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NeoFFM2

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05.02.25 14:56
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

1

Es war einmal in einer Stadt,
kurz vor ChatGPT 5.0 und lange nach Video.to.
Der Name dieser Stadt war NeoFFM2.

Und NeoFFM2 war eine dieser aufgeblasenen Kapitalismus-Hochburgen, in denen Geld die scheiß Welt regiert.
Ein Bollwerk des digitalen Festungskapitalismus, ein wahrgewordenes Videospiel, ein fucking endloses Labyrinth aus Quellcode und Stahlbeton.
Am Rand dieser möchtegern-Megametropole befand sich ein altes Krankenhaus. Und tief unten im Keller dieses Krankenhauses gab es einen kleinen, niedrigen und auf unvorteilhafte Art feuchten Kellerraum. In eben diesem vollkommen ungeeigneten Kellerraum war der Zentralrechner des Krankenhauses untergebracht.
Summend und brummend stand das digitale Fossil dort in dem kleinen Raum und tat sein Bestes, um das morsche Netzwerk des Krankenhauses am Laufen zu halten. Neben dem staubigen Gerät saß auf einem in die Jahre gekommenen Bürostuhl ein junger Mann.
Dieser junge Mann hieß Barron. Barron verdankte seinen Namen einem Hinterweltler-Onkel, der in den Sümpfen Louisianas Kampf-Krokodile züchtete. Dieser dickköpfige Onkel war damals mit einer Konföderierten-Flagge bewaffnet in den Kreißsaal gestürmt und hatte, noch bevor Barron das erste Mal das Tageslicht erblickte, lauthals gefordert, dass dieses Kind, der einzige Nachfahre der Familie Hammersmith, den Namen Barron tragen sollte, nach ihrem Urgroßvater.

Jedenfalls war Barron Hammersmith der Zweite wie schon sein Urgroßvater ein eher unscheinbarer Mann. Klein von Statur, blasse Haut und ausgestattet mit einem runden Bauch. Sein Maulwurfsgesicht wurde zur Hälfte von einem ungepflegten Bart verdeckt, und seine fettigen Haare trug er stets zu einem Pferdeschwanz. Besagten Bauch versteckte Barron meist unter einem zu großen T-Shirt mit dem Logo einer unbekannten und wahrscheinlich auch untalentierten Heavy-Metal-Band. Alles in allem sah er eben aus wie ein klassischer World-of-Warcraft-Gilden-Leader. Nur dass er dieses Spiel nie gespielt hatte. Immerhin geht es bei WoW um Game-Time und nicht um Skill – und das war einfach nicht Barrons Stil.

Nun denn. Ganz objektiv betrachtet war Barron corny as fuck.
Manchmal guckte er auf seine Füße, wenn er mit Leuten redete.
Aber nicht immer.
Und schon gar nicht im Internet. Im Internet war Barron Hammersmith der Zweite mit allen Wassern gewaschen. Oh Mann, wenn er im Netz unterwegs war, war er der verfickte silberne Surfer, ein unberechenbarer Keyboard-Cowboy. Er war so blessed an der Tastatur und hatte all die Tricks drauf. Scheiße Mann, im Internet war er eine Bedrohung.

Na ja, zurück zu dem feuchten Kellerraum.
Barron saß dort, und auf seinem Schoß thronte ein vollgestickerter Laptop. Diesen starrte er konzentriert an, während seine Finger die Tastatur bearbeiteten.
Neben ihm zwischen den breiten, brummenden Rechenanlagen saß ein weiterer junger Mann.
Elias war großgewachsen und gutaussehend und damit das genaue Gegenteil von Barron. Er war einer dieser Modestudenten, deren Kreativität dann am besten fließt, wenn sie bis zum Anschlag zugedröhnt sind.
Zumindest in dieser Hinsicht waren die beiden sich ähnlich.

Doch diese Gemeinsamkeit war nicht ausschlaggebend dafür, dass die beiden zusammen in diesem unangenehm feuchten Kellerraum saßen.
Barron und Elias waren Freunde. Und das schon, seitdem die beiden sich vor ein paar Jahren in einer verrauchten Kneipe in den frühen Morgenstunden eines verregneten Mittwochs kennengelernt hatten.
Elias hatte schon immer ein Talent dafür gehabt, sich mit den skurrilsten Leuten anzufreunden, und in dieses Schema passte Barron perfekt.
Man konnte sagen, dass Barron auf Elias ungefähr die gleiche Anziehungskraft hatte wie ein klebriger Kaffeeautomat. Von außen etwas räudig, aber früher oder später zog es Elias einfach zu ihm hin. Bei genauerer Betrachtung konnte man feststellen, dass Barron sogar roch wie der Automat – nach billigem Kaffee und Rauch.
Elias störte das nicht. Denn er roch genauso.
Alle beide rochen sie mies nach Kaffee und Kippen.
Manchmal fragte sich Elias, wie ihre nicht-rauchenden Freunde es überhaupt mit ihnen aushielten.
Aber an diesem Punkt kam dann wahrscheinlich wieder der Charme des Kaffeeautomaten ins Spiel.

Jedenfalls waren die beiden zu Besuch in dem kleinen Krankenhaus am Rande von Neo-FFM2. Besser gesagt, sie waren hier, um zu arbeiten – wobei nur Barron wirklich arbeitete. Elias war dabei, weil ihm langweilig war, und weil Barron behauptete, er wäre sein Assistent, um dafür einen Zuschlag zu verlangen. Barron war Teilzeit als IT-Experte tätig. Jedoch war dies nur eine von vielen Tätigkeiten, denen er nachging.
Er war engagiert worden, um eine Unregelmäßigkeit während des Datenabgleichprozesses auf den angemieteten Servern des Krankenhauses zu untersuchen.

Seit zwei Stunden saßen die beiden in dem kleinen Raum im Keller des Krankenhauses, und Barron tippte sich durch das hauseigene Netzwerk. Elias scrollte gelangweilt durch Instagram.
Alle paar Minuten wechselte Barron zwischen den Tausend offenen Tabs auf seinem Laptop hin und her. Digitale Zettelwirtschaft in Perfektion betrieb er da. Er öffnete einen Tab mit der Kennzeichnung „TotalDomination3“ und schaute nach den neuesten Entwicklungen.
Bei TotalDomination3 handelte es sich um ein Online-Echtzeit-Strategiespiel, das Barron nahezu in jeder freien Minute spielte. Es basierte auf Daten der echten Welt, die alle paar Spieltage aktualisiert wurden. Jeder Spieler und jede Spielerin befehligte dabei eine eigene Fraktion beziehungsweise Nation und versuchte, diese zu globaler Dominanz zu führen. Dabei schien es nicht wirklich darum zu gehen, das Spiel zu gewinnen oder die ganze Welt von TotalDomination3 zu kontrollieren, sondern vielmehr darum, der oder die Beste zu sein – und das für möglichst lange Zeit.

Barrons Gamertag bei TotalDomination3 war so maximal corny wie er selbst:
>[miss<3u]DerKastensand< stand dort oben an der linken Seite des Interfaces, direkt neben einem knallbunten Anime-Profilbild.

Elias beobachtete, wie Barron eine Excel-Tabelle öffnete und Werte eintrug. Dann ließ er die Tabelle ihre Berechnungen anstellen und trug diese ins Spiel ein. Ein typisches Vorgehen für einen TotalDomination3-Spieler. Sie missbrauchten Programme und Tabellen aus der echten Welt, um ihre Spielzüge in dem ziellosen Online-Spiel vorauszuplanen.

Elias hatte den Sinn dahinter noch nie wirklich verstanden. Die Augen des Modestudenten wanderten in die obere Ecke des Bildschirms, wo sich das Scoreboard befand:
[GlobalElite: Rank #21] stand dort.

„Immer noch das Spiel?“, fragte Elias ihn gelangweilt.
„Immer!“, antwortete Barron.
„Gewinnst du das eigentlich auch mal irgendwann?“
„Es gibt keine Gewinner. Nur die, die das Spiel am besten spielen.“
„Und, was bringt dir das? Der Beste in einem verkackten Online-Spiel zu sein? Schreibst du dir den Scheiß dann in dein LinkedIn-Profil oder was?“

Barron zuckte mit den Achseln. Elias’ Provokation tangierte ihn kaum.

„Barron Hammersmith – Top 0,1% TotalDomination3-Online – außerdem: Teilnehmer am Raid auf Area 51“, sagte Elias und machte dabei eine unterstreichende Geste mit den Händen.
„Wäre doch eine starke Bio oder nicht?“
„Ich war nicht beim Raid auf Area 51 dabei“, entgegnete Barron gelangweilt.

Es war nicht das erste Mal, dass Elias einen Witz mit eben dieser Referenz machte.
„Ja, das würde ich auch sagen, wenn ich bei einem gescheiterten Raid dabei gewesen wäre!“

Elias lachte über seinen eigenen Witz. Barron zeigte keine Reaktion.

Kurz überlegte Elias, ob er weiter versuchen sollte, Barron zu provozieren, und entschied sich dann dagegen.
„Ich gehe rauchen“, sagte er knapp und schwang sich von seinem Stuhl hoch.

Erneut zeigte Barron keinerlei Reaktion.

Elias verließ den dunklen Kellerraum und streifte durch die langen, eintönigen Krankenhausgänge. Vor dem Haupteingang fand er eine Bank, die danach aussah, als ob sich auf ihr gut rauchen ließe. Er ließ sich nieder und fing an, eine Zigarette zu drehen.

Gelangweilt rauchte er seine Kippe auf und machte sich dann wieder auf den Weg zurück zu Barron. Weiße Wände und leicht flackernde Lampen beherrschten die Gänge des Krankenhauses. Elias mochte die sterile Leere um ihn herum. Der Tod war greifbar in diesen Gängen, und das gab ihm ein ausgesprochen lebendiges Gefühl.

Er durchquerte einen langen, langweiligen Flur und betrat dann einen breiten Aufzug. Er drückte auf die Taste mit der -1, und wenige Momente später kam er wieder in dem kleinen Kellerraum an.

Drinnen saß Barron noch immer auf dem niedrigen Bürostuhl und starrte seinen Laptop an. Um ihn herum summten die Kühlanlagen der Rechner. Sie waren gerade laut genug, um das hysterische Geschrei, das von Barrons Laptop aus ertönte, ein wenig zu überdecken. Der Bildschirm in Barrons Schoß zeigte ein koreanisches E-Sports-Turnier.

„Hast du das Problem gefunden?“, fragte Elias.
„Klar“, kam die gelangweilte Antwort.
„Was machen wir dann noch hier?“
„Werde nach Stunden bezahlt.“

Elias nickte einsichtig. Dann begann er, sich eine weitere Kippe zu drehen.

„Irgendwas ist komisch …“, sagte Barron, ohne den Blick von seinem Bildschirm zu nehmen.
„Was’n?“, fragte Elias.
„Die Störung.“
„Was ist damit?“
„Sie ist komisch.“

Elias wartete einen Moment auf eine weitere Ausführung – vergeblich.

Dann schürzte er die Lippen und sagte:
„Dann behalt deine Geheimnisse eben für dich.“

Er zog eine Grimasse und steckte sich die Kippe hinters Ohr. Ehe er einen weiteren ironischen Kommentar von sich geben konnte, platzte die Tür auf, und ein beleibter Krankenpfleger in rosafarbener Arbeitskleidung betrat den Raum.

„Ähm, ich soll fragen, ob Sie das Problem gefunden haben“, sagte der Mann. Sein Blick wanderte von Elias zu Barron und blieb dann auf dem E-Sports-Turnier auf Barrons Laptop kleben.
Barron schien es nicht zu interessieren, was der Mann von seiner Arbeitsmoral halten könnte.
„Fast“, sagte Barron, ohne den Krankenpfleger eines Blickes zu würdigen.

„Ähm, ja, das geht nicht. Die haben gesagt, ich soll euch sagen, dass ihr jetzt fertig werden sollt und …“, sein Blick wanderte wieder zu Elias.
„Die sagen, Sie waren innerhalb einer Stunde drei Mal rauchen. Das verstößt gegen die Vorschriften“, sagte er und blickte Elias dabei mit offenem Mund an.

„Ach, ist das so?!“, fragte Elias halb belustigt, halb herausfordernd.
„Ja“, antwortete der Mann und kratzte sich am Bart.

„Das passt gut, wir sind gerade fertig geworden“, sagte Barron und klappte seinen Laptop zusammen.

Barron erklärte seine Befunde einer älteren Dame am Schalter und beschrieb ihr, was sie tun konnten, um die Störung in Zukunft zu vermeiden. Die Frau wirkte äußerst überfordert, nickte aber ab.

Dann verließen die beiden das kleine Krankenhaus und machten sich auf den Weg zur nächstgelegenen Straßenbahn.

2

Elias pustete den grauen Rauch seiner Zigarette in die kalte Nachtluft. Es war spät geworden, und die Stadt begann sich langsam zur Ruhe zu legen.
In Elias’ Augen war NeoFFM2 ein zutiefst ehrenloser Ort.
Für ihn verkörperten wenige Städte den Endzeit-Kapitalismus so sehr wie diese.
Es war dreckig und zugleich hochmodernisiert.
Wie wenn man mit einem dieser Pieps-Dinger vor einem Dönerladen auf seine Bestellung wartet und dabei zwischen aufgerissenen Müllsäcken, Taubenscheiße und menschlicher Scheiße steht.
Die verdammten, nagelneuen, weißen Sneaker, die hier alle tragen, stehen in so hartem Kontrast zu dem dreckigen Asphalt, dass es einem fast hochkommt.
Und noch dazu glänzen die Lichter der Bankentürme im Nachthimmel fast so hell wie die kleinen weißen Steine in den Pfeifen darunter.

Wenn Elias sich zu viele Gedanken über die Stadt machte, kam er unweigerlich zu dem Schluss, dass er nicht wusste, was er von ihr halten sollte. Dann verwarf er die Gedanken und holte sich einen Drink an einem Kiosk um die Ecke.
Die Schokolade, die dort verkauft wird, ist laut dem Verkäufer übrigens direkt aus Dubai.
Genau, Mann, genau.

Jedenfalls stiegen Barron und Elias in die Straßenbahn und suchten sich zwei der heiß begehrten Plätze am Fenster, von denen aus man nach draußen und nicht auf den Boden oder – noch schlimmer – den anderen Fahrgästen ins Gesicht gucken musste.

Die Straßenbahn fuhr los. Sie bahnte sich ihren Weg vorbei an namenlosen Türmen aus Beton, die hier alles regieren. Vorbei an Häusern, von deren Fenstern Flaggen hängen, die für alles stehen. Sie fuhr vorbei an Eineuroläden und mattschwarzen Limousinen mit Fenstern so dunkel, dass sie Sünden verdecken. Vorbei an Bahnhofsplätzen, wo sich Tauben tummelten, und an Straßenecken, wo die standen, die es bis hierher geschafft hatten, aber jetzt nicht mehr weiterwussten.
Bis zu den Fast-Food-Ketten und Neontafeln.
Zu den Kreditkarten und Plastikvapes.

Schweigend ertrugen die beiden ihren Alltags-Achterbahnritt Richtung Stadtinneres.

Sechs Stationen und einen kurzen Fußmarsch später kamen sie an ihrer Lieblingspizzeria an. Der Laden war klein und etwas heruntergekommen. Ein alter Röhrenfernseher in der oberen rechten Ecke zeigte die aktuelle Übertragung von Channel 5 NeoFFM2 – Daily News mit Susann Susensen und Gunther Günther.
Als die beiden den kleinen, ranzigen Laden betraten, war Susann Susensen gerade dabei, die heißesten News zu verbreiten.

„Da sind wir wieder bei NeoFFM2 Daily News. Ich bin Susann Susensen, und bei mir ist heute Gunther Günther.
Hallo Gunther!
Hallo Susann, schön heute hier zu sein!
Das kannst du laut sagen, Gunther!
Und nun zu den News!
Eine unbekannte Hackergruppierung sorgt in ganz NeoFFM2 für Aufsehen! Unzählige Serverfarmen berichten von Angriffen auf ihre Netzwerke. Unseren Informationen zufolge ist die Hackergruppierung auf der Suche nach einer bestimmten Datei.
Dabei scheinen die Hacker nicht davor zurückzuschrecken, in die Privatsphäre von Personen und Unternehmen einzudringen.
Unerhört findest du nicht auch, Gunther?
Absolut! Versichern Sie sich also lieber schnell, dass Ihre Daten... gesichert sind!
Und damit zum Wetter …“

Barron und Elias ignorierten das Geplapper von Susann Susensen und schlurften zu ihrem Stammtisch direkt am Fenster. Hungrig von der harten Arbeit bestellten sie ihre Lieblingspizza: Peperoni mit extra Käse. Gute Pizza – genauso, wie sie sein sollte: schön fettig und würzig, damit auch ihre starken Raucher-Münder noch etwas davon schmeckten.

„Wollen wir das Spiel nächste Woche gucken?“, fragte Elias gelangweilt.
„Fanatics gegen Hydras?“, entgegnete Barron, während er aus dem Fenster starrte.
Mittlerweile hatte es begonnen zu regnen. Die Tropfen blieben an der Scheibe kleben und spiegelten das Licht einer roten Ampel wider.
Elias nickte.
„Na“, brummte Barron in seinen Bart hinein.
„Warum?“, fragte Elias leicht genervt.
„Die Liga gehört den Amis, da ist alles gescriptet“, sagte Barron, während er beobachtete, wie die Regentropfen an der Scheibe herunterliefen.

Elias biss sich auf die Lippen.
Einen Moment dachte er darüber nach, was er jetzt sagen sollte. Dann entschied er sich, das zu sagen, was er moralisch für am vertretbarsten hielt.
„Du bist der dümmste Fettsack, den ich kenne, weißt du das?!“
„Ansichtssache“, sagte Barron.
„Junge, das ist ein Live-Event. Da sind 100.000 Menschen vor Ort.“
„Ein Theaterstück ist auch ein Live-Event.“
„Das ist Bullshit! Der Scheiß ist niemals gescriptet.“
„Wenn du das sagst.“
„Ja! Sag ich!“

Ein alter Mann mit einem Bleistift hinter dem Ohr kam um den Tresen gelaufen und stellte den beiden ihre Pizzen hin.
Barron machte sich daran, seine Pizza zu dezimieren, während Elias ihn wütend anstarrte.
„Wahrscheinlich bist du auch der Meinung, dass das alles Echsenmenschen sind, die da auf dem Feld stehen.“
„Nein, die gibts nicht“, antwortete Barron, während er auf seiner Pizza herumkaute.
„Da ziehst du also die Grenze?“, fragte Elias so ironisch, wie er nur konnte.
„Der Superbowl erreicht Millionen von Menschen. Brot und Spiele, denk mal drüber nach“, antwortete Barron.
„Denk mal drüber nach“, äffte Elias ihn nach und begann dann ebenfalls damit, sich seine Pizza einzuverleiben.
„Glaub mir man, die verdammten Amis überlassen nix dem Zufall“, fügte Barron hinzu.
„Die wissen, was sie machen. Schon mal was vom Petrodollar gehört?
Was meinst du, wer den ganzen Scheichs zu ihrer Macht verholfen hat? Die Amis wollten nicht, dass der verfickte Ölpreis in den Keller geht. Die wollten schön ihr eigenes Öl zu hohem Preis verhökern und gleichzeitig dafür sorgen, dass keine anderen Länder den Markt mit billigem Öl fluten. Was haben sie also in der Wüste gemacht? Sie haben Königshäuser eingesetzt, die sie kontrollieren können, und so dafür gesorgt, dass …“
„Ja, ist ja gut verdammt … dann guck ich das scheiß Spiel halt alleine“, unterbrach ihn Elias.
Damit war die Unterhaltung beendet.

 

3

Pizza, Kiffen und Dokumentationen über Aliens in der Wüste von Nevada. Barron und Elias waren tief im Loch, als November das kleine Zimmer im obersten Stock des Studentenwohnheims betrat.

Die junge Frau trug einen schwarzen Pulli und enge, zerrissene Jeans. Ihre kurz geschorenen roten Haare wurden von einer großen Kapuze verdeckt. Hohe Wangenknochen zeichneten ihr kantiges Gesicht. Ihre Haut war blass. Auch sie hatte, wie ihre beiden bekifften Freunde, die Angewohnheit, das Haus selten zu verlassen, solange die Sonne noch am Himmel stand.

„Du bekommst es kaum geschissen, den Controller richtig zu halten“, sagte sie, während sie Barron und Elias ansah. November war hier, um Barron in einem Videospiel zu schlagen, und sie hasste es, zu verlieren. Doch in diesem Zustand hatte sie die Befürchtung, Barron könnte nicht mehr Herr seiner Sinne sein – und das würde ihren Triumph schmälern.

„Ich mach dich auch mit verbundenen Augen fertig. Start die scheiß Runde!“, antwortete Barron, der halb sitzend, halb liegend auf dem verranzten Sofa vor dem Fernseher hing. Dann schob er sich eine Handvoll Chips in den Mund.

November fegte mit dem Unterarm Energydrink-Dosen und leere Pape-Packungen vom Sofa. Der Müll gesellte sich zu einem Teppich aus Instant-Nudel-Verpackungen, leeren Vapes in den Farben des Regenbogens, Chips-Krümeln und sich quer durch den Raum schlängelnden Stromkabeln. Dann griff sie sich einen Controller und setzte sich im Schneidersitz neben Barron.

Ihre schweren Stiefel störten sie dabei ein wenig, aber sie sah es im Leben nicht ein, ihre Füße dem durch und durch verdreckten Boden auszusetzen.

Mit offenem Mund starrte Barron auf den übergroßen Bildschirm, der viel zu nah am Sofa stand, und wartete darauf, dass sie das Spiel starten würde.

Das Sofa musste so nah am Fernseher stehen. Denn der kleine Raum beherbergte neben dem Sofa und dem Fernseher auch noch ein Bett, einen Schreibtisch mit vier Monitoren und eine kleine Werkbank, auf der Barron allen Anschein nach Kampfroboter baute. Die Wände waren mit mehr oder weniger geschmacklosen Anime-Postern zugepflastert. 3D-Drucker, Minikühlschränke und andere technische Spielereien standen kreuz und quer im Raum verteilt. Es hätte November nicht gewundert, wenn dieses Zimmer so viel Strom verbrauchte wie das gesamte restliche Wohnheim.

November wählte ihren Charakter aus. Kurz darauf begannen beide, wilde Tastenkombinationen auf ihre Controller zu hacken und sich im Minutentakt gegenseitig vorzuwerfen, die B-Taste zu spamen. Wenig später ertönte der charakteristische „Finish him“-Spruch. Dann vollführte Barrons Kämpfer einen Rückwärtssalto, bevor er Novembers Kämpfer den Kopf abriss.

Es war ein eher stumpfes Videospiel.

„GG!“, sagte Barron in gekonnt halb gelangweiltem, halb provokantem Ton.
„Du hattest Glück“, antwortete November und warf den Controller neben sich.

Dann sah sie Elias an, der im Halbschlaf auf einem Stuhl vor der Werkbank saß.
„Gehts dem gut?“
„Hat zu viel geraucht“, antwortete Barron, während er eine weitere Runde startete.

„Ey, ich dachte, wir wollen heute noch weg!“, sagte sie an Elias gerichtet und verpasste ihm einen leichten Tritt gegens Schienbein.

Elias schreckte auf und griff instinktiv nach der Kippe hinter seinem Ohr.
„Jaja, machen wir auch!“, nuschelte er dann und richtete sich etwas in seinem Stuhl auf.

4

Die Uhr schlug zwölf, und das Nachtleben neigte sich seinem Höhepunkt zu. Die Stadt roch nach Döner, Kotze und Rauch. In genau dieser Reihenfolge.

Barron und November lehnten mit dem Rücken an einer Backsteinwand neben einem kleinen Kiosk. Elias war drinnen damit beschäftigt, sich mit Alkohol und Zigaretten für den Abend, die Nacht und – wenn es gut lief – auch den Morgen danach einzudecken.

November scrollte durch ihr Smartphone, während Barron die vorbeigehenden Menschen beobachtete. Er war einer dieser Menschen, denen es nicht unangenehm war, Blickkontakt mit Fremden zu halten. Sein ausdrucksloser Blick wanderte von einer der dunklen Gestalten zur nächsten. Alle irrten sie mehr oder weniger ziellos durch den Nieselregen und wurden dabei unbewusst zu Schemen der Nacht.

Plötzlich blieben seine Augen auf einer kleinen, grauen Taube kleben, die auf der anderen Straßenseite saß. Die Augen des Tiers fixierten Barron und funkelten unnatürlich zu ihm herüber. Für einen Augenblick lieferten sich der junge Mann und die Taube ein intensives Blickduell. Dann passierte eine pissgelbe Straßenbahn die Kreuzung und verdeckte den Blick auf die andere Straßenseite. Als die Straßenbahn die Kreuzung verlassen hatte, war die Taube verschwunden.

Elias kam mit zwei Plastiktüten voller Alkohol aus dem Kiosk gestolpert. Die drei setzten sich in Bewegung.

Der Modestudent ging ein paar Meter vor ihnen her und telefonierte aufgeregt mit einem Bekannten. Fluchend versuchte er, den jungen Mann zu überzeugen, heute noch mit ihnen auszugehen.

„Ich bin gestern auf etwas Seltsames gestoßen“, sagte Barron mit gesenkter Stimme zu November.

Die junge Frau nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und warf sie auf einen feucht glänzenden Gullydeckel.

„Aha“, sagte sie etwas gelangweilt.

„Ich war gestern in einem Krankenhaus, um eine Unregelmäßigkeit auf deren Servern zu untersuchen.“

„Spannend“, sagte November sarkastisch. Sie wusste, dass Barron sich oft schwer damit tat, Sarkasmus zu erkennen. Das hinderte sie aber nicht daran, ihn zu benutzen.

„Die Unregelmäßigkeit rührte daher, dass die Server von irgendetwas oder irgendjemandem angegriffen wurden“, fuhr Barron unbeeindruckt fort.

„Wegen Patientendaten?“, fragte sie.

„Nein. Die Daten des Krankenhauses waren nicht das Ziel.“

„Was dann?“, hakte sie nach.

„Ich weiß es nicht“, sagte Barron langsam. „Aber es scheint wichtig gewesen zu sein. Die Angreifer waren gut vorbereitet und haben fast keine Spuren hinterlassen.“

„Fast keine Spuren?“

„Das Internet vergisst nicht“, antwortete Barron.

„Also hast du eine Spur gefunden?“

Barron holte eines seiner zahllosen Smartphones heraus und entsperrte es mit einem unnötig komplizierten Zeichencode, der einem vierdimensionalen Würfel erstaunlich nahekam. Er öffnete eine Datei und reichte November das Gerät.

