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Lina und ihr Latexcatsuit

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26.11.25 20:01
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
Fertiggestellt

Die meisten Menschen glauben, das Fernsehen sei ein Fenster zur Welt. Dabei ist es eher ein schmaler Türspalt, durch den ein paar handverlesene Lichtstrahlen fallen dürfen – nachdem sie vorher von mindestens drei Redakteuren genehmigt, weichgezeichnet und in eine möglichst konfliktfreie Farbpalette gepresst wurden.

Genau diese Erfahrung machte Lina Krämer, 37, Lesbe, erfahrene TV-Ansagerin und Besitzerin eines makellos sitzenden schwarzen Latexcatsuits, der weniger „Fetisch“ als „Rüstung für schwierige Tage“ war.

Ein Abend wie jeder andere – fast

Es war kurz vor den Abendnachrichten, als Lina mit entschlossenem Schritt in die Maske marschierte. Die Visagistin drehte sich um, sah das Latex – und hätte fast den Puderpinsel fallengelassen.

„Lina… das ist… neu.“

„Es ist glänzend und völlig unpolitisch. Ein Kleidungsstück“, antwortete Lina, als sei sie die erste Person, die jemals Textilien am Körper trug.

Doch die Wände im Sender waren dünn, und das leichte Knarzen des Latex beim Gehen – ein Geräusch, das für manche modisch, für andere verstörend und für Redakteure traditionell ein Fall für Krisensitzungen war – verbreitete sich wie ein Alarmruf.

Innerhalb einer Minute stand Chefreakteur Markus Behrens in der Tür.
Er war ein Mann, der immer so aussah, als hätte er den Geruch von Risiko schon aus großer Distanz in der Nase. Viele meinten, er sei der einzige Mensch der Welt, der selbst Wettervorhersagen für potenziell „zu kontrovers“ hielt.

„Lina…“ sagte er, mit jener Stimme, die Chefs nur benutzen, wenn sie glauben, jemand habe soeben das gesamte Medienrecht gebrochen. „Was tragen Sie?“

„Einen Catsuit.“

„Aus Latex.“

„Ja.“

„Schwarz.“

„Das auch.“

Der mediale Super-GAU, der nie stattfindet

Markus fuhr sich durch die Haare. „Verstehen Sie, wir können nicht riskieren, dass die Zuschauer…“
Er suchte nach einem Wort, das sowohl Empörung als auch Verantwortung suggerierte, ohne dass jemand wüsste, worum es eigentlich ging.
„… irritiert werden.“

„Von Kleidung?“

„Von falscher Kleidung.“

„Markus, ich bin eine offen lesbische Frau. Ich trage dieses Outfit nicht, um eine Latexnacht im Privatsender zu moderieren. Ich trage es, weil es meine zweite Haut ist. Weil ich mich damit authentisch fühle. Und weil die Nachrichten heute ohnehin düster sind – da kann doch wenigstens ich glänzen.“

Markus nickte unsicher, als hätte er gerade eine philosophische Frage gestellt bekommen, die nicht im Handbuch für Redaktionsleitung stand.

„Aber was ist mit den Schlagzeilen morgen?“ murmelte er.

„Welche? ‚Frau im Fernsehen trägt Kleidung‘?“

„Nee, eher ‚GEFÄHRLICHER GLANZ: ÖRR zeigt Latex! Wie sicher sind unsere Kinder?‘ – oder die Boulevardblätter: ‚LESBISCHER LATEX-SCHOCK‘. Verstehen Sie, wir leben in Zeiten der Medienempörung… man findet Gründe, wenn man welche sucht.“

Lina verschränkte die Arme. Das Latex quietschte leicht – ein Geräusch, das in ihr eine seltsame Mischung aus Belustigung und Trotz auslöste.

„Oder wir könnten einfach…“ – sie sprach langsam, damit der Satz sicher ankam – „…normal damit umgehen.“

Der Sender gegen die Sichtbarkeit

Lina war seit Jahren die ruhige Stimme der Nation, die Frau, die politische Krisen, EU-Verordnungen und sogar die jährliche Steuererklärungserinnerung in eine verständliche Form bringen konnte.

Doch ihre Kleidung? Die war offenbar ein nationales Risiko.

„Der Punkt ist“, sagte Markus, jetzt im pädagogischen Modus, „wir sind ein seriöser Sender.“

„Und ich bin ein seriöser Mensch“, konterte sie. „Seriosität entsteht durch Inhalte, nicht durch Stoffe.“

Er starrte sie an, als wäre das ein experimenteller Gedanke.

Der Moment der Entscheidung

Schließlich sagte Markus: „Ich muss das mit der Intendanz besprechen.“

„Oder“, sagte Lina, „Sie lassen mich einfach die Nachrichten verlesen. Und wenn ein Shitstorm kommt, dann reden wir drüber. Aber vielleicht kommt auch keiner. Vielleicht ist das Problem nur in Ihrem Kopf.“

Es entstand eine Stille, die nur vom dezenten Glänzen des Catsuits gefüllt war. Markus schloss die Augen. Vielleicht sah er sein Leben an sich vorbeiziehen. Vielleicht sah er die Twitter-Timeline der nächsten 48 Stunden. Niemand weiß es.

Dann seufzte er: „Wenn ich meinen Job verliere, können Sie mich hoffentlich irgendwo als Pressesprecher unterbringen.“

„Versprochen.“

Die Nachrichtensendung, die alles und gleichzeitig nichts veränderte

Als das Intro lief und Lina im schwarzen Latexcatsuit ins Bild trat, wirkte sie selbstbewusst, präsent – und vollkommen in ihrem Element.

Sie sprach klar und sachlich über geopolitische Entwicklungen, wirtschaftliche Veränderungen und einen überraschend emotionalen Beitrag über lokale Kulturinitiativen.

Am Ende der Sendung passierte Folgendes:

Nichts.

Die Welt ging nicht unter.
Kein Sturm der Empörung.
Ein paar Kommentare wie „Schickes Outfit“ und „Mutige Entscheidung“, aber keine Skandale, keine empörten Leitartikel.

Die meisten Menschen waren nämlich damit beschäftigt, die Nachrichten inhaltlich zu verfolgen – ein seltenes, aber offenbar mögliches Phänomen.

Epilog

Markus klopfte Lina später auf die Schulter. „Na gut“, sagte er, „vielleicht war es kein Fehler.“

„Natürlich war es keiner. Aber dass du überrascht bist, zeigt, dass wir im Fernsehen weniger die Realität abbilden als unsere Angst davor.“

Und so begann im Sender eine vorsichtige, zögerliche, aber durchaus sichtbare Veränderung:
Ein bisschen mehr Authentizität.
Ein bisschen weniger Panik vor Sichtbarkeit.
Und gelegentlich ein leises Latexknarzen in den Fluren – das untrügliche Geräusch einer Frau, die ihren Platz einnimmt.

Ein Platz, der ihr schon immer gehörte.

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