Storys > Romane > Liebe > Toni und Gregor und die Dinge dazwischen

Toni und Gregor und die Dinge dazwischen

804
1
26.02.22 21:33
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
In Arbeit

Autorennotiz

Langsames Erzähltempo

Dass der Tag scheisse werden würde war Toni schon klar, als er sich beim Aufstehen in seiner Decke verhedderte, aus dem Bett auf den Boden fiel und sich unsanft die Schulter prellte. Beim Frühstück brannte ihm der Toast an, im Bus zur Schule war kein Platz mehr frei und als sie vor dem Klassenzimmer warteten und der Lehrer schon in Sichtweite war, fiel ihm ein, dass er die Mathehausaufgaben vergessen hatte und sie schnell noch von Lydia oder Max abzuschreiben war völlig unmöglich. Natürlich kam er dann als Erster an die Reihe, als die Hausaufgaben abgefragt wurden und er war sich schon sicher, dass die Erwähnung im Klassenbuch der Höhepunkt dieses Tages wäre.

Bis seine Mutter ihm die Tür öffnete, als er endlich und viel zu spät zu Hause ankam, weil ihm der Bus vor der Nase weggefahren war. Wenn sie ihm die Tür öffnete, obwohl doch deutlich zu hören war, dass er sie grade aufschloss, war irgendetwas Schwerwiegendes vorgefallen. Schlechte Nachrichten teilte sie ihm meistens an der Haustür mit.

"Was ist passiert?" wollte er wissen und ging im Kopf schon mögliche Szenarien durch angefangen von wieder einmal angebranntem Essen bis hin zu der Aussicht, in neun Monaten ein Geschwisterchen zu haben. Schließlich sprachen Peter und seine Mutter schon länger darüber und irgendwann musste es dann ja mal passieren. Bei dem Gedanken verzog Toni das Gesicht. Ein Baby, das rumschrie, ihn beim Schlafen störte, seine Bücher zerriss und überall mit verschmierten Fingern hinpackte war genau das, was er absolut nicht gebrauchen konnte.

Seine Mutter hatte, während er nachdachte, bereits angefangen zu erzählen und erst waren ihre Worte mehr oder weniger ungehört an ihm vorbeigerauscht, bis er die Schlagworte ,Portugal' und ,leider nicht' aufschnappte. Ein heftiger Stich durchschoss seinen Körper. "Wir fahren nicht nach Portugal?!" fiel er seiner Mutter fassungslos ins Wort.

Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. "Tut mir Leid. Aber du hast doch mitbekommen, dass Peter und ich uns im Moment nur noch streiten. Da kann ich nicht drei Wochen in Portugal mit ihm zusammenhocken! Wir müssen erst mal wieder auf einen grünen Zweig kommen."

"Dann fahren wir eben ohne ihn!" rief Toni. Das wäre ihm sowieso am liebsten gewesen. Aber natürlich keine Option für seine Mutter. Sie sah ihn mit grunzelter Stirn an und schüttelte den Kopf. "Nein, wir fahren nicht ohne ihn! Ich versteh nicht, wieso du nicht mal probierst, mit ihm klarzukommen. Er versucht immer alles und du blockst jedes Mal ab!"

"Er behandelt mich wie ein Kind," erwiderte Toni. Er spürte, dass er wütend wurde, aber Wut war hier völlig verschwendet, denn sie würde sowieso nichts ändern. Er versuchte deswegen, sie zu verdrängen und die Wut verschwand mehr und mehr- bis seine Mutter entgegnete: "Du bist doch auch ein Kind!" Da war sie mit einem Schlag wieder da, heiß stieg sie ihn ihm hoch und jetzt kam er nicht mehr dagegen an. "Ich bin vierzehn!" rief er. "Ich bin kein kleines Kind mehr! Und das soll er einfach einsehen!"

Ein amüsiertes Lächeln umspielte die Mundwinkel seiner Mutter, was Tonis Zorn nur noch einen erneuten Schub versetzte. Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, von dem er noch gar nicht genau wusste, was es sein würde, aber irgendetwas musste es einfach sein um seiner Mutter klarzumachen, was das hier für eine ernste Sache war, sagte sie: "Gut, dann muss Toni der Erwachsene sich jetzt damit abfinden, dass er nicht drei Wochen nach Portugal fliegt sondern zu seiner Tante aufs Land fährt."

Toni riss die Augen auf. "Das ist doch ein Witz, oder?!"

"Nein, ist es nicht. Ich hab grad schon mit Nadja gesprochen, sie freut sich schon total, dich mal wiederzusehen. Überleg mal, du warst sechs, als wir das letzte Mal da gewesen sind. Und du wirst Kamilla wiedersehen. Ihr habt früher so gerne zusammen gespielt. Auf ihrer tollen Burg. Na komm, denk nur mal kurz dran zurück, dann wird dir einfallen, wie super das war."

"Es ist doch gar nicht ihre Burg!" schnappte Toni. "Sie haben da doch bloß die Gärtnerei!" Ziemlich idiotisch jetzt mit sowas zu kommen, als ob das Argument war, nicht zu seiner Tante zu fahren. Es gab doch sowieso keine Argumente, die er vorbringen konnte, denn letztendlich war er ja doch nur ein Kind, das gegen seinen Willen herumgeschubst werden konnte. Aber Wut und Enttäuschung, die sich in ihm zu etwas sehr Ungemütlichem vermischt hatten, bestanden darauf, dass er hier auf keinen Fall einfach nachgab und auch unsinnige Argumente waren besser als gar keine.

Seine Mutter verdrehte die Augen. "Ja, Herr Neunmalklug, ist schon recht. Es ist nicht ihre Burg. Aber das ändert nichts daran, dass du es da früher ganz toll fand. Also versuch dich an diese Zeit zu erinnern, dann findest du es vielleicht bald auch ganz toll, hinzufahren."

"Und außerdem ist Kamilla jetzt auch nicht mehr so wie damals. Sie ist ja jetzt auch 8 Jahre älter," versuchte Toni es weiter, während er seiner Mutter in die Küche folgte. "Sie ist bestimmt jetzt auch so'n dummes Mädchen."

Seine Mutter drehte sich zu ihm um und lachte. "Ein dummes Mädchen? Was ist das denn für eine Aussage für jemanden, der schon so erwachsen ist? Was ist denn ein ,dummes Mädchen'?"

Ein Teil in Toni pflichtete ihr bei, ja es war wirklich eine sehr blöde Aussage, allerdings konnte er jetzt auch nicht mehr zurück, das ließ weder sein Stolz noch sein Dickkopf zu. Egal, wie blöd es jetzt wurde und als er sagte "Sie lackiert sich die Nägel, redet nur über Pferde und kreischt ständig rum!" wurde es sogar noch blöder. Aber er steckte nicht zurück. Er stand da und sah seiner Mutter fest in die Augen.

Die zog die Nase kraus. "Aha? Aber lackiert Lydia sich nicht auch die Nägel. Ich hab sie auf jeden Fall schon mit welchen gesehen. Ist sie dann auch ein dummes Mädchen? Oder doch nur ein halbdummes, denn auf Pferde steht sie ja, soweit ichs mitbekommen habe, nicht."

Weiterhin sah Toni sie starr an, den Triumph, den Blick abzuwenden und ihr zu zeigen, dass er grade nach Worten suchte, gönnte er ihr nicht. Doch während er noch suchte und immer mehr in Panik geriet, weil das Argument, mit dem er diese Auseinandersetzung haushoch für sich entscheiden würde, einfach nicht kam, legte seine Mutter ihm die Hand auf die Schulter und sagte: "Ich versteh ja das du enttäuscht bist und ich bin es auch. Ich wäre auch total gern nach Portugal gefahren. Doch du musst auch mich verstehen. Das mit Peter kann ich nicht einfach zur Seite schieben. Aber ich verspreche dir, wir werden definitiv hinfahren und dann gucken wir uns alles an was sehen du willst!"

"Hm," machte Toni nur. Er brauchte das Mitleid, denn es war definitiv Mitleid, von seiner Mutter nicht, denn es kam nur, weil er vorher so einen Stuss gefaselt hatte. Aber zumindest hatte es dafür gesorgt, dass er jetzt aus dieser Situation verschwinden konnte.

Er knallte seine Zimmertür hinter sich in Schloss. Eigentlich gab es gar keinen Grund dafür, aber er konnte sich selbst nicht davon abhalten. Dann warf er sich aufs Bett und vergub das Gesicht im Kissen.

Selbstverständlich spielten sich jetzt Dutzende von Szenarien vor seinem inneren Auge ab, in dem er erwachsen und vernünftig mit seiner Mutter diskutierte und es fielen ihm lauter gute Sachen ein, die er hätte sagen können. Er stöhnte einmal frustriert auf, wälzte sich auf den Rücken, starrte an die Decke und versuchte Erinnerungen an damals heraufzubeschwören. Es waren nur undeutliche Bilder, aber so sehr er sich auch bemühte sich sicher zu sein, dass es furchtbar gewesen war, er konnte es nicht.

Er wusste nicht mehr viel von damals, aber dass die Burg so gewesen war, wie er sich immer eine richtige Ritterburg vorgestellt hatte, daran erinnert er sich genau. Sie hatte eine Zugbrücke, einen Burgraben und einen hohen Turm gehabt und natürlich hatten sie Ritter und König gespielt und war einfach herrlich gewesen, so sehr Toni auch versuchte, das vor sich selbst zu leugnen.

Bis ihm plötzlich die Erkenntnis kam, dass es, da er ja sowieso nicht an den Ganzen ändern konnte, vielleicht besser wäre, einfach zuzulassen, dass es ihm damals gefallen hatte und dass es sicherlich nicht so schlimm würde, wie er es sich grade ausmalte. Es wäre zwar mit Portugal nicht zu vergleichen, aber dass er dahocken und kreuzunglücklich sein würde, würde auch nicht passieren.

Doch als er sich später noch mit Lydia und Max an ihrem üblichen Platz auf dem Spielplatz trafen wurde sein Vorsatz allerdings noch auf eine harte Probe gestellt. Denn nachdem er ihnen alles erzählt hatte, bedachten sie ihn mit mitleidigen Blicken. "Das ist ja echt scheisse," meinte Lydia und legte ihm die Hand auf den Arm. "Kannst du nicht irgendwas dagegen machen?"

Toni lachte einmal freudlos. Nachdem er sich vorhin schon einigermaßen mit seinem neuen Urlaubsziel angefreundet hatte, verließ er diese Position jetzt nur allzugern wieder. "Meinst du, ich hab nicht gesagt, dass ich da nicht hinwill?! Aber das ist ihnen doch total egal. Noch können sie mit mir ja machen, was sie wollen."

"Ja, leider," erwiderte Lydia nur, aber aus ihrer Stimme hörte Toni genau das heraus, das sie nicht ausgesprochen hatte: ,Du armer Kerl, musst dich auf dem Land langweilen, während ich mit meiner Familie nach Las Vegas fliege'. Von Max hätte er sicher eine ähnliche Botschaft empfangen, schließlich fuhr der nach Italien in ein total schickes Hotel, von dem er Toni und Lydia schon voller Vorfreude einen Prospekt gezeigt hatte, aber er war viel zu beschäftigt, Marie anzuhimmeln, in die er jetzt schon ewig lange verknallt war.

Während Toni sich noch selbst bemitleidete und düsteren Gedanken nachhing, war für Lydia das Thema erledigt und sie knuffte Max. "Jetzt geh doch endlich zu ihr hin und sprech sie an."

"Nein!" erwiderte Max und knuffte sie zurück.

"Soll ich sie für dich ansprechen?" fragte Lydia und stieß sich von der Wand ab.

"Nein bloß nicht!" rief Max erschrocken, packte sie am Handgelenk und zog sie zurück. Die beiden fingen an, sich freundschaftlich herumzustreiten, was komplett an Toni vorbeirauschte. Von seiner halbwegs optimistischen Grundlage war nichts mehr übrig geblieben. Auch der Vorschlag seiner Mutter, mit ihm vorher noch Bücher einkaufen zu gehen, als er mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter am Esstisch saß, tröstete ihn kaum. Das würden richtig ätzende Sommerferien werden.

Die Tatsache, dass nach den zwei Wochen, die er zu seiner Tante sollte, noch über die Hälfte der Ferien übrig waren, ignorierte er dabei ohne jede Mühe.

Die Stimme riss Toni mit einem Ruck aus seiner Versunkenheit in sein neues Buch. Er blickte auf und brauchte erst einmal eine Sekunde, um in die Realität zurückzukehren und herauszufinden, was die Frau, die neben ihm stand, von ihm wollte. Als er nicht sofort reagierte, runzelte sie die Stirn und streckte die Hand nach ihm aus und jetzt dämmerte es ihm, weswegen sie hier war. Und gleichzeitig fiel ihm auf, dass sie die Uniform trug und das komische kleine Gerät in der Hand hielt, wie alle Schaffner, mit denen er es bis jetzt zu tun gehabt hatte.

Er angelte sein Portmonnaie aus seinem Rucksack neben ihm, holte die Fahrkarte heraus und gab sie ihr. Die Schaffnerin warf einen Blick drauf, der Toni doppelt so lang vorkam wie der von ihren Vorgängern und er bekam schon ein ungutes Gefühl im Bauch. Aber dann stempelte sie die Karte wortlos ab und gab sie ihm zurück, aber nicht, ohne ihn noch mit einem mißtrauischen Blick zu bedenken.

Nachdem sie weiter gegangen war, sank Toni mit einem Seufzer zurück in seinen Sitz. Er war nicht nur erleichtert, dass sein Fahrschein gültig war und er jetzt nicht mitten in der Pampa aussteigen musste, sondern es war auch gar nicht so leicht, aus der aufregenden Welt seines Buchs wieder in die nüchterne Realität zurückzukommen. Die da hieß zwei Wochen in der oben erwähnten Pampa auf einer elendig langweiligen Burg.

Noch nicht einmal die drei neuen Bücher, die er seiner Mutter abschwatzen konnte, auch, wenn ihm nach wie vor klar war, dass es sich nur im Mitleidsgeschenke handelte, konnten seine Laune bessern, die seit Lydias verstecktem Bedauern, durchgehend im Keller gewesen war. Er hatte deswegen auch einige Auseinandersetzungen mit seiner Mutter gehabt, von denen er, da er ja nur ein dummes Kind war, keine einzige gewonnen hatte.

Allerdings hatte er wohl doch einen Eindruck hinterlassen, dann seine Mutter hatte sich dann dazu entschlossen, dass er die fast vierstündige Zugfahrt mit dreimal Umsteigen alleine machen durfte. Peter hatte natürlich protestiert, dass man ,Kinder' doch nicht einfach so alleine fahren lassen konnte, aber seine Mutter hatte sich, sehr zu Tonis Freude, endlich mal durchsetzen können. Denn normalerweise hatte Peter immer das Sagen. Bestimmt war auch er es der entschieden hatte, dass sie nicht nach Portugal fuhren.

Am Anfang war das Alleinefahren auch richtig aufregend gewesen. Sie waren vorher noch die Verbindungen durchgegangen, die Toni nehmen musste, wo er umsteigen musste und auf welchem Gleis der nächste Zug kam und die Niederschrift des Ganzen befand sich sicher verpackt vorne in dem kleinen Fach in seinem Rucksack. Er würde sie aber nicht mehr brauchen, denn er saß jetzt im letzten Zug, der ihn bis zu dem kleinen Kaff bringen würde, das seine Endstation war.

Als er, nach einer schnellen Umarmung von seiner Mutter, am lauten und trubeligen Großstadtbahnhof in den Zug gestiegen war, hatte sein Herz vor Aufregung geklopft und irgendwie hatte er auch weiche Knie gehabt. Beim ersten Umstieg war er so aufgeregt gewesen, dass er das richtige Gleis nicht finden konnte, weil er die Zahlen vor lauter Nervosität nicht hatte lesen können. Erst, nachdem er jemanden gefragt hatte, stand er endlich am richtigen Bahnsteig, als der Zug schließlich einfuhr.

Aber irgendwo zwischen dem ersten und dem zweiten Umsteigen verschwand die Aufgeregtheit und er fühlte sich wie ein Profi, der jahrelang nichts anderes gemacht hatte als Zug zu fahren. Und als er dann in die letzte Bahn gestiegen war, wurde es einfach langweilig weil es draußen vor dem Fenster nichts weiter zu sehen gab als Bäume, Bäume, Bäume und Wiesen, Wiesen, Wiesen und zwischendurch, jede gefühlte Stunde, ein einzelndes Haus. Toni, der voher gespannt am Fenster geklebt und sich fast die Nase plattgedrückt hatte, verlor jetzt jegliches Interesse und fing stattdessen eins von seinen neuen Büchern an.

Auch jetzt hatte sich die Sicht aus dem Fenster nicht verändert und er fragte sich, ob es hier wirklich eine Stadt gab. Aber dann tauchte vor seinem Fenster das erste Haus auf, dann das zweite, dritte, es wurden immer mehr und gleichzeitig wurde der Name seiner Station durchgesagt. Der Zug bremste spürbar ab und Toni griff resigniert nach seinem Ruckstand, stand auf, warf ihn sich über eine Schulter und ging zur Tür.

Mit ihm zusammen stiegen nur zwei weitere Leute aus und der Zug war insgesamt nicht besonders voll gewesen. Kein Wunder. Wer wollte auch schon hierher? Außer die, die gezwungen wurden bestimmt.

Der Bahnhof war winzig und man konnte ihn auch nicht wirklich Bahnhof nennen. Es gab nur einen Bahnsteig und ansonsten nichts. Kein Vergleich zum Bahnhof zuhause.

Andererseits war es vielleicht auch gar nicht so schlecht, dass hier alles so klein war und es kaum Menschen gab, denn so sah er Nadja und Kamilla sofort und musste nicht erst herumirren oder warten. Nein, so konnte er sofort seinem elendigen zweiwöchigen Schicksal zugeführt werden.

Er zwang sich ein Lächeln auf, das hoffentlich nicht ganz so gezwungen aussah, wie es sich anfühlte, als die beiden ihm entgegenkamen. Er spürte die Abneigung gegen die üblichen ,Nein, was bist du groß geworden'-Rituale in sich aufsteigen. An ihnen würde definitiv kein Weg vorbeiführen. Schließlich hatten sie sich schon jahrelang nicht mehr gesehen und er war wirklich groß geworden. Und hätte er sich vorher nicht Fotos von Nadja, Thorsten und Kamilla angesehen, hätte er vorallem Kamilla niemals wiedererkannt.

Nadja schlug die Hände vor der Brust zusammen als sie beieinander angekommen waren. "Nein," rief sie. "Deine Mutter hat Recht, du bist ja wirklich riesig geworden." Dann grinste sie und Toni entnahm diesem Grinsen erleichtert, dass das Begrüßungsritual damit abgeschlossen war. Denn anstatt der nach dem Protokoll jetzt zwingend folgenden Umarmung packte Nadja Kamilla an den Schultern und schob sie vor sich. "Deine Cousine kennst du ja sicher auch noch. Ist sie nicht auch groß geworden?!" meinte sie scherzhaft.

Kamilla bedachte Toni mit einem zurückhaltenden Lächeln. "Hallo," sagte sie nur leise.

"Hallo," erwiderte Toni und Nadja nickte einmal. "Gut, damit wäre die Begrüßung dann ja erledigt. Komm, gib mir mal deinen Rucksack."

Sie streckte die Hand aus und Toni gab ihn hier. Sie runzelte die Stirn. "Nicht besonders viel Gepäck," stellte sie fest und Toni zuckte mit den Schultern, "Na ja, du kannst meine Sachen ja waschen, wenn sie dreckig sind," meinte er und war gespannt auf ihre Reaktion. Halb rechnete er jetzt damit, dass sie sich aufregen würde, wie seine Mutter es getan hätten und als sie ihn für einen Moment perplex ansah war er kurz davor, sie auch in die Kategorie 'Spießig' einzuordnen, doch dann grinste sie breit und tätschelte ihm den Oberarm. "Aha, also noch jemand, der es sich gerne einfach macht."

"So ist es," erwiderte Toni und erwiderte ihr Grinsen. Die Anspannung, die er schon die ganze Zeit unterschwellig gespürt und vor sich selbst geleugnet hatte, denn schließlich wollte er das alles hier nicht, also gab es auch keinen Grund, irgendwie angespannt zu sein, lockerte sich etwas. Auch, wenn der ganze Rest scheiße sein würde, Nadja schien es wenigstens nicht zu sein.

Sie verließen den Bahnhof durch den winzigen Vorbau in dem es nicht weiter gab, als einen passenden winzigen Kiosk und traten hinaus auf einen kleinen Platz mit einem Springbrunnen umgeben von Fachwerkhäusern und obwohl Toni beschlossen hatte, dass ihm die Provinz jetzt schon auf die Nerven ging, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, wie schön das aussah, Wenn er sich den Springbrunnen wegdachte, sah es fast so aus wie er sich die Städte vorstellte, die in den Fantasyromanen vorkamen, die er ab und zu ziemlich gerne las. Es juckte ihm in den Fingern, seinen Fotoapperat rauszunehmen, gegen den er sich vehement gewehrt und den seine Mutter ihm schließlich aufgezwungen hatte, und ein Foto zu machen. Aber dann ließ er es lieber sein. Er wäre sich dann nur bescheuert vorgekommen.Vorallem vor sich selber.

Neben dem Bahnhofsgebäude befand sich ein kleiner Parkplatz auf dem ein weißer Lieferwagen mit dem Logo und den Namen der Gärtnerei stand. Es gab keine Rückbank, sodass sie sich zu dritt nach vorne setzten, was Toni unglaublich lustig fand. Und das, wo er doch jede Sekunde, die er hier war, hassen wollte. Aber der Hass hatte sich jetzt schon zum zweiten Mal kurz verabschiedet.

Und während er noch darüber nachdachte, was er genau er jetzt fühlen sollte, legte Nadja den Rückwärtsgang ein und fuhr schwungvoll aus der Parklücke heraus. Dann bremste sie so abrupt ab, dass irgendetwas im hinteren Teil des Wagens schepperte und als Toni den Kopf drehte, sah er, dass die Ladefläche voll mit Gartengeräten und Blumentöpfen gestellt war.

Das Scheppern begleitete sie für den Rest der Fahrt, weil Nadja eine furchtbare Fahrerin war, sich wie ein Rennfahrer in die Kurven legte und oft so heftig auf die Bremse trat, dass Toni in seinen Gurt gedrückt wurde. Zwischendurch erkundigte sie sich nach dem Verlauf von Tonis Reise, wie es seiner Mutter ging, was Toni nur mit einem ,Gut' beantwortete und Details, wie zum Beispiel Peter, verschwieg, und ob er Hunger hatte. Natürlich hatte Toni Hunger. Das, was seine Mutter ihm für die Reise eingepackt hatte, hatte er bereits in der ersten Stunde aufgegessen und da er sich nicht getraut hatte, sich etwas auf einem der zwei Bahnhöfe zu kaufen, um ja nicht den Anschluss zu verpassen, war sein Magen jetzt ein einziges Loch. Vorallem, nachdem Nadja ihn danach gefragt hatte.

Ansonsten herrschte Schweigen, was Toni keine Sekunde unangenehm war. Er hatte nämlich absolut keine Lust auf gezwungen Smalltalk. Stattdessen blickte er, wie die konsequent stille Kamilla, aus dem Fenster. Dort gab es allerdings nicht viel zu sehen, außer den obligatorischen Bäumen und Wiesen und schließlich den Burgberg, bei dem sich das schon etwas betagte Fahrzeug ziemlich quälte.

Dann war die Steigung geschafft und gleichzeitig tauchte vor ihnen die Mauer der Burg auf. Und der hohe Turm, an den Toni sich noch erinnern konnte. Aber die Erinnerung an die Zugbrücke stellte sich als falsch heraus. Sie war bloß eine langweilige Steinbrücke, die über den ausgetrockneten Burgraben führte. Sie fuhren durch einen Torbogen und Toni bermerkte zu seinem Erstaunen, die furchtbar dick die Mauer war. In ihrer Mitte befand sich sogar eine Tür, mit der man sicher auf den Gang oben auf der Mauer gelangte.

Er spürte, wie ein angenehmes Kribbeln durch seinen Körper lief, identifizierte es als Vorfreude und versuchte deswegen sofort, es zu unterdrücken. Denn worauf sollte er sich hier schon freuen?

Sie rumpelten und klirrten über das unebene Pflaster des Burghofes auf ein graues Steinhaus zu, das sich etwas abgelegen von den anderen Häusern in der linken Ecke des Hofes befand, und dann beanspruchte Nadja die Sicherheitsgurte zum letzten Mal, als sie heftig bremste und das Auto zum Stehen brachte.

Sie stiegen aus und auch, wenn Toni es eigentlich nicht wollte, konnte er sich selbst nicht davon abhalten, sich einmal umzusehen. Die zum Halbkreis angeordneten mehrstöckigen Steinhäusern mit ihren vielen Erkern und Balkonen, der Brunnen in der Hofmitte, die Holzgänge an den Mauern... Wenn die geparkten Autos, die Plastikstühle und der Sonnenschirm auf einer Rasenfäche nicht gewesen wären, hätte man auch hier ganz leicht das Gefühl bekommen können, wieder im Mittelalter zu sein.

Wie tief Toni in den Ablick vor ihm versunken war, merkte er erst, als sich eine Hand auf seine Schulter legte und ihn fast zur Tode erschreckte. "Schön, nicht wahr?" sagte Nadja schelmisch neben ihm. "Vielleicht findest du es ja jetzt nicht mehr ganz so schlimm, dass du hergekommen bist."

Toni sah sie an und öffnete den Mund, um höflich aber bestimmt zu protestieren, während er sich gleichzeitig darüber ärgerte, dass seine Mutter solche Dinge einfach weitergetratscht hatte, aber Nadja kam ihm zuvor.

"Ich versteh das. In deinem Alter unternimmt man lieber andere Sachen als auf einer Burg rumzuhängen. Aber jetzt bist du hier und da sollten wir einfach gucken, dass wir das Beste draus machen. Nicht wahr?" Sie tätschelte seinen Oberarm. "Du hattest doch Hunger, oder? Und wie jeder Mensch hast du doch sicher nichts gegen Spaghetti Bolognese einzuwenden, stimmt's?"

Das kilometertiefe Loch in Tonis Magen machte sich wieder bemerkbar und er hätte jetzt eigentlich alles essen können. Aber Spaghetti standen auf dieser Liste definitiv ganz oben. "Auf jeden Fall," rief er deswegen beinahe schon enthusiastisch. Alles hier zu hassen wurde mit jeder Sekunde schwerer.

"Na, dann komm," sagte Nadja und während sie auf die an der Haustür wartende Kamilla zugingen erzählte sie, dass ihr Haus früher der Pferdestall gewesen war, man davon jetzt aber natürlich nichts mehr sah und sie das auch nur wusste, weil es ihr erzählt wurde, als sie damals eingezogen waren.

Die untere Etage war ein komplett offener Raum. Nachdem sie eingetreten waren, befand sich links in der Ecke eine große Küche, dann kam ein Esszimmertisch nebst Stühlen und dann das Wohnzimmer, das durch einen großen zweiteiligen und jetzt im Sommer offenen Vorgang abgetrennt war. Vom Wohnzimmer aus führte die Treppe in die obere Etage.

"Ich würde vorschlagen, Kamilla zeigt dir dein Zimmer und ich fange mit dem Kochen an," schlug Nadja vor und so stieg Toni hinter seiner Cousine die enge Holztreppe hinauf. Oben gab es Holzfußboden und einen engen Flur, von dem vier Türen abgingen. Kamilla wies auf die einzelnen Türen und erklärte, was dahinter lag, ihr Zimmer, das ihrer Eltern, das Badezimmer, und öffnete dann die vierte Tür. Hierzu sagte sie nichts, aber Worte waren auch überflüssig, denn das war eindeutig das Gästezimmer. Das Bett nahm in dem kleinen Zimmer den größten Raum ein, daneben gab es einen kleinen Tisch, einen Sessel und einen winzigen Kleiderschrank. Durchs Fenster sah man auf die Grünfläche mit den Plastikstühlen und dem Sonnenschirm und auf einen Teil des Turms.

Kamilla stand in der Tür und hielt seinen Rucksack fest. Zuerst fragte Toni sich, wieso sie ihn nicht einfach abstellte und dann, ob seine Cousine auch damals schon so still gewesen war. Aber er fragte natürlich nicht, sondern ging zu ihr hin und nahm ihr den Rucksack ab. "Danke," sagte er und Kamilla bedachte ihn zum zweiten Mal an diesem Tag mit ihrem scheuen Lächeln. "Ich geh dann mal und helfe Mama beim Essen machen." Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, da war sie schon wieder verschwunden.

Toni vertrieb sich die Zeit bis zum Essen damit, seinen Rucksack auszupacken und seine wenigen Klamotten in den Schrank zu hängen. Dann legte er sein aktuelles Buch auf den Nachttisch und stellte sich ans Fenster. Draußen passierte gar nichts, keine Menschenseele war zu sehen und er fand heraus, dass er die Turmspitze sehen konnte, wenn er sich vors Fenster kniete und den Kopf verdrehte. Und dann rief Nadja, dass das Essen fertig sei.

Die Spaghetti waren gut und Tonis Hunger riesig, sodass er erst nach der vierte Portion komplett satt war. Er lehnte sich im Stuhl zurück und seufzte einmal zufrieden.

"Gesunder Appetit," bemerkte Nadja sich, die ihn belustigt beobachtet hatte. "Und was willst du jetzt machen, nachdem du deine Mutter angerufen hast um ihr zu sagen, dass du gut angekommen bist? Schlafen? Oder eine Burgführung? Kamilla zeigt dir sicher gerne alles, nicht wahr?" wandte sie sich an ihre Tochter.

"Soll ich nicht lieber Papa helfen?" fragte Kamilla leise und Nadja machte eine wegwerfende Handbewegung. "Heute nicht. Heute steht die Unterhaltung unseres Gastes auf dem Programm."

"Burgführung," entschied Toni sich sofort. Eine andere Alternative gab es da grade nicht.und am liebsten wäre er sofort losgegangen. Deswegen fiel das Gespräch mit seiner Mutter auch entsprechend kurz aus und er spielte gekonnt herunter, dass es ihm, wider Erwarten, doch ganz gut gefiel. Diese Genugtuung gönnte er seiner Mutter absolut nicht. Danach gab er den Hörer an Nadja weiter und war startbereit.

Die Führung begann hinter dem Haus, wo sich, zu Tonis Überraschung, ziemlich viel Platz bis zur Burgmauer befand. Und dieser Platz wurde genutzt für Blumenbeete, ein Gewächshaus und ein kleines Steinhaus und erst jetzt fielen Toni die Wegweiser auf, auf denen ,Laden' stand und die direkt zu dem Steinhaus hinwiesen. Dort fanden sie seinen Onkel hinter dem Tresen. Kunden, die die bemalten Blumentöpfe, kleine Handwerksarbeiten oder Samentüten kaufen wollten gab es grade nicht.

Thorsten, Tonis Onkel, war, genau wie seine Tochter, kein Freund vieler Worte. Er schüttelte Toni die Hand und nach einem ,Schön, dass du da bist,' war die Begrüßung für ihn erledigt und die Führung, soweit es die Gärtnerei betraf, für Toni abgeschlossen. Aber nicht für Kamilla. Sie führte ihn zwischen den Beeten hindurch, erklärte ihm eifrig, was hier alles wuchs und was sie selbst angepflanzt hatte und dann warfen sie auch noch einen Blick in das Gewächshaus.

Toni, der sich nicht wirklich für Pflanzen oder Bäume interessierte, war ziemlich schnell gelangweilt aber er sagte nichts. Normalerweise hätte er sich eher nicht mit seiner Meinung hinterm Berg gehalten, aber irgendetwas hatte Kamilla an sich, das bewirkte, dass er den Mund hielt, hinter ihr herstiefelte und sich brav alles anguckte, was sie ihm zeigte und dem zuhörte, das sie ihm erklärte.

Leider war sie dann nachher nicht mehr so gesprächig, als sie sich endlich wieder der Burg zuwandten. Toni hatte gehofft, vielleicht auf die Mauer zu steigen oder in ein paar von den Häusern zu gehen und er war sich völlig sicher, dass er das damals gekonnt hatte, auch, wenn er keine konkreten Erinnerungen mehr daran hatte.

Aber das Einzige, was sie machten, war, die einzelnen Stationen abzulaufen, davor stehen zu bleiben und sich alles von außen anzugucken. Als sie den für ihn äußerst unbefriedigenden Rundgang schon fast abgeschlossen hatten, entschied er sich schließlich dazu, endlich mal den Mund aufzumachen. "Sag mal," fing er an. "Können wir nicht mal in eins von den Häusern reingehen? Oder auf die Mauer steigen? Als ich damals hier war konnten wir das doch, oder?"

"Da waren ja auch noch die alten Besitzer hier und da durften wir überall hin," erklärte Kamilla. "Aber die neuen restaurieren alles, weil sie möchten, dass noch mehr Besucher herkommen. Und jetzt dürfen wir nirgendwo mehr hineingehen." Wortlos blieb sie plötzlich so abrupt stehen, dass Toni es erst auffiel, als er schon ein paar Schritte weitergegangen war. "Was ist los?" wollte er wissen, als er zu ihr zurückgegangen war.

Kamilla wandte sich halb ab. "Da hinten sind die Söhne von den neuen Besitzern. Lass uns besser hier weggehen."

Toni runzelte die Stirn. "Warum denn?" wollte er wissen.

Kamilla zog unbehaglich die Schultern zusammen. "Vielleicht wollen sie ja nicht, dass wir hier einfach so herumlaufen."

Toni lachte einmal. "Also das können sie uns ja wohl kaum verbieten. Dass wir nirgendwo reingehen können, okay, aber dass wir hier herumlaufen, da kann ja wohl niemand was gegen haben. Schließlich wohnst du ja auch hier!" Er ergriff Kamilla sanft am Arm. "Na komm," forderte er sie auf, aber ihm war von Anfang an klar, dass er, wenn sie sich weigern würde, einfach alleine weitergehe würde. Und wenn er ehrlich war, dann war er schon ein bisschen neugierig darauf, wie die Kinder von Burgbesitzern wohl so tickten.

Kamilla gab seinem leichten Druck nach und ließ sich mitziehen, wobei sie aber immer ein Stück hinter Toni blieb.

Die Besitzer-Söhne saßen auf den Plastikstühlen am Plastiktisch unter dem Sonnenschirm und vor ihnen lagen ein paar Bücher und Hefte, was Toni kurzzeitig in Erinnerung rief, dass er hier in einem anderen Bundesland war, in dem die Sommerferien noch nicht angefangen hatten. Aber diese Erkenntnis währte nicht lange, denn in diesem Moment hoben die beiden Jungen synchron die Köpfe und sahen ihnen entgegen.

Toni musterte sie einen Moment und war schon fast enttäuscht, dass an ihnen eigentlich nichts Besonderes war. Bis auf ihre rötlichen Haare vielleicht. Aber das war ja auch nicht wirklich ein Alleinstellungsmerkmal für Burgbesitzerkinder.

Nachdem sie sich einen Augenblick gegenseitig gemustert hatten, stand der Ältere von den beiden auf und kam ihnen entgegen. "Hallo Kamilla," sagte er und lächelte sie freundlich an, während er Toni mit einem schnellen Seitenblick streifte. Dann ging seine Stimme ins Neckende über, als er grinsend sagte: "Stellst du uns jetzt endlich mal deinen Freund vor?"

Kamilla war ziemlich rot im Gesicht geworden. "N...nein," stotterte sie nur. Sie versuchte, ihren Arm aus Tonis Griff zu befreien, vermutlich, um wieder zu gehen.

Toni hielt es für besser, sich endlich auch mal zu Wort zu melden. "Ich bin Toni, ihr Cousin," entgegnete er. "Und du?"

"Johann," antwortete der Junge und behielt sein freundliches Lächeln bei, als er seine Aufmerksamkeit von Kamilla zu Toni hinwandte. Mit dem rechten Arm machte er eine lässige Geste nach hinten. "Und der Pumuckl da hinten ist mein kleiner Bruder Gregor."

"Nenn mich nicht immer Pumuckl, du Blödmann!" rief Gregor und Johann drehte sich zu ihm um. "Ach komm, sei doch nicht gleich beleidigt, Pumuckl."

Jetzt stand Gregor auch auf und machte ein Gesicht, als wolle er sich gleich auf seinen Bruder stürzen, entschied sich dann aber anders und stürmte davon.

Johann drehte sich wieder zu Toni um, der inzwischen Kamillas Arm losgelassen hatte. Sie war immer noch da, stand aber weiter hinter ihm.

"Also, was führt dich her?" erkundigte Johann sich und Toni erklärte es ihm kurz. Dass er eigentlich gar nicht hier sein wollte, verschwieg er dabei. Stattdessen sagte er: "Die Burg ist wirklich toll. Nur schade, dass man nicht viel von ihr sehen kann."

Johanns Augen fingen an zu glitzern. "Ach, seid ihr hier auf einer Burgführung?" Und als Toni nickte, klatschte er einmal in die Hände. "Na, da hast du aber Glück, dass du mich getroffen hast. Komm mit, ich mach jetzt n Rundgang par ecxellence mit dir. Und du kannst natürlich auch mitkommen," sagte er zu Kamilla, aber die schüttelte den Kopf. "Ich sollte lieber meinen Eltern helfen," murmelte sie und diesmal hielt Toni sie nicht auf, als sie ging.

"Also gut." Johann machte eine Kopfbewegung in Richtung der Häuser. "Dann lass uns mal loslegen."


 

Toni kam jetzt voll auf seine Kosten. Nicht nur, dass er mit Johann überall hereinkam, er wusste auch ganz genau über die Burg und seine Geschichte Bescheid und konnte alles sehr anschaulich erzählen. Die unzähligen Räume durch die sie kamen und in denen entweder gar nichts, alte staubige Möbel oder Baugerüste standen wurden so vor Tonis innerem Auge lebendig. Vorallem der Rittersaal mit seinen zwei restaurierten Ritterrüstungen und den großen Buntglasfenstern war ziemlich faszinierend. Über dem riesigen Kamin hing das Wappen der Familie, zwei gekreuzte Lanzen und drei Türme und Johann erklärte, dass diese für die drei Hauptburgen der Familie standen.

"Nachdem meine Oma hier nicht mehr alleine klar gekommen ist, sind wir auch hergezogen," erzählte er, während sie die Treppe zur Galerie hochstiegen, die um den kompletten Saal verlief. "Meine Mutter war ganz schön schockiert, dass alles so heruntergekommen ist, weil meine Oma hier nur das Nötigste gemacht hat und die Brauerei und die Gärtnerei sowieso nicht genug abgeworfen haben um hier groß Arbeiten durchzuführen. Und meine Mutter will hier alles für Touristen fertig machen mit 'nem Hotel und allem Schnickschnack was so für Touristen zu einer richtigen Burg gehört. Normalerweise ist hier auch mehr los, irgendjemand rennt hier immer rum nur eben sonntags nicht." Johann klopfte sich einmal mit dem Daumen auf die Brust. "Und ich führ die Touristen, die jetzt schon kommen herum und krieg dafür immer massig Trinkgeld."

"Super," war das Einzige, das Toni als Erwiderung einfiel weil er von den ganzen Eindrücken, Johanns Redefluss und der ziemlich beeindruckenden Geschichte der Familie etwas erschlagen war.


Außerdem hatte er inzwischen völlig die Orientierung verloren und wäre hier ohne Johann, der sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch alle Räume und Flure bewegten, rettungslos verloren gewesen. Er hätte nicht gedacht, dass die Burg so riesig war, denn von außen machte sie gar nicht den Eindruck. Er wusste nicht, wieviel Stunden sie inzwischen schon hier herumliefen und inzwischen taten ihm auch schon etwas die Füße weh.

Aber sie waren noch lange nicht am Ende angekommen, denn nachdem sie durch die nächsten von gefühlten tausend Türen gegangen waren kamen sie auf einen langen Flur von dem geschätzt ein Dutzend Türen abgingen.

"Das sollen mal Hotelzimmer werden," erklärte Johann und öffnete die Tür direkt gegenüber. Sie kamen in einen Raum, dessen Boden komplett mit einer Plane bedeckt war. Neben einem Tapeziertisch in der Ecke befand sich hier auch eine Frau mit einem riesigen tropfenden Kleisterpinsel in der Hand, die Johann als seine Mutter vorstellte und die in ihrer Jeans und ihrem verschmierten T-Shirt auch so gar nicht nach Burgbesitzerin aussah. Oder nach jemandem, der seinen Stammbaum über 800 Jahre zurückverfolgen konnte.

Toni gab ihr artig die Hand. "Eine tolle Burg," sagte er, sie seufzte einmal und strich sich mit der freien Hand durchs Haar. "Ja, toll ist sie, wenn sie nicht so heruntergekommen wäre. Wenn ich dran denke, was hier noch alles erledigt werden muss..."

"Oh nein Mama," unterbrach Johann sie. "Bitte nicht wieder einen Vortrag." Er zog Toni am Hemd. "Lass uns hier lieber abhauen, bevor sie dir en detail aufzählt, was noch alles zu erledigen ist."

Gehorsam trottete Toni hinter ihm her, als sie aus dem Zimmer zurück in den langen Flur kamen. Von jetzt auf gleich war ihm die Lust vergangen, auch noch den Rest der Burg zu erkunden allerdings traute er sich nicht, es zu sagen, nachdem Johann soviel Aufwand betrieben hatte, ihm hier alles zu zeigen. Doch seine Gedanken schlugen sich anscheinend deutlich in seiner Körpersprache nieder, denn nach ein paar Schritten blieb Johann stehen und grinste ihn an. "Keinen Bock mehr?"

"Nein, irgendwie nicht," erwiderte Toni ehrlich und erwartete für einen Moment, dass Johann ihm das übel nahm, aber zu seiner Erleichterung lachte er nur. "Ja, genau deswegen bieten wir hier auch mehrere themenbezogene Touren an um nicht immer alles abzulaufen. Also willst du jetzt komplett abbrechen?"

Toni fielen die Burgmauer und der Turm ein. Aber auf die vielen Stufen des Turms hatte er keine Lust aber auf die Mauer wollte er unbedingt. Er schlug es Johann vor. "Wenn das in Ordnung ist?" schob er hinterher und Johann grinste. "Aber klar ist das in Ordnung."

Zu Tonis Erleichterung mussten sie nicht mehr quer über den Hof bis zur Tür unter dem Torbogen laufen um auf die Mauer zu kommen, denn auch in der Nähe der Tür, durch die sie wieder auf den Hof kamen, befand sich ein Aufgang. Die alte Holztür schloß Johann mit einem riesigen verrosteten Schlüssel auf, der an seinem riesigen Schlüsselbund hing.

Sie kamen in einen winzigen Vorraum, von dem links eine Tür abging und sich vor ihnen die Stufen in die Höhe schraubten die noch durchgetretener waren als die anderen Stufen, die Toni bis jetzt hier hochgelaufen war.

Von dem Wehrgang aus hatte man eine tolle Aussicht über die bewaldeten Hügel, die grünen Wiesen und auf das Dorf. Johann wies nach Westen. "Da hinten im Wald gibts noch n Dorf, das zu dieser Burg gehört, das schon vor ein paar hundert Jahre aufgegeben wurde, ich weiß allerdings noch nicht wieso, aber ich forsche da noch noch." Er warf Toni einen Seitenblick zu. "Man kann die Ruinen von der Mauer aus sehen. Sie sind zwar zwischen den Bäumen etwas versteckt aber ich kann sie dir zeigen. Ich gehe aber mal nicht davon aus, dass du noch Lust hast, bis dahin zu laufen?"

Toni hatte nicht nur keine Lust sondern mit einem Schlag auch so einen Hunger, dass er jetzt zu nichts anderem mehr fähig war, als zu essen. Deswegen verabschiedete er sich hastig von Johann, bedankte sich für die tolle Burgführung und beeilte sich dann, die Stufen herunterzusteigen. Vergessen war seine Müdigkeit, als er über den Hof auf das graue Steinhaus zulief.

 

Die Tür war nicht abgeschlossen aber es war niemand da. Normalerweise hätte er jetzt etwas gezögert, einfach an irgendwelche Schränke zu gehen, aber er wurde komplett von dem Loch in seinem Magen beherrscht. So schnell es ging schmierte er sich vier Brote und hielt sich erst gar nicht damit auf, sich an den Tisch zu setzen sondern aß sie gleich im Stehen. Danach hatte er zwar nicht mehr so großen Hunger aber richtig satt war er immer noch nicht, sodass er nach den Broten noch eine ihm unbekannte Creme die aber unglaublich lecker schmeckte aus einer abgedeckten Schüssel im Kühlschrank aß. Danach konnte er wieder klar denken und als er die sorgfältig ausgekratzte Schüssel ansah bekam er ein ziemlich schlechtes Gewissen. Aber er würde sich bei Nadja entschuldigen, sobald er sie sah. Er war sich ziemlich sicher, dass sie sich irgendwie auf dem Gelände der Gärtnerei aufhielt, war aber grade zu faul um hinzugehen und er hatte jetzt auch erst einmal genug von Gesellschaft.

Um auch noch das allerletzte Anzeichen von Hunger zu verscheuchen nahm er sich noch einen großen Apfel aus der Obstschüssel. Dann holte er sein Buch aus seinem Zimmer und überlegte, wo er jetzt hingehen sollte. Bei dem schönen Wetter wollte er auf keinen Fall im Haus bleiben deswegen beschloss er, sich irgendwo ein schattiges Plätzchen zu suchen.

Als wieder aus dem Haus kam, sah er Kamilla und Gregor in einer Ecke an der Mauer stehen. Kamilla schenkte ihm ihr scheues Lächeln aber Gregor erdolchte ihn praktisch mit seinem mißbilligenden Blick, aber da Toni sowieso nicht geplant hatte, mit den beiden rumzuhängen, beachtete er sie auch nicht weiter oder fragte sich, was Gregors Blick zu bedeuten hatte.

Er fand schließlich sein Plätzchen in einer Mauerecke, in der es eine kleine Grasfläche und einen Baum gab, der Schatten spendete, aber die meiste Zeit verbrachte er damit, zu dösen anstatt zu lesen. Dass er seit heute morgen acht Uhr auf den Beinen war und nach der langen Zugfahrt auch noch stundenlang in der Burg herumgelaufen war, forderte schließlich seinen Tribut.