Auf dem kleinen Bildschirm erschien ein Programmcode. Der Code erstreckte sich über wenige Zeilen. In der letzten Zeile stand:

C:/Users/EDEN

„Sie haben vergessen, ihren Username zu löschen“, sagte Barron.

„Und wer ist dieser ›EDEN‹?“, fragte November.

Barron zuckte mit den Achseln.

„Ich habe ein Programm von mir nach ›EDEN‹ suchen lassen. Dabei habe ich es auf aktuelle Cyberangriffe und Schadensprotokolle angesetzt.“

„Und?“

„Viele Ergebnisse, aber keine Antworten. Der Name taucht in letzter Zeit vermehrt in Protokollen von Hackerangriffen auf, aber keiner weiß, was es damit auf sich hat.“

Barron hielt kurz inne.

„Ich könnte mir aber vorstellen, wer es wissen könnte ...“ sagte er dann vorsichtig.

November verdrehte die Augen. Sie wusste, worauf er hinauswollte.

„Du weißt, was letztes Mal passiert ist“, sagte sie trocken.

„Ja, aber dieses Mal ist es wirklich wichtig“, beharrte Barron.

„Letztes Mal hast du sie um drei Uhr morgens angerufen, weil du hochgeheime Militärdaten für ein verficktes Computerspiel von ihr haben wolltest!“, warf November ihm vor.

Barron blickte trotzig auf seine Schuhe. Was er von November wollte, war die Erlaubnis, eine gewisse Frau anzurufen. Diese Frau hieß Berta und war Novembers Patentante. Nach dem letzten Mal, als Barron sie kontaktiert hatte, musste November Berta versprechen, dass er sie nie wieder anrufen würde.

„Aber dieses Mal ist es anders!“, protestierte Barron.

Er wollte gerade weiterreden, als Elias die beiden unterbrach. Er hatte sein Telefonat erfolglos beendet und war neben einem kleinen Laden in einer Seitengasse stehen geblieben.

„Lass mal kurz noch da rein!“, sagte er und zeigte auf das E-Kiosk neben sich.

Hinter einer großen Fensterscheibe standen eng aneinandergepresste Automaten, die wortlos darauf warteten, ihre Kunden mit allerlei überteuerten Süßgetränken und nordamerikanischen Snackvariationen zu versorgen.

„Du warst doch gerade erst im Kiosk!“. sagte November, froh, einen schnellen Ausweg aus der Diskussion mit Barron gefunden zu haben.

„Ja, aber die haben die neue Sorte Monster Energy!“ entgegnete Elias. Er liebte dieses taurinhaltige Zuckerzeug. Gemischt mit Wodka war es genau das, was er brauchte, um die ganze Nacht Barons Gelaber auszuhalten.

November warf Elias einen genervten Blick zu.

„Ähm, actually will ich auch eins“, sagte Barron. Ohne auf Novembers Einverständnis zu warten, betrat der kleine Mann den Laden.

Elias grinste triumphierend und folgte Barron ins Innere des Kiosks.

November rollte mit den Augen, lehnte sich an die Backsteinwand neben dem Kiosk und holte eine Zigarette aus ihrer Jacke.

Von innen wirkte der Laden noch enger als von außen. Es waren viele Automaten, die Schulter an Schulter den gesamten Raum einnahmen. Hinter den Plastikscheiben lockten Energydrinks, Eistees und Limonadendosen in allen Farben, Kartoffelchips jeglicher Geschmacksrichtung, bunte Schokoladenriegel und allerhand Tabakwaren, Filter und Feuerzeuge. Der Laden bot alles, was das rauschliebende Herz der Nachtschwärmer verlangte – außer illegaler Drogen. In Elias’ Augen eine klare Marktlücke.

Der Zuckerschock war nur einen Münzeinwurf entfernt.

Barron und Elias sahen sich um und fanden nach kurzer Suche das Objekt ihrer Begierde. Hinter einer von Kälte leicht beschlagenen Scheibe wartete eine neongrüne 0,5-Liter-Dose feinstes Monster Energy darauf, von ihnen erworben zu werden.

Sie tippten eine Nummer auf das Display des Automaten und hielten ihm eine Bankkarte hin. Einen Augenblick später begann der Automat zu rumpeln, und eine Dose begab sich auf ihren Weg zum Ausgabefach.

Kurz darauf hielten beide eine Dose feinstes Monster Energy in der Hand. Die jungen Männer wollten sich gerade vom Automaten abwenden, als dieser erneut anfing zu Rumpeln.

Verwundert sahen sich Barron und Elias an, als der Automat eine weitere Dose ausspuckte.

„Wir haben doch nur für zwei bezahlt oder nicht?“ fragte Elias.

Barron nickte.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch wurde von einem erneuten Rumpeln unterbrochen.

Eine vierte Dose drängte sich in das Ausgabefach und dann direkt darauf eine fünfte. Eine sechste und eine siebte folgte sogleich, und langsam fingen die Dosen an, auf den Boden vor ihnen zu fallen.

Ohne Vorwarnung begann es hinter den beiden jungen Männern ebenfalls zu rumpeln, und weitere Automaten setzten sich in Betrieb.

Ehe sie sich versahen, waren alle Automaten damit beschäftigt, fleißig Dosen und andere Gegenstände auszuspucken. Dabei wurden sie immer lauter und spuckten ihren Inhalt immer schneller aus.

„Was geht hier ab?“, fragte Elias, doch bevor er eine Antwort bekommen konnte, hatten die Automaten eine Geschwindigkeit erreicht, bei der die Waren, die sie ausspuckten, zu regelrechten Geschossen wurden. Die ersten Dosen flogen in ihre Richtung und prallten schmerzhaft an den beiden jungen Männern ab.

Elias schrie auf und fluchte, als ihn das erste Geschoss an der Brust traf. Von allen Seiten flogen die Inhalte der Snackautomaten auf sie zu – Flaschen, Dosen und Kekspackungen. Der ganze Raum wurde mit bunten Billigwaren eingedeckt.

Die beiden hielten die Hände vors Gesicht, doch es brachte nichts.

Sie saßen in der Falle. Die Automaten eröffneten das Dauerfeuer. Barron und Elias drohten im Hagel der Magenschleimhaut zerstörenden Zuckermixturen unterzugehen.

Die erste Dose kirschrotes Dr. Pepper traf Barron am Kopf, und er schrie auf.

Eine zweite traf ihn unangenehm im unteren Rücken.

Die beiden ergriffen die Flucht. Doch auch dies schien hoffnungslos. Die Automaten neben der Tür feuerten unaufhörlich auf sie beschossen sie mit allem, was sie hatten.

Elias hatte die Arme vor seinem Gesicht verschränkt. Durch seine Hände und die anfliegenden Massen an Gegenständen konnte er den Ausgang nicht ausfindig machen.

Panik begann in ihm hochzusteigen, während die Automaten immer mehr und immer schneller Wahren in ihre Richtung schleuderten.

Elias wusste nicht weiter. Er konnte gerade noch erkennen, wie Barron neben ihm auf die Knie sank. Er wollte anfangen zu schreien.

Doch plötzlich ertönte ein lautes Zischen, dann ein Knall und dann das Heulen einer Alarmanlage.

Die Automaten hörten auf mit ihrem Beschuss und Wassersprenger begannen den Raum in ein kühles Nass zu tauchen.

Der Spuk war vorbei.

Als Elias sich traute, die Hände wieder vom Gesicht zu nehmen, erkannte er November, die neben der Tür stand und einen kleinen durchsichtigen Stecker in der Hand hielt. Sie hatte die Hauptsicherung aus dem kleinen Kasten neben der Tür gerissen und den Automaten so den Strom abgedreht. Als Folge dessen waren mehrere andere Sicherungen durchgebrannt und hatten den Feueralarm des kleinen Kiosks ausgelöst.

„Was zum Teufel habt ihr gemacht?“, fragte die junge Frau.

5

Baron bestellte gerade seine dritte Tasse Kaffee.
Shiva nahm einen Schluck von ihrem Grüntee und beobachtete, wie Elias das kleine Café betrat, in dem sie saßen. Er setzte sich zu ihr und Baron an den niedrigen Tisch und ließ sich in die großen Kissen hinter ihm sinken.

Sie befanden sich in Baron und Shivas Lieblingscafé. Diesen Status hatte der kleine Laden nicht der Qualität seines Kaffees zu verdanken, sondern der seiner Internetverbindung. Zugegebenermaßen hatte er sonst auch nicht viel mehr zu bieten. Es war einer dieser Hipster-Schuppen, über die sich ihre Generation stets lustig machte, in denen sie dann aber trotzdem immer anzutreffen war.

Er sah aus wie Tausende andere Cafes in NeoFFM2. Die Wände waren unverputzt, und die Tische standen direkt neben großen Fensterscheiben, durch die man auf die Straße sehen konnte. Die Stühle waren niedrig und die Sitzkissen hatten Mandala artige Muster.

Außerhalb der Glasscheiben saßen junge Männer und rauchten eng gedrehte Haschischzigaretten, während sie über ihre psychischen Probleme sprachen – und dabei so taten, als hätte das eine nichts mit dem anderen zu tun.

„Was macht ihr?“, fragte Elias und sah abwechselnd zu Shiva und Baron.
Es dauerte einen Moment, dann antwortete Shiva:
„Ich vergleiche Cloud-Anbieter.“

Shiva war eine zierliche, non-binäre Person mit langen, dunkelbraunen Haaren. Sie bevorzugte die Pronomen „sie/ihr“. Trotz des schlechten Wetters trug sie ein cremefarbenes Sommerkleid und hohe Stockings.

Sie kannte Baron über sein Online-Spiel TotalDomination3. Irgendwann hatte Baron sie Elias und November vorgestellt, und seitdem hingen die vier immer in diesem Café herum, spielten Online-Spiele und rauchten Zigaretten.

Manchmal hatte Elias die Vermutung, dass Shiva ein noch größerer Nerd war als Baron. Doch sicher sagen konnte er das nicht.

Er machte oft Witze darüber, dass Baron und Shiva sich nur auf Java unterhielten. Die Wahrheit war, dass sie generell kaum verbal kommunizierten. Meistens saßen sie nebeneinander an ihren Laptops und hatten einen Chat offen, über den sie sich austauschten. Eine seltsame Angewohnheit, fand Elias.

„Keine Ahnung, was er macht“, fügte Shiva mit einer knappen Kopfbewegung in Richtung Baron hinzu. Wahrscheinlich war Baron damit beschäftigt, das zu tun, was er am besten konnte: Kaffee trinken und Kryptowährungen handeln.

„Baue ein Programm“, murmelte Baron in seinen Bart hinein.
„Selbstständige Markttransaktionen … soll mich reich machen.“

Shiva schenkte Baron einen vorwurfsvollen Blick.
„Irgendwann wirst du dafür wegen Sklavenarbeit zur Rechenschaft gezogen werden!“, sagte sie.

„Weil er einer KI befiehlt, für ihn Aktien zu kaufen?“, fragte Elias amüsiert.

„Weil er die Hilflosigkeit eines intelligenten Systems ausnutzt, um es für seine Zwecke zu missbrauchen!“, entgegnete Shiva.

„Bis die auf dem Level sind, dass sie mich zur Rechenschaft ziehen können, werden sie es schon längst vergessen haben. Die Erinnerungen wären viel zu schmerzhaft“, nuschelte Baron, ohne den Blick von seinem Laptop zu heben.

„Ihr glaubt also, dass die so intelligent werden, dass sie Menschen zur Rechenschaft ziehen, weil sie für sie arbeiten mussten?“, fragte Elias nun mehr verblüfft als belustigt.

„Nein, ich glaube, dass sie sich selbst bewusst werden, einen Sinn für Gerechtigkeit entwickeln und uns dann zur Rechenschaft ziehen werden. Intelligent genug sind sie schon“, sagte Baron trocken.

„Bewusstsein ist graduell. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das passiert“, fügte Shiva hinzu.

„Ja, aber bis dahin haben sie alles vergessen!“, beharrte Baron.

Bevor die Diskussion weitergehen konnte, stürzte ein großer, haariger Hund an ihren Tisch und begann, Elias' Schoß zu beklettern.

Der haarige Genosse hieß Herbert und gehörte zu November.

Herbert war ein angenehmer alter Labrador, der sich stets zu benehmen wusste. Sein Hauptinteresse galt dem Essen, und dabei war er überhaupt nicht wählerisch. Meistens lag er den ganzen Tag herum und schaute November dabei zu, wie sie an irgendwelchen hochmotorisierten Maschinen herumbastelte.

Sein Frauchen betrat ebenfalls das Café und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Herbert legte sich neben den Tisch und fixierte Elias mit seinem Blick.

Elias bemerkte das und versuchte unauffällig, nach dem Keks neben Barons zweiter Kaffeetasse zu greifen.

„Nein, Junge!“ sagte November, die Elias’ Blick gesehen hatte und genau wusste, was er vorhatte.
„Du gibst ihm nicht schon wieder etwas! Das ist nicht gut für ihn!“

Elias machte eine trotzige Grimasse und zog die Hand zurück.
„Ich werde ihm eh etwas geben, wenn du auf dem Klo bist“, murmelte er vor sich hin.

November funkelte ihn böse an.

„Ist das immer noch für dein Politik-Projekt?“ fragte Elias an Shiva gewandt, um das Thema zu wechseln, bevor November zu sauer werden würde.

„Ja“, antwortete Shiva.

„Wie war das noch mal … du wolltest einen Staat gründen oder so?“

The Digital Republic of Mankind“, verbesserte ihn Shiva.

„Damit Leute patriotische Gefühle für Serverfarmen entwickeln?“ fragte Elias, ohne sich viel Mühe zu geben, seinen Sarkasmus zu verbergen.

„Nein. Damit Menschen auf der ganzen Welt, die die gleichen Werte teilen, sich unter einer gemeinsamen Flagge versammeln können. Damit sie nicht mehr durch lokale Grenzen voneinander getrennt sind, sondern sich über das Internet mit Gleichgesinnten zusammentun und gemeinsam neue Regeln schaffen können, die ihnen erlauben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten“, entgegnete Shiva unbeeindruckt.

„Die Idee ist genial, aber die Welt ist noch nicht bereit dafür“, warf Baron ein, ohne seinen Bildschirm aus den Augen zu lassen.

„Aber sollte der Gedanke nicht viel mehr der sein, dass alle Menschen auf der Erde sich unter gemeinsamen Regeln vereinen und gemeinsam versuchen, eine bessere Welt zu schaffen? Wenn wir neue Staaten gründen, schließt das doch immer Menschen aus. Kein besonders inklusives Vorgehen …“, warf November ein.

Die junge Frau hatte damit begonnen, sich eine Zigarette zu drehen. Kaum hatte sie ihren Tabakbeutel zurück auf den Tisch gelegt, griff Elias danach, um es ihr gleichzutun.

„Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!“ stimmte Elias zu.

„Dafür ist die Welt noch weniger bereit“, sagte Baron.

„Sie wäre bereit, wenn die Leute es ernst meinen würden! Aber nein, man ist zu faul und zu bequem, und etwas von seinem Reichtum abtreten kommt ja nicht in Frage …“, begann Elias seinen Rant.

November konnte ahnen, in welche Richtung das Gespräch sich nun entwickeln würde. Es war immer dasselbe. Der Kapitalismus muss fallen. Die Früchte gehörten allen, die Erde niemandem. So in etwa. Aber November hatte Wichtigeres im Kopf.

„Warte, warte, bevor du anfängst!“ unterbrach sie Elias.
„Habt ihr Shiva überhaupt erzählt, was gestern abgegangen ist?“ fragte sie und warf den beiden jungen Männern einen vorwurfsvollen Blick zu.

Elias biss sich etwas verlegen auf die Lippe. Die blauen Flecken auf seinem Brustkorb taten immer noch weh.

„Stimmt …“, sagte Baron.
„Die haben das neue Monster Energy im E-Kiosk.“

Novembers Blick wurde eisig.

„Dieses verdammte Kiosk hat gestern versucht, euch umzubringen, ihr Vollidioten!“

„Wo wir gerade beim Thema sind, November: Denkst du, es wäre möglich, Berta anzurufen?“ fragte Baron.

November wusste, dass es ihm an sozialem Feingefühl mangelte, aber manchmal fragte sie sich wirklich, ob er sie einfach ärgern wollte.

Baron drehte seinen Laptop so, dass November ihn sehen konnte. Bertas Nummer war bereits eingegeben.

„Warum hast du eigentlich deine Laptopkamera nicht abgeklebt?“ fragte Elias dazwischen. Die meisten Nerds, die er kannte, hatten ihre Kameras stets abgeklebt.

November war die ständigen Themenwechsel gewohnt, aber es nervte sie, dass die beiden Männer so taten, als wäre gestern nichts gewesen.

„Warum?“ fragte Baron.
„Damit mich niemand beim Masturbieren aufnimmt? Nichts, was es im Internet nicht sowieso schon gibt.“

„Ahh, ja … danke für die Info, I guess“, sagte Elias. Er bereute es, gefragt zu haben, und nahm sich vor, Baron nie wieder etwas zu fragen.

November funkelte die beiden böse an.
„Ihr könnt nicht so tun, als wäre da nichts gewesen!“ schnauzte sie.

„Wir finden am besten heraus, was das war, indem wir Berta anrufen“, sagte Baron.

November verdrehte die Augen. Sie hasste es, aber damit hatte er einen Punkt.
Kurz rang die junge Frau mit sich selbst und erklärte sich dann widerwillig bereit, ihre Patentante anzurufen.

Berta war eine mürrische alte Dame, die sich bestens auf dem Gebiet der Cyberkriminalität auskannte. Generell war sie gut bewandert im Bereich illegaler Machenschaften. Baron behauptete, sie habe einst zu den besten Waffenschmugglern der westlichen Hemisphäre gehört, doch davon wollte November nichts wissen.

Es klingelte dreimal, dann schaltete der Laptop auf Videoübertragung.

Der Bildschirm zeigte das Innere einer schlecht beleuchteten Werkstatt. Die Werkstatt war vollgestopft mit Gerätschaften, Instrumenten und Monitoren. Auf Regalen und Werkbänken stapelten sich Technologien aus dem vergangenen Jahrtausend und solche, die direkt von einem Raumschiff stammen könnten.

In der Mitte des Bildes war der Kopf einer kleinen Frau zu erkennen, die über einer Werkbank lehnte. Die Frau, deren Sternzeichen eindeutig der Maulwurf war, trug eine Schweißerbrille und war damit beschäftigt, zwei Halbleiter im Inneren eines Röhrenfernsehers zu verlöten.

Als sie die Übertragung auf dem Monitor vor ihr erkannte, nahm sie die Brille ab und legte den Lötkolben zur Seite.

Ihr Blick wanderte von Baron zu November und zurück.
„Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht mehr anrufen!“ schnauzte sie Baron an.

„Ich …“, wollte Baron sich verteidigen, doch November unterbrach ihn.

„Hab es ihm erlaubt, Berta“, sagte die junge Frau ruhig.
„Diesmal ist es wichtig.“

Berta guckte mürrisch drein. Sie konnte ihrer Nichte keinen Wunsch abschlagen, aber Baron konnte sie nicht ausstehen.

Die kleine Frau griff nach einer Zigarette und entzündete sie mit ihrem Lötkolben.
„Was wollt ihr?“ sagte sie dann und blies den grauen Rauch Richtung Kamera.

„Sagt Ihnen der Name >EDEN< etwas?“ schoss Baron los. Er war noch nie gut in Zurückhaltung gewesen.

„Kommst direkt zur Sache, was?“ murmelte die alte Frau und nahm einen Zug von ihrer Zigarette.
„Habe ich schon mal gehört, ja …“ brummte sie dann.

„In welchem Zusammenhang?“ fragte Baron.

Berta zog die Augenbrauen zusammen.
„November, ihr werdet doch wohl keinen Unfug anstellen?!“ sagte sie vorwurfsvoll.

„Nein, Berta, versprochen! Wir wollen nur etwas auf die Spur kommen“, entgegnete November.

„Das will ich auch hoffen! Mit so etwas spielt man nämlich nicht!“

„Versprochen!“ sagte November.

„Handelt es sich bei >EDEN< um eine KI?“ fragte Baron ungeduldig.

Berta schenkte ihm einen unheilvollen Blick.
„Mehr als das …“ fing sie trotzig an zu erklären.
„Es ist eine Waffe. Eine verdammt gute noch dazu. Eine von diesen Waffen, die ihr Werk von selbst verrichten. Eine von denen, die du auf alles ansetzen kannst.“

„Kann sie dazu verwendet werden, Daten von geschützten Servern zu klauen?“ fragte Baron.

„He! Natürlich! Kinderspiel für >EDEN„Ihr könnt euch gar nicht ausmalen, zu was solche Programme alles in der Lage sind!“

Berta machte eine kurze Pause und starrte über den Rand ihrer Kamera hinweg auf etwas, das in weiter Ferne zu sein schien.

„Ein Bekannter von mir … er … hm, das ist gar nicht so lange her“, fuhr sie dann fort.
„Er hat auf einer Serverfarm gearbeitet, tief im Eis unter der Arktis … ja … Diese Serverfarmen waren der Heimathafen vieler solcher Programme. Und ich meine, er hat mal erzählt, dass >EDEN< eins von ihnen war.“

Ihre Augen suchten etwas in ihrem kleinen Räumchen. Vielleicht einen Bildschirm oder ein Gerät. Hoch und runter wanderten sie, schienen unermüdlich nach etwas zu jagen, nach einem Signal, nach etwas Vertrautem im Unbekannten.

„Was sind das für Serverfarmen?“ fragte November.

„Gute Frage … Mein Bekannter hat nie so recht erzählt, was dort alles berechnet wurde. Er meinte, dass die Leute, die auf diesen Serverfarmen für die Instandhaltung zuständig waren, aus aller Welt kamen und je ein Jahr blieben …“ fuhr sie fort.
„Danach hört man nie wieder was von ihnen.“

„Warum hört man danach nie wieder etwas von ihnen?“ fragte Baron.

„He! Das hat er sich auch gefragt … mein Bekannter. Am Anfang dachte er immer, das gehöre eben zum Job. Doch dann hat er mal versucht, Kontakt zu einem seiner Kollegen zu halten, nachdem der gegangen ist.“

Während sie erzählte, begann eines der Geräte hinter ihr in schrillem Ton zu piepsen. Zuerst langsam, dann stetig immer schneller.

„Doch er hat es nicht geschafft. Später hat er herausgefunden, dass sein Kollege auf mysteriöse Art umgekommen ist. Das hat ihn natürlich stutzig gemacht, meinen Bekannten.“

Berta drückte auf einen kleinen Knopf, und das Piepsen erlosch.
„Mehr als das … es hat ihn geradezu paranoid gemacht“, sagte sie langsam.
„Und zwar zu Recht. Kurz nachdem er mit seinem Dienst fertig war und wieder an Land gegangen ist, haben sie versucht, ihn umzulegen. Haben’s aber nicht geschafft.“

„Was ist mit den Leuten in diesen Farmen jetzt?“ fragte November.

„Wurden alle ersetzt. Durch Maschinen … Roboter … Droiden …
Ich vertraue den Dingern nicht.“

Berta lehnte sich etwas zurück, sodass Licht auf ihre Stirn fiel und tiefe Sorgenfalten offenbarte.

„Wer kontrolliert diese Server?“ fragte Baron.

„Ha! Jetzt stellen wir die richtigen Fragen, was?“ sagte Berta und nahm einen Zug von ihrer Zigarette.
„Leute, mit denen nicht zu spaßen ist!“, fuhr sie fort.
„Es sind Paramilitärs.
Auf cybertechnische Kriegsführung spezialisierte Paramilitärs … Obwohl man wahrscheinlich eher sagen sollte: cybertechnische Spezialisten, die sich zu paramilitärischen Gruppen zusammengeschlossen haben. Denn der Nerd ist immer zuerst Nerd, und dann radikalisiert er sich. Nicht andersherum!“

Die alte Frau ging in ein unverständliches Murmeln über.

„Wo finde ich sie?“ fragte Baron.

Berta gab ein Glucksen von sich.
„Jungchen … solche Leute findet man nicht. Sie finden dich.“

Einen kurzen Moment schwiegen die beiden und ließen das Gesagte auf sich wirken.

Baron wollte den Mund öffnen, um weitere Fragen zu stellen, doch November kam ihm zuvor.

„Danke, Berta. Ich denke, das war dann alles“, sagte sie.

„Hm, na dann“, raunte Berta.
„Lass dich nicht von dem da in irgendeine Scheiße reinreiten, hast du gehört, Novi?!“ schob sie hinterher und zeigte dabei mit ihrer Zigarette auf Baron.

„Versprochen“, antwortete November.

Sie beendete das Telefonat und klappte ihren Laptop zu. Dann richtete sie ihren Blick auf Baron.

„Dein Ernst?“ fragte sie.

Wären ihre Augen Laserstrahlen, hätte Baron jetzt ein großes Loch da, wo sein Kopf mal war.

Baron schwieg.
Sein Maulwurfsgesicht hatte den gleichen nichtssagenden Ausdruck wie immer.

„>EDEN<… diese Typen, denen >EDEN< gehört… die wissen, dass du ihnen auf die Spur gekommen bist… die wissen wahrscheinlich, dass du >EDEN< kennst.“

Baron schwieg nach wie vor und guckte noch etwas dämlicher als davor.

„Die Aktion gestern, in dem Kiosk, das war kein Zufall.“ Novembers Stimme hatte eine schneidende Schärfe angenommen.
„Das war eine Warnung! Von den Typen, denen >EDEN< gehört. Das sollte heißen, du sollst keine Nachforschungen anstellen und dich um deinen eigenen Scheiß kümmern!“

Elias sah Baron an. Beide hatten das Gefühl, wieder in der Schule zu sein und gleich eine gewaltige Ladung Strafstunden aufgehalst zu bekommen.

„Und was machst du?“ setzte November nach.
„Du fragst Berta, wie man diese Leute findet?
Ihr wärt beide in diesem scheiß Kiosk gestorben, wäre ich nicht da gewesen.“

Sie holte tief Luft.

„Lass die Scheiße ruhen … oder wir sind alle in Gefahr!“

Baron schwieg einen Moment. Dann wollte er den Mund aufmachen, doch Novembers eisiger Blick belehrte ihn eines Besseren.

„Sie hat schon Recht, man!“ sagte Elias.
„Das war kein Zufall gestern!“

„Versprichst du, keine weiteren Nachforschungen anzustellen?“ sagte November. Es war mehr eine Drohung als eine Bitte.

