihr nie wirklich zum Einsatz gekommen. Nick ging darauf jedoch nicht ein und meinte nur, er würde seinen Freund fragen, zog sich wieder an und ließ die nackte Schönheit auf seiner Matratze zurück. Und da lag sie, dann stand sie auf und besah sich das spärlich eingerichtete Zimmer.

Von den Plakaten an den weißen Wänden und den Türen der Wohnheim-Einbauschränke sagten Juliane nur Audrey Hepburn aus Breakfast at Tiffany's und die Bilal-Poster etwas. Auf dem Schreibtisch stand ein PC, auf dem kleinen Hängeregal zwei Fachbücher aus der Bibliothek, ein koreanisch-deutsches Wörterbuch und Comicalben. Stapel von Comics lagen auch auf dem Fußboden verteilt, zwischen Bierflaschen und Salzstangentüten - zum Teil nur halb geleert - für die sich Nick gleich beim Betreten seines Zimmers entschuldigt hatte mit den Worten, er habe die Wohnheimsfete mit ein paar Freunden bei sich oben begonnen. In einem der Comicstapel entdeckte sie beim Stöbern ein Heft, mit dem sie sich die Zeit vertreiben konnte: Der Incal von Jodorowsky und Moebius.

Von den insgesamt sechs Alben hatte sie immerhin drei gelesen, bis Nick zurückkam und kurz von seiner Suche nach Kondomen berichtete. Es war darauf hinausgelaufen, daß er bei einem Automaten in der Nähe des Wohnheims welche gezogen hatte. Fünf Stück für fünf Mark in knallrot. Und dann zog er sich wieder aus.

Tatsächlich wurden zwei der Gummis erfolglos entrollt und schließlich endete es damit, daß sich Nick - dessen männliche Eitelkeit angesichts seiner zur Unzeit eingetretenen Schwäche einen Knick zu erleiden drohte - vor der rücklings auf der Matratze liegenden Juliane auf den mit Salzstangenkrümeln bedeckten Boden kniete, um sie anderweitig zu befriedigen. Während dieses langandauernden und zumindest für Juliane sehr lustvollen Prozesses kam Nicks sturzbesoffener Freund in das Zimmer, besah sich die Szene und brauchte eine Weile, bis er verstand, daß er hier überflüssig war.

Obwohl Juliane sich bewußt war, in diesem Moment einer der Hauptakteure zu sein, fühlte sie sich zugleich völlig losgelöst von den ihr unwirklich scheinenden Vorgängen. Es konnte doch nur ein wunderbarer Traum sein, daß sie den Kopf eines jungen Mannes liebkosen, die Haare verwuscheln konnte, der ihr durch seine sehr gekonnt wirkenden Bemühungen Glücksgefühle verschaffte. Der Auftritt von Nicks Freund reizte sie allerdings zu einem herzlichen Lachen.

Nach einer Weile hatte sie dann Mitleid mit Nick und erlöste ihn aus seiner unbequemen und sicher viel weniger lustvollen Lage, indem sie ihm einen Orgasmus vorspielte um sich dann ihrerseits gleicherweise bei ihm zu revanchieren.

*


Der nächste Morgen begann für beide gegen halb zwölf. Sie duschte in der kleinen wohnheimtypischen Naßzelle, die nicht über ein Duschbecken, sondern nur über einen Abfluß im Boden verfügte. Nackt, sich abtrocknend kam sie dann noch einmal Nicks Freund unter die Augen. Offenbar hatte er doch eine schwache Erinnerung an die Nacht - oder Nick hatte ihn daran erinnert während sie unter der Dusche gewesen war - denn er entschuldigte sich mit ein paar Worten für sein Hereinplatzen. Auch jetzt noch fand Juliane das Ganze eher lustig als schockierend und die Erinnerung drängte ihr ein breites Grinsen auf.

Nick hatte ihr die drei noch ungelesenen Alben des Incal-Zyklus ausgeliehen - einer praktisch Wildfremden - und er sagte noch, eigentlich würde er nicht damit rechnen, sie jemals wiederzubekommen. In Julianes Augen erforderte das eine unbedingte Rückgabe. Sie würde ihm die Alben diesen Abend auf dem Weg zum Tanzen vorbeibringen.