Als es dämmerte, nahm er das Buch, in dem er, wenn es hochkam, höchsten vier Seiten gelesen hatte und ging zurück zum Haus. Hinter den Fenstern im Erdgeschoß brannte Licht und als er eintrat stand Nadja in der Küche und spülte. Die Schüssel, die er vor ein paar Stunden so gierig leergegessen hatte stand schon sauber auf der Abtropffläche und nachdem er in erst einmal nicht mehr daran gedacht hatte, holte ihn jetzt sofort wieder das schlechte Gewissen ein. "Tut mir Leid," sagte er zu Nadja und spürte, wie er rot wurde. Also, dass ich die Schüssel leer gegessen hab."

Sie drehte den Kopf zu ihm und lächelte ihn an. "Ach, mach dir nichts draus. Ich mach einfach neue Creme, die ist einfach hinzubekommen. Und ich zieh vielleicht keinen pubertierenden Jungen groß, aber bei deiner Länge hab ich mir schon gedacht, dass sowas passieren wird."

Toni wusste zwar, dass es nicht so gemeint war, aber bei diesem Kommentar fühlte er sich auf einmal wie ein kompletter Vielfraß. Das Bedürfnis, Nadja einen Spruch zurückzuschicken wurde übermächtig und er biss sich auf die Lippen um es zu verhindern. Eigentlich wollte er sich nach dem Abendessen erkunden, aber die Frage verkniff er sich jetzt. Stattdessen sagte er nur Gute Nacht und ging in sein Zimmer. Um sich dann kurz nach Mitternacht als alle anderen schliefen wieder zum Kühlschrank zu schleichen und zu essen, was er fand bis er satt war. Ein schlechtes Gewissen erlaubte er sich dann aber nicht, denn schließlich rechnete Nadja ja mit sowas.

Toni wurde von lautem Stimmengewirr wach. Er schlug die Augen auf, sah die fremde Zimmerdecke und brauchte einen Moment, um sich zurecht zu finden. Dann stand er auf, ging zum Fenster, von wo die Stimmen herkamen, und sah vorsichtig hinaus.

Unten vor dem Haus stand eine Gruppe Menschen, einige mit Kameras um den Hals, die einem großen Mann mit rötlichem Haar zuhörten, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Johanns Vater war. Und die anderen waren auf jeden Fall Touristen auf einer Burgführung.


Als alle synchron ihre Kamera hoben und auf das Haus richteten, machte Toni, dass er vom Fenster verschwand, um nicht aus Versehen auf irgendein Bild zu kommen.

Dann zog er sich an und ging nach unten. Wo wieder niemand war, was, nachdem er einen Blick auf die Uhr an der Wand ihm gegenüber geworfen hatte, auch kein Wunder war. Um neun Uhr an einem Montag war Kamilla in der Schule und Nadja und Thorsten in der Gärtnerei beschäftigt. Er war also ganz für sich und als sein Magen laut knurrte war ihm sofort klar, was er als erstes machen würde.

An den Kühlschrank war ein Zettel gepinnt auf dem ,Bedien dich' stand und daneben war ein lachendes Gesicht gemalt. Toni kannte zwar ihre Schrift nicht, aber das konnte nur Nadjas Werk sein. Wütend, weil er sich aus irgendeinem Grund wieder vorkam wie ein totaler Idiot, riss er den Zettel ab, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Mülleimer. Seine Wut hinderte ihn aber nicht daran, sich ein gutes Frühstück zu machen und es sich schmecken zu lassen. Danach saß er noch eine ganze Weile am Tisch, vor sich den leeren Teller und war einen Moment überfordert mit der totalen Freiheit die er grade hatte.

Zuhause war es seiner Mutter immer wichtig, zu wissen, wie er seine Tage verbrachte und sie ließ keine Gelegenheit aus ihn zu etwas zu ermuntern, dass in ihren Augen ,wichtig für seine Entwicklung' oder ,sehr lehrreich' war. Ermunterungen, denen er in den wenigstens Fällen nachging und sie machte dann auch keinen Aufstand, aber hier wurde er ja noch nicht einmal zu irgendetwas ermuntert. Und gestern, als er bei Dämmerung wiederkam hatte ihn niemand gefragt, wo er gesteckt hatte. Er konnte machen was er wollte.

Eigentlich wäre er gerne im Wald herumgestreut und hätte sich das verlassene Dorf angeguckt, von dem Johann erzählt hatte, aber da hätte er sich sicher verlaufen und dann gar nicht wieder zurückgefunden. Nein, Herumspazieren im Wald schied definitiv aus.

Er ging nach oben und holte sein Buch, in der festen Absicht, diesmal mehr zu lesen. Dann öffnete er die Tür zum ummauerten Garten, auf dessen Terrassen zwei Liegestühlen unter einem großen Sonnenschirm standen. Hier verbrachte er den Vormittag, teilweise mit Lesen, teilweise mit Tagträumen und teilweise mit der Frage, was Lydia und Max jetzt wohl so taten und wie sehr er sie um ihre tollen Urlaube beneidete, während er hier auf dieser totlangweiligen Burg herumgammelte. Die er eigentlich gar nicht mehr so langweilig fand, aber es fiel ihm nach wie vor schwer, das vor sich selbst einzugestehen.

Ein Rumpeln riss ihn aus seinem Schläfchen und als er neugierig ins Haus trat, stand Nadja in der Küche. Die Gartentür fiel von selbst hinter ihm mit einem leichten Knall in Schloß, Nadja hob den Kopf und winkte ihm lächelnd zu. "Hallöchen," sagte sie gutgelaunt. "Das Mittagessen hast du leider verpasst, das gibt's immer so gegen zwei wenn Kamilla aus der Schule gekommen ist. Soll ich dir schnell was aufwärmen?"

Keine Frage, dass Toni wieder Hunger hatte. "Ja bitte," sagte er, ging zu Nadja und setzte sich an den winzigen Küchentisch.

"Und, was hast du heute so den ganzen Tag getrieben?" erkundigte sie sich während sie einen Teller mit Kartoffelpüree und Fischstäbchen für ihn fertig machte. Da in ihrer Stimme nichts anderes mitschwang als Interesse antwortete Toni wahrheitsgemäß: "Im Garten geschlafen." Denn viel gelesen hatte er schon wieder nicht.

"Das ist gut," antwortete Nadja. "Wenn man sich erholen kann, sollte man da jede Minute nutzen."


Sie stellte Toni den Teller hin. "Dann lass es dir mal schmecken. Und wenn du noch einen Nachschlag willst, dann sag Bescheid." Sie zwinkerte ihm zu und machte sich daran, die Arbeitsplatte abzuwischen.


Toni beschloss diesmal, sich von diesem leidigen Thema nicht den Appetit zu verderben und machte sich über das Essen her und hatte dann auch kein Problem, um einen Nachschlag zu bitten.

Er war grade mit der zweiten Portion fertig geworden, als es an der Tür klopfte.

"Komm rein," rief Nadja, als wusste sie schon ganz genau wer draußen stand. Zu Tonis Überraschung war es Gregor. Er hatte ihn zwar gestern zusammen mit Kamilla gesehen, aber nachdem sie vorher so einen Aufstand gemacht hatte, hätte er nicht damit gerechnet, dass sie sich näher kannten. Denn natürlich war Gregor wegen Kamilla hier. Und selbst, wenn Toni sich da nicht sicher gewesen wäre, der Todesblick, den er ihm zuwarf sagte schon alles.

In Toni stieg das Bedürfnis auf, sich gegen diese unfaire Behandlung zu wehren. Er hatte schließlich nichts gemacht, womit er sowas verdient hatte. Hier ging es auch nicht darum, dass es ihm wichtig war, dass Gregor warum auch immer nicht mehr sauer auf ihn war, sondern hier ging es um Prinzip. Aber im Moment und vorallem vor Nadja war der falsche Moment für so etwas. Stattdessen blieb er ruhig am Tisch sitzen, während sich Nadja zu Gregor umdrehte und ihn anlächelte. "Sieht man dich auch wieder. Wie gehts dir?"

 

Gregor zuckte mit den Schultern. "Geht so," murmelte er.

"Und deinen Eltern?" fragte Nadja weiter und jetzt runzelte er die Stirn. "Geht so," wiederholte er. "Ist viel zu tun. So, als ob das nie aufhört."

"Ach ja," machte Nadja und stüzte sich mit einer Hand am Küchentisch ab. "Da haben sie sich auch ganz schön was vorgenommen. Aber schon mal gut, dass jetzt schon ein paar Leute kommen, um sich das Durcheinander anzugucken."

Gregor schien kein Freund dieser Unterhaltung zu sein, denn er zog unbehaglich die Schultern zusammen und Nadja erlöste ihn schließlich, in dem sie sagte: "Ich schau mal nach, ob Kamilla Lust hat, runter zu kommen. Du weißt ja, wie sie manchmal ist." Sie ging zur Treppe und rief nach oben: "Milla Schatz, Gregor ist hier. Komm mal runter."

Es dauerte nicht lange, da klappte oben eine Tür und Kamilla kam die Treppe runter. Nadja strich ihr liebevoll übers Haar, als sie an ihr vorbeilief und dann kam sie zurück in die Küche, wo Toni am Tisch saß und nicht wusste, ob er sich in diese Situation irgendwie einbringen sollte. Kamilla nahm ihm die Entscheidung schließlich ab, indem sie ihm zuerst zunickte und ein leises "Hallo," sagte und Toni sofort wieder Gregors glühenden Blick auf sich spürte aber seine Stimme war weder wütend noch grummelig wie vorher, als er "Hi," zu Kamilla sagte. "Draußen ist es total warm, ich dachte, wir gehen schwimmen. Wenn du Lust hast."

"Ich weiß nicht, ob ich nicht vielleicht helfen muss," antwortete Kamilla und sah Nadja an die den Kopf schüttelte. "Es ist im Moment alles ruhig. Wir sagen dir Bescheid, wenn wir deine Hilfe wieder brauchen. Geh ruhig mit schwimmen. Du weißt ja, wo dein Badeanzug ist."

Kamilla nickte und lief los um die Sachen zu holen und Nadja wandte sich wieder an Gregor wobei sie in einer scherzhaften Geste mit dem rechten Zeigefinger wackelte. "Aber nicht wieder so spät kommen wie beim letzten Mal. Sonst gibts Ärger."

"Natürlich nicht," erwiderte Gregor steif, ohne auf Nadjas neckende Art einzugehen.


Nachdem Kamilla und Gregor verschwunden waren und Nadja die Küche zuende aufräumte überlegte Toni sich, dass er ja auch eine Badehose und ein Badetuch dabei hatte und Lust zu schwimmen hatte er auch. Er würde sich jetzt einfach dazugesellen, Todesblicke hin oder her.

Er räumte seinen Rucksack bis auf diese beiden Dinge aus, warf ihn sich über die Schulter und lief aus dem Haus hinter Kamilla und Gregor her, die erstaunlich schnell gingen und schon einen ziemliche Vorsprung hatten. Er musste laufen, um sie einzuholen, was ihn ganz schön ins Schwitzen brachte. Aber am Ende des Weges würde ja ein kühler See oder Fluß auf ihn warten, denn die Umgebung machte nicht unbedingt den Eindruck, als würde es hier ein Freibad geben.

Kamilla und Gregor drehten sich gleichzeitig um, als Toni nah genug bei ihnen war, dass sie das Geräusch des Schotters unter seinen Füßen hören konnten.

Als er bei ihnen angekommen war, musste Toni erst einmal wieder zu Atem kommen bevor er sagte: "Ich hab mir gedacht, ich komm mit schwimmen."

Gregor verschränkte die Arme vor der Brust und machte den Eindruck, als wolle er dazu etwas sagen, aber er schwieg und stattdessen sagte Kamilla: "Klar," und lächelte Toni an.

In diesem Moment ergriff Gregor sie am Arm und zog sie ein Stück von Toni weg, sodass sie wenigstens einigermaßen aus seiner Hörweite waren. Dann redete er eifrig auf Kamilla ein und auch, wenn Toni kein Wort von dem Geflüstere verstehen konnte, war ihm doch klar, was Gregor für ein Problem hatte und er war gespannt, wie Kamilla reagieren würde. Nach zwei Tagen konnte er sie noch nicht wirklich einschätzen.

Gregor war inzwischen fertig mit seinem Vortrag und Kamillas Erwiderung bestand aus ein paar kurzen, mit ruhiger Stimme vorgetragenen Sätzen bevor sie zu Toni zurückkam. "Es ist noch ein Stück bis zum See," sagte sie, für Toni das Zeichen, dass sie sich durchgesetzt hatte, was er eher nicht erwartet hatte.


Sie bogen nach rechts ab und gingen über die Wiese an der Burgmauer entlang und jetzt war es Gregor, der mit gesenktem Kopf hinter ihnen hertrottete.

Kamilla hatte mit ihrem ,ein Stück bis zum See' ziemlich untertrieben denn tatsächlich war es noch eine halbe Stunde bis sie ihr Ziel erreichten. Oder es fühlte sich für Toni, der als echtes Großstadtkind bei solchen Entfernungen den Bus oder die Straßenbahn nahm und lange Fußmärsche über unebenes Gelände nicht wirklich gewohnt war, so an. Er war schon nach kurzer Zeit völlig verschwitzt weil die Sonne gnadenlos vom blitzblauen Himmel auf sie niederbrannte und als sie den Burgberg auf der westlichen Seite hinunterstiegen, wo es noch nicht einmal einen Schotterweg gab, stolperte er einige Male und konnte sich grade noch so eben fangen, bevor es ein Unglück gab, während Kamilla neben ihm den Abhang mit der Leichtigkeit einer Gämse meisterte. Wie es bei Gregor war konnte Toni nicht sagen, weil er konsequent drei oder vier Schritte hinter ihnen ging.

 


Glücklicherweise entkamen sie der unbarmherzigen Hitze dann endlich, als sie in das schattige Dickicht des Waldes eintauchten, der unmittelbar am Fuß des Burgbergs begann. Aber auch hier hatte Toni ganz schön mit dem ziemlich dichten Unterholz zu kämpfen. Doch die anstrengende Reise wurde dann schließlich mit einem wunderbaren Ziel belohnt: einem völlig einsam daliegenden See.

Kamilla und Gregor hatten in weiser Voraussicht ihre Badeklamotten bereits unter ihre anderen Sachen gezogen während Toni sich erst eine abgelegene Stelle suchen musste, an der er sich umziehen konnte.

Als er wieder zurück zum Ufer kam, plantschen Kamilla und Gregor bereits im Wasser. Toni war zwar schon in ein paar Seen geschwommen war aber trotzdem bei den ersten Schritten ins Wasser vorsichtig. Als der Boden dann aber plötzlich ein ganzes Stück abfiel kam das für ihn trotzdem völlig unerwartet, er stolperte und tauchte komplett unter. Das wenige Sonnenlicht, das durch die Baumkronen der sehr dicht stehenden Bäume am Ufer fiel hatte das Wasser nicht wirklich aufgewärmt und die Kälte versetzte Toni erst einmal einen heftigen Schock. Er schwamm so schnell wie möglich zurück an die Oberfläche und schnappte nach Luft.

Er hörte Gregor laut lachen und hätte auch sofort mitgelacht, weil, jetzt, wo er sich vom ersten Schrecken erholt hatte, fand er das Ganze eigentlich auch ziemlich lustig, wenn das Lachen nicht so gehässig gewesen wäre.

Kamilla kam hastig zu ihm hingeschwommen. "Hast du dir weh getan?" fragte sie besorgt und schlug dann die Augen nieder. "Ich hätte dich warnen müssen. Es tut mir Leid."

Jetzt gelang Toni es doch zu lachen. "Nein, alles gut, ist ja nichts passiert," beruhigte er sie.
Sie sah ihn ernst an. "Wirklich?"

"Wirklich, ehrlich!" versprach Toni und zum Beweis dafür schwamm er einmal um Kamilla herum. "Siehst du?" Und da war sie dann wieder beruhigt und bedachte ihn mit ihrem scheuen Lächeln.

Da das hier nicht das Schwimmbad in der Stadt war und Kamilla weder Max noch Lydia blieb alles ruhiger, als Toni es gewohnt war. Er sprang zwar ein paar Mal von dem Baumstamm, der quer über dem Wasser hing, aber da Kamilla nicht dazu zu bewegen war, mitzumachen und immer nur ein bisschen quietschte, wenn er neben ihr aufkam und sie einen Schwall Wasser abbekam, verlor er irgendwann die Lust.

Und Gregor, der vielleicht mitgesprungen wäre, wenn er nicht aus irgendwelchen Gründen etwas gegen Toni hatte, war ans andere Ende des Sees geschwommen.

"Sag mal, was hat er eigentlich für ein Problem mit mir?" erkundigte Toni sich bei Kamilla als sie für eine kurze Verschnaufpause ans Ufer geschwommen waren und auf ihren Handtüchern in einem Sonnenfleck saßen und Gregor beobachteten, der sich in sicherer Entfernung von ihnen im Wasser treiben ließ.

"Ich weiß es nicht," antwortete Kamilla. "Aber selbst, wenn ich es wüsste, dann will ich mich in so etwas nicht einmischen."

"Ich habe ihm absolut gar nichts getan," beschwerte Toni sich. "Ich hab noch nichtmals n Wort mit ihm gewechselt! Er hat also kein Recht, sich so scheiße zu verhalten!"

"Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dazu sagen soll," murmelte Kamilla und da entschied Toni sich, dass der Tag viel zu schön war, sich wegen so etwas aufzuregen. Wer war Gregor denn schon?

Sie waren jetzt wieder einigermaßen aufgewärmt und gingen zurück ins Wasser, um noch ein wenig zu schwimmen, denn die vernünftige Kamilla hatte nach einem Blick auf ihre im Gras liegende Armbanduhr festgestellt, dass sie sich bald auf den Weg zurück machen mussten.

Toni stellte fest, wie wunderbar es war, sich auf den Rücken zu legen, zu den Baumkronen hinaufzublicken, zwischen denen in unregelmäßigen Abständen die Sonnenstrahlen hindurchblitzten und auf das leise Plätschern des Wassers und dem Rauschen der Bäume zu lauschen.

Nachher schwammen sie noch einmal zum gegenüberliegenden Ufer und zurück, was nicht besonders lange dauerte, da der See nicht sehr groß war. Und da sie beide sich so leise verhielten konnten sie noch ein paar Enten beobachten.

"Ich sag Gregor eben Bescheid, dass wir jetzt gehen," informierte Kamilla Toni, als sie auf Gregors Höhe angekommen waren, der sich seit der Zeit, die sie jetzt hier waren, kaum von der Stelle bewegt und sich, da war Toni fest von überzeugt, zu Tode gelangweilt hatte.

Er folgte Kamilla natürlich nicht, sondern schwamm zurück zum Ufer und trocknete sich kurz mit seinem Handtuch ab. Dann stopfte er es zusammen mit seiner Hose in den Rucksack und behielt stattdessen seine Badeshorts an. Wenn sie gleich in der Sonne zurückgingen, würde sie im Nu wieder trocken sein und bis dahin würde sie für ein wenig Kühle sorgen. Er hatte zwar eine Menge Spaß gehabt, aber das kilometertiefe Loch in seinem Magen war wieder da und jetzt war er nur noch froh, dass es zurück zur Burg ging.  

Natürlich schwamm Gregor  ein ganzes Stück hinter Kamilla her und ließ sich dann Zeit damit, seine Sachen zusammenzupacken. Wenn es nach Toni gegangen wäre, dann hätten sie gar nicht auf ihn gewartet, doch Kamilla sah das natürlich anders und Toni, der seinem Orientierungssinn nicht wirklich vertraute, folgte ihrem Beispiel widerwillig. Mit dem Ergebnis, dass Gregor mit riesigen Schritten losstürmte und ihnen schon ein ganzes Stück voraus war, als sie aus dem Wald kamen. Toni hörte Kamilla neben ihm einmal tief aufseufzen und er hätte sie jetzt gerne noch einmal nach ihrer Meinung gefragt, aber inzwischen konnte er sie gut genug einschätzen um zu wissen, dass dabei sowieso nichts herauskommen würde.

Der anstrengende Weg hin, der anstrengende Weg zurück und dazwischen das stundenlange Schwimmen forderten ihren Tribut von Toni, sodass er direkt nach dem Abendessen ins Bett ging und sofort einschlief, nachdem sein Kopf das Kissen berührt hatte.

Als er am nächsten Morgen wieder von Stimmengerwirr geweckt wurde, interessierte ihn das nicht mehr sonderlich, denn er wusste ja jetzt was es war und er würde unter der Woche bestimmt jeden Tag von diesen Stimmen geweckt werden, weil das vermutlich eine von den Burgtouren war, die Johann erwähnt hatte.

Im Gegensatz zu gestern hatte Toni jetzt noch nicht wirklich Lust, aufzustehen. Erst einmal, weil in den Ferien lange schlafen für ihn unbedingt dazu gehörte und dann, weil er einen ziemlichen Muskelkater vom Schwimmen hatte. Natürlich, schließlich war er kein besonderer Fan von Sport und schon gar nicht vom Schulsport und hatte sich gestern mehr als üblich bewegt.

Also drehte er sich auf die Seite und schloß die Augen, aber er merkte schon nach fünf Sekunden, dass er defintiv zu wach war, um wieder einzuschlafen. Also öffnete er die Augen wieder und starrte stattdessen die Wand an, während er nachdachte.

Kamilla war ja wirklich ein nettes Mädchen aber so ruhig und irgendwie auch ziemlich langweilig. Wenn er jetzt für den Rest der Ferien mit ihr herumhing, dann würde es hier doch noch richtig öde werden.
Johann stellte auch keine wirkliche Alternative dar. Immerhin war er, so schätzte Toni jedenfalls, zwei Jahre älter als er und als er das letzte Mal mit Leuten zu tun gehabt hatte, die zwei Jahre älter gewesen waren, war es nicht nur unglaublich schwer gewesen, so zu tun, als wäre er auch schon so erwachsen und lässig wie sie, er hatte sich auch, kurz nach seinem vierzehnten Geburstag, in dem verzweifelten Versuch, anerkannt zu werden, ziemlich heftig betrunken. Dafür bekam er dann von seiner Mutter nicht nur eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte, sondern obendrein noch drei Wochen Hausarrest.

Und wenn ihn das nicht beeindruckt hätte, einen ganzen Tag kotzend über dem Klo zu hängen und nichts essen zu können, obwohl ihm vor Hunger schwindelig gewesen wäre, wenn das nicht der Kater übernommen hätte, hätten es dann sicher getan.

Und wenn er nicht ins Dorf hinuntergehen und wie ein totaler Idiot irgendwelche fremden Leute in seinem Alter ansprechen wollte, blieb wohl nur noch Gregor. Er machte auf Toni zwar den Eindruck, als würde er den ganzen Tag nur mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter herumlaufen, worauf er auch nicht wirklich Lust hatte, aber vielleicht lag das auch einfach nur daran, dass er wer weiß was gegen Toni hatte.

Der hatte sich inzwischen dagegen entschieden, ihn direkt drauf anzusprechen. Keine Ahnung, wie er herausfinden konnte, ob er sich mit ihm nicht doch ganz gut verstehen würde, wenn Gregor endlich wieder klarkam, aber hinterherlaufen würde er ihm jedenfalls nicht.

Also blieb dann doch erst mal nur Kamilla übrig, aber als sie aus der Schule nach Hause kam, war sie noch stiller als sonst und verschwand direkt nach dem Essen in ihr Zimmer.

"Stör sie jetzt besser nicht," sagte Thorsten, der heute für das Mittagsessen zuständig gewesen war, zu Toni. "Sie braucht jetzt ihre Ruhe." Weiter ging er nicht darauf ein und Toni hakte auch nicht nach. Er würde ja sowieso nicht mehr aus seinem Onkel herausbekommen. Es war schließlich eindeutig, von wem Kamilla ihr stilles Wesen geerbt hatte.

Er stand jetzt also ganz alleine da und für einen Moment regte sich in ihm der Protest. Er war hier schließlich Gast, sollte man sich da nicht darum kümmern, dass er angemessen unterhalten wurde?

Andererseits, wenn er sich jetzt beschwerte, dann würde er vielleicht für irgendeine Arbeit eingespannt werden. Es war nicht schwer zu sehen, dass eine Gärtnerei zu betreiben ziemlich aufwendig war.    

Und damit er nicht zufällig in die Schusslinie geriet weil er hier untätig herumsaß, schnappte er sich sein Buch mit dem Vorsatz, in seine Ecke mit dem Baum zu gehen und diesmal wirklich etwas zu lesen.

Draußen war allerdings viel zu viel los für ungestörtes Lesen. Überall liefen Leute herum, es wurde gehämmert und gebohrt um die Burg touristengerecht fertig zu machen. Und die Touristen, die jetzt schon da waren, liefen in dem ganzen Getümmel auch noch herum, diesmal geführt von Johann, der Toni einmal zunickte, als er an ihm vorbeikam.

Unschlüssig, was er jetzt machen sollte, schlenderte Toni ein wenig herum und beobachtete, was so um ihn herum passierte. Bis er um die Ecke bog und so heftig mit jemandem zusammenstieß, dass er zurückprallte und ihm sein Buch aus der Hand auf den Boden fiel.

Toni hatte noch nie wirklich über Schicksal nachgedacht, aber dass er hier ausgerechnet mit Gregor zusammenstieß, das war sicher Schicksal. Er war unschlüssig, was er jetzt machen sollte, während Gregor ihn mit seinem üblichen wütenden Blick anstarrte. Allerdings verfehlte dieser diesmal seine Wirkung. Vermutlich, weil er dafür einfach zu verheult aussah. Seine Augen waren rot und geschwollen und ihm liefen immer noch Tränen über die Wangen. Heftig wandte er sich von Toni ab und rannte weiter.

Toni hob hastig sein Buch auf und folgte ihm. Bei Gregor war eindeutig mehr im Gange als irrationaler Hass und Toni würde dieses Missverständnis jetzt erst einmal aufklären.

 

 

Gregor ging mit so riesigen Schritten, dass Toni kaum hinterher kam. Außerdem tat ihm immer noch alles weh, es war heiß und er schwitzte. Deswegen dachte er für einen Moment darüber nach, das Ganze für heute auf sich beruhen zu lassen, schließlich konnte Gregor ihm doch total egal sein, aber dann verschwand der in einem Spalt zwischen zwei Gebäuden und jetzt war Toni viel zu neugierig um ihm nicht weiter nachzulaufen. Also quetschte er sich ebenfalls durch den Spalt der gerade breit genug war, dass er mit den Schultern nicht anstieß. Auf der anderen Seite lag ein kleiner Garten mit drei Blumenbeete und einer Rasenfläche, auf der ein Tisch und drei Stühle standen. An einem kleinen Vordach, das sich über einer halb offen stehenden Tür befand, hing ein Windspiel. Vor ihnen erhob sich die massive Burgmauer.

Das Alles hatte etwas Bezauberndes an sich, sodass Toni Gregor für einen Moment vergaß und einfach nur da stand. Dann fragte er sich, wieviele von diesen versteckten Ecken es noch in der Burg gab, die die Touristen und sicher auch er niemals zu Gesicht bekommen würden. Wobei er hatte ja zumindest mal eine Ecke gefunden, weil er Gregor hinterher gelaufen war.

Als er soweit gedacht hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem zu, weswegen her hiergekommen war. Gregor stand mit dem Rücken zu ihm an der Mauer und als Toni vorsichtig näher heranging sah er, dass er ein paar Mal wuchtig gegen die Steine trat. Dazu hatte er die Fäuste geballt und Toni fragte sich, ob es wirklich klug von ihm war, hier zu sein. Wer weiß ob Gregor, wenn er so drauf war, nicht auf ihn losgehen würde. Und für eine Prügelei tat ihm grade eindeutig alles viel zu weh.

Also wollte er sich umdrehen um unbemerkt wieder zu verschwinden, aber er hatte grad den ersten Schritt gemacht, als ein wütendes: "Was willst du denn hier?!" gegen seinen Rücken prallte. Also holte er einmal tief Luft und drehte sich wieder um, nur um mit einem "Verpiss dich!" bedacht zu werden.

Jetzt hatte Toni natürlich kein Interesse mehr daran, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust. "Jetzt reg dich mal ab," erwiderte er mit ruhiger Stimme, um Gregor nicht noch mehr zu provozieren. "Ich hab dir nix getan. Aber weil...."

"Nix getan?!" spie Gregor ihm entgegen und kam mit einem roten Gesicht auf ihn zu. "Zuerst hängst du mit meinem scheiss Bruder rum und dann meinst du echt, du kannst dir alles erlauben und einfach mitkommen anstatt bei meinem scheiss Bruder und seinen scheiss Freunden zu sein, wo du hingehörst!"

Toni starrte ihn ungläubig an. "Deswegen stellst du dich so an?" sagte er ungläubig. Mit allem hatte er gerechnet, auch, dass Gregor wegen Kamilla eifersüchtig auf ihn war, aber nicht damit, dass Johann der Grund war. Er wollte noch etwas sagen, aber wieder kam Gregor ihm zuvor. "Ich stell mich gar nicht an!" brüllte er. "Mein Bruder ist ein dummer Drecksack und alle seine Freunde sind..."

Toni hatte jetzt die Nase voll davon, dass Gregor ihm dauernd ins Wort fiel und brüllte deswegen genau so laut wie er: "Er ist gar nicht mein Freund! Er hat mir nur die Burg gezeigt, verdammt! Und weißt du, wieso? Weil Kamilla es nicht wollte!"

Sein Gebrülle hatte Gregor anscheinend beeindruckt, denn er schwieg einen Augenblick. "Ach komm, verarsch mich nicht," erwiderte er dann und wandte sich ab. "Du bist doch bloß hier, weil Johann gesagt hat du sollst mir irgendeinen Streich spielen. Vermutlich, damit du dann zu seiner scheiss Gruppe gehörst." Etwas an seinem Gesichtsausdruck und seiner Stimme sorgte dafür, dass Toni jetzt nicht sauer wurde, dass er einfach nicht einsah, dass Johann hier seine Finger nicht im Spiel hatte. "Johann hat hiermit echt nichts zu tun!" sagte er fest. "Aber ich seh schon, dass ich eh sagen kann, was ich will, du glaubst mir ja sowieso nicht. Also werd ich jetzt mal wieder gehen."

"Weswegen bist du überhaupt hergekommen?" wollte Gregor wissen, ohne sich ihm wieder zuzuwenden.

"Weil ich dachte, wir beide könnten was machen," antwortete Toni. "Kamilla ist mir nämlich irgendwie zu langweilig."

Jetzt sah Gregor ihn wieder an. "Und Johann hat dir echt nicht gesagt, dass du herkommen und das sagen sollst?"

Toni seufzte einmal innerlich und unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. "Nein, hat er nicht," erwiderte er ruhig. "Er hat mir bloß die Burg gezeigt, mehr nicht." Und in der Hoffnung, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken, fügte er hinzu: "Es ist übrigens eine ganz tolle Burg."

"Nein, ist es nicht!" schrie Gregor und die Tatsache, dass er von einer Sekunde auf die andere wieder komplett ausrasten konnte, sorgte dafür, dass Toni einen Schritt zurücktrat. Mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Nachdem Johann so stolz auf die Burg war, war Toni davon ausgegangen, dass es bei Gregor genau so war. Aber sein wutverzerrtes Gesicht zeigte ihm, dass es anscheinend genau gegenteilig war.

Für einen Moment überlegte Toni, ob es nicht besser war, jetzt einfach abzuhauen und den Rest seines Urlaubs mit Kamilla und seinen Büchern zu verbringen. Es waren ja nicht mehr ganz zwei Wochen. Nicht mehr ganz zwei Wochen, die er nicht wirklich mit Vulkan Gregor verbringen wollte, der offensichtlich jederzeit grundlos ausbrechen konnte.

Aber dann wischte Gregor sich einmal über die Augen und Toni wurde bewusst, dass er eigentlich nur deswegen grundlos ausrastete, weil Toni die Gründe nicht kannte. Die Frage, ob er trotzdem noch weiter versuchen wollte, sich mit Gregor irgendwie anzufreunden, war noch nicht beantwortet stellte sich in diesem Moment aber nicht, weil Toni grade ziemlich Mitleid hatte. Er ging zu Gregor hin, dessen Schultern inzwischen angefangen hatten zu beben. "Was ist denn los?" erkundigte er sich sanft und erwartete, dass Gregor ihn wieder anschrie, womit das Maß aber für Toni dann endgültig voll gewesen wäre.

Aber Gregor schrie nicht. Er sah Toni aus schwimmenden Augen an und murmelte: "Es ist diese verdammte Burg. Meine Eltern streiten sich ständig nur wegen all dem Scheiss, der hier noch erledigt werden muss. Entweder sind sie sich nicht einig, wie es aussehen soll, oder einer sagt, es kostet zuviel Geld und der andere sagt, es muss trotzdem gemacht werden...." Er schniefte einmal. "Ich hab keinen Bock mehr drauf! Ich will hier nicht mehr wohnen! Ich will eine ganz normale Wohnung! Oder ein Haus! In dem nicht ständig gestritten wird!"

"Und du meinst, in ner Wohnung oder nem Haus ist es besser?" erkundigte sich Toni und Gregor zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht. Aber wenigstens können sie dann nicht mehr darüber streiten ob hier was restauriert werden soll oder nicht."

Toni schluckte einmal. Er hatte zu diesem Thema auch etwas zu sagen, was er allerdings nicht besonders gern tat. Aber irgendwas an Gregor brachte ihn dazu, es trotzdem zu tun. "Weißt du, meine Eltern waren nie verheiratet. Sie haben bloß zusammengewohnt. Und als meine Mutter schwanger mit mir wurde, da hat mein Vater sie verlassen. Weil er kein Kind wollte. Er hat einfach seine Sachen gepackt und war weg, als meine Mutter von der Arbeit wiederkam. Meine Mutter wollte unbedingt ein Baby und mein Vater hat ihr nie gesagt, dass er keins wollte und sie war ziemlich wütend auf ihn, als sie's dann rausgefunden hat. Und als er dann aufgehört hat, Unterhalt für mich zu bezahlen, weil er geheiratet hat und doch noch ein Kind bekommen hat, das er auch wirklich wollte, ist sie ziemlich ausgeflippt. Sie ist zum Anwalt gegangen und ich musste dann sogar mit zum Gericht. Und in der Verhandlung ist meine Mutter richtig ausgerastet und hat meinem Vater gesagt, dass er ein Hurensohn ist. Und sie sagt ja noch nichtmals scheisse oder so. Deswegen war das ganz schön hart." Toni atmete einmal tief ein, als er an diese Episode seines Lebens zurückdachte, an die er sich noch sehr gut erinnern konnte, da sie ja grade erst einmal zwei Jahre her war. Andererseits hatte er das alles als so krass empfunden, dass er es vermutlich nie vergessen würde. "Mein Vater hat dann wieder angefangen zu zahlen aber er hat absolut kein Interesse an mir. Ich hab ihn im Gericht erst zum zweiten Mal in meinem Leben gesehen. Na ja, es ist mir auch egal, ich kenn ihn ja sowieso nicht. Aber ganz schlimm ist, dass meine Mama irgendwann Peter kennengelernt hat und der ist richtig übel. Er denkt ich wär noch ein kleines Kind. Und nur weil meine Mama und er sich jetzt auch wieder streiten konnten wir nicht nach Portugal fahren und ich musste hier her kommen." Er biss sich auf die Lippen und fügte dann hinzu. "Was jetzt aber gar nicht mehr so schlimm ist." Und es fiel ihm gar nicht mal schwer, das zu sagen. Aber er musste doch einen Moment wehmütig an Portugal denken. Und auch an Lydia und Max.

Für einen Moment sagte keiner von ihnen ein Wort.

"Sie hat ihn echt einen Hurensohn genannt?" rief Gregor dann. "Im Gericht? Wurd sie dann rausgeschmissen?"

"Nein, wurde sie nicht. Der Richter hat ihr nur gesagt, sie soll so etwas nicht noch einmal sagen. Aber wenn sie es gemacht hätte, dann hätte sie sicher rausgehen müssen," antwortete Toni.

"Das ist ja echt heftig," meinte Gregor und Toni grinste einmal. "Na ja, du siehst, es wird auch in Wohnungen gestritten. Oder jedenfalls streiten sich auch die Leute, die in Wohnungen leben."

Gregor erwiderte sein Grinsen. "Ja, es ist wohl überall der gleiche Scheiss." Er trat einmal gegen einen kleinen Stein. Dann sah er Toni von der Seite an. "Also, wenn du die Burg so toll findest, willst du dann vielleicht mal mein Zimmer sehen?"

"Na klar," sagte Toni wie aus der Pistole geschossen. Er wusste jetzt schon, wie Burgbesitzer-Kinder aussahen aber nicht, wie sie wohnten. Das, was er bis jetzt von der Burg gesehen hatte, hatte ja nicht wirklich wohnlich ausgesehen und er war ziemlich neugierig, wie man auf so einer Burg eigentlich lebte.

"Das ist wirklich schön hier," sagte Toni als sie nebeneinander zu der angelehnten Tür gingen und warf noch einen Blick zurück zu den Blumenbeeten.

Gregor zuckte mit den Schultern. "Ja schon," erwiderte er desinteressiert, fügte dann aber noch hinzu: "Hier komm ich immer her, wenn ich nachdenken muss. Hier läuft wenigstens nicht ständig einer rum."

Gregor mochte die Burg vielleicht nicht, aber er kannte sich hier mit der gleichen schlafwandlerischen Sicherheit aus, wie sein Bruder, während Toni gefühlt schon nach der zweiten Kurve die Orientierung verloren hatte. Aber anders als sein Bruder redete Gregor kein Wort während sie durch die Flure liefen, er warf Toni nur hin und wieder einen prüfenden Blick zu und Toni spürte seine Anspannung. Anscheinend war er sich nach wie vor sicher, dass das hier ein Streich von Johann war und Toni jede Sekunde etwas in der Richtung machen würde.

Obwohl es Toni auf der Zunge kribbelte, entschloss er sich, nichts dazu zu sagen. Auch nicht, als Gregor ihn vorgehen ließ, als sie eine knarzende Holztreppe in einem sehr engen Treppenhaus hochstiegen. Es ging nur eine Etage höher, dann standen sie vor einer Tür, die Gregor mit einem alten Schlüssel aufschloss.

Sie kamen wieder nach draußen auf einen kleinen Absatz und vor ihnen führte eine steile Steintreppe hoch zu einem weiteren Gebäude, während neben ihnen der Berg, auf dem die Burg gebaut war, ziemlich steil abfiel. Toni sah Kamillas Haus und dahinter die Beete und das Gewächshaus der Gärtnerei. Wieder packte ihn diese unbestimmte Verzauberung, wie schon grade in dem kleinen Garten und er konnte absolut nicht verstehen, wie man diese Burg nicht mögen konnte und überging dabei geflissentlich die Tatsache, dass es eine Zeit gab, in der er auch alles scheisse gefunden hatte.

Und gleich nach diesem Gedanken fiel ihm dann ein, dass er hier ja nur zwei Wochen blieb und es selbstverständlich etwas völlig anderes war, hier zu wohnen. Während er neben Gregor die Steintreppen hochstieg wurde ihm bewusst, dass es ihn auch stören würde, wenn ständig irgendwo irgendwelche fremden Menschen herumliefen und Krach machten und im Winter würde es hier bestimmt schlecht warm werden. Gab es hier überhaupt Heizungen? Bis jetzt hatte Toni immer nur Kamine gesehen.

Sie waren inzwischen oben an der Treppe angekommen und Gregor schloss die nächste Tür auf. In dem Flur, in den sie jetzt kamen, lag ein dicker Teppich auf dem Boden und es hingen auch Teppiche an den Wänden, auf manchen befanden sich mittelalterliche Szenen und lateinische Innenschriften, die Toni zeigten, wie alt sie waren. Er war ziemlich beeindruckt und hoffte halb, Gregor würde irgendetwas dazu sagen, hatte es aber nicht erwartet und Gregor entsprach dann auch dieser Erwartung, als er einfach weiterging, ohne den Teppichen auch nur einen Blick zu gönnen.

Sie folgten dem Flur, versanken in dem dicken Teppich und Toni konnte nicht umhin, in die Räume, an denen sie vorbeikamen, einen kurzen Blick zu werfen. Da war das Esszimmer, an dem nicht nur der Raum riesig war, sondern auch der Eichentisch, der in der Mitte stand, das Wohnzimmer, bei dem Toni in erster Linie das riesige Sofa auffiel und dann noch ein Raum in dem, wenn Toni richtig gesehen hatte, ein Klavier stand. Dann machte der Flur eine Biegung und es kamen keine Räume mehr, sondern es ging wieder eine Treppe hoch. Diesmal war es eine Wendeltreppe und sie endete nicht im ersten Stock sondern schraubte sich weiter in die Höhe.

Die ganze Lauferei war Tonis immer noch sehr schmerzenden Muskeln nicht sehr zuträglich und so kam es ihm vor wie eine Ewigkeit, bis sie endlich zu einem kleinen Absatz mit einer Tür kamen. Die Treppe ging zwar noch höher, aber zu Tonis Erleichterung öffnete Gregor die Tür und sie kamen in einen großen viereckigen Raum mit dem obligatorischen Kamin und einem ähnlich dicken Teppich auf dem Boden, einem Bett, einem Schrank, einem Schreibtisch, einem vollgestopfen Bücherregal und in der Ecke stand ein Fernseher.

"Mein Zimmer," sagte Gregor, Toni sah sich einmal genau um und nickte dann anerkennend. "Das ist wirklich ziemlich cool," meinte er und Gregor grinste einmal schief. "Oh ja, total cool. Vorallem wenn du mitten in der Nacht pinkeln musst und dann die ganzen Treppen wieder runtersteigen musst, mit einer Kerze, weil es im Flur kein elektrisches Licht gibt." Er ging zur gegenüberliegenden Seite, wo durch zwei Fenster und eine Tür mit einer Glasscheibe helles Sonnenlicht fiel.

Die Tür führte auf einen Balkon, der verdammt weit oben lag. Unter ihnen befand sich die Burgmauer und noch weiter unten die kleinen Häuser des Dorfes. Und ganz in der Ferne blitzte das Wasser eines Flusses im Sonnenlicht. Rechts und links erstreckten sich Felder und Wälder soweit das Auge reichte.

"Das ist ja der Wahnsinn," rief Toni, noch beeindruckter, als er es inzwischen von der Burg überhaupt schon war. Wenn er hier wohnen würde, dann würde er sicherlich die meiste Zeit hier stehen und einfach nur gucken.

Gregor neben ihm machte eine wegwerfen Handbewegung. "Ja, ja, ich hab mir schon gedacht, dass du das sagen wirst," meinte er nur und Toni hätte ihn beinahe ungläubig gefragt, wie ihn diese Aussicht denn nicht beeindrucken konnte, bis ihm dann wieder die Relation zwischen ,jeden Tag sehen' und ,zum ersten Mal sehen' klar wurde. Ebenso wie, dass er, wenn das hier sein Zimmer war, auch nicht jeden Tag hier stehen würde. Aber in diesem Moment hielt ihn die Ausicht komplett gefangen und so standen sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander, bis Toni sich einigermaßen sattgesehen hatte.

"Einer meiner Vorfahren ist hier runtergesprungen und hat sich umgebracht," meinte Gregor irgendwann beiläufig.

"Hier runter?" rief Toni entsetzt und blickte nach unten auf den Hof. Eine Gänsehaut lief ihm den Rücken runter bei dem Gedanken, die ganze Strecke zu fallen mit der sicheren Gewissheit, am Ende tot zu sein.

"Seine Geliebte hat ihn mit einem anderen betrogen und er war deswegen so fertig, dass er gesprungen ist," erzählte Gregor und wieder überlief Toni ein Schauer morbider Faszination. Er hätte gerne noch mehr über diese Geschichte erfahren, war sich aber sicher, dass Gregor darüber auch nicht gerne sprechen würde und verkniff sich jegliche Nachfragen. Stattdessen nickte er, als Gregor ihn fragte, ob er Lust hatte, sein neustes Autorennspiel auf der Playstation zu spielen.

Sie zockten, bis es an der Tür klopfte und Gregors Mutter hereinkam. "Es gibt..." fing sie an, dann fiel ihr Toni auf und sie hielt mitten im Satz inne. "Ach, du hast Besuch. Wie nett," rief sie dann. Toni stand höflich auf, um ihr die Hand zu geben. Sie musterte ihn einmal von oben bis unten. "Woher kenne ich dich?" fragte sie aber bevor Toni etwas sagen konnte, beantwortete sie sich die Frage selber: "Du warst das, dem Johann die Burg gezeigt hat, nicht wahr?"

Toni nickte. "Ja, das war ich," erwiderte er und hoffte, dass Gregor jetzt nicht wegen Johanns Erwähnung ausrastete.

"Gefällt dir die Burg immer noch so gut," erkundigte sich Gregors Mutter, aber bevor Toni dazu etwas sagen konnte, redete sie schon weiter: "Trotz der ganzen Sachen die hier noch gemacht werden müssen? Das bringt mich manchmal echt zur Verzweifelung, wenn ich daran denke..."

"Man, Mama!" fiel ihr Gregor wütend ins Wort. "Jetzt erzähl doch nicht ständig von diesem ganzen Mist! Das will keiner hören!"

Sie stemmte die Arme in die Seiten, sagte aber mit nach wie vor ruhiger Stimme: "Junger Mann, wie oft haben wir schon darüber gesprochen, dass du dich nicht immer so aufführen sollst?! Schon gar nicht, wenn Gäste da sind! Und jetzt mach die Konsole aus, das Abendessen ist fertig!" Sie wandte sich wieder an Toni. "Du musst dann jetzt gehen. Aber du kannst gerne morgen wiederkommen."

"Das entscheide ja wohl immer noch ich!" schnappte Gregor.

"Nicht, wenn ich mich entscheide, dir für ein unmögliches Verhalten morgen Hausarrest zu geben!" entgegnete seine Mutter, immer noch ruhig.

Toni war das Wortgefecht inzwischen nicht nur ziemlich peinlich, bei der Erwähnung von Abendessen hatte er natürlich auch gleich wieder Hunger bekommen. Er wäre jetzt gerne sofort gegangen, aber dann fiel ihm ein, dass er nicht wirklich Ahnung hatte, wie er wieder zurück kam. Deswegen stieg er dann zusammen mit Gregor und seiner Mutter die Treppe herunter und während Gregor wortlos in Richtung Esszimmer ging, ließ seine Mutter Toni durch den Haupteingang raus. Er musste dann zwar einige Stufen hinuntersteigen, aber zumindest hatte er Kamillas Haus die ganze Zeit vor Augen, sodass es keine Chance gab, sich zu verirren.

