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Das Silvestermärchen

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05.12.20 18:10
Fertiggestellt

Es war einmal im Vorort Prinzenwiese ein bezauberndes Haus mit riesigen Fenstern und Schornsteinen, so gross wie die von der Titanic. Der Garten war eine seltene Pracht. Auf dem Grundstück von der Familie Wellington war alles eine Nummer grösser. Bei näherer Betrachtung verwandelte sich die Oberklassenidylle leider in eine hässliche Karikatur. Wellingtons hatten altes Geld geerbt, nie etwas dafür tun müssen. Die schöne Oberfläche kaschierte das fehlende Benehmen nur ganz knapp. Nicht alles kam per Lieferservice ins Haus.

 

Die Kinder, Loïc und Sylvain, 5 und 6 Jahre alt, bekamen privaten Kindergartenunterricht zu Hause, sie erschienen im Pyjama, und sie konnten einfach nicht verstehen, warum die Lehrerin nicht im Morgenmantel ins Zimmer trat. Gemütlichkeit wurde im Hause Wellington gross geschrieben. Auch der Vater schlurfte meistens im Trainingsanzug durch die Räume, die Mutter bevorzugte ihre Hausanzüge aus Seide. Nur eines fehlte zum perfekten Glück: ein Hund. Einer aber, der zu ihnen passte. Einer, der nicht spazieren musste und auch nicht zur Hundeschule ging.

 

Anfang Dezember, als Wellingtons gerade damit beschäftigt waren, ihr Weihnachtsfest zu planen, fiel der Mutter ein, dass man gleichzeitig den Tiererwerb organisieren könnte.

„Du, gibt’s eigentlich Hunde im Versandhauskatalog?“, fragte sie. „Schau doch mal unter Hund nach, Jeremy.“

Ihr Mann fand nichts und rief deshalb den Sekretär zu sich, der wie immer in der grossen Halle sass, Kreuzworträtsel löste und auf die Wünsche der Familie wartete. „Paul, wissen Sie, wo man Tiere kaufen kann?“

„Sie meinen das Fleisch? Wurde heute nichts geliefert?“

„Wir meinen Haustiere... Hunde, Katzen, solche Sachen eben.“

„Ach so, Haustiere. Bei Tieren denke ich automatisch ans Marinieren. Nein, ich weiss auch nicht, wo man so etwas bekommen kann.“

„Danke. Sie können gehen. Wir müssen das Projekt ganz anders angehen, Patricia. Bevor wir ein Tier bestellen können, brauchen wir ein Haus dafür. Wir müssen Architekten anrufen, Sanitärinstallateure und jemanden von der Behörde, damit das Gesuch vorbeigewinkt wird und wir Mitte Dezember Weihnachten feiern können. In unserem neuen DOGGYLAND!“

Man nahm es nicht so genau mit den offiziellen Daten. Den Nikolaus hatten sie schon Ende November hinter sich gebracht, Heiligabend konnte irgendwann im Winter stattfinden und die Heiligen Drei Könige zappelten vielleicht wie im letzten Jahr an Silvester zum Aperitif vorbei. Mit Champagner und (Weih)rauchlachs.  

 

Ein paar Tage vor Weihnachten stand das Doggyland neben der Villa – komplett ausgebaut. Im Innern bereitete man alles für den Auftritt vor. Die Tiere wurden eingekleidet und gekämmt (in der Zwischenzeit hatte man sich für eine ganze Tiergruppe entschieden, ein Hund war viel zu wenig). Die Innendekorateurin schob ein paar Strohballen zurecht, der Fotograf wies den Hund und die Katze an, die rechte Pfote zu heben. „Sagt, hi!“.

Hinter ihnen kuckten unscharf ein paar kleinere Kreaturen hervor. Genau dieses Sujet hatte Wellington für die Weihnachtskarte vorgegeben. Der Text dazu: Merry X-Mas, wuff wuff, oder so.

Nach getaner Arbeit legten sich die Tiere wieder hin und warteten. Worauf, wussten sie nicht. Das Kaninchen schnupperte an der Schildkröte, das Meerschweinchen quiekte in seinem kleinen Salatberg. Der Salat war GUT!

 

Als das Tor geöffnet wurde, verkrochen sich alle ganz schnell in die hinterste Ecke ihrer Strohballenlandschaft. Sie hörten eine Stimme:

„Vati hat gesagt, man habe unseren Viechern beigebracht, ganz alleine nach Hause zu finden. Wir haben nämlich Tiere bestellt, die nicht so dämlich abhängig sind. Man lässt sie irgendwo raus und die finden zurück nach Hause.“

Hatten die Tiere vielleicht GPS? Der Kleinere hob die Schildkröte hoch, drehte sie um. Eine Aussparung war nicht zu finden, auch keine Kerbe, um den Deckel zu öffnen und die Knopfzellenbatterie auszuwechseln. „Wie sieht’s im Innern einer Schildkröte eigentlich aus? Gibt’s dort Bad und Küche? Und wie putzt man das?“

Der Grössere wusste: „Das ist alles selbstreinigend. Komm, wir nehmen das Schneemobil und bringen die Tiere zum Teich. Ich will wissen, ob sie die Fährte aufnehmen können. Und wenn sie nicht nach Hause finden, dann sind es ganz blöde Tiere, und die wollen wir nicht.“

 

„Tut er uns jetzt etwas?“, fragte die kleine Siamkatze Trish den Foxterrier Wynn.