Eine Beziehung waren Nick und sie nie eingegangen, es hatte sich eher zu einer Art freundschaftlichem Verhältnis - schon auch im mehrdeutigen Sinne - entwickelt. Nick hatte sein Versagen wohl ziemlich erschüttert, obwohl sie keinen Zweifel daran gelassen hatte, wie sehr ihr das Beisammensein gefallen hatte. Er hatte behauptet, soetwas sei ihm zuvor nie passiert und an allem sei nur die Trennung von seiner Französin schuld, das hätte ihm einen Knacks verpaßt.

Nick wollte die Liebesnacht als eine einmalige Geschichte verstanden wissen, dennoch verabredeten sie sich während des Frühstücks in der Mensa zum Kino, allerdings erst für den folgenden Abend, denn an dem Abend stand das erste Mal Tanzstunde mit Viktor an - und glücklicherweise war sie damals mit ihrem Gedanken ununterbrochen bei Nick gewesen.

Sie war tatsächlich mit Nick im Kino gewesen, danach noch im Slatterys, das sie an diesem Abend das erste Mal betrat, und in dem sie beide noch lange bei Kilkenny und Guinness saßen und redeten, bis zur Verabschiedung durch einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. Lange Gespräche, zumeist telefonisch, hatten sie danach noch öfters geführt, er hatte ihr von seiner Französin erzählt, der er noch immer nachtrauerte, und sie erzählte von Viktor, dem sie noch immer anhing - und sie berichteten einander von ihren neuen Eroberungen und ihren Versuchen, das Glück zu finden.

Ein paar Mal war sie mit Nick beim Tanzkurs gewesen, weil Viktor durch andere Termine ausfiel. So viel besser hatte sich mit ihm tanzen lassen, seiner Größe, aber auch seiner Erfahrung wegen, denn er hatte bereits einen Goldkurs absolviert. Und so nette Komplimente hatte er ihr gemacht, wie gut sie sich führen ließe, wie sehr sie sein Typ sei, wenn er nur nicht diesen Knacks weghätte, und so fort.

Und Ende Mai an einem Freitag abend, kurz vor seinem Umzug - als sie eigentlich ziemlich erkältet war und nur schlafen wollte - rief er plötzlich an, er wolle sie mit einer Flasche Rotwein besuchen, ob sie denn einen Balkon oder eine Terrasse habe. Sein Anruf wirkte Wunder an ihrer Gesundheit und sie sagte begeistert zu. Als Nick vor der Tür stand, war sie jedoch erschüttert, denn er hatte einen Drei-Millimeter-Schnitt, der ihn optisch stark veränderte, ihn schrecklich jung aussehen ließ, insbesondere, als er erschöpft in ihrem Bett lag - da war ihr fast die Lust an ihm vergangen.

Aber Juliane freute sich doch, ihn zu sehen, freute sich, möglicherweise wieder Zärtlichkeiten mit ihm austauschen zu können. Und sie leerten die Flasche, brannten sämtliche Kerzen, die im Haus waren, ab in dieser Nacht - und versuchten es wieder einmal, und wieder erfolglos, diesmal mit aromatisierten Gummis, die sie seitdem haßte, denn auch Haut nahm diesen schrecklich künstlichen Geschmack an.

* * *

Den Weg zum Café am Damm legte Juliane ganz in Gedanken zurück, ohne auch nur einmal auf den Verkehr zu achten. Christians mail ging ihr nicht aus dem Kopf - sie wußte gar nicht recht, wie ihr war. Sollte sie tatsächlich einmal das Glück haben, daß ihre Gefühle ein bißchen erwidert wurden? Er hatte geantwortet auf ihre lange mail, in die sie eingeflochten hatte, daß sie ihn nicht nur so ganz nett, sondern schon sehr sympathisch fände.

Er hatte diesen Satz nicht einfach ignoriert, sondern explizit darauf geantwortet, auch er fände sie nicht nur nett, sondern mehr als das, liebenswert, obwohl sie sich erst so kurz kennen würden. Er freue sich auf ihre nächste mail, man könne sich vielleicht vor ihrer Geburtstagsfeier noch einmal treffen, und schließlich wünsche er ihr noch alles erdenklich Liebe und Gute.