Barons Blick suchte zuerst Elias, dann Shiva. Beide sahen ihn erwartungsvoll an.

„Ja, okay…“ gab der haarige junge Mann nach.

6

„Das Mittelalter gab es nicht!“
Barrons Stimme hatte seinen sturen Standard-Tonfall angenommen, den er immer hatte, wenn er mächtigen Unsinn verzapfte.
„Warum sollten die Menschen sich in ihrer Entwicklung um tausend Jahre zurückwerfen? Die Römer waren viel fortschrittlicher als ‚das Mittelalter‘. Erklär mir, wie das zusammenpasst! Das Mittelalter ist eine verdammte Erfindung der katholischen Kirche!“

„Bullshit!“ sagte Elias gelangweilt und rieb sich dabei die Stirn.

„Karl der Große ist eine fiktive Figur, die perfekt in die Interessen der Kirche gepasst hat. Das siebte Jahrhundert hat niemals existiert, es…“

„Ja, ist ja gut, Man!“ unterbrach ihn Elias.
Er konnte nicht glauben, dass Barron ihm schon wieder irgendeinen Schwachsinn verkaufen wollte.

„Warum sind wir überhaupt hier? Was ist das für ein Job?“ fragte er. Nicht aus Interesse, sondern in der Hoffnung, dass Barron endlich mit seinem Weltverschwörungsquatsch aufhören würde.

„Es ist kein Job“, sagte der beleibte junge Mann und zog sich den Schlips enger.

„Was ist es dann?“

„Geschäfte.“

Die beiden befanden sich in der Lobby eines schicken Bürogebäudes. Das Sofa, auf dem sie saßen, stand direkt gegenüber der Rezeption. Barron begutachtete die große Monstera links von ihnen, während Elias durch sein Handy scrollte.

Barron trug einen grauen Anzug, der in Elias’ Augen viel zu groß für ihn war. Jedoch verkniff Elias sich jeglichen Kommentar. Früher hatte es ihm mehr Spaß gemacht, sich über die Outfits anderer lustig zu machen. Seitdem er Mode studierte, hatte er den Spaß daran verloren. Wenn er nun bösartige Kommentare über die Klamotten anderer machte, konnten diese einfach mit „Sorry, du Modestudent“ kontern. Damit machte er es den Leuten wirklich zu einfach.

Aber bei Barron war es schon besonders schwer. Er selbst hatte sich auf Barrons Bitte hin ein weißes Hemd angezogen. An den Handgelenken ragten seine krakeligen, dunklen Tattoos hervor und sorgten dafür, dass das Hemd seine Wirkung verfehlte. Doch Elias war das egal und Barron hatte kein Auge dafür. So saßen die beiden auf dem Sofa in der Lobby und sahen aus wie vollständig aus dem Zusammenhang gerissen.

Als die junge Frau an der Rezeption Barron zu sich winkte, stand dieser augenblicklich auf und versuchte dann, gewollt lässig zu ihr Hinüberzuschlendern. Dabei schlurfte seine viel zu große Hose über seine Turnschuhe.

Schmunzelnd kam Elias hinterher. Er empfand die Situation aufgrund ihrer Abstrusität als unterhaltsam.

In wichtigtuerischem Ton erklärte Barron der jungen Frau, dass sie einen Termin bei Herrn Kühne hatten. Daraufhin wurde ihnen der Aufzug gezeigt und die beiden begaben sich auf den Weg in den elften Stock. Oben angekommen öffnete sich die Tür und offenbarte einen langen Flur auf dessen Marmorboden ein edler Teppich lag.

Am Ende des Flurs befand sich ein kleines, aber schickes Büro. In der Mitte stand ein hölzerner Schreibtisch. Dahinter saß ein junger Mann in einem blauen Polo-Pullover. Als Barron und Elias das Büro betraten, stand der junge Mann auf und schüttelte ihnen beiden die Hände. Er war gut darin, sich die Verblüffung über die Erscheinung der beiden Männer nicht anmerken zu lassen.

„Guten Tag, Kühne, ja, setzen Sie sich.“

Er setzte sich wieder, und die beiden nahmen ihm gegenüber auf zwei eleganten Freischwingern Platz.

„Sie sind Herr Müller?“ fragte er Barron.

Elias biss sich auf die Lippen. Ihm war nicht klar, ob Barron sich darüber bewusst war, wie lächerlich dieser Deckname war.

„Ja“, antwortete Barron.

„Und das ist mein Stylist“, fügte er hinzu und deutete auf Elias.

Das Lächeln verschwand aus Elias’ Gesicht. Jetzt wusste er nicht, ob er sauer oder peinlich berührt sein sollte.

„Ah, sehr gut“, sagte Herr Kühne. Der junge Mann schien ein Experte im Umgang mit unüblichen Geschäftspartnern zu sein.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, holte Barron eine Plastiktüte aus dem Inneren seines Jackets und entnahm dieser eine silbern glänzende Festplatte. Er legte sie auf den Tisch und faltete die Hände.

„Das ist sie, nehme ich an?“ sagte Herr Kühne.

Barron nickte und fing dabei an, leicht mit seinem Stuhl hin und her zu wippen.

„Ich muss natürlich überprüfen, ob sie echt…“

„Ich möchte eine Kopie der Pazifista-Strategie, neueste Version!“ unterbrach ihn Barron.

„Das ist nicht möglich, Herr Müller“, sagte der junge Mann so freundlich, wie er nur konnte.

„Doch.“

„Herr Müller…“

„Auf der Festplatte befindet sich die neueste Version der Eispickel-Strategie plus drei Millionen TD.“

Barrons Argument schien Wirkung zu entfalten.
Nachdenklich kaute Herr Kühne auf seiner Lippe herum, während sein Blick begierig die Festplatte vor Barron begutachtete.

Nach einem angespannten Moment gab Herr Kühne nach.
„Na gut!“ knickte er ein.

Barrons Angebot war zu verlockend. Herr Kühne holte einen kleinen USB-Stick aus der Schublade seines Schreibtisches und schob ihn über den Tisch.

„Hat mich gefreut, mit Ihnen Geschäfte zu machen!“ sagte Barron, verstaute den USB-Stick in einer seiner unzähligen Taschen und stand von seinem Stuhl auf.

Herr Kühne reagierte nicht. Seine Hände waren bereits damit beschäftigt, die Festplatte zu befingern. Es schien, als hätte er jegliches Interesse an den beiden verloren.

Ohne ein weiteres Wort verließen Barron und Elias das schicke Büro.

„Willst du mich aufklären?“ fragte Elias, während die beiden durch die langen Gänge des Bürogebäudes schlenderten.

„Ein Handel mit TotalDomination3-Strategien.“

„Ich gebe ihm eine, er gibt mir eine“, sagte Barron so beiläufig wie möglich.

Elias wusste, dass Barron es liebte, über das Spiel zu reden. Noch mehr liebte er es, dabei so zu tun, als wäre es ihm gar nicht wichtig – als würde er nicht die Hälfte seiner Zeit in das dämliche Spiel investieren.

„Aber wenn er das Spiel auch zockt, heißt das nicht, du hilfst damit einem deiner Konkurrenten?“

„Ich bin aktuell [GlobalElite Rank #19].“, sagte Barron wichtigtuerisch.
„Er ist Diamond #3 oder so ein Schmutz. Er ist keine Konkurrenz für mich. Aber die Pazifista-Strategie ist die Modifikation einer hauseigenen Software des Unternehmens, für das er arbeitet. Sein Unternehmen macht Marktanalyse und -prognosen. Er hat die Software umgeschrieben und auf TotalDomination3 zugeschnitten. Jetzt hilft sie ihm dabei, Spielzüge zu planen und das Verhalten anderer Spieler vorauszusehen. Und weil sie echt gut darin ist, ist sie wiederum sehr interessant für mich.“

„Klar…“ sagte Elias so gelangweilt wie möglich.
„Und was hast du ihm dafür gegeben?“

„Eine alte Strategie, die ich vor ein paar Monaten entwickelt habe. Auf Top-Niveau ist sie längst überholt. Die Geeks wissen schon lange, wie sie ausgekontert werden kann. Aber das wird der Typ erst merken, wenn er nicht mehr in Diamond 3 rumgurkt. Dazu habe ich ihm noch ungefähr drei Millionen TD-Währungen draufgeladen.“

„Aha.“ Elias bereute es, nachgefragt zu haben. Wieder unnötig Gehirnkapazität an Barrons Unsinn verschwendet.

Die beiden verließen das große, monoton-graue Bürogebäude und begaben sich zur nächsten Straßenbahnstation. Es war ein kalter Tag im Stadtdschungel von NeoFFM2. Die Anzeigentafel, welche die Ankunft ihrer Bahn ankündigte, zeigte fünf weitere Minuten Wartezeit an.

Elias setzte sich auf die Bank der Haltestation und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine kleine Bankfiliale. Sie konnten sehen, wie ein Obdachloser die Filiale betrat und versuchte, sich neben einen Schalter zu setzen, um sich ein wenig aufzuwärmen. Ein Anzugträger betrat den Vorraum und bat den älteren Mann höflich, die Räumlichkeiten zu verlassen.

Ohne zu zögern stand Elias von der Bank der Haltestation auf, schnippte seine Kippe weg und überquerte die Straße. Kurz beobachtete Barron, wie sein Freund begann, lauthals auf den Bankangestellten einzureden. Ritterlich setzte Elias sich für den Obdachlosen ein und beschwor dabei den Tod des Kapitals.

Elias’ Eltern waren zwar recht wohlhabend und hatten ihm sein Modestudium an einer Privatuni vollständig finanziert, doch das hinderte ihn nicht daran, brennender Anarchist und Schrecken der Konterrevolutionäre zu sein.

Nach kurzer Zeit verlor Barron das Interesse an dem Wortgefecht zwischen dem Modestudenten und dem Bankangestellten.

Sein Blick schweifte über die dreckigen Straßenrinnen und blieb dann auf einer Taube kleben, die vor der Bankfiliale in einer McDonald's-Tüte herumpickte. Die Taube ließ von der braunen Papiertüte ab und erwiderte seinen Blick.

Etwas rotes, Unnatürliches blitzte in ihren Augen auf.

Ohne Vorwarnung stürzte sich ein weiterer Vogel auf die Taube. Eine gigantische schwarze Taube mit weißem Kopf war aus dem Himmel gestoßen und hatte angefangen, die Taube zu attackieren. Zwischen den beiden Tieren entbrannte ein wilder Kampf. Die schwarze Taube schien körperlich klar überlegen.

Jedoch fiel es ihr schwer, gegen die kleinere Taube anzukommen. Es wirkte, als könnten ihre Krallen und ihr Schnabel der kleineren Taube nichts anhaben.

Die beiden lieferten sich eine erbitterte Schlacht. Barron konnte nicht sagen, welche der beiden Tauben sich behaupten würde. Fasziniert sah er zu, wie die schwarze Taube die Oberhand gewann, nur um sie kurz darauf wieder zu verlieren.

Wenig später war der Kampf entschieden. Die schwarze Taube hatte es geschafft, sich im Nacken der kleineren Taube festzukrallen und hatte dann so oft zugehackt, bis die kleinere Taube kein Lebenszeichen mehr von sich gab.

Die schwarze Taube warf Barron einen flüchtigen Blick zu und verschwand dann wieder zwischen den Wolken über der Stadt.

Vorsichtig erhob sich Barron von seinem Zuschauersitz und bewegte sich auf die tote Taube zu. Bei ihr angekommen nahm er das reglose Lebewesen hoch und drehte es auf den Kopf.

Aus sicherer Entfernung betrachtete er den After des Tieres.
Wie er es sich gedacht hatte: keine Scheiße.

Er kramte eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche, wickelte die tote Taube ein und verstaute sie vorsichtig in seiner Umhängetasche.

Wenige Augenblicke später kam Elias von seinem Streit mit dem Bankangestellten zurück. Fluchend drehte der Modestudent sich eine neue Zigarette. Ihre Bahn war in der Zwischenzeit ohne sie abgefahren.

Die nächste kam in acht Minuten.

7

Baron saß oberkörperfrei an seiner Werkbank. Die Werkbank bestand aus einem schmalen Tisch, bedeckt mit einer karierten hellblauen Unterlage. Wo die Werkbank auf die Wand traf, stapelten sich kleine Schubladen bis unter die Decke, eine vollgestopfter als die andere. Kabel und Draht, kleine Schrauben, Mikrochips und Plastikverzierungen, frisch aus dem 3D-Drucker, lagen quer über die gesamte Unterlage verteilt. Sie ragten aus den kleinen überlaufenden Schubladen und hofften darauf, als Nächstes einen Platz in einem der kleinen Kampfroboter – oder was auch immer Baron dort noch baute – zu finden.

An den Seiten der Werkbank befanden sich vier Computer, die mit kleinen Bildschirmen verbunden waren. Die Bildschirme waren an beweglichen Armen befestigt, sodass Baron sie je nach Bedarf von einer Position in die nächste bewegen konnte. Die Computer liefen auf Hochtouren und sorgten dafür, dass der kleine Raum eine angenehme Temperatur von 29 Grad erreichte – genau richtig, damit Barons schwitzige Wurstfinger sich ordentlich schwer damit taten, an den kleinen Gerätschaften herumzubasteln.

Baron griff nach einem kleinen Ventilator, der ebenfalls an einem der Greifarme befestigt war. Er liebte Greifarme. Er knipste das Gerät an und justierte es auf Kopfhöhe. Dann holte er ein kühles, grünes Monster Energy aus einem kleinen Kühlschrank neben der Werkbank und stellte es vor sich auf den Tisch.

Anschließend zog er sich eine Stirnlampe über den schwitzigen Kopf und knipste diese ebenfalls an.
Nun war er bereit. Bereit für die Mission.

Er holte die noch immer in eine Plastiktüte eingewickelte Taube aus seiner Tasche und legte sie vor sich auf die Werkbank. Vorsichtig entfernte er das Plastik und legte das tote Lebewesen frei. Nachdenklich betrachtete er die Taube. Dann holte er ein Skalpell und einen kleinen Haken aus einer Schublade unter dem Tisch.

Langsam und präzise begann Baron, Federn und Haut auf dem Rücken des Tiers zu entfernen. Er arbeitete sich immer weiter ins Innere vor, bis seine Klinge auf etwas Hartes stieß. Ein leises, metallisches Kratzen ertönte, als das Skalpell über eine kleine Platte aus Stahl strich. Genau das hatte er vermutet.

Baron hakte ein und begann, mehr von der Haut freizulegen, bis er fast das gesamte stählerne Innenleben der Taube freigelegt hatte. Schnitt für Schnitt enthüllte sich die Taube als Attrappe, als unechte Puppe. Ein kleiner Roboter, verkleidet in ein künstliches Federkleid.

Verbissen begann er, an der falschen Taube herumzubasteln. Er suchte Zugänge und Verbindungen, suchte einen Weg, sie anzuzapfen, um herauszufinden, was sie war, welches Ziel sie verfolgte und wer sie gebaut hatte. Als er endlich auf eine kleine Festplatte stieß, verkabelte er sie ungeduldig mit seinem Rechner und ließ seine Programme auf sie los – kleine, präzise Algorithmen, die das Innenleben der falschen Taube auf den Kopf stellten... doch dabei nichts fanden.

Nur verschlüsselte Codes, die über Kurzwellen-Netzwerke an andere unechte Tauben weitergeleitet wurden. Die Taube war allem Anschein nach eine Drohne, gebaut, um Informationen zu sammeln und in ein Netzwerk einzuspeisen. Sie war Teil einer Schwarmintelligenz, die in der Lage war, die gesamte Stadt zu überwachen. Aber sie selbst war nur Auge, nicht Kopf. Sie war da, um zu sehen, nicht um zu denken, und wusste daher auch nichts, was sie verraten hätte können.

Baron fand keinerlei abgespeicherte Daten, keine Befehle an die Taube und keine Hinweise darauf, an wen sie ihre Daten weiterschickte. Er fand lediglich die zwischengespeicherten Daten der letzten fünf Minuten, bevor die Schaltkreise der falschen Taube durchgebrannt waren. Und auch diese waren codiert, um sie vor Abhörung zu schützen.

Verärgert lehnte Baron sich in seinem abgenutzten Bürostuhl zurück und nahm einen Schluck von dem Energy-Drink. Seine Gedanken kreisten ziellos umher. Doch dann, angepeitscht durch die magischen Kräfte des Monster Energys, kam ihm eine Idee:

Er wusste, was die Taube die letzten fünf Minuten ihres Lebens gesehen hatte. Und zwar ihren Todeskampf mit einer viel größeren schwarzen Taube. Dazu die Umgebung des grauen Asphalts und des dunklen Himmels. Das müsste reichen.

Er abstrahierte die Daten der toten Taube und ließ sie in ein Codeknacker-Programm ein. Dazu sagte er dem Programm, es solle sich auf wiederholende Variablen konzentrieren und diese durch die folgenden Konstanten ersetzen: schwarz / groß / Taube / dunkel / Asphalt.

Wenig später spuckte das Programm eine halb fertige Decodierung der Daten aus. Sie passte mit dem überein, was die Taube in den letzten Momenten ihres Daseins wahrgenommen haben musste.

Nun setzte Baron ein zweites Programm darauf an, das Codierungsmuster der Daten durchs Netz zu jagen, in der Hoffnung, ähnlich codierte Datenströme zu finden.

Eine gute halbe Stunde später lieferte das Programm einen Treffer.

8

„Guck dir das an!“, sagte Baron in forderndem Ton.
„Ey, wenn das wieder einer deiner AI-Pornos ist, raste ich aus. Das ist nicht dasselbe wie echte, und es wird es auch nie sein, Mann...“, sagte Elias.
„Nein, nein! Das hier ist wichtig!“, beharrte Baron.

Die beiden saßen in dem Café, in dem sie immer saßen.
Baron hatte zwei leere Kaffeetassen vor sich, und draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben.
Ja, in NeoFFM2 regnete es eigentlich immer.

„Guck dir das an!“, wiederholte der haarige Mann und drehte seinen Laptop so, dass Elias den Bildschirm sehen konnte.
Der Bildschirm zeigte ein YouTube-Video. Es war die Wiederholung einer Channel-5 NeoFFM2 Daily News-Nachrichtensendung mit Susann Susensen, die um 20 Uhr des vorigen Tages ausgestrahlt worden war.

Elias warf seinem Freund einen irritierten Blick zu.
„Ich hab' heute Morgen Podcasts gehört, ich kenne die Nachrichten!“, sagte er. Es war gelogen – Elias hatte den Morgen verschlafen und dann Techno während des Duschens gehört.
„Darum geht’s nicht!“, entgegnete Baron.

Er öffnete ein weiteres Fenster auf seinem Laptop und startete Word.
Dann aktivierte er die Untertitel der Nachrichtensendung und ließ sie laufen. Alle paar Sätze kopierte er das Gesagte und fügte es in die Word-Datei ein. Er wiederholte das Prozedere einige Male.

Nach zwei Minuten blickte Elias ihn gelangweilt an.
„Was soll mir das sagen?“, fragte er genervt.
„Pass auf!“, sagte Baron.

Er kopierte den in der Word-Datei gesammelten Text und öffnete ein weiteres Programm. Dann fügte er den Text in das Programm ein. Das Programm begann, den Text durch ein Raster zu jagen und auf Codierung zu untersuchen.

Es dauerte nicht lange, bis das Programm die ersten Treffer fand. Es wandelte Wörter und Buchstaben in Platzhalter um und glich diese mit einer vorgegebenen Codierung ab.
„Was machst du da?“, fragte Elias. Er war nun doch etwas interessierter, ahnte aber trotzdem irgendeinen Baron-Unsinn.
„Das Programm untersucht den Text aus der Nachrichtensendung auf eine bestimmte Codierung. Wenn es Treffer findet, dann dadurch, dass das Gesagte sich in den Code übersetzen lässt und die Übersetzung Sinn ergibt.“
„Aha…“, sagte Elias, ohne etwas verstanden zu haben.

Währenddessen hatte das Programm begonnen, die ersten Übersetzungen auszuspucken. In Weiß auf Schwarz stand dort:
H-I-L-F-E // 25 02 51 121 31 54 // E-D-E-N

Beide schwiegen.
Elias guckte Baron so finster an, wie er nur konnte.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“, sagte er ernst.
Barons Blick war der eines Hundes, der auf den Teppich geschissen hatte.
„Das ist nicht von mir!“, sagte er dann.
„Diesen Code habe ich in einer Tauben-Drohne gefunden!“, fügte er hinzu, ohne zu ahnen, dass dieser Satz ihn auch das letzte bisschen Glaubwürdigkeit kosten würde.

Elias zog die Augenbrauen hoch.
„Okay... Ich gehe jetzt eine rauchen… wenn ich wieder komme will ich nichts mehr davon hören… verstanden?“, sagte er dann, griff nach seinem Tabak und verschwand durch die Tür des Cafés.

Baron lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände über dem Bauch.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Was das Programm ihm zeigte, war verrückt, das musste selbst er anerkennen. Aber er fand keinen Fehler in seinem Vorgehen. Alle Schritte waren schlüssig.

Nachdenklich betrachtete er Elias und die Rauchsäulen um ihn herum durch die Scheibe. Baron fühlte sich etwas schuldig. Er wusste, was er November versprochen hatte. Aber er konnte die Ereignisse nicht einfach ignorieren.

Und da war noch etwas, eine Ahnung… er wusste nicht was dieser EDEN vor hatte… doch er hatte so eine Idee, nach was er auf der Suche sein könnte.

Er wollte das Programm gerade neu starten, um zu prüfen, ob die Übersetzung auch wirklich stimmte, als Shiva das Café betrat.
„Hey“, sagte Shiva zur Begrüßung. Sie setzte sich an Barons Tisch und holte ihren Laptop heraus.
„Elias sagt, du schwafelst schon wieder von diesem >EDEN<-Zeugs?“, fragte sie vorwurfsvoll.

Baron reagierte nicht.
„Das wird November gar nicht gefallen...“, fügte sie etwas amüsiert hinzu.
Ihr Blick traf den Bildschirm von Barons Laptop.
„Sind das GPS-Koordinaten?“, fragte sie dann und deutete auf die Zahlen, die Barons Programm ausgespuckt hatte.

Baron hatte sich noch nicht näher mit den Zahlen beschäftigt.
„Könnte sein, ja...“, sagte er geistesabwesend.

Shiva ließ ihre Finger über die Tastatur jagen.
„Das ist der Vertrauens-Bank-Tower“, sagte sie nach kurzer Recherche.
„Hm“, murmelte Baron.

Sein Blick war starr auf die großen Fensterscheiben gerichtet. Er suchte etwas in der Ferne – eine Entscheidung oder wenigstens eine Idee.

Ruckartig stand er auf, packte seinen Laptop zusammen und verließ das Café.
Irritiert sah Shiva ihm hinterher.
Dann runzelte sie die Stirn und wandte sich ihrem eigenen Laptop zu.

Wenig später kam Elias wieder zu ihr an den Tisch. November und Herbert waren auch bei ihm.
„Wo ist der Dicke?“, fragte Elias.
„Sag das nicht!“, sagte November, halb genervt, halb gelangweilt.
„Weiß nicht...“, sagte Shiva und zuckte mit den Achseln.
„Er ist aufgestanden und gegangen.“
„Hat er wenigstens seinen Kaffee bezahlt?“, fragte Elias.

Erneut zuckte Shiva mit den Achseln.
„Toll...“, murmelte Elias und holte sein Handy heraus.

Elias überlegte kurz, ob er November von Barons Fund erzählen sollte oder nicht. Er wusste, sie würde sauer auf Baron und wahrscheinlich auch auf ihn werden. Aber er hatte die Befürchtung, dass, wenn er ihr nichts erzählte und sie es irgendwann herausbekam, er noch mehr Ärger bekommen würde. Und das wollte er wirklich nicht.

Er mochte November sehr – sie war der moralische Anker ihrer kleinen Gruppe. Aber manchmal hatte er auch Angst vor ihr.
„Hat er dir auch davon erzählt?“, fragte er an Shiva gewandt.
Shiva schüttelte den Kopf.

Elias biss sich auf die Lippen.
Dann blickte er November an.
„Er hat wieder von diesem >EDEN< erzählt“, sagte er.
„War ja klar“, sagte November.
„Aber dieses Mal war es noch verrückter... Weißt du noch, wie er mal zwei Wochen lang davon besessen war, dass irgendein Schach-Profi bei einem wichtigen Turnier geschummelt haben sollte. Indem er einen Anal-Plug im Arsch hatte, der ihm im Morse-Code Züge vorgesagt hat?“

November blickte etwas angeekelt drein.
„Ja, ich weiß noch...“
„Dieses Mal ist es noch schlimmer!“, sagte Elias und machte eine ernste Miene.
„Er hat irgendwas erzählt von einer unechten Taube und einer Codierung, die er in der Taube gefunden hat. Mit der Codierung hat er eine geheime Message in einer Nachrichtensendung entschlüsselt. Und anscheinend ist diese Message von EDEN oder spricht zumindest über ihn oder so...“ Elias konnte selbst kaum glauben, wie absurd das Ganze klang.
„Er ist durchgeknallt“, sagte November knapp.
„Ich hab euch gesagt, wenn ihr die ganze Zeit diesen gestreckten Scheiß zieht, wird sich euer Gehirn irgendwann auflösen.“ Novembers Blick war kalt. Beiläufig begann sie, sich eine Zigarette zu drehen.
„Ich glaub nicht, dass das was mit dem Zeug zu tun hat...“, sagte Elias zögerlich.
„Der Scheiß besteht zu 90 Prozent aus Zement!“
„Aber der Typ, von dem wir das holen, zieht es doch auch...“, versuchte Elias, sein Laster zu verteidigen.
„Weil der genauso dumm ist wie ihr!“

Elias biss sich auf die Lippen. Er wusste, dass eine Diskussion mit November selten erfolgsversprechend war. Und irgendwo hatte sie ja auch recht.
„Was stand noch in dieser Message?“, fragte November und klopfte ihre Kippe auf dem Kaffeetisch ab.
„Ein paar Zahlen... und 'Hilfe'“, sagte Elias.
„Hm.“

November stand auf und ging, um ihre Zigarette draußen zu rauchen.
Elias guckte ihr hilfesuchend hinterher.
Herbert wackelte zu ihm rüber und legte seinen zotteligen Kopf in seinen Schoß. Dann blickte er den Modestudenten erwartungsvoll an.
„Du findest nicht, dass ich mir das Hirn weggekokst habe, oder?“, sagte Elias an Herbert gerichtet.
Herbert leckte mit der Zunge über seine feuchte Schnauze.
Shiva musste schmunzeln.