Die Buben schnappten sich das Kaninchen, die Schildkröte und das Meerschweinchen und steckten sie alle drei in den ersten Korb. Wynn und Trish wehrten sich nicht, als man sie beide aufhob und in den zweiten Korb schob.

Er war wohl im nächsten Schlamassel... Wynn fasste innerlich zusammen: Er hatte kurz einem Paar gehört, dann kam ein Baby, er biss kurz zu, man fiel über ihn her, er landete bei einem alten Mann im Rollstuhl und leistete ihm Gesellschaft, bis dieser starb. So war das, wenn man eine Heimkarriere hatte. Man erhielt Aufträge. Wie vorhin als Tiermodel für eine Weihnachtskarte.

„He!“, schrie eine Stimme von draussen. „He, Wynn! Hörst du mich?“ Es war das Kaninchen Oktober. So hatte man's getauft, einfach nur, weil in jenem Monat geboren.

„Was willst du, Oktober?“

„Ich weiss, wo wir Unterschlupf finden können. Wir gehen zu mir!“

„Du hast ein Haus?“

„Ich mit den anderen 200.“

„Aber du bist ein KANINCHEN!“

„Ach DAS! Schon klar. Schlechtes Karma. Aber jetzt noch nicht. Eher nicht an Weihnachten... du weisst schon...“

 

Wynn hatte kaum Zeit darüber nachzudenken, die Fahrt auf dem Schneemobil war schon vorbei. Beide Korbdeckel wurden geöffnet, der eine Junge packte die Schildkröte und warf sie ohne Vorwarnung ins Wasser, das Meerschweinchen stellte er auf einen Ast, Oktober wurde verscheucht und blieb unschlüssig im Wald stehen.

Der andere Bub trennte auch den Hund und die Katze, warf ihnen abgebrochene Äste hinterher, und schon stiegen Wellingtons wieder aufs Fahrzeug und brausten davon.

 

Als keine verdächtigen Geräusche mehr rund um den Teich zu hören waren, setzten sich alle Tiere in Bewegung und gaben Laute von sich. Am deutlichsten schrie die Katze. Sie brauchte Wynn. Dringend sogar. Und sie fand ihn, recht schnell. „Wynn! Wynn! Was werden wir tun???!“

„Wir warten auf die anderen, dann gehen wir weiter. Dort drüben habe ich einen Zaun gesehen. Und wenn der irgendwo anfängt, dann gibt es auch ein Ende. Und am Ende des Zauns gibt es eine Strasse und vielleicht Futter und Schlafplätze.“

„Wir verwildern? Das ist aber nicht gut. Das haben auch die Leute im Tierheim gesagt. Verwildern ist schlecht. Und ungesund.“

Die Schildkröte stieg umständlich aus dem eisigen Wasser. „Ui ui, ich wär fast in den Winterschlaf gefallen, so kalt war das. Ich muss mir jetzt einen sicheren Platz suchen, dann wird überwintert und ciao. Ich muss mich einbuddeln.“

Das Meerschweinchen und das Kaninchen kamen angesprungen.

„Hat jemand Salat?“, fragte Ersteres. „Ich habe solchen Hunger.“ Es sprang auf und ab, noch immer vollgepumpt mit Adrenalin. „Ich brauche jetzt wirklich meinen Salat“, jammerte es. „Warum füttert mich denn niemand.“

 

Nachdem sie ein paar Stunden umhergeirrt waren, geschah etwas, was ihr Leben verändern würde... Aber alles der Reihe nach.

Ein ausgemergelter Igel humpelte an ihnen vorbei. „Lasst mich vorbei. Ich muss zu Rita. Ich war schon letztes Jahr da, die ist super! Aus dem Weg.“

Wynn liess ihn nicht vorbei. „Was ist das für ein Haus?“

„Eine Igel-Auffangstation“, dozierte der Ausgemergelte. „Und Rita... die ist ... wow! ... die ist WOW!!“ Er rollte mit den Augen. „Die legt uns alle schlafen. Zuvor werden wir mit Vitaminen vollgepumpt, vom Arzt gecheckt, entwurmt, all inclusive.“

„Weisst du, ob Rita auch andere Tiere mag?“

„Allll-sooooo...“, besorgt um das eigene Wohl wollte er diesen Flüchtlingen nicht gar zu viel verraten. „Kannst du nicht ins Tierheim?“

„Und du? Warum gehst nicht du ins Tierheim?“

„Ich bin ein IGEL! Wir werden nicht vermittelt, falls du das nicht weisst.“ Er hob seine Drüsen. „Wir sind eigenwillig.“ Dann watschelte er definitiv davon.