Sie hatte zurückgeschrieben, von dem Gefühlssturm, den er mit seinen Worten bei ihr auslöste, wie gerne sie ihn wiedersehen würde - und daß sie ihn vielleicht am kommenden Morgen anrufen würde, wenn sie es nicht aushalten könne von ihm erst wieder zu hören, wenn sie in der Uni den mailaccount abfragte.

Das Türschild vom Café am Damm brachte ihr schlagartig wieder den Grund ihres Hierseins ins Gedächtnis. Sie mußte jetzt mit ihren Gefühlen jonglieren, so wie mit ihren Männern, auch wenn sie nie tatsächlich über den Harem, von dem sie ihren Freunden gegenüber oft sprach, verfügt hatte. Nick hatte sie immer dazugezählt, aber das war eigentlich falsch - und nur Haro und Falk hatte sie teilweise parallel gehabt.

Ihr Entschluß, Haro abzuservieren, über den sie vielleicht trotz der Antipathie auf ihrer Seite noch einmal nachgedacht hätte, wenn kein neuer Mann in Aussicht gewesen wäre, war nun unumstößlich. Auch wenn es mit Christian nichts werden sollte, wenn sie doch seine Bemerkungen einfach überinterpretiert hatte - weil sie gerne wollte, daß er etwas von ihr wollte - mußte sie Haro loswerden, denn er hinterließ ihr im eigentlichen und übertragenen Sinne einen schlechten Geschmack im Mund.

Juliane war einige Minuten zu früh und mußte nun auf Haro warten. Sie bestellte sich einen Milchkaffee und beobachtete die zwei anderen Gäste im Nichtraucherraum, um sich nicht durch Gedanken an Christian von ihrem Vorhaben ablenken zu lassen. An dem kleinen Zweiertisch saßen sich zwei Mädchen, nun, vielleicht junge Frauen, gegenüber und unterhielten sich über Nostradamus.

Es dauerte eine Weile, bis Juliane klar wurde, daß damit offensichtlich ein Tier dieses Namens, anscheinend ein Hund gemeint war.

Eine der beiden kam ihr sogar vage bekannt vor und sie erinnerte sich, daß sie vorletzten Freitag mit ihr an einem Tisch im Cafe des ehemaligen Peter-Friedrich-Ludwig-Hospitals gesessen hatte, als die Lesung von Hajo Teschner stattfand. Sie war dort mit Falk verabredet gewesen, der erst ziemlich spät gekommen war, was Juliane wiederum sehr nervös gemacht hatte. Aber auch ihm hatte das Buch gefallen, aus dem Hajo gelesen hatte - sie selbst hatte keinen Zweifel daran gehabt, daß es gut und unterhaltsam sein würde, denn schließlich kannte sie Hajo und seine Werke ja aus einem Projekt des Literaturbüros, an dem sie beide teilgenommen hatten - und im Anschluß waren sie ins Murphy's gegangen. Da hatte Falk dann mit ihr Schluß gemacht, sie noch bis zum Ama begleitet und war aus ihrem Leben verschwunden.

Im Murphy's hatte Juliane auch ihren ersten gemeinsamen Abend mit Viktor verbracht, am ersten Dezember des vergangenen Jahres - und irgendein Gast hatte den zwei Turteltäubchen, wie er meinte, dann auch noch je ein Glas Sekt ausgegeben -, und dort hatte sie auch, nachdem sie das zweite große Guinness intus hatte, Haro verliebt über den Tisch angeschaut, bis der endlich weichgekocht war und sie küßte. Hätte sie das nur gelassen, dann müßte sie nun nicht hier sitzen.

Inzwischen hatte das junge Mädchen mit Brille wohl auch Juliane als vage bekannt eingeordnet, denn sie grüßte mit einem kurzen Kopfnicken zu ihr herüber, gefolgt von einem sehr erstaunten Blick ihrer Gesprächspartnerin und einem etwas heftigeren, im Flüsterton fortgesetzten Dialog zwischen den beiden. Aber nun hatte Juliane keine Gelegenheit mehr, die beiden weiter zu beobachten, denn Haro kam ins Café. Freudestrahlend ging er gleich zu ihr an den Tisch, wollte sie umarmen und küssen, aber sie wehrte das ab, kündigte eine Erklärung an - ließ Haro in dem Glauben, es sei der öffentliche Ort, den sie scheute - er setzte sich, bestellte und sie begann, ihm die Kröte zu verabreichen.