Er warf noch einen kurzen Blick zurück zu dem Haus, das eigentlich mehr ein Palast war und sich beeindruckend vor ihm auftürmte. Und dann fiel ihm der große Turm an der Seite auf und er sah auch den Balkon, auf dem er vor ein paar Stunden noch gestanden hatte und die Tatsache, dass Gregor nicht einfach in diesem Gebäude wohnte sondern in einem echten Turm machte das Ganze für Toni noch beeindruckender.

Er dachte allerdings auch noch kurz über Gregor nach, während er zurückging. Mit ihm abzuhängen hatte eigentlich Spaß gemacht. Auch, wenn Toni immer noch peinlich berührt davon war, wie Gregor mit seiner Mutter umgegangen war. Seine Mutter hätte ihm schon längst eine geknallt, das war sicher.

Nichtsdestotrotz war Gregor eindeutig die bessere Alternative zu Kamilla und sie mussten ja auch nicht die besten Freunde werden. Er hatte ja schließlich beste Freunde. Aber für die zwei Wochen würde das alles sicher funktionieren. Und lesen konnte Toni ja den ganzen Vormittag.

Gregor bekam für den nächsten Tag keinen Hausarrest, denn als Toni noch im Garten lag und sich überlegte, wie zum Teufel er ihn heute finden sollte, da sie keinen Treffpunkt ausgemacht hatten, öffnete Nadja die Gartentür. "Hier ist er," sagte sie über die Schulter und dann kam Gregor auf die Terrasse und nickte Toni zu. "Hi," sagte er kurz angebunden. "Bock, das Spiel von gestern weiterzuzocken? Ich dachte, nachdem du gestern so scheiße gewesen bist, bekommst du heute noch ne Chance von mir."

"Okay," sagte Toni  sofort, denn diese Stichelei konnte er natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Und dazu kam dann noch, dass es gestern Spaß gemacht hatte und er auch nicht gewusst hätte, was sie sonst hätten machen können. Denn er kannte Gregor ja gar nicht und hatte keine Ahnung, woran er Spaß hatte. Vielleicht ja auch gar nicht an den selben Dingen wie Toni. Und da er Vulkan Gregor nicht wieder zum Ausbrechen bringen wollte, hielt er sich mit Vorschlägen lieber zurück und ließ Gregor entscheiden.

Was dazu führte, dass sie dann eben wieder in seinem Zimmer an der Playstation saßen. Alles war fast wie gestern und Toni auch noch genau so schlecht, mit dem Unterschied, dass sie sich dabei unterhielten. Das hieß, Toni erzählte ein wenig von sich und Gregor hörte zu. Aber eher nicht, weil er ein guter Zuhörer war, sondern weil er nach wie vor davon überzeugt war, dass Toni hier irgendeine linke Nummer abzog. Er strahlte genau die gleiche Anspannung aus wie gestern, aber Toni hatte jetzt keine Lust mehr, dazu irgendetwas zu sagen. Irgendwann würde Gregor sich schon wieder abregen.

Was dann aber noch drei weitere Tage dauerte. Denn dann bestand Toni Gregors Test als sie nebeneinander über den Hof zum Wohnhaus gingen und ihnen Johann entgegenkam. Er begrüßte Toni freundlich und blieb sogar stehen und wollte dann noch etwas sagen. Natürlich hatte Gregor, der so schon immer verdammt schnell ging, woran Toni sich erst noch gewöhnen musste, seine Geschwindigkeit fast noch verdoppelt. Schon alleine deswegen konnte Toni nicht stehen bleiben. Aber wenn er sich jetzt mit Johann unterhalten hätte, dann wäre er bei Gregor komplett unten durch gewesen. Und das wollte er auf keinen Fall.

Denn Gregors Reserviertheit, die immer noch eisern Bestand hatte, hatte ihn neugierig gemacht und jetzt wollte er unbedingt wissen, was unter der abweisenden Schale steckte und ob der meistens meckernde und schimpfende Gregor noch eine andere Seite hatte. Er nickte Johann also nur stumm zu und beeilte sich Gregor einzuholen, was ihm erst an der Haustür gelang. Gregor sah ihn einmal groß an. "Kein Schwätzchen mit meinem ach so tollen Bruder?" fragte er bissig.  

Toni zuckte mit den Schultern. "Warum denn? Ist doch eh alles nur uninteressantes Zeug, was der so redet." Was natürlich absolut nicht stimmte, aber das war genau das, was Gregor hören wollte. "Ja absolut," rief er und rammte den Schlüssel ins Schloß. "Er macht den Mund auf und es kommt nur Mist raus!"

Und dann, von jetzt auf gleich war jegliche Reserviertheit von ihm abgefallen und hatte er vorher so gut wie gar nichts von sich preisgegeben, überschüttete er Toni jetzt förmlich damit, ganz so, als sei er froh, endlich jemanden zu haben, mit dem er das alles teilen konnte.

Er erwähnte nie etwas von irgendwelchen Freunden und da er jeden Tag nach der Schule getreulich bei Toni auftauchte, ging der irgendwann davon aus, dass es gar keine Freunde gab. Außer vielleicht Kamilla, aber weder verlor Gregor auch nur ein Wort über sie, noch schlug er vor, sie in ihre Unternehmungen mit einzubinden. Dass sie was miteinander machten war vermutlich nur so eine Zweckgemeinschaft gewesen. Allerdings erfüllte sie dabei wohl eher ihren Zweck für Gregor, denn Kamilla schien völlig damit zufrieden zu sein, entweder ihren Eltern in der Gärtnerei zu helfen oder einfach für sich zu sein.  

Es dauerte nicht sehr lange und Toni stellte fest, dass Gregor und er mehr gemeinsam hatten, als er gedachte hatte. Gregor war ebenfalls ein begeisterter Leser und es gab ziemlich viele Bücher, die sie beide gelesen hatten. Er zeigte Toni nicht nur sein eigenes vollgepacktes Regal, sondern auch die über zwei Etagen gehende Bibliothek der Burg. Nur leider waren die meisten Regale leer und die Bücher, die es gab waren eher neuen Datums.

"Meine Mutter hat die ganzen alten Bücher zum Restautor gegeben, damit sie nachher alle für die Touristen hübsch aussehen," erklärte Gregor und verzog das Gesicht. "Sie hat sogar unsere Familienchronik weggegeben. Obwohl die erst vor ein paar Jahren restauriert worden ist. Aber für die Besucher ist natürlich das Beste grad genug." Er verschränkte die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn.

Toni überlegte einen Moment, ob er jetzt das sagen sollte, was ihm im Kopf rumging, oder ob Gregor dann ausrasten würde. Aber dann entschied er sich, es einfach drauf ankommen zu lassen. "Ihr habt eine Familienchronik?"

Von jetzt auf gleich strahlte Gregor über beide Ohren. "Na klar. Und sie ist wirklich toll. Jetzt wird zwar meistens einfach nur aufgeschrieben was alles so passiert, aber ganz früher haben sie immer noch so tolle Bilder dazu gemalt." Er warf die Hände in die Luft. "Das würd ich dir ja jetzt echt gern zeigen aber geht ja nicht weil sie ja un-bedingt auch restauriert werden musste."

"Schade," sagte Toni und meinte es auch genau so.

Gregor nickte einmal heftig. "Ja, richtig ätzend. Aber komm, ich kann dir was Ähnliches zeigen."

In dem Raum, in dem das Klavier und ein Haufen nicht zueinander passender Möbel standen war quer über eine ganze Wand der riesige Stammbaum von Gregors Familie gemalt zusammen mit dem Familienwappen, das Toni auch schon so überall aufgefallen war.

"Das Einzige, was an diesem ganzen Umbauscheiss gut gewesen ist, ist, dass mein Vater wollte, dass das hier aufgemalt wird," sagte Gregor und zeigte Toni stolz seinen Namen auf einem der untersten Äste.

"Ziemlich cool, nicht wahr?" Er strahlte und selbst, wenn Toni das Alles nicht selbst ganz toll gefunden hätte, wäre es ziemlich schwer gewesen, sich von Gregors Enthusiasmus nicht mitreißen zu lassen.

Gregor mochte vielleicht kein Interesse an der Burg haben, aber dafür umso mehr an seiner jahrhunderalten Familie. Die Geschichte über seinen Vorfahren, der sich vom Balkon gestürzt hatte, war nur der Anfang gewesen. Gregor hatte hunderte weiterer solcher Geschichten zu erzählen und er hielt sich damit nicht zurück, als er merkte, was für ein begeisterter Zuhörer Toni war.

Denn so, wie Johann das Talent hatte, das Leben auf der Burg durch seine Berichte lebendig werden zu lassen, besaß auch Gregor die Gabe, Geschichten zu erzählen. Zwar spielten sie noch Playstation und gingen auch oft an den See zum Schwimmen, weil das Wetter nach wie vor sommerlich warm war und Gregor dann schließlich auch Ferien bekam. Doch meistens saßen sie irgendwo zusammen, in dem kleinen Garten, in Gregors Zimmer oder in irgendeiner anderen versteckten Ecke der Burg, die Toni jetzt nach und nach kennenlernte und Gregor wählte aus einem schier unerschöpflichen Repertoire die Geschichte des Tages aus.

Wie jede ordentliche Burg hatte auch diese ihr ganz persönliches Gespenst und Gregor erzählte Toni eine Geschichte voll mit Intrigen und Eifersucht, die schließlich damit endete, dass eine der Mätressen des Burgherrn von einer eifersüchtigen Nebenbuhlerin die Treppe runtergestoßen wurde, sich dabei das Genick brach und seitdem als rachsüchtiger Geist in weißem Nachthemd nachts durch die Gänge strich, in der Hoffnung, ihre Mörderin wiederzufinden.

"Machmal, wenn man in ein Zimmer kommt, sind die Möbel verrückt und Kissen liegen auf dem Boden und die Decke ist völlig zerknüllt," flüsterte Gregor mit tiefer Stimme und machte große Augen. "Und dann weiß man, dass sie da gewesen ist und nach Kungundt gesucht hat. Aber da sie sie niemals finden wird, wird sie bis zum Ende aller Tage durch die Flure schweben." Er stieß zischend seinen Atem aus und Toni lief ein Schauer über den Rücken. Er war nämlich ein ziemlicher Schisser, dem man sehr leicht Angst machen konnte, vorallem mit solchen Geschichten. Was er sich natürlich jetzt nicht anmerken ließ.

Und auch, als Gregor dann von der Bank aufstand, auf der sie bis jetzt gesessen hatten um Toni die Treppe zu zeigen, auf der sich das Ganze abgespielt hatte, sagte er nicht, dass er das eigentlich gar nicht sehen wollte.

Der Tatort befand sich in einem kleinen Nebengebäude, in dem, das wusste Toni von Johann, früher die Bediensteten untergebracht waren. Jetzt wurden die Zimmer erst mal als Abstellkammern genutzt, aber Gregor erklärte, dass seine Eltern hier ein Restaurant für das Hotel draus machen wolltren.

Die besagte Treppe war ein besonders steiles Exemplar, das in den Keller führte. Und da es hier auch noch kein elektrisches Licht gab, lag alles in einem gruseligen Halbdunkeln. Toni beäugte die Treppe und wieder bekam er eine Gänsehaut. Er drehte sich zu Gregor um, um irgendetwas zu sagen, was bewies, dass er ein ganz harter Kerl war und ihn das hier nicht im Mindestens beeindruckte, aber Gregor war nicht mehr da.

Tonis Herz machte einen erschrockenen Hüpfer und für einen Moment war sein einziger Gedanke, dass Gregor von der weißen Frau geholt worden war. "Gregor?" flüsterte er, bekam aber keine Antwort.

Plötzlich raschelte etwas und Toni fuhr panisch herum und starrte mit wild klopfendem Herzen die dunkle Treppe hinunter, in der festen Überzeugung, dass von dort gleich der Geist auftauchen würde. Eigentlich wäre es ja besser, wegzulaufen, aber er konnte sich nicht bewegen. Und dann bekam er auf einmal von hinten einen heftigen Stoß versetzt. Er sah die Stufen auf sich zurasen und war sich völlig sicher, dass es das jetzt für ihn gewesen war- da schlangen sich zwei Arme um ihn und Gregor drückte ihn an sich. Dabei lachte er laut. "Na, jetzt hast du n fetten Schreck bekommen, was?!"

Tonis Herz, das für ein paar Schläge ausgesetzt hatte, nahm stotternd seinen Dienst wieder auf um dann mit wahnsinniger Geschwindigkeit loszupumpen. Er hätte Gregor gerne gesagt, wie absolut mies es von ihm gewesen war, ihm einen solchen Streich zu spielen, aber sein Gehirn entschied sich dann lieber, etwas anderes zu bemerken. Nämlich wie furchtbar angenehm es auf einmal war, von Gregor festgehalten zu werden und dass es Toni irgendwie bedauerte, als Gregor ihn wieder los ließ.

Diese Entdeckung ließ Toni für einen Moment etwas verwirrt zurück und als Gregor ihm die Nische zeigte, in der er sich, genau wie die Nebenbuhlerin damals, versteckt hatte, war er nur halb dabei. Die andere Hälfte war grade viel zu sehr damit beschäftigt, die angenehme Wärme zu registrieren, die jetzt Tonis ganzen Körper erfüllte.

Als sie aus dem kühlen Gebäude zurück auf den Burghof kamen und sie die Hitze wie ein Hammerschlag traf, war die Wärme in Toni verschwunden. Zurückgeblieben war nur die Gewissheit, dass jetzt irgendetwas anders war. Aber er konnte weder sagen, was es war noch warum es so war.

Er warf Gregor einen unaufälligen Seitenblick zu. Er sah natürlich auch so aus wie vorher und grinste immer noch über seinen Streich.

Allerdings war Tonis Seitenblick doch nicht so unauffällig gewesen, wie er gedacht hatte und als Gregor ihn bemerkte, verschwand sein Grinsen mit einem Schlag und machte der wütenden Grimasse Platz, die er eigentlich meistens mit sich herumtrug. "Was ist los?!" schnappte er. "Bist du jetzt beleidigt, weil ich dich verarscht hab?! Uhuu bist du 'n kleines Baby, das Angst gehabt hat?!"

Es war nicht das erste Mal in den Tagen, an denen sie jetzt zusammen rumgehangen hatten, dass Gregor sich so aufführte und hatte Toni am Anfang immer noch Contra gegeben, war ihm irgendwann klar geworden, dass das sowieso nichts brachte. Im Gegenteil, es stachelte Gregor eigentlich nur noch mehr an, sodass sie sich schon ein paar Mal ziemlich gezofft hatten. Blieb Toni aber einfach ruhig, dann regte sich Gregor ziemlich schnell wieder ab und sie machten einfach weiter mit dem, was sie vorher gemacht hatten, so, als ob gar nichts passiert war.

"Der Streich war gut," erwiderte Toni, obwohl er dazu eigentlich gar keine Meinung hatte, denn anstatt über den Streich an sich konnte er die ganze Zeit nur über dieses seltsame Gefühl nachdenken, aber diese Anerkennung sorgte sofort dafür, dass Gregor wieder grinste.

Doch die Genugtuung gönnte Toni ihm trotzdem nicht. "Aber Angst hatte ich nicht! Warum auch? Das ist doch nur eine Geschichte und Geister gibt es nicht!"

Gregor sah ihn mit großen Augen und hochgezogenen Augenbrauen an und sagte mit seiner Erzähl-Stimme: "Wer weiß das schon?!"

"Ich weiß es," erwiderte Toni bestimmt. Er hatte jetzt keine Lust mehr, weiter über das Thema zu sprechen. Nachher bekam Gregor doch noch spitz, dass er wirklich Angst gehabt hatte.

"Also gut, dann hast du halt keinen Schiß gehabt," meinte Gregor und es war seiner Stimme deutlich anzuhören, dass er es nicht wirklich glaubte. Aber anstatt weiter in diese Kerbe zu hieben, meinte er: "Was machen wir jetzt?"

"Schwimmen?" schlug Toni vor, aber Gregor schüttelte den Kopf. "Nee, nee, ich hab echt keinen Bock bei der Hitze durch den Wald zu rennen. Komm, wir gehen weiterzocken."

Toni wäre gern schwimmen gegangen, aber da Gregor schon etwas Anderes geplant hatte, hätte er sich auf den Kopf stellen und ihn damit trotzdem nicht umstimmen können. Darauf, alleine schwimmen zu gehen hatte Toni keine Lust und darauf, Kamilla zu fragen, ob sie mitkommen wollte, auch nicht. Aber wenigstens würde es in Gregors Zimmer kühl sein.

Das Gefühl des Anderssein blieb natürlich und im Laufe des Tages fand Toni zwar keine Antwort auf das Was und das Warum, aber auf das Wer, auch, wenn er sich diese Frage erst einmal gar nicht gestellt hatte.

Aber das Kribbeln in seinem Bauch, jedes Mal, wenn Gregor und er unbeabsichtigt mit den Schultern zusammenstießen oder er ihn anstubste oder ihm auf die Schulter hieb, sprachen eine deutliche Sprache.

Genau wie die Tatsache, dass Toni ihn immer wieder angucken musste. Obwohl Gregor natürlich immer noch nicht anders aussah als vorher. Aber die Art, wie sein Haar fiel, wie er die Augen zusammenkniff, wenn er sich konzentrierte und wie er lachte und andere Kleinigkeiten, die Toni vorher herzlich egal gewesen waren, fielen ihm nun auf einmal überdeutlich auf. Als er sich gegen neun Uhr auf den Weg zurück machte, um noch etwas vom Abendessen abzubekommen, fühlte er sich innerlich, nicht nur wegen des wieder einmal kilometertiefen Lochs in seinem Magen, irgendwie ausgehöhlt.

Diese Nacht fiel es Toni sehr schwer, einzuschlafen. Das lag natürlich an Gregors gruseliger Geschichte und dass er beinahe diese Horrortreppe runtergestürzt wäre. Und ganz sicher nicht an diesen komischen Gefühlen, die er fast den ganzen Tag gehabt hatte. Denn die hatte er ja nur gehabt, weil mit Gregor irgendetwas passiert sein musste. Es konnte gar nicht anders sein.

Und weil es gar nicht anders sein konnte, versuchte Toni auch nicht weiter drüber nachzudenken wieso er sich heute so komisch verhalten und absolut keinen Einfluss drauf gehabt hatte, sondern zu schlafen. Was ihm aber erst gelang, als es draußen bereits dämmerte

Diesmal schlief er wie ein Stein und wurde noch nicht einmal, wie die Tage vorher, von dem Stimmengewirr der Touristenführung wach.

Das zaghafte Klopfen an seiner Tür war das Erste, das er wieder wahrnahm. "Ja?" sagte er während er gleichzeitig einen Blick auf den Wecker warf, der auf dem Nachttisch stand. Es war elf Uhr und das war das Zeichen für seinen Magen, sofort Hungeralarmstufe Rot auszugeben.

Kamillas Kopf erschien in der Tür. "Oh, du liegst ja noch im Bett," stieß sie hastig hevor. "Ich komm dann besser später wieder."

"Ach Quatsch," rief Toni und setzte sich auf. "Komm doch einfach rein."

Sie tat es und stand dann mit verlegenem Lächeln neben seinem Bett und sah ihn nicht an, als sie sagte: "Ich... ich dachte, du und Gregor ihr würdet heute vielleicht schwimmen gehen und ich könnte dann mitkommen, wenn das in Ordnung ist." Sie holte einmal tief Luft. "Es ist nämlich ganz schön heiß draußen. Mehr als gestern."

Verschlafen, wie er war, hatte Toni die Sache mit Gregor noch gar nicht wieder auf dem Schirm gehabt. Bis Kamilla seinen Namen erwähnt hatte und alles mit einem Schlag wieder da war. Bei dem Gedanken, ihn gleich wiederzusehen, fühlte Toni wieder dieses Kribbeln. Allerdings kam das sicher eher daher, dass er ziemlichen Hunger hatte.

"Schwimmen klingt gut," sagte er deswegen, schlug die dünne Decke zurück und stand auf. "Gibt's noch Frühstück?"

Es gab noch welches. Besser gesagt schlug eine grinsende Nadja für Toni gerne noch ein paar Eier in die Pfanne, während er sich schnell ein Brot schmierte. Nadjas Grinsen ignorierte er dabei mühelos. Sie hatte immer noch Spaß daran, ihn wegen seines beinah unstillbaren Hungers aufzuziehen, aber Toni war inzwischen darüber hinweg, sich davon provozieren zu lassen. Er warf ihr lediglich einen überlegenen Blick zu, bevor er sich an den Tisch setzte und sich bemühte, das Essen langsam und zivilisiert zu essen, wo er es doch eigentlich am liebsten einfach in sich hineingestopft hätte, um endlich das Loch in seinem Magen zu füllen.

Er war noch mitten beim Essen, als es an der Haustür klopfte und Gregor hereinkam. Es war die übliche Zeit, zu der er immer auftauchte, denn auch er war der Meinung, dass man in den Ferien lange schlafen sollte und im Gegensatz zu Toni gelang ihm das auch immer. Aber er wurde ja auch nicht jeden Morgen von seinem Vater und ungefähr zehn weiteren Personen geweckt, die redend unter seinem Fenster standen.

Tonis und Gregors Blick trafen sich für einen Moment und während Gregor ihn, wie immer zur Begrüßung, schief anlächelte, machte Tonis Herz einen heftigen Satz und sein Hals wurde auf einmal ganz eng. Dann verschluckte er sich am Rührei und griff heftig hustend nach seinem Glas Wasser, während Nadja ihm fürsorglich auf den Rücken klopfte. Als Toni dann endlich wieder Luft bekam, war ihm die ganze Sache ziemlich peinlich und am liebsten wäre er jetzt einfach abgehauen, aber zuerst musste ja noch das Programm dieses Tages abgesprochen werden.

Bei der Hitze hatte Gregor dann auch nichts gegen einen Ausflug zum See einzuwenden, er hatte sogar selbst vorgehabt es vorzuschlagen und deswegen auch schon seine Badehose an.

Toni war den Weg den Burgberg hinunter durch den Wald zum See jetzt auch schon einige Male gegangen und konnte ohne Mühe mit Gregor und Kamilla mithalten, sodass er genug Muße hatte, Gregor zu beobachten, um endlich herauszufinden, was an ihm plötzlich so anders war. Wenn seine Gedanken nicht grade bei den Vorfällen in der Küche waren, die ihm nach wie vor peinlich waren. Am meisten seine komische Reaktion, als Gregor ihn angesehen hatte. Das Verschlucken danach war angesichts dessen dann gar nicht mehr so tragisch.

Die Frage, was jetzt so anders an Gregor war, war natürlich immer noch nicht beantwortet, als sie den See erreicht hatten und so langsam wurde Toni klar, dass es nicht Gregor war, mit dem etwas nicht stimmte, sondern er selbst. Warum sonst machte sein Köper die ganze Zeit Sachen, mit denen er gar nicht einverstanden war?  

Denn nachdem sie, als sie beim See angekommen waren, ihre Handtücher ins Gras gelegt hatten, und Gregor sich sein T-Shirt über den Kopf zog, konnte Toni gar nicht anders, als ihn anzustarren, während wieder alles in ihm kribbelte. Und dieses Kribbeln fühlte sich jetzt noch ein bisschen anders an, als vorher.

Gregor, der glücklicherweise mit dem Rücken zu Toni stand, bekam von der Starrerei nichts mit, denn er hatte es viel zu eilig, in den See zu kommen und erst, als er schon mit der Hüfte im Wasser war, konnte Toni sich auch endlich dazu aufraffen, ihm zu folgen.

Toni hatte sich beim Schwimmen nie auch nur ansatzweise verausgabt. Wenn er keine Lust mehr gehabt hatte, vom Baustamm zu springen, hatte er am liebsten auf dem Rücken gelegen, sich treiben gelassen, zu den Baumkronen hochgeschaut und das angenehme Geräusch des Wassers genossen.

Bis zu diesem Tag. An dem sich etwas in ihm dazu entschieden hatte, dass es jetzt an der Zeit war, sich zu verausgaben. Zu zeigen, wie schnell er von einem Ende des Sees zum anderen kraulen konnte. Wie weit er vom Baumstamm springen konnte. Wie lange er unter Wasser die Luft anhalten konnte. Und das alles nur, um einen anerkennenden Blick von Gregor zu bekommen. Denn auch, wenn Toni es sich selbst nicht eingestand, aber das war genau das, was er haben wollte. Und was jetzt auch erst seit Neustem ein Bedürfnis war.

Von Gregor bekam er allerdings keine Anerkennung, denn Tonis plötzlicher Drang nach Höchstleistung stachelte ihn nur an und so wurde aus Tonis Versuch, Gregor zu beeindrucken ein knallharter Wettbewerb, den Toni nachher immerhin zwei zu eins gewann. Gregor konnte zwar weiter springen als er, aber beim Kraulen und Tauchen konnte er Toni nicht schlagen.

"Nicht übel, Mann," meinte er, als Toni neben ihm wieder hochkam und nach Luft schnappte.

Mehr Anerkennung bekam er nicht, aber dieser eine knappe Satz reichte völlig aus, dass Toni sich für einige Zeit wie der König der Welt fühlte.

Danach waren sie ziemlich kaputt und die Lust am Schwimmen war ihnen erst mal vergangen. Sie zogen ihre Handtücher in die Sonne und während Gregor sich hinlegte und beinahe sofort eingeschlafen war, saß Toni da und konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Die nassen Haare klebten ihm am Kopf wie eine Kappe und auf seinem nackten Oberkörper glitzerten die Wassertropfen.

Toni fing an sich zu fragen, wie es sich wohl anfühlen würde, ihn anzufassen. Ihm vielleicht die Wassertropfen wegzuwischen. Der Impuls, genau dies zu tun, war auf einmal so stark, dass er schon die Hand ausgesteckt hatte, sie aber grade noch rechtzeitig zurückziehen konnte, bevor er Gregor wirklich berührte.

Dann schlang er vorsichtshalber, damit so etwas nicht noch einmal vorkam, beide Arme um seine Beine, legte den Kopf auf die Knie und zog es vor, von jetzt an lieber Kamilla zu beobachten, die im See geblieben war.

Toni war ein Kind der Mediengesellschaft. Er hatte genug Bücher gelesen und genug Fernsehen gesehen um zu wissen, wie sich Verliebtsein anfühlte. Auch, wenn er noch nie verliebt gewesen war. Aber das anscheinend auch nur bis jetzt.

Er dachte an Max und fragte sich, ob er sich genau so fühlte, wenn er Marie ansah. Oder mit ihr sprach. Aber sie war ja ein Mädchen. Bestimmt fühlte es sich anders an. Vielleicht irgendwie... richtiger. Tonis Gefühle fühlten sich zwar auch nicht falsch an, aber vielleicht waren sie es ja. Weil Gregor eben kein Mädchen war.

Toni schwirrte der Kopf und er schloß die Augen, in der Hoffnung, sie so vielleicht verscheuchen zu können.

Die Gedanken blieben, allerdings überfiel ihn dazu noch eine bleischwere Müdigkeit. Er streckte sich auf dem Handtuch aus und innerhalb von ein paar Minuten war er auch eingeschlafen.

Ein Schwall kaltes Wasser weckte ihn wieder und als er die Augen öffnete, stand Gregor über ihm und grinste breit. "Mittagsschlaf ist zuendeee!" rief er und klatschte einmal in die Hände.

Toni richtete sich gähnend auf und rieb sich einmal die Augen. Als er die Hände wieder sinken ließ, sah er, dass sich Kamilla inzwischen auch zu ihnen gesellt und dazu ihr Kleid wieder angezogen hatte. Auch Gregor trug sein T-Shirt und bevor Toni sich doof vorkam, als Einziger nur in Badehose dazusitzen, griff er nach seinem und zog es sich über den Kopf.

"Also," fing Gregor an und ließ sich im Schneidersitz auf seinem Handtuch nieder. "Ich hab absolut keinen Bock mehr auf Schwimmen! Hier in der Nähe ist doch das alte Dorf. Lasst uns da mal hingehen!"

"Das ist doch verboten!" warf Kamilla leise ein und Gregor lachte einmal abfällig. "Das ist doch scheissegal! Alle tollen Dinge sind doch immer verboten! Also, wenn man Spaß haben will, dann muss man halt verbotenes Zeug machen!"

"Mache ich aber nicht," murmelte Kamilla und Gregor zuckte mit den Schultern, auf eine Art die deutlich ,War mir schon klar' sagte. Dann wandte er sich an Toni und sah ihn auffordernd an. "Aber du kommst mit, stimmt's?"

Toni nickte schon eifrig, bevor sein Gehirn die Frage überhaupt verarbeitet hatte.

Kamilla warf ihm einen besorgten Blick zu, aber das war ihm völlig egal. Genau wie die Aussicht, dass sie ihn bei Nadja und Thorsten anschwärzte. Die Aussicht, mit Gregor zusammen loszuziehen und zum Dorf zu gehen, das er sich ja schon die ganze Zeit einmal angucken wollte, waren in diesem Moment alles, was zählte.

Sie standen auf und packten ihre Sachen zusammen und dann trennten sich ihre Wege. Kamilla ging nach rechts und Toni und Gregor nach links, tiefer in den Wald hinein.

Entfernungen mussten für die Menschen auf dem Land eine andere Bedeutung haben. Erst Kamillas  ,ein Stück bis zum See' und jetzt Gregors , hier in der Nähe' und beides stellte sich nachher als gefühlt einstündiger Fußmarsch heraus.

Und dazu kam, dass das Unterholz immer dichter wurde und damit für Toni zu einer echten Stolperfalle. Er schaffte es meistens, sich noch zu fangen, bevor er wirklich hinfiel, aber dann verhakte sich sein Fuß in einer besonders dicken Wurzel und diesmal wäre es defintiv zu spät gewesen, wenn Gregor ihn nicht aufgefangen hätte. Für einen Moment lag Toni in seinen Armen und das Gefühl war so intensiv, dass es ihm den Atem raubte. Kein Vergleich zu dem Vorfall an der Treppe, bei dem Gregor ihn an sich gedrückt hatte.

Er stellte ihn lachend wieder auf die Füße. "Alles klar, du Tollpatsch?"

Toni nickte und musste erst den Kloß in seinem Hals runterschlucken, bevor er krächzend: "Ja, alles ok," antworten konnte.

"Ist auch nicht mehr weit," sagte Gregor und klopfte ihm einmal jovial auf die Schulter bevor er weiterging.


Toni folgte ihm mit weichen Knien.

Das Dorf war nicht viel mehr als drei verfallene Steinhäuser, vier von denen bloß noch das Fundament vorhanden war und einer winzigen Kirche, die zwar auch schon ziemlich nach Ruine aussah, aber immerhin noch als Kirche erkennbar war. Wäre Tonis Gefühlswelt grade nicht anderweitig ausgelastet gewesen, wäre er enttäuscht gewesen. So aber folgte er Gregor wie in Trance zwischen den Häusern hindurch zur Kirche hin.

Sie blieben im Eingang stehen und sahen ins Innere. Der hintere Teil der Kirche war fast gänzlich zerfallen und durch das riesige Loch fielen Sonnenstrahlen hinein. Der Boden und die paar verrotteten Holzbänke waren voller Laub, das durch die großen Löcher im Dach gefallen war und jetzt  unter ihren Füßen knackte, als sie darüber liefen. In der Mitte blieben sie stehen und sahen sich um.

Eigentlich war dies ein genau so verzauberter Ort, wie die kleine Ecke in der Burg mit den Blumenbeeten und dem Windspiel, aber Toni hatte grade keinen Sinn dafür. Jedenfalls nicht so wie sonst. Er sah sich zwar um, aber alles in seinem Inneren war auf Gregor ausgerichtet, der die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf schräg gelegt hatte. "Das ist ziemlich cool," meinte er und dann griff er nach Tonis Arm und zog einmal daran. Toni zuckte erschrocken zusammen und hörte kaum, wie Gregor zu ihm sagte: "Guck dir das mal an!" Er ließ Toni wieder los und wies in eine Ecke, in der eine alte Leiter stand die auf die hölzerne Galerie führte, die früher sicher einmal um den kompletten Innenraum gelaufen, jetzt aber nur noch teilweise vorhanden war.

"Komm, da klettern wir jetzt hoch!" rief Gregor begeistert und lief zur Leiter hin. Toni folgte ihm etwas langsamer und als er ankam, war Gregor schon oben. Er winkte ungeduldig mit der Hand. "Jetzt mach endlich!" drängte er und Toni holte einmal tief Luft und setzte seinen Fuß auf die unterste Sprosse.

Die Leiter knarrte, hielt aber sein Gewicht und er kam heil oben an.

Auch auf der Galerie lag Laub und während Toni noch da stand und nicht so genau wusste, was er von alldem jetzt halten sollte wurde er plötzlich von einem Haufen getroffen. "Hey, Trantüte," rief Gregor und breitete die Arme aus. "Reiß dich mal zusammen und hör auf n Schlafwandler zu sein!"

Mit Laub beworfen zu werden konnte Toni dann doch nicht auf sich sitzen lassen. Er bückte sich, scharrte einen Haufen zusammen, ergriff ihn mit beiden Armen und setzte Gregor hinterher, der lachend losgelaufen war. Die kleineren Lücken zwischen den Holzbrettern übersprangen sie mit Leichtigkeit, aber schließlich war Gregor auf einer Plattform angekommen, auf der das nicht mehr ging. Er blieb stehen und sah Toni herausfordernd entgegen. Der nahm Anlauf, setzte etwas ungeschickt über und schmiss mit der gleichen Bewegung dem immer noch lachenden Gregor das Laub entgegen.

"Hah," rief er triumphierend und machte einen Schritt auf Gregor zu. In diesem Augenblick knarrte es bedrohlich, dann gaben die Bretter unter ihnen nach, die Welt kippte zur Seite und ehe sie sichs versahen, fanden sie sich auf dem Rücken liegend auf dem Boden wieder, um sie herum verteilt die Holzbretter.

Obwohl sie auf einem Haufen Laub gelandet waren, war der Aufprall so hart gewesen, dass es ihnen die Luft aus den Lungen getrieben hatte und es einen Moment dauerte, bis sie wieder zu Atem gekommen waren. Dann fingen sie gleichzeitig so heftig an zu lachen, dass ihnen die Tränen über die Wangen liefen.

Schließlich richtete sich Toni auf und presste die Hände gegen den Kopf, in dem in diesem Augenblick ein schmerzhafter Ball explodierte. "Heilige Scheisse!" stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hevor.

Gregor streckte ihm die Hand entgegen. "Hilf mir mal!"

Toni griff nach seiner Hand und zog ihn vorsichtig hoch. Auch Gregor verzog schmerzhaft das Gesicht und ohne seine Hand loszulassen, erkundigte Toni sich besorgt. "Auch Kopfschmerzen?"

Gregor nickte. Er sah ganz schön mitgenommen aus. Im Gesicht hatte er ein paar Schrammen, sein blaues T-Shirt war verdreckt und voller Laub, genau wie seine Haare.

Toni ließ seine Hand los und begann, ihm vorsichtig die Blätter von seinem Shirt zu streichen. Dabei raste sein Herz so heftig, dass Toni sich sicher war, dass Gregor es sehen konnte. Er spürte seine Schultern, seine Brust, seinen Rücken durch das dünne T-Shirt und wandte sein heißes Gesicht ab, damit Gregor nicht sehen konnte, wie rot er geworden war.

Gregor saß da ohne sich zu bewegen und ohne etwas zu sagen und als Toni es dann wagte, den Kopf zu heben saß er da und starrte ihn an. Mit einem Blick, den Toni noch nie vorher an ihm gesehen hatte, aber es war definitiv keiner, der anzeigte, dass Vulkan Gregor wieder kurz vor dem Ausbruch stand.

Toni schluckte einmal hart, als er beide Hände auf Gregors Schultern legte. Das Kribbeln tobte in seinem ganzen Körper von den Haarspitzen bis in den kleinen Zeh, verdrängte sogar die Kopfschmerzen und formte sich schließlich zu einem Gedanken, zu einer Handlung, zu einem Zwang, dem Toni absolut gar nichts entgegenzusetzen hatte.

Er beugte sich vor und drückte seine Lippen unbeholfen auf Gregors. Er schloss die Augen und dann stand die Zeit für einen Moment still. Aber nur so lange, wie das letzte Brett brauchte, um sich auch noch aus der Verankerung zu lösen und mit voller Wucht hinunter auf eine der Bänke zu fallen.

Der dumpfe Knall riss Toni zurück in die Gegenwart. Erschrocken über sich selbst zuckte er zurück. Weg war das Kribbeln und zurück die Kopfschmerzen, zu denen sich jetzt noch Schmerzen im Rücken und in den Armen gesellten.

Gregor saß noch immer mit geschlossenen Augen da, aber er hatte die Stirn auf eine Art gerunzelt, die Toni genau zeigte, dass er gleich ziemlich ausrasten würde.

Toni war sofort klar, dass er keine Kraft hatte, sich gegen Gregor zu wehren. Er hatte ihn geküsst und dadurch jeglichen Schutz verloren. Der Häme und dem Spott, mit denen Gregor ihn gleich sicherlich überschütten würde, hätte er absolut nichts entgegenzusetzen, aber bevor er sich dermaßen verletzen ließ, ergriff er lieber die Flucht.

Er dachte in diesem Moment nicht mehr darüber nach, dass er keine Ahnung hatte, wie er wieder zurückkommen sollte. Er stand einfach auf und lief aus der Kirche. Hauptsache nur weg von hier.

Glücklicherweise gab es in Tonis Gehirn einen Teil, in dem nicht die komplette Panik ausgebrochen war, sondern der noch einigermaßen nachdenken konnte und ihn darauf hinwies, dass sie vom See weg ja eigentlich nur geradeaus gegangen waren. Wenn er also einfach geradeaus zurücklief, dann würde er auch bald beim See ankommen.

An seinem Problem mit dem Unterholz hatte sich natürlich nichts geändert und weil er jetzt eine ziemliche Geschwindigkeit drauf hatte und kein Gregor da war, um ihn aufzufangen, schlug er ein paar Mal lang hin und schrammte sich die Hände und Knie noch mehr auf. Allerdings brachte ihn das nicht dazu, langsamer zu werden, im Gegenteil, er rannte danach nur noch schneller. Gregor konnte ja dicht hinter ihm sein.

Auch, wenn Toni neben dem Geräusch seiner eigenen Schritte und dem rasenden Klopfen seines Herzens in seinen Ohren nichts weiter hörte. Aber er könnte trotzdem da sein! Und Toni konnte ihm jetzt auf keinen Fall gegenüber treten. Und das eigentlich nicht nur jetzt, sondern nie wieder.

Die ganze Sache mit dem Kuss war ihm so unglaublich peinlich und sein Kopfkino sorgte dafür, dass es während des ganzen Rückwegs auch nie aufhörte, peinlich zu sein. Es spielte ihm die Szene nicht nur immer wieder vor, sondern dazu sagte eine Stimme mit einer Mischung aus Tadel und Spott immer wieder , Du hast Gregor geküsst! Du hast Gregor geküsst!' bis er die Hände gegen die Ohren presste und einmal laut aufschrie, in der Hoffnung, sie so endlich zum Schweigen zu bringen.

Ihm kam es irgendwann so vor, als wäre er schon eine Ewigkeit durch den Wald gelaufen, ohne beim See angekommen zu sein und für eine Sekunde verscheuchte die Vision von ihm nachts ganz allein in diesem Wald, aus dem er vielleicht doch nicht wieder herausfinden würde, alles andere. Er blieb keuchend stehen, holte ein paar Mal tief Luft und sah sich um, in der Erwartung, dass alles gleich aussehen würde. Allerdings war es ihm, als würde er zwischen den Bäumen ein Glitzern sehen und als er darauf zuging, fiel ihm ein Stein vom Herzen, als es wirklich der See war.

Der Weg zurück zur Burg war jetzt natürlich kein Problem mehr und Toni war heilfroh, als er endlich die Tür zum Haus öffnete. Unten war niemand und Kamillas Schuhe fehlten. Sie war sicher wieder für sich unterwegs. Was sie häufiger war, wie Toni festgestellt hatte, als er einmal in ihr Zimmer gesehen hatte, in der Erwartung, sie dort zu finden, aber sie nicht da gewesen war und auch nirgendwo sonst im Haus oder im Garten.

Diesmal verzichtete er darauf, nachzusehen, sondern ging ins Gästezimmer, warf seinen Rucksack in die Ecke, kroch ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Ihm tat alles weh, seine Hände, seine Knie, seine Füße, aber ganz besonders sein Inneres. Er verbot sich zu weinen, obwohl er es gerne getan hatte.

Aber das wäre dann nur noch peinlicher gewesen und er war ja auch kein Baby mehr. Stattdessen biss er ins Kissen und presste die Augen so fest zusammen, dass vor seinen Lidern bunte Funken explodierten. Er lag eine ganze Weile so da und versuchte gleichzeitig so verzweifelt, an gar nichts zu denken, dass sein Körper schließlich gnädigerweise entschied, dass es Zeit für eine Pause war und einfach abschaltete.

Als Toni nach fast zwei Stunden wieder aufwachte, lag er auf der Seite und hatte sich ziemlich in die Decke verheddert. Arme und Beine taten ihm immer noch weh und sein Kopf schmerzte so heftig, dass er sich einmal über die Stirn rieb, ohne wirklich dran zu glauben, dass es helfen würde. Tat es auch nicht. Und dass er gleich wieder an Gregor und den Kuss denken musste, würde es sicher noch schlimmer machen.

Allerdings kam Toni das alles plötzlich vor, als wäre es weit weg. So, als wäre es eigentlich gar nicht passiert. Auch, wenn es doch passiert war.

Und es war Toni immer noch so peinlich, dass er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Aber jetzt, wo alles so weit weg war, fing er an sich zu fragen, wie es überhaupt passieren konnte. Vorgestern war Gregor doch einfach nur Gregor gewesen. Mit seinem tollen Zimmer im Turm. Seinen Geschichten. Und seinen Ausrastern und seinem Gemecker, was Toni manchmal einfach nur anstrengend fand.

Wenn er in seiner Klasse gewesen wäre, dann wären sie sicher keine Freunde und hier waren sie welche, weil sonst niemand da war. Wenn man überhaupt von Freundschaft reden konnte, denn eigentlich war es für Toni doch auch nur Mittel zum Zweck gewesen.

Bis gestern. Als aus Gregor irgendjemand anderes geworden.

Toni seufzte einmal tief, drehte sich auf den Rücken, starrte an die Decke und musste wieder an die Treppe denken und wie Gregor ihn festgehalten hatte. Er fühlte einen heißen Stich und das Kribbeln war wieder da. Es fühlte sich an, als würde er auf einer kleinen Wolke schweben, als er an Gregor dachte und zwar nicht an das, was peinlich gewesen war. Sondern einfach an Gregor. Seine Stimme, wenn er irgendetwas erzählte oder sich selbst begeistert beim Zocken anfeuerte. Wie er lachte. Wie er auf seinem Handtuch gelegen hatte.

Als Toni zu der Szene kam, in dem er ,Nicht schlecht, Mann' zu ihm gesagt hatte, wurde er wieder rot, allerdings war ihm gleichzeitig überall ganz warm. Und dann der Kuss, der, ohne das ganze unangenehme Drumherum, einfach nur unglaublich gewesen war.

Aber für Gregor bestimmt nicht. Weswegen Toni ihn ja jetzt nie wieder sehen konnte. Die Erkenntnis war ihm zwar schon vorher gekommen, aber jetzt tat sie richtig weh. Mehr als seine Schrammen und die Kopfschmerzen zusammen. Seine Augen brannten und diesmal konnte er nicht verhindern, dass er anfing zu weinen. Aufschluchzend vergrub er sich wieder unter der Decke.

Das Geräusch der in Schloß fallenden Haustür schreckte ihn auf und er fuhr sich einmal hastig durchs Gesicht. Es wäre eine echte Katastrophe, wenn ihn jemand so sehen würde. Er stieg hastig aus dem Bett und als er an sich heruntersah, wurde ihm wieder bewusst, dass er immer noch seine Badeshorts und sein völlig verdrecktes T-Shirt trug, das einmal weiß gewesen war. Nadja hatte seine Klamotten erst gestern gewaschen und sauber gefaltet in den Schrank gelegt. Toni zog achtlos eine kurze Hose und ein frisches T-Shirt heraus, ließ das Chaos Chaos sein und schloß die Schranktür wieder.

Dann steckte er vorsichtig den Kopf aus seinem Zimmer und als niemand da war, schlich er schnell aufs Badezimmer und schloß die Tür hinter sich ab. Als er in den Spiegel sah, starrte ihm sein dreckiges Gesicht entgegen. Und seine Arme und Beine sahen auch nicht viel besser aus. Zeit für eine Dusche.

Danach war ihm absolut nicht mehr anzusehen, dass er geheult hatte. Er sah aus wie immer und zwang sich, sein Spiegelbild anzulächeln. Auch, wenn er sich innen drin einfach nur beschissen fühlte.

Um sich abzulenken ging er nach unten, um zu sehen, wer da gekommen war und ob er nicht vielleicht Hilfe brauchte. Toni hatte keine Lust auf irgendeine Arbeit, aber rausgehen konnte er nicht und im Haus konnte er ja nichts anderes machen als rumliegen und lesen oder fernsehen. Und nichts davon würde ihn besonders ablenken.

Er hörte die leise Unterhaltung schon, als er die Treppe runterstieg und ihm fiel wieder ein, dass Kamilla ihn vielleicht verpetzt hatte. Sein Herz machte einen Hüpfer. Er fühlte sich innerlich so kaputt, wenn Nadja und Thorsten oder gleich beide jetzt mit ihm schimpfen würden, dann würde er bestimmt wieder anfangen zu heulen und alles wäre umsonst gewesen.

Er war kurz davor, wieder umzudrehen und zurück in sein Zimmer zu gehen, aber in diesem Moment ging Nadja mit einer Tüte im Arm an der Treppe vorbei und sah ihn da stehen. Sie lächelte ihn an. "Ach guck an, was machst du denn hier? Um diese Uhrzeit hab ich eigentlich noch nicht mit dir gerechnet."