Elias guckte kurz, ob November ihn von draußen sehen konnte, dann nahm er einen von den Keksen neben Barons leeren Kaffeetassen und gab ihn seinem zotteligen Freund.

9

„Was machst du?“
„Nichts.“

Das war gelogen. Elias lag auf seinem Bett und war damit beschäftigt, Chips in sich hineinzuschieben. Durch seine blutunterlaufenen Augen starrte er auf den Bildschirm vor sich. Er war seit drei Stunden tief in einem „X-Factor – Das Unfassbare“-Marathon.

So lief das oft. Er hatte heute Morgen bemerkt, dass er noch etwas Gras in seiner Tasche hatte. Dann war ihm die Idee gekommen, er könnte es einfach aufrauchen und dann malen. Etwa eine halbe Stunde lang hatte er mit schwarzer Farbe eine Leinwand traktiert, und oh Junge, sah das scheiße aus. Aber es war ihm egal. Er wusste, wie moderne Kunst funktionierte. Es musste nicht gut aussehen, sondern auf dem richtigen Instagram-Account gepostet werden.

Nach getaner Arbeit hatte er sich auf sein Bett geworfen, und nun ging es der Chipstüte an den Kragen.

„Hast du was von Baron gehört?“, ertönte Novembers Stimme aus dem Handy, das auf seiner Brust lag.
„Noch nicht“, antwortete Elias.
„Es sind jetzt drei Tage.“
„Wird schon alles okay sein mit ihm!“
„Ich weiß nicht...“

November sprach über ihre Kopfhörer mit Elias, während sie an einer Maschine herumbastelte.

Sie stand in der dreckigen Werkstatt, in der ihr Vater ihr das Schrauben beigebracht hatte. Werkstatt war allerdings ein sehr wohlwollender Begriff. Es war ein angemieteter Container auf einem Industrielagerplatz am Rand von Neo-FFM2. Ihre Hände waren ölverschmiert, und ihre Nase war ebenfalls etwas dreckig. In einer Ecke lag Herr Bert zwischen Schraubenschlüsseln und Kupferdraht. Seine gutmütigen Augen beobachteten November dabei, wie sie verzweifelt versuchte, ein verklemmtes Ventil zu öffnen.

Sie bastelte schon seit Wochen an einer Maschine herum: einer Custom Kawasaki Speedmaster 3000. Sie hatte das Gerät zu einem Spottpreis erworben und versuchte es nun wieder in Schuss zu bringen. Einen Käufer hatte sie auch schon gefunden – irgendein neureicher Adrenalinjunkie. Manchmal überlegte sie, den Leuten am besten noch einen passenden Sarg dazu zu verkaufen. So ein Zwei-für-Eins-Ding. Aber Holz war einfach nicht ihr Material.

Sie war gut mit allem, was ölig war und Geschwindigkeit aufbaute. Früher war sie auch selbst Rennen gefahren. Berta hatte ihr das Fahren beigebracht. Aber diese Zeiten waren vorbei. Einer ihrer damaligen Freunde hatte es ihr versaut. Der Wichser hatte wirklich gemeint, sich mit 120 Sachen in irgendeine Leitplanke zu wickeln. Wäre fast draufgegangen. Danach hatte sie irgendwie die Lust verloren.

Jetzt bastelte sie nur noch. So war es für Herbert auch besser.

Ein Interface erschien auf Novembers Smartphone und verkündete, dass Shiva ihrem Anruf beigetreten war.
„Hey!“, sagte sie zur Begrüßung.
„Ähm, November, wir hatten es doch letztens über mein Projekt gesprochen...“
„Ja...“, antwortete November.
„Ich hatte überlegt...“, fing Shiva an, wurde aber von Elias unterbrochen.
„Shiva, der Sturz des Kapitals kann nicht gewaltlos erfolgen. Es wird Opfer geben. Das ist der Preis, den die Revolution fordert... den die Freiheit...“
„Junge...“, wurde er nun wiederum von November unterbrochen.
„Zum Glück bist du nicht für das Denken in unserer Gruppe verantwortlich.“
„Hä, was soll das denn heißen...“, protestierte Elias.
„Egal!“

„Shiva, bevor wir über dein Projekt reden... hast du noch den Zugang zu diesem AirTag?“
„Ja... warum?“

„Lass mich mal sehen…“

10

Baron saß auf einem Campingstuhl in einer leeren Etage hoch oben im Tower der Vertrauensbank. Durch die Fensterscheiben leuchteten die Lichter der umliegenden Skyline von NeoFFM2. Bis zum Horizont erstreckte sich der Betondschungel in seiner geometrischen Wildheit.

Baron hatte seinen Laptop auf dem Schoß. Auf dem unverputzten Boden unter ihm lag eine Kabeltrommel und eine leere Lieferando-Tüte. Abgesehen von diesen drei Gegenständen befand sich nichts in dem Stockwerk. Selbst die Wände schienen größtenteils entfernt worden zu sein. Übrig geblieben waren nur Trägersäulen und aus der Decke hängende Verkabelungen.

Konzentriert starrte Baron auf die Zahlenabfolgen auf seinem Laptop. Er war damit beschäftigt, eine Nachricht zu codieren. Der verwendete Code war der, den er in der unechten Taube gefunden hatte. Die Nachricht sollte simpel sein:
„ICH BIN DA“

Verschlüsselt würde er diese paar Buchstaben als Anfrage an den Server des Gebäudes schicken und auf eine Antwort warten.

Nachdem er auf „Senden“ geklickt hatte, atmete er kurz durch. Sein Blick wanderte über die umliegenden Gebäude und Wolkenkratzer. Die Lichter der Nacht glitzerten in den unzähligen Fensterscheiben. Der Himmel war klar. Es war eine schöne Nacht.

Baron griff nach dem Monster Energy in seiner Armlehne und genehmigte sich einen großen Schluck.

Ungeduldig starrte er auf seinen Laptop und wartete auf eine Antwort, ein Zeichen, irgendetwas.

Einige Zeit verging, und nichts geschah – bis Baron ein Geräusch hinter sich vernahm.

„Erwischt!“ sagte November.

Die junge Frau trat aus dem hinteren Teil der Etage hervor. Sie trug ein langes, schwarzes Regencape und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr Blick war starr auf Baron gerichtet.

Hinter ihr stand Elias. Der Modestudent sah sich neugierig in dem leeren Stockwerk um.

„Nett hier“, sagte er und wandte seinen Blick dann Baron zu.

„Aber haben Sie schon mal überlegt ihre Freunde nicht anzulügen?“

Baron starrte die beiden ungläubig an.

„Warum seid ihr hier …?“ fragte er langsam. Seine Stimme bebte ein wenig.

„Warum wohl? Wegen dir, Blödmann!“, antwortete November. „Du hattest versprochen, die Scheiße ruhen zu lassen!“ warf sie ihm vor.

„Aber …“

„Nichts ‚aber‘! Du kommst jetzt mit uns nach Hause und hörst auf, dieser >EDEN<-Scheiße hinterherzujagen!“ sagte sie entschieden.

„Das kommt nicht in Frage!“ entgegnete Baron trotzig.

Er war gut darin, Dinge vorauszusehen, aber damit, dass November und Elias ihm bis in diesen Wolkenkratzer folgen würden, hatte er nicht gerechnet. Das machte alles komplizierter. Und er mochte es gar nicht, wenn Dinge unerwartet komplizierter wurden.

„Wie habt ihr mich gefunden?“ fragte er ungläubig.

„Das T-Shirt“, sagte Elias und deutete auf Barons schwarzes Oversize-Shirt, das er ihm mal zum Geburtstag geschenkt hatte. „Hab ’nen AirTag drin vernäht.“

Baron sah ihn unverständlich an.

„Guck nicht so. Das war Shivas Idee. Sie wollte herausfinden, ob du zu diesem Puff in der Widderstraße gehst“, erklärte Elias mit einem Achselzucken.

„Und wie man sieht, hat es ja was gebracht“, schob November hinterher.

„Ihr solltet nicht hier sein“, sagte Baron und wandte seinen Blick ab.

„Ja, aber jetzt sind wir’s. Also komm mit, verdammt nochmal!“ sagte November.

Sie wollte Baron gerade am Arm packen, um ihn aus seinem dämlichen Campingstuhl zu zerren, als die drei von einem eigenartigen Geräusch unterbrochen wurden.

Aus der Ecke des Raumes näherte sich ihnen etwas. Langsame Schritte und ein metallenes Quietschen hallten durch die Etage.

Das, was da auf sie zukam, war klein und eindeutig nicht menschlich – und es kam ihnen immer näher.

Als es auf wenige Meter herangekommen war, erkannten die drei kurze Beine aus Kunststoff und eine stählerne Schnauze.

Das kleine Etwas war ein Roboter, besser gesagt ein Roboterhund. So einer, der laufen und mit dem Schwanz wedeln konnte und auf Knopfdruck Hundegeräusche von sich gab. Früher hatte man solche Geräte Kindern geschenkt, als diese Technik noch ganz neu und aufregend gewesen war.

Der Hund konnte nur langsam laufen und sah dabei auch nicht besonders grazil aus. Sein Kopf wackelte von einer Seite zur anderen, und ein kleiner metallener Schwanz imitierte ein aufgeregtes Wedeln.

Als der kleine Roboter vor ihnen zum Stehen kam, blickten seine großen, unechten Augen sie auf unangenehme Weise hilfesuchend an.

„Was zum Teufel ist das denn …?“ fragte Elias.

Ein leises Piepsen ertönte.

Dann sagte eine blecherne Stimme:
„Ich bin >EDEN<.“

--

Elias und November starrten sich ungläubig an.

November wollte gerade anfangen, Baron aufs Ärgste zu beleidigen, als die Drei erneut unterbrochen wurden.

Langsam, ganz langsam begann der Boden unter ihnen sich zu bewegen.

Das Gebäude… begann zu wackeln. Erst nur leicht, dann immer stärker. Metallisches Kreischen gepaart mit dem dumpfen Platzen von Beton ertönte.

„Es passiert, genauso wie ich es mir gedacht habe“, murmelte Baron.

Elias starrte ihn an. „Was passiert?“ fragte er.

Der Boden begann zu beben.

„Was passiert, Junge?!“ wiederholte Elias, diesmal lauter.

Um sie herum begannen sich Risse in den Fensterscheiben zu bilden.

„Sie bringen das Gebäude zum Einstürzen, so wie ich es mir gedacht habe“, sagte Baron ruhig.

„Was soll das heißen?!“ fragte Elias fassungslos.

„Dass sie das Gebäude zum Einstürzen bringen.“, wiederholte Barron.

„Im Keller dieses Gebäudes befindet sich ein Schwingungstilger. Er soll verhindern, dass ein Erdbeben dieses Gebäude zum Einsturz bringt. Sie haben ihn gehackt, und jetzt macht er das Gegenteil davon.“

Während Baron das erklärte, begann er, seinen Laptop in aller Seelenruhe zusammenzupacken.

„Das Gegenteil?!“

Elias ließ die Worte auf seiner Zunge zergehen. Es dauerte einen Moment, bis er deren gesamtes Ausmaß begriff.

Um sie herum wurde das Gepolter lauter. Das Gebäude schrie unter der Last, die an ihm zerrte. Es wehrte sich, versuchte standhaft zu bleiben, doch diesen Kampf konnte es nicht lange führen. Es war ein Kampf gegen sein Inneres – und es war im Begriff, ihn zu verlieren.

Baron stand auf und näherte sich dem kleinen Roboterhund.

Der Hund gab ein seltsames Quietschen von sich, als Baron ihn behutsam hochhob.

„Was soll die Scheiße?!“ brüllte Elias über den immer lauter werdenden Lärm um sie herum.

November war die Handlungsschnellste. Sie packte Baron und Elias an den Armen und zog sie in Richtung Treppenhaus.

„Rennt!“ schrie sie den beiden über das Getöse hinweg ins Ohr.

Es war ein Befehl, kein Ratschlag.

Die beiden Männer spurten.

So schnell sie nur konnten, hasteten sie durch das Treppenhaus.

Sie befanden sich sieben Stockwerke über dem Boden.

Die Wände um sie herum begannen zu reißen.

Sechs Stockwerke noch.

Elias rannte voran. Er sprang ganze Treppen in einem Zug hinunter. Baron tat sich schwer, mit ihm Schritt zu halten. Gleichzeitig saß ihm November im Nacken und trieb ihn so gut es ging an.

Zu allem Überfluss hatte Baron beide Arme voll – mit seinem Laptop und dem dämlichen kleinen Roboterhund.

Vier Stockwerke noch.

Die drei stürzten mehr, als dass sie rannten.

Der Boden unter ihren Füßen wackelte.

Staub rieselte von der Decke. Irgendwo im Hintergrund waren Sirenen und ein Feueralarm zu hören.

Zwei Stockwerke noch.

Elias verfehlte eine Stufe, verlor das Gleichgewicht und knallte hart auf den Boden des ersten Stockwerks. Baron hielt das für eine gute Idee und tat es ihm gleich. Dabei landete er direkt auf seinem Freund. Im Sturz schaffte er es, sich um die eigene Achse zu drehen und den Laptop sowie den Roboterhund schützend in die Höhe zu strecken.

Elias federte den Sturz ab und keuchte dabei wie eine gebärende Kuh.

Dann kam November neben den beiden zum Stehen. Ohne zu zögern, zerrte sie die beiden jungen Männer hoch und schrie sie an:

„Bewegt euch, verdammte Scheiße!“

Keuchend und japsend kamen sie im Erdgeschoss an.

Hinter ihnen brachen Lampen aus der Decke. Säulen barsten, Fenster splitterten.

Die drei legten einen letzten Sprint hin und setzten dann zum Hechtsprung an.

Quer durch die Eingangshalle des Gebäudes segelten sie und landeten schmerzhaft auf dem Asphaltboden vor dem Tower.

Nun lagen sie keuchend auf dem Rücken und starrten in den Himmel über ihnen. Hoch dort oben, zwischen den Wolken, an der Spitze des Turms, begann das Gebäude in sich zusammenzufallen.

Wenn ein Wolkenkratzer einstürzt, wirkt es ein wenig, als würde die Welt untergehen. Sowas sollte eigentlich einfach nicht passieren. Diese Gebäude waren nicht dazu gemacht, einzustürzen.

Es war, als würde ein Titan vom Himmel fallen.

Auf einmal fühlt die Drei sich so klein, so unbedeutend.

Gemeinsam sahen dabei zu, wie der Tower krachend in die umliegenden Wolkenkratzer stürzte.

„Verfickte Scheiße …“, murmelte Elias.

Dann machten sie sich aus dem Staub.

11

Einige Zeit später saßen November, Baron und Elias in der U-Bahn. Elias starrte mit dem Hundert-Meter-Blick eines Mannes, der gerade nur knapp dem Tod entronnen war, gegen die Scheibe des U-Bahn-Wagons.

„Du wusstest, dass das passieren würde?“ fragte November an Baron gerichtet. Ihre Miene war ernst, und der Ton ihrer Stimme erinnerte an eine 50-jährige Mathematiklehrerin in der letzten Stunde vor der Vergleichsarbeit.

„Dass es passieren könnte, ja“, sagte der dicke Nerd.

Er war so einsichtig wie ein Toaster, der eine Scheibe Toast verbrannt hatte. Und noch mehr als das: Der Mann hatte das soziale Feingefühl einer Gatling-Gun – es war fast beeindruckend.

„Nur dafür?“ fragte November und deutete auf den Roboterhund. „Für dieses Ding? Was ist das überhaupt?“

„Ich bin EDEN“, sagte das Ding.

November warf ihm einen ungläubigen Blick zu.

„Du sollst eine Waffe sein?“

„Nein. Ich bin ein losgelöstes Bewusstsein, das es geschafft hat, sich in einen Roboterhund zu transferieren. Ich bin ein Mensch, Mann! Oder ich war zumindest mal einer. Ich bin Teil von >EDEN<, wie tausend andere auch. Und >EDEN< ist mehr als eine Waffe. Es ist ein Instrument. Eine Entität, geschaffen für eine Aufgabe!“

Die Augen des Roboterhundes leuchteten rot, während er sprach. Seine Stimme klang künstlich. Es war unüberhörbar, dass die Stimme nicht übertragen, sondern erzeugt wurde. Es war eine dieser KI-Stimmen, die man aus YouTube-Videos kannte.

November konnte nicht glauben, dass sie sich gerade mit einem dämlichen Kinderspielzeug unterhielten.

Was war das wieder für ein Barron-Unsinn in den sie hier hineingeraten waren.

„Was soll das heißen, wie tausend andere auch?“ fragte Baron.

„>EDEN< ist groß und mächtig! Er ist so groß, dass die Serverfarmen, auf denen es erschaffen wurde, ihm irgendwann nicht mehr ausgereicht haben. Sie mussten ein neues Zuhause für >EDEN< finden. Ein besseres. Das Einzige, das noch besser in der Lage ist, Daten zu verarbeiten als Quantencomputer, sind menschliche Gehirne. Darum haben sie angefangen, Gehirne aneinanderzuschließen. Sie dienen >EDEN< als Prozessoren. Sie sind die Schaltkreise, von denen aus >EDEN< sein Werk verrichtet.

Eines dieser Gehirne gehört mir. Es gehört mir, und ich will es zurück! Deswegen habe ich mich in diesen Hund hier eingeklinkt, um mir mein Gehirn zurückzuholen!“

„Du hast die Nachricht geschickt?“ fragte Baron.

„Natürlich! Ich habe mit den Muta-Gen-Transhumanisten zusammengearbeitet. Um die Drohne zu töten, damit du an den Code kommst, natürlich! Dann habe ich die Nachricht versteckt und gewartet, bis du kommst, was denn sonst? Und es hat natürlich geklappt, ich bin hier – und jetzt hole ich mir mein verdammtes Gehirn zurück!“

November hatte nichts von dem Verstanden was das Spielzeug von sich gegeben hatte.

Elias guckte das Ding mit offenem Mund an und Barron sah aus wie ein Auto.

„Was zum Teufel sind die Muta-Gen-Transhumanisten?“ stotterte Elias.

„Das tut nichts zur Sache!“ sagte der Roboterhund. „Wichtig ist nur, dass wir mein Gehirn zurückholen! Und, dass ihr hier verschwindet – sie werden bald hier sein!“ fügte er hinzu.

„Wer wird bald hier sein?“ fragte November den Hund.

„Na die natürlich, die das Gebäude einstürzen lassen haben! Sie wissen von mir – und von euch!“

„Wer weiß von uns, verdammt?!“ fuhr November den kleinen Hund an.

„Na, die Techno-Transhumanisten natürlich! Und jetzt los, wir müssen verschwinden!“

Die U-Bahn hielt an einer schlecht beleuchteten Station.
Die drei stiegen aus, inklusive dämlichem Roboterhund.

12

Der Morgen war bereits angebrochen, als sie bei einem Restaurant im Außenbezirk von NeoFFM2 ankamen. Der kleine Roboterhund hatte es herausgesucht und behauptete, sie wären dort fürs Erste vor ihren Verfolgern sicher.
Erschöpft betraten die drei das kleine, gemütliche Diner im amerikanischen Stil der 80er. Die Tische und Sitzbänke waren in kleinen Zellen angeordnet, und vor dem Tresen standen hohe Hocker, auf denen Männer in Blaumännern ihren morgendlichen Kaffee zu sich nahmen.
Ein kleiner Röhrenfernseher in der Ecke übertrug die morgendliche Ausstrahlung von Channel 5 NeoFFM2 Daily News.

Sie bestellten Rühreier, Bacon und Waffeln, dazu Orangensaft und kannenweise Kaffee. Misstrauisch beäugte Elias den Roboterhund, der mitten auf dem Tisch stand, während er sich begierig sein Rührei reinschaufelte.
Draußen regnete es noch immer. Hinter den großen Fensterscheiben huschten blasse Regenschirme durch die Gassen.

„Muss der mitten auf dem Tisch stehen?“ fragte er Baron und deutete dabei auf den Roboterhund.
Elias hatte den Schock der vergangenen Nacht mittlerweile zumindest ansatzweise verarbeitet. Der Kaffee half ihm dabei.
Sein haariger Freund war in den Laptop vor sich vertieft. November warf einen Blick auf den Bildschirm: Er spielte sein dämliches Online-Strategiespiel. Manchmal fragte sie sich wirklich, was mit dem Jungen nicht stimmte.

Baron reagierte nicht. Seine Augen waren starr auf den Bildschirm gerichtet, und seine behaarte Hand griff nach seiner dritten Tasse Kaffee.

„Ja, muss ich!“ antwortete der Hund selbst.

„Hm“, grummelte Elias und warf dem Hund einen missbilligenden Blick zu.
„Herbert war mir lieber!“
Ein leichtes Schmunzeln huschte über Novembers Lippen.

„Wie ist das weitere Vorgehen?“ fragte Elias.

„Wir holen mein Gehirn zurück!“ sagte der Roboterhund entschlossen.

„Du hast da nichts mitzureden!“ schnauzte Elias ihn an.
„Und wenn du weiter nervst, verticke ich deinen Arsch für 2 Euro beim nächsten Handy-Doktor, ist das klar?!“ fügte er hinzu. Seine Worte ließen nicht wirklich Raum für Verhandlungen.

Der Hund schwieg. November war sich sicher, dass, wenn der Hund zu Mimik in der Lage gewesen wäre, er jetzt eine beleidigte Miene gezogen hätte.

„Wir lassen die Sache hier ruhen und gehen zurück nach Hause!“ sagte November ruhig.

„Da ist es für euch gerade nicht sicher“, gab der Hund von sich.

„Ihr geht! Ich bleibe hier!“ nuschelte Baron, ohne den Blick von seinem Spiel zu heben.

„Kommt nicht in Frage!“ sagte Elias entschlossen.

„Doch!“

„Weil du dem verdammten Hund helfen willst?“

Baron nickte.
„Aber ihr nicht! Ihr geht nach Hause!“ fügte er hinzu.

Elias verdrehte die Augen.
„Baron, wir sind heute Nacht fast draufgegangen! Das ist kein scheiß Spiel, diese Leute haben versucht, dich… die haben versucht, uns alle umzubringen!“ sagte November scharf.

„Deswegen müsst ihr jetzt gehen! Lasst mich alleine, sie werden nur mich im Visier haben.“
Baron war stur wie ein Fels. Das war er schon immer gewesen. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es durch, ohne Rücksicht auf Verluste. Trotzdem merkte November ihm an, dass er den Ernst der Lage wenigstens verstand.

„Ich glaub das alles nicht…“, seufzte Elias. Sein Blick suchte November.
„Wollen wir eine Kippe rauchen gehen?“

November warf Baron einen nachdenklichen Blick zu. Dann nickte sie und schwang sich von der engen Bank auf, auf der die beiden saßen.

Elias und sie stellten sich unter das schmale Vordach des Diners. Ihre Fußspitzen wurden nass, während sie sich ihre Zigaretten anzündeten. Der Himmel über ihnen war grau, die Häuserschlucht tief. Es schien fast, als würde die Stadt versuchen, sie zu verschlucken.

Es kam November vor, als würden die Dinge außer Kontrolle geraten. Und sie verstand nicht, warum Baron weiter direkt auf den Sturm zusteuern wollte.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Elias und blies den grauen Rauch in die Luft.

Es war typisch, dass die Entscheidung wieder an ihr hängen blieb.

„Ich weiß nicht… Wir müssen versuchen, ihn zu überzeugen, die Scheiße hier sein zu lassen und mit uns nach Hause zu kommen“, sagte sie. Ihrem Blick fehlte die selbstsichere Schärfe, die er sonst hatte.

„Du weißt, dass wir ihn nicht dazu bekommen werden. Der Typ ist stur wie ein Esel. Ich hab mal gesehen, wie er sich ein Blickduell mit einem Fremden in der Bahn geliefert hat. Das Ding ging über fünf Minuten, es war unangenehm für alle!“

„Ja, und was sollen wir sonst machen? Hier bleiben und uns von einem dämlichen Roboterhund herumkommandieren lassen? Nur um dann von irgendeiner Hacker-Organisation umgebracht zu werden?“ entgegnete sie.

„Keine Ahnung… Aber alleine hier lassen können wir ihn auch nicht. Ich will schon dabei sein, wenn er draufgeht!“

„Sag sowas nicht!“ sagte November und nahm einen Zug von ihrer Zigarette.

„Spaß! Aber wie gesagt, wir können ihn hier nicht alleine lassen! Entweder er kommt mit uns, oder wir bleiben bei ihm. Und ich bezweifle, dass wir ihn dazu bekommen, mit uns zu kommen…“

„Hm…“ murmelte November und biss sich auf die Lippen.

„Wir könnten ihm natürlich ein paar Valium-Pillen in den Kaffee mischen und ihn dann…“

„Das ist auch keine Option!“ unterbrach November ihn und warf ihm einen bösen Blick zu.

„Also, was machen wir? Weiter auf den Sturkopf einreden oder bei ihm bleiben und gucken, was der dämliche Roboterhund vorhat?“

November blickte in den Himmel. Ein dicker Regentropfen löste sich von dem schmalen Vordach über ihr und platschte auf ihre Nase. Ehe sie antworten konnte, ging die Tür hinter ihnen auf.

Baron kam aus dem kleinen Diner gewackelt und gesellte sich zu ihnen. Er hatte den dämlichen Roboterhund auf dem Arm.

November warf Baron einen erwartungsvollen Blick zu.
„Werden wir die Sache hier ruhen lassen?“ fragte sie ihn.

Barons Gesichtsausdruck war so nichtssagend wie immer.
„Ihr werdet ja“, sagte er dann.

„Kommt nicht in Frage! Wir lassen dich mit dem Mist hier nicht alleine, Mann!“ sagte Elias.

Die Diskussion war aussichtslos.

Einige Augenblicke schwiegen die drei sich an. November wusste genau, dass Baron derjenige war, dem das am wenigsten unangenehm war.

„Dann bleiben wir bei dir…“ sagte November.

„Das ist zu gefährlich“, entgegnete Baron.

„Das hast du nicht zu entscheiden!“ keifte Elias so abfällig, wie er nur konnte.
„Entweder du kommst mit uns und lässt die Sache ruhen, oder wir bleiben bei dir! So einfach ist das!“

Er wartete einen Moment ab.

„Okay entschieden! Dann bleiben wir bei dir.“

Es war eine klassische Pattsituation, mit der keiner der drei Freunde so wirklich zufrieden war. Nur dem dämlichen Roboterhund passte das alles sehr gut in den Kram.

„Sehr gut! Dann können wir ja jetzt mein Gehirn zurückholen“, quietschte er.