Haro war ziemlich hartnäckig: er wisse doch, daß sie ihn begehre und ihr ihre Zweisamkeit gefallen habe. Und er erinnerte Juliane mit gesenkter Stimme daran, welche Lust sie offensichtlich empfunden hatte, als er sie bei ihrem zweiten Zusammentreffen rasiert hatte. Natürlich sprachen einige Tatsachen gegen Juliane, denn sie war es gewesen, die ihn gleich am ersten Abend ins Bett gezerrt hatte - auch wenn es seines gewesen war, denn sie hatte außer Viktor und ihrer heimlichen Affäre bis zu Nicks Besuch keiner Liebschaft die Haustür, geschweige denn ihre Schlafzimmertür geöffnet.

Allerdings hatte sie gerade die Rasur - auch wenn es ihr Spaß gemacht hatte - in Erklärungsnöte gegenüber allen folgenden Bettgenossen getrieben, von denen Haro natürlich nichts wußte. Ja, er hatte sogar gedacht, nur er allein würde jemals ihre 'rasierte Muschi' zu Gesicht bekommen. Und außerdem war das Nachwachsen der Haare ausgesprochen unangenehm.

Nun erzählte sie also - schon ein bißchen ins Schwimmen geraten, denn mit der brutalen Wahrheit wollte sie dann doch nicht herausrücken - es wäre eine rein körperliche Anziehungskraft und das wäre ihr nicht genug, sie wolle Liebe und Leidenschaft in einem und ihn könne sie nun einmal nicht lieben - denn sie stände nicht auf blond. Aber Haro ließ nicht locker: er wisse doch, was für ein 'geiles Stück' sie sei und daß sie es gar nicht lange ohne Mann aushalten könne - egal ob nun mit oder ohne Liebe.

Die verhalten geäußerten Obszönitäten, die Juliane in der Tat aufs höchste erregten, machten ihr Haro jedoch zugleich noch unsympathischer. Er mochte zwar tatsächlich Recht haben mit seinen Spekulationen darüber, was sie erregte, aber es stand ihm nicht zu, einfach zu behaupten, er wisse es. Über diese Bevormundung und über den Verrat ihres eigenen Körpers nun ziemlich sauer geworden, kürzte sie die Angelegenheit ab, indem sie auf einen weiteren Termin an dem Nachmittag verwies, zusagte, sich zu melden, falls bei ihr einmal Not am Manne sei und Haro im Stillen zum Teufel wünschte.

Mit hundertprozentiger Sicherheit würde sie sich spätestens in zwei Wochen melden, versprach Haro ihr, eher noch früher, aber natürlich würde er jetzt erst einmal ihre Laune akzeptieren. Da solle er sich lieber nicht zu große Hoffnungen machen, riet Juliane ihm, stand auf, zahlte ihren Milchkaffee und ging, um nach Hause zu radeln.

Zuhause nahm sie die drei Comicalben von Nick, zog die Tanzschuhe an und machte sich auf den Weg zur Uni, obwohl es noch dreieinhalb Stunden bis zum Beginn des Kurses waren. Doch als sie bei Nick klingelte, wurden ihre Hoffnungen, ihn zuhause anzutreffen, zerstört. Sie warf also die Alben mit einer kurzen Dankesnotiz in den Briefkasten, fuhr zur Uni und vertrieb sich die Zeit bis zum Beginn des Kurses am PC, indem sie die mails von Christian und ihre Erwiderungen darauf wieder und wieder las. Vielleicht wollte er ja tatsächlich etwas von ihr - aber bei ihrem Glück hatte sie sicher nur wieder etwas falsch verstanden.
 

* * *

Am nächsten Abend um die selbe Zeit war Juliane klüger - und wie im Rausch vor Liebe und Glück. Tatsächlich hatte es sie mit solcher Wucht nicht einmal bei Viktor erwischt, aber der hatte auch niemals gesagt, daß er sie lieben würde. Er hatte immer auffällig vermieden, das oder Ähnliches zu sagen.