Toni zwang sich, sie anzusehen und zuckte nur mit den Schultern. Das Bedürfnis, behilflich zu sein, war mit einem Schlag verschwunden.  

Nadja machte eine Kopfbewegung Richtung Küche. "Na komm mal runter. Dann kann ich euch beiden ja gleich die große super Neuigkeit mitteilen."

Toni überlegte, ob das vielleicht irgendetwas mit seinem Besuch in dem verbotenen Dorf zu tun hatte, obwohl in Nadjas Tonfall nichts darauf hindeutete, dass es hier um eine Bestrafung ging. Aber als Kamilla, die in der Küche stand und Einkäufe in die Schränke räumte, ihm einen ihrer undefinierbaren Blicke zuwarf, stieg eine unangenehme Vorahnung in ihm auf. Er lehnte sich gegen den Küchentisch, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte sich innerlich gegen das, was gleich kommen würde, zu wappnen.

Aber anstatt ihm Hausarrest oder sonst irgendeine ätzende Strafe aufzubrummen, sagte Nadja fröhlich: "Also Toni, wir haben uns überlegt, dass wir ja eigentlich keine besonders guten Gastgeber gewesen sind.

Du warst hier ja die meiste Zeit einfach dir selbst überlassen. Aber jetzt haben wir es mal geschafft, uns ein paar Stunden freizuschaufeln und deswegen werde ich mit Kamilla und dir morgen in den Freizeitpark fahren, der gar nicht mal so weit weg von hier ist. Auch, wenn man denken könnte, wir leben hier komplett ab vom Schuss."

Sie lachte einmal und Toni, der mit etwas ganz anderem gerechnet hatte, hob den Kopf und starrte sie an. Er wusste nicht so ganz, was er von der Sache halten sollte. In einen Freizeitpark zu fahren war eigentlich eine super Sache, aber das hieß, den ganzen Tag weg von der Burg und weg von Gregor zu sein. Aber dann fiel Toni ein, dass er ihn ja sowieso nicht mehr sehen konnte und obwohl er sich in diesem Moment wieder unglaublich elend fühlte, zwang er sich zu sagen: "Das ist ja 'ne super Idee!" und hoffte, dass es auch genau so begeistert klang, wie er es wollte.

Aber das schien der Fall zu sein, denn Nadja sah ihn nicht komisch an, sondern nickte zufrieden. "Sehr schön. Aber denk dran, das heißt heute früh ins Bett gehen und morgen früh aufstehen!"

Toni nickte nur und merkte, wie seine Gedanken wieder Richtung Gregor abdriften wollten und dass es vielleicht besser war, zurück in sein Zimmer zu gehen. Allerdings riss ihn Nadja mit voller Wucht wieder zurück in die Gegenwart, als sie ihn einmal von oben bis unten musterte und "Ist alles in Ordnung mit dir?" fragte.

"Na klar," erwiderte Toni, krampfhaft bemüht, lässig zu klingen. "Warum sollte was nicht in Ordnung sein?"

"Erst mal, weil du ziemlich zerschrammt bist, dunkle Ringe unter den Augen hast und du bist ziemlich blass," zählte Nadja auf.

"Ach was!" sagte Toni wegwerfend, konnte aber nicht verhindern, Kamilla einen schnellen Blick zuzuwerfen. Sie sah ihn zwar mit gerunzelter Stirn an, aber wenn sie vorgehabt hätte, ihn zu verpfeifen, dann hätte sie das ja bis jetzt schon getan.

Nadja lächelte ihn immer noch an und legte den Kopf schräg. "Hör mal, ich weiss, ihr hört sowas nicht gerne, aber wenn du Probleme hast, dann kannst du darüber immer mit deiner super coolen Tante reden!"

Jetzt grinste sie wieder und Toni war das alles so unangenehm, dass er spürte, wie er wieder rot wurde. Deswegen wandte er den Kopf zur Seite und sagte nur: "Ja, ja." Dann stieß er sich vom Küchentisch ab und ging zurück auf sein Zimmer.

Wieder in seinem Zimmer kroch Toni zurück ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und starrte in die Dunkelheit. Natürlich kannten seine Gedanken kein anderes Thema als den Kuss und die unglaublich angenehme Wärme und das Kribbeln wechselte sich ab mit unangenehmen Stichen und  der immer noch sehr peinlichen Tatsache, einen Jungen geküsst zu haben.

Irgendwann bekam er dann unter der Decke, unter der es inzwischen auch viel zu warm geworden war, Zustände. Er schlug sie zurück und schnappte einmal nach Luft. Als er merkte, wie sich das Gedankenkarussell wieder zu drehen begann, nahm er sich sein Buch vom Nachttisch und schlug es bei der umgeknickten Ecke auf. Er las eine Seite, um am Ende festzustellen, dass er zwar die Wörter gesehen aber nicht begriffen hatte, was sie bedeuteten. Er las die Seite nochmal und biss die Zähne dabei zusammen in dem Bemühen, sich nicht mehr von seinen Gedanken ablenken zu lassen.

Aber am Ende lag er wieder da, starrte auf den Schrank, der gegenüber dem Bett stand, den Finger im Buch und sein Kopf war voll mit Gregor. Mit seinem Lachen, seiner Stimme, wenn er erzählte, sich die Haare aus dem Gesicht strich.... Allerdings war das auch nicht besser, denn irgendwann tat es einfach nur noch weh, weil er all das nie wieder sehen oder hören würde. Der Schmerz hüllte ihn von Kopf bis Fuß ein wie eine schwere Decke, das Atmen fiel ihm schwer und die Tränen drängten sich ihm so heftig auf, dass er wieder die Zähne zusammenbiss.

Doch dann rettete ihn ausgerechnet Nadja vor einer erneuten Heulattacke, als sie an die Tür klopfte. Toni wischte sich einmal hastig über die Augen, falls doch ein paar Tränen durchgekommen waren und setzte sich auf, bevor er ,Herein' rief.

Nadja trat ein und stutzte einmal kurz, als sie ihn sah. "Na, du nimmst das mit dem .Früh ins Bett gehen' aber sehr ernst, was?", meinte sie dann und lachte. "Ich muss dich jetzt allerdings wieder hochscheuchen, denn es gibt Abendessen und das willst du ja sicher um nichts in der Welt verpassen." Sie lachte wieder und Toni wurde wütend. Auf der einen Seite wollte er auf keinen Fall, dass sie auch nur ansatzweise mitbekam, was grade in ihm los war, auf der anderen Seite sollte sie gefälligst aufhören zu lachen, während er hier lag und litt. Aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. Und ebenso wenig konnte er das Abendessen ausfallen lassen, obwohl sein Magen wie zugeschnürt war. Denn das würde ihn nur noch verdächtiger machen als überhaupt schon. Er versuchte einmal den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken, was nicht klappte und sagte dann mit krächzender Stimme: "Ja, ich komme."

"Gut, dann bis gleich", erwiderte Nadja, zwinkerte ihm zu und schloss die Tür wieder.

Das Abendessen wurde für Toni zu einer echten Herausforderung. Nicht nur, dass er eine für ihn üblich große Portion an dem Kloß in seinem Hals in seinen unwilligen Magen zwingen musste, er musste sich auch an den Gesprächen beteiligen, weil er das immer tat, auch wenn er sich jetzt kaum darauf konzentrieren konnte. Er war erleichtert, als er endlich aufstehen und in seinem Zimmer verschwinden konnte. Aber anstatt sich wieder ins Bett zu legen setzt er sich auf den Stuhl am Fenster und starrte hinaus. Um diese Uhrzeit war draußen nichts mehr los, ein krasser Gegensatz zu dem Gewimmel, das tagsüber hier herrschte.

Als dann eine Gestalt mit rötlichem Haar um die Ecke bog und direkt am Haus vorbeiging, setzte Tonis Herz einen Schlag aus, um dann umso heftiger weiterzupumpen als er erkannte, dass es nicht Gregor sondern Johann war. Er hatte sich halb von seinem Stuhl erhoben und ließ sich jetzt mit einem Seufzer wieder zurücksinken. Und selbst wenn es Gregor gewesen wäre, was wäre dann schon passiert? Er wäre sicher nicht hergekommen oder hätte hochgeguckt und Toni am Fenster gesehen. Und selbst, wenn doch, dann hätte er ihm sowieso nur einen seiner Todesblicke zugeworfen und wäre weitergegangen.

Toni seufzte noch einmal und kroch wieder zurück ins Bett, denn nach dem Gedanken hielt ihn jetzt nichts mehr am Fenster.
Wie vor einiger Zeit schon mal hatte er sich irgendwann müde gedacht und schlief schließlich ein, ohne es zu merken. Allerdings wachte er gefühlt nach einer Minute wieder auf, weil er furchtbare Bauchschmerzen hatte. Das gezwungene Abendessen war natürlich nicht ohne Folgen geblieben.
Bei Bauchschmerzen machte seine Mutter ihm immer Pfefferminztee und nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand mehr unten war, ging er in die Küche, machte das Licht über der Arbeitsplatte und den Wasserkocher an und durchsuchte leise die Schränke nach Teebeuteln. Er fand glücklicherweise ziemlich schnell welche und ließ den Tee dann nur ein paar Minuten ziehen, denn es war inzwischen wirklich schlimm geworden.

Nicht nur der Tee tat unglaublich gut, denn er hatte schon nach den ersten drei Schlucken das Gefühl, dass die Schmerzen nicht mehr so schlimm waren, es hatte auch etwas Beruhigendes, in der dunklen stillen nur von dem kleinen Licht über der Arbeitsplatte erhellten Küche zu sitzen. Auch seine Gedanken kamen endlich einmal zu Ruhe und er konnte auch wieder an etwas Anderes denken als an Gregor. Zum Beispiel daran, dass es nur noch drei oder vier Tage waren, bis es für ihn wieder zurück nach Hause ging. Und zuhause würde er Gregor ganz schnell vergessen und dann würde er irgend ein süßes Mädchen finden, genau wie Max Marie gefunden hatte. Und dann sollte er vielleicht auch endlich anfangen, sich auf morgen zu freuen, denn in einen Freizeitpark zu fahren war wirklich eine ganz tolle Sache.

Mit diesen Gedanken und beinahe komplett schmerzfrei ging er zurück ins Bett und brauchte gar nicht lange, bis er eingeschlafen war.

Doch so einfach, wie er dachte, war es dann doch nicht, Gregor zu vergessen.

Das Wetter war schön und warm und es waren Ferien, also war der Park voll. Die Schlangen vor den einzelnen Attraktionen waren entsprechend ziemlich lang, sodass sie stets einige Zeit warten mussten und Toni genug Muße hatte, sich umzusehen. Und immer, wenn er jemanden mit rötlichem Haar sah, egal wie groß oder wie alt, war Gregor sein erster Gedanke. Tonis Herz fing dann jedes Mal heftig an zu klopfen und er musste sich zusammenreißen, sich nichts anmerken zu lassen. Vor allem gegenüber Nadja, die ihn die ganze Zeit mit Argusaugen beobachtete. Aber er machte definitiv eine unglückliche Figur, so oft, wie sie ihn ansprach und es einige Zeit dauerte, bis er aus seinen Gedanken zurück war, um ihr zu antworten. Und es war auch nicht von Vorteil, dass sein Magen nach wie vor wie zugeschnürt war und er sich zum Essen zwingen musste. Aber diesmal war er vorsichtiger, denn er wollte auf keinen Fall wieder so schlimme Bauchschmerzen bekommen.

Vor allem hier nicht. Denn wenn man mal von dem irgendwie allgegenwärtigen Gregor absah, war es ein toller Tag. Dank Kamilla, die Toni wirklich überraschte, denn egal, wie bedrohlich die Achterbahn sich vor ihnen auftürmte, oder das Karussell aussah, sie war überall mit dabei, etwas, mit dem Toni nicht gerechnet hatte.

Sie blieben, bis der Park schloss und dann war es noch eine zweistündige Fahrt nach Hause, die Toni größtenteils verschlief. Erst, als sie von der Autobahn abbogen und sie die Burg schon in der Ferne sehen konnten, fing er an, sich darüber Gedanken zu machen, wie er die letzten Tage hier verbringen wollte. Er wollte auf keinen Fall nur noch auf seinem Zimmer sitzen und schließlich war die Burg groß und er kannte inzwischen bestimmt alle Orte, an denen Gregor sich rumtrieb - es dürfte deswegen eigentlich nicht besonders schwer sein, ihm aus dem Weg zu gehen.
Mit leichtem Herzen stieg er aus dem Auto und wollte sich Kamilla und Nadja anschließen, die zur Haustür gingen, als hinter ihm eine erboste Stimme sagte: "Da bist du ja!"

Er drehte sich um und da stand wirklich Gregor mit einem Buch in der Hand. "Den ganzen Tag hock ich schon hier und warte auf dich, weil du einfach abhaust, ohne irgendwas zu sagen!", schrie er Toni an. Seine Augen funkelten und er verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Es gab keinen Zweifel, dass Vulkan Gregor ausgebrochen war.

Toni war für einen Moment so schockiert, Gregor vor sich zu sehen, wo er sich doch so sicher gewesen war, ihn nie wieder zu sehen, dass er für einen Moment unfähig war, sich zu bewegen oder zu denken. Und als sein Gehirn dann seinen Betrieb wieder aufnahm, da wurde ihm klar, dass es besser war, hier auf der Hut zu sein. Der Grund, wieso Gregor hier war, lag auf der Hand und vermutlich würde er auch nicht lange zögern und Toni zeigen, was er von dem Kuss hielt.

Toni sah sich über die Schulter nach Kamilla und Nadja um, denn solange sie da waren, würde Gregor sicher nicht auf ihn losgehen, aber beide waren schon im Haus verschwunden.

Tonis Mut sank auf ein Minimum und er ballte schon einmal vorsorglich die Faust, um sich wenigstens etwas zu verteidigen.

"Jetzt sag gefälligst mal was!", fuhr Gregor ihn an. Toni zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück. "Ähm", begann er, die Worte tanzten in seinem Kopf, aber es gelang ihm einfach nicht, aus ihnen einen vernünftigen Satz zu formen.

Gregor runzelte die Stirn. "Was ist dein Problem?!", rief er. "Hast du Schiss vor mir!?"

Nach dieser Aussage hatte Toni auf einmal keine Lust mehr darauf, sich hier wie das Opfer zu fühlen. Und warum hatte er eigentlich Angst davor, sich mit Gregor zu prügeln? Er war vielleicht nicht stärker, aber dafür größer und das war bestimmt auch ein Vorteil. Er schob das Kinn vor und erwiderte mit fester Stimme: "Warum sollte ich Schiss vor dir haben?"

Gregor zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Du hast ja auch vor Geistern Schiss, die es gar nicht gibt."

"Ach, halt die Klappe", erwiderte Toni, dem die Szene an der Treppe teilweise immer noch unangenehm war.

"Halt du die Klappe", echote Gregor. Sie sahen sich für einen Moment stumm an und dann grinsten sie beide. Und dann war auf einmal alles vergessen. "Bock zu zocken?", erkundigte sich Gregor und Toni nickte eifrig. Es war zwar schon acht Uhr und Gregors Mutter würde ihn bestimmt wieder genau um neun Uhr rauswerfen, aber Nein zu sagen hätte er jetzt absolut nicht geschafft.

Sie gingen los, Seite an Seite und Toni erzählte Gregor von seinem Tag im Freizeitpark.

Ganz wie Toni es wartet hatte, tauchte Gregors Mutter Punkt neun Uhr auf und bat ihn, freundlich aber bestimmt, jetzt zu gehen. Es war eine komische Stunde gewesen. Am Anfang war Toni sich absolut sicher gewesen, dass Gregor wegen der Sache in der Kirche noch ausrasten würde. Er konnte sich kaum auf das Spiel konzentrieren. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Gregor ihm häufiger einen kurzen Seitenblick zuwarf, was dafür sorgte, dass er ständig angespannter wurde und sich noch weniger konzentrieren konnte.

Aber als die Zeit verging und absolut nichts weiter passierte als ihre üblichen Neckereien und das Gefluche, wenn es nicht so lief, wie sie es haben wollten, hatte Toni irgendwann die Nase voll von der Anspannung. Als er merkte, wie Gregor ihn wieder ansah, drehte er den Kopf und erwiderte den Blick. Zuerst herausfordernd, um Gregor zu zeigen, dass er von seinem kleinen Spielchen wusste, aber die Herausforderung verschwand sehr schnell aus seinem Blick. Denn Gregor sah ihn einfach nur an, ohne gerunzelte Stirn oder funkelnde Augen oder sonstigen Sachen, die zeigten, dass er wütend war.

Als sich ihre Blicke trafen, schenkte er Toni ein beinah scheues Lächeln und sah wieder weg. Wieder war Toni zuerst überrascht, weil alles ganz anders lief, als er erwartet hatte, aber gleichzeitig löste das Lächeln ein unglaublich angenehmes Gefühl in seinem ganzen Körper aus.

Es war nicht das letzte Mal, dass sich ihre Blicke trafen und jedes Mal war Toni so erfüllt von etwas, für das er keine Worte hatte, dass ihm manchmal fast der Atem stockte. Alles um sie herum war auf einmal ganz weit weg, der Controller in seiner Hand, die Musik aus dem Fernseher, das Gefühl des weichen Teppichs, auf dem er saß, das Einzige, was er überdeutlich wahrnahm, war Gregor.

Dass sie aufgehört hatten zu reden, verstärkte noch den Eindruck, dass sie sich grade in ihrer ganz eigenen Welt befanden und als Gregors Mutter an die Tür klopfte, zuckten sie beide erschrocken zusammen und Toni fühlte sich für einen Moment, als habe man ihn aus einem Traum gerissen.

Seine Knie waren ziemlich weich, als er danach hinter Gregor die Treppe hinunterstieg.
Gregor öffnete die Tür und Toni trat nach draußen, aber es war ihm unmöglich, jetzt einfach zu gehen. Er drehte sich um und sah Gregor an, der seinen Blick kurz erwiderte und dann wieder weg sah. "I...ich komm dann morgen zu dir", murmelte er.

"Ok", erwiderte Toni mit nicht mehr ganz so fester Stimme und nachdem ihre Blicke noch einen Moment ineinander gehangen hatten, stieg er auf unsicheren Beinen die Treppe runter und machte sich auf den Weg zum Haus.

Auch in dieser Nacht brauchte Toni einige Zeit, um einzuschlafen. Aber diesmal nicht, weil seine Gefühle Achterbahn mit ihm fuhren. Oder er die Szene in der Hütte zwanghaft immer und immer wieder durchspielen musste.

Nein, diesmal fühlte es sich einfach nur gut und absolut nicht peinlich an. Denn das, was er in seinem Kopf immer und immer wieder abspielte, waren Gregors kleine scheue Lächeln und wie sie sich angefühlt hatten, überhaupt wie sich diese ganze Stunden angefühlt hatten. Jetzt, wo Toni darüber nachdachte, war das alles irgendwie total unwirklich gewesen.
Genau wie die Tatsache, dass Gregor den Kuss mit keinem Wort erwähnt hatte. Dabei war das doch eigentlich eine sehr große Sache, zumindest für Toni. Es war sein erster Kuss gewesen und, da war sich ziemlich sicher, auch für Gregor. Er hätte irgendwie gerne gewusst, was er darüber dachte, aber nie im Leben hätte er ihn danach gefragt. Allein der Gedanke, mit irgendjemandem darüber zu sprechen, war unerträglich peinlich. Es reichte schon, es sich bloß vorzustellen, damit er wieder einmal rot wurde.

Aber damit hielt Toni sich nicht allzu lange auf. Lieber ließ er seine Gedanken wieder zurück zu der Zeit zwischen acht und neun Uhr wandern.
Als er am nächsten Morgen um kurz nach zehn aufwachte, nahm er ein Geräusch wahr, das er schon lange nicht mehr gehört hatte: Regen. Er stand auf und ging ans Fenster. Der Himmel war stahlgrau ohne irgendetwas Blaues dazwischen und es schüttete wie aus Kübeln.

Für einen Moment war Toni enttäuscht, denn Regen hieß, kein Schwimmen und kein ,Draußen-irgendwo-in-einer-versteckten-Ecke-herumlungern'. Aber dann dachte er daran, dass Gregor in einer halbe Stunde kommen würde und sein Herz fing erwartungsvoll an zu klopfen.

Die Klamotten von gestern, die er ausgezogen und dann auf den Stuhl geworfen hatte, wollte er heute nicht mehr anziehen, irgendwie waren sie auf einmal nicht mehr.... gut genug. Er öffnete den Schrank, in dem Nadja kommentarlos wieder Ordnung gemacht hatte und sah die wenigen Klamotten durch, die er mitgenommen hatte. Aber in seinen Augen war davon auch gar nichts gut genug und für einen Moment ärgerte er sich das erste Mal seitdem er hier war darüber, dass er nur so wenig Sachen eingepackt hatte.

Aber jetzt musste er mit dem klarkommen, was da war. Er griff sich die ausgewählten Sachen, ohne sich darum zu kümmern, dass im Schrank wieder alles durcheinander fiel, schloss die Tür und ging ins Badezimmer.

Vorher war ihm seine Frisur herzlich egal gewesen. Er war einmal mit der Bürste durch die Haare gegangen ohne auch nur in den Spiegel zu sehen. Aber auch das war jetzt nicht mehr gut genug und er verbrachte einige Zeit damit, vor dem Spiegel seine Haare hin- und her zu kämmen, bis er mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden war.

Er war so aufgeregt, dass er eigentlich keinen Hunger hatte und sein Frühstück nur aus einer Schüssel Müsli bestand. Wie immer in den letzten Tagen, an denen er so spät aufgewacht war, fiel das gemeinsame Frühstück aus. Meistens war es Nadja, die den Kaffee machte um ihn dann mit zur Gärtnerei rauszunehmen, aber diesmal stand Thorsten an der Maschine, als Toni die Treppe herunter kam. Thorsten nickte ihm einmal kurz zu und brummte ein ,Morgen'. Toni grüßte zurück und war ganz froh, dass er mit ihm nicht noch einmal den ganzen letzten Tag durchkauen musste, so, wie es mit Nadja gewesen wäre. Die es sich sicher auch nicht hätte nehmen lassen, ihn noch einmal zu fragen, ob mit ihm alles in Ordnung war.

Toni stürzte das Müsli hinunter, aber da Gregor beschlossen hatte, nicht um elf sondern zehn Minuten früher zu kommen, war er noch mittendrin, als es klopfte. Thorsten, der mit der Thermoskanne bereits an der Tür war, öffnete sie, nickte dem eintretenden Gregor einmal kurz zu und schloss die Tür hinter sich.
Mit einem Schlag hatte Toni jetzt überhaupt keinen Hunger mehr. Und auch, dass in der Schüssel noch Müsli und Milch war, war grade völlig unwichtig geworden. Er stand einfach auf und ging zu Gregor.

Gregor trug eine gelbe Regenjacke und sein schiefes Begrüßungslächeln war dem Lächeln von gestern gewichen. Hätte Toni allein von seinem Anblick nicht schon wieder ein Kribbeln im ganzen Körper gehabt, jetzt hätte er es bestimmt. Er konnte gar nicht anders, als Gregors Lächeln zu erwidern und dann räusperte er sich einmal so unauffällig wie möglich, damit seine Stimme ihm einigermaßen gehorchte, als er "Hallo", sagte.

"Hallo", erwiderte Gregor und dann standen sie sich einen Moment gegenüber und sahen sich wortlos an. Es war, als hielt Toni eine Macht fest, der er nichts entgegenzusetzen hatte und er wollte es eigentlich auch überhaupt nicht.

Schließlich wandte Gregor den Blick ab und damit wurde Toni auch aus seiner Erstarrung gerissen. Als ihm bewusst wurde, dass er Gregor für einen Moment einfach nur angeguckt hatte, spürte er, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er sah er ebenfalls hastig weg und schluckte einmal. "Schwimmen ist wohl heute nicht", murmelte er.

"Ja", erwiderte Gregor ebenso leise. "Aber ich dachte, ich zeige dir einfach mal, wo ich bei Regen immer hingehe. Also... wenn du es sehen willst."

"Klar", erwiderte Toni, schaffte es aber immer noch nicht, ihn anzusehen.

Er zog sich eilig die Schuhe und seine Jacke an und nahm einen von den Schirmen, die an der Garderobe hingen.
Nachdem er ihn draußen aufgespannt hatte, gesellte Gregor sich wortlos zu ihm. Sie gingen dicht beieinander, sodass zufällige Berührungen nicht ausblieben, wobei sie von Tonis Seite aus nicht ganz so zufällig waren, weil es sich einfach nur großartig anfühlte, Gregors Arm zu streifen.

Sie hatten noch nie viel geredet, wenn sie zusammen waren, es sei denn, Gregor erzählte eine seiner Geschichten. Aber da das jetzt nicht der Fall war, schwiegen sie und das Trommeln des Regens auf dem Schirm war das einzige Geräusch. Es begleitete sie den Weg quer über den Hof zu dem Haus, hinter dem sich der kleine Garten befand.

Hintereinander stiegen sie die ziemlich durchgetretene Treppe bis zum Dachboden hoch. Es war ein riesiger Raum, der sich über die gesamte Breite des Hauses zog und vollgestellt war mit altem Krempel.

Durch die kleinen Fenster sickerte das graue Licht des Tages. Unter einem dieser Fenster stand in einer Ecke ein altes, aber frischbezogenes Bett, das ziemlich quietschte, als Gregor sich draufschmiss, nachdem er die Regenjacke und die Schuhe ausgezogen hatte. Toni stand etwas unschlüssig da und hielt den tropfenden Schirm in der Hand. Er wusste nicht, wie er sich diesen Ort vorgestellt hatte, aber so nicht.

"Na komm schon", sagte Gregor und lächelte ihn an und jetzt wäre Toni für ihn auch bis ans Ende der Welt gegangen. Er ließ den Schirm achtlos fallen, zog sich ebenfalls die Schuhe und die Jacke aus und gesellte sich zu Gregor aufs Bett. Sie lagen auf dem Rücken und sahen an die Decke, wieder so dicht nebeneinander, dass sie sich jedes Mal berührten, wenn sich einer von ihnen bewegte.

Gregor seufzte einmal tief. "Ich finde das echt schön, hier zu liegen, und dem Regen zuzuhören und einfach mal gar nichts zu machen."

Toni warf ihm einen Seitenblick zu. Gregor hatte die Augen geschlossen und sah friedlich und gelöst aus. Toni tat es ihm gleich und er musste feststellen, dass das Prasseln des Regens auf dem Dach wirklich eine unglaublich beruhigende und entspannende Wirkung hatte.

Eine Weile lagen sie so da und schwiegen, bis plötzlich ein grelles Licht den Dachboden für den Bruchteil einer Sekunde erhellte, gefolgt von einem heftigen Donner.

Dass Toni ein ziemlicher Schisser war, galt nicht nur für gruselige Geschichten oder Geister. Auch Gewitter fand er verdammt unangenehm und deswegen war es damit mit der Entspannung vorbei. Und direkt unterm Dach war es noch schlimmer, denn da war er ja viel näher am Gewitter. Natürlich hatte er nicht vor, darüber auch nur ein Wort zu verlieren, sondern zog nur unbehaglich die Schultern zusammen und verschränkte die Hände vor der Brust.

Gregor, der ihn beobachtet hatte, zog leider die richtigen Schlüsse aus seinem Verhalten und fragte: "Hast du Angst?" Und obwohl an der Art, wie er es sagte, nichts darauf hindeutete, dass er Toni aufziehen wollte, erwiderte der ziemlich brüsk: "Quatsch. Ich hab vor gar nichts Angst!"
Gregor gluckste einmal. "Ja und damals an der Treppe hattest du auch keine Angst."

"Hatte ich auch nicht, wie oft soll ich das denn noch sagen?!", rief Toni.

Gregor drehte sich auf die Seite und sah ihn an, aber Toni blieb stocksteif auf dem Rücken liegen. Die Situation gefiel ihm grade absolut nicht und er wollte zurück zu dem Moment, bevor das Gewitter richtig losgelegt hatte.

"Okay", meinte Gregor gedehnt. "Wenn du also vor nichts Angst hast, dann küss mich doch nochmal, ohne danach wegzurennen."

Toni war sich zuerst völlig sicher, sich verhört zu haben. Er richtete sich auf und starrte Gregor an, während sein Herz einen heftigen Salto machte.

Gregor erwiderte seinen Blick mit einem Lächeln, das deutlich machte, dass er es ernst meinte.

Toni schluckte einmal hart, aber bevor er jetzt anfing, nachzudenken beugte er sich vor, Gregor kam ihm entgegen und dann trafen sich ihre Lippen.

Und genau wie in der Kirche war das Gefühl unbeschreiblich. Es hüllte Toni von Kopf bis Fuß ein und er hätte kein Problem damit gehabt, wenn es nie wieder weggegangen wäre.

Diesmal war es auch Gregor, der den Kuss unterbrach und sich zurück aufs Bett fallen ließ. Er grinste zu Toni hoch. "So küsst man doch nicht," meinte er. "Du musst den Mund aufmachen. So, wie im Film. Komm, ich zeig's dir."

Seine Hand schloss sich um Tonis Schulter und zog ihn zu sich runter. Ihre Lippen fanden sich erneut und diesmal öffnete Toni den Mund, so, wie Gregor es gesagt hatte. Zuerst fühlte es sich komisch an und Toni wusste nicht, ob er es gut finden sollte. Aber dann fanden sie ihren Rhythmus und es wurde perfekt .

Und fast genau so perfekt wie der Kuss fühlte sich Gregors Hand an seiner Schulter an.

Doch als draußen ein Donner so laut wie ein Paukenschlag ertönte, konnte Toni nicht anders, als zusammenzuzucken.

"Na komm", sagte Gregor, schlang beide Arme um ihn und zog ihn an sich, sodass Tonis Kopf auf seiner Brust lag. "Ich beschütz dich vor dem großen bösen Gewitter."

In der Welt, in die Toni jetzt eintauchte gab es dann kein Gewitter mehr. Nur Gregor und seine Wärme, die Toni einhüllte wie eine Decke. Und die Art, wie er roch, den Schlag seines Herzens, den er hören konnte und wie er sich anfühlte, als Toni etwas unbeholfen den Arm um ihn legte. Dann schloss er die Augen.

Auch als aus dem Gewitter nur noch ein leises Grollen in der Ferne geworden war und der Regen auch soweit nachgelassen hatte, dass das Trommeln auf dem Dach nicht mehr ganz so laut war, lagen sie immer noch genau so da. Irgendwann hatte sich Gregors Hand in Tonis Haar gegraben, wo sie jetzt immer noch war.

Toni hatte die Nase in Gregors T-Shirt und fühlte sich wie damals, als er sich so heftig betrunken hatte, aber bevor der furchtbare Kater gekommen war:  irgendwie schwebend und angenehm beduselt. Allerdings hatte sein Gehirn nicht ganz abgeschaltet und er traute sich nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, aus Angst, Gregor damit irgendwie aufzuschrecken und darauf zu bringen, dass das hier doch irgendwie komisch war.

Denn auch, wenn Toni sich vorher noch nie so gut gefühlt hatte, wie in diesem Moment, konnte er das komische Gefühl nicht so ganz loswerden und wenn er es nicht konnte, dann Gregor doch sicher erst recht nicht. Schließlich hatte er so wütend die Stirn gerunzelt, als Toni ihn in der Kirche geküsst hatte, sodass er sich sicher gewesen war, dass er nie wieder ein Wort mit ihm reden würde.

Allerdings hatte er das dann ja doch. Sie hatten sich danach dann sogar noch zweimal geküsst. Bei dem Gedanken musste Toni einmal breit grinsen. Und letztendlich war es doch ganz egal, ob das hier komisch war. Es fühlte sich einfach super an und das war das Einzige, was wichtig war.

Doch als Gregor sich dann plötzlich abrupt aufsetzte und Toni zwangsläufig mit hochgezogen wurde, machte sein Herz einen enttäuschten Hüpfer, dass sein Szenario jetzt anscheinend doch eingetroffen war. Aber dann hörte er Stimmen und Gepolter und das war es sicher, was Gregor aufgeschreckt hatte.

Gregor schob Toni ganz sanft von sich, sprang vom Bett und lief in den Korridor. Er verschwand um die Ecke und kam einen Augenblick später mit wutzblitzenden Augen und der Toni sehr bekannter gerunzelter Stirn wieder. Bevor er nachfragen konnte, was passiert war, brüllte Gregor auch schon los: "Ich hasse diese verdammten Renovierungen! Dauernd laufen hier irgendwelche Menschen rum und gehen mir auf die Nerven und machen Krach! Warum brauchen diese ätzenden Touristen ein verdammtes Restaurant?! Oder ein verdammtes Schwimmbad?! Sollen sie doch in dem scheiss See schwimmen gehen. Meine Eltern können dafür dann ja auch Eintritt verlangen! Und wehe, sie machen hier in diesem Raum auch irgendwas für die blöden Leute!" Er trat mit solcher Wucht gegen den Bettpfosten, dass das Bett für einen Moment erzitterte.

Toni, der wusste, dass jetzt jedes Wort falsch gewesen wäre, saß nur stumm da und sah ihm bei seinem Wutausbruch zu. Doch dann kamen die Stimmen und das Gepolter näher und jetzt hielt er es auch für besser, aufzustehen.

Gregor starrte ihn wütend an, als ob er an allem Schuld war, aber das tat er in solchen Situationen immer und wie an vieles andere, was Vulkan Gregor betraf, hatte Toni sich inzwischen auch daran gewöhnt und ließ sich nicht mehr provozieren. Stattdessen lächelte er Gregor an, was vermutlich falsch war und ihn nur noch mehr auf die Palme bringen würde, aber Toni konnte einfach nicht anders.

Doch zu seiner Überraschung erwiderte Gregor das Lächeln und es war ganz und gar nicht gezwungen. Und wie die Male vorher, die er ihn anlächelte, hatte Toni auch jetzt wieder dieses warme Gefühl im Bauch, er beugte sich vor und küsste Gregor einmal kurz. Danach grinste der nur noch mehr und nahm Tonis Hand: "Komm, wir hauen hier ab!"

Er zog ihn zum anderen Ende des riesigen Raums, wo sich im Boden eine Falltür befand, ergriff den Ring in der Mitte und hob sie hoch. Toni, der von der Tatsache entzückt war, dass diese Falltür aussah wie im Film, blickte durch die entstandene Öffnung und sah auf den Steinboden des Raumes darunter. "Du zuerst", sagte Gregor und Toni, der das Ganze wegen der Falltür jetzt unglaublich aufregend fand, ließ sich das nicht zweimal sagen.

Allerdings landete er in keinem hinter der Wand versteckten Gang oder einem geheimen Zimmer, wie er gehofft hatte, sondern einfach in einem leeren Raum, der sich nur dadurch von den anderen unterschied, dass er kein Fenster hatte.

Mit einem leisen Plumps landete Gregor neben ihm. In der Hand hielt er ein Seil und als Toni nach oben blickte, zog er daran und die Klappe fiel mit einem dumpfen Knall wieder zu.

Er hätte Gregor jetzt gern nach der Falltür gefragt, wieso es sie gab und ob dieser Raum hier, trotz seines gewöhnlichen Aussehens, vielleicht einmal etwas Besonderes gewesen war, aber nach seinem Ausbruch von grade verkniff er sich die Fragen lieber. Er hatte keine Lust, dass Gregor sich wieder aufregte. Wie er es eigentlich meistens tat, wenn Toni ihn irgendetwas über die Burg fragte. Und da er sich in den meisten Fällen in seine Wut hineinsteigerte, kamen die Themen Johann und Renovierung auch immer gerne dran und auf die hatte Toni noch weniger Lust.

Also ging er wortlos hinter Gregor her, der mit riesigen Schritten losstürmte, dann aber anhielt, als er merkte, dass Toni nicht ebenso schnell hinterherkam. Er drehte sich zu ihm um und hielt ihm seine Hand hin. Toni ergriff sie, sie verflochten ihre Finger miteinander und gingen etwas langsamer zum Ausgang.

Sie hörten zwar noch den Krach der Renovierer, begegneten aber auf ihrem Weg niemanden und kamen natürlich an einer ganz anderen Stelle heraus, als der, an der sie hineingegangen waren.
Als ob sie sich abgesprochen hätten, ließen sie sich los, als sie nach draußen getreten waren und schlugen den Weg zum Wohngebäude ein. Am Ende landeten sie, wie so oft, in Gregors Zimmer vor der Konsole. Aber was diesmal anders war, war, dass sie sich öfters einmal einfach nur ansahen und lächelten. Oder Gregor legte den Arm um Tonis Hals, zog ihn zu sich heran und sie küssten sich einen Augenblick, diesmal schon viel sicherer als die ersten Male.

Um kurz vor neun ließen sie dann das Spiel Spiel sein, Toni legte den Kopf auf Gregors Schulter und schloss die Augen. Gregor nahm seine Hand und sie saßen so schweigend da während die ruhige Musik des Autorennspiels sie einhüllte und genossen die letzten Minuten, die ihnen noch blieben. Bis Gregors Mutter an die Tür klopfte und Toni daran erinnerte, dass es Zeit war, zu gehen.

Wie sonst auch brachte Gregor ihn noch zur Tür, aber anstatt sie nach einem kurzen Abschiedswort zu schließen, lehnte er sich gegen den Rahmen und sah Toni mit einem bedauernden Lächeln an. "Echt scheisse, dass du schon gehen musst." Er räusperte sich einmal und sah auf den Boden. "Also... ich kann ja meine Mama mal fragen, ob du morgen hier pennen kannst. W...wenn du das auch willst."

Natürlich musste Toni keine Sekunde darüber nachdenken. "Klar will ich das!", rief er und bei dem Gedanken, morgen bei Gregor zu schlafen, erfüllte wieder dieses angenehme Gefühl seinen ganzen Körper.

Gregor strahlte. "Super." Er sah einmal über die Schulter, dann beugte er sich vor und küsste Toni schnell. "Gute Nacht", sagte er liebevoll.

"Bis morgen", erwiderte Toni und dann sahen sie sich noch einen Moment an, bevor Toni sich umdrehte und die Treppe herunterstieg.

Seine Knie waren weich, sein Herz klopfte und er hatte das Gefühl, als würde er auf einer kleinen Wolke schweben. Als er sich dem Haus näherte, wurde er sich des breiten Lächelns auf seinem Gesicht bewusst. Er versuchte, es abzustellen, aber es war unmöglich.  Ihm blieb deswegen nur die Hoffnung, dass gleich niemand da war, der ihn fragen würde, weswegen er so breit lächelte. Vor allen Dingen nicht Nadja.

Nadja, Thorsten und Kamilla waren zwar alle da, aber sie saßen auf der Couch vor dem Fernseher, mit dem Rücken zur Treppe und Toni gelang es mit einem flüchtigen ,Gute Nacht' an ihnen vorbei zu huschen. Er sah zwar aus den Augenwinkeln, dass Nadja sich umdrehte, aber dann war er auch schon oben.

In seinem Zimmer angekommen, schloß er die Tür sorgsam hinter sich, zog sich seine Schlafsachen an und kroch ins Bett unter die Decke. Aber diesmal, um in der kompletten Dunkelheit selig vor sich hinzuträumen.

Am nächsten Morgen wachte Toni um halb neun auf und eigentlich hätte er sich jetzt noch einmal umgedreht und weitergeschlafen, aber seine Gedanken waren sofort wieder bei Gregor gelandet und die Vorstellung, heute vielleicht bei ihm zu übernachten, sorgte dafür, dass er nicht mehr einschlafen konnte.

Er stand auf und ging zum Fenster. Am ansonsten blauen Himmel waren zwar noch ein paar Wolken, aber es waren weiße Schäfchenwolken und keine grauen Schlechtwetterwolken. Ein weiterer Grund für Toni, trotz des, für seine Verhältnisse, frühen Aufstehens einfach nur gut gelaunt zu sein.

Doch dann knurrte sein Magen und von jetzt auf gleich bestand er nur noch aus Hunger. Er hatte gestern ja weder mittags noch abends etwas gegessen, einfach, weil er gar nicht hungrig gewesen war. Wenn er mit Gregor zusammen war, gab es auch nur Gregor. Für so etwas Profanes wie Hunger und Essen war kein Platz. Aber jetzt, ohne Gregor, war nichts mehr, das den Hunger zurückhielt und am liebsten wäre Toni gleich nach unten gelaufen und hätte sich den Bauch mit irgendwas vollgeschlagen. Allerdings bestand um diese Zeit die Möglichkeit, dass Kamilla, Nadja, Thorsten oder vielleicht sogar alle zusammen unten waren. Toni hatte absolut keine Lust, sich zu ihnen zu setzen und gefragt zu werden, wieso er gestern so gegrinst hatte, denn das hatte Nadja bestimmt gesehen.

Also legte er sich zurück aufs Bett und griff nach seinem Buch, um dann Seite um Seite zu lesen, ohne mitzubekommen, was dort stand. Ihm war vor Hunger mittlerweile sogar richtig schlecht und schließlich war auch der letzte Rest Willensstärke aufgebraucht und er konnte nicht anders, als nach unten zu gehen, wo, wie erwartet, Nadja und Kamilla am Tisch saßen und aßen.
"Sieh an, sieh an, wer kommt denn da?!", rief Nadja lachend. "Um diese Uhrzeit hatten wir gar nicht mit dir gerechnet."

Der Satz rauschte beinah ungehört an Tonis Ohren vorbei, denn alle seine Sinne waren auf den Frühstückstisch mit dem Korb Brötchen, dem Marmeladenglas und dem Teller mit Aufschnitt gerichtet. Zu einem ,Guten Morgen' war er noch in der Lage, bevor er sich auf einen Stuhl fallen ließ, zwei Brötchen auf einmal nahm, unkoordiniert aufschnitt und sich gar nicht damit aufhielt, sie mit Margarine zu bestreichen, sondern einfach vier Scheiben Wurst verteilte und anfing zu essen.
Nach der dritten Brötchenhälfte ging es ihm besser und er nahm auch wieder die Dinge um sich herum wahr, die nichts mit Essen zu tun hatten. Wie Nadjas Blick, mit dem sie ihn ansah. Er erwiderte ihn natürlich nicht, sondern starrte angestrengt auf sein Brettchen, während er darauf wartete, dass sie etwas sagte.

Aber sie schwieg, genau wie Kamilla, bei der Schweigen ja nichts Ungewöhnliches war. Aber bei Nadja schon und irgendwann war Toni so angespannt, dass es ihm auf einmal lieber gewesen wäre, wenn sie etwas sagen würde, worauf er dann mit irgendeinem Spruch reagieren konnte.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach die Stille und Toni zuckte zusammen, während sein Herz einen freudigen Hüpfer machte. Es war zwar noch nicht mal ansatzweise elf Uhr, sondern grade einmal zehn, aber das war natürlich Gregor.

Toni merkte, wie sich das breite Grinsen zurück auf sein Gesicht schlich- während Nadja ihm gegenüber saß. Er versuchte, seine Muskeln zu entspannen was ihm auch so lange gelang, wie Kamilla brauchte, um zu Tür zu gehen, sie zu öffnen und Gregor hereinzulassen.

Toni stopfe den letzten Rest Brötchen in sich hinein, stand auf und ging zu Gregor, sodass er mit dem Rücken zu Nadja stand. Er spürte zwar weiterhin ihren Blick auf sich gerichtet, aber sie konnte ja nicht sehen, wie er Gregor anstrahlte.

Gregor strahlte zurück. "Hej", sagte er. "Lust, schwimmen zu gehen?"

"Na klar", quetschte Toni an dem Brötchen in seinem Mund vorbei. "Ich hol nur eben meine Badesachen." Er warf sich herum und rannte die Treppe hoch in sein Zimmer. Jetzt, wo seine kleine Welt wieder voll mit Gregor war, war die Bemühung, sich vor Nadja betont lässig zu geben, vergessen. Auch die Tatsache, dass sie sich, als er wieder herunter kam, über die Küchentheke beugte, ihn mit einem undefinierbaren Lächeln ansah und "Viel Spaß ihr zwei", trällerte, beachtete er nicht sonderlich.

Schweigend gingen sie nebeneinander über den Hof zum Burgtor. Eigentlich hätte Toni ja gerne Gregors Hand genommen aber irgendwie ging das hier, wo sie jemand sehen konnte, nicht. Der Gedanke, seine Hand festzuhalten fühlte sich hier nicht einmal ansatzweise so gut an, wie sonst. Und auch Gregor machte keinen Versuch, nach seiner Hand zu greifen.

Allerdings konnte Toni nicht damit aufhören, ihn hin und wieder anzusehen. Und Gregor ging es anscheinend genau so, so oft, wie sich ihre Blicke trafen. Wenn das passierte, bekam Toni von Gregor jedes Mal dieses scheue Lächeln, bei dessen Anblick er sich einfach nur wunderbar fühlte.

Toni konnte inzwischen mühelos mit Gregors schnellem Schritt mithalten und so dauerte es nicht lange, bis sie den Hof überquert hatten und durch das Tor getreten waren. Sie wandten sich nach rechts um an der Mauer entlang zu gehen und waren grade um die Ecke gebogen als Gegor plötzlich so abrupt stehenblieb, dass Toni vor Überraschung beinahe gestolpert wäre, als er sich bemühte, ebenfalls anzuhalten.

Er drehte sich um und ging zu Gregor hin, in der Erwartung, dass wieder irgendetwas passiert war, das ihn aufgeregt hatte und er sich wieder auf Gemecker einstellen konnte, doch stattdessen sah Gregor ihn einen Moment stumm an und blickte dann zur Seite. "Ich... ich muss dir was sagen," murmelte er und Tonis Herz fing in banger Vorahnung an zu klopfen. Die Gedanken, die er gestern auf dem Dachboden gehabt hatte, waren wieder da, ja eigentlich waren sie nie ganz weggewesen und sicher mit der Grund, wieso er Gregors Hand auf dem Hof, wo sie jederzeit jemand sehen konnte, nicht hatte nehmen können. Und da Gregor es auch nicht versucht hatte, hatte er sicherlich ähnliche Gedanken und Toni wappnete sich schon einmal gegen die furchtbare Enttäuschung, wenn er ihm jetzt gleich sagte, dass er das doch alles komisch fand und sie deswegen damit aufhören mussten.