Die Schildkröte sass mit offenem Maul da. „Ich will auch Vitamine. Ich bin sooo alt. Ich geh jetzt dorthin!“

 

Rita war damit beschäftigt, den ausgemergelten Igel vorzubereiten, als die Schildkröte das Holzhaus erreichte und zu ihr hoch sah. Die Tierpflegerin bemerkte sie sofort. „Ja, wer bist du denn?“ Sie ging in die Hocke. „Wo hast du dich denn losgerissen? Schildkröten im Wald?“ Sie blickte kurz weg und wieder hin und neben der Schildkröte sassen jetzt ein Kaninchen und ein Meerschweinchen. „Aber... hä?“ Als auch noch ein Miauen aus der immer gleichen Richtung erklang, sorgte sie sich allmählich. Sie eilte den Geräuschen im Gebüsch entgegen und stiess auf Trish und Wynn, die sie etwas eingeschüchtert anschauten. „Jesses, wo kommt ihr denn alle her?“ Sie griff nach ihrem Handy und rief ihren Freund an. „Marek, kannst du bitte mit dem Kombi zur Station fahren. Ich hab acht Igel, einen Hund, eine Katze, eine Schildkröte, ein Meerschweinchen und ein Kaninchen ... gell! ... ja, bitte, hol mich ab ... Ciao.“

 

Marek lebte seit vielen Jahren mit seiner tierverrückten Freundin. Immer kamen Anrufe von wildfremden Leuten, denen etwas aufgefallen war. Können Sie dies, können Sie jenes... aber auch er packte an, wo er nur konnte. Das Fleckchen Natur in der Nähe von Prinzenwiese war unbedingt schützenswert.

Sie schauten beide in den Rückspiegel. Der Kofferraum war voller Igel und die Rückbank seines Wagens glich einem Streichelzoo.

„Und was machen wir jetzt mit der ganzen Clique?“, fragte er, während er langsam aus dem Wald fuhr.

Rita nahm die Mütze ab und fuhr sich durch das zerzauste Haar. „Lass mich etwas nachdenken. Vor allem weiss ich nicht, wie wir die Kleinen aufteilen sollen. Die waren alle zusammen.“

„Das kann doch nicht sein...“

„Ich schwör’s! Die waren gemeinsam unterwegs.“

Marek zog seine Brauen hoch. „Bist du sicher?“

„Ja, und deshalb will ich zuerst einmal beobachten, was sich da noch tut.“

„Wir haben noch unser Gästezimmer“, sagte er halb im Spass.

 

Wellingtons trafen sich derweil zum ausgedehnten Brunch.

„Wir haben heute Morgen etwas bemerkt. Die Tiere sind abgehauen“, sagte Sylvain. „Ich glaube, ich hab die Tür offen stehen gelassen.“

„Dann ist der Sicherheitsdienst schuld, doch nicht du. Und ich hab doch gesagt, die finden zurück. Und wenn nicht... Tiere in freier Natur überleben“, ergänzte er bestimmt. „Hart wie Stahl.“ Er klopfte gegen einen Eierbecher aus Metall.

 

Am Silvesterabend setzten sich Rita und Marek zusammen auf die Couch und öffneten kurz vor zwölf eine Flasche Wein. Marek reichte seiner Freundin ein Glas. „Jetzt sind ein paar Tage um. Hast du dich entschieden?“

„Das Nachtlicht ist eingeschaltet, sie haben Decken und Stroh und so. Ich hoffe, das Silvesterfeuerwerk macht ihnen nicht zu schwer zu schaffen.“

Marek begann zu lachen. „Blaues Nachtlicht, Musik, damit sie vom Lärm abgelenkt sind. Herrlich. Jetzt hast du wieder fünf neue Babies.“

„Wir könnten sie doch behalten. Vorerst.“

„Ich kenne dein vorerst.“

„Würde es dir etwas ausmachen, eine Katze und einen Hund zu haben? Und ein paar Nager?“

„Und die Schildkröte? Willst du die nicht behalten?“

„Die Schildkröte natürlich auch...“

„Natürlich.“ Er prostete ihr zu. „Ich finde auch, dass wir sie vorerst behalten sollten. Ich könnte nächsten Frühling eine Hütte zimmern, mit ein paar Räumen.“

„Ein Tierhaus?“

„Ein echtes, tiergerechtes Tierhaus.

„Klingt märchenhaft“, freute sich Rita. „Mein Silvestermärchen. Danke, Marek.“

Aus dem Nebenzimmer quiekte es: „He, ihr zwei, vergesst nicht meinen Salat!“

Autorennotiz

Eine Weihnachtsgeschichte zum 2. Advent :-)

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Silly Am 13.12.2020 um 17:24 Uhr
Eine Geschichte, die Tierliebhabern zu Herzen geht... Toll.
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funnybits (Autor)Am 13.12.2020 um 20:18 Uhr
hi silly! vielen dank für dein feedback! von einem tierfan für tierfans :))

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