Morgens hatte sie das Telefon geweckt - gegen zehn Uhr, aber nach einer langen Nacht im Metro, die sie hauptsächlich mit Freunden redend verbracht hatte, und einem kurzen Abstecher ins Ama um zu tanzen, war das morgens für sie. Der Anrufer machte sie gleich munter - es war Christian. Zuerst bedankte er sich für ihre mail vom Vortag, dann druckste er ein bißchen herum und rückte schließlich damit heraus: nach ihrer letzten mail habe er einfach nicht auf ihren Anruf warten können, sondern habe selbst zum Hörer gegriffen. Er hoffe, sie nicht geweckt zu haben, aber er fände sie so attraktiv und so nett und höre ihre Stimme gerne - und er habe sich ziemlich in sie verknallt auf dem ORT und durch ihren mail-Wechsel.

Juliane gestand, daß es ihr ebenso ergangen sei, sie aber nicht recht zu hoffen gewagt habe, denn bisher seien große Gefühle ihrerseits von den betreffenden Männern nie erwidert worden. Sie überlegten hin und her, wann sie sich denn treffen könnten, wann sie beide Zeit hätten und ob in Oldenburg oder in Bremen - und schließlich fiel Christian ein, daß sie beide ja nur eine Zugfahrt von einer halben Stunde trennte. Es falle ihm schwer, nun das Telefonat abzubrechen, aber er sei in einer knappen Stunde am Bahnhof in Oldenburg.

Juliane war von den Socken. Zunächst saß sie noch eine Weile da, träumte vor sich hin, im Nachthemd, die Knie gegen die Tischkante gestützt. Dann wurde ihr jedoch klar, daß sie sich mit dem Waschen und Anziehen beeilen mußte, denn allein für die Fahrt zum Bahnhof würde sie zwanzig Minuten brauchen. Und sie schaffte es auch, rechtzeitig und ohne Unfall zum Bahnhof zu kommen. Der Zug aus Bremen war noch nicht da als sie den Bahnsteig betrat, fuhr aber nur eine knappe Minute später ein. Sie fragte sich plötzlich, ob sie Christian überhaupt wiedererkennen würde. Vor fast zwei Wochen hatte sie ihn das erste und einzige Mal gesehen, sehr groß war er gewesen, kurze blonde, fast rote Haare hatte er gehabt.

Da stand er. "Christian", seufzte Juliane leise. Er sah sie an, sie starrte zurück, unsicher, ob sie auf ihn zugehen und ihn umarmen oder es trotz der Tatsache, daß sie über ihre Gefühle zueinander schon Bescheid wußten, lieber langsamer angehen sollte. Er kam einen Schritt näher, sie näherte sich ihm und plötzlich lagen sie sich in den Armen, küßten sich, und Christian flüsterte: "Ich liebe Dich." Juliane war unsagbar glücklich.

Einer an der Hand des anderen gingen sie die Treppe hinunter, durch den Gang in die Bahnhofshalle, hinaus auf den Bahnhofsvorplatz, sahen sich wieder an, küßten sich wieder, lange, immer wieder und noch länger. Juliane konnte die rosa Wölkchen, die sie an diesem nieseligen 1.7. umgaben, förmlich sehen, und Christians blondes Haar strahlte für sie wie die Sonne.

"Ihr spinnt ja!" schimpfte ein alter Mann, ging, einen bösen Blick zurückwerfend, an ihnen vorbei zum Taxistand. Und Juliane und Christian sahen sich an und lachten. Die Hormone machten sie verrückt, davon war Juliane überzeugt. Sie beide versicherten sich ihrer gegenseitigen Liebe und der Rückkopplungseffekt machte sie glücklich. Sie gingen schließlich zum Hafen, in den Schwan, denn Christian hatte nicht genügend Zeit, Juliane für den Rest des Tages nach Hause zu begleiten. Für den von vielen Küssen unterbrochenen Weg brauchten sie jedoch fast eine Stunde.

Sie saßen im Wintergarten mit Blick auf den Yachthafen, aber Juliane hatte nur Augen für Christian. Sie schwebte förmlich im siebten Himmel, bei zwei Kännchen Ostfriesentee und einem Teller Bauernsalat. Sie fütterten sich gegenseitig mit Salatblättchen, Käsestückchen, Tomatenschnitzen und belohnten jeden Bissen mit einem Kuß. Und nachdem sie nicht einmal den halben Teller leergegessen hatten, klingelte Christians Armbanduhr und erinnerte ihn daran, daß er wieder zum Zug nach Bremen mußte. Juliane kam mit. Wozu hatte sie schließlich das Semesterticket, der einzige Grund - neben dem Internetzugang - aus dem sie in Oldenburg immatrikuliert war. Bisher hatte sie es nur sehr selten genutzt, aber nun war abzusehen, daß es sich tatsächlich amortisieren würde.

Dann warteten sie auf dem Bahnsteig auf einer Bank, kraulten und küßten einander, als müßten sie sich jede Sekunde der Leibhaftigkeit des anderen versichern. Und während der Fahrt in dem überfüllten Zug standen sie, ineinander verschlungen zwischen einem Klo und dem Übergang in den nächsten Wagen. Die Schaffnerin quittierte die Szene mit einem Grinsen und als nur Christian sein Semesterticket - eines von der Bremer Universität, das sich durch seinen rot-schwarzen Außenaufdruck deutlich von Julianes schwarz-weißem Ticket unterschied - schnell fand, Juliane aber weiter in ihrer Tasche suchte, sagte sie, sie wäre sicher, daß auch Juliane Studentin sei und im Übrigen sollten sie weitermachen.

Das ließen sich die beiden nicht zwei Mal sagen. In Bremen angekommen erwog Christian einen Moment, Juliane wieder nach Oldenburg zurückzubringen, um das Beisammensein zu verlängern, aber er mußte den Termin, der ihn nach Bremen zurückgetrieben hatte, wahrnehmen. Also verabschiedeten sie sich und Christian brachte Juliane noch zum Zug.

Die halbe Stunde Rückfahrt dauerte ewig und in Gedanken an Christian verging sie doch wie im Fluge. Kaum in Oldenburg angekommen, schwang Juliane sich auf ihr Rad, fuhr zur Uni und schrieb ihrem Liebsten eine glühende mail, während ihr Herz raste vor Glück.
 

* * *

So wie Julianes beste Freundin alle Jahre einen Erster-Mai-Ausflug veranstaltete - dieses Jahr hatte Juliane nicht daran teilgenommen, weil sie durch den ganztägigen Aufenthalt im Bett ihres 'Ersten Mais' verhindert gewesen war - lud Juliane alle Jahre im Juli anläßlich ihres Geburtstages zu einem Picknick. Sie wählte dafür stets eine leicht erreichbare öffentliche Grünanlage aus, in der Regel den Oldenburger Schloßgarten, um dort mit einem ausgedehnten Frühstück den Vormittag in angenehmer Gesellschaft zu verbringen.

Dieses Jahr nun fiel ihr Geburtstag auf einen Montag, was ihr die Idee eingegeben hatte, vom Sonntag in ihren Vierunddreißigsten hineinzufeiern, also erst abends mit dem Picknick - dem Symposion - zu beginnen. Da der Schloßgarten nachts jedoch verschlossen war, entschied sie sich für den Wunderburgpark, der neben der freien Zugänglichkeit zu jeder Tages- und Nachtzeit den weiteren Vorteil hatte, dichter als der Schloßgarten an Julianes Behausung zu liegen. Die Planung hatte nichts Spektakuläres an sich, alles lief so, wie in den Jahren zuvor, auch wenn erstmals für Beleuchtung zu sorgen war.

Durch den außergewöhnlich prächtigen Sommer konnte dafür jedoch auch erstmals auf einen Regenschutz verzichtet werden.

Zweiundzwanzig Tage vor ihrer Feier hatte Juliane Christian kennengelernt, fand ihn sympathisch und lud ihn - wie viele andere junge Leute, die sie zwar erst ein paar Mal gesehen hatte aber nett fand - spontan zu ihrem Symposion ein. Und zehn Tage vor der Feier war sie plötzlich mit ihm zusammen.

Juliane war in der Nacht eine sehr unaufmerksame Gastgeberin - ausgenommen die Zuwendungen, die sie einem einzelnen Gast schenkte - aber das schienen die meisten ihrer Freunde nicht übel zu nehmen. Und es hatte sich gelohnt, einen Wickelrock anzuziehen, der raschen Zugriff erlaubte. Die warme Nacht verbrachten Juliane und Christian mit den letzten Gästen im Park, den darauffolgenden Tag bei Juliane im Bett.

Sie verbrachten in der Folge ganze Tage im Bett und hatten wunderbaren Sex miteinander. Juliane erzählte nach und nach von all ihren Affären, aber Christian meinte nur, das sei schließlich vor seiner Zeit gewesen und im Übrigen wolle er sie heiraten. Und eine Woche später zeugte Christian mit Juliane das erste Kind.
 

* * *

Juliane war erst seit gut einer Woche mit Christian verheiratet und meldete sich am Telefon aus alter Gewohnheit mit: "Vortege?"

Bevor sie sich verbessern konnte, brachte sie ein von russischen Brocken durchsetzter Wortschwall zum Schweigen. Sie war so überrascht über Dimitris Anruf, daß sie ihn erst einmal reden ließ. Er habe durch seinen Umzug ihre Telefonnummer wiedergefunden, wäre sehr interessiert an einem Wiedersehen und was sie davon hielte, sich am späten Nachmittag mit ihm im Café am Damm zu treffen.

"Das paßt mir heute nicht besonders gut, Dimitri."

"No heute ist Sonntag, i Café am Damm ist ne weit von dir."

"Ich werde aber erst recht spät kommen können."

"Charascho. Ich werde warten, Juliane."

Juliane legte verwirrt auf. Das war anscheinend der Nachteil, wenn man das fünfzehn Jahre lang ignorierte Liebesleben in ein halbes Jahr preßte. Man konnte auf Schritt und Tritt den Verflossenen begegnen. Sie überlegte, die Verabredung platzten zu lassen, aber Dimitri hatte ziemlich stur geklungen. Auf dieses Weise würde es ihr wohl nicht gelingen, ihn loszuwerden.

Allerdings war es schon was anders, wenn sie Dimitri ihren Mann vorstellen konnte.

Nur was würde Christian dazu sagen, wie ein Zootier einem ihrer Ex-lover vorgeführt zu werden?

"Ist OK. Ich will doch mal sehen, wem Du mich vorgezogen hast, mein Schatz."

Trotzdem vertrödelte Juliane eine Menge Zeit, bis sie sich mit Christian endlich auf den Weg zum Café am Damm machte. Zudem war Juliane durch die Schwangerschaft schon deutlich langsamer mit dem Rad, als sie es noch vor ein paar Monaten gewesen war. Christian mußte sich Mühe geben, seine Frau nicht abzuhängen.

Es war schon dunkel, als Juliane und Christian endlich das Café am Damm erreichten und betraten. Juliane mußte allerdings zunächst einmal dringend aufs Klo, guckte auf ihrem Weg weder rechts noch links und überließ es ihrem Mann, in dem vollen Café einen Platz zu ergattern. Als sie zurückkam, sah sie sich erfolglos nach Dimitri um. Anscheinend waren ihm zwei Stunden Wartezeit doch zu lang geworden.

So verbrachten Juliane und Christian einen netten Abend im Café am Damm und fuhren schließlich wieder nach Hause.

Sie zeugten in den kommenden Jahren noch ein paar weitere Kinder und waren verliebt und glücklich bis zu ihrem Lebensende.

* * *

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derLeowitschs Profilbild
derLeowitsch Am 09.10.2024 um 1:11 Uhr Mit 1. Kapitel verknüpft
kann alles zu 100 % bestätigen, sinnlich geschrieben und eine Herausforderung an die eigene Gedankenwelt. Das Leben hat viel zu bieten, doch am schönsten ist es, sich neu zu verlieben, dies Stunden, Tage sind das Salz des Lebens. Gewöhnung und sich genau kennen ist bereits das AUS: Man denkt, man ist nicht frei? Dann Konsequenzen ziehen, LG Leo
Elisabeths Profilbild
Elisabeth (Autor)Am 09.10.2024 um 18:02 Uhr
Ganz herzlichen Dank für Deinen ermutigenden Kommentar, lieber Leowitsch. Es freut mich sehr, daß Dir das erste Kapitel gefallen hat.

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Elisabeths Profilbild Elisabeth

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Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 7
Sätze: 218
Wörter: 7.689
Zeichen: 44.854

Kurzbeschreibung

Juliane fehlt was - mal sehen, ob sie es findet... Eine Story, die in meiner Heimatstadt Oldenburg (Oldb) spielt.

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