Gregor schwieg immer noch, Toni sah, wie er die Hände ineinander krampfte und er war inzwischen so angespannt, dass er ihn gerne aufgefordert hätte, doch endlich zu sagen, was los war. Aber stattdessen blieb er ruhig und starrte Gregor an, der einmal tief Luft und holte und, ohne ihn anzusehen, sagte: "W...weißt du, ich... ich muss ständig an dich denken. Irgendwie auch, wenn du da bist. Ich kann einfach nicht aufhören." Er wurde rot. "Und... und deswegen wollte ich fragen, ob das hier auch alles okay für dich ist. Ich meine, wir haben uns zwar schon geküsst und so.... aber es kann ja sein, dass du es trotzdem komisch findest."

Er sagte zwar nicht, dass er das alles, was da zwischen ihen war, auch komisch fand, aber wenn es nicht so wäre, dann hätte er die Frage sicher nicht gestellt. Trotzdem fiel die Anspannung von Toni ab wie ein tonnenschwerer Stein und er war sich in diesem Moment ganz sicher, dass er noch in seinem Leben erleichterter war als jetzt. "Nein, nein ich finde es nicht komisch", beeilte er sich zu versichern. Dann schluckte er einmal, weil er plötzlich einen Kloß im Hals hatte und er spürte, wie auch sein Gesicht heiß wurde, als er sagte: "Und mir geht's auch so, denn... denn ich kann auch nur noch an dich denken."

Nach diesem Geständnis dauerte es einen Moment, bis er Gregor wieder ansehen konnte, aber als er es tat, strahlte der ihn an, machte einen großen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn. Und wie immer, wenn er ihm so nah war, stand für Toni die Zeit einen Moment still. Danach küsste sie sich, kurz und immer noch ein wenig unbeholfen, aber trotzdem hatte Toni danach weiche Knie und ihm war etwas schwindelig. Gregor grinste ihn schief an und hielt ihm die Hand hin. "Komm, wir gehen schwimmen." Mit einem Lächeln griff Toni nach seiner Hand und sie gingen weiter.  

Was vorher an dem Tag, an dem sie sich in der Kirche geküsst hatten, passiert war, war für Toni vom dichten Nebel der Vergangenheit völlig verschluckt worden, aber die Erinnerung kam ziemlich schnell zurück, nachdem Gregor sein Handtuch auf der Wiese ausgebreitet hatte und sich dann das T-Shirt über den Kopf zog.

Sofort war das Kribbeln wieder da- nur diesmal tausendfach verstärkt. Tonis Augen saugten sich an Gregors nacktem Oberkörper fest und alles in ihm schien sich in diesem Moment auf seinen Unterleib zu konzentrieren. Als ihm das bewusst wurde, war es ihm unglaublich unangenehm und endlich schaffte er es, den Blick von Gregor abzuwenden. Er blickte an sich herunter und der Anblick war genau der, den er erwartet hatte und der die ganze Sache noch peinlicher machte: die Beule in seiner Badehose war unübersehbar. Und das durfte Gregor auf keinen Fall mitbekommen; Toni war sich sicher, dass er dann vor Scham sterben musste. Allerdings stand er in seiner Panik für einen Moment wie angewurzelt da und wusste nicht, was er jetzt machen konnte. Jeden Augenblick konnte Gregor ihn ansehen.

Tonis Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum und als Gregor sich bewegte, zuckte er erschrocken zusammen. Aber glücklicherweise packte er sein T-Shirt nur sorgsam in seinen Rucksack und diese weitere Sekunde Unentdecktheit nutzte Tonis Kopf dafür, endlich einen klaren Gedanken zu fassen und ihn darauf hinzuweisen, dass kaltes Wasser bei sowas doch helfen konnte und das Wasser im See war ja immer ziemlich kalt.

Also rannte er los zum Wasser und versuchte, sich nicht von der atemraubende Kälte abhalten zu lassen, die seine Beine hochkroch, sobald er nur mit den Füßen drin stand. Er biss die Zähne zusammen und ging weiter, bis er es bis zu den Knien geschafft hatte.

Allerdings hatte Gregor es als Herausforderung gesehen, dass Toni unvermittelt losgelaufen war und er war hinter ihm hergerannt, holte ihn aber erst ein, als Toni schon im Wasser war und sprang ihm mit einem gröhlenden Schrei und ziemlicher Wucht in den Rücken. Toni, der damit natürlich absolut nicht mit gerechnet hatte, verlor den Halt und fiel vornüber ins kalte Wasser, immer noch mit Gregor auf dem Rücken.

Natürlich raubte ihm das kalte Wasser, jetzt, wo er komplett drin lag, erst recht den Atem aber zusammen mit dem Schock sorgte es dafür, dass sich sein Problem von jetzt auf gleich gelöst hatte. Worüber Toni so glücklich war, dass er, als er prustend wieder hochkam, es einfach hinnahm, als Gregor neben ihm triumphierend sagte: "Du warst zwar schneller, aber ich hab trotzdem gewonnen!"

Der Rest des Tages war dann auch weiter mit kleinen Wettkämpfen ausgefüllt. Toni hatte zwar nach wie vor das Bedürfnis, Gregor zu beeindrucken, aber da er ja jetzt wusste, dass weites Springen vom Baumstamm oder langes Tauchen nicht die Ergebnisse brachten, die er gern gehabt hätte, gab er ihm nicht nach, sondern versuchte einfach, besser als Gregor zu sein.

"Deine Lippen sind ganz blau," stellte Gregor irgendwann fest, nachdem sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander im Wasser gelegen hatten.

Toni war wirklich schon ziemlich kalt, die wenige Sonne, die durch die Bäume schien, war schon vor einiger Zeit verschwunden, die Schatten wurden länger und sorgten dafür, dass das Wasser noch kälter wurde. Aber niemals hätte Toni das zugegeben, wo Gregor doch keine Anzeichen zeigte, dass es ihm genau so ging. Aber als Toni sich aufrichtete und ihn ansah, hatte Gregor ebenfalls blaue Lippen. "Deine sind auch blau," erwiderte Toni und Gregor seufzte einmal. "Dann sollten wir besser rausgehen. Wenn ich krank werde, darf ich mir wieder was anhören."

Toni erwartete jetzt eine Schimpftirade, aber Gregor schwieg, packte ihn sanft am Arm und zog ihn mit zum Ufer.

Toni achtete darauf, ihn beim Abtrocknen und Anziehen nicht zu beobachten und als Gregor sein T-Shirt wieder anhatte, war die Gefahr vorbei- solange Toni nicht daran dachte, wie er ohne T-Shirt aussah, Gedanken, die zwar im Hintergrund lauerten, aber von ihm erfolgreich unterdrückt wurden.

Hand in Hand und schweigend gingen sie durch den dunklen Wald und erst, als sie den Berg hochgestiegen waren, sagte Gregor: "Ich hab meine Mutter gefragt, ob du heute bei mir pennen kannst." Er strahlte Toni an. "Und sie hat ja gesagt."

Toni strahlte zurück aber als Gregor dann wissen wollte, ob er auch gefragt hatte, verschwand das breite Lächeln und machte Verlegenheit Platz. Denn Toni hatte ja aus dem Grund nicht gefragt, weil er heute morgen nur ans Essen hatte denken können, was ihm jetzt ziemlich peinlich war.
Und als er dann endlich die Brötchen gegessen und wieder einigermaßen funktioniert hatte, da war auch Gregor schon gekommen und dann hatte er an so etwas erst recht nicht mehr denken können.

Er senkte den Kopf. "Nein, hab ich nicht," murmelte er und er spielte für einen Moment mit dem Gedanken, gar nicht zu fragen, sondern gleich einfach seine Sachen zu nehmen und mit zu Gregor zu gehen. Natürlich, um Nadja zu umkurven. Doch dann fiel ihm ein, dass er ja auch ebensogut Thorsten fragen konnte. Der würde sicher nicht nur nicht nein sagen, sondern auch keine weiteren Fragen stellen. Und wenn er es nachher Nadja erzählen würde, dann wäre das ja nicht mehr Tonis Problem, weil der ja dann schon nicht mehr da war.

Während Toni sich noch seinen Plan zurecht legte, fragte Gregor schüchtern: "Aber du willst doch auch, oder? Du sagst das nicht einfach so?!"

Toni sah ihn erschrocken an. "Klar will ich!" rief er, beschleunigte seinen Schritt und zog Gregor an der Hand hinter sich her.

Thorsten war meistens in dem kleinen Häuschen der Gärtnerei zu finden, in dem die verschiedenen Sachen verkauft wurden. Allerdings war die Tür zu Tonis Enttäuschung jetzt abgeschlossen und draußen war Thorsten nirgendwo zu sehen. Vermutlich war er bereits zuhause.

Toni sah seine Felle schon davon schwimmen und Nadja zu fragen als einzige Möglichkeit, aber dann entschied er sich, dass es vielleicht doch besser wäre, erst noch im Gewächshaus nachzuschauen. Es mussten ja alle Eventualitäten ausgeschöpft sein, bevor er dann doch zu Nadja gehen musste.

Das Gewächshaus war noch offen und Tonis Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer, als er durch die Scheiben ein kleines Licht sah. Und tatsächlich kniete Thorsten mit einer Schaufel in der Hand neben einem Beet.

Gregor und Toni wünschten höflich Guten Abend, Thorsten drehte sich halb zu ihnen um, nickte ihnen einmal kurz zu mit einem "N'Abend" zu und wollte sich dann wieder seiner Arbeit zuwenden, aber Toni fragte hastig: "Wäre es in Ordnung, wenn ich heute bei Gregor schlafe?"

Thorsten hob beide Augenbrauen und für einen Moment erwartete Toni, dass er so etwas sagte, wie dass das nicht entscheiden konnte und er Nadja fragen sollte, aber dann zuckte er nur mit den Schultern. "Na klar, meinetwegen", sagte er bevor er ihnen wieder den Rücken zuwandte.

Toni unterdrückte den Impuls, Gregor anzusehen, sondern machte sich so schnell wie möglich auf den Rückweg, denn zu dem, was Thorsten gesagt hatte, passte ja noch sehr gut der Zusatz ,Aber frag vorher noch Nadja.' Der Zusatz kam aber nicht mehr und als sie wieder draußen standen, schnaufte Toni einmal erleichtert durch.

Jetzt musste er nur noch seine Schlafsachen unauffällig an Nadja vorbeischmuggeln und dann war es geschafft. Natürlich war es am besten, er erledigte das jetzt sofort.

Sie gingen zum Haus und ganz, wie Toni es erwartet hatte, brannte hinter dem Küchenfenster Licht.
"Du wartest besser hier," schlug er vor, als sie an der Haustür standen. "Sonst will sie sich wieder mit dir unterhalten."

"Ja, da hab ich jetzt auch echt keine Lust drauf," bekräftigte Gregor.

Toni hatte die Klinke schon in der Hand. "Ich hol dann eben meine Sachen", sagte er und trat ins Haus.

Kamilla, die am Küchentisch saß und Nadja, die am Herd stand, drehten synchron ihre Köpfe, als Toni eintrat. Aber darauf hatte er sich ja eingestellt. "Hallo", sagte er, Kamilla nickte ihm einmal wortlos zu. Nadja wedelte mit dem Kochlöffel. "Abendessen ist gleich fertig. Und ich hab dein Lieblingsessen gemacht: ganz viel."

"Super," sagte Toni betont enthusiastisch. Er merkte zwar jetzt, wie hungrig er war und wie gut das Essen roch, aber ausnahmsweise war das einmal zweitranging, sodass er es schaffte, weiterzugehen und die Treppe hochzusteigen.

Er ging in sein Zimmer, zog seine Badehose aus und seine Jeans an, packte das nasse Handtuch aus dem Rucksack aus und seine Schlafsachen hinein und überlegte angestrengt, was er Nadja sage sollte, wenn sie wegen des Rucksacks fragte. Und sie würde definitiv fragen.

Ihm fiel allerdings auf die Schnelle nichts ein und er wollte Gregor jetzt auch nicht lange draußen warten lassen. Deswegen wandte er die Taktik an, die hin und wieder ganz gut funktionierte: Die Situation auf sich zukommen lassen und dann hoffen, dass sich sein Gehirn eine plausible Ausrede einfallen ließ, wenn es unter Druck stand.

Allerdings war Nadja so beschäftigt mit ihren Töpfen, dass sie Toni gar nicht ansah, sondern lediglich rief: "Essen ist in einer halben Stunde fertig!"

Nur Kamilla sah ihn stumm mit großen Augen an und blickte auch auf den Rucksack, aber sie hatte Toni damals schon nicht verpetzt und vielleicht würde sie es ja diesmal auch nicht machen. Und selbst wenn, Toni wäre dann ja schon weg.

Natürlich fand Toni es am tollsten bei Gregor zu übernachten wegen Gregor. Dass er heute in einem echten Turm schlafen würde in einem Gebäude, das seit Jahrhunderten von den Menschen bewohnt war, von denen Gregors Geschichten handelten war allerdings auch nicht zu verachten.

So war er erfüllt mit einer beinah feierlichen Stimmung, als sie die Treppen hochstiegen und Gregor die große Haustür öffnete. Im Flur trafen sie auf Gregors Vater, der Toni einmal lächelnd die Hand schüttelte.

"Da ist ja unser Übernachtungsgast. Bringt deine Sachen am besten gleich auf Gregors Zimmer und kommt danach direkt zum Essen." Und an Gregor gewandt: "Ich habe die Matratze schon hochgebracht. Das ist euch doch sicher lieber, als wenn Toni im Gästezimmer schläft."

Gregor runzelte die Stirn. "Man Papa!", rief er. "Ich hab schon tausend Mal gesagt, dass ich nicht will, dass einer in mein Zimmer geht, wenn ich nicht da bin!"

"Ach, du hättest die Matratze lieber alleine die Treppen hochgeschleppt?" erkundigte sich Gregors Vater und jetzt explodierte Gregor: "Ja hätte ich! Und Toni hätte mir dann geholfen! Es braucht echt niemand von euch in mein Zimmer zu gehen, wenn ich nicht da bin!"

Gregors Vater seufzte einmal tief und legte ihm die Hand auf die Schulter: "Ach Sohn, als wir deinen Namen ausgesucht haben, haben wir uns für Gregor entschieden, weil dein Vorfahre, an den wir da gedacht haben, für seine Ruhe und Gelassenheit und seine liebevolle Art bekannt gewesen ist. Aber mittlerweile glaube ich, müssen wir dich in Konrad umbennen, der in seinem Zorn das ganze Porzellan zerschlug!"

Unwirsch schüttelte Gregor seine Hand ab. "Ihr könnt mich auch Biene Maja nennen, das ist mir scheissegal!" rief er. "Nur geht nicht in mein Zimmer, wenn ich nicht da bin! Kommst du!" fuhr er Toni in einer Art an, die klar machte, dass das keine Frage gewesen war und stampfte davon.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Toni dabei gewesen war, wenn Vulkan Gregor vor seinen Eltern, besser gesagt seiner Mutter, ausgebrochen war. Seine eigene Mutter hätte ihm dafür mindestens zwei Tage Hausarrest aufgebrummt, während Gregors Mutter immer ruhig geblieben war. Und auch der Ton, mit dem sie Gregor zurecht gewiesen hatte, war bestimmt aber trotzdem gelassen gewesen. Aber vermutlich war sie, wie Toni inzwischen, einfach zu der Erkenntnis gekommen, dass es Gregor eben nur noch mehr anstachelte, wenn jemand seiner Wut mit weiterer Wut begegnete.  

Und wie sonst auch, war Toni diese Szene immer noch furchtbar unangenehm. Ihm war das Blut ins Gesicht geschossen und er warf Gregors Vater noch einen entschuldigenden Blick zu, bevor er Gregor folgte.

Er erreichte ihn, als er grade damit beschäftigt war, eine der Kerzen anzuzünden, die in einem Halter auf dem Tischchen neben dem Turmaufgang stand. Gregor mühte sich mit einem Feuerzeug ab, aber so oft er es versuchte, es wollte einfach nicht angehen. Schließlich pfefferte er es wütend in eine Ecke, riss die Schublade auf und holte eine Packung Streichhölzer heraus. Weil seine Hände zitterten, Toni vermutete weil er so sauer war, brachen drei ab, bis er endlich eins anreißen konnte.

Toni stand neben ihm und hätte ihm gern geholfen, aber wie so oft hätte Gregor das nur mehr aufgeregt, also ließ er es sein und wartete geduldig, bis er die Kerze angezündet hatte und stieg dann schweigend hinter ihm die Treppe hoch.

Als sie in sein Zimmer kamen und die Matratze unübersehbar auf dem Teppich neben Gregors Bett lag, erwartete Toni eigentlich noch mehr Geschimpfe aber Gegor warf ihr nur einen wütenden Blick zu, blieb aber ansonsten stumm mit der Kerze in der Hand an der Tür stehen und wartete, bis Toni seinen Rucksack abgelegt hatte um sich dann wortlos umzudrehen und vor ihm die Treppe wieder herunterzusteigen.

Außer in Gregors Zimmer und dem, an dessen Wand der Stammbaum gemalt war, war Toni noch in keinem anderen Raum des Hauses gewesen, sondern hatte nur einmal vom Flur aus hineingesehen.

An dem großen Tisch aus poliertem dunklen Holz zu sitzen, der bestimmt schon ewig in Familienbesitz war, auf Stühlen, die sicher auch schon sehr alt waren aber auch leider furchtbar unbequem, war ein unglaubliches Gefühl. Das Zimmer wurde von einem riesigen Kronleuchter erhellt, der von der Decke hing und zwar keine echten Kerzen mehr hatte, aber dafür bestimmt auch wieder richtig alt war und Toni fühlte sich, als würde er die Geschichte praktisch einatmen. Allerdings hätte er sich eher die Zunge abgebissen, als Johann, der ihm gegenüber saß,nach dem Alter und der Geschichte der Sachen zu fragen, denn er wusste ja, dass das Gregor gar nicht gefallen hätte.

Es gab Gulasch mit Nudeln, irgendwie unpassend für diese Umgebung befand Toni. Was aber nicht hieß, dass es nicht schmeckte. Im Gegenteil. Er hätte sich auch gerne sattgegessen, also dass er wohl drei oder vier Teller geschafft hätte, aber da er hier weder zuhause noch bei Nadja war, beließ er es bei zweien. Auch von dem schlichten Nachtisch, Vanillepudding mit Schokosauce, aß er nur eine Schüssel und lehnte den angebotenen Nachschlag dankend aber ziemlich wehmütig ab.

Während des Essens wurde über die Renovierung gesprochen und Toni erfuhr, dass in dem Gebäude, auf dessen Dachboden sie gestern dem Regen zugehört hatten, ein kleines Burgmuseum eingerichtet werden sollte.

Nach dem Nachtisch schenkten sich Gregors Eltern ein Glas Wein ein und es hatte den Anschein, als wäre es Tradition, jetzt noch länger am Tisch sitzen zu bleiben und sich zu unterhalten, aber Gregor hatte da absolut kein Interesse dran. "Können wir bitte aufstehen?", fragte er höflich, seine Mutter warf Toni einen schnellen Blick und lächelte dann ihren Sohn an: "Aber natürlich. Macht euch einen schönen Abend!"

Wie der Blitz war Gregor von seinem Stuhl aufgestanden und aus dem Zimmer gestürmt.
Toni bedankte sich noch für das Essen, wünschte allen eine Gute Nacht und ging hinter Gregor her, der bereits mit der brennenden Kerze in der Hand neben dem Turmaufgang auf ihn wartete.

Er sah Toni lächelnd entgegen, seine schlechte Laune schien also verschwunden zu sein. Toni war erleichtert, denn es wäre wirklich schade gewesen, den Rest des Abends mit Vulkan Gregor verbringen zu müssen.

Sie spielten auf der Konsole, bis es um neun Uhr, wie üblich, an der Tür klopfte. "Toni muss jetzt zwar nicht gehen, aber macht nicht mehr so lange!", rief Gregors Mutter.

"Machen wir nicht," rief Gregor zurück, zwinkerte Toni aber gleichzeitig verschwörerisch zu. Dann beugte er sich vor und knipste die Stehlampe aus. "Sie guckt eigentlich immer nur nach, ob sie unter der Tür noch Licht sieht und wenn kein Licht an ist, dann kommt sie auch nicht weiter hoch," erklärte er Toni dann. Er griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton leiser. "Wenn sie nichts sieht und nichts hört, dann haben wir unsere Ruhe."

Dazusitzen in der Dunkelheit und sich von den Bildern des Fernsehers berieseln zu lassen, die jetzt noch intensiver wirkten, sorgte dafür, dass Toni absolut kein Zeitgefühl mehr hatte und als er schließlich aus dem Gähnen nicht mehr herauskam und er seine Augen nur noch mit Gewalt offen halten konnte, hatte er keine Ahnung, wie spät es war. Sondern nur, dass er jetzt einfach ins Bett wollte.

"Ich kann nicht mehr," gab er deswegen unumwunden zu, obwohl Gregor noch keine Anzeichen von Müdigkeit zeigte und er nur ungern zurücksteckte.

"Ok, dann lass uns schlafen gehen," erwiderte Gregor, zu Tonis Überraschung absolut nicht genervt, womit er eigentlich gerechnet hatte.

Es war etwas schwierig, im Dunkeln den Rucksack zu finden und sich umzuziehen, aber lieber so, als bei Licht und der Möglichkeit, Gregor dabei zuzusehen. Schließlich war diesmal kein See mit kaltem Wasser in der Nähe und um zum Badezimmer zu kommen musste er erst einen ganz schönen Weg zurücklegen. Also war es schon so gut, wie es war.

Aber als Toni dann in die dünne Wolldecke eingewickelt auf der Matratze lag, da war er auf einmal wieder hellwach. Eine Weile lauschte er auf Gregors Atemzüge und versuchte so herauszufinden, ob der schon schlief, aber nach einer Weile wurde ihm klar, dass das nicht funktionierte.

"Schläfst du schon?" fragte er deswegen schließlich leise in die Dunkelheit und Gregors Antwort folgte im Bruchteil einer Sekunde: "Nein."

"Dieser Vorfahre, von dem du deinen Namen hast, kennst du den eigentlich auch?" erkundigte Toni sich und Gregor lachte einmal. "Ja klar kenn ich den. Aber der war der totale Langweiler und es gibt nichts Interessantes über ihn zu erzählen. Wenn du jetzt aber eine Geschichte hören willst, dann hätte ich da eine für dich."

"Leg los," erwiderte Toni gespannt. Er hoffte halb auf die Geschichte von Konrad, der das Porzellan zerschlug, halb aber kannte er Gregor schon gut genug, um zu wissen, was für eine Art Geschichte jetzt kommen würde, aber er hoffte, dass Gregor ihn ebenso gut kannte und wusste, dass er so eine besser nicht erzählte.

"Vor vielen vielen Jahrhunderten," fing Gregor an und an dem neckenden Unterton in seiner Stimme wusste Toni schon, was er jetzt zu erwarten hatte. Für einen Moment überlegte er, Gregor zu bitten, etwas anderes zu erzählen, aber gleichzeitig war seine morbide Neugierde wieder erweckt und er wollte jetzt diese Geschichte hören, auch, wenn sie ihn danach sicher vom Schlafen abhalten würde. Also kuschelte er sich in seine Decke und hörte gespannt zu.

"...lebte auf dieser Burg ein starker und kluger Burgherr,." Gregor war inzwischen in seine Erzählstimme gefallen. "Das Land blühte und gedeihte unter seiner Hand und er war ein getreuer Lehnsherr des Königs, der ihn sehr schätzte. Er hatte zwei Söhne. Der Ältere war stark, klug und weise, genau wie sein Vater. Das Volk jubelte ihm zu und sie wussten, selbst, wenn der alte Burgherr einmal starb, unter seinem Sohn würde es ihnen genau so gut gehen, wie jetzt.

Der Jüngere aber war dumm und verschlagen und neidete seinem Bruder seinen Erfolg und dass er von jedermann geliebt und geschätzt wurde, während er immer im Schatten stand und auch sein eigener Vater von ihm enttäuscht war. Geblendet von Hass und Neid sah er als einzigen Ausweg nur, seinen Bruder zu töten und in der Rangfolge aufzusteigen, dann Burgherr zu werden und allen zu zeigen, dass er es besser machen würde, als sein Vater und sein Bruder.

Da er aber feige war und viel zu viel Angst hatte, seinen Bruder direkt zu töten, ging er zur Hütte einer Kräuterfrau unten am Fluß. Er gab sich ihr nicht zu erkennen und bat sie um ein Gift, das tötet, wenn man es einatmet. Die Kräuterfrau bat ihn, am nächsten Abend, kurz nachdem die Sonne untergegangen war, wieder zu ihr zu kommen, dann würde sie ihm geben, was er begehrte.

Als er am nächsten Abend kam, kaum, dass die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, überreichte sie ihm eine nachtschwarze Kerze und erzählte ihm, dass derjenige, den er töten wollte, den Rauch der brennenden Kerze einatmen musste und so, wie die Flamme der Kerze erlöschen würde, sobald alles Wachs verbraucht war, so würde auch das Lebenslicht erlöschen.

Der Bruder nahm die Kerze an sich und schlich zurück zur Burg, erpicht darauf, seinen Plan noch in dieser Nacht in die Tat umzusetzen. Er hatte schon vor einer ganzen Weile die Geheimgänge gefunden, die diese Burg von Norden nach Süden, von Osten nach Westen durchziehen und von denen einer hinter der Wand des Zimmers seines Bruders endete. Er begann dort nachts, wenn alles schlief, mit einem Messer den Zement von einem Stein wegzukratzen.

Es war eine schwierige langwierige Arbeit und er war am Ende der Nacht so müde, dass er fast den ganzen Tag verschlief und in den Augen seines Vaters, seines Bruders und des Volkes ein noch schlimmerer Taugenichts wurde. Doch er war inzwischen völlig besessen davon, seinen Bruder zu töten, dass es ihn nicht störte, was andere über ihn redeten.

Schließlich, nach einer Woche und einem Tag, hatte er den Stein freigekratzt, nahm ihn heraus, stellte die Kerze in die Öffnung, zündete sie an und saß dann die ganze Nacht dort, während sie brannte und der giftige Rauch sich im Zimmer seines Bruders verteilte. Er rieb sich die Hände, als er sah, wie die Kerze immer kleiner wurde. Nicht mehr lange, nicht mehr lange murmelte er immer wieder vor sich hin.

Doch als dann die Kerze fast ganz ganz heruntergebrannt war, lag nicht nur der ältere Bruder im Sterben, sondern auch der jüngere hatte so viel von dem Rauch eingeatmet, dass er sich in Krämpfen wand und sich nicht bewegen konnte. Niemand wusste wo er war und interessierte sich dafür, sodass er drei Tage Höllenqualen litt und schließlich verstarb. So hatte der Burgherr auf einen Schlag seine beiden Söhne verloren und das Land sein Versprechen auf eine weitere goldene Zukunft.

Die, die nach dem Burgherrn regierten, wirtschafteten das Land herunter, die Felder lagen brach, das Vieh ging elendig zugrunde, das Wasser in den Flüssen verdarb und die Menschen starben. Weil er für all dies verantwortlich war, fand der jüngere Bruder nicht seinen Frieden im Totenreich, sondern ist dazu verdammt, auf alle Ewigkeiten in den geheimen Gängen dieser Burg herumzuwandern und wenn man ganz nachts ganz genau hinhört, dann hört man seine Schritte hinter der Wand und ein Kratzen, wenn er versucht, ein neues Opfer zu finden, an dem er den Hass und die Rache ausleben kann, von denen er auf Ewigkeiten erfüllt ist."

Gregor verstummte und seine Worte hingen für einen Moment bedeutungsschwer in der Luft. "Na ja," sagte er dann leichthin. "Jetzt bin ich wirklich müde. Gute Nacht." Er drehte sich auf die Seite während Toni auf dem Rücken lag, die Finger in die Decke gegraben hatte und versuchte, die Bilder und das beklemmende Gefühl abzuwehren, die in ihm hochstiegen.

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und redete sich selbst gut zu, dass das alles nur eine Geschichte war und dass es gar keine Geister gab. Er hatte ja vor Gregor immer wieder versichert, dass ihm so etwas keine Angst machte und jetzt sollte er das auch endlich mal vor sich selbst beweisen!

Er schloss die Augen und versuchte an gar nichts zu denken. Was aber nicht so einfach war, vorallem, als er sich sicher war, leise Schritte hinter der Wand zu hören. Er riss die Augen wieder auf und lauschte in die Dunkelheit. Nein, da waren keine Schritte, ganz sicher nicht. Es gab schließlich keine Geister versuchte er sich zu beruhigen. Doch kaum hatte er die Augen wieder geschlossen da hörte er es ganz deutlich: ein leises Kratzen.

Auf einmal saß er kerzengerade im Bett, sein Herz raste und sein Atem ging schnell. Er konnte nichts dagegen machen. Schließlich waren die Schritte und das Kratzen wirklich da, ganz deutlich. Und tanzten da nicht Rauchschwaden vor seinen Augen?

Wieder versuchte Toni sich zu beruhigen und sich davon zu überzeugen, dass er das alles nur hörte, weil er es sich einbildete, aber als dann noch ein lautes Poltern ertönte, hielt er es nicht mehr aus. Er kroch zu Gregors Bett und rüttelte ihn sanft aber bestimmt. "Aufwachen!" sagte er und die Tatsache, dass Gregor einfach so eingeschlafen war, während Toni hier Höllenqualen litt machte ihn ziemlich wütend.

Aber Gregor hatte gar nicht geschlafen, denn nachdem Toni ihn kurz geschüttelt hatte, drehte er sich zu ihm um und sagte mit klarer Stimmte: "Ich wusste doch, dass du Schiss kriegen würdest." Er lachte einmal leise.

"Du bist echt ganz schön scheisse!" erwiderte Toni, der jetzt wirklich ziemlich aufgebracht war. Er ließ Gregor los, setzte sich auf die Matratze und vergrub den Kopf in den Händen.  Er erwartete, dass Gregor sich jetzt aufregen würde und wappnete sich dafür. Denn diesmal würde er sich nicht zurückhalten und warten, bis Gregor sich wieder beruhigt hatte. Er war viel zu wütend, um ruhig zu bleiben.

Aber das Gegenteil passierte, denn mit einem Schlag war Gregors Schadenfreude verschwunden. Er kroch aus dem Bett, setzte sich neben Toni und legte den Arm um ihn. "Es tut mir Leid! Ich mein, ich weiß doch, dass du Schiss hast, auch wenn du es nicht zugeben willst. Das hätt ich echt nicht machen sollen."

Toni war für eine Moment so überrascht darüber, dass er kurz davor war, ihm einfach zu verzeihen. Aber dann wollte er es Gregor doch nicht so einfach machen. "Hm," erwiderte er deswegen nur und versuchte, sich unerbittlich zu geben, obwohl diese Fassade angesichts Gregors ehrlicher Reue schon stark zu bröckeln bekann. Und sein Arm um seine Schultern fühlte sich unglaublich gut an.

"Bitte," sagte Gregor noch einmal eindringlich und mit ernster Stimme und jetzt hatte er gewonnen.

"Ja, schon gut," erwiderte Toni und lehnte sich gegen ihn. Eine ganze Weile saßen sie so im Dunkeln und schließlich meinte Gregor: "Willst du heute nacht bei mir pennen? Ich werd auf dich aufpassen. Genau so, wie ich es beim Gewitter gemacht hab."

"Okay," sagte Toni, Gregor griff nach seiner Hand und zog ihn hoch.

Zu zweit war es in Gregors schmalem Bett ziemlich eng, was beiden aber mehr als recht war. Gregor legte den Arm um Toni und zog ihn dicht an sich und Toni, der inzwischen einfach nur noch müde war,  schaffte es so endlich, sich soweit zu entspannen, dass er einschlafen konnte.

Als Toni die Augen aufschlug war das erste, das er sah, Gregors Gesicht. Er lag so dicht neben ihm, dass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. "Guten Morgen," sagte er und lächelte etwas verlegen. "Hast du gut geschlafen? Und keinen Alptraum gehabt?"

Es war nicht zu übersehen, dass Gregor wegen letzter Nacht noch ein ziemlich schlechtes Gewissen hatte. Was Toni ein wenig überraschte. Genau wie gestern hatte er eher erwartet, dass er sich erst furchtbar aufregte und danach dann noch ein wenig stichelte, bis die ganze Angelegenheit irgendwann ausgereizt war. Aber stattdessen sah er Toni besorgt an.

Der Gedanke, einfach mal den Spieß umzudrehen und jetzt zu sticheln huschte für den Bruchteil einer Sekunde durch Tonis Gehirn, verschwand dann aber sofort wieder. Stattdessen erwiderte er sein Lächeln.

"Ich hab sehr gut geschlafen." Es war zwar etwas eng gewesen, aber das Gefühl, Gregor die ganze Zeit so nah bei sich zu haben war einfach wunderbar gewesen. Und es war auch jetzt noch wunderbar, als sie einfach nur da lagen und sich ansahen. In Toni kribbelte wieder alles und er konnte gar nicht aufhören zu lächeln, genau wie Gregor.

Nach einer Weile hob Gregor den Kopf, Tonis Herz machte einen heftigen Satz und er kam ihm hastig entgegen. Gregor zu küssen fühlte sich immer noch unglaublich an, als wäre Toni irgendwie schwerelos und der Rest der Welt würde für diesen Moment einfach nicht mehr existieren. So war es vorher auch schon immer gewesen, aber als Gregor jetzt vorsichtig eine Hand auf Tonis Schulter legte und sich an ihn schmiegte, war es dann auf einmal doch völlig anders. Gregor so nah bei ihm, zu fühlen, wie warm er war und wie gut er roch, das war noch einmal eine ganz andere Dimension.

Und als er jetzt anfing, Tonis Schulter zu streicheln, durchfuhr diesen ein heißer Stich. Er presste Gregor noch mehr an sich und ihr Kuss wurde heftiger. Gregor packte Toni fester und auch in dem stieg jetzt das Bedürfnis hoch, ihn anzufassen. Er berührte Gregors Schulter aber er gab sich nicht damit zufrieden, sie festzuhalten. Stattdessen drückte er sie nur einmal kurz, bevor seine Hand weiterwanderte, in der Hoffnung, dass es in Ordnung war.

Sein Herz klopfte heftig, als er über Gregors Hals strich, über sein Schlüsselbein und dann erschrocken inne hielt, als Gregor plötzlich den Kuss unterbrach. Halb erstarrt vor Angst weil er sich sicher war, dass er damit zu weit gegangen war, wartete Toni darauf, dass Gregor seine Hand zur Seite stoßen und dann ausrasten würde, aber er sagte nichts, sondern ließ sich mit geschlossenen Augen zurück aufs Bett sinken und presste die Stirn gegen Tonis Arm.

Toni wartete noch eine Sekunde, dann streichelte er weiter von Gregors Schlüsselbein über seine Brust und das Gefühl, das in ihm hochstieg war wieder eins, das er noch nie vorher gefühlt hatte. Er schluckte einmal hart, weil er plötzlich einen Kloß im Hals hatte. Seine Finger, die Gregors Körper durch das dünne T-Shirt berührten fühlten sich ganz anders als sonst an, so wie eigentlich grad alles an ihm.

Aber als er schließlich bei Gregors Bauchnabel angekommen war, wurden seine Bewegungen sparsamer. Sein Gehirn hatte seine Arbeit noch nicht ganz eingestellt und wies ihn darauf hin, was es bedeutete, jetzt tiefer zu gehen. Aber dann seufzte Gregor einmal tief an seinem Arm, sein heißer Atem streifte Tonis nackte Haut und diese beiden Dinge sorgten dafür, dass Tonis Gehirn jetzt vollkommen losließ und er weiter streichelte, da, wo Gregors Shirt ein wenig über dem Hosenbund hochgerutscht war. Gregor seufzte wieder und seine Hand schloss sich um Tonis Arm, erst locker, aber als Toni seine Hand weiterwandern ließ, wurde sein Griff fester.

Toni hatte vorher schon gesehen, dass es Gregor jetzt grade genau so ging, wie ihm damals am See und jetzt konnte er es auch fühlen. Das Blut rauschte in seinen Ohren und für den Bruchteil einer Sekunde dachte er darüber nach, jetzt aufzuhören, aber wirklich nur für den Bruchteil einer Sekunde. Und dann tat er das, was er in so einer Situation bei sich selbst tun würde. Gregor umklammerte seinen Arm inzwischen wie ein Schraubstock, seine Seufzer wurden mehr und lauter, je schneller Toni ihn durch seine Hose streichelte.

Toni hob den Kopf und blickte zu seinem Gesicht hinüber, das er nur im Profil sah. Aber die geschlossenen Augen und die roten Wangen lösten etwas in ihm aus, ein warmer Schauer durchlief ihn von Kopf bis Fuß und in diesem Moment spannte sich Gregors Körper an und der Griff um Tonis Arm wurde von sehr fest zu sehr schmerzhaft. Dann gab Gregor einen erstickten Laut von sich und mit einem Schlag war die Spannung aus seinem Körper verschwunden. Der Griff um Tonis Arm lockerte sich und auch Toni fühlte sich auf einmal, als hätte man ihm sämtliche Energie ausgesaugt. Schwer ließ er sich neben Gregor aufs Bett fallen und schloss die Augen, um ihn nicht anzusehen.

Jetzt, wo der Rausch, in dem er sich die letzten Minuten befunden hatte, abgeklungen war, war ihm alles plötzlich verdammt unangenehm. Sein Gehirn schaltete sich wieder ein und spielte ihm diverse Szenarien vor, wie Gregor jetzt gleich reagieren würde und keins davon gefiel Toni besonders.

Alle seine Sinne waren auf Gregor ausgerichtet und als dessen Fingerspitzen seine Hand berührten, merkte er es sofort und stellte sich auf irgendein Donnerwetter ein. Aber stattdessen verflocht Gregor seine Finger mit Tonis und jetzt traute Toni sich auch, die Augen wieder aufzumachen.

Wieder war Gregors Gesicht ganz nah bei ihm, seine Wangen waren immer noch rot und er lächelte Toni auf eine Art an, wie er es vorher noch nie gemacht hatte. "Das war ganz schön krass," sagte er leise mit heiserer Stimme.

"Ja, das war krass," bestätigte Toni und auch er hatte seine Stimme nicht ganz unter Kontrolle.

In diesem Moment klopfte es an der Tür und sie zuckten erschrocken zusammen.

"Toni, deine Tante hat angerufen," ertönte die Stimme von Gregors Mutter durch die Tür. "Du sollst sofort zu ihr rüberkommen, deine Mutter ist da!"

Toni wurde es von einer Sekunde auf die andere plötzlich eiskalt. Er hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren und gar nicht mitbekommen, wie die zwei Wochen hier auf dieser Burg, wo er am Anfang gar nicht hingewollt hatte, an ihm vorbeigerast war. Und jetzt waren sie zuende, seine Mutter würde ihn wieder mit zurück nehmen, was neben vielen anderen Sachen, die er liebgewonnen hatte, vor allen Dingen hieß, dass es keinen Gregor mehr geben würde.

Die losgelöste Stimmung, in der er sich grade noch befunden hatte, war mit einem Schlag verschwunden. Stattdessen fühlte er sich jetzt, als hätte er einen heftigen Schlag in den Magen bekommen und er spürte, wie die Tränen in ihm aufstiegen. Aber er wollte auf keinen Fall vor Gregor heulen.

"Ich muss dann wohl aufstehen," sagte er, ohne Gregor anzusehen, kroch aus dem Bett und ging zu seinem Rucksack, um sich umzuziehen. Was auch dringend notwendig war, wie er bemerkte, als er aufgestanden war.

"Ich komm mit," sagte Gegor hinter ihm leise und Toni, der mit dem Rücken zu ihm stand, hörte, wie er die Schranktür öffnete.

Sie zogen sich hastig um, ohne sich anzusehen und trafen sich erst an der Tür wieder.

Sie blickten sich für einen Moment wehmütig an und jeder spürte vom anderen, dass er grade das Gleiche dachte. Gregor bewegte nur leicht die Arme und da hatte sich Toni schon an ihn gedrückt. Sie hielten sich für einen Moment stumm fest, bis irgendwo im Haus ein Poltern ertönte und sie daran erinnerte, dass sie hier nicht mehr ewig stehen konnten. Toni ließ Gregor bedauernd los und öffnete die Tür. Ohne ein Wort zu sagen stiegen sie die Turmtreppe hinunter.

Nadja, Thorsten, Peter und Tonis Mutter saßen auf der Terrasse am Tisch. Toni konnte sie durch die Glastür lachen sehen und die Wut stieg in ihm hoch. Er fühlte sich unglaublich elend, weil sie kamen und ihn hier wegrissen und sie lachten einfach.

Er kniff die Lippen zusammen und beschloss, dass vorallem Peter nicht merken sollte, wie furchtbar er sich fühlte. In diesem Moment drehte seine Mutter den Kopf, sah ihn und strahlte. Natürlich wandten dann auch gleich alle anderen den Kopf und blickten ihnen entgegen. Damit war Tonis letzte Chance, einfach abzuhauen und sich im Wald zu verstecken, bis sie wieder verschwunden waren, vernichtet. Er öffnete die Glastür und trat auf die Terrasse.

Seine Mutter sprang auf, lief ihm entgegen und umarmte ihn. "Mein Gott, ich weiß, du hörst es nicht gerne, aber man, bis du in den zwei Wochen groß geworden." Sie lachte und wuschelte ihm durch die Haare. "Und braun auch. Sieht ja ganz so aus als wäre der Urlaub doch nicht so schlimm gewesen, wie du gedacht hast."

"Hier auf dieser Burg kann man ja auch total viele tolle Spiele spielen," bemerkte Peter und Toni knirschte innerlich mit den Zähnen.

Seine Mutter hatte inzwischen Gregor entdeckt, der hinter Toni stand. Strahlend hielt sie ihm die Hand hin. "Du musst Gregor sein," rief sie. "Nadja hat uns erzählt, dass hier in den beiden Wochen unzertrennlich gewesen seid."

Gregor ergriff ihre Hand und Toni sah ihm deutlich an, wie wenig ihm diese Situation gefiel. "Hallo," erwiderte er steif und Toni wurde schlagartig bewusst, dass er das hier alles nur für ihn in Kauf nahm. Wieder wurde er wütend, nicht nur, dass er jetzt hier weg sollte, sondern auch, dass Gregor sich deswegen absolut nicht wohl fühlte.

"Ich würd mich ja gerne noch ein bisschen mit dir unterhalten um mir sagen zu lassen, was Toni in den Wochen für Quatsch gemacht hat," sagte seine Mutter zu Gregor und stieß Toni einmal neckend in die Seite, "Aber wir müssen jetzt leider sofort los! Also pack deine Sachen, wir sind noch bei den Hofmanns eingeladen. Du weißt, die mit den Zwillingen, mit denen du dich immer gut verstanden hast und da müssen wir jetzt noch eine Stunde hinfahren. Also los, los!" Sie packte Toni bei den Schultern und drängte ihn zurück ins Haus. "Gut, dass du nicht so viel mitgenommen hast," lachte sie dabei.

Gregor folgte Toni hoch ins Gästezimmer und sah stumm zu, wie er seine wenigen Sachen in seinen Rucksack packte. Dann schlenkerte er einmal verlegen mit den Armen. "Schade, dass du gehen musst," murmelte er.

"Ja," erwiderte Toni nur. Er hätte eigentlich gerne noch mehr gesagt. Etwa, dass er nicht weg von Gregor wollte und wie sehr er ihn vermissen würde, aber er konnte es nicht. Erst einmal, weil er nicht wusste, wie er es ausdrücken sollte und dann spürte er einen harten Kloß im Hals und es war klar, dass er heulen würde, wenn er jetzt etwas sagen würde.

Gregor trat zu Toni hin und legte ihm die Arme um den Hals. Sie küssten sich liebevoll und wehmütig, bis Tonis Mutter von unten ungeduldig seinen Namen rief.

Die Verabschiedung von Thorsten und Nadja war sehr herzlich, Nadja drückte ihn einmal kräftig an sich. "Du kannst in allen Ferien immer gerne herkommen," sagte sie. "Kamilla ist schon seit heute morgen irgendwo unterwegs, aber ich sag dir jetzt einfach mal Tschüss von ihr." Sie streichelte ihm über den Rücken und flüsterte ihm ins Ohr. "Kopf hoch!"

Auch Thorsten umarmte ihn kurz und murmelte "Mach's gut und gute Heimfahrt."

Gregor nickte ihm einmal kurz zu. "Tschüss," sagte er und wandte dann den Blick ab.

Und das war dann ihr letzter Moment zusammen, denn in dieser Sekunde fuhr Peter mit dem Auto vor.

Toni blickte durch die Heckscheibe, bis sie um die Kurve gefahren waren und er Gregor nicht mehr sehen konnte. Dann ließ er sich in den Sitz fallen und jetzt konnte er nicht mehr dagegen ankämpfen, dass ihm heiße Tränen über die Wangen liefen.
 
 

Damit seine Mutter nichts von seinem heftigen Weinkrampf mitbekam, zog Toni es vor, weiterhin aus der Heckscheibe zu schauen, auch, wenn er sich dafür wegen des Anschnallgurts ziemlich verrenken musste.

Sein Blick klammerte sich an der Burg fest, so lange sie noch zu sehen war und als sie verschwunden war an dem hohen Turm, dessen Anblick sie noch eine ganze Weile begleitete. Er spürte das unglaubliche Bedürfnis, einfach aus dem fahrenden Auto zu springen und zurückzulaufen und so lange er noch ein Stück der Burg sah, erschien es ihm so möglich, dass sein Herz heftig anfing zu klopfen und seine Hand sich ohne sein Zutun um den Türgriff klammerte.

Dann fuhren sie auf die Autobahn und es verschwand auch der Turm und Toni wurde klar, dass er natürlich nicht einfach zurückgehen konnte. Diese zwei Wochen, gegen die er sich am Anfang so gesträubt hatte und die jetzt eigentlich nie hätten zuende gehen dürfen, waren vorbei und sie würden nie wieder kommen. Bei diesem Gedanken fühlte er sich, als habe ihm grade jemand das Herz herausgerissen. Was natürlich dafür sorgte, dass er nicht aufhören konnte, zu weinen. Er biss sich auf die Lippe, um das Schluchzen, das sich ihm mit aller Macht aufdrängte, zu unterdrücken. Seine Mutter durfte absolut nicht mitbekommen, wie elend er sich grade fühlte. Sie hätte ihn dann gefragt, was los wäre und eigentlich hätte er sich dann irgendeine Ausrede einfallen lassen müssen, weil sie sich von einem ,Ich will nicht darüber reden' oder einer ähnlichen Formulierung noch nie von weiteren Fragen hatte abhalten lassen.