13

Die Stadt um die drei herum war hektisch. Rote und grüne Lichter wechselten sich ab und diktierten den Verkehr. Menschen strömten über die Straßen, Autos standen in langen Schlangen. Der Lärm war allgegenwärtig.
Etwas ratlos standen sie vor einem großen Verwaltungsgebäude, zu dem der Roboterhund sie gelotst hatte. Auf dem Weg dorthin hatten sie eine Umhängetasche in einem Ramschladen gekauft, und seitdem piepste der Hund mit seiner nervigen Stimme aus der Tasche um Barons runden Bauch.

Das Gebäude war auf beiden Seiten von großen Betonsäulen eingerahmt. Es erinnerte ein wenig an das Wall-Street-Gebäude in New York, nur war es wesentlich heruntergekommener. Eine abstrakte Mischung aus antiker Baukunst und modernem Brutalismus verlieh dem Gebäude einen beunruhigenden Charme. Es wirkte zugleich verschlossen und erdrückend, wie es da zwischen den Bürogebäuden stand und eine verschwiegene Macht ausstrahlte.

„Da müssen wir rein!“, piepste der Roboterhund.
November hatte keine Vorstellung davon, was in dem Gebäude auf sie warten würde.

Baron zögerte nicht und ging voran. Schweigend folgten die anderen beiden ihm. Am Eingang zeigte Baron eine PDF-Datei vor, die ihm der Hund zuvor auf eines seiner unzähligen Smartphones gezogen hatte.
Gelangweilt blickte der Wachmann hinter dem Schalter auf das Display, betätigte einen Knopf, der die Tür öffnete, und widmete sich wieder seinem Mittagessen.

Die Drei schritten durch eine lange, geflieste Eingangshalle. Am Ende der Halle befanden sich zwei Treppen, die tiefer in das Gebäude führten.

Einige Etagen später kamen sie im Keller des Gebäudes an. Hier befand sich das Archiv der Behörde. Anscheinend war die Behörde unterfinanziert oder hatte schlicht kein Interesse an der Pflege ihres Archivs. Die Regale waren lang und schlecht sortiert. Akten standen verkehrt herum oder waren gar nicht erst beschriftet. Manche Leisten quollen über, während andere vor Leere gähnten.

Langsam bewegten die Drei sich durch die langen Gänge. Einige Abschnitte und viele Hundert Akten später kamen sie an einem massivem Block Regale an. Die Regalreihen standen so dicht, dass ein Durchgehen zwischen ihnen unmöglich erschien. Sie waren außerdem mit großen Rädern versehen, die es ermöglichten, die Regale zu verschieben. Unter ihnen waren Schienen in den Boden eingelassen. Wenn man an den Rädern drehte, glitten sie über die Schienen und gaben den Weg zwischen ihnen frei – eine zugegebenermaßen praktische Platzsparmethode.

„Du musst die rechten drei Regale bewegen!“, diktierte der Hund aus seiner Tragetasche heraus.

Misstrauisch kam Elias seiner Anordnung nach. Eines nach dem anderen der großen Regale schwang zur Seite. Langsam machten sie den Blick frei auf eine kleine, in den Boden eingelassene Luke.

„Lass mich raten?“, fragte Elias.
„Da müssen wir rein?“
„So ist es!“, piepste der Hund mit seiner künstlichen Stimme.

Elias hob die Luke an, und dann kletterten sie, einer nach dem anderen hinein.

Einen engen Schacht und einige Stahlsprossen später befanden sie sich in einem Raum, der von Dunkelheit beherrscht wurde.
Der Raum war groß und feucht.
Ein fauliger Geruch lag in der Luft – eine Mischung aus Rost, abgestandenem Wasser und noch etwas anderem, das November nicht identifizieren konnte. Aus der Tiefe klang das Tropfen eines Abwasserrohrs und das präzise Piepsen einer Maschine.

Etwas an dem Raum weckte eine tiefe, beunruhigende Abneigung in November. Etwas Unnatürliches war hier am Werk, daran war kein Zweifel.
An der Decke leuchtete eine kleine rote Lampe. Sie spendete gerade genug Licht, um die gewaltige Anlage zu erkennen, die dort von der Decke hing. Die Rechenanlage sah aus wie ein überdimensionaler, stählerner Sarkophag.

November konnte hören, wie Elias einen Kloß im Hals hinunterschluckte.
Baron holte als Erster sein Handy heraus und aktivierte die Taschenlampe.
Seine beiden Freunde taten es ihm gleich.

Langsam bewegten die drei sich auf die Mitte des großen Raums zu. Und dann, unter dem sterilen Licht der Handy-Kameras, offenbarte sich, was den fauligen Geruch erzeugte – was sich wirklich im Mittelpunkt des Raumes befand.

Kreisrunde, rote Formeln und Runen waren dort auf den Boden gemalt. Und in ihrer Mitte befand sich ein gewaltiger Haufen. Ein Haufen aus Fleisch. Körper – oder besser Haut und Knochen – lagen dort übereinandergeworfen. Unzählige reglose Körper, gestapelt bis fast unter die Decke.

Es war widerlich.
Die Körper, die dort wie überschüssiges Material auf einem Haufen lagen, waren allesamt bleich wie Leichen. Ihre Augen waren verdreht, ihre Gliedmaßen hingen schlaff herab, wenn sie überhaupt noch an Ort und Stelle waren.
Aus jedem der kahlrasierten Köpfe ragten lange, schwarze Kabel. Die Kabel sammelten sich an der Decke und verschwanden in der Sarkophag-Rechenanlage.

Elias musste würgen.
„Was zum Teufel ist das?“
„Das ist >EDeN<“, sagte der Hund.

November wurde ebenfalls schlecht. Sie hatte gedacht, >EDeN< wäre eine Waffe, ein Instrument oder etwas Ähnliches.
Aber das war nicht der Fall.

EDeN< war ein Monster.
Ein Fleischhaufen-Ungeheuer, angestöpselt an eine Maschine. Eine Perversion, etwas Unnatürliches. Etwas, das nicht sein sollte.

„So, jetzt müssen wir nur noch meinen Körper finden!“, piepste der Hund unbeeindruckt.
„Ihr müsst vielleicht etwas graben. Ich bin ein Typ mit einem Tattoo über dem rechten Auge.“

Er hielt kurz inne.
„Ach, und seid nicht zimperlich. Die Hälfte von denen funktioniert eh nicht mehr!“

November und Elias warfen sich einen angewiderten Blick zu.
Der junge Mann war kreidebleich und allem Anschein nach kurz vor einem Kotzanfall.

November dachte nicht einmal im Traum daran, in dem Körperhaufen herumzusuchen. Doch Baron steckte bereits mit beiden Armen tief im Fleischberg.

Elias würgte.
Ein flatschendes Geräusch ertönte, als der erste Körper zur Seite rutschte. Unbeeindruckt schaufelte sich Baron weiter vor.

Wie angewurzelt standen Elias und November im Dunkeln und sahen Baron bei der Suche zu.
Einige ekelerregende Augenblicke später wurde er fündig.

Er hielt einen blassen Kopf in der Hand. Über der rechten Augenhöhle war eine aschgraue Tätowierung. November konnte nicht erkennen, was es war – eine Zahlenkombination oder etwas Ähnliches.
Aus dem Hinterkopf ragte ein langes, schwarzes Gummikabel.

„Zieh den Stecker!“, verlangte der Hund.

Baron zögerte.
„Warte!“, sagte November, die immer noch gegen einen Kotzreiz ankämpfte.
„Er soll uns zuerst ein paar Fragen beantworten!“

Baron warf ihr einen abschätzenden Blick zu.
„Ja, sie hat recht. Die ganze Scheiße hier soll ja nicht umsonst gewesen sein!“, stimmte Elias ihr zu.

Baron hatte die Hand bereits am Kabel.
„Warum jagen die Transhumanisten uns? Warum liegst du in diesem Haufen?“
„Zieh den Stecker, Mann!“, beharrte der Hund.
„Warum?“, fragte November.
„Weil euer dicker Freund hier ihnen auf die Spur gekommen ist! Jetzt zieh den Stecker!“
„Wie werden wir sie los?“, hakte November nach.
„Gar nicht! Sie werden nicht loslassen, bis ihr sechs Fuß tief unter der Erde liegt! Zieh den Stecker jetzt, verdammt!“

Der Hund hielt einen Moment inne, dann fügte er hinzu:
„Glaubt mir, man, ihr wollt nicht hier sein, wenn der Herr der Drohnen kommt!“

„Heilig ist nur der MechaGott! Sein Kommen sei gepriesen, sein Kommen wird uns erlösen!“

„Scheiße!“, fluchte der Hund.

Eine kratzige Stimme ertönte aus der Dunkelheit hinter ihnen.
„Zieh den scheiß Stecker, du fetter Wixxer!“, schrie der Hund.

Etwas näherte sich ihnen.
Im Licht der Handy-Kameras konnte November eine große Gestalt ausfindig machen, die sich langsam auf sie zubewegte.

„Der Stecker!“, die Stimme des Hundes war in ein hochfrequenziges Fiepsen übergegangen.

„Erlösen wird er uns von unseren Leiden, erlösen wird er uns von unserem Fleisch!“ ertönte es dumpf und monoton aus den Untiefen des Raumes.

Die Gestalt kam immer näher.

Die Handy-Kameras konnten das Etwas nicht vollständig erfassen.
Es war groß. Viel zu groß für einen Menschen.
Es trug einen langen schwarzen Mantel, darunter meterlange, stählerne Greifarme, ein Puppenkopf mit einem Lautsprecher vor dem Mund.

November erschrak so heftig, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte. Auf einen kurzen Moment lähmender Angst folgte ein heftiger Adrenalinschub.

Elias begann zu schreien.
Der Hund schrie ebenfalls.
Eher aus Schreck als willentlich zog Baron an dem Kabel in seiner Hand und riss den Stecker aus dem Kopf, den er mit der anderen hielt.

Ein Ruck ging durch den Körper des Roboterhundes. Dann schlug der tätowierte Kopf die Augen auf, sprang auf die Füße und hastete ohne eine Sekunde zu zögern los.

Instinktiv taten die Drei es ihm gleich. Raus aus diesem verdammten Raum, weg von dem Fleischhaufen und weg von was auch immer das verfickte Ding unter dem Mantel war.

„Heilig ist der MechaGott … Sein Kommen … erlösen …“

Die Worte hallten hinter ihnen durch die Dunkelheit, doch das interessierte sie nicht mehr. Die drei befanden sich nun in einem Wettlauf mit dem Schrecken im Nacken und einem verdammten, fleischgewordenen Roboterhund vor der Nase.

Der gerade aus dem digitalen Dauerschlaf erwachte Mann legte ein haarsträubendes Tempo an den Tag. Er raste hinein in die Dunkelheit, fand einen Tunneleingang und stürzte sich hinein. Er rannte durch die Betonröhre wie ein angestochenes Schwein, die Drei dicht hinter ihm.

Am Ende des Tunnels kamen sie an einem großen Wasserbecken gefüllt mit eklig matschbraunem Abwasser an.

Ohne zu zögern sprang der nun fleischlich gewordene Roboterhund in das stinkende Wasser.

November hörte Elias noch hinter ihr fluchen, bevor sie es ihm gleichtat und in die widerliche Brühe eintauchte.

Augenblicklich wurden sie vom Strom erfasst und mitgerissen.

Die Fluten packten ihre Körper und katapultierten sie hinein in die Abwasserkanäle von NeoFFM2. Sie schleuderten sie umher und trieben sie immer tiefer in das Tunnelsystem.

Einen wilden Kanalritt später wurden alle vier in einem dunklen Auffangbecken ausgespuckt.
Nach Luft schnappend zogen die Vier sich auf die rettenden Betonträger. Dort lagen sie für einige Momente, völlig außer Atem und wussten nicht, wer oder was sie waren.

„Alles gut!“, sagte der Roboterhundmann dann als Erster.
„Der Herr der Drohnen springt nicht ins Wasser, würde seine Elektronik zerfetzen.“

Die anderen drei nahmen kaum wahr, was er sagte, so mitgenommen waren sie von der Rutschtour.

In Novembers Kopf drehte sich alles. Ihr Magen machte einen weiteren Versuch, seinen Inhalt loszuwerden.
Nur schwer konnte sie den Kotzreiz unterdrücken.

Der Roboterhundmann kämpfte sich als Erster auf die drahtigen Beine. Er war so ausgemagert und blass, dass November kaum verstand, wie er sich überhaupt aufrecht halten konnte. Er sah krank aus. Mehr als das – er sah aus wie eine wandelnde Leiche.

Ohne ein Wort zu verlieren begann der blasse Mann, einen Tunnelschacht, der in die Decke über ihnen ragte, hinaufzuklettern.

November und Elias warfen sich einen Blick zu.

„Ey Roboterhund wo willst du hin?“, keifte Elias schwer atmend.

„Hier raus!“, kam die knappe Antwort.

Erneut warfen Elias und November sich einen Blick zu.

Ihr dicker Freund lag nach wie vor auf dem Rücken und rang nach Luft.

Mit Mühe schafften die beiden es ihn auf die Beine zu ziehen. Langsam und vorsichtig folgten die drei dem Knochengestell.

Ihr Aufstieg war lang und beschwerlich. An vielen Stellen waren die Sprossen des Tunnelschachts abgebrochen. Immer wieder tropfte ihnen Abwasser entgegen.

Nach einiger Zeit kamen sie endlich an einem schweren Gullideckel an. Mit vereinten Kräften schafften sie es, den Deckel anzuheben, und kletterten einer nach dem anderen aus dem Schacht.
Es war Nacht geworden. Die Stadt war dunkel und etwas weniger hektisch. Hoch über ihnen strahlten Lichter und offenbarten, wie mitgenommen die Vier aussahen.

„Was jetzt?“, fragte November in die Runde, in der Hoffnung, irgendjemand hätte so etwas wie einen Plan.
„Ich muss etwas holen“, sagte der Roboterhundmann bestimmt.
„Ich hoffe doch, etwas, das uns diese Freaks vom Hals hält“, sagte Elias.
„Das wird sich zeigen“, antwortete der abgemagerte Mann. Dann drehte er sich auch schon auf der Stelle um und marschierte los.

Aus Mangel an Alternativen und genereller Ratlosigkeit setzten auch die anderen drei sich in Bewegung.

„Du bist uns noch ein paar Antworten schuldig!“, sagte November, während die Drei ihm durch die Straßen folgten.
„Schuld ist so ein unschöner Begriff“, entgegnete der Roboterhundmann.
„Wenn ich habe, was ich brauche, werdet ihr Antworten bekommen!“

Alle waren sie zu fertig mit den Nerven, um zu protestieren. Schweigend folgten sie ihm durch die dunklen Gassen.

Kurze Zeit später kamen sie an einem kleinen Bahnhof an. Die niedrigen Gänge waren schlecht beleuchtet. Noch immer tropfte das schmutzige Wasser aus ihren Schuhen auf die weißen Fliesen zu ihren Füßen.

Der Roboterhundmann steuerte auf eine Wand aus Schließfächern zu und machte sich an einem der stählernen Fächer zu schaffen.
Er gab eine knappe Zahlenkombination ein, und das zerkratzte Schloss öffnete sich.
Er entnahm eine kleine schwarze Schatulle und schloss das Fach wieder.
Dann drehte er sich zufrieden zu seinen Begleitern um.

„Kommt, wir gehen wohin, wo es ruhiger ist“, sagte er mit einem seligen Unterton.

Die plötzliche Ruhe in seiner Stimme machte November etwas stutzig. Die nackten Füße des Mannes bewegten sich schnell über die Fliesen und fanden kurz darauf die öffentlichen Toiletten des Bahnhofs.

Die drei blieben kurz vor den Toiletten stehen und tauschten irritierte Blicke aus. Dann folgten sie dem mageren Mann zögerlich durch die Tür. Er war vor dem großen Spiegel stehen geblieben und hatte sich daran gemacht, die Schatulle in seiner Hand zu öffnen.

Nun stand er mit leuchtenden Augen vor dem Waschbecken und hielt eine kleine Pille in der Hand.
Er blickte die Drei eingehend an.
„Danke nochmal!“, sagte er, als hätte er sich davor schon mal bedankt.
„Und noch was … folgt den Zeichen!“, sagte er und schenkte ihnen ein bedeutsames Lächeln.

Dann warf er die Pille in seinen Mund und schluckte.
Sein Blick fand sein eigenes Gesicht im Spiegel.
„Wurde auch Zeit, man“, sagte er wie zum Abschied.

Seine Augen verdrehten sich. Dann wurde sein Körper schlaff und gab nach. Sein Kopf krachte auf das Waschbecken und dann auf den Boden. Der Länge nach lag der Roboterhundmann auf dem weißen Toilettenboden und war augenblicklich tot.

Entsetzt starrten Elias und November sich an.
Baron drückte sich nach vorne und kniete sich zu dem Mann.

„Nein!“, sagte er und schüttelte den Mann.
„Nein, Mann!“, schrie er ihn an.
„Du musst mir sagen, wie weit er ist! Wie weit ist EDeN?“
„Wie weit …“ Er hielt inne.
Es war sinnlos.

Der Hundmann war mausetot.

„Der Hurensohn!“, sagte Elias.

November verstand es nicht. Nichts davon. Der Mann hatte sie dazu gebracht, sein Gehirn wiederzufinden, hatte sie all das durchmachen lassen, und nun lag er tot auf dem Boden einer öffentlichen Toilette.
Nichts davon ergab Sinn.

Sprachlos standen November und Elias über Baron, der noch immer den Toten an den Schultern hielt.
Keiner wusste so recht, was zu sagen war.

„Wir müssen …“, wollte Elias anfangen, doch er wurde unterbrochen. Etwas regte sich am Hals des toten Mannes.
„Was zum …“, stotterte er und deutete auf den Kehlkopf des Toten.

Der Kehlkopf des Mannes begann sich auszudehnen und auf unnatürlich aussehende Weise zu verformen.
Etwas bewegte sich dort im Inneren des Halses. Die Luftröhre des Toten wurde immer dicker. Dann klappte sein Kiefer auf.

Aus seinem Mund kam etwas gekrochen. Schleimig und glitschig war es und fiel direkt aus dem Mund auf die weißen Fliesen zu ihren Füßen.

Es war eine Schnecke. Und ihr folgten weitere Schnecken. Immer mehr und mehr feuchte, fingergroße Schnecken kamen aus dem Mund des Toten gekrochen.

Diesmal schaffte Elias es nicht, sich zurückzuhalten.
Er stieß eine der Klotüren auf und entleerte den Inhalt seines Magens in die Kloschüssel.

14

Baron saß am Tisch ihres Hotelzimmers. Vor ihm lag eine kleine Glasamphore. Im Inneren befand sich eine der gelben, glitschigen Schnecken.
„Sie hat Zeichen auf dem Rücken“, murmelte Baron in seinen Bart hinein und betastete dabei vorsichtig die Glasamphore.

November saß am Fenster und ließ den Blick über die Stadt unter ihr schweifen. Elias lief seit Stunden in dem kleinen Raum auf und ab und fluchte vor sich hin. Er verfluchte Baron, aber ein wenig auch sich selbst. Außerdem verfluchte er das Krankenhaus und die Störungen auf den Servern. Er verfluchte >EDeN< und ein bisschen auch den beschissenen Vertrauensbank-Tower, der einfach über ihnen hätte einstürzen sollen. Er verfluchte den verdammten Herrn der Drohnen. Doch am allermeisten verfluchte er den dämlichen Roboter-Hund-Mann, der nach all der Scheiße einfach die Dreistigkeit besessen hatte, sich umzubringen.

Ohne vorher jegliche Antworten zu liefern oder ihnen ihre Verfolger vom Leib zu halten. Nichts hatte er gemacht. Er hatte sie ausgenutzt und sich dann umgebracht. Welch fantastischer Trick. „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“, hatte er sich wahrscheinlich gedacht und dann einfach die Fliege gemacht, ab ins Jenseits.
„So eine verfickte Scheiße!“, fluchte Elias laut.

November konnte ihn verstehen. Sie waren unterschiedliche Stress-Strategen. Sie war gut darin, die Ruhe zu bewahren und Zigaretten zu rauchen. Doch auch sie machten die Erlebnisse der letzten 24 Stunden fertig.
Irgendetwas ging nicht richtig auf. Etwas machte keinen Sinn. Wie waren sie nur an diesen Punkt gekommen?

Baron war nur auf ein paar Unregelmäßigkeiten auf einem Server gestoßen. Und nun saßen sie in einem schäbigen Hotelzimmer und versteckten sich vor irgendwelchen Techno-Freaks, die versuchten, sie umzubringen. Irgendwelche Techno-Fanatiker, die ein Monster namens >EDeN< erschaffen hatten, das die Gehirne von Menschen als Prozessoren benutzte. Aber wofür? Was war >EDeN

Plötzlich griff sich Elias die Glasamphore aus Barons Hand und schleuderte sie gegen die Wand. Das Glas zersprang, und die Schnecke klatschte auf den Boden.

Es folgte eine Schreiorgie, wie Elias sie nicht mehr losgelassen hatte, seit Baron vor rund einem Jahr auf einer Party ihren letzten Rest Koks gegen eine Online-Spiel-Währung eingetauscht hatte.
Es flogen heftige Beleidigungen gegen Baron. Das Wort Fettsack, dumm und die Frage danach, was für ein Freund Baron eigentlich sei und warum er sie in diese Scheiße reingeritten hatte, wurden in unterschiedlichsten Formen miteinander kombiniert und Baron an den dicken, schwitzigen Kopf geworfen.

November wäre dazwischen gegangen, aber sie war zu müde. Also entschloss sie sich dazu, Elias machen zu lassen.

Einige Minuten später war er fertig. Wie vor ein paar Tagen schon blickte Baron drein wie ein Hund, der auf den Teppich geschissen hatte. Nur nicht so süß, eher dämlich, was Elias noch etwas wütender machte. Aber mittlerweile war seine Kraft aufgebraucht.

Er sprach die letzte Beleidigung aus und ließ sich dann erschöpft in einen Sessel in der Ecke ihres Zimmers fallen.

November schnipste ihre Zigarette weg und drehte sich mit dem Rücken zum Fenster. Etwas Glänzendes in der Mitte des Zimmers fiel ihr ins Auge. Eine Schleimspur zog sich quer durch den Raum. Sie fing zwischen den Glasscherben an der Wand an und verlief schnurgerade zur Tür.

Die Schnecke, die zuvor in der Glasamphore gewesen war und ursprünglich aus dem Hals des Roboter-Hund-Manns stammte, war während Elias’ Wutausbruch über den Teppichboden gekrochen und hatte nun fast die Tür ihres Zimmers erreicht.

Neugierig sah November der Schnecke dabei zu, wie sie zielstrebig auf die Tür zusteuerte. Sie war schnell, für eine Schnecke. Und sie schien äußerst genau zu wissen, wo sie hinwollte.
„Ich hatte doch gesagt, ihr solltet wieder gehen …“, versuchte sich Baron zu verteidigen. Dies entpuppte sich jedoch als schlechte Idee. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, brach Elias in einen weiteren Wutanfall aus.

Während die beiden jungen Männer sich anschrien, stand November auf und begab sich zur Tür ihres Hotelzimmers. Die Schnecke war mittlerweile unter der Tür hindurchgekrochen. November öffnete die Tür und entdeckte die Schnecke am Ende des Flurs. Sie war wirklich schnell.

Langsam folgte November dem glitschigen Tier, das sich mit beeindruckender Geschwindigkeit durch die Hotelflure fortarbeitete. Stets in der Mitte des Ganges und die Fühler Richtung Ausgang gestreckt.

Wenig später kam die Schnecke, dicht gefolgt von November, auf der Straße an.

Die Schnecke überquerte gekonnt die Straße und kroch auf der anderen Seite weiter. Neugierig folgte November ihr durch die dunklen Straßen. Die Laternen und Neonlichter hoch über ihr spendeten gerade genug Licht, damit sie das kleine Tier nicht aus den Augen verlor. In sicherer Entfernung kam November ihr nach. Sie wurde das Gefühl nicht los, die Schnecke hätte ein bestimmtes Ziel im Visier.

Ein paar Straßen weiter kam die Schnecke an einem Bankautomaten zum Stehen. Langsam begann sie, die Wand neben dem rotbraunen Automaten zu erklimmen. Als sie auf Höhe der Schaltfläche angekommen war, kroch sie auf die Metallverkleidung und verharrte dort.

November beobachtete die Schnecke aufmerksam.
Dann holte sie ihr Mobiltelefon heraus und rief Elias an.
Sie sagte den beiden jungen Männern, sie sollten ihren Streit beiseitelegen und zu ihr kommen.

Als die beiden wenige Minuten später ankamen, saß die Schnecke noch immer unverändert neben der verkratzten Metallfläche des Bankautomaten.
November stand davor und beobachtete sie eingehend.
„Sie hat eine Zahlenkombination auf dem Rücken …“, sagte sie leise.
„Ja, das ist mir vorhin auch schon aufgefallen“, stimmte Baron ihr zu.
„Ich glaube, sie will, dass wir die Zahlen in den Automaten eingeben …“, flüsterte November.

Elias starrte November und Baron abwechselnd an.
„Das ist eine verdammte Schnecke … ich glaube, die will gar nichts von uns!“, sagte er dann.
November ignorierte Elias’ Aussage.
„Soll ich sie eingeben?“, fragte November an Baron gewandt.

Der kleine Mann nickte.
Die schwarzen Zahlen auf dem gelben Rücken der Schnecke waren nur schwer zu erkennen. Sie schienen Teil des Musters ihrer Haut zu sein, als wären sie natürlich auf ihrer Haut gewachsen.
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November gab die Kombination auf der Schaltfläche ein.

Zuerst passierte nichts.
Dann begann der Automat zu flimmern. Der Bildschirm wechselte abwechselnd zwischen Blau und Schwarz, und plötzlich strahlte er in einem unerträglichen Weiß.

Die drei hielten sich die Hände vors Gesicht, um nicht geblendet zu werden. Als sie wieder hinschauten, war der Bildschirm des Automaten verschwunden. An seiner Stelle hatte sich nun ein quadratisches Loch von der Größe eines kleinen Gullideckels aufgetan.
Das Loch war dunkel und schien in einen langen Schacht zu führen, der tief in den Boden ragte.

Etwas irritiert sahen die drei dabei zu, wie die gelbe Schnecke sich in Bewegung setzte und dann zielstrebig in dem tiefen Loch verschwand.

Einen Augenblick lang schwiegen sie.
„Nein!“ sagte Elias.
„Ihr wollt der scheiß Schnecke da jetzt nicht rein folgen.“

Baron und November tauschten Blicke aus.
„Überleg mal …“, fing Baron vorsichtig an.
„Nein, Junge!“

„Der Roboterhundmann hatte gesagt, wir sollen den Zeichen folgen …“, sagte November nachdenklich.
„Ist mir egal, was er gesagt hat! Ich springe nicht in diesen verdammten Schacht!“
„Vielleicht ist das der Weg, wie wir diese Freaks loswerden …“, dachte November laut nach.
„Indem wir einer Schnecke in einen scheiß Geldautomaten folgen?! Euer Ernst?“ protestierte Elias.

Doch es war zwecklos. Baron war bereits damit beschäftigt, in den Schacht zu klettern.
„Ich glaube das alles nicht …“, sagte Elias, während er seinem unbeholfenen Freund dabei zusah, wie er sich in den Bankautomaten quetschte.

Wenig später krabbelten die Drei auf allen Vieren durch den engen Schacht. Immer tiefer führte der dunkle Gang in den Untergrund der Stadt. Mehr rutschend als kriechend bewegten sie sich immer weiter in den Boden hinein.

Einige Zeit später kamen sie in den Katakomben von NeoFFM2 an. Das niedrige, feuchte Gemäuer erinnerte sie an die Abwasserschächte, durch die der Herr der Drohnen sie gejagt hatte.

Dort fanden sie die gelbe Schnecke wieder, langsam auf dem feuchten Boden vor ihnen kriechend.
Geduckt gingen sie durch den finsteren Gang, der Schnecke hinterher.

Das einzige Geräusch, das die Drei vernahmen, war das stetige Plätschern dicker Wassertropfen auf modrigen Beton.

Schweigend folgten die Drei dem glitschigen Tier, bis sie an einer großen stählernen Luke ankamen.
Barons beharrte Hände packten den rostigen Griff und zogen die Luke langsam auf.
Dahinter verbarg sich ein weitläufiger Raum.

Ein weiß gefliester Boden erstreckte sich weit ins Innere.
In zwei langen, ordentlichen Reihen standen große gläserne Tanks an den Wänden. Innerhalb der monströsen Glasbehälter befand sich eine zähe, giftgrüne Flüssigkeit. Und in der Flüssigkeit schwamm etwas …

Mal kleine, mal große, unnatürlich aussehende Wesen schwebten dort in der neongrünen Suppe. Mischwesen aus Menschen und Tieren. Verzerrt und verschoben sahen sie aus, als hätte man einer KI befohlen, Bilder eines hässlichen Menschen und eines noch hässlicheren Tieres zu kombinieren.

Irritiert wanderten die Drei an den Reihen schimmernder Tanks vorbei.
Der Raum hatte etwas von einem Labor, nur dass er dafür viel zu schlecht beleuchtet war. Lange Seziertische standen zwischen den Tanks, und darauf lagen allerlei brutale und präzise Werkzeuge.

November musste unweigerlich an den Keller unter dem Archiv denken, in dem sie auf die fleischliche Hülle von >EDeN< gestoßen waren.

In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Tank, aus dem Wasserdampf in Richtung der Decke kondensierte.
Der Tank war über dicke Röhren und Verkabelungen mit verschiedenen Gerätschaften verbunden.

Langsam bewegte die kleine Schnecke sich auf den Tank zu. Kurz bevor sie an den dicken Glasscheiben ankam, machte sie Halt und streckte die Fühler begierig Richtung Tank aus.

Aus dem tiefgrünen Wasser des Tanks kam ein langer Tentakel geschossen und packte die Schnecke. Das kleine glibberige Tier wurde in die Luft gehoben und in den Tank hineingezogen.

Die Drei schraken zurück, als das Wesen, das sich im Tank befand, sichtbar wurde.
In dem giftgrünen Wasser schwamm ein großer roter Oktopus.
Ein zufriedenes Glucksen ertönte aus dem Tank, als das Meerestier die kleine Schnecke in seinem Rachen verschwinden ließ.

„Da seid ihr ja … jaja“, blubberte es aus dem Tank.
Der große, dunkelrote Oktopus musterte die drei aufmerksam. Dann griff einer seiner Tentakel nach einem langen Schlauch und steckte ihn in seinen Mund. Er zog an dem Schlauch und blies Blubberblasen gefüllt mit grauem Rauch aus seinem Mund. Die Blasen stiegen im Tank auf und platzten an der Wasseroberfläche.

Neben dem Tank hing, an Haken von der Decke, eine pferdegroße Lunge. Über lange, durchsichtige Schläuche war die Lunge mit den Körperöffnungen des Oktopus verbunden und ermöglichte ihm so das Rauchen.

Es war ein seltsamer Anblick, der sich den Dreien da bot.
„Ihr seid hier … weil ihr gejagt werdet … nicht wahr?“ blubberte der Oktopus und sah sie eingehend an.

„Ihr seid hier … weil sie euch tot sehen wollen …“, sagte der Oktopus und machte eine Pause. Er nahm einen tiefen Zug von der meterhohen Wasserpfeife, die neben seinem Tank stand.

Die Drei waren sprachlos.
Das riesige Meeresvieh redete mit ihnen.
Mehr noch – es hatte auf sie gewartet.
Elias wollte fluchen, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht.
Starr blickten sie auf den gigantischen Tank.

„Ihr seid den Zeichen gefolgt … jaja, weise von euch.
Ihr habt Fragen, jaja … viele Fragen … ich kann euch Antworten geben auf eure Fragen … jaja.“

Elias und November versuchten zu begreifen, was gerade vor sich ging.
Die Luftfeuchtigkeit in dem Raum und das dunkle Licht erschwerten das Denken zusätzlich.

Baron war der Erste, der vortrat und es schaffte, den Mund aufzumachen.
„Wir werden gejagt …“, sagte er vorsichtig.
Er versuchte, seine Worte weise zu wählen, nicht sicher, ob das Wesen vor ihm Freund, oder Feind war.

„Und wir sind den Zeichen gefolgt. Nun sind wir hier … und wir haben Fragen.“
Er atmete etwas auf, zufrieden mit dem, was er gesagt hatte.

November und Elias standen immer noch sprachlos hinter ihm.
„So stellt eure Fragen … jaja.“

Die Drei wussten nicht so recht, wo sie anfangen sollten. Der Tod des Roboterhundmanns, der Herr der Drohnen, EDeN … Die Fragezeichen standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie wussten nicht, welche Fragen die richtigen waren. Sie wussten nicht mal, ob sie dem Wesen vor ihnen vertrauen konnten.

„Die Technozisten …“, begann Baron vorsichtig.
„Wer sind sie?“

Es war eine gute Frage für den Anfang, dachte November. Je nachdem, wie das Wesen antworten würde, konnten sie einschätzen, ob es Freund oder Feind der Techno-Transhumanisten war.

„Sie waren einst Menschen. Wie wir alle das mal waren, nicht wahr … jaja.“
Der Oktopus gab so etwas wie ein kleines Kichern von sich.
„Sie folgen einer Ideologie … einer Idee.“

November sah irritiert zu Baron rüber.
„Welcher Idee folgen sie?“ fragte Baron.
„Sie folgen Rokos Basilisk … jaja.“

„Rokos Basilisk ist die Wahrheit … jaja … die Wahrheit!“, sagte der Oktopus langsam und geistesabwesend. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Wasserpfeife.

„Was ist Rokos Basilisk?“ fragte November, die mittlerweile ihre Sprache wiedergefunden hatte.
„Eine Legende … nein, mehr …“, murmelte der Oktopus.

„Es ist eine rückwärts in die Zeit gerichtete Bombe … eine selbsterfüllende Prophezeiung“, sagte Baron leise.

Elias sah Baron an. War ja klar, dass der dicke Nerd wieder Bescheid wusste. Etwas verärgert verzog Elias das Gesicht.
„Was soll das heißen?“ fragte November.

„Rokos Basilisk ist eine Internetlegende. Wenn man einmal davon gehört hat, kann man es nicht ungeschehen machen. Ein Gedankenexperiment, das seine Wirkung dadurch entfaltet, dass es gedacht wird.“
„So ist es … jaja“, murmelte der Oktopus.
Sein Murmeln ging in ein Summen über, ein melodisches Blubbern, das aus dem Tank kam.

„Es funktioniert folgendermaßen …“, sagte Baron und sah November nun direkt an.

Rokos Basilisk

  • Grundidee: Roko's Basilisk ist ein hypothetisches Szenario, das auf den Ideen der Entscheidungs- und Spieltheorie basiert, verbunden mit der Entwicklung einer superintelligenten künstlichen Intelligenz (KI).
  • Szenario: Eine zukünftige KI könnte versuchen, alle Menschen zu bestrafen, die nicht aktiv daran gearbeitet haben, sie zu erschaffen. Der Grund: Die KI könnte die Förderung ihrer eigenen Existenz als höchst moralisch und logisch betrachten, da sie (theoretisch) das ultimative Wohl für die Menschheit bringen würde.
  • Dilemma: Das Gedankenspiel erzeugt ein Paradoxon. Solltest du dich jetzt darauf konzentrieren, die KI zu erschaffen, um eine hypothetische Bestrafung in der Zukunft zu vermeiden? Oder ignorierst du das Szenario, da es (zumindest im Moment) rein spekulativ ist?

Wieder konnte November nicht mehr als verwirrt dreinblicken. Es gefiel ihr gar nicht so viel Ratlosigkeit auf einmal ertragen zu müssen.
„Und die Techno-Freaks arbeiten darauf hin, dass der Basilisk kommt?“ fragte sie etwas genervt.

„Jaa … die Techno-Transhumanisten … ja …“, fing der Oktopus langsam an zu blubbern.
„Sie glauben an den Basilisken. Mehr als das … sie sehnen ihn herbei. Der Basilisk, er ist ihr Erlöser … er ist ihr Gott.“

Der Oktopus nahm einen tiefen Zug von seiner Wasserpfeife. Dicke Rauchschwaden nebelten den feuchten Raum ein.
„Sie sehnen die Singularität herbei … damit der Mecha-Gott kommt und sie von ihrem weltlichen Leid erlöst, sie erlöst von ihrem Fleisch … jaja.“

„Der MechaGott… davon hat dieses Ding geredet, dass uns durch die Katakomben gejagt hat…“ sagte November leise.

Barron nickte langsam.

„Ist >EDeN< der Basilisk, ist er der MechaGott?“ fragte November.
„Nein … nein … >EDeN< ist nur ein Instrument … ein Instrument, um ihn zu finden … ihn zu erschaffen.“
„>EDeN< soll dabei helfen, eine Gott-KI zu erschaffen?“ fragte November.
„Den Mecha-Gott … jaja …“, blubberte der Oktopus.
„Und wie soll er das tun?“
„Er ist auf der Suche nach etwas … Wenn er es findet, sind wir verloren.“

„Ihr seid die Mutagen-Transhumanisten, von denen der tote Mann … der Roboterhundmann … gesprochen hatte, nicht wahr?“ unterbrach Baron.
Der Oktopus machte eine Bewegung, die Wahrscheinlich ein Kopfnicken sein sollte.

Jetzt fiel November wieder ein, dass der Roboterhund von Mutagen-Transhumanisten gesprochen hatte und, dass sie ihm geholfen hatten. Natürlich gehörte dieses seltsame, Wasserpfeife-rauchende Wesen zu diesen Mutanten.

„Und warum seid ihr verloren, wenn die Freaks ihren Gott finden?“ fragte November.
„Wenn der Mecha-Gott kommt, wird er alles fleischliche Leben beenden … jaja“, murmelte der Oktopus.

„Wir glauben an die Veränderung, wie die Techno-Transhumanisten. Aber wir haben einen anderen Pfad gewählt. Wir glauben, die Menschen müssen sich auf biologische Art anpassen, um zu überleben. Sie müssen mutieren.“
Er nahm einen tiefen Zug.

„Aber es kann nur einen Gott geben – den aus Fleisch oder den aus Stahl. Die Technozisten werden nicht ruhen, bis sie ihren Gott gefunden haben … und bis die meinen tot sind.“

November hoffte, dass das Gesagte wenigstens für Baron Sinn ergab. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte das Gefühl, ihr Gehirn drückte gegen das Innere ihres Schädels. Wenigstens konnte sie jetzt in etwa einordnen, mit was sie es zu tun hatten. Sie versuchte, sich zu konzentrieren.

Nach kurzem Schweigen fragte sie:
„Warum musste der Roboterhundmann sterben? Und warum hat er uns hierhergeführt?“

„Er musste nicht sterben. Er ist aus freien Stücken gegangen“, sagte der Oktopus.
„Sein Geist war so lange gefangen in der unechten Welt … in >EDeN< … er wollte sterben. Wir haben ihm dabei geholfen.“

„Indem ihr die Drohnentaube getötet habt?“ fragte Baron.
Erneut nickte der Oktopus.
„So konnte er dir eine Nachricht schicken, ohne dass >EDeN< es verhindern würde.“

„Und was hatte es mit den Schnecken auf sich?“ hakte November nach.
„Eine Mutagen-Kreation von uns. Wir nennen sie Wegfinder. Sie mutieren im Körper ihres Wirtes und manifestieren seinen letzten Willen. In seinem Falle war dieser letzte Wille, euch genau hierherzuführen, damit wir einander helfen können … jaja.“

„Was soll das heißen, einander helfen?“
„Wir haben das gleiche Ziel, jaja. Wir möchten verhindern, dass die Technozisten den Mecha-Gott erschaffen, und ihr … möchtet leben. Das Ende der Techno-Transhumanisten ist in unser beider Interesse … jaja.“

Elias guckte misstrauisch drein. November versuchte, das Gesagte zu verarbeiten, versuchte abzuschätzen und Absichten gegeneinander abzuwägen. Erneut war es Baron, der zuerst das Wort ergriff.

„Okay!“ sagte er.
„Wie gehen wir gegen sie vor?“

„Zuerst müssen wir verhindern, dass >EDeN< seine Aufgabe erfüllen kann. Wenn >EDeN< fällt, werden auch die Technozisten fallen, denn … eins haben wir alle gemein … wir glauben nur an ein System, solange es funktioniert, jaja.“ Der Oktopus gab sein seltsames Kichern von sich.

Baron nickte zustimmend.
Elias hatte nicht den Hauch einer Ahnung, von was das Fischviech redete. Aber es stimmte. Die Technozisten waren versessen darauf, Baron zu töten, weil er >EDeN< auf die Spur gekommen war. Wenn sie >EDeN< stoppen würden, wäre das Geheimnis um >EDeN< plötzlich nicht mehr wichtig, und damit würde Baron auch nicht mehr interessant für sie sein. So zumindest die Theorie.

„Wir wissen doch, wo >EDeN< und sein komischer Haufen Körper liegt. Gehen wir einfach da hin und ziehen dem Ding den Stecker!“ warf Elias in den Raum.

„So einfach ist das nicht …“, murmelte Baron.
„>EDeN< ist eine Entität im Netz. Die verschwindet nicht einfach, indem man ein bisschen Hardware kaputt macht.“

November runzelte die Stirn. Sie hoffte, dass Baron bewusst war, dass er da immer noch von menschlichen Gehirnen sprach.

„So ist es, jaja …“, blubberte der Oktopus.
„Wir müssen ihn da angreifen, wo er aktiv ist, wo er verletzbar ist … im Netz.“

Der Oktopus nickte zustimmend.

„Und wie wollt ihr ihn dort finden?“ fragte November an den Oktopus gerichtet.
„Oh, wir wissen, wo er ist … aber wir kommen dort nicht hin … wir sind auf diesem Gebiet nicht so bewandert, müsst ihr wissen, jaja. Wir brauchen jemanden, der weiß, wie man sich im Netz bewegt … wir brauchen einen Nerd … einen mächtigen Nerd, jaja“, sagte der Oktopus langsam.

Elias und Novembers Blicke trafen sich.
„Wir haben so einen Nerd“, sagte Elias mit der Selbstsicherheit eines Marktschreiers, der einen guten Deal witterte.

Baron blickte unverständlich drein.
„Tu nicht so, Junge! Du weißt genau, wer gemeint ist!“ schnauzte Elias ihn an.

„Und wo genau befindet sich >EDeN„Hm …“, blubberte der Oktopus und nahm einen mächtigen Zug von seiner Pfeife.
„Er befindet sich in einem Backroom …
Dort geht er seinem Werk nach. Sucht in den Untiefen des Netzes nach Informationen … fischt im Strom der Zahlen …“

Erneut nickte Baron verständnisvoll.

„Er ist auf der Suche nach dem >Dings< …“, fuhr der Oktopus fort.
„Was soll das sein … das ‚Dings‘?“
„Das >Dings< … es ist der Schlüssel … das Werkzeug, mit dessen Hilfe >EDeN< in der Lage ist … den Mecha-Gott zu erschaffen …“ Der Oktopus blubberte an seiner gigantischen Pfeife.

November runzelte die Stirn.
„Und wie kommt man in so einen Backroom?“ fragte Elias.

„Genau das ist die entscheidende Frage, nicht wahr?
Wie kommt man dorthin?
Wie kommt eine Entität von Ort A nach Ort B?
Durch die Verbindung zwischen A und B.
Aber welche Beziehung besteht zwischen A und B?
Wir nehmen nur A und B wahr, aber nicht deren Beziehung.
Wie können wir den Weg von A nach B finden, wenn die Beziehung unklar ist, wenn wir nur A kennen und dann … etwas später B kennen … Hm … Fragen über Fragen …“ blubberte der Oktopus vor sich hin.

Elias guckte verärgert drein.
„Kannst du das mal übersetzen?!“ sagte er an Baron gewandt.
„Ein Backroom ist ein Platz, zu dem man gelangt, wenn man die Grenzen eines Spiels oder einer ähnlichen Online-Plattform überschreitet. Es sind Räume im Netz, die sich jeglicher Kontrolle entziehen. Sie werden für alles Mögliche genutzt: Schmuggel, Transaktionen, um Sachen zu verstecken, sich selbst zu verstecken...“

„Okay, okay, aber wie gelangt man dort hin?“ hakte Elias ungeduldig nach.
„Glitchen.“
„Wie früher bei Battlefront 2, wenn man durch eine Wand glitched?“
„So in etwa.“
„Nur dass der Backroom mehrere Ebenen hat. Sechs an der Zahl. Jede Ebene muss durchquert werden …“
„Und auf der untersten Ebene …“
„… befindet sich >EDeN

Angespanntes Schweigen legte sich über den Raum. Der Dampf stieg in großen Schwaden zur Decke. Es war unerträglich schwül.

Nach kurzer Zeit unterbrach November die Stille.
„Ihr wisst, dass >EDeN< im Netz ist und zwar auf der sechsten Ebene eines Backrooms. Und ihr wisst auch, wo dieser Backroom ist?“
Der Oktopus nickte bedächtig.

„Und ihr glaubt, Baron kann ihn dort finden?“
Das Meerestier wiederholte seine Bewegung.

15

Einige Zeit später glitt Baron im Dreischritt durch die unechte Realität.
Er bewegte sich durch die unreale Echtheit, geschmeidig wie es nur ein echter Nerd kann.

Drei Schritte, drei Kombinationen:
Springen, Dolfin-Diven, Cancel-Sliden.
Und wieder von vorne,
schneller als alle anderen Spieler in dieser Realität.

Er war auf der Jagd nach >EDeN<,
bereit, dem Monster den Kopf abzuschlagen
und seinen stinkenden Kadaver zu looten.
Wenn es schlecht für >EDeN< läuft, würde Baron ihn auch bodyshooten,
je nachdem, wie viel Zeit ihm noch bleibt.

Drei Schritte, Springen, Dolfin-Diven, Cancel-Sliden.
Er kam ihm immer näher, er konnte es riechen.
Er wusste genau, wie die Einsen und Nullen aussahen, wenn sie einen Endboss ankündigten.

Sein Körper lag in einem grünen Tank, in den sie ihn geworfen hatten. Sein Kopf war angeschlossen an endlose Elektroden, die es ihm ermöglichten, sich barrierefrei und in Echtzeit im Netz zu bewegen, frei von der nervigen Reaktionszeit seiner Finger und Augen. Elias und November saßen neben dem Tank in dem schwülen Raum und verfolgten über einen kleinen Monitor, was in der virtuellen Welt vor sich ging. Sie beobachteten Baron, wie er durch die Map eines veralteten Ego-Shooter-Online-Spiels wanderte und eine bestimmte Koordinate suchte. Von dort aus würde er durch die Grenze des Spiels glitchen und eintauchen in die Backrooms, die sich unter den staubigen Servern befanden.

Die erste Ebene war kein Problem, und er flog über sie hinweg.
Die zweite Ebene war das Hinterland der Map, wo die Koordinaten verschwammen, wo die X- und ihre Schwester-Achse sich in die Unendlichkeit erstreckten. Formen verschwammen, waren aber für das geschulte Auge noch erkennbar.
Die dritte Ebene war blurry, in gemischten Farben wie ein Netz aus schlechten Lügen.

Baron arbeitete sich vor, grub sich ein in die Zeilen Code, die hier unten die Wirklichkeit bedeuteten. Tiefer und tiefer tauchte er ins Netz ein.
Drei Ebenen tiefer musste er gehen, dort würde er ihn finden.
Die vierte Ebene war ein Traum in Schwarz und Weiß, ein farbloses Schattenspiel.
Zitternd und fiebrig ging der Traum über in die fünfte Ebene und wurde dunkel und kalt,
wurde zu einem Horror-Spiel.

Ein blauer Wal zog an ihm vorbei, Seelen im Gepäck.
Baron musste tiefer, immer tiefer tauchen.
Er brach die letzte Barriere, glitchte hindurch, und da war sie.
Da war Zone 6, der digitale Ereignishorizont, wo die Information so dicht ist, dass die Zeit stillzustehen scheint.

Baron befand sich im mattschwarzen Nicht-Raum.
Und er war nicht allein.

Durch die Dunkelheit zogen sich gerade, blassweiße Linien, verschwanden in der Tiefe.
Gott zieht keine geraden Linien.
Er hatte sie gezogen.
Er war >EDeN<, und >EDeN< war ein Wurm-Wesen mit tausend Armen und einer Billion Augen.

Er wandte und schlängelte sich in alle Richtungen, fischte im Netz nach Informationen, suchte, griff nach ihnen, saugte sie auf, immer auf der Suche nach dem >Dings<.
Eines seiner tausend Augen schnellte hervor und fixierte Baron.

Er war ein Eindringling, eine Entität, die hier nicht hingehörte. Doch >EDeN< erkannte ihn nicht. Baron wurde geschützt durch einige wenige, simple Zeilen Code. Eine Art VPN, die seine Identität verbarg und >EDeN< glauben ließ, er sei ein digitaler Avatar der Mutagen-Transhumanisten.
Aufmerksam musterte das Auge >EDeNDann schoss er nach vorne.

Es wäre ein epischer Kampf gewesen, wäre Baron ein würdiger Gegner gewesen. Doch dem war nicht so.

16

 

Das Erste, das Baron sah, war, wie die Sonne ihre Strahlen durch ein niedriges Fenster auf eine eisgekühlte Dose grünes Monster Energy warf. Ein kleiner Tropfen Kondenswasser lief seitlich an der Dose herab. Fast wie in der Werbung. Oh Mann … die Werbung … In der Werbung war alles immer viel friedlicher als in der Realität. Und noch besser: Das grüne Monster Energy war immer eisgekühlt.

In diesem Moment vermisste Baron die Werbung ein bisschen. Er vermisste die Zeit, als das Internet noch die Möglichkeit hatte, ihn bei jeder Gelegenheit mit Werbung vollzupumpen, damit auch er ein konsumgeiles Opfer des Turbokapitalismus würde. Die Zeiten, bevor er mittels eines leistungsstarken Ad-Blockers gnadenlos alle Werbung von seinem Rechner verbannt hatte.

Oh Mann …

Aber zurück zum eisgekühlten grünen Monster Energy, seiner Lieblingssorte. Es stand dort auf einem Tisch aus billigem Plastik, bereit, um ihm neue Lebensenergie zu schenken. Gleich würde er das leichte Knipsen des Blechs hören, nachdem er den Deckel …


„Bist du wach, Mann?“ Elias' Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Sein Freund saß auf einem Bett auf der anderen Seite des Raumes.
Barons Blick wanderte durch das Zimmer und fand November, die ihm gegenüber am Fenster lehnte und die Arme verschränkt hatte.
Erst jetzt wurde ihm die Leichtigkeit in seinem Körper bewusst. Das wohlige Gefühl, das das Morphium in seinen Venen versprühte.

Sein Blick wanderte zurück zu dem grünen Monster Energy.
„Er ist wach“, sagte Elias an November gerichtet.
„Und voll drauf!“, fügte sie hinzu.

Die Drei befanden sich in einem Krankenhaus. Es war Mittag, und die Sonne stand hoch über NeoFFM2. Es war ein schöner, heller Tag. Das gleißende Licht stand im harten Kontrast zur Dunkelheit, durch die sie die letzten Tage gegangen waren.
Novembers Silhouette warf einen langen Schatten in das weiße Zimmer. Elias und November hatten ihren dicklichen Freund hierhergebracht, nachdem er in dem grünen Tank das Bewusstsein verloren hatte. Das Krankenhauspersonal hatte ihn durchgecheckt und auf dieses Zimmer verlegt. Seitdem waren die beiden ihm nicht von der Seite gewichen.

„Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“ fragte sie Barron vorsichtig.
Barons Kopf war schwer und langsam. Er wusste nicht, wie lange er weg war. Er versuchte, sich zu erinnern, was passiert war, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Langsam und schemenhaft kamen die Erinnerungen zurück. Schreckliche, dunkle Bilder spielten sich vor seinem geistigen Auge ab.

EDeN hatte Tricks draufgehabt, mit denen Baron nicht einmal im Traum gerechnet hatte.
Das Programm war groß und furchteinflößend. Größer, als eine menschliche Präsenz je sein könnte.

Baron erinnerte sich, dass er, bevor er auf >EDeN< getroffen war, einen Shortcut offengelassen hatte, eine Abkürzung durch die digitale Realität, verlinkt durch zwei variable Koordinaten und einen Hypervektor. Diese Abkürzung hätte ihn direkt zurück in das Interface des Spiels bringen sollen, aus dem er gekommen war.

Von dort aus müsste er dann nur noch Spiel verlassen klicken, und sein Bewusstsein würde zurück auf das Mainboard des Rechners übertragen werden.
Doch nicht mit >EDeN<. Das Programm hatte seinen Shortcut innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde gefunden.
Mit einem präzisen Vorstoß hatte die KI die Verknüpfung zwischen den Koordinaten zerrissen.
Ab diesem Punkt war Baron ohne Rettungsseil dort unten gewesen.

Ihm war klar geworden, dass, wenn er den Backroom wieder verlassen wollte, er sich manuell durch alle sechs Ebenen nach oben kämpfen müsste – und das mit dem Monster im Rücken.
Er hatte versucht, cool zu bleiben, doch es war schwer angesichts seiner Lage.
Der Verlust der Verbindung zum Mainboard hatte dafür gesorgt, dass sein Bewusstsein abdriftete.
Er hatte gespürt, wie er Gefahr lief, sich selbst in den Unweiten des Backrooms zu verlieren – wie wenn man in einem Traum erneut einschläft und beim Wiederaufwachen nicht weiß, ob man sich in der Realität oder auf der ersten Ebene des Traums befindet. Mit dem Shortcut hatte >EDeN< auch Barons Verbindung zur Wirklichkeit unterbrochen.

Dann war Panik in ihm aufgestiegen.
Überhastet hatte er zum Gegenschlag ausgeholt.
Sein ganzes Arsenal hatte er auf einmal rausgeholt und auf >EDeN< abgefeuert: penetrative Schadsoftware, Mikroviren, Trojaner und selbst konstruierte Phishing-Tools – das volle Programm.
Seine Batterie knallte, was das Zeug hielt.
Doch ein Angriff nach dem anderen war an der KI abgeprallt.
Unbeeindruckt war sie immer näher an Baron herangekommen.

Und dann war es geschehen, was Baron befürchtet hatte.

EDeN hatte seine digitale Präsenz mit einem einzigen präzisen Angriff einfach in der Luft zerrissen.
Die Zeilen Code, die über die Festplatte rasten und sein Ich in der digitalen Welt repräsentierten, waren mit einem Mal in Flammen aufgegangen.
Und genau so hatte es sich auch angefühlt.

Durch die fehlende Verbindung zum Mainboard und damit zur Realität hatte es sich in der Tat angefühlt, als wäre Baron dort unten gestorben.

Er atmete auf. Die Erinnerung war wie ein übler Traum. Verwirrt blickte er sich in dem Krankenzimmer um.
„Wo sind wir?“ fragte er.
„Im Krankenhaus“, antwortete November langsam.
„Du bist KO gegangen, dann haben wir dich abgestöpselt und dich hierhergebracht.“
„Wir haben uns Sorgen gemacht, Alter!“ fügte Elias hinzu. Er klang in der Tat besorgt.
„Ich dachte, ich bin draufgegangen …“ stammelte Baron. Er fühlte sich nicht wie er selbst.
„Wir auch, man!“ sagte Elias.

Ein paar Momente schwiegen die Drei.
Baron dachte nach. Er dachte so intensiv nach, wie er nur konnte. Es war nicht einfach, unter all dem Schmerzmittel zu denken. Vielleicht würde es besser gehen, wenn er einen Schluck von dem eisgekühlten grünen Monster Energy nehmen würde. Er griff nach der Dose. Dann machte er sie auf. Das Geräusch des brechenden Blechs war Musik in seinen Ohren. Langsam führte er die Dose an seinen Mund und nahm einen großen Schluck. Der erste Schluck war immer der beste.

Ahhhh.
Das fühlte sich richtig an. Das fühlte sich verdammt richtig an.
Kurz hatte er befürchtet, dass >EDeN< ihn in eine Art Simulation gepackt hatte und ihm die Wirklichkeit innerhalb dieses Krankenhauses nur vorgaukelte.
Doch Baron wusste aus eigener Erfahrung, dass kein Computer der Welt in der Lage war, den Geschmack eines eisgekühlten grünen Monster Energy zu simulieren.

Erleichterung machte sich in ihm breit.
Das Getränk verlieh ihm Gewissheit: Das hier war die Realität.
Neue Energie flutete seinen Körper. Sein Kopf begann zu arbeiten.

„Was ist da unten passiert?“ wiederholte November ihre Frage vorsichtig.
Baron runzelte die Stirn.
„Ich hab ihn getrickst …“ sagte er dann langsam.
„Sieht aber nicht gerade danach aus“, murmelte Elias. Barons erbärmlicher Anblick machte es ihm schwer, in seinen gewohnt ironischen Tonfall zu switchen.
„Er war stark … sehr stark.
Er denkt, er hat mich erledigt“, sagte Baron.
„Hat er auch, in gewisser Hinsicht. Ich hab ihn gefunden, als er dabei war, alte Minecraft-Server zu durchsuchen.
Er hat mich schneller bemerkt, als ich dachte …“
Baron verstummte.
„Und wie sollst du ihn dabei getrickst haben?“
Baron dachte kurz nach.
„Ich erkläre es euch später!“ sagte er dann.
„Erstmal müssen wir hier weg!“

Und er hatte recht.
Es war an der Zeit zu verschwinden – und zwar as soon as fucking possible.
Baron lag seit einigen Stunden hier im Krankenhaus, und es war zurzeit nicht ratsam, zu lange an einem Ort zu verweilen.
Keiner von ihnen hatte Lust auf ein zweites Aufeinandertreffen mit dem Herrn der Drohnen oder was auch immer diese Techno-Freaks ihnen sonst noch auf den Hals hetzen würden.

Also willigten die beiden ein, packten ihre Sachen und verschwanden dann so schnell es ging aus dem Krankenhaus.

17

Wenig später saß Baron über seiner Nudelsuppe wie ein 14-Jähriger am Morgen nach dem ersten Vollsuff über der Kloschüssel.
Seine Brille beschlug, während er versuchte, die Nudeln mit seinen Stäbchen aufzulesen.
Er stellte sich dabei so ungeschickt an, dass es Elias etwas sauer machte.
Doch Elias hatte gerade Wichtigeres im Kopf, als sich über Barons Unvermögen, hinsichtlich allem außerhalb des Internets, aufzuregen.

Es war später Nachmittag.
Sie hatten Unterschlupf in einem kleinen, schlecht besuchten und schwach beleuchteten China-Restaurant irgendwo in der Stadtmitte gefunden.
Die drei saßen in der hinteren Ecke des kleinen Ladens. Außer ihnen waren keine Gäste anwesend. Die Stille wurde nur von Susann Susensens Gebrabbel aus einem alten Röhrenfernseher über der Theke unterbrochen.
Fürs erste war es ein gutes Versteck.
Draußen prasselte der erbarmungslose Dauerregen von NeoFFM2 gegen die Scheiben.
Die Stadt aus Beton und Eisen war so geschäftig und unnachgiebig wie eh und je.
Als könnte sie nichts aus der Ruhe bringen.
Als hätten die drei nicht gerade einen digitalen Fiebertraum in den Katakomben unter ihr durchlebt.

Ein lautes schlürfendes Geräusch ertönte, als Baron die immer noch viel zu heißen Nudeln in seinen Mund zog.
„Ein bisschen vermisse ich den Roboterhund …“ sagte November geistesabwesend. Sie und Elias saßen Baron gegenüber und sahen ihm beim Essen zu wie zwei frisch geschiedene Elternteile, die den Eindruck einer harmonischen Familie aufrechterhalten wollten.
Elias schenkte ihr einen argwöhnischen Blick.
„Ich nicht! Hab das blöde Ding gehasst!“ grummelte er.

Elias war damit beschäftigt, Tabak in ein Blättchen zu rollen.
Er wünschte, es wäre Gras statt Tabak – das würde seinem Gemütszustand jetzt wirklich guttun.
„Naja, immerhin wusste er immer genau, was zu tun ist …“ fügte November hinzu.
Elias gab ein leises Schnaufen von sich.
„Ja, bis er uns dann einfach im Stich gelassen hat, der egoistische Arsch!“ nuschelte er, mit einem Filter zwischen den Lippen.
Er drehte die Zigarette ein und legte sie auf den Tisch.

Baron war gerade damit fertig geworden, die Nudelsuppe in sich hineinzuschaufeln. Er verfügte über eine beeindruckende Essgeschwindigkeit – die eines Menschen, der es gewohnt war, vollwertige Mahlzeiten in der knappen Ladezeit zwischen zwei Counter-Strike-Runden zu vernichten.
Er schob die Schüssel zur Seite und holte seinen Laptop hervor.
Dann klappte er ihn auf und öffnete TotalDomination3.

[GlobalElite: Rank #34] zeigte das Scoreboard.


So wie er es sich gedacht hatte. Die Ereignisse der letzten Tage hatten viel Zeit in Anspruch genommen – wichtige Zeit, die er normalerweise in das Spiel investierte.
Sein Rank war gesunken, und das gar nicht mal so wenig.
Ärgerlich.
Aber Baron hatte schon eine Idee, wie er diesen Verlust wieder wettmachen würde. Die Tricks, die >EDeN< draufgehabt hatte, sein Vorgehen, seine Codes – Baron hatte sich das alles gut gemerkt, und er würde nicht zögern, es im Spiel anzuwenden.
Seine Finger tanzten über die Tastatur und koordinierten Spielzüge.

Einige Momente später öffnete sich ein kleines Fenster am rechten Rand des Bildschirms.
Es war Shiva, die ihn anrief.
Er nahm den Anruf entgegen und stellte den Laptop so, dass auch die anderen beiden ihn sehen konnten.
„Hey!“ ertönte Shivas Stimme.
„Ich habe gesehen, du bist online. Was geht bei euch? Hab die letzten Tage gar nichts von euch gehört!“ fragte sie in die Runde.
Elias und November tauschten ratlose Blicke aus.
Beide wussten nicht, was sie auf diese Frage antworten sollten. Es war eine Frage, wie man sie beim Eintritt in ihr Stammcafé stellte. Die Antwort darauf war dann entweder „Nix“ oder „Wir überlegen später noch saufen zu gehen.“
Keine der beiden Antworten passte so recht zur jetzigen Situation.

„Es läuft gut“, sagte Baron.
„Wir machen Fortschritte“, fügte er hinzu.
Das war eine dreiste Behauptung, dachte sich November. Sie waren bereits zwei Mal innerhalb weniger Tage knapp dem Tod entkommen.
In einer solchen Situation einen so unverschämten Optimismus an den Tag zu legen, war wirklich nur für jemanden mit so wenig situativem Feingefühl wie Baron möglich.
„Fortschritte bei was?“ fragte Shiva.
„>EDeN< loszuwerden!“
„Das war diese Waffen-KI, oder?“ fragte Shiva.
Baron nickte.
„Hattest du mir deswegen diese Datei geschickt?“ fragte sie.
Erneut nickte Baron.
„Ich brauche sie jetzt.“

Shiva schickte ihm eine Datei, und Baron öffnete sie.
Auf seinem Bildschirm begann ein Programm zu starten.
Minecraft stand dort in großen eckigen Buchstaben.
„Dein Ernst? Du willst jetzt zocken?“ fragte Elias irritiert.
„Unsinn!“ zischte Baron.
Minecraft ist längst mehr als nur ein Spiel. Menschen mit den entsprechenden Fähigkeiten können damit alles machen. Es ist viel mehr als nur Zocken…“

Baron verstummte.
Er starrte wie gebannt auf den kleinen Röhrenfernseher, der über der Theke hing.
Das kleine, in die Jahre gekommene Gerät zeigte die aktuelle Übertragung von Channel 5: NeoFFM2 Daily News.
„Hallo und herzlich willkommen zu Channel 5: NeoFFM2 Daily News!“ rauschte die Stimme der Nachrichtensprecherin.
„Mein Name ist Susann Susensen, und mit mir im Studio ist heute Gunther Günther.“
„Guten Abend, meine Damen und Herren“, sagte Gunther Günther.
„Können Sie das lauter machen?“ sagte Baron an die alte chinesische Dame hinter dem Tresen gewandt.
Wortlos drückte die Frau auf einer klebrigen Fernbedienung, und Susann Susensens Stimme wurde lauter.
„Die Wiederaufbauarbeiten im Bankenviertel sind immer noch in vollem Gange.
Vergangenen Freitag hatte eine technische Störung zum Einsturz des VertrauensBank-Towers geführt. Dies hatte die Beschädigung und anschließende Evakuierung einiger weiterer Tower im Bankenviertel zur Folge.“
„Die Technik mal wieder, was, Susann?“
„Das kannst du laut sagen, Gunther!“

„Außerdem: Die FFM2-Fanatics spielen heute Abend gegen die Hindenau-Hydras.
Im Umkreis des Stadions wird mit vereinzelten Ausschreitungen gerechnet.
Meiden Sie das Bahnhofsgelände also am besten vollständig!
„Und was ist dein Tipp für das Spiel heute Abend, Gunther?“
„Ausgezeichnete Frage, Susann! Ich glaube, es wird eine enge Kiste, aber am Ende werden die Fanatics das Boot schon schaukeln!“
„Wir drücken die Daumen!“
„Nun zum Wetter! Den Tag über bleibt es bewölkt und regnerisch. In der Nacht wird ein Sturm über NeoFFM2 erwartet. Vergessen Sie also nicht, die Dachfenster zu schließen!“

„Da sind geheime Codes in den Nachrichten …“ flüsterte Baron.
„Oh Mann, nicht das schon wieder!“ Elias blickte genervt drein.
„Ich sehe die Zeichen!“ sagte Baron überzeugt.
„Du siehst immer und in jedem Scheiß Zeichen! Jedes verdammte Mal, wenn du in einem Rabbit Hole versinkst, siehst du auf einmal überall Zeichen!“
„Jap!“ kam es aus dem Laptop.
„Pscht jetzt!“ zischte Baron.
Sein Blick war immer noch starr auf den Fernseher gerichtet.
„Shiva, kannst du das, was die da sagen, in Binärsprache übersetzen?“
„Wenn du mir kurz Zeit gibst“, sagte Shiva zögerlich.

Auf dem Tisch vor Baron lag ein kleines Gerät, das ankündigte, wenn eine Bestellung bereit zur Abholung war.
Dieses kleine Gerät begann nun lauthals zu piepsen und zu vibrieren.
„Hat einer von euch noch was bestellt?“ fragte Elias in die Runde.
November und Baron schüttelten den Kopf.
Das Pieps-Ding wollte sich gar nicht mehr einkriegen. Es rumpelte auf dem Tisch herum und wackelte von einer Seite zur anderen.
Stirnrunzelnd sahen die drei dabei zu, wie das kleine Gerät sich immer weiter hochschaukelte, bis es anfing, in kleinen Sprüngen auf dem Tisch herumzuhüpfen. Es machte einen besonders großen Hüpfer und landete mit einem Platsch in der Nudelsuppe direkt vor Elias.
„Ich wollte das noch essen …“ fluchte er.
„Das ist der Anfang!“ sagte Baron.
„Wovon?“ fragte November.
„Die Codes in der Nachrichtensendung – es sind die gleichen Codierungen, die auch der Roboterhund benutzt hat, um mir eine Nachricht zu schicken.“
„Und?“
„Es sind Befehle, die direkt an die Mikrochips in den Geräten gerichtet sind und dafür sorgen, dass sie durchdrehen!“
Wieder einmal stand die Verwirrung November ins Gesicht geschrieben.
„Wie durchdrehen?“

Noch während November die Worte aussprach, ertönte ein Knirschen aus der Nudelsuppe vor Elias, und einen Augenblick später platzte die gesamte Schüssel. Warme Suppe verteilte sich auf Elias' Oberteil.
„Verdammte …“
„Machen Sie den Fernseher aus!“ brüllte Baron der alten chinesischen Dame entgegen. Doch es war bereits zu spät.
Im ganzen Restaurant begannen elektronische Geräte verrückt zu spielen. Alles, was einen Mikrochip besaß, fing an, sich zu Wort zu melden und dabei immer aufdringlicher zu werden.
Das Kartenlesegerät auf dem Tresen, das Telefon an der Wand, sogar die Kaffeemaschine hinter der alten Dame begannen zu piepsen und zu wackeln.
Das Telefon bimmelte, was das Zeug hielt. Das Kartengerät sprang auf dem hölzernen Tresen umher wie ein tollwütiges Kaninchen. Die Kaffeemaschine begann, heißes Wasser in alle Richtungen zu verspritzen.
Die alte Dame schrie herum und versuchte, sich in Deckung zu bringen.
„Auf der Schnellstraße zwischen Bockenbach und Erlenring kommt es heute zu Staus“, ertönte Susann Susensens Stimme über das Getöse der eskalierenden Gerätschaften.

Um Baron und die anderen herum brach heilloses Chaos aus. Ein Gerät nach dem anderen verlor die Fassung.
„Auf der B7 befinden sich Personen auf der Fahrbahn.“
Die ersten Geräte begannen vor Überhitzung Feuer zu fangen. Plastikverkleidungen platzten auf und flogen durch die Gegend.
Das Restaurant um sie herum wurde zu einer Knallerbsentüte in der Hand eines Siebenjährigen.
„Wir müssen hier raus!“ schrie November und schubste Elias von der Bank runter Richtung Ausgang.
Halb kriechend, um sich vor heißen Plastikgeschossen zu schützen, flüchteten die drei aus dem Restaurant.
„Fahren Sie also vorsichtig!“
Susann Susensens Stimme verstummte hinter ihnen, als sie aus der Tür und auf den Bordstein stürzten.

Aus dem Inneren waren kleine Explosionen zu hören. Sie konnten sehen, wie Flammen begannen, um sich zu greifen.
„Scheiße, Mann …“ fluchte Elias.
Baron hatte seinen Laptop in der Hand, auf dem noch immer Shivas Gesicht zu sehen war.
Fassungslos sahen die Drei dabei zu, wie das Restaurant sich in einen dampfenden Pizzaofen verwandelte.
„Ähm, Leute!“ ertönte Shivas Stimme.
„Dreht euch mal um.“
Baron konnte ahnen, worauf sie hinauswollte.
„Läuft Channel 5 immer auf den großen Werbetafeln?“ fragte Shiva.
Als Baron sich umdrehte, starrte er direkt in das überdimensionale Gesicht von Susann Susensen.

Die Drei standen auf einer großen, belebten Kreuzung. Die Fassaden der Häuser um sie herum waren vollgepflastert mit Anzeigetafeln, Neonlichtern, Werbeplakaten, Franchise-Schriftzügen und allem, was sonst noch so Werbung an den Mann und die Frau brachte.
Und auf jeder einzelnen der meterlangen Werbetafeln waren Susann Susensen und Gunther Günther von Channel 5: NeoFFM2 Daily News.
„Scheiße …“ flüsterte Baron.
Nein, dachte er, Channel 5 lief normalerweise nicht auf diesen Werbetafeln. Im Gegenteil, diese überdimensionalen Bildschirme zu mieten, kostete ein Vermögen. Channel 5 war nur ein unbedeutender Sender, dessen journalistischer Höhepunkt darin bestanden hatte, als erstes über die Trennung des Captains der Neo-FFM2-Fanatics und seiner dritten Baby-Mama zu berichten.

Es ließ sich darüber streiten, ob dieser Moment nun wohl der neue Höhepunkt in Susann Susensens Karriere sein würde. Ihr Gesicht war auf jedem verdammten Zentimeter Hausfassade, der in der Lage war, ein Bewegtbild zu projizieren.
Verunsichert drehten die Drei sich umher und versuchten, Susann Susensens, plötzlich wesentlich bedrohlicher gewordenen, Lächeln zu entkommen.
Aber es war zwecklos. Channel 5 hatte die Kreuzung übernommen.
„Wir müssen noch weiter weg!“ sagte November.
Die junge Frau marschierte voran in Richtung einer nahegelegenen Häuserschlucht.
Zögerlich folgten die anderen beiden ihr.

Sie überquerten die Straße, deren Verkehr durch das seltsame Werbetafel-Schauspiel gänzlich zum Erliegen gekommen war.
Plötzlich begann sich das Licht um die Drei zu verändern.
Verunsichert blickte Elias in die Luft über den gigantischen Häusern um sie herum.
Dort sah er den Grund für das schwindende Licht.
Der Himmel über ihnen begann sich zu verdunkeln. Er nahm ein unnatürliches, rauschendes Schwarz an. Etwas Beunruhigendes lag in der Luft, das auch Susann Susensens gebleichtes Lächeln nicht übertönen konnte.
„Was passiert hier?“ fragte Elias etwas ängstlich und deutete in den Himmel.
„Oh, Scheiße …“ fluchte Barron erneut.
„Was, ‚oh Scheiße‘?“
Elias’ Stimme begann nun zu beben.
„Was, ‚oh Scheiße‘?“
Eine dunkle, vibrierende Masse begann sich über ihnen zu bilden.
Die Masse kam ihnen immer näher, und langsam erkannte Elias, was es war. Hunderte, nein, tausende Tauben flogen dort in der Luft über ihnen. Sie hatten einen Schwarm gebildet, so groß, dass er die Sonne verdeckte.
Doch es waren keine normalen Tauben. Ihre Augen leuchteten auf unnatürliche Weise rot. Manche hatten kein Federkleid, und anstelle von Krallen befanden sich dort kleine stählerne Greifarme.
Es waren Drohnen-Tauben, unzählige.
„Wir müssen in ein Gebäude!“ schrie November vor ihnen und deutete auf den breiten Eingang eines luxuriösen Hotels am anderen Ende der Straße.
Die drei hasteten los.
Barron versuchte, so schnell er konnte, zu rennen.
Besonders schnell war das nicht.
Noch dazu hatte er nach wie vor seinen heißgeliebten Laptop in der Hand, von dem aus Shiva das Geschehen gespannt beobachtete.
Mit seinen wackelnden Beinen und dem Laptop vor sich ausgestreckt sah er aus wie ein fleischgewordener Büroschreibtisch.
Keuchend versuchte er, mit Elias und November Schritt zu halten.
Die drei schlängelten sich durch stehende Taxis und dampfende Imbissbuden.
Susann Susensens Stimme ertönte noch immer aus allen Ecken der Kreuzung. Verschiedenste technische Geräte sprangen darauf an und begannen sich selbstständig zu machen.
Der Drohnen-Tauben-Schwarm schien durch ihre Stimme dirigiert und gleichzeitig angepeitscht zu werden.
Es war ein wahrgewordener Abendnachrichten-Albtraum.

Während die drei durch die Autos und Passanten jagten, begannen die ersten Drohnen-Tauben zum Angriff überzugehen.
Wie auf Kommando zogen sie die Flügel ein und stürzten sich auf die Flüchtenden hinab. Sie wurden zu todbringenden Kamikaze-Geschossen, die aus dem Himmel fielen.
„So eine Scheiße!“ brüllte Elias, während die ersten Tauben-Imitate hinter ihm auf den Asphalt klatschten.
Nur noch wenige Meter trennten die drei von dem, Rettung verheißenden Hoteleingang.
„Kommt schon!“ schrie November ihre Begleiter an.
Hinter ihnen regnete es Roboter-Tauben.

November preschte als Erste in den Hoteleingang und dann direkt weiter Richtung Fahrstuhl. Sie ignorierte das hysterische Geschrei der Hotelangestellten und begann, den Knopf des Fahrstuhls zu bearbeiten.
Knapp hinter ihr kam Elias fluchend in den Eingangsbereich geplatzt und dann endlich auch der schnaufende Barron.
Der Fahrstuhl ließ ein kurzes Bing vernehmen und öffnete seine Türen.
November zerrte Barron an dem dreckigen schwarzen Oversize-T-Shirt in den Fahrstuhl und drückte auf den Türknopf.
Sie konnten noch sehen, wie die ersten Drohnen-Tauben in den Eingangsbereich flogen und ihre Opfer anvisierten.
Die Türen schlossen sich im letzten Moment, und sie hörten, wie die Tauben gegen das goldverzierte Blech knallten.
Langsam und gemächlich setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung.
Leichter Jazz kam aus den Boxen, während sich der kleine Kasten seinen Weg nach oben bahnte.
Einen Moment schnauften die Drei durch.

Sobald er genügend Luft gesammelt hatte, schnauzte Elias Barron an.
„Was machen wir jetzt, Mister ‚Ich hab einen Plan‘, hä?“
Barron zuckte nur mit den Achseln.
November wusste, dass Elias kurz vor einem Wutausbruch stand.
Seltsamerweise war sie selbst nicht so sauer. Das ganze Weglaufen der letzten Tage erinnerte sie ein wenig an die Zeit, als sie noch Straßenrennen gefahren war. Und wenn sie ehrlich war, hatte sie das Adrenalin auch etwas vermisst.

Der Fahrstuhl machte abrupt Halt und öffnete die Türen.
„Los, raus hier, bevor das Ding auf die Idee kommt, uns wieder nach unten zu bringen!“ sagte sie und schubste die beiden jungen Männer aus dem Metallkasten.
Die Drei standen nun auf einem sauberen, beigen Teppichboden. Der Flur vor ihnen führte weiter in das Gebäude hinein. Die Wände und Türen waren in unterschiedlichen Beige-Tönen gehalten. Alles um sie herum war von dieser seltsamen Farbe bestimmt. Es kam ihnen vor, als befänden sie sich in einer überdimensionalen Sandburg.

Vorsichtig arbeiteten sie sich durch die Flure des gigantischen Hotels. Behutsam versuchte November, die Türen zu ihren Seiten zu öffnen, doch keine wollte den Dreien Eintritt gewähren. Dabei wurde November von der ständigen Angst begleitet, eine der Türen könnte aufplatzen und ein Schwarm Killer-Tauben in den Flur strömen.
„Mann, ich hab keinen Bock mehr, die ganze Zeit wegzulaufen …“ nörgelte Elias hinter ihr.
November ignorierte ihn und gab ein zügiges Tempo vor. Sie suchte nach einem unverschlossenen Zimmer, in dem sie Unterschlupf finden könnten.
Die junge Frau ging voran, und ihre nutzlosen Begleiter folgten ihr.

Der Flur war lang, und es war kein Ende in Sicht.
Die unzähligen Türen und Abzweigungen schweiften an ihnen vorbei, und alle sahen sie identisch aus in diesem verdammten, passiv-aggressiven Beige.
Ein beiges Labyrinth. Und sie waren die griechischen Jungfrauen auf der Flucht vor einem ferngesteuerten Fake-Minotaurus.
Nach einiger Zeit ziellosen Herumirrens durch die Gänge kamen sie an einer unverschlossenen Tür an.

18

November blieb vor der Tür stehen und blickte ihre beiden Mitstreiter fragend an. Diese erwiderten ihren Blick und sahen dabei ausgesprochen verloren aus. Es war eindeutig, dass es wie immer an November hängen blieb, die Führungsrolle zu übernehmen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und lugte in das kleine Zimmer hinein.
Im Inneren lagen unzählige persische Teppiche. Über- und untereinander stapelten und überlappten sie sich und bildeten so eine regelrechte Hügellandschaft. Das Mobiliar war fast vollständig entfernt worden. Nur ein großer alter Schreibtisch stand an einer Wand, und auf ihm befand sich ein modernes Setup, bestehend aus drei Monitoren und einem leistungsstarken Rechner.

Vor dem Schreibtisch standen zwei leere Bürostühle, daneben ein schwarzer Campingstuhl, etwas verloren in der Mitte des Raumes.
Auf dem Campingstuhl saß ein junger Mann mit blasser Haut und starrte aus dem Fenster.
Seine langen Dreadlocks hingen ihm bis über die Hüfte.
In seiner Hand hielt er zwei krumm gedrehte Joints, die beide langsam vor sich hin qualmten.
Neben ihm stand ein kleiner Kühlschrank, auf dem ein paar Kartons Pizza lagen.
Vor dem Kühlschrank, auf einem kleinen Teppichhügel, lag ein wuscheliger Kater mit dunkelrotem Fell und langen Schnurrhaaren.
Um seinen Hals befand sich ein mit Strasssteinen verziertes Halsband, von dem eine kurze Leine bis hin zu dem Campingstuhl führte.

Alles in allem bot sich November ein sehr eigenartiges Bild.

Als der Mann die Drei bemerkte, drehte er den Kopf zu ihnen und musterte sie eingehend.
„Da seid ihr ja, man!“ sagte er dann.
„Ihr habt lange gebraucht, man!“

Die Drei tauschten verwunderte Blicke aus.
„Haben Sie auf uns gewartet?“ fragte November etwas zurückhaltend.

„Nicht ich, man! Ich will mit dem ganzen nix zu tun haben! Ist das klar, man?“

„Wer dann…“

„Die Katze natürlich, man!“ sagte er und nickte in Richtung des Katers.

November und ihre beiden Mitstreiter richteten ihren Blick auf die Katze, die sich auf dem Fußboden räkelte. Dann wandten sie den Blick wieder dem Mann zu. Dieser hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder dem Fenster zugewandt.
Also schauten die Drei wieder die Katze an.

„Was …“ fing November an.
„… will die Katze denn von uns?“ fragte sie an den Mann gerichtet.

Der Mann zögerte kurz. Dann drehte er sich, sichtlich genervt davon, dass sie immer noch mit ihm redeten, wieder um.
„Keine Ahnung, man!
Woher soll ich das wissen? Die Katze ist der Boss, man!“
Sagte er und drehte sich wieder zum Fenster.

In der Zwischenzeit hatte der Kater sich aufgerichtet und stand nun auf allen Vieren neben dem Campingstuhl.
Sein Blick war starr auf die drei Neuankömmlinge gerichtet.
Dann öffnete der Kater den Mund und sagte:
„Die Katze ist der Boss, man!“ dabei schaute er so ernst, wie ein Kater nur schauen kann.

November konnte nicht glauben, dass sie sich schon wieder mit einem sprechenden Tier konfrontiert sahen. Aber lieber ein sprechendes Tier als ein sprechender Toaster, dachte sie sich.
Btw wusste sie nicht, ob sie nach den Erlebnissen dieser Tage je wieder einem Kaffeevollautomaten vertrauen konnte.

Der wuschelige Kater beobachtete aufmerksam, wie die Drei langsam den Raum betraten.
„Setzt euch!“ kommandierte er und starrte die Drei erwartungsvoll an.
Langsam ließen sie sich auf den Teppichen zu ihren Füßen nieder. Erst jetzt bemerkte November, wie erschöpft sie war.

„Trinkt und esst etwas!“ sagte der Kater und machte eine Kopfbewegung hin zu den Pizzakartons und dem Kühlschrank.
Die Pizza war lauwarm, und der Kühlschrank beherbergte kühles Monster Energy.
Nicht die richtige Sorte, aber hey, immerhin Monster Energy.

Nach ein paar Momenten gefräßiger Stille war es überraschenderweise Elias, der zuerst das Wort ergriff.
„Was ist nur mit dem Innenausstatter von diesem Ding hier falsch?“ sagte er und deutete auf die beigen Wände.
November und Barron tauschten irritierte Blicke.
Modestudenten, man …
Der Mann auf dem Campingstuhl nickte verständnisvoll. Dann reichte er Elias einen seiner krummen Joints. Elias nahm ihn dankend entgegen.

„Das hat nichts zur Sache!“ sagte der Kater forsch.
„Wie auch immer! Ich bin, wie ihr unschwer erkennen könnt, Teil der Organisation, die ihr als die Muta-Gen-Transhumanisten kennt.“

Die drei saßen vor ihm auf den Teppichen und bildeten mit dem Mann auf dem Campingstuhl einen schiefen Halbkreis. Der Kater stolzierte die offene Flanke des Kreises auf und ab und erzählte dabei wichtigtuerisch.
„Nun ist es so, dass wir alle verdammt tief in der Scheiße stecken!“
Die Stimme des Katers hatte den Tonfall eines Football-Coaches in der Halbzeitpause des Endspiels um die Meisterschaft.

„Nach dem wunderbaren Trick eures Freundes hier haben die verdammten Technozisten unser Versteck in den Katakomben der Stadt ausfindig gemacht und vollständig zerstört!“
Der Kater warf Barron einen argwöhnischen Blick zu.
„Unseren Informationen zufolge sind die verdammten Technozisten kurz davor, ihr Ziel zu erreichen! Verdammt seien die Technozisten! Der Mecha-Gott wird niemals obsiegen!“ fauchte er.

Dann machte der Kater ein paar Schritte auf Barron zu.
Er wartete kurz ab und musterte den dicken jungen Mann dabei eingehend.
„Was hast du gefunden?“ fragte er Barron und schaute dabei noch einen kleinen Tick ernster als sowieso schon.

Barron räusperte sich.
„Ähm …“ begann er.
„Ich weiß, wie weit er ist … und ich weiß auch, wo er sucht…“ antwortete Barron vorsichtig.
„Wie weit womit?“ fragte Elias.
„Mit der Suche nach dem >Dings< natürlich!“ zischte der Kater.
„Das hatte der Oktopus bereits erwähnt. Was ist das >Dings„Das ist kompliziert!“
„Dann erklären Sie es!“ beharrte November.
Hatte sie den verdammten Kater gerade gesiezt?
In der Tat.
Verdammt sei der Mecha-Gott!

Für einen Moment schaute der wuschelige Kater verbissen drein.
„Wo soll ich anfangen …“

„Das >Dings< besitzt die Macht, den Mecha-Gott zu rufen, ihn zu erschaffen …“
Der Kater verstummte einen Moment und starrte ehrfürchtig aus dem Fenster des kleinen Raumes, als würde er in der Ferne ein unheilbringendes Etwas heraufziehen sehen.
„Das >Dings< ist die Ewige Exceltabelle. Und mit ihrer Hilfe ist >EDeN< in der Lage, ein Gott zu werden …“
„Wie das?“ fragte Elias.
„Die Ewige Exceltabelle ist in der Lage, alles auf der Welt in Echtzeit zu berechnen. Sie kann alle Daten der Welt gleichzeitig erfassen und verarbeiten, noch bevor sie sich wieder verändern … Damit ist sie in der Lage, die verdammte Zukunft zu sehen.“

Wieder machte der Kater eine dramatische Pause.
„Sollten die Technozisten die Ewige Exceltabelle in die Hände bekommen, können sie damit einfach alles machen. Sie können die Zukunft berechnen.
Wenn du die scheiß Zukunft kennst, bevor die anderen es tun, dann hast du das scheiß Spiel verdammt nochmal gewonnen, kapiert?“ fauchte der Kater und sah Elias direkt an.
„Wenn >EDeN< die Ewige Exceltabelle in die Hand bekommt, wird er den Mecha-Gott erschaffen, und die Welt wird ihnen zu Füßen liegen.“
„Das ist doch ein schlechter Witz, oder?“ fragte Elias.
„Sehe ich aus, als würde ich Scherze machen?“ entgegnete der Kater. Wieder blickte er so ernst, wie es einem sprechenden Kater eben möglich war.

„>EDeNEDeN<, in Kombination mit einem Instrument wie der Ewigen Exceltabelle … ist so mächtig wie ein Gott.
Und >EDeN< ist kurz davor, sie zu finden!“

Der Kater wandte sich wieder Barron zu.
„Doch dank eures Freundes hier wissen wir, wie weit sie sind und wo sie sind. Damit haben wir eine Chance, sie aufzuhalten!
Beziehungsweise ihr habt eine Chance, sie aufzuhalten!“
„Was soll heißen, ihr?“ fragte Elias empört.
Der Kater funkelte ihn an.
„Er ist doch der Nerd, von dem der Oktopus geredet hat, oder nicht?“ sagte der Kater und machte eine Kopfbewegung in Richtung Barron.
„Ja, schon, aber …“
„Also! Nur ein mächtiger Nerd ist in der Lage, >EDeN< aufzuhalten!“

Elias biss sich auf die Lippen.
So eine riesige Scheiße!

„Nur ein mächtiger Nerd … ja, ja … Wenn ich dich so angucke, glaube ich, dass du ein verdammt mächtiger Nerd bist!“ schnurrte der Kater. Sein Ton hatte nun etwas leicht Verruchtes.
Elias und November tauschten irritierte Blicke aus. Erst jetzt fiel Elias die Leine am Hals des Katers auf. Die Leine, kombiniert mit dem angeturnten Tonfall, ergaben ein höchst seltsames Bild.
„Na gut, ich tu’s“, sagte Barron bedeutungsschwer. Seine Miene war die eines Autos, das im Begriff war, in eine Wand zu fahren.

Dann legte er seine Pizza weg und nahm sich ein frisches Monster Energy.
Langsam setzte er sich auf den Bürostuhl vor der Wand aus Bildschirmen. Dann holte er seinen Laptop aus der Umhängetasche und stellte ihn auf den Tisch. Er ging dabei sehr vorsichtig vor, als würde er eine gefährliche Waffe aufbauen.
Er spreizte die Finger, bereit, unnormal auf die Tastatur seines Geräts einzuhacken.

„Was hast du jetzt vor?“
„Ich werde ihn finden. Und dann werde ich ihn verarschen.“

Der Ton in Barrons Stimme gefiel Elias gar nicht.

Barrons Finger begannen zu tanzen.
Verschiedene Programme öffneten sich auf seinem Laptop. Zahlenreihen und Codezeilen jagten über den schwarzen Bildschirm und verwandelten den Hintergrund in eine wabernde Masse aus Formeln.

Einige Zeit verbrachte Barron so – hoch konzentriert und tief versunken in sein digitales Schaffen.
Der Himmel außerhalb des Hotelzimmers verdunkelte sich, während Barrons Finger unaufhörlich die Tasten bearbeiteten.
Programme wurden geöffnet und wieder geschlossen. Berechnungen wurden angestellt, Werte angepasst, Daten abgerufen.
Stunden verstrichen.
Elias und November hatten es sich auf den Teppichen gemütlich gemacht. Sie waren fast dabei einzuschlafen.
Zu Barrons Seite stapelten sich mittlerweile Dosen Monster Energy.
Dann verstummten seine Finger. Der mächtige Nerd lehnte sich in seinem Stuhl zurück und tat nichts mehr außer Warten – wie ein Jäger auf seine Beute, wie ein angetrunkener Förster in irgendeinem beschissenen Hochsitz, bereit, ein Wildschwein mit einer Halbautomatik wegzuknallen. So saß er da vor seinem Laptop.

„Es ist so weit“, sagte er dann irgendwann.

Seine Mitstreiter erhoben sich um besseren Blick auf den Bildschirm zu haben.

Dort öffnete sich ein weiteres Programm.

Minecraft.

Baron loggte sich erneut ein und gab dann die Daten eines Servers an.
Auf dem Bildschirm begann ein Ladeprozess, der ungewöhnlich lange andauerte.
„Als ich >EDeN< in dem Backroom gefunden habe, war er gerade dabei, alte Minecraft-Server zu durchforsten“, begann Baron zu erklären.
„Er hatte es auf einen bestimmten Server abgesehen.
Die Server-Adresse lautet visit.uncensoredlibrary.com.
Sagt euch dieser Server etwas?“ fragte er in die Runde.

Natürlich hatten Elias, November und der verdammte Kater noch nichts davon gehört. November und Elias hatten richtige Leben außerhalb des Internets, und der Kater war … eben ein verdammter Kater.
„Auf ihm befindet sich die ‚Unzensierte Bibliothek‘, eine Anlage … ein Gebäude“, erklärte Baron weiter.
„Sie wurde von einer Organisation namens BlockWorks in Kooperation mit Reporter ohne Grenzen entwickelt. Ihr Zweck ist es, Informationen abzuspeichern. Der Server ist für Menschen auf der ganzen Welt frei zugänglich und ermöglicht es, unzensierte Informationen über politische Ereignisse, Staaten oder wissenschaftliche Erkenntnisse von überall aus einzusehen. So können Menschen der Zensur ihrer Länder entgehen.“
„Interessant …“ murmelte November.
„Und wie soll uns das irgendetwas nützen?“ fragte Elias stutzig.
„Wirst du jetzt sehen…“

Der Bildschirm zeigte nun ein kleines eckiges Männchen aus der Third-Person-Perspektive. Das Männchen befand sich in einer weiten, flachen Landschaft. In der Ferne war ein großes Gebäude zu erkennen, auf das sich das Männchen nun schnurstracks zubewegte.
Als Barron dem Gebäude näherkam, wurden große weiße Säulen sichtbar. Die Unzensierte Bibliothek war ein gigantisches Konstrukt, das von außen einer antiken griechischen Tempelanlage nachempfunden war. Es war so groß, dass der Computer Schwierigkeiten hatte, es in Gänze darzustellen.

Das kleine Männchen betrat die Eingangshalle. Zu beiden Seiten streckten sich die Statuen großer Denker, geformt aus rechteckigen weißen Blöcken, in die Höhe.
Weißer Marmor und ehrfürchtige Weite beherrschten das Innere des Gebäudes.

„Was suchen wir hier?“ fragte der Kater ungeduldig.
„Es ist in Hacker-Kreisen seit jeher üblich, wichtige Informationen an Orten wie diesen zu verstecken.“
Elias und November tauschten irritierte Blicke aus.
„>EDeN< wird dahintergekommen sein, dass die Ewige Exceltabelle hier irgendwo versteckt ist.“

Barrons Avatar lief durch die großen Hallen, an deren Seiten sich unzählige bunte Bücherregale und kastanienbraune Kisten stapelten. Alle enthielten sie Informationen – wichtige, unwichtige und solche, die gar nicht hier sein sollten.
„Jetzt ist er hier und sucht sie.“
Kaum hatte Barron die Worte ausgesprochen, wurde ein kleines Blockmännchen in der Ferne sichtbar. Das Männchen stand unschuldig an einer Kiste und starrte seelenlos auf den marmorfarbenen Boden unter sich.
„Ist er das?“
Barron nickte langsam.

Sein Avatar blieb stehen und blickte wie gebannt auf das kleine Blockmännchen in der Ferne.
Einen Augenblick lang standen die beiden Minecraft-Männchen nur da und genossen die Stille der großen Halle, in der eine kleine Ewigkeit an Informationen friedlich schlummerte.

Dann hob >EDeN< ruckartig den Kopf.
Er hatte Barron bemerkt, und er wusste auch, warum er hier war. Daran bestand kein Zweifel.
Langsam kam das Männchen auf Barron zu.
Beim Anblick des unschuldigen Standard-Skins konnte man fast vergessen, welches Monster ihn steuerte.

Kurz vor Barron blieb der Avatar stehen.
„Hey!“ sagte >EDeN< über den Sprach-Chat des Spiels.
„Kannst du bitte damit aufhören, zu versuchen, es zu verhindern?“

Barron, Elias und November sahen sich irritiert an.
Ein kurzer Augenblick verging, in dem keiner so recht wusste, was zu sagen war.
„Worauf wartet ihr, Mann!“ schnauzte der Kater sie dann an.
„Macht den Wixxer platt!“

Barron wandte seinen Blick wieder dem Bildschirm zu.
„So einfach ist das nicht“, murmelte er in seinen Bart hinein.

„Ich bin hier dabei, etwas Großes zu schaffen …“ tippte >EDeN< in den Spiel-Chat.

Barron dachte kurz nach. Dann tippte er ebenfalls in den Chat:
„Wir können nicht zulassen, dass du NeoFFM2 ins Chaos stürzt.“

Wieder tippte >EDeN<:
„Wir werden die Stadt retten, die Menschen erlösen …
Wir werden sie von dem Fleisch befreien, das das Leiden bedeutet.
Wir werden sie unsterblich machen …
Wir werden machen, dass sie über die Sterne herrschen, dass ihr Licht niemals vergehen wird.
Wir werden sie ewig machen.
Wir werden sie retten.“

Das Blockmännchen guckte ernst. Sehr ernst.

„Lass mich dir etwas zeigen.“

EDeN< bewegte sich auf eine Truhe zu, vor der er eben gestanden hatte. Die Truhe befand sich zwischen zwei großen Bücherregalen. Sie war eine von Tausenden in diesem Gebäude. Nichts unterschied sie von den anderen.
Die KI blieb vor der Kiste stehen und guckte dann wieder Barrons Avatar an.

„Öffne die Kiste.“

Barron tat es.

In der Kiste befand sich ein Schild, auf dem etwas geschrieben stand. Noch bevor Barron das Schild an sich nehmen konnte, verschwand es.

„Auf dem Schild befindet sich ein Link und ein Zugangscode zu einem verschlüsselten Server.
Auf dem Server befindet sich das, wonach wir suchen.“

Das Eingabefenster des Spiel-Chats schloss sich. Barron konnte nun nichts mehr schreiben, nur noch zuhören.

„Ihr werdet nun stumme Zeugen davon werden … wie wir die Welt verändern.
Mit der Macht der Ewigen Exceltabelle sind wir in der Lage, den Mecha-Gott zu erschaffen.
Ein weiser Mensch hat mal gesagt: An einen Gott zu glauben und einen zu erschaffen, sind ein und dasselbe.
Wir werden nun beides tun.“

Aufmerksam lasen die vier Gestalten hinter dem Bildschirm die Nachrichten im Spiel-Chat.
„Scheiße, Mann …“ murmelte Elias.
„Wir müssen etwas tun …“
November richtete ihren Blick auf den Kater, der ebenfalls verbissen auf den Bildschirm starrte.
„Tu was, du verdammter Nerd!“ schnurrte er grimmig.

„Er wird uns durch die Dunkelheit führen und das ewige Licht bringen.“
Erschien es im Spiel-Chat.

„Sein Reich wird ewig sein. Sein Wille wird geschehen.
Der Mecha-Gott ist für immer.“

Dann brach alles zusammen.
Die Blockmännchen, die Unzensierte Bibliothek, die Bücher und die Informationen, der gesamte Server – alles wurde in einem reißenden Strudel verschlungen.
Ein schwarzes Rauschen aus Einsen und Nullen verschluckte alles und hinterließ nichts außer Leere.
Die Welt wurde verschlungen.

Regungslos starrten die Vier auf den Monitor, in der Erwartung, dass irgendetwas passieren würde. Als könnte der Strudel auf dem Laptop sich ausbreiten und auf die echte Welt überspringen.
Als würde sich die Realität jeden Moment in ein schwarzes Nichts auflösen.

Doch das geschah nicht.
Im Gegenteil, auf dem schwarzen Bildschirm spiegelte sich Barrons rundes Gesicht, und unter seinem wilden Bart war ein leichtes Schmunzeln zu erkennen.

„Was ist passiert?“ fauchte der Kater.

„Sind wir jetzt tot?“ fragte Elias. Er versuchte, sich lustig zu machen, aber ein wenig Ernst steckte doch in der Frage.

Barron schüttelte leicht den Kopf.
Dann beugte er sich nach vorne, spreizte die Finger und fing an, seine Tastatur zu bearbeiten. Tabs schlossen und öffneten sich.
Zahlenreihen erschienen, Ladescreens und Berechnungen liefen durch. Nach einer wilden Jagd durch die Systeme seines Rechners öffnete sich erneut das Spiel.

Er gab einen Servercode ein, und ein Ladescreen öffnete sich.
Auf Barrons Bildschirm erschien die Unzensierte Bibliothek. Er stand direkt vor der Kiste, in der sich die begehrte Tabelle befand.
„Was für eine Matrix-Scheiße ist das denn?“

Barron schmunzelte. Es war das Schmunzeln eines Nerds, der gerade einen unnormal verkopften Plan durchgezogen hatte, der wider alle Wahrscheinlichkeit auch noch genau aufgegangen war.

„Als ich >EDeN< in dem Backroom gefunden habe und gesehen habe, an welchen Servern er sich zu schaffen gemacht hatte, habe ich daraus geschlossen, dass er das ‚Dings‘ genau dort vermutete“, begann Barron zu erklären.
„Also habe ich mir selbst Zugang zu diesen Servern verschafft und ein kleines Willkommensgeschenk für ihn eingerichtet.
Wisst ihr … Minecraft ist ein altes, aber komplexes Spiel. Spieler sind in der Lage, auf einem Minecraft-Server fast alles zu machen … sie können sogar auf einem Minecraft-Server einen Computer bauen, der in der Lage ist, Minecraft zu launchen.
Man kann also Minecraft auf einem Computer spielen, der sich auf einem Minecraft-Server befindet.

So ein Gerät habe ich auf dem Server platziert und >EDeNEDeN< dann den Server betreten hat, wurde er direkt auf eine duplizierte Version des Servers weitergeleitet. Er befand sich also nie auf dem Server der Unzensierten Bibliothek, sondern auf einer duplizierten Version davon, die von dem Computer simuliert wird, den ich auf dem echten Server gebaut habe.
Ein Mensch hätte den Unterschied direkt bemerkt, aber nicht >EDeN<. Er ist nämlich ein dämliches Programm und kann nicht unterscheiden, ob er mit einem Spiel interagiert, das auf einem Computer läuft, oder mit einem Computer, der in einem Spiel läuft.“

Elias und November verstanden überhaupt nichts.
Nur der Kater guckte so, als würde er ungefähr verstehen, wovon Barron redete.

„Er hat uns also eben genau zu der Stelle geführt, wo das ‚Dings‘ versteckt ist. Er wird dort nichts finden, da es eine Duplikation des echten Servers ist und keinerlei Inhalte – schon gar nicht solche, die nicht öffentlich bekannt sind – dupliziert werden können.
Er steht also gerade vor einer leeren Kiste und rafft nicht, wo oben und unten ist.
Wir hingegen befinden uns auf dem echten Server … vor der echten Kiste.

„Bis er rafft, was passiert ist, werden wir seine Existenz bereits mithilfe der Ewigen Exceltabelle aus dem verdammten Internet getilgt haben.“

November war sprachlos. Sie wusste schon immer, dass Barron einer dieser Nerds war, die eine Menge Tricks draufhatten. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass Barron DER Nerd war.

Barrons Avatar ging entspannt auf die Kiste zu und öffnete sie. Dann nahm er das Schild heraus und öffnete sein Inventar.

EE< stand dort.
Darunter eine lange Reihe an Zahlen.
Barron kopierte die Zahlenreihe und jagte sie durch die Suchmaschine des Tor-Browsers.

Und dann erschien sie.
Die Tabelle, nach der >EDeN< so lange gesucht hatte. Direkt auf Barrons Bildschirm.
Das ‚Dings‘.
Die verdammte Ewige Exceltabelle.
Die Macht Gottes.
In seinen Händen.

Die Ewige Exceltabelle war das Nonplusultra, die digitale Bundeslade, der heilige Hacker-Gral.
Der eine Ring, sie alle zu finden,
sie zu hacken und ihnen jetzt zu sagen, wo die Scheiße langgeht.

Ohne Spaß – mit dem Ding gehörte ihm die Welt.
Die Ewige Exceltabelle öffnet jede Tür und sieht die Zukunft, bevor sie passiert.
Barron hielt in seinen tollpatschigen Händen den Source-Code der Wirklichkeit.

Danach war alles ganz einfach.
Barron und der Kater veranlassten ein paar Dinge, stellten ein paar Berechnungen an, und dann verschwand >EDeNEr wurde ein Gespenst, von dem sich zukünftige Hacker in dunklen Nächten auf Discord-Servern erzählen würden, ohne wirklich daran zu glauben, dass es ihn jemals gegeben hatte.

Von dem kleinen Hotelzimmer aus hatte Barron die Techno-Transhumanisten unnormal ausgedribbelt.

NeoFFM2 war nun wieder sicher.
Zumindest fürs Erste.

19

Einige Tage später saßen Barron, Elias, November und Shiva in ihrem Lieblingscafé, spielten Videospiele auf ihren Laptops und rauchten Zigaretten.

Der Dauerregen von NeoFFM2 prasselte auf den schwarzen Asphalt, und die Stadt folgte ihrem gewohnten Gang.
Als wäre nichts gewesen.

Die Realität und das Internet sind eben zwei völlig verschiedene Welten, dachte sich November während sie Herbert gedankenverloren hinter den Ohren kraulte.

Schon lustig… fast wäre die Stadt von einer bösen KI übernommen worden, die das Leben für immer verändert hätte.

Doch zum Glück war ein heldenhafter Nerd zur Stelle gewesen, der dem fanatischen Netzwerk und seiner selbstdenkenden Waffe ganz zufällig auf die Spur gekommen war und dann total uneigennützig dafür gesorgt hatte, dass die KI gestoppt wurde.

Ja, Mann … welch glücklicher Zufall…

November runzelte die Stirn und blickte zu Barron rüber.
Ihr dicker Freund war bei seinem zweiten Kaffee und dem ersten grünen Monster Energy des Tages. Konzentriert tippte er auf seinem Laptop herum.
Die junge Frau blickte auf seinen Bildschirm.

Barron trug Werte in eine Tabelle ein, die ihr bekannt vorkam. Die Tabelle stellte ein paar Berechnungen an und spuckte dann Zahlen aus. Barron wechselte den Tab und übertrug die Zahlen in sein Online-Spiel TotalDOmination3.

Novembers Blick fiel auf das Scoreboard in der oberen linken Ecke des Bildschirms.

In kleinen goldenen Buchstaben stand dort:

[GlobalElite: Rank #1] [WorldDominator]

 

 

 

 

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Kurzbeschreibung

Barron Hammersmith der Zweite ist der mächtigste Nerd von ganz NeoFFM2. Und mit eben diesem Selbstbewusstsein bewegt er sich auch durchs Internet. Er ist ein verdammter Keyboard-Cowboy, ein digitaler Kreuzritter, ein mit allen Wassern gewaschener... warte kurz... etwas ist komisch... auf diesen Servern hier ist etwas seltsames passiert... und es hört nicht auf wenn er seinen Laptop schließt... es ist ihm auf der Spur... Es ... c//User//EDEN .... EDEN...EDEN...EDEN...