Im Gegenteil, Toni hatte festgestellt, dass solche Sätze ihre Neugierde eigentlich nur noch mehr anstachelte und sie ihn dann gar nicht mehr in Ruhe ließ.

Und er wollte doch grade nichts anderes, als in Ruhe gelassen zu werden. Er wollte sich an irgendeinen dunklen Ort verkrichen, wo man nichts sehen und hören musste und dann wollte er da einfach nur liegen, in der Hoffnung, dass es ihm irgendwann besser ging.

Aber er war an keinem dunklen Ort, an dem er seine Ruhe hatte. Im Gegenteil, die Sonne schien mit aller Macht vom wolkenlos blauen Himmel direkt in sein Fenster hinein, sodass er die Augen zusammenkneifen musste, das Autoradio plärrte irgendwelche Nachrichten und neben ihnen drückte ein anderer Fahrer entnervt zweimal auf seine Hupe. Und dann drehte sich auch noch Tonis Mutter zu ihm um und er hatte keine Möglichkeit, sich eben noch die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, damit es nicht mehr ganz so offensichtlich war, dass er geweint hatte. Also stellte er sich schon einmal auf nervige Fragen ein, auf die er keine ausweichenden Antworten wusste.

Sie lächelte ihn an: "Es tut mir Leid, dass wir grade so schnell losmussten, aber wir sind auf dem Hinweg eine Stunde im Stau gestanden, deswegen hatten wir jetzt etwas Zeitdruck. Aber du hast doch bestimmt Hunger, wie wäre es, wenn wir zur nächsten Raststätte fahren und da eine Kleinigkeit essen? Mittagessen gibt es dann bei den Hofmanns."

Bei dem Gedanken an Essen zog sich alles in Toni zusammen. Er wollte nichts essen, am liebsten nie wieder. Aber wenn er das jetzt sagte, dann wären die Fragen, die bis jetzt wundersamerweise ausgeblieben waren, wirklich gekommen. Natürlich hätte er auch sagen können, dass er nichts essen wollte, weil er bei Gregor schon was gegessen hatte. Aber ganze Sätze zu bilden oder Gregors Namen zu benutzen, das ging einfach nicht. Deswegen sah er seine Mutter nur stumm an und nickte.

"Alles klar," sagte seine Mutter, bedachte ihn noch einmal mit einem liebevollen Lächeln und drehte sich wieder um.

An jedem anderen Tag wäre Toni ihr Verhalten absolut seltsam vorgekommen. Aber nicht heute. Heute hatte er andere Dinge, mit denen sich seine Gedanken beschäftigten. Wobei eigentlich waren es keine Dinge. Es war nur Gregor. Wie er redete, wie er lachte, wie er heute morgen ausgesehen hatte...

Er vergaß alles um sich herum, sah und hörte nichts mehr, während er seinen Kopf gegen die Autotür gelehnt hatte und blicklos aus dem Fenster starrte. In seinem kleinen Gedankekino wurden die letzten zwei Wochen noch einmal abgespielt und der Ruck, mit dem er da herausgerissen wurde, als seine Mutter die Tür öffnete, war beinah schmerzhaft.

"Da sind wir," rief sie gutgelaunt und hielt ihm die Hand hin. Toni schnallte sich ab und ließ sich von ihr aus dem Auto ziehen. Die anderen Leute auf der Raststätte, das Dröhnen der Motoren, das alles nahm er wie durch eine Blase wahr, während er hinter Peter und seiner Mutter zu dem Laden der Tankstelle trottete. Er schlenderte zwischen den Regalen herum, fand aber nichts, was ihn auch nur annährend interessierte.
Selbst die abgepackten Sandwiches, die er sonst tonnenweise hätte essen können, sorgten nicht dafür, dass er sich hungrig fühlte. Aber er nahm dann schließlich doch eins, weil es am wenigsten verdächtig wirkte.

Aber als sie weiterfuhren, saß er wieder da, starrte aus dem Fenster und hielt das immer noch verpackte Sandwich in der Hand. Und es war auch noch verpackt, als sie schließlich zwei Stunden später bei den Hofmanns ankamen.

Toni hatte keine Lust auf diese Leute. Er hatte keine Lust am Tisch zu sitzen, während sich um ihn herum alle unterhielten und erwartet wurde, dass er etwas aß. Er konnte aber einfach nicht, sondern stocherte nur auf dem Teller herum, um den Anschein zu erwecken, als würde er essen und war erleichtert, als er endlich vom Tisch aufstehen konnte.

Aber dann waren da ja noch Jana und Laura, die Zwillinge, die ihn danach nicht in Ruhe ließen, sondern ihm stolz ihre Pokale zeigten, die sie bei Tennistunieren gewonnen hatten, ihn mit Fotos von diesen Tunieren bedrängten und von beiden Seiten auf ihn einredeten, wobei jede versuchte, den Anschein zu erwecken, dass sie die bessere war.

Irgendwann konnte Toni nicht mehr. Wenn er noch eine Sekunde hierbleiben würde, dann würde er ausrasten, ohne Rücksicht auf Verluste. Deswegen gab er irgendwann vor, aufs Klo zu müssen, ging in den Flur, wo Peters Jacke an der Gaderobe hing und holte den Autoschlüssel aus der Tasche. Er schlich am Wohnzimmer vorbei, wo die Hofmanns und Peter und seine Mutter aber so ins Gespräch vertieft waren, dass er eigentlich gar nicht hätte schleichen müssen, aber es war trotzdem besser, vorsichtig zu sein. Deswegen schloß Toni die Haustür auch ganz leise hinter sich.

Dann lief er zum Auto, das auf der anderen Straßenseite stand und kroch auf die Rückbank. Dort rollte er sich zu einem Ball zusammen, vergrub das Gesicht in den Armen und konnte seinem Schmerz endlich freien Lauf lassen. Er weinte so heftig, dass er zitterte und das Polster unter ihm ganz nass wurde.

Obwohl er sich noch nie vorher in seinem Leben so elend gefühlt hatte, kam er schließlich zu einem Punkt, an dem er nicht mehr weinen konnte. Es kamen einfach keine Tränen mehr. Also lag er nur da und starrte in die Dunkelheit. Dass er schließlich einschlief, bekam er gar nicht mit. Das Geräusch der Autotür weckte ihn wieder. Er fuhr hoch und blickte direkt in Peters wütendes Gesicht.

"Also wirklich..." fing er an und in diesem Moment vergaß Toni für einen kurzen Moment seine Trauer und straffte die Schultern. Egal, was Peter jetzt sagen würde, er würde es nicht schweigend hinnehmen.

Aber da legte sich eine Hand auf seinen Arm und dann erschien das Gesicht seiner Mutter. Und sie lächelte. "Wie praktisch, dass du schon im Auto bist," meinte sie. "Dann können wir ja jetzt gleich losfahren."

"Aber Sonja..." stammelte Peter, aber wieder ließ sie ihn nicht ausreden: "Ja, Urlaub kann eben auch verdammt anstrengend sein. Also komm, es sind noch fast drei Stunden bis nach Hause und Toni gehört ja allem Anschein nach ins Bett."

Es war zwar nicht schön, wieder Zuhause zu sein, aber Toni war trotzdem erleichtert, als er endlich die Tür seines Zimmers hinter sich schließen und ins Bett kriechen konnte. Er war nicht müde, aber hier hatte er endlich das, was er die ganze Zeit hatte haben wollen: Ruhe, Dunkelheit und Einsamkeit. Er griff unter sein Kissen und zog seinen alten Stoffhund hervor.

Niemand durfte jemals von diesem Stofftier erfahren und Toni brauchte ihn auch nicht mehr so, wie er in früher gebraucht hatte, aber in solchen Momenten wie jetzt war es gut, dass er da war. Er spielte gedankenverloren mit den langen Schlappohren während er an die Wand starrte und sich fragte, was Gregor jetzt machte. Bestimmt saß er in seinem Zimmer und spielte auf der Konsole, genau, wie sie es gestern gemacht hatten. Oder vielleicht ging es ihm ja genau so schlecht wie Toni und er lag im Bett auf dem Dachboden. Und vielleicht dachte er ja auch grade an ihn,

Wieder spürte Toni einen Kloß im Hals aber jetzt war es ja kein Probleim, seinen Tränen einfach freien Lauf zu lassen.

Zurück zu sein fühlte sich absolut nicht gut an. Es war irgendwie zu eng geworden und zu gewöhnlich. Alles war da, wo es hingehörte und es gab keine Überraschungen, keine verstecken Ecken hinter irgendeiner Mauer, die Toni ohne Gregor niemals selbst gefunden hätte. Kein Erforschen von irgendwelchen Räumen, die vollgestellt waren mit altem Kram. Wenn er irgendeine Tür öffnete, dann war dahinter genau das, was er erwartete hatte und nicht irgendein anderer Raum oder ein Flur.

Es gab keine riesigen Wälder durch die man streifen konnte, kein Klettern, keinen Schotterweg. Kein Stimmengewirr, das Toni morgens aus dem Schlaf riß und vorallem keinen Gregor. Die ersten Tage waren grau und farblos und langweilig. Toni, der nicht mehr still sitzen konnte, streifte ein wenig durch die Gegend, ohne ein bestimmtes Ziel, aber da er hier groß geworden war, kannte er alles wie seine Westentasche. Aber das war besser, als im Zimmer zu sitzen.

Max und Lydia waren noch eine weitere Woche im Urlaub, aber als Toni mit sich und diesem Schmerz, den er die ganze Zeit mit sich herumtrug, nicht mehr alleine sein konnte, ging er auf den Spielplatz im Park, wo einige Leute von seiner Schule herumhingen. Toni gesellte sich zu ihnen, auch, wenn es nicht besonders spaßig war. Aber es würde sowieso nie wieder spaßig werden, weil Gregor ja nicht hier war.

Jetzt, wo Tonis Kummer zu dem dumpf pochenden Schmerz in seiner Brust zusammengeschrumpft war, konnte er sich auch über das komische Verhalten seiner Mutter wundern. Sie behandelte ihn wie ein rohes Ei, schimpfte nicht mehr, umarmte ihn häufiger und wenn ihr sein Herumgehänge auf die Nerven ging und sie ihm irgendwelche Aktivitäten vorschlug wie Museumsbesuche oder Bootsfahrten tat sie das stets mit liebevoller Stimme ohne ihn zu irgendetwas zu drängen.

Die Lösung des Rätsels fand er dann, als er am Freitag, der genau so langweilig und farblos war, wie die Tage davor, abends nach Hause kam, und auf seinem Kopfkissen ein Buch lag. Das war eigentlich nichts Ungewöhnliches wenn auch nichts, das regelmäßig vorkam. Aber seine Mutter schenkte ihm gerne einmal Bücher und äußerte sich auch hin und wieder wohlwollend darüber, dass er so viel las.

Aber dieses Buch war anders und als er den Titel auf dem bunt bedruckten Einband las wurde ihm plötzlich schwindelig. ,Schwul- und jetzt? Ein kleiner Ratgeber' schrien ihm die riesigen Buchstaben entgegen und er fühlte sich plötzlich, als habe man einen Eimer eiskaltes Wasser über ihm ausgeleert. Er starrte die sechs Buchstaben an und ihm wurde klar, dass das ganz genau das beschrieb, was Gregor und er miteinander gemacht hatten.

Diese Erkenntnis ließ ihm die Knie weich werden und er trat vom Bett zurück, um sich auf den Schreibtischstuhl zu setzen. Das zwischen Gregor und ihm, das hatte er nie im Lichte dieser sechs Buchstaben gesehen. Es war einfach immer nur komisch gewesen, dass er so für Gregor gefühlt hatte, weil er eben kein Mädchen war.

Aber von jetzt auf gleich war alles anders geworden. Toni konnte sich noch deutlich erinnern, wie Max einmal jemanden, den er absolut nicht leiden konnte, als schwule Sau bezeichnet hatte. Und nach diesem Vorfall fielen ihm noch eine ganze Reihe mehr ein. Und er wollte absolut nicht, dass ihm auch so etwas passierte!

Er schluckte einmal hart und erinnerte sich an Nadjas komischen Blick, mit dem sie Gregor und ihn angesehen hatte und dann hatte sie es seiner Mutter erzählt und die war deswegen die ganze Zeit so komisch gewesen. Und jetzt hatte sie ihm auch noch so ein Buch geschenkt.

Toni spürte, wie das Blut ihm heiß ins Gesicht stieg. Mit einem Schlag war der dumpfe Schmerz verschwunden und jetzt war das zwischen Gregor und ihm einfach nur noch etwas unglaublich Unangenehmes, das er sofort vergessen wollte.

Die ersten Tage zuhause hatte er sich gefragt, wieso er und Gregor nicht Telefonnummern oder Adressen ausgetauscht hatten, dann hätten sie vielleicht telefonieren oder sich zumindest Nachrichten schreiben können. Er hatte auch eine ganze Weile überlegt, das nachzuholen und irgendwie über Kamilla oder Thorsten Gegors Daten herauszubekommen. Aber der Gedanke an Nadja und die Tatsache, dass ihm kein vernünftiger Plan eingefallen war, sie sicher zu umgehen, hatten dem bis zum heutigen Tag im Weg gestanden. Aber jetzt war Toni heilfroh, dass es nicht dazu gekommen war.

Vordergründig hatte er also mit Gregor und seinen Erinnerungen an ihn abgeschlossen. Aber da war immer noch eine Stelle in ihm, die ihn daran erinnerte, wie unglaublich und richtig sich das alles angefühlt hatte und die er nicht verdrängen konnte.

Das einzig Richtige wäre jetzt natürlich gewesen, zu seiner Mutter zu gehen, sie wegen des Buches zur Rede zu stellen und dann gleich klar zu machen, dass er definitiv nicht schwul war und Nadja nur Unsinn erzählt hatte. Aber Toni konnte es nicht. Nie im Leben hätte er das Wort über die Lippen gebracht. Oder sich einer solchen Situation ausgesetzt. Stattdessen stand er auf und nahm das Buch mit spitzen Fingern hoch. Für einen Moment stand er vor dem Papierkorb und wollte es hineinwerfen, aber es ging nicht. Wenn seine Mutter das gesehen hätte, dann wäre er doch in diese furchtbare Situation gekommen.

Stattdessen stieg Toni auf den Schreibtischstuhl und schob es ins oberste Fach seines Bücherregals.

ENDE VIERZEHN

SIEBZEHN

Der Schlag war heftig, der Schmerz schoss heiss durch Tonis Oberarm und er konnte den Impuls, laut ,Aua' zu rufen grade noch unterdrücken.

"Alter!" ertönte Max' vorwurfsvolle Stimme. "Hör mir gefälligst zu, wenn ich dir was erzähle!"
Toni sah ihn an und zwang sich zu einem entschuldigenden kleinen Lächeln. "Tut mir Leid. Aber reg dich mal ab! Erzähl's eben nochmal."

Max ließ sich da natürlich nicht zweimal bitten, denn schließlich ging es in seinen Geschichten meistens um ihn und eine seiner Glanzleistungen. Diesmal waren es die komplizierten Sprünge, die er gestern mit seinem BMX-Rad auf der Rampe hinbekommen hatte und bestimmt schmückte er alles ein bisschen weiter aus, um noch besser da zu stehen, aber das bekam Toni nicht mit.

Denn so sehr er sich auch Mühe gab, sich auf Max zu konzentrieren, seine Worte wurden von seinen inneren Vorwürfen aber komplett übertönt. Denn wieder einmal war es Oliver gewesen, der ihn so beschäftigt hatte, dass er die Welt um Toni herum für einen Moment ausgeblendet hatte. Was erneut ein Misserfolg in seiner Mission, so normal wie alle anderen zu werden, bedeutete.

Bis vor vier Wochen hatte er von Olivers Existenz gar nichts gewusst. Bis er dann unvermittelt vor Unterrichtsbeginn bei Toni auftauchte, der alleine auf dem Schulhof stand.

"Sag Max, er soll endlich aus seinem Rattenloch rauskriechen und seinen feigen Arsch heute nach der sechsten Stunde zum Fussballplatz schleifen! Und wenn er das nicht tut, erzähl ich allen, wie er sich letzte Woche peinlich mit seinem lächerlich kleinen Fahrrad auf die Fresse gelegt hat!" zischte Oliver mit zur Faust geballten Händen.

Danach ging er, aber Toni hatte für einen kurzen Moment in seine grünen Augen gesehen, seine tiefe zornige Stimme gehört und er war wie in Trance.

Er hatte folgsam die Nachricht überbracht und so erfahren, dass Max' neue Freundin Lena vorher Olivers Freundin gewesen war, die Max ihm ausgespannt hatte, Die beiden hatten sich einen kurzen aber heftigen Kampf geliefert, der dann von einem Lehrer unterbunden wurde, der zufällig vorbeigekommen war. Lena war von diesem Verhalten absolut nicht begeistert gewesen und wollte danach weder mit Max noch mit Oliver etwas zu tun haben. Aber kein Problem für Max, er hatte drei Tage später schon wieder eine neue gehabt.

Toni beneidete ihn um diese Kunst, denn er beherrschte sie absolut nicht. Die Mädchen, die er kannte, fand er unglaublich fade. Er wusste nicht genau, worüber er sich mit ihnen unterhalten sollte und meistens waren sie ihm einfach zu anstrengend, redeten viel über lauter uninteressantes Zeug, lachten zu aufgesetzt und kleisterten sich mit zuviel Schminke zu. Bei keiner hatte sein Herz bis jetzt schneller geschlagen und er hatte sich gedacht, wie toll sie war und dass er sie unbedingt näher kennenlernen wollte.

Klar, er hatte schon ein paar Mal rumgeknutscht mit solchen Mädchen, aber weil er einfach das Gefühl hatte, er müsste es tun um irgendwie auf den Weg zurückzukommen, den alle um ihn herum eingeschlagen hatte, nur er irgendwie nicht. Und dann tauchte Oliver auf und ohne, dass er es wollte, verlor Toni diesen Weg noch weiter aus den Augen. Was ihm grade wieder mehr als deutlich gemacht worden war.

Max hatte seine Geschichte inzwischen beendet und Toni nickte anerkennend und sagte: "Wow, echt super!" Was die Reaktion war, die Max erwartete hatte, er grinste stolz, badete sich in seinem Glanz und hatte keine Ahnung, dass Toni ihm gar nicht zugehört hatte.

Allerdings hatte Max heute einen der seltenen Tage, an denen er sich nicht nur für sich, sondern auch für andere interessierte. "Wo hast du eigentlich grad die ganze Zeit hingestarrt?" wollte er wissen und drehte den Kopf, bis ihm Oliver ins Blickfeld geriet, der bei seiner Clique stand.

Denn natürlich war es Oliver, den Max sah, da war Toni sich sicher. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Etwas in ihm wartete schon die ganze Zeit darauf, dass Max Verdacht schöpfte, weil Toni noch nie eine Freundin hatte, geschweige denn sich mal mit einem Mädchen getroffen hatte. Außer Lydia, aber die kannte er seit dem Kindergarten und er war unfähig, in ihr mehr zu sehen als einen Kumpel.

Einige sehr unfreundlich endende Szenarien rasten durch seinen Kopf während Max zu Oliver rüber sah und als er den Mund öffnete, stellte sich Toni schon einmal innerlich auf Verteidigung ein.

"Hast du etwa Tatjana angeglotzt?! Die Perle vom groooßen Oliver?" Max quiekte einmal vergnügt. "Pass bloß auf, der liebe Olli hat einen üblen rechten Haken."

"Ich weiß, ich war ja dabei als er ihn dir verpasst hat," neckte Toni, während die Erleichterung seinen ganzen Körper durchströmte. Er hatte eigentlich erwartet, dass Max jetzt sofort einwarf, dass er Oliver auch ein paar ziemlich harte Schläge verpasst hatte und er vergaß, worüber sie vorher gesprochen hatten, aber diesmal hatte er Pech.

Max legte ihm den Arm um die Schultern. "Alter, ich sag dir, diese Tatjana ist zwar n echt heißer Feger, aber von der solltest du besser die Finger lassen. Weißt du, wer total auf dich steht und bei der du es versuchen solltest? Unsere liebe Lydia."

Toni starrte ihn entgeistert an. "Lydia?" wiederholte er ungläubig und Max nickte eifrig. "Jap. Sie hats mir vorgestern erzählt, als sie schon n bisschen was intus hatte. Und hups," er schlug sich einmal gespielt entsetzt die Hand vor den Mund. "Ich hab versprochen, es dir auf keinen Fall zu sagen." Er zuckte mit den Schultern. "Tja, so ein Pech aber auch."

Toni schwieg einen Moment, weil er erst seine Gedanken ordnen musste. Nie hätte er erwartet, dass Lydia auf ihn stand. Sie waren beste Freunde und konnten sich alles erzählen. Ein paar Mal hatte Toni sogar schon mit dem Gedanken gespielt, ihr das zu sagen, aber es hätte sich in ihm dann vermutlich zu festgesetzt, wenn er es erst einmal ausgesprochen hätte. Denn noch bestand ja die Möglichkeit, auf den Weg der Normalen zurückzukehren.

Nachdem Toni, der natürlich jede der raren Informationen über Oliver, die er in die Finger bekam, aufsog, erfahren hatte, dass er Handball spielte, hatte er ebenfalls seine Leidenschaft für diesen Sport entdeckt und besuchte jedes Spiel, das hier in der Halle neben der Schule stattfand. Er redete sich ein, dass es wirklich das Spiel war, das ihn fesselte und nicht Oliver, der in seinem Trikot und der Hose einfach nur gut aussah.

Er hatte Lydia von seiner neuen Leidenschaft erzählt und seitdem war sie immer mit zu den Spielen gekommen und saß neben ihm auf der Tribüne. Toni hatte sich zuerst nichts dabei gedacht, sie waren eben Freunde, die Sachen zusammen unternahmen, aber jetzt erschien ihm das alles natürlich in einem anderen Licht. Es fühlte sich sehr komisch an, so über Lydia zu denken, noch komischer als bei anderen Mädchen.

Max, der Lydia ja genau so lange kannte, wie Toni, war anscheinend den gleichen Gedankengang gegangen, denn er meinte: "Ist vielleicht komisch, weil du sie ja schon kennst, als sie noch in die Windel geschissen hat, aber ich sag dir, die hat ein paar ziemlich geile Möpse bekommen." Er lachte einmal. "Als wir letztens am Kanal schwimmen waren, haben Marcel und ich uns mal die Freiheit genommen, den Mädels n bisschen beim Umziehen zuzugucken."

Er klopfte Toni einmal jovial auf den Rücken. "Also ich würde es machen. Wird sowieso Zeit bei dir. Nicht, dass die anderen noch denken, dass du schwul bist." Er lachte wieder und Toni fühlte sich, als hätte er grade einen Schlag in den Magen bekommen.

Er war ausnahmsweise mal richtig froh, dass Lydia nicht mit Max und ihm zusammen Abi machte, sondern eine Ausbildung zur Industriekauffrau in einer Firma am anderen Ende der Stadt. Nach dem, was Max ihm grade erzählt hatte, hätte Toni keine Ahnung gehabt, wie er sich ihr gegenüber jetzt verhalten sollte.

Normalerweise tauschten sie am Tag mindestens zwei Textnachrichten aus, um den anderen zu fragen, wie sein Tag war und von seinem eigenen zu erzählen. Telefonieren taten sie gar nicht, ein Umstand, der Toni jetzt sehr zugute kam, denn er war jetzt schon überfordert, ihre simple Textnachricht zu beantworten, sie sie ihm in ihrer Mittagspause geschickt hatte.

Er hatte immer noch nicht zurückgeschrieben, als er vor der Haustür stand und als er die Treppe hochgestiegen, an der Wohnungstür angekommen war und das Geschrei hörte, da wusste er, was jetzt gleich kommen würde und er war dankbar für die Ablenkung, die hoffentlich eine Gedanken endlich beruhigen würden, die immer noch durch sein Gehirn jagten.

Er war grade in den Hausflur getreten, als seine Mutter schon um die Ecke bog, das Telefon ans Ohr geklemmt und auf dem Arm die heulende Maja. Sie warf Toni einen bittenden Blick zu, als sie ihm das Kind hinhielt und Toni, der das Prozedere schon kannte, ergriff seine Schwester, die ihn für eine Sekunde stumm und mit großen Augen anstarrte, um dann gleich wieder loszubrüllen und an seiner Jacke zu zerren.

Toni seufzte einmal innerlich. Nach Majas Geburt vor fast einem Jahr hatte seine Mutter sich zwar zwei Jahre Elternzeit genommen, aber Toni hatte den Eindruck, dass sie jetzt noch mehr zu tun hatte, als vorher. Da Peter immer erst abends von der Arbeit wiederkam war die Konsequenz daraus eben, dass Toni inzwischen bestens mit kleinen Kindern umgehen konnte. Er konnte Windeln wechseln, Fläschchen vorbereiten, Strumpfhosen anziehen und Sabber wegwischen wie ein Weltmeister.

Und während er jetzt in Majas Zimmer ging um, je nach Bedarf, eines dieser Dinge zu tun, trat leider nicht das ein, was er gehofft hatte. Er musste weiter an Lydia denken und wie zum Teufel er jetzt auf diese Situation reagieren sollte. Oder besser, er fing mit den kleinen Dinge an, zum Beispiel wie er jetzt auf ihre unverfängliche Nachricht genau so unverfänglich anworten sollte. Denn das konnte ja nicht allzu schwer sein.

Toni schreckte aus dem Schlaf hoch. Noch während er sich mit wild klopfendem Herzen im Bett aufsetzte, hatte sich der Traum, der ihn so aufgebracht hatte, schon verflüchigt. Er strich sich das wirre Haar aus der Stirn und sah auf den Wecker: halb drei. Er atmete einmal tief ein und merkte dann, dass sich sein Mund anfühlte, als habe er auf Watte gekaut.

Er schlug die Decke zurück, öffnete seine Zimmertür und lauschte für einen kurzen Moment. Er wollte nämlich nicht, dass sein absolutes Horror-Szenario, seine Mutter und Peter beim Sex oder beim Rummachen zu erwischen, doch wahr wurde, nachdem er es bis jetzt erfolgreich hatte vermeiden können.

Aber er hörte nichts weiter als den Wind, der ums Haus wehte und die leisen Töne von Majas Spieluhr aus ihrem Zimmer.

Barfuß ging er in die Küche, machte kein Licht, öffnete den Kühlschrank und griff nach der Wasserflasche, die er bis zur Hälfte leertrank. Dann fiel sein Blick auf den übriggebliebenen Braten vom Abendessen, was seinen Magen sofort auf den Plan rief. Toni nahm den Teller, den Ketchup und eine Gabel und setzte sich an den Tisch.

Als der Teller schließlich leer vor ihm stand lehnte er sich im Stuhl zurück und seufzte einmal zufrieden. Er war nicht mehr durstig, satt und gleich würde er in sein warmes Bett zurückgehen und noch ein paar Stunden schlafen. Das Leben war grade sehr schön- bis sein Gehirn aufwachte und es hatte einige Gedanken mitgebracht, die jetzt unbedingt gedacht werden mussten.

Zum Beispiel die Tatsache, dass er Lydia auf ihre Frage, wie es ihm ging und wie sein Tag war, geschrieben, dass es ihm gut ging und dass sein Tag bis jetzt genau so langweilig gewesen war, wie sonst auch. Schule eben. Dann hatte er sie gefragt, wie es bis jetzt bei ihr so war und sie hatte etwas über ihren Chef gemeckert, mit dem sie nicht so wirklich klar kam. Toni hatte da schon so einige Geschichten gehört.

Alles war so wie immer, sie hatten danach nicht weiter geschrieben, warum auch, es war ihre übliche tägliche Unterhaltung gewesen. Aber jetzt fragte Toni sich, ob vielleicht nicht doch irgendwas anders gewesen war. Hatte Lydia diesmal andere Worte benutzt als sonst? Steckte in dem dreizeiligen Text vielleicht irgendeine Botschaft? Hatte er vielleicht Wörter benutzt, die er sonst nicht benutzte und ihr irgendeine Botschaft geschickt?

Der objektive Teil seines Gehirns versuchte ihn darauf hinzuweisen, dass es weder neue Wörter noch versteckte Botschaften gab, aber das unerbittliche Gedankenrad hatte schon angefangen, sich zu drehen. Denn über allem stand ja immer noch die Frage, wie er mit der von Max erhaltenen Information umgehen sollte.

Weil Toni wusste, dass er nicht wieder würde einschlafen können, wenn seine Gedanken sich eingefahren hatte, versuchte er verzweifelt sich abzulenken, indem er den Teller, die Gabel und den Ketchup nahm und alles da hin stellte, wo es hingehörte.

Als er die Spülmaschinentür leise geschlossen hatte, fiel sein Blick durchs Küchenfenster nach draußen, wo das Wetter sich alle Mühe gab, einen daran zu erinnern, dass der Sommer vorbei und der Herbst jetzt nicht mehr aufzuhalten war. Eine heftige Windböe presste den Regen, der wie ein Vorhang vom schwarzen Himmel fiel, gegen das Fenster und jetzt war Toni verloren. Er liebte dieses Wetter, so, wie überhaupt den ganzen Herbst.

Er trat da ans Fenster, wo keine Küchentheke dazwischen stand und blickte hinaus. Was aber nicht hieß, dass der Anblick sein Gehirn zur Ruhe kommen ließ. Eher im Gegenteil. Gedanken an Lydia mischten sich mit Gedanken an Oliver und auch Gregor drängte sich dazwischen. Das tat er häufiger, auf einmal war er da, egal, was Toni grade machte und wo er grade war, er drängte sich ihm einfach auf. Ihn wieder loszuwerden war praktisch unmöglich, vorallem, weil die meisten der Erinnerungen an ihn noch unglaublich klar waren, obwohl Toni ihn jetzt drei Jahre nicht gesehen hatte.

Und diese Tatsache ärgerte ihn immer wieder, denn er wollte nichts mehr, als Gregor und alles, was mit ihm zusammenhing, vollständig aus seinem Gedächtnis löschen. Das, was er damals getan hatte, erschien ihm inzwischen vollkommen absurd und er verstand sowieso nicht, was er an Gregor damals so toll gefunden hatte. Denn wenn er an ihn dachte blieb, wenn er die Erinnerungen an die Küsse, das Kuscheln unddie Sache wegließ, nur ein rotblonder Junge, der ständig gemeckert und sich über alles und jeden aufgeregt hatte.

Und doch...und doch war da etwas an ihm gewesen, das Toni magisch angezogen hatte. Gregor mit seiner Burg, seinen Geschichten, seiner alten Familie war einfach etwas Besonderes gewesen, so jemanden, den nicht jeder in seinem Leben kennenlernte.

Aber alles, was ihm das letztendlich eingebracht hatte, war ein furchtbares Buch in seinem obersten Regalfach, das er aus irgendeinem Grund nicht wegwerfen konnte und eine Mutter, die jeden Kollegen, den Toni mit nach Hause brachte, ganz genau ins Auge fasste, sodass er mit fünfzehn aufgehört hatte, jemand Männliches zu sich einzuladen, wenn es sich vermeiden ließ. Und das war genau so ärgerlich, wie ständig an Gregor denken zu müssen.

Oder an Oliver, aber es war eine ganz andere Sache, einen Kerl einfach nur aus der Ferne attraktiv zu finden. Und mehr als das wollte Toni ja auch gar nicht. Schließlich benahm er sich immer wie der letzte Trottel, wenn er, was bis jetzt nur einmal vorgekommen war, mit Oliver redete und dann stotterte und kaum einen vollständigen Satz herausbekam. So jemanden wollte doch niemand haben, oder?

Seine eigene Frage überrumpelte Toni, sodass er sie lieber unbeantwortet ließ. Es war sowieso müßig, darüber nachzudenken. Das alles war ja sowieso unter dem Oberbegriff ,Phase' zusammenzufassen. Er hatte darüber gelesen, beinah alle Menschen durchlebten in einer gewissen Zeitspanne so eine Phase. Und er befand sich direkt in dieser Zeitspanne.

Der Weg der Normalen war immer noch in Sichtweite und das Gelände eben und ohne Stolpersteine. Und Lydia würde diejenige welche sein, die ihm half, diesen Weg endgültig zu erreichen. Es gab absolut nichts, was gegen sie sprach. Sie kannten sich sehr gut, wusste um die Fehler und die Schwächen des anderen und auch, dass sie die gleichen Dinge mochten und aus Tonis kumpelhafter Perspektive sah sie auch ganz gut aus.... Eigentlich war es doch ideal.

Jetzt musste Toni nur noch einen Weg finden, dass aus ihrer Freundschaft eine Beziehung wurde. Oder sollte er besser abwarten, bis Lydia den ersten Schritt machte? Würde sie es denn jemals machen, wenn sie Max die ganze Sache nur unter Alkohol gebeichtet hatte? Vielleicht sollte er Max einfach noch ein bisschen aushorchen, er kannte sich schließlich besser mit Frauen aus. Außerdem konnte Toni so gleich zeigen, dass er auch an Lydia interessiert war und Max von der falschen Fährte abbringen, auf die er offensichtlich gestoßen war, als er das Wort mit sechs Buchstaben sagte, das Toni noch nicht einmal für sich selbst aussprechen konnte.

Der Plan fühlte sich gar nicht schlecht an und Toni war ausnahmsweise mal zufrieden mit seinem Denkprozess. Leise ging er zurück in sein Zimmer und kroch ins Bett. Dann schlief er tief und traumlos, bis sein Wecker ihn mit seinen unangenehmen Piepen wieder weckte.

Als er gutgelaunt zum Frühstück in die Küche kam, hatte seine Mutter natürlich schon festgestellt, dass der Braten verschwunden war und wenn in dieser Familie Essen verschwand, war Toni immer der Hauptverdächtige. "Du hättest wenigstens noch was für mich für heute mittag übrig lassen können," klagte sie.

Toni grinste sie an, zuckte entschuldigend mit den Schultern und griff nach einer Scheibe Brot. Nicht das erste Mal, dass er froh darüber war, dass Peters Arbeit so weit weg war, dass er früh aus dem Haus musste und keine Zeit hatte, mit ihnen zu frühstücken. Denn von ihm hätte er sich einen ellenlangen Vortrag anhören müssen, während für seine Mutter die Sache inzwischen erledigt war.

Maja, die Toni in ihrem Hochstuhl gegenüber saß, schenkte ihm ein breites zahnlückiges Lächeln und schwenkte ihre Hand, in der sie einen Löffel hielt. Toni lächelte und winkte zurück und fing an, sich sein Brot zu schmieren. Er fühlte sich bestens.  

Obwohl Toni ja unbedingt wollte, dass Max es wusste, kostete es ihn trotzdem Überwindung, ihn auf Lydia anzusprechen. Erst, als sie nach der Schule an der Haltestelle saßen, weil sie ihren Bus wieder einmal verpasst hatten, schaffte er es endlich, nachdem die Worte den ganzen Vormittag einfach nicht hatten herauskommen wollen, sobald er den Mund aufgemacht hatte. Und er schaffte es auch nicht, nicht betont desinteressiert zu klingen, als er fragte: "Sag mal, was hat Lydia eigentlich genau über mich gesagt?"

Max, der trotz Tonis desinteressiertem Tonfalls natürlich sofort wusste, was die Uhr geschlagen hatte grinste ihn breit an und hieb ihm einmal aufs Schulterblatt. "Sieh an, sieh an, der Schmetterling will also doch endlich aus seinem Kokon herauskommen." Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand des Haltestellenhäuschens sinken. "Also, sie meinte, sie wäre wohl schon ein Jahr total in dich verknallt, aber sie würd es dir nie im Leben sagen, weil du ja sowieso kein Interesse an ihr hast und ihr eure Freundschaft auch zu wichtig ist, um es dir zu sagen, damit du ihr dann n Korb gibst und ihr vielleicht keine Freunde mehr seid." Er legte den Kopf schräg. "Aber du hast Interesse, ne?!"

"J...ja," stotterte Toni und war beinah entsetzt darüber, wie entblößt er sich auf einmal fühlte. Das war heute morgen in seinem Kopf ganz anders abgelaufen. Vorallem, als er im Bett vor dem Einschlafen noch einmal einen fiktiven Dialog zwischen ihm und Max durchgegangen war, war er nichts anderes gewesen als lässig und cool. Oder war einfach das schlechte Gewissen, das es ihm jetzt grade so schwer machte. Aber diesen sehr störenden Gedanken wischte er lieber schnell beiseite.

"Bist du jetzt auch schon n Jahr scharf auf sie?" erkundigte Max sich. "Denn dann wäre es ja echt reine Verschwendung gewesen."

"Nein, ich hab erst angefangen drüber nachzudenken, als du gestern gemeint hast, sie steht auf mich," erwiderte Toni wahrheitsgemäß und Max lachte einmal schallend. "Alter, du machst es dir aber schön einfach. Jetzt, wo du weißt, dass sie dir praktisch ins Bett fällt, wenn du nur mit dem kleinen Finger zuckst, bist du auf einmal interessiert."

"Vielleicht stand ich ja auch schon vorher auf sie, aber ich habs eben nie gemerkt, weil wir eben so gut befreundet sind," versuchte Toni sich zu verteidigen, aber nicht nur er wusste, wie schwach das war sondern auch Max, der laut weiter lachte. "Man, man du hast aber schon mal bessere Ausreden gebracht."

Toni spürte, wie er rot wurde, was ihn ziemlich ärgerte und er fing an, die Geduld zu verlieren, was er Max aber auf keinen Fall zeigen durfte. Der war nämlich sehr schnell beleidigt und dann würde Toni nichts weiter aus ihm herauskriegen. Er räusperte sich einmal. "Wie auch immer," sagte er. "Du hast hier die größere Ahnung von Frauen als ich. Du kannst mir ja sicher sagen, wie ichs jetzt anstellen muss, dass das mit Lydia und mir was wird. Ich kann ja schlecht Samstag zu ihr hingehen und ihr sagen, dass ich auf sie stehe."

Max zuckte mit den Schultern. "Warum nicht? So mach ichs auch immer. Dann ist wenigstens gleich alles klar und es geht nicht noch um den heißen Brei rum, was einfach nur nervig ist. Wenn die Tussi scharf ist, dann sag ichs ihr auch. Und glaub mir, die meisten stehen auf so ne direkte Ansage."

Toni öffnete den Mund, um klarzustellen, dass er kein Typ der direkten Ansagen war, allein die Vorstellung das einfach so zu Lydia zu sagen war schon schlimm, aber Max kannte ihn lange genug, um das auch zu wissen. Er hob die Hände. "Ja ich weiß, kein guter Rat für dich, mein subtiler Freund. Aber ich glaube, du musst gar nicht viel machen. Sei halt einfach nicht so wie sonst, sag ihr, dass sie hübsch aussieht, geb ihr ne Cola aus. Helf ihr aus der Jacke und rück ihr den Stuhl zurecht, Mädels lieben sowas und dann wird es auch gleich Klick bei ihr machen. Oder mach ihr Komplimente wie toll ihre vollbemalten Fingernägel sind. Wusstest du, dass die Weiber für so Fingernägel 50 Euro ausgeben?!"

"Lydia hat aber gar nicht solche Fingernägel," erwiderte Toni und Max seufzte einmal. "Alter, was soll denn jetzt diese Kleinteiligkeit? Du weisst doch, was ich meine."

Toni nickte und verzog entschuldigend das Gesicht. "Tut mir Leid," erwiderte er. "Aber das ist halt alles noch total neu für mich." In Wirklichkeit fühlte es sich eher nach schlechtem Gewissen an, aber Toni ignorierte es wieder geflissentlich.

Max machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ja ist schon klar. Aber mach dir keine Sorgen, das wird ganz einfach. Und so, wie ich dich und Lydia einschätze seid ihr beide dann ein glückliches Paar bis an euer Lebensende. Ich kann das kleine Reihenhaus und die zwei Kinder schon bildlich vor mir sehen."

 

Samstag war Handballtag. Wie immer trafen sie sich vor der Halle und wie immer war Toni zuerst da, da er näher dran wohnte.Während er etwas abseits von den anderen Wartenden stand, ging er noch einmal das Gespräch mit Max durch und probte ein paar fiktive Dialoge mit Lydia. Alles erschien so völlig einfach und unkompliziert, das würde ein Kinderspiel werden.

Dass das Gespräch mit Max auch erst mal nach einem Kinderspiel ausgesehen hatte und es dann doch etwas anders gelaufen war oder dass es sich das hier immer noch nicht gut anfühlte war Toni egal. Das würde schon werden.

Wenn er erst einmal mit Lydia zusammen war, würde ihn das mit Schwung aus dieser leidigen Phase herauskatapultieren und ihn auf den richtigen Weg schubsen. Und dann würde es definitiv nicht mehr so komisch und abwegig sein, sie zu küssen, anzufassen und mit ihr zu schlafen, wie es sich für ihn grad in Gedanken anfühlte. Dann wäre es für ihn so normal und richtig, wie es für alle anderen auch war.

Denn, dass ihm das grade verkehrt vorkam lag ja nur daran, dass er in ihr im Moment immer noch einen Kumpel sah, was sich dann natürlich ändern würde. Wie falsch dieser Gedankengang war drängte sich in Tonis Hinterkopf, konnte aber erfolgreich von ihm verscheucht werden und damit er bloß nicht wiederkam konzentrierte er alles in sich darauf, in die Richtung zu starren, aus der Lydia immer auftauchte.

Als er sie schließlich sehen konnte, fing sein Herz heftig zu klopfen an. Sie trug die neue Jacke, von der sie ihm erzählt hatte und wie furchtbar ätzend sie es gefunden hatte, dass ihre Mutter drauf bestanden hatte, mit ihr Klamotten kaufen zu gehen. Die Jacke, die eigentlich ganz gut aussah und ihr auch gut stand, wäre die ideale Öse gewesen, in die Toni hätte einhaken können.

Er schaffte es auch, sich Worte zurecht zu legen, die nicht völlig hölzern oder idiotisch klangen – aber als Lydia bei ihm angekommen war, ihn anlächelte und zur ihrer üblichen Begrüßungsumarmung die Arme hob, da war es ihm unmöglich, sie auszusprechen. Mit einem Schlag war das unangenehme Gefühl, das bisher abgeschoben im Hintergrund gelauert hatte, total präsent und schaffte es, das alles, was Toni vorher so leicht und richtig erschien war, ihm plötzlich so gut wie unmöglich vorkam. Auf ihr freudiges ,Hallo' erwiderte er ein heiseres ,Hi' und verfluchte sich selbst.

Während sie in der Schlange vor der Kasse standen erzählte Lydia ihm ausführlich, warum ihr Chef diese Woche wieder ein Dreckskerl gewesen war und Toni versuchte, zuzuhören, aber da er immer noch furchtbar wütend auf sich selbst war, gelang ihm das kaum.

Das Handballteam war ziemlich gut und auch außerhalb der Stadtgrenzen bekannt, weswegen die Halle immer sehr gut gefüllt war, ein Umstand, der Toni diesmal sehr zugute kam. Denn die Lautstärke machte es schwieriger, sich zu unterhalten, sodass er Zeit hatte, sich zu überlegen, wie er nach dem Spiel vorgehen sollte.

Sie gingen durch die Sitzreihen, bis sie zwei freie Plätze fanden und nachdem sich gesetzt hatten und auf das Spielfeld blickten, begann Tonis Herz wieder, hektische Sprünge zu machen, aber nicht wegen Lydia sondern wegen Oliver. Toni hatte ihn gestern in den Pausen nicht gesehen, so sehr er auch unauffällig nach ihm Ausschau gehalten hatte. Aber er war natürlich nicht enttäuscht gewesen. Nein, dieses elende Gefühl in ihm kam wegen irgendetwas anderes, wahrscheinlich hatte er einfach was Falsches gegessen.

Und es war auch nicht Oliver, wegen dem er die Nacht stundenlang wachgelegen und ihm die Situation, in der er steckte, grade völlig auswegslos vorkam, weil nie im Leben etwas anderes passieren würde, als dass er ihn aus der Ferne sehen würde. Und dass Toni, als er endlich eingeschlafen war, einen heftige und unglaublich intensiven Sextraum mit ihm gehabt hatte, war auch nur dem widerspenstigen Teil seines Gehirns zuzuschreiben, der einfach nicht einsehen wollte, wie verkehrt das alles war.

Unter lautem Gejohle des Publikums, begleitet von blecherner Popmusik aus den Lautsprechern und dem Gebrülle des wie immer sehr ekstatischen Hallensprechers kamen die Spieler aufs Feld gelaufen und Toni sah mit einem Blick, dass Oliver nicht dabei war. Wieder stieg dieses elendige Gefühl in ihm auf und er musste den Impuls unterdrücken, aufstehen und einfach zu gehen. Denn eigentlich interessierte ihn Handball ja gar nicht, wenn Oliver nicht dabei war.

Also blieb er sitzen wo er war und verschränkte die Hände fest im Schoß. Er fragte sich, wo Oliver steckte und ob etwas Schlimmes mit ihm passiert war. Und da Oliver ein sehr guter und beliebter Spieler war, war Toni nicht der Einzige, der sich das fragte.

"Wo steckt denn der Weigel?" wollte der, der hinter Toni saß, wissen und die Antwort erfolgte prompt. "Sind wohl üble Familienprobleme. Aber wenigstens ist er nicht verletzt."

Jetzt, wo Tonis Fixpunkt nicht da war, war das Spiel einfach nur noch langweilig. Aber Toni blieb sitzen wo er war und verlor kein einziges Wort darüber, denn Lydia schien ganz bei der Sache zu sein. Was er bei den unzähligen verstohlenen Seitenblicken mitbekam, die er ihr zuwarf. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Oliver heute nicht da war, das würde Tonis Plan doch viel leichter machen.

Leider war Lydia dann doch nicht so in das Spiel versunken, wie Toni gedacht hatte, denn irgendwann fing sie einen seiner Seitenblicke ab und sah ihn groß an. "Was ist los?" rief sie und Toni ließ eine weitere Gelegenheit verstreichen als er mit den Schultern zuckte und "Nichts!" erwiderte.

Aber Lydia war nicht auf den Kopf gefallen und in der Lage eins und eins zusammenzuzählen. Sie riss die Augen auf. "Max hat's dir erzählt, nicht wahr?!"

Toni öffnete den Mund, aber Lydia hatte sich ihre Antwort schon selbst gegeben. "Dieser kleine Bastard," schrie sie, ballte die Fäuste, stand abrupt auf und drängte sich rücksichtslos durch die Reihe um die Treppe zum Ausgang hochzusteigen.

Toni saß noch ein paar Sekunden da, weil ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, dass es jetzt wirklich einfach geworden war. Dann folgte er ihr.

Es dauerte einen Moment, bis er sie gefunden hatte, denn sie stand im angrenzenden Park mit geschlossenen Augen an einen Baum gelehnt und sah immer noch wütend aus. "Lydia," sagte Toni ruhig und legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schüttelte sie ab und trat einen Schritt zur Seite. "Wie konnte er das bloß machen?!" sagte sie mit bebender Stimme.

"Er ist eben Max," erwiderte Toni. "Du weißt doch, wie er drauf ist."

"Sicher weiß ich das! Aber wenn jemand ein Freund ist, dann kann man doch wohl von ihm erwarten, dass er solche Dinge nicht einfach weitererzählt. Schon gar nicht demjenigen, der es absolut nicht hören sollte!"

Lydia fuhr sich einmal resigniert mit der Hand durch das Gesicht. "Ich hätte es ihm niemals erzählen dürfen! Aber ich... ich war total betrunken und dann hat er mich gefragt, wie's mir geht und dann... dann hab ichs ihm einfach erzählt weil es endlich mal raus musste. Aber du hättest das nie wissen dürfen."

Sie schluchzte einmal auf, sie hatte noch nie vorher vor ihm geweint, die Male im Kindergarten zählten hier nicht, und Toni fühlte sich grad völlig hilflos. "Warum denn nicht?" wollte er wissen und sie sah ihn mit schwimmenden Augen an, als wäre er begriffsstutzig. "Warum wohl nicht?!" erwiderte sie fast vorwurfsvoll.

"Wir sind schon so ewig befreundet und deine Freundschaft ist extrem wichtig für mich. Und jetzt wo du weißt, dass ich auf dich stehe und du stehst nicht auf mich, dann ist das doch das Ende für unsere Freundschaft, egal, was du jetzt sagst!"

"Das...." fing Toni an aber bei Lydia waren jetzt alle Dämme geöffnet: "Dass ich seit einem Jahr auf dich stehe hat Max dir natürlich auch erzählt! Und seit diesem einen Jahr versuch ich die ganze Zeit mal, ob du mich näher an dich ranlässt. Ich sag dir, dass du in deinen Klamotten gut aussiehst, ich lad dich zum Essen ein und ich hab dir sogar diese scheiss Uhr geschenkt, die du immer so toll fandest! Aber das ist alles total an dir abgeprallt!"

"Aber wir haben uns doch sonst auch immer Sachen geschenkt," erwiderte Toni unbeholfen und Lydia warf die Hände in die Luft. "Ja, zum Geburstag und zu Weihnachten! Wo man sich Sachen schenkt, auch, wenn man nur befreundet ist. Aber die blöde Uhr hab ich dir am [style type="italic"]Valentinstag[/style] geschenkt!! Und du nimmst sie und grinst mich an und sagst geiles Teil, danke und damit war die Sache für dich erledigt. Ich glaub, du hast noch nichtmals gewusst, dass Valentinstag gewesen ist!"

Sie zog die Nase hoch und wischte sich einmal mit dem Ärmel über die Augen. "Und...und an dem Tag hab ich dann begriffen, dass das alles umsonst ist. Dass du es gar nicht mitbekommst, wenn ich solche Sachen mache! Oder du denkst auch gar nicht darüber nach, dass ich ständig mit dir samstags beim Handball hocke, obwohl mich das Spiel gar nicht interessiert!"

"Echt nicht?" rutschte es Toni heraus und danach fühlte er sich wie der letzte Idiot. Nicht nur, dass es Lydia mit den Dingen bei ihm versucht hatte, die Max ihm vorgeschlagen hatte, und er nichts davon bemerkt hatte, er hatte sogar das mit der Uhr nicht gemerkt, obwohl ihm das jetzt wie ein Wink mit dem ganz massiven Zaunpfahl erschien, wie etwas, das er gar nicht übersehen konnte. Es war schon richtig was er zu Max gesagt hatte: Er hatte wirklich keine Ahnung von Frauen.

Lydia runzelte die Stirn. "Verarscht du mich grad?"

Toni riß die Augen auf. "Nein, ganz bestimmt nicht!" Jetzt konnte er ihrem Blick nicht mehr standhalten und sah zu Boden. "Seitdem Max mir das erzählt hab, hab ich viel drüber nachgedacht," sagte er. "Und das war auch genau der Schubs, den ich gebraucht hab! Weil ich hab mir überlegt, dass das mit uns doch ne super Sache wäre. Ich...ich mein, wir kennen uns und wissen wie der andere drauf ist und wir sind schon so ewig befreundet."

Er lächelte Lydia an und hoffte, dass es nicht so gequält aussah, wie es sich für ihn anfühlte, aber er schaffte es einfach nicht, dass daraus ein richtiges Lächeln wurde. "Und aus Freundschaften werden doch immer die besten Beziehungen," fügte er noch hinzu, womit er einen Spruch aus einer Zeitschrift seiner Mutter zitierte, die er aus lauter Langweile einmal gelesen hatte.

Leider, wie Toni schon angemerkt hatte, kannte Lydia ihn zu lange und zu gut, um sein Lächeln nicht zu durchschauen und sich von seinen Worten nicht so einwickeln zu lassen, wie Toni das gehofft hatte, Soviel zu dem Thema einfach.

"Wirklich?" fragte sie absolut nicht überzeugt und jetzt beschloss Toni das Theater sein zu lassen und einfach zu sagen, was Sache war.

"Ja wirklich," erwiderte er, etwas zu heftig, als er es geplant hatte. "Aber was soll ich sagen, ich hab absolut keine Ahnung von diesen Dingen. Ich hab sowas noch nie vorher gemacht, ich weiß nicht, was ich sagen und was ich machen soll. Ja ich gebe zu, dass es total dumm ist, dass mir sowas erst klar wird, wenn Max es mir erzählt! Aber das heißt doch nicht, dass es absolut falsch ist! Sondern einfach nur wie schwer von Begriff ich bin. Das hast du doch grade selbst gesehen!" Er holte einmal tief Luft. "Lydia, ich mag dich echt super gerne und ich fände es schön, wenn da mehr draus werden würde! Aber wenn dir das jetzt zu doof ist, dann kann ich das auch verstehen! Und ich möchte auch nicht, dass das irgendwas an unserer Freundschaft ändert! Wenn aus uns schon kein Paar wird, weil ich einfach zu dämlich bin, dann soll sich daran gefälligst nichts ändern!"

Lydia sah ihn einen Moment an, der Toni ewig lang vorkam, dann strahlte sie. "Man, du weißt gar nicht, was mir grad für ein Stein vom Herzen fällt, dass jetzt alles klar ist zwischen uns." Sie trat ganz nah an ihn heran und sah zu ihm hoch. "Dann hast du ja jetzt auch nichts dagegen, wenn wir uns küssen, nicht wahr?" flüsterte sie.

"Gar nichts hab ich dagegen," flüsterte Toni genau so leise zurück und beugte sich zu ihr hinunter.

Natürlich fühlte sich dieser Kuss genau so an, wie sich der erste Kuss mit einem Mädchen anfühlen sollte, auf das man total stand. Und er fühlte sich auch nicht schlecht dabei, absolut nicht! Und Gedanken an Oliver huschten auch nicht kurz durch seinen Kopf.

Nein, absolut nicht! Alles war so, wie es sein sollte!

Toni hatte sich zwar einige Gedanken gemacht, wie er mit Lydia zusammenkommen konnte, aber nie darüber wie es sein würde, eine Beziehung mit ihr zu führen. Er hatte allgemein noch nie näher darüber nachgedacht und die einzigen Erfahrungswerte, die er diesbezüglich besaß, waren die Geschichten, die Max und die anderen von ihren Freundinnen erzählten.

Was dazu führte, dass Toni  die ersten Tage unbewusst darauf wartete, dass Lydia sich jetzt in jemanden verwandelte, der ständig wissen wollte was er machte und wo er war, der permanent an ihm klebte und bei dem Shoppen und gemeinsames Weggehen auf der Tagesordnung standen. Mit so jemandem hätte Toni definitiv niemals zusammen sein können und er verstand auch nicht, wieso es die anderen waren wo ihre Freundinnen doch anscheinend alle so drauf waren. Denn schließlich beschwerten sie sich bei Toni beinah täglich über mindestens eine von diesen Eigenschaften. Gutes Aussehen allein konnte doch nicht ausreichend sein, wenn alles andere scheisse war.

Allerdings kannte Toni keine der Mädchen besonders gut und vielleicht übertrieben die Jungs ja auch nur. Er selbst wollte so etwas aber auf keinen Fall erleben.

Doch es stellte sich dann gleich heraus, dass seine Gedanken mal wieder völlig abwegig waren, denn Lydia mutierte jetzt nicht zu einem total anderen Menschen, nur, weil sie zusammen waren. Natürlich nicht. Sie blieb einfach die, die er schon jahrelang kannte und mit der er reden, herumalbern und im Kino tonnenweise teures Popcorn essen konnte. Und sie hatte auch Verständnis, wenn Toni einfach mal Zeit für sich brauchte, egal, ob es jetzt darum ging, ein tolles Buch zuende zu lesen, für eine anstehende Klassenarbeit zu lernen oder mit seinen Jungs um die Häuser zu ziehen.

Toni gab sich alle Mühe, ein Vorzeigefreund zu sein, weil er auf keinen Fall wollte, dass Lydia sich bei ihren Freundinnen so über ihn beschwerte, wie seine Freunde es über ihre Freundinnen bei ihm taten. Und da er keine Ahnung hatte, wie er sich genau verhalten sollte und ihm noch das gewisse Gefühl fehlte, war er auf Hilfe dringend angewiesen, von denen er glücklicherweise eine Menge hatte: neben Büchern und einigen Serien war die Frauenzeitschrift, die seine Mutter abonniert hatte, der beste Ratgeber. Also kratzte er seine besten Manieren zusammen, holte Lydia gelegentlich von der Arbeit ab, führte sie ab und zu mal überraschend zum Essen aus und schenkte ihr hin und wieder ein paar Kleinigkeiten.

Ein guter Zuhörer war er sowieso, da musste er sich gar nicht anstrengen und mit dem Sex konnte er selbstverständlich auch noch warten.

Außerdem hatte Lydia, wie Toni belustigt merkte, auch ein bisschen Probleme, ihr Verhältnis aus der Freundeszone herauszuholen, obwohl sie doch diejenige war, die zuerst Interesse an mehr gehabt hatte.

So kam es zu ein paar etwas peinlichen Momenten, wenn einer sich zur Begrüßung umarmen und der andere küssen wollte. Und das tief in die Augen schauen, das ja unglaublich romantisch sein sollte, artete zuerst noch in verlegenes Lachen aus.

Aber irgendwann, als sie merkte, dass es auch beziehungstechnisch super mit ihnen klappte und es nicht ein kurzes Strohfeuer werden würde an dessen Ende sie feststellten, dass sie mit Freundschaft doch besser bedient waren, begann sich etwas an Lydia zu verändern. Toni merkte es an den Blicken, mit denen sie ihn ansah, daran, dass ihre Küsse leidenschaftlicher wurden und das sie ihn ständig berühren musste.

Toni hätte dieses Gefühl auch gerne gehabt, es sich einzureden funktionierte leider nicht. Also machte er einfach weiter damit, dafür zu sorgen, dass die Sache mit Lydia gut lief, denn dann würde es sicherlich irgendwann auch kommen.

"Toni, mein weiser Freund, ich beneide dich tatsächlich etwas darum, dass  bei dir und deiner Perle alles so super ist," sagte Max anerkennend. "Ich würde ja sagen, gib mir ein paar Tipps, aber Lydia ist dann wohl eher zu graues Mäuschen und nichts davon würde bei meinen anspruchsvollen Frauen auch funktionieren."

Toni, der eine sehr sarkastische Bemerkung auf der Zunge hatte, was Max' ,Frauen' betraf, schluckte diese runter und fragte stattdessen: "Läuft's nicht so gut mit Sarah?"

Max seufzte einmal tief. "Nee absolut nicht. Hätt ich gewusst, dass sie so einen auf Familie macht, dann hätte ich sie gleich fallen gelassen. Aber jetzt steck ich bis zum Hals drinnen und wenn ich Schluß mache gibts wieder dieses ätzende Drama, von dem ich erst mal die Schnauze voll hab. Gebranntes Kind scheut das Feuer und so."

Er warf in einer damatischen Geste den Kopf in den Nacken. "Und jetzt will sie mich unbedingt ihrer Familie vorstellen, der ganzen Familie, inklusive ihres Bruders und ihrer Großeltern. Und schon ihre Eltern sind schräg. Ihre Mutter sammelt Puppen. Weißt du wie horrormäßig das ist bei denen zuhause?! Überall wo du stehst glotzen dich welche mit ihren gruseligen Augen an, in jeder Ecke sind da welche. Wie in so nem Splatter-Film. Als ob gleich eine davon aufsteht, ihre Kettensäge anschmeißt und dann auf dich losgeht. Ich hab ja sonst vor gar nix Angst, aber da fühl selbst ich mich komisch."    

"Es sind doch nur ihre Eltern," versuchte Toni ihn zu beruhigen.

Max sah ihn stirnrunzelnd an. "Man, du liest doch so viele Bücher, du müsstest doch wissen, dass so, wie die Eltern sind, das auch immer auf die Kinder abfärbt. Sarah hat bestimmt auch irgendwelche wahnsinnige Seiten an sich und Alter glaub mir, die möcht ich nicht kennenlernen!" Er legte Toni die Hand auf den Arm. "Du hast echt sowas von Glück, dass du dich mit diesem Eltern-Problem nicht rumschlagen musst!"

"Das hab ich eindeutig," erwiderte Toni und lächelte breit, aber innerlich war ihm absolut nicht nach Lächeln zumute. Schließlich kannte Max nur die halbe Wahrheit, nämlich, wie es mit Lydias Eltern gelaufen war. Sie hatten es ihnen gesagt, als Toni, wie er es schon oft getan hatte, bei ihnen gegessen hatte und während ihre Mutter ihm mit strahlendem Lächeln die Hand getätschelt hatte, hatte ihr Vater sein Bierglas erhoben und Toni damit zugeprostet. "Gut, dass Lydia dich genommen hat und nicht irgendeinen von den Vagabunden, mit denen sie sich sonst so rumtreibt."

"Papa!" hatte Lydia daraufhin empört gerufen. "Die sind alle total in Ordnung und nicht umsonst meine Freunde." Woraus sich dann anschließend eine Diskussion entwickelt hatte, aber es war nicht die erste, bei der Toni dabei war, denn es wurde in Lydias Familie gerne diskutiert und Toni fühlte sich keine einzige Sekunde unwohl.

Das war eine Geschichte, die man jedem erzählen konnte.

Bei Tonis eigener Mutter war das schon anders. Er hatte Max zwar gesagt, dass sie es bereits wusste und auch schwer begeistert davon gewesen war, aber eigentlich hatte er es ihr noch nicht gesagt. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn sie es selbst herausgefunden hätte, denn bis jetzt hatte er mit ihr noch nie über sein Liebesleben gesprochen und er wollte eigentlich auch, dass es so blieb. Denn nicht nur war ihm das Thema verdammt unangenehm, es würden auch die Fragen kommen, die seine Mutter sich, da war Toni sich sicher, bis jetzt verkniffen hatte, wenn er erst einmal den ersten Schritt machte und die Grenze damit öffnete.

Andererseits konnte er ihr mit der Vorstellung Lydias als seine feste Freundin endlich zeigen, dass er nicht so war, wie sie dachte und die Sache mit dem Buch und der Verdächtigung aller seiner männlichen Freunde reinwaschen. Das war ihm bis jetzt nämlich noch nicht gelungen und es verging praktisch kein Tag, an dem er sich nicht darüber ärgerte.

Er dachte einige Nächte darüber nach, während er im Bett lag und an die Decke starrte, wann, wo und wie er es ihr am besten sagen wollte. Und dass Peter auf keinen Fall dabei sein sollte. Aber Lydia natürlich. Er würde ihr Hand halten, seiner Mutter fest in die Augen blicken und es ihr sagen. Und wenn sie ihn dann überrascht ansehen würde und ihr dämmerte, dass sie all die Jahre ein völlig falsches Bild von ihm gehabt hatte, würde er innerlich triumphieren.

Mehrmals hintereinander spielte er diese Szene vor dem Einschlafen in seinem Kopf ab und jedes Mal fühlte es sich so gut an, dass er es am liebsten aufgestanden wäre und es sofort erledigt hätte. Aber da das nicht ging schlief er lediglich mit einem Lächeln ein.

Lydia und er hatten diesen Samstag geplant, mal wieder ins Kino zu gehen und da das Kino von Toni aus besser zu erreichen war, würde Lydia ausnahmsweise mal ihn abholen. Peter war nicht da, es war also der ideale Zeitpunkt. Wenn Lydia unten geklingelt hatte würde  Toni sie nach oben holen und es dann seiner Mutter sagen. Er konnte es kaum noch abwarten und die Zeit bis acht Uhr verging quälend langsam.

Als es dann endlich klingelte schoss ein heißer Stich durch seinen ganzen Körper. Er rannte praktisch in den Flur und sein Finger lag schon auf dem Knopf des Türöffners – aber er konnte ihn einfach nicht drücken. Von einer Sekunde auf die andere war da wieder dieses komische Gefühl in seinem Magen und er fühlte sich plötzlich unglaublich schlecht. In der letzten Zeit hatte er sehr häufig Magenprobleme und anscheinend war es jetzt mal wieder soweit. Besser, er verschob die Sache mit Lydia auf einen Tag, an dem es ihm besser ging.

Anstatt die Tür zu öffnen ging er zu Gaderobe, um sich seine Jacke anzuziehen. In diesem Moment kam seine Mutter aus der Küche. "Willst du nicht aufmachen?" fragte sie erstaunt.

"Das ist Lydia. Sie wartet unten auf mich. Wir gehen ins Kino," antwortete Toni und zog den Reißverschluss zu.

"Ach so," sagte seine Mutter und wandte sich um, um wieder in die Küche zu gehen.

"Lydia und ich sind zusammen," rutschte Toni es da absolut ungewollt heraus.

Seine Mutter drehte sich wieder zu ihm und sah ihn einen Moment mit großen Augen an. Dann war sie mit zwei großen Schritten bei ihm. "Wirklich?" fragte sie ruhig und legte ihm die Hand auf den Arm.
Toni runzelte die Stirn. Nicht nur, dass das alles ganz anders lief, als er es geplant hatte, die Reaktion seiner Mutter war auch absolut nicht die, die er erwartet hatte.

"Ja, wirklich!" schnappte er. "Ich hab's doch grade gesagt, oder?!" Er wollte gehen, aber sie hielt ihn fest. "Schatz, ist es wirklich das, was du willst?! Du weißt, dass du sowas nicht machen musst, nur, weil du das Gefühl hast, dass es von dir verlangt wird! Sei der, der du bist, es ist vielleicht schwer, aber ich werde immer hinter dir stehen!"

Toni starrte sie an und war für einen Augenblick sprachlos, wie immer in so einer Situation. Dabei wäre jetzt genau die Gelegenheit gewesen ihr klarzumachen, dass er definitiv nicht so war, wie sie dachte. Aber als er dann den Mund geöffnet bekam, um genau das zu sagen, wurde ihm klar, dass er schon viel zu lange geschwiegen und sie einfach nur angesehen hatte, sodass sie ihm nicht glauben würde.

Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg und entriss ihr brüsk seinen Arm. "Lass mich doch einfach in Ruhe!" rief er zornig, obwohl er lieber ruhig und besonnen reagiert hätte, weil das weniger verdächtig gewesen wäre. Aber es ging einfach nicht. Zornig knallte er die Wohnungstür hinter sich in Schloß und stampfte die Stufen hinunter. Er und seine komischen Anwandlungen hatten alles verdorben, was er sich doch so schön vorgestellt hatte. Ihm war ganz heiß vor Zorn.

Vor der Haustür schloß er für einen kurzen Augenblick die Augen und atmete einmal tief ein. Lydia durfte auf keinen Fall mitbekommen, wie aufgewühlt er grade war. Er versuchte zu lächeln, aber in einem Inneren war es grade zu chaotisch, um es glaubhaft hinzubekommen. Also zog er Lydia, nachdem er nach draußen getreten war, sofort in die Arme und bevor sie noch etwas sagen konnte, küsste er sie. Weil in ihm immer noch unglaublich viel Wut steckte war der Kuss heftiger als sonst und schon war es vorbei damit, Lydia zu verheimlichen, wie es ihm grade wirklich ging.

Als er sie wieder losgelassen hatte fragte sie dann auch gleich besorgt: "Ist alles in Ordnung?"

Toni zuckte mit den Schultern und für einen kurzen Augenblick schoss die Erleichterung durch seinen Körper, dass er Lydia nichts von seinem Plan erzählt hatte. "Geht so. Hatte einen üblen Streit mit meiner Mutter," erwiderte er nur und nahm sie bei der Hand. "Deswegen lass uns jetzt auch schnell hier verschwinden!"

Lydia wusste natürlich wie das war, wenn man mit den Eltern Streit hatte, schließlich war das bei ihr praktisch an der Tagesordnung. Und ebenso wusste sie, aus jahrelange Erfahrung, dass Toni entweder von sich aus erzählte, was los war oder sie es nie erfahren würde. Nachfragen brachte nichts. Also fragte sie nicht nach, sondern war einfach noch liebevoller als sonst.

Für Toni war der Abend gelaufen, selbst der Film, auf den er sich wirklich gefreut hatte  schaffte es nicht, ihn auch nur ansatzweise aufzuheitern. Im Gegenteil, während er in dem Sitz saß, Lydia dicht neben sich, die die ganze Zeit seine Hand hielt und manchmal den Kopf auf seine Schulter legte, da hatte er das Gefühl, von allem erdrückt zu werden und kaum atmen zu können.

Sich auf den Film zu konzentrieren war unmöglich, da sich in seinem Kopf immer wieder das Gespräch mit seiner Mutter abspielte und bei jeder neuen Sequenz fielen ihm andere bessere Dinge ein, die er ihr hätte sagen können. Schließlich wäre er am liebsten einfach aufgestanden und losgegangen, irgendwo hin, bloß raus, unter den freien Himmel, weg von allen Menschen. Aber das ging natürlich nicht. Also versuchte er, sich zu beruhigen, indem er sich auf seinen Atem konzentrierte und sich bemühte, nur noch an schöne Dinge zu denken.

Eine Mission, die zum Scheitern verurteilt war. Es wurde zwar nicht schlimmer, aber auch nicht besser.

Nach dem Kino gingen sie noch essen, aber Tonis Magen war so zugeschnürrt, dass er kaum etwas von seiner Pizza herunterbekam. Er spürte Lydias immer noch besorgten Blick ständig auf sich und hätte ihr gerne gesagt, dass sie aufhören sollte, ihn so anzugucken, aber natürlich tat er es nicht. Er hatte sowieso ein schlechtes Gewissen, weil er ihre Zärtlichkeiten kaum und wenn, dann nur mechanisch, erwiderte, von dem, was sie ihm erzählte, kaum etwas mitbekam und selbst so gut wie gar nichts sagte.

"Es tut mir Leid, dass ich dir den Abend verdorben sag," sagte er reumütig, als sie vor Lydias Haustür standen.

Sie steichelte seine Hand. "Ist schon gut. Eltern sollte man eben einfach auf den Mond schießen!"

Zum ersten Mal an diesem Abend bekam Toni ein echtes Lächeln hin. "Das stimmt," sagte er und drückte ihre Hand. "Beim nächsten Mal ist es wieder wie sonst, das verspreche ich!"

Sie strahlte ihn an. "Da freue ich mich schon drauf."

"Wenn nicht mach ich alles, was du willst," versicherte Toni. "Ich geh auch mit dir und deinen Mädels weg, damit du mit mir angeben kannst!"

"Du weißt, dass du das auch machen musst, wenn du dein  Versprechen hälst, nicht wahr?!" erwiderte Lydia und Toni nickte ergeben. "Natürlich. Ich denk mir dann eben was anderes aus."

"Ich bin gespannt," sagte Lydia, sie lächelten sich an und nach einem kurzen Gute Nacht-Kuss ging Toni.

Er hätte jetzt bequem den Bus kriegen und in fünf Minuten zuhause sein können, aber die Wut auf sich selber und seine Unfähigkeit, die die ganze Zeit in ihm gebrodelt hatten und jetzt, wo er mit sich alleine war, wieder heiß in ihm hochstieg, machte es ihm unmöglich, stillzuhalten. Also ging er die Vierstelstunde zu Fuß, mit zu Fäusten geballten Händen, die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht gezogen. Er wollte niemanden ansehen und schon gar nicht wollte er, dass ihn jemand ansah.

Den ganzen Weg lang versuchte Toni verzweifelt, sich selbst zu verstehen. Er hatte sich doch alles so wunderbar ausgemalt und es hatte sich so gut angefühlt, aber warum hatte er es dann trotzdem nicht hingekriegt? Und das, wo es doch die ultmative Chance gewesen war, jeglichen Verdacht von Andersartigkeit bei seiner Mutter endgültig auszulöschen. Er selbst hatte es doch endlich auf den richtigen Weg geschafft, warum um alles in der Welt hatte er seine Mutter nicht mitnehmen können?!

Natürlich fand er die Antwort nicht und als er vor dem Haus stand und zu den erleuchteten Fenstern der Wohnung hochblickte, da war es ihm unmöglich, jetzt schon reinzugehen. Stattdessen drehte er erst eine Runde um den Block, dann noch eine und noch eine; er ging so lange weiter bis er völlig kaputt war und der Wunsch nach Schlaf alle anderen Gedanken in ihm verdrängt hatte.

Das Licht hinter den Fenstern war inzwischen ausgegangen und als er so geräuschlos wie möglich die Tür aufgeschlossen und in den Wohnungsflur getreten war, blieb alles ruhig. Leise zog er Schuhe und Jacke aus, ging in sein Zimmer, schloß die Tür hinter sich und kroch angezogen wie er war ins Bett. Er zog sich die Decke über den Kopf und lag dann da und starrte blicklos in die Dunkelheit. Bis er schließlich einschlief.

Nach dem Debakel mit seiner Mutter musste Toni hilflos mitansehen, wie die kleine Welt, die er sich in den drei Wochen, die er jetzt mit Lydia zusammen war, aufgebaut hatte, vor seinen Augen zusammenfiel.
Vorher war es noch völlig in Ordnung gewesen, Oliver auf dem Schulhof und beim Handball anzustarren und in diesem Moment alles um sich herum zu vergessen. Und, im Gegensatz zu der Zeit vor Lydia, hatte er sich auch nicht mehr schlecht dabei gefühlt, wenn er sich nachts, bei abgeschlossener Zimmertür und Kopfhörern in den Ohren auf seinem Laptop nicht jugendfreie Filme anguckte, in denen niemals Frauen mitspielten.  

Das alles war absolut kein Problem, denn er hatte ja schließlich eine Freundin und immer, wenn er Lydia danach geküsst und im Arm gehalten hatte, war er reingewaschen worden und es war, als hätte er den Weg des Normalen niemals verlassen.

Aber jetzt funktionierte es nicht mehr und er verstand nicht warum. Eigentlich war ihm das, was seine Mutter dachte, doch mehr als egal. Die Meinung seiner Freunde war doch viel wichtiger und die wussten alle, dass er und Lydia zusammen waren und dass es gut lief. Das hätte doch eigentlich reichen müssen. Aber die Tatsache, dass seine Mutter einfach nicht einsehen konnte, dass auch Toni sich jetzt auf dem richtigen Weg befand, war etwas, mit dem er einfach nicht zurecht kam.

Und das es so war, machte ihn ziemlich wütend. Natürlich hätte er das Gespräch mit seiner Mutter suchen können. Er würde das verdammte Buch vor ihr auf den Tisch knallen und dann würde er so lange auf sie einreden, bis sie sich endlich von ihrer komischen Ansicht verabschiedete. Toni legte sich die passenden Wörter zurecht, entwarf ganze Dialoge im Kopf die sich da auch alle richtig gut und überzeugend anhörten- aber sobald er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte, war es, mal wieder, als wäre er gegen eine Wand gerannt.

Manchmal war er schon ins Wohnzimmer oder in die Küche getreten, wo seine Mutter saß, sie sah ihn an, er öffnete den Mund, aber nicht das, was er sagen wollte kam heraus, sondern irgendeine belanglose Kleinigkeit, wie ein Kommentar zum Wetter oder zu einer Klassenarbeit. Danach ging er wieder und die ganze Angelegenheit war ihm für einige Zeit peinlich.

Dreimal passierte ihm so etwas, bis er schließlich frustriert die Erkenntnis zuließ, dass es so nicht funktionierte und er eine andere Strategie brauchte, damit er sich endlich wieder gut fühlte. Und da konnte es definitiv nur eins geben: Sex mit Lydia. Was gleich mehrere Vorteile für Toni hatte. Das Wichtigste war natürlich, dass er sich nicht mehr schlecht fühlen würde, wenn er etwas Unnormales tat. Und dann würde sein Ansehen bei den Jungs gleich viel mehr steigen. Die wussten natürlich alle, dass er noch Jungfrau war und rissen regelmäßig Witzchen darüber, die zwar nicht böse gemeint waren, Toni aber trotzdem aufregten.

Keiner von ihnen konnte nachvollziehen, dass in drei Wochen immer noch nichts zwischen Toni und Lydia passiert war, vorallem Max nicht. Und wenn er ein paar Bier getrunken hatte, wurde das schließlich, neben Sarahs Macken und diversen Anmerkungen zu Frauen, die ihm gefielen, eins seiner Lieblingsthemen. "Drei Wochen? Alter, ich bitte dich!" sagte er irgendwann schon fast vorwurfsvoll zu Toni, als sie zusammen in der Kneipe am Tisch saßen.

Toni, dem das Thema langsam auf die Nerven ging, rollte nur mit den Augen und verteidigte sich ausnahmsweise mal nicht. Denn er war ja nicht auf Max' Penetranz sauer, sondern auf sein eigenes Unvermögen. Inzwischen müsste er doch eigentlich total scharf auf Lydia sein, so oft, sie schon rumgeknutscht und gekuschelt hatte.

Lydia, die schon einen Schritt weiter war, was Toni wieder einmal deutlich an den Blicken sehen konnte, mit denen sie ihn musterte, hatte einmal probeweise die Hand unter seinen Pulli gesteckt und seinen Bauch gestreichelt. Aber außer, dass sich die Streicheleinheit sehr angenehm angefühlt hatte, hatte sich in Toni nichts weiter geregt.

Ein Moment, in dem sich Gregor mal wieder in sein Bewusstsein drängte und mit ihm zusammen die Erinnerung an das eine Mal am See, als er sich ausgezogen und Toni genau das gefühlt hatte, was er jetzt eigentlich fühlen wollte und sollte. Und dass das nicht der Fall war machte in unglaublich wütend, was Lydia natürlich sofort mitbekam, die Hand schnell wieder wegzog und entschuldigend sagte. "Es tut mir Leid. Ich hätt das nicht einfach so machen dürfen!"

"Nein...nein, das war voll okay!" beeilte Toni sich zu sagen, aber sie lächelte ihn nur wissend an, küsste ihn einmal auf die Wange und legte den Kopf auf seine Schulter. Schweigend sahen sie den Film weiter, aber Toni konnte sich nicht mehr auf den Fernseher konzentrieren. Er kam sich wie der größte Idiot auf der Welt vor und eigentlich hätte er jetzt sofort handeln sollen. Er hätte Lydia noch einmal sagen sollen, wie vollkommen in Ordnung das grade gewesen war und dass sie ruhig weitermachen konnte, weil er unbedingt mit ihr schlafen wollte. Aber wieder einmal war er wieder vernagelt und es passierte weder an diesem Tag noch an den Tagen danach irgendetwas und sie sprachen auch nicht mehr darüber.

Eigentlich hätte Toni ja jetzt die Initative ergreifen müssen, aber irgendwie ergab sich danach keine Gelegenheit mehr. Weil weitere kuschelige Filmabende auf der Couch oder auf Lydias Bett ihm einfach unpassend erschienen. Schließlich sagten die Frauenzeitschrift, Bücher, Serien einfach alles, dass das erste Mal etwas ganz Besonderes sein sollte. Es war zwar nicht Lydias erstes erstes Mal, sie hatte sich damals bei Toni über ihr richtiges erstes Mal ziemlich ausgeheult, weil es so furchtbar gewesen war, obwohl sie in den Kerl, den Toni nur ein paar Mal auf Parties gesehen hatte, so verknallt gewesen war, aber es war immerhin das erste Mal in ihrer Beziehung. Und auch das war etwas Spezielles und Kerzen und Musik waren für so etwas laut Frauenzeitschrift sehr geeignet.

Sich mit den ,technischen' Details zu beschäftigen war einfach. Bis auf das Kaufen von Kondomen. Toni trieb sich eine ganze Weile in der Nähe des entsprechenden Regals in der Drogerie herum, bis er sichergehen konnte, dass niemand mehr in der Nähe war, der mitbekam, wie er sich vor das Regal stellte, die verschiedenen Packungen musterte und sich dann hastig die griff, nach der er gesucht hatte. Er hatte sich vorher natürlich ausgiebig informiert; nicht, dass das Kondom nachher nicht passte. Schon allein der Gedanke daran war Toni unglaublich unangenehm.

Wie üblich, wenn der Andrang am größten war, hatte nur eine Kasse auf und Toni reihte sich aufseufzend in die lange Schlange ein. Er hätte gerne weniger Zeugen gehabt und zog es vor, die Kondompackung lieber unter der Jacke zu lassen, unter der sie die ganze Zeit gesteckt hatte, anstatt sie aufs Band zu legen. Als er beim Kassierer angekommen war, hielt er ihm rasch die Packung hin und gottseidank konnte der Barcode gleich gescannt werden und der Kassierer war so nett, Toni die Packung gleich wieder in die Hand zu drücken. Das dämliche Grinsen auf seinem Gesicht hätte er sich aber sparen können. Toni war immer noch wütend, als er ins nächste Geschäft ging, aber wenigstens war es absolut unkompliziert, zwei Packungen weiße Kerzen zu kaufen.

Die Wohnung für sich alleine zu haben, war auch kein Problem weil seine Mutter und Peter mit Maja zu den Hofmanns, die Toni noch gut in Erinnerung hatte, von Samstag auf Sonntag zu Besuch fuhren. Dass Toni aus dem Alter, in dem man noch mitkam, wenn die Eltern zu ihren Freunden fuhren, heraus war, war allen klar- bis auf Peter. Was zwangsläufig hieß, dass das Thema zur Sprache kam, als sie donnerstags beim Abendessen saßen.

"Ich halte nichts davon, dich hier allein zu lassen, aber wenn Sonja sagt, dass du das hinkriegst, dann werd ich ihr mal glauben," sagte Peter in diesem Tonfall, der Toni immer wieder auf die Palme brachte. Er wollte auffahren, aber dann spürte er die Hand seiner Mutter auf seinem Arm, sah ihren bittenden Blick und schluckte das, was er sagen wollte, herunter.

"Ich werde schon nicht das Haus in die Luft jagen," stieß er stattdessen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und obwohl das Essen lecker und sein Teller noch ziemlich voll war, war ihm der Appetit vergangen. Er stand vom Tisch auf, ging in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Er warf sich aufs Bett und erwartete, dass gleich Peter hereingestürmt kam, denn einfach vom Tisch aufzustehen war etwas, das er absolut nicht leiden konnte. Aber er kam nicht und Toni ging davon aus, dass seine Mutter auch hier interveniert hatte. Da sie schon seit Jahren versuchte, zwischen Toni und Peter Harmonie zu schaffen kannte sie inzwischen alle Stolperfallen.

Toni blieb wo er war, auch, wenn er noch ziemlichen Hunger hatte, aber zurückgehen und einfach weiteressen kam nicht in Frage. Stattdessen las er noch eine halbe Stunde in seinem Buch, um dann aufzustehen, in die Küche zu gehen, wo niemand mehr war, und sich dort einen ziemlich vollen Teller Essen in der Mikrowelle warmzumachen. Dann setzte er sich demonstrativ auf Peters Platz und begann zu essen.

Bis jetzt hatten sie noch nicht zusammen übernachtet und als Toni Lydia einlud, von Samstag auf Sonntag bei ihm zu bleiben, da war es wieder einmal nicht schwer für sie, seine Absichten zu erkennen. Sie lächelte ihn schelmisch an und gab ihm einen sanften Stups. "Aber gerne," sagte sie.

Und so war Toni um kurz vor sechs eifrig damit beschäftigt, die Rolladen herunterzulassen, alle gekauften Kerzen stimmig in seinem Zimmer zu verteilen, anzuzünden und sich davon zu überzeugen, dass sie nicht Gefahr liefen, irgendetwas in Brand zu setzen. Dann machte er die Musik an, die laut einer Internetseite am besten für das Szenario geeignet war, das er gleich hinaufbeschwören wollte. Denn warum noch warten? Sobald Lydia sein Zimmer betreten hatte, konnte es doch gleich losgehen.

Wie üblich kam sie ein paar Minuten zu spät und schon als sie die Treppe zur Wohnung hochstieg konnte Toni an ihrem Gesicht sehen, dass sie schon total auf das eingestimmt war, was gleich passieren würde. Was er aber irgendwie überhaupt nicht war. Er atmete einmal tief ein und versuchte sich innerlich fallen zu lassen und nicht mehr so verkrampft zu sein.

Sie begrüßten sich kurz und nachdem Lydia ihre Jacke ausgezogen hatte, ergriff Toni sie sanft am Arm und führte sie in sein Zimmer.

"Wahnsinn," sagte sie, als sie die ganzen Kerzen sah und dann waren weite Worte überflüssig; sie wussten ja, dass sie beide das Gleiche wollten. Toni zog sich an sich und sie küssten sich, erst langsam, dann wurde es heftiger. Toni drückte sie an sich und streichelte mit seinen Händen unbeholfen über ihren Pullover. Er spürte ihre Brüste unter seinen Fingern und erwartete jede Sekunde, dass die Erregung heiß durch seinen Körper schoß und es sich genau so anfühlte, wie bei Gregor damals.

Aber anscheinend war es nicht genug, Lydia durch ihr Oberteil zu streicheln, denn in Toni passierte gar nichts. Und weiterzugehen traute er sich irgendwie nicht. Praktischerweise war Lydia aber wohl durch die Pullover-Sache  davon ausgegangen, dass sie hier erst mal die ganze Arbeit machen musste bis Toni aufgetaut war. Drei Wochen Wartezeit waren anscheinend auch zuviel für sie gewesen, denn sie zog sich hastig den Pulli und das Unterhemd aus und während Toni noch versuchte, sich an den Anblick der halbnackten Lydia im BH vor sich zu gewöhnen, begann sie schon, ihm das Hemd aufzuknöpfen. Als sie es ihm über die Schultern zog, war Toni klar, dass er hier wie zur Salzsäule erstarrt herumstand, was doch so nicht sein sollte.

Er legte die Hände auf ihre Hüften und zog sie an sich, während er sie wieder küsste, aber die Zeit fürs Küssen war wohl vorbei, denn Lydia wandte den Kopf ab, nahm ihn an der Hand und zog ihn zum Bett. Sie setzte sich auf die Matratze und zog ihn mit sich. Dann sah sie ihn mit großen Augen an und Toni merkte, dass sie auf etwas wartete, aber da er nicht wusste, auf was, starrte er nur zurück, bis sie schließlich anfing zu grinsen. "Wenn du Schiss hast, dass du es nicht hinkriegst, kann ich den BH auch für dich aufmachen."

Toni spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. "J...ja, wäre gut, wenn du das machen würdest," stammelte er und sie lachte wieder. "Ach man, es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Das wird schon alles super werden. Vorallem, nachdem du dir solche Mühe gegeben hast, mit den Kerzen und der Musik. Das ist so süß von dir." Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn einmal zärtlich. Danach griff sie auf ihren Rücken, öffnete die Häkchen und warf den BH achtlos auf den Boden. Sie presste sie sich wieder gegen Tonis nackten Oberkörper, küsste seinen Hals, seine Schultern und ging tiefer, was sich dann auch wirklich richtig gut anfühlte.

Toni schloß die Augen und versuchte wieder, sich fallen zu lassen und das alles endlich so zu genießen, wie er es genießen sollte. Er ließ sich auf die Matratze sinken während Lydia ihn weiter küsste und streichelte. Bis sie schließlich abrupt aufhörte. Toni öffnete die Augen. Sie saß rittlings auf ihm und blickte grinsend zu ihm herab. "Du meinst also, ich mach die ganze Arbeit und du kannst hier nur faul rumliegen?" tadelte sie ihn spielerisch und drohte ihm neckend mit dem Zeigefinger.

"Nein, natürlich nicht," erwiderte Toni schnell, wobei er wieder rot wurde.

Sie nahm seine Hände und legte sie auf ihre Brüste. "Na dann fang mal an," hauchte sie.

Sie streichelte ihn und es fühlte sich gut an, als würde er jetzt das gleiche bei ihr machen. Toni streichelte mit beiden Daumen da, wo sie lagen und das war genau richtig, denn Lydia schloß die Augen und seufzte einmal leise.

Wenn schon der Anblick ihres halbnackten Körpers enttäuschenderweise kaum etwas in Toni auslöste, zu sehen, dass ihr gefiel, was er tat, fühlte sich gut an. Also streichelte Toni sie weiter, wobei er langsam die Scheu davor verlor, sie anzufassen und konzentrierte sich ganz auf sie, anstatt auf sich und das, was fehlte.

Unglücklicherweise war das, was fehlte, aber ein wichtiger Bestandteil des ganzen Prozesses und als Lydia schließlich genug vom Streicheln hatte und Toni die Hose ausziehen wollte, erkannte sie das auch. Sofort ließ sie von ihrem Tun hab und sah Toni entsetzt an. "Verdammt," sagte sie mit zitternder Stimme. "Ich wusste es." Sie vergrub das Gesicht in den Händen, Toni richtete sich erschrockend und mit rasendem Herzen auf und nahm sie in die Arme. Während er sie festhielt und sanft "Was ist los? Was wusstest du?" fragte, da verfluchte er seinen Körper und sein Gehirn, weil sie einfach nicht in der Lage waren, das zu tun, was jetzt nötig war.

Lydia umarmte ihn. "Es tut mir so Leid," sagte sie mit dumpfer Stimme. "Ich hätte nicht so voreilig sein dürfen. Schließlich ist das hier dein erstes Mal und ich lass dir gar keine Zeit, dich zurecht zu finden sondern leg einfach los." Sie schniefte einmal. "Aber grade nach der Sache letztens hätte ich wissen müssen, dass das so nicht läuft. Schließlich bist du ja total anders als die anderen Typen, die ich kenn."

Grade der letzte Satz traf Toni ziemlich, schließlich wollte er ja nicht anders sein, als die anderen Typen sondern ganz genau so. Er schluckte den Kloß im Hals runter und erwiderte mit rauer Stimme: "Nein, es ist doch alles total in Ordnung, wirklich! Wenn das so okay für dich ist, dann ist es auch okay für mich. Lass uns einfach weitermachen!"

Sie streichelte seine Schulter. "Das ist so lieb von dir, aber das möchte ich nicht!" Sie stand von ihm auf und zog ihren BH und ihr Unterhemd wieder an.

Toni sah ihr dabei zu und er wusste, dass er nicht dazu in der Lage, war, sie dazu zu bewegen, da wieder anzufangen, wo sie aufgehört hatte. Er ließ sich schwer zurück aufs Bett fallen, fuhr sich durchs Gesicht und seufzte tief. Einen Moment später legte Lydia sich neben ihn und kuschelte sich an ihn. Er legte den Arm um sie und so lagen sie eine Weile im Kerzenlicht, schwiegen und hörten der Musik zu. Toni war zwar immer noch furchtbar wütend auf sich selber, aber da er wusste, dass diese Runde verloren war, versuchte er, den Ärger loszuwerden und sich zu entspannen.

Denn hier mit Lydia zu liegen und bloß zu kuscheln war zwar nicht das, was er wollte, aber es fühlte sich trotzdem sehr gut an. Und da sie beide nur halb angezogen waren, war es vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung. Er musste eben einfach nur Geduld mit sich selbst haben.

Sie lagen noch auf Tonis Bett, bis die Kerze auf dem Nachttisch heruntergebrannt war. Dann standen wie wie auf Kommando gleichzeitig auf. Zum Schlafen war es zu früh und noch rauszugehen wollten sie beide nicht. Also entschieden sie sich dafür, ins Wohnzimmer zu gehen und zu schauen, ob im Fernsehen irgendwo noch ein guter Film lief.

Toni schaltete das Licht an und sah dann Lydia dabei zu, wie sie auch noch die restlichen Kerzen ausblies.
Danach kam sie zu ihm hin und strahlte ihn an. "Das war so eine süße Idee. Danke nochmal." Sie umarmte ihn und küsste ihn einmal liebevoll.

Toni erwiderte den Kuss, aber ihre gute Laune konnte er absolut nicht teilen. Eher im Gegenteil. Der Gedanke, der größte Versager auf der Welt zu sein war wieder da und sorgte für ein dumpfes Gefühl im Magen und dass Lydia das, was vorhin passiert war, so völlig gelassen hinnahm, trug auch absolut nichts dazu bei, dass es besser wurde. Er starrte auf ihren Hinterkopf, während sie vor ihm her über den Flur zum Wohnzimmer ging und fragte sich, wieso sie nicht zumindest ein bisschen enttäuscht war. So, wie sie es vorhin kaum hatte erwartet können, endlich loszulegen, hätte sie es doch eigentlich sein müssen, oder?

Toni fühlte sich plötzlich, als sei er gegen ein unsichtbares Hindernis gelaufen, als ihm klar wurde, dass Lydia deswegen nicht enttäuscht war, weil sie damit gerechnet hatte, dass sowas passierte.  Und hätte er sich damals nicht so doof angestellt, als sie ihm unter den Pullover gegriffen hatte, dann hätte sie bestimmt nicht gleich aufgehört und behauptet, er bräuchte noch Zeit. Nein, sie hätte sicher einfach weitergemacht und irgendwann wäre Toni dann auch bereit gewesen, ganz sicher. Er wollte es doch schließlich und sein Körper hatte dem gefälligst nachzukommen!

Er wusste nicht, ob er grade wütender auf Lydia oder auf sich selbst sein sollte, aber er ließ sich natürlich nichts anmerken und nahm sie fest in den Arm, nachdem sie im Fernsehen einen Film gefunden hatten und eng zusammen auf der Couch saßen.

Der Film hatte schon angefangen, was nicht schlimm war, denn sie hatten ihn beide schon einmal gesehen. Eigentlich die Gelegenheit, jetzt ein wenig zu knutschen und rumzumachen. Aber Toni, der sich auf einmal total erschöpft fühlte, hatte gar keine Lust, es zu tun oder überhaupt darüber nachzudenken. Natürlich konnte er jetzt noch weiterhin wütend auf sich selbst oder Lydia oder das Schicksal sein, aber stattdessen versuchte er mit dem Gedanken, dass es heute einfach nicht hatte sein sollen, erneut, das Kapitel für dieses Mal zu schließen und begnügte sich damit, Lydia einfach nur hin und wieder über den Arm zu streicheln.

Auch, als sie sich nachher in seinem Zimmer vor ihm auszog und in den mitgebrachten Pyjama schlüpfte, warf er ihr nur einen kurzen Blick zu, ohne weiter darüber nachzudenken. Als sie nebeneiander in seinem Bett lagen, schlang er den Arm um sie und zog sie fest an sich. Sie seufzte zufrieden und es dauerte nicht lange, bis Toni ihre tiefen gleichmäßigen Atemzüge hörte. Bei ihm selbst dauerte es noch ein wenig, bis er selbst einschlief. Aber nicht, weil er wieder düsteren Gedanken nachhing, denn die hatte er erfolgreich verscheuchen können. Es war einfach nur ungewohnt, mit Lydia in einem Bett zu schlafen.

Auch am Sonntag passierte gar nichts mehr, vorallem deswegen, weil Toni nicht genau wusste, wann Peter und seine Mutter wiederkamen und die Aussicht, von ihnen erwischt zu werden, tötete jegliches eventuell vorhandenes Verlangen in ihm ab. Auch Lydia machte keine Anstalten, es noch einmal zu versuchen und so frühstückten sie nur zusammen und dann ging sie.

In weiser Voraussicht hatte Toni keinen von seinen Freunden in das, was an dem Wochenende eigentlich hätte passieren sollen, eingeweiht, sodass auch niemand irgendwelche Witzchen über ihn reißen konnte. Sein Ego war definitiv schon genug angeschlagen, um diesmal dadrüber zu stehen. Dann schon lieber die Jungfrauen-Späßchen.

Sein erstes Mal mit Lydia war natürlich nur aufgeschoben und nicht aufgehoben und Toni hätte es am liebsten eher heute als morgen noch einmal probiert, aber Lydia schrieb in dieser Woche zwei Klausuren und musste nach der Arbeit noch lernen, wofür Toni natürlich vollstes Verständnis hatte. Und außerdem wollte er ja nicht, dass es mal eben so nebenbei passierte und eine Gelegenheit wie letztes Wochenende würde es erst einmal nicht mehr geben.

Nicht nur, dass er die Wohnung überhaupt selten länger für sich alleine hatte, sondern auch, weil er eine Kerze beim Aufräumen übersehen hatte, die Peter aber selbstverständlich sofort aufgefallen war. Zuerst war Toni starr vor Schreck gewesen und hatte sich auf eine Menge peinlicher Fragen eingestellt, aber stattdessen regte sich Peter nur darüber auf, dass er überhaupt Kerzen angezündet hatte, das Warum war ihm dabei völlig egal. Als er dann in seiner oberlehrerhaften Art erklärte, dass er nicht wollte, dass Toni ,mit Feuer spielte' brachte er ihn mit dieser  Formulierung vollends auf die Palme und sie hatten einen heftigen Streit.

Und seine Mutter stellte auch keine Frage nach dem Warum, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war, zwischen ihnen zu vermitteln. Das Ganze endete schließlich damit, dass Toni  in sein Zimmer ging und die Tür zuknallte.

Damit war sein Schicksal dann natürlich besiegelt, vermutlich würde Peter in seiner Paranoia am Wochenende nie mehr weggehen sondern die ganze Zeit auf der Couch hocken und aufpassen, dass Toni nicht die Wohnung zerstörte.

Und er wollte auch nicht Lydia fragen, wann denn bei ihnen mal keiner zuhause war, denn er fand, dass es ganz alleine seine Sache war, sich darum zu kümmern, dass sie einen geeigneten Ort fanden.

Er rief bei einigen Hotels an und erkundigte sich, ob er ein Zimmer buchen konnte, auch, wenn er noch nicht achtzehn war, aber immer bekam er die Antwort, dass er zwar das Zimmer buchen, das Hotel aber dann die Kontaktdaten von seinen Erziehugsberechtigten haben wollte, falls etwas schief ging. Das Risiko war Toni viel zu hoch, weswegen diese Lösung schon einmal wegfiel. Die ganze Sache nach draußen zu verlegen war auch keine gute Idee, das Wetter war viel zu unbeständig und es wurde auch immer kälter.

Das Ende der Woche nahte und Toni spürte ziemlichen Druck, da ihm immer noch nichts eingefallen war. Max hätte sicher eine Idee gehabt, aber nie im Leben hätte Toni ihn oder irgendjemand anderen danach gefragt.

"Jungs, wenn ihr am Wochenende was geplant habt, dann sagt das jetzt sofort ab!" brüllte Marc schon von Weitem, als er am Freitagmorgen kurz vor Unterrichtsbeginn auf Toni und die anderen zukam, die vorher schweigend auf dem Schulhof zusammengestanden hatten.

Marc klatschte einmal strahlend in die Hände, als er bei ihnen angekommen war. "Linus macht am Samstag 'ne fette Party in seinem riesigen Haus und die ganze Stufe ist eingeladen!"

Damit hatte er sie alle aus dem Zustand der Dösigkeit gerissen, in der sie sich vor seiner Ankunft befunden hatten. "Alter!" rief Max und hieb Marc begeistert auf die Schulter. "Das ist doch mal ne geile Ansage! Linus macht eindeutig die genialsten Parties, da ist immer nur die Oberklasse am Start." Er leckte sich die Lippen und Toni konnte sich lebhaft vorstellen was er grade vor seinem inneren Auge sah: ein Haufen halbnacker Mädels die auf dem Tisch tanzten.

Er musste grinsen, aber Marc riss ihn sofort wieder aus seinen Gedanken, als er mit dem Finger auf ihn zeigte und ernst sagte: "Und du, mein Freund, packst gefälligst das Grüblergesicht weg, schnappst dir deine kleine Freundin und dann kommt ihr auch! Ihr habt euch lange genug verkrochen und Pärchen gespielt! Es wird Zeit, mal wieder das Leben zu genießen!"

Toni hob beide Hände. "Ja Meister, Ihr habt mich überzeugt. Ich werde kommen und ich werde Lydia mitbringen," scherzte er, obwohl er eigentlich keine Lust auf eine Party hatte. Er wollte endlich seinen Plan in die Tat umsetzen.

Er nahm an, dass Lydia das auch wollte, sie hatte sich sicherlich schon gedacht, was Toni für dieses Wochenende geplant hatte aber als er ihr abends am Telefon von der Party erzählte, war sie sofort Feuer und Flamme. "Au ja!" rief sie begeistert. "Das ist nach der ganzen Lernerei genau das, was ich jetzt brauche! Um wieviel Uhr sollen wir da sein? Holst du mich ab?"

Den erneuten Schlag in die Magengrube versuchte Toni zu ignorierenm genau wie den Wunsch, sich selbst zu ohrfeigen, dass er ihr überhaupt von der Party erzählt hatte. Aber jetzt war zu spät, so begeistert wie Lydia gewesen war, konnte er ihr ja auch kaum sagen, dass er eigentlich keine Lust hatte, hinzugehen. Also ließ er sich nichts anmerken, als sie eine Zeit ausmachten und entschieden, dass Toni Lydia abholte.

Nachdem das Gespräch beendet war, saß Toni eine ganze Weile auf dem Schreibtischstuhl und starrte vor sich hin. Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass das Wochenende ja nicht nur aus Samstag bestand und vielleicht würde sich durch die Party ja am Sonntag irgendeine Gelegenheit ergeben. Obwohl er sich einzureden versuchte, dass alles in Ordnung war, hatte er das Gefühl, als würde ihm etwas durch die Finger gleiten. Er hob den Kopf und sah zum obersten Fach seines Bücherregals. Natürlich waren die negativen Energien dieses verfluchten Buches der Grund, wieso er dachte, es wäre jetzt alles verloren. Er ballte die Faust. Jetzt würde er das verdammte Ding wirklich wegschmeißen! Er stand auf und zog es aus dem Regal.

Ohne ihm noch einen Blick zuzuwerfen ging er in den Flur, schlüpfte in die erstbesten Schuhe, nahm seinen Schlüssel und stieg die Treppe hinunter. Unten warf er das Buch in die Altpapiertonne und knallte den Deckel zu. Dann schnaufte er einmal zufrieden. Dieser Schritt war schon lange fällig gewesen. Und dieses Wochenende würde er den nächsten schon längt fälligen gehen.

Pfeifend stieg er die Treppe wieder hoch.

Wenn Linus, der absolute Partykönig des Gymnasiums, die ganze Stufe einlud, dann kam auch die ganze Stufe und als Toni und Lydia eine halbe Stunde nachdem es offiziell angefangen hatte, eintrafen, platzte das Haus bereits aus allen Nähten und die Musik war schon von Weitem zu hören. Freudig griff Lydia nach Tonis Hand. "Das wird super!" rief sie, beschleunigte ihren Schritt und zog Toni hinter sich her.

Der hatte immer noch keine Lust auf Party und war froh, als er im Gewimmel Max gefunden hatte. Er stand an der Bar im Wohnzimmer und redete auf ein Toni unbekanntes Mädchen ein, während Sarah neben ihm nicht sehr begeistert aussah.

Toni klopfte ihm zur Begrüßung auf die Schulter, während Lydia ihn kurz umarmte und dann Toni ins Ohr schrie: "Da drüben sind Lena und Kerstin, ich werd sie mal eben begrüßen."

Toni sah ihr dabei zu, wie sie sich durch die Menge zu den Mädchen aus ihrer Berufsschule drängelte.
Er spürte eine Berührung am Arm und als er den Kopf hob stand Jonas aus seiner Klasse vor ihm. "Willste n Bier?" brüllte er und Toni nickte.

Mit der Flasche in der Hand lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Theke und ließ seinen Blick schweifen. Er sah einige bekannte Gesichter, aber niemanden, mit dem er sich unterhalten wollte und auf Tanzen hatte er auch keine Lust.

Dann machte sein Herz einen heftigen Sprung und ihm wäre fast die Flasche aus der Hand gefallen, als er in einer Ecke Oliver entdeckte. Er hatte den Arm um ein Mädchen gelegt, von dem Toni nicht mehr wusste, ob es Tatjana war, und war in eine lebhafte Unterhaltung mit den Leuten um ihn herum vertieft.

Tonis Blick saugte sich an ihm fest und wie immer, wenn er ihn sah, hörte der Rest der Welt um ihn herum auf zu existieren. Bis Max ihn heftig anstieß, weil es eine Runde Schnaps gab. Toni stürzte sein Pinnchen runter und bat Jonas dann gleich um eine neue Flasche Bier. So ging es die nächste Zeit weiter, Bier und Schnaps wechselten sich ab, während Toni seine Augen nicht von Oliver abwenden konnte. Und je beduselter er sich fühlte, desto weniger hatte er seine Gedanken unter Kontrolle. Schon allein die Vorstellung, einfach zu Oliver rüber zu gehen und ihn zu küssen jagte Toni einen heißen Schauer über den Rücken.

Seine freie Hand krampfte sich um den Rand der Theke während er die Fantasie weiterspann, denn natürlich würde es nicht beim Küssen bleiben, er würde Oliver ausziehen und überall anfassen und streicheln. Und dann hätten sie Sex, wie die Kerle in den nich jugendfreien Filmen und es wäre einfach nur geil.

Toni war inzwischen innerlich so angespannt, dass er am liebsten wirklich zu Oliver rübergegangen und seine Fantasie in die Tat umgesetzt hatte. Aber sein Verstand arbeitet noch soweit, dass er wusste, dass das völlig unmöglich war. Aber er konnte diese Energie für etwas anderes, für etwas Besseres nutzen.
Er stieß sich von der Theke ab und ging mit schnellem Schritt zu Lydia rüber, die immer noch bei ihren Mitschülerinnen stand. Er griff sie sanft am Arm und sagte dicht an ihrem Ohr: "Kannst du mal mitkommen? Es ist wichtig!"

Das Haus war groß, igendwo würde sich sicher noch ein freies Zimmer finden. Lydia folgte ihm bereitwillig ohne Fragen zu stellen, als Toni die Treppe zum ersten Stock hochstieg. Da war es allerdings ziemlich voll, auf dem Flur standen lauter Leute, ein paar Zimmertüren waren geöffnet und es brannte überall Licht. Toni hatte inzwischen alle Gedanken an einen romantischen Ort über Bord geworfen, aber vor den ganzen Leuten Hand in Hand mit Lydia über den Flur zu gehen und nach einem freien Zimmer zu suchen ging absolut nicht.

Also stiegen sie die nächste Treppe hoch und hier war anscheinend gar keiner, denn es war alles dunkel. Sie öffneten die erstbeste Tür, es war ein kleines Zimmer, aber es stand ein Bett darin und im Schloß steckte ein Schlüssel und mehr brauchten sie ja gar nicht. Sie schloßen die Tür ab, Lydia warf ihre Umhängetasche in die Ecke und dann rissen sie sich die Klamotten vom Leib. Toni versuchte gar nicht mehr, nicht an Oliver zu denken. Wenn es nur so funktionierte, dann war das eben so. Also zog er Oliver aus anstatt Lydia, küsste ihn anstatt sie heftig und überall und hatte anschließend Sex mit ihm und nicht mit ihr. Das Einzige, was zählte war, dass er es endlich geschafft hatte.

Nachher lagen sie schweratmend nebeneinander auf dem Bett, das wer weiß wem gehörte, in der Dunkelheit. Irgendwann seufzte Lydia einmal tief. "Okay, das war jetzt nicht so, wie ichs erwartet hatte, aber es auf ner Party in nem fremden Bett zu tun war irgendwie heiß!"

"Ja, find ich auch," erwiderte Toni und legte den Arm um sie, als sie sich an seine Brust kuschelte. "Und es endlich mit dir zu tun war besonders heiß," flüsterte Lydia.

"Ja, das war alles total heiß," erwiderte Toni und grinste breit.

In den nächsten Tagen fühlte Toni sich wie der König der Welt. Nicht nur, weil er endlich Sex mit Lydia gehabt hatte, sondern auch, weil die Art und Weise, wie es passierte  ihm auch einiges an Anerkennung bei seinen Freunden verschafft hatte.

Sogar von Max, der sonst sehr schwer zu beeindrucken war. Nachdem Toni ihm die Geschichte mit dem breiten Grinsen, das er seit Samstag nicht mehr aus dem Gesicht bekam, noch auf der Party erzählt und sie dann vielleicht auch ein bisschen ausgeschmückt hatte, starrte der ihn erst schweigend und mit großen Augen an, um ihm danach anerkennend auf den Rücken zu klopfen. "Alter, Respekt! Sowas hab ich dir echt nicht zugetraut! Sogar ich hab sowas noch nicht hinbekommen. Scheint so, als müsste ich das dringend nachholen, kann ja nicht angehen, dass du mich da übertrumpfst!" Dann schüttelte er lachend den Kopf und schnalzte mit der Zunge. "Man, man, man, wer hätte das von unserer kleinen Lydia gedacht?! Ich glaub, Sarah würd ich zu sowas nie bekommen."

"Na, dann streng dich mal an, du Nulpe," erwiderte Toni feixend und Max versetzte ihm einen derben Schlag gegen die Schulter. "Pass bloß auf!" erwiderte er gespielt ernst und dann lachten sie beide laut.

Toni fühlte sich großartig und wen störte da schon die Tatsache, dass er während er mit Lydia geschlafen hatte, die ganze Zeit an Oliver gedacht hatte? Das war doch nur eine völlig unbedeutende Kleinigkeit, die niemanden etwas anging und die auch nie irgendjemand herausfinden würde!

Sex war jetzt absolut kein Problem mehr, sie hatte am Sonntag gleich wieder welchen- im Schrebergartenhäuschen von einer von Lydias Freundinnen, das sie ihnen mit einem Augenzwinkern angeboten hatte, nachdem Lydia die richtigen Anspielungen gemacht hatte. Auch das Häuschen war absolut unromantisch mit seinen Eichenmöbeln, den Säcken Blumenerde in einer Ecke und irgendwelchem Krimskrams in der anderen und es war auch so kalt, dass sie sich nur das Nötigste auszogen, aber wichtig war bloß, dass Toni jetzt wusste, wie es ging und er sich kein bisschen unbeholfen mehr fühlte. Weder beim Küssen, noch beim Rummachen, noch beim Sex, es klappte alles, wie es sollte.

Dass eigentlich immer Gedanken an Oliver, Alkohol oder auch beides gleichzeitig beteiligt waren, wenn es mit Lydia körperlich wurde, war auch völlig egal. Toni fühlte sich bestens, weil er endlich ganz auf dem Weg der Normalen angekommen war und nur das zählte!

Sogar Peter mit seinen furchtbaren Anwandlungen konnte ihm die gute Laune erst einmal nicht verderben.

Aber unglücklicherweise folgt auf jedes noch so hohe Hoch ein ebensolches Tief. Das hatte Toni schon mehrfach erfahren dürfen und auch jetzt machte das Schicksal da keine Ausnahme. Irgendwann fühlte es sich nicht mehr außergewöhnlich sondern nur noch gewöhnlich an, mit Lydia zu schlafen. Es löste in Toni keine Hochstimmung mehr aus, sondern wurde Routine. Und ohne die ständige Euphorie reichten auch die Sachen, die ihn aufregten und runterzogen wieder an ihn heran. Wie eine schlechte Note in einer Klassenarbeit, bei der Toni die Bewertung der Aufgaben mehr als ungerecht vorkam, aber er wusste, dass er keine Chance hatte, mit dem Lehrer darüber zu diskutieren. Oder dass er zuhause bleiben und auf Maja aufpassen musste, weil seine Mutter und Peter unbedingt an einem Samstagabend in einem neueröffneten Restaurant essen mussten und dazu Peters mit gefühlt erhobenem Zeigefinger vorgebrachter ,Hinweis', dass Toni ja nicht auf den Gedanken kommten sollte, Kerzen anzuzünden.

Auf der einen Seite war es gut, dass es so war, denn ob bei Max, Marc, Jan oder Stefan, irgendwann waren alle Beziehungen aus dem Stadium des Besonderen herausgetreten und wurden zum Alltag, Toni lag also absolut im normalen Bereich.

Das war dann immer die Zeit, in der er sich detailliert anhören durfte, was die anderen an ihren Freundinnen so furchtbar nervte. Meistens dauerte es danach nicht lange, bis die Beziehung beendet wurde und der ganze Kreislauf von vorne losging. Es gab natürlich auch Dinge, die Toni an Lydia störten, besonders furchtbar fand er, dass sie immer leise den Text mitsprach, wenn sie den Film oder die Folge einer Serie schon kannte. Und sie hatte Toni auch schon öfters darauf hingewiesen, wie wenig begeistert sie davon war, dass er, wenn er sich aufregte, stundenlang nur über den Grund dafür reden konnte. Aber das waren alles Sachen, die sie schon am Anderen gestört hatten, als sie nur befreundet gewesen waren und ansonsten waren keine neuen Dinge hinzugekommen.

Sie hatten auch schon fleißig Pläne für die anstehenden Herbstferien gemacht und Toni hatte tagelang an
der Rede gefeilt, die er am Tisch beim Abendessen halten und in der er klipp und klar machen würde, dass er und Lydia für mindestens eine Woche irgendwohin in den Urlaub fahren würden. Sie wussten zwar noch nicht wohin, aber das war ja auch egal. Wichtig war nur, erst einmal zu zeigen, dass ihn nichts und niemand und vor allen Dingen nicht Peter davon abbringen würde!

Er wartete, bis sich jeder den Teller aufgefüllt hatte, dann öffnete er den Mund, aber seine Mutter war den Bruchteil einer Sekunde schneller. "Schatz, wir haben entschieden, dass wir in den Ferien in der ersten Woche zu Nadja und Thorsten fahren wollen. Wir werden uns ein Hotelzimmer nehmen, die sind ja endlich fertig mit den Renovierungen, und du könntest wieder bei Nadja in dem Gästezimmer schlafen. Sie würden sich alle sehr freuen, dich mal wiederzusehen." Als Toni die Stirn runzelte, weil das absolut nicht in seinen Plan passte, fügte sie noch schnell hinzu: "Natürlich brauchst du nicht mitzukommen, wenn du nicht willst!"

"Moment mal!" mischte sich Peter ein und legte die Gabel so heftig auf den Teller, dass es klirrte. "So war das aber nicht besprochen, Sonja!" rief er vorwurfsvoll. "Selbstverständlich kommt Toni mit! Heute haben wir noch Angst, dass er irgendwann die Wohnung in Brand setzt und morgen soll er dann eine ganze Woche alleine bleiben?! Kommt gar nicht in Frage!"

Toni wollte auffahren, aber seine Mutter legte ihm mit Nachdruck die Hand auf den Arm und zwang ihn zurück auf seinen Stuhl.

"Die Diskussion hatten wir doch jetzt schon mehrfach und wir waren uns doch einig, das Thema endlich fallen zu lassen, da ja nichts passiert ist!" sagte sie mit ruhiger Stimme und drückte liebevoll Tonis Arm.
Peter nahm seine fallengelassene Gabel wieder auf und fuchtelte damit in der Gegend herum, als er erwiderte: "Das hast du entschieden! Ich kann das nämlich definitiv nicht so locker sehen wie du!Außerdem tut es Toni mehr als gut, endlich man in die Natur zu kommen und nicht dauernd nur vor dem Fernseher zu sitzen! Und sicher haben sie, jetzt, wo sie mit dem Umbau endlich fertig sind, ein paar Angebote für die Besucher entwickelt, sowas wie Naturlehrpfade vielleicht. Dann hängt er wenigstens mal eine Woche nicht sinnlos herum sondern verbringt seine Zeit mit etwas Lehrreichem!"

Jetzt hielt es Toni nicht mehr aus. "´Warum steckt ihr mich nicht gleich in ein Kinderferiencamp, wo ich Fingerfarbenbilder malen kann und kleine Männchen aus Kastanien bastel!" brüllte er zornentbrannt und sprang so hastig auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und mit einem lauten Knall auf den Fliesen aufschlug. Maja, die die ganze Zeit zufrieden an ihrem Lieblingslöffel geluscht hatte, ließ ihn fallen, verzog weinerlich das Gesicht und schrie dann lauthals los, während Toni in sein Zimmer stürmte und die Tür zuknallte.

Er war so wütend, dass er sich das Erstbeste griff, das ihm unter die Augen kam, und es gegen die nächste Wand pfefferte. Es war sein offenes Schuletui gewesen, das seinen Inhalt jetzt über den ganzen Boden verteilte und Toni konnte sich jetzt einfach nicht weiter seiner Wut hingeben, wenn überall Stifte herumlagen. Also kroch er auf dem Boden herum und sammelte sie ein und er hatte schon fast die Hälfte geschafft, als es leise an seiner Tür klopfte. Das war natürlich seine Mutter, die mal wieder vermitteln wollte. Etwas, worauf Toni jetzt absolut keine Lust hatte. Ohne aufzuzstehen oder sich der Tür zuzuwenden, sagte er über die Schulter "Komm rein", und sammelte weiter.

Seine Mutter tat ins Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich. "Ich weiß, es ist nicht so einfach!" fing sie an und Toni lachte einmal sarkastisch auf. "Oh, wirklich?!" erwiderte er, während er nach einem Stift griff.
"Natürlich ist es nicht einfach, wenn er sich einbildet, er könnte einfach über mein Leben entscheiden, als sei er mein Vater!"

Es blieb eine Sekunde still, dann sagte seine Mutter. "Aber Schatz, er ist doch dein Vater!"

Jetzt drehte Toni sich zu ihr um und hob die Augenbrauen. "Ach ja?"

"Ach ja!" Seine Mutter verschränkte die Arme vor der Brust. "Denn wer sollte sonst dein Vater sein? Etwa der Hurensohn, der uns damals sitzen gelassen hat?! Und der dann keinen Unterhalt zahlen wollte und dem es damit egal war, ob wir nichts zu Essen haben oder auf der Straße sitzen?! Wäre dir so ein Vater lieber?!"

Toni stand auf. "Auf der Straße zu sitzen und nichts zu Essen zu haben ist ja wohl ziemlich übertrieben! Und ja, grade wäre mir so ein Vater viel viel lieber! Der mischt sich wenigstens nicht in mein Leben ein und behandelt mich, als wäre ich genau so alt wie Maja! Oder denkt, ich fackle das Haus ab, nur, weil ich mal ne Kerze anzünde!"

"Ich sage ja gar nicht, dass er der Vater des Jahres werden wird," erwiderte seine Mutter. "Und dass er noch Einiges zu lernen hat, das streite ich ja auch gar nicht ab. Aber du kennst ihn seit deinem sechsten Lebensjahr, er hat dich mit großgezogen und wenn er so reagiert wie grade, dann nur, weil er sich eben Sorgen um dich macht. Er will, dass du gesund bleibst, dass du einen guten Abschluss bekommst und dann einen guten Beruf ergreifst und ein schönes Leben führen kannst. Aber er ist halt auch ein Mensch mit Fehlern und einer ist eben, dass er das nicht anders zeigen kann, als dich wie ein Kind zu behandeln, auf das man ständig aufpassen muss, damit ihm nichts passiert. Und dass du immer so ausrastet trägt auch nicht unbedingt dazu bei, seine Sichtweise zu ändern." Sie schmunzelte einmal aber Toni war absolut nicht zum Schmunzeln zumute und er wandte sich ab.

Seine Mutter machte einen großen Schritt auf ihn zu schloß ihre Hände um seine Oberarme. "Pass auf, versuch doch einfach beim nächsten Mal ganz ruhig zu bleiben, auch, wenn er ausrastet. Du wirst sehen, das wird dann alles ganz anders laufen. Und wenn du auch weiterhin ruhig bleibst, dann wird auch er irgendwann ruhiger werden und erkennen, dass du kein Kind mehr bist!"

"Hm," machte Toni nur. Das überzeugte ihn absolut nicht.

Sie drückte seine Arme. "Du musst wissen was du tust, ich kann dir nur einen Rat geben. Und es wäre mir wirklich lieb, wenn du mit zu Nadja kommen würdest. Es ist ja nur die eine Woche, du hast dann ja noch die zweite ganz für dich."

"Lydia und ich wollten eigentlich in Urlaub fahren," erwiderte Toni.

"Das könnt ihr ja auch in der zweiten Woche. Und ich werde dann ein gutes Wort bei Peter für dich einlegen!" versprach seine Mutter. "Aber komm doch die eine Woche mit. Wir haben schon lange nichts mehr als Familie gemacht und damals in den Sommerferien hat es dir doch richtig gut gefallen."

Toni sah in ihr bittendes Gesicht und konnte nicht anders, als weich zu werden. Er wusste ja, dass seine Mutter es absolut nicht einfach hatte zwischen den Fronten, die sich nur noch mehr verhärten würden, wenn Toni weiter darauf bestand, hierzubleiben. "Also gut," sagte er. "Aber keine ganze Woche, nur fünf Tage und wir fahren entweder Freitagabend oder Samstagmorgen gleich wieder zurück! Und ich werde keine Gruppenwanderungen oder irgendwelche Ausflüge mitmachen!"

"Natürlich nicht!" versicherte seine Mutter. "Und fünf Tage sind ein Kompromiss, da kann Peter absolut nichts gegen sagen! Ach, schön das du mitkommst!" Sie umarmte Toni einmal kurz und drückte ihn fest an sich.

Nachdem sie aus dem Zimmer war, griff Toni nach seinem Handy und rief Lydia an, um ihr von dem veränderten Plan zu erzählen. Natürlich hatte sie Verständnis dafür. "Manche Dinge muss man eben machen, ob man will oder nicht," meinte sie. "Und dass deine Mutter dich danach eine Woche wegfahren lässt ist super! Ich hab gedacht, wir könnten vielleicht zelten gehen."

"Ist das nicht viel zu kalt?" fragte Toni, obwohl er eigentlich nichts gegen Zelten einzuwenden hatte. Lydia beeilte sich zu erklären, dass es mit der richtigen Ausrüstung nicht kalt werden würde und sie redeten noch eine Weile darüber, wo sie die ganzen Sache, die zum Zelten nötig waren, herbekommen sollten. Einige Sachen hatte Lydia selber, wie ein Zelt und Schlafsäcke, da sie früher mit ihrer Familie immer zelten gegangen war. Alles andere könnte man sich irgendwie zusammenschnorren, was dann auch nicht ganz so teuer werden würde.

Wo sie zelten fahren wollten, konnten sie nicht mehr besprechen, denn Lydia musste zum Abendessen und Toni hatte noch ein paar fiese Mathehausaufgaben, die auf ihn warteten. Also verschoben sie die Frage erst mal noch.

Gregor fiel Toni erst wieder ein, als er im Bett lag und eigentlich schlafen wollte. Aber er hatte keine Chance, denn mit einem Schlag war er da und drängte sich unbarmherzig in seine Gedanken. Einschlafen war also erst einmal nicht mehr.

Es überraschte Toni, dass Gregor erst jetzt auftauchte und nicht schon, als seine Mutter Nadja und die Sommerferien erwähnt hatte und ihm fiel auf, dass er schon länger nicht mehr an ihn gedacht hatte. Und warum sollte er das auch tun? Die peinlichen Sachen, die er damals gemacht hatte, waren schon längst ausgemerzt worden. Er war jetzt mit Lydia zusammen und so normal wie alle anderen. Aber er hatte absolut keine Lust, Gregor in der einen Woche zu begegnen, denn der konnte sich sicher auch noch an alles erinnern und wer weiß, wie er jetzt drauf war.

Toni würde ihm aus dem Weg gehen und sollten sie doch einmal aufeinandertreffen, dann würde er einfach über allem drüber stehen und sich damit selbst noch einmal zu zeigen, dass bei ihm jetzt alles richtig lief.

Toni war natürlich klar, dass er seine Zusage bereuen würde, allerdings hatte er damit gerechnet, dass das Bereuen erst anfing, wenn sie bei der Burg angekommen waren. Aber es begann schon, als er seine Tasche packte und neben ein paar Klamotten auch noch einige Bücher mit hineinwarf. Kamilla würde immer noch die stille Langweilerin und die Burg nach wie vor öde sein und in der Pampa liegen. Was sollten er da also groß machen außer lesen? Und natürlich auf Maja aufpassen, denn seine Mutter wollte sich ja auch mal entspannen. Und wenn er nicht auf seine Schwester aufpassen musste, dann würden sicher Unternehmungen als Familie auf dem Plan stehen, schließlich hatte seine Mutter diesen Urlaub zum Familienurlaub erklärt. Also würde Toni die ganze Woche eng mit Peter zusammenhocken und dass dabei nichts Gutes herauskommen würde, war klar.

Toni starrte auf den durcheinandergewürfelten Kram in seiner Tasche und seufzte einmal tief. Je mehr er sich in seine düsteren Prognosen verstrickte, desto mehr verlor er aus den Augen, dass es auch Vorteile hatte, dass er mitfuhr. Seine Mutter war glücklich, etwas, das ihm am Herzen lag. Genau wie die Meinung, die sie von ihm hatte und mit der er nicht zufrieden war. Denn sie hatte zwar akzeptiert, dass Lydia und er ein Paar waren, aber Toni merkte deutlich, dass er sie noch nicht ganz überzeugt hatte. Und das war ein weiterer Vorteil dieser Reise: er würde ihr endlich beweisen können, dass er genau so war, wie alle anderen, in dem er weder mit Gregor sprach, noch sah noch irgendwelche Sachen mit ihm unternahm,.  

Wenn er also das nächste Mal an seiner geistigen Gesundheit zweifelte, weil er eine Woche Zelten mit Lydia für einen Urlaub verschoben hatte, in dem er ständig auf Peters Radar sein würde, dann würde er einfach an diese Vorteile denken, dann würde er sich sicher besser fühlen. Außerdem  musste er ja auch nur noch bis Ende März warten. Dann wurde er achtzehn, war damit erwachsen und dann würde es ihm egal sein, was Peter sagte oder was seine Mutter über ihn dachte. Und bestimmt würde er dann auch bald zuhause ausziehen und dann endgültig komplett über solchen Dingen stehen.

Mit diesen Gedanken ließ sich einige Zeit gut leben, aber als sie dann alle vier im Auto saßen, kehrte das Bereuen gleich wieder. Toni hatte es bis jetzt völlig ausgeblendet, dass Maja lange Autofahrten auf den Tod nicht ausstehen konnte. Wenn man sich die ganze Zeit mit ihr beschäftigte, schaffte man es, sie etwa eine halbe Stunde ruhig zu bekommen. Und derjenige, dem die Aufgabe zufiel, sie die ganze Zeit zu bespaßen war selbstverständlich Toni, der dadurch weder lesen noch richtig aus dem Fenster gucken konnte.  
Aber irgendwann hatte Maja dann trotz Unterhaltungsprogramm keine Lust mehr, in ihrem Sitz eingepfercht zu sein und wollte sich bewegen.

Peter und seine Mutter hatten natürlich schon Routine darin, mit Maja länger herumzufahren und sobald sie anfing zu brüllen steuerte Peter gleich den nächsten Rastplatz an und dann tobten sie eine ganze Weile mit ihr herum in der Hoffnung, eine weitere halbe oder sogar eine ganze Stunde aus ihr herauszukitzeln.
In diesem Momenten hatte Toni dann ein paar Augenblicke für sich, die er entweder im Auto sitzen blieb oder ein Stückchen herumlief und sich mit Lydia Nachrichten schickte.

Maja schlief zwar erst ein, als sie noch eine Viertelstunde zu fahren hatten, aber trotzdem waren sie alle erleichtert.

Sie kamen später an als Toni gedacht hatte. Aber er hatte bei der Fahrtdauer ja auch nicht den Faktor Maja mit eingerechnet. Im Gegensatz zu Peter und seiner Mutter, für die sie absolut zeitig da waren.

Natürlich war es schon dunkel, als sie den Burgberg hochfuhren und Toni hatte eigentlich Geknirsche von Schotter unter den Reifen erwartet, aber als er aus dem Fenster sah, erkannte er, dass die Straße jetzt richtig geteert war und er war gespannt, was sich noch alles verändert hatte.

Viel konnte er natürlich wegen der Dunkelheit nicht sehen, nur, das überall Fenster hell erleuchtet waren, auf einem neuen Parkplatz einige Autos standen und ein paar Menschen unterwegs waren, die sich leise unterhielten.

In der Dunkelheit wirkte alles so, wie früher: die die Fassaden der Häuser, der riesige Turm und als er den Kopf drehte, sah er den Balkon, auf dem er damals zusammen mit Gregor gestanden hatte. Aber kaum hatte er diesen Gedanken gestreift, als er ihn sofort wieder beseite schob und stattdessen an Lydia dachte. Sie würde sein Anker sein, wenn so ein Ausrutscher noch einmal passierte.

Zuerst sahen sie bei Nadja, Thorsten und Kamilla vorbei. Auch das Steinhaus war hell erleuchtet und hier schien sich gar nichts geändert zu haben. Sie waren schon gesehen worden, denn als sie die Haustür erreicht hatten, wurde diese geöffnet und alle drei standen in der Tür und sahen ihnen entgegen.

"Da seid ihr ja," rief Nadja freudig und umarmte Tonis Mutter einmal fest, Peter bekam einen Händedruck und dann wandte sie sich mit breitem Lächeln an Toni. "Na komm her!" rief sie und dann wurde auch er einmal heftig von ihr gedrückt. Aber damit hatte er gerechnet und er konnte nicht verleugnen, dass er sich auch ein bisschen freute, Nadja wiederzusehen.

Von Thorsten bekamen sie alle den ebenfalls von Toni erwarteten Händedruck und ein kurzes Kopfnicken und auch Kamilla gab jedem die Hand und lächelte ihr scheues Lächeln. Sie hatte sich nicht nur äußerlich kaum verändert, außer, dass sie etwas größer geworden war, sie schien auch sonst immer noch die Gleiche zu sein, auch etwas, was Toni ja erwartet hatte.  

Nadja wies auf Tonis Tasche. "Viel Gepäck hast du ja wieder nicht mitgebracht."

"Du kannst meine Sachen ja waschen," ging Toni sofort auf das Spiel ein und sie lachten sich an.

Nadja klopfte ihm auf die Schulter. "Dann bring deine Tasche mal nach oben. Du weißt ja bestimmt noch, wo das Gästezimmer ist."

Natürlich wusste Toni es noch. Während er die Treppe hochstieg, setzten sich Nadja, Thorsten, Peter und seine Mutter, die Maja auf dem Arm hielt, ins Wohnzimmer und sofort war eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Und natürlich wurde Maja, die inzwischen wieder aufgewacht war, betüddelt, wie das immer so war. Und Kamilla gesellte sich, sehr zu Tonis Überraschung, auch zu ihnen.

Das Stimmengewirr begleitete ihn die vertraute Treppe hoch und durch den engen Flur bis zur Tür des Gästezimmer. Hier hatte sich nichts verändert. Der Schrank, das Bett, der Stuhl und die Aussicht auf den Turm, alles war wie früher.

Toni stellte die Tasche auf das Bett und atmete einmal tief durch. Er war bereit für diese Woche. Bereit für Majas Gequengel, Peters Gängeleien, den hilflosen Vermittlungsversuchen seiner Mutter und natürlich dafür ihr zu beweisen, dass das Bild, das sie von ihm hatte komplett falsch und er so normal wie alle anderen war. Und es war auch die Möglichkeit für ihn selbst, sich das noch einmal zu beweisen. Es würde die ultimative Prüfung sein und er würde sie mit Bravour bestehen!

Aber heute würde ja erst einmal nichts mehr passieren und deswegen überlegte er, was er machen sollte. Hierbleiben und lesen oder sich zu den anderen nach unten setzen, worauf er eigentlich am wenigsten Lust hatte? Allerdings wäre wegzubleiben furchtbar unhöflich und er hatte ja beschlossen in diesem Urlaub ein Vorzeigesohn zu sein.

Er wollte grade zur Tür gehen, als leise dagegen geklopft wurde und nachdem er ,Herein' gesagt hatte kam Nadja ins Zimmer. "Hallo," sagte sie und grinste verschwörerisch, während sie die Tür hinter sich in Schloß zog.

Toni sah sie an und fragte sich, was dieses Grinsen bedeuten sollte. Für einen Moment dachte er sogar, sie würde ihn aus irgendeinem Grund auf Gregor ansprechen und sein Herz machte einen Hüpfer. Während er noch darüber nachdachte, wie er auf so eine Situation reagieren sollte, hatte Nadja schon angefangen zu reden: "Du hast doch sicher wenig Lust, dich jetzt zu den langweiligen Erwachsenen dazu zu gesellen, oder? Deswegen dachte ich, du könntest mir vielleicht helfen."

"Wobei denn helfen?" fragte Toni und war immer noch auf der Hut, dass sich Gregor hier irgendwo versteckte.

"Kamilla hat für heute eine Einladung zu einer Party unten im Dorf," erklärte Nadja. "Und natürlich keine Lust hinzugehen. Grundsätzlich ist es für mich ja in Ordnung, wenn sie lieber für sich ist, aber ich finde, dass ihr ein wenig Gesellschaft hin und wieder auch nicht schadet. Und da du ja sicher nicht weißt, was du für den Rest des Abends machen sollst, dachte ich, du kannst vielleicht mit ihr hingehen. Was meinst du? Wir ziehen sie einfach mal gemeinsam aus ihrem Schneckenhaus raus?!"

Toni war erleichtert. Gregor war nicht erwähnt worden. Und eine Party war eigentlich keine schlechte Idee. Vielleicht lernte er ja ein paar nette Leute kennen, mit denen er dann in der Woche die ein oder andere Sache unternehmen konnte, sollte er dafür Zeit haben.

"Ich bin dabei," erwiderte er und Nadja nickte zufrieden. "Na dann komm mal mit nach unten. Operation Schneckenhaus kann sofort beginnen!"

Kamilla saß in der Sofaecke neben ihrem Vater, aber als Nadja sie zu sich und Toni in die Küche winkte, stand sie sofort auf und kam zu ihnen.

"Milla meine Liebe," fing Nadja an und legte ihr den Arm um die Schulter. "Ich dachte, du könntest doch heute zusammen mit Toni zu der Party gehen. Dann bist du nicht alleine da und Toni schließt vielleicht ein paar Freundschaften fürs Leben."

Kamilla sah einmal von einem zum anderen und zuckte dann mit den Schultern. "Okay," sagte sie nur und wenn Nadja so überrascht war wie Toni ließ sie es sich nicht anmerken. "Wunderbar," rief sie und drückte Kamilla einmal kurz an sich. Dann sah sie auf die Uhr. "Ihr solltet euch besser langsam mal auf den Weg machen, oder? Fängt es nicht um acht Uhr an?"

"Ja," erwiderte Kamilla gleichmütig und ging zur Gaderobe, um sich die Schuhe und die Jacke anzuziehen.
Toni warf Nadja einen verwundert Blick zu, aber sie lächelte nur wortlos zurück.

Kamilla war schon zur Tür heraus und Toni beeilte sich, sich von Peter und seiner Mutter zu verabschieden. Peter sah ihn mit einem Blick an, der deutlich zeigte, was er davon hielt, dass Toni jetzt einfach ging, aber seine Mutter lächelte und nickte und das reichte Toni. Er lächelte zurück und dann zog er sich hastig Schuhe und Jacke an und lief hinter Kamilla her.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her  und als sie den Berg hinunterliefen hielt Toni die Stille nicht mehr aus. "Und, was machst du jetzt so? Auch Abi?" fragte er unbeholfen, denn er hatte keine Ahnung, was er mit Kamilla reden sollte. Er kannte sie ja gar nicht. Von daher war es sicher besser, bei unverfänglichen Dingen zu bleiben.

"Ja," antwortete Kamilla nur und nachdem Toni ein paar Sekunden gewartet hatte, wurde ihm klar, dass auch nichts weiter kommen würde.

Aber er ließ sich nicht entmutigen. "Willst du bei deinen Eltern in der Gärtnerei arbeiten, wenn du fertig bist? Oder studieren gehen?"

Mit einem ,Mal gucken' bekam er wieder eine sehr knappe Erwiderung und dann entschied Toni sich doch dafür, dass Schweigen eindeutig besser war, als diese abgehackte Konversation.

Aber sie musste auch nicht mehr weit laufen. Nachdem sie den Berg hinter sich gelassen hatten, gingen sie ein Stück die Straße lang und bogen dann nach rechts in eine Gasse ein. Vor einem Haus, aus dem Musik ertönte, blieb Kamilla stehen. Sie wies auf die Haustür. "Hier ist es. Ich wünsche dir viel Spaß."

Sie wandte sich zum Gehen und Toni dachte, sie wollte ihn verarschen. "Du gehst jetzt echt?!" rief er ihr hinterher, sie blieb noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um. "Ja, ich gehe. Ich habe mit diesen Leuten da drinnen nichts zu tun und sie laden mich doch sowieso nur ein, um zu gucken, wie die Komische von der Burg so tickt. Und nach der Party werden sie sich dann das Maul über mich zerreißen, egal, ob ich heute nur in der Ecke rumstehe, worauf es hinauslaufen wird, oder ob ich literweise Alkohol saufe und wie bescheuert herumtanze. Und auf sowas hab ich echt keinen Bock. Aber ich hoffe, du amüsierst dich." Sie drehte sich wieder um und ging weiter. Allerdings nicht zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Toni war für einen Augenblick beinahe schockiert von ihrer langen beinahe wütenden Rede. "Und wo gehst du jetzt hin?!" wollte er dann wissen.

"Spazieren," rief Kamilla über die Schulter zurück und dann verschwand sie um die Ecke.

Toni starrte ihr für einen Moment hinterher und konnte nicht glauben, dass sie ihn hier so einfach stehenließ. Das hätte er absolut nicht von ihr erwartet, aber es hieß ja immer, dass stille Wasser tief sind.
Dann wandte er sich von Kamilla wieder sich selbst zu und fragte sich was er jetzt machen sollte. Auf eine Party gehen auf der er niemanden kannte? Oder zurück zur Burg? Sollte er Nadja dann erzählen, was passiert war? Und dann entweder lesen oder sich zu der Couchrunde gesellen, die sicherlich noch einige Zeit Bestand haben würde?

Die Party war eindeutig die bessere Alternative.

Für einen Moment musste er an Gregor denken und wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass er vielleicht auch auf dieser Party war, aber dann stufte Toni die Gefahr als minimal ein. Gregor war ja damals ähnlich sozial gewesen wie Kamilla, die sich absolut nicht geändert hatte. Also warum sollte es bei ihm anders sein?
Toni holte einmal tief Luft und dann stieg er die drei Stufen zur Haustür auf und klingelte. Ein blondes Mädchen öffnete lachend die Tür, aber als sie Toni sah, erstarb ihr Lachen sofort wieder. Sie musterte ihn einmal von oben bis unten. "Wer bist du denn?" wollte sie dann wissen.

"Ich bin Toni, der Cousin von Kamilla," antwortete Toni. "Sie kann leider nicht kommen, weil es ihr nicht gut geht und da hat sie eben mich geschickt."

Das Mädchen runzelte die Stirn. "Ihr geht es also nicht gut," wiederholte sie und in diesem Moment ertönten Schritte und ein weiteres, diesmal dunkelhaariges Mädchen, erschien. "Kara, alles klar?" wollte sie wissen und dann fiel ihr Blick auf Toni. "Wer ist das denn?"

"Das ist Toni der Cousin von Kamilla," antwortete Kara. "Sie konnte natürlich mal wieder nicht kommen."

"Natüürlich," erwiderte das andere Mädchen gedehnt und beide lachten einmal.

"Du siehst aber nett aus," meinte Kara dann und ergriff Toni am Arm. "Du kannst gerne reinkommen!"

Sie zog ihn durch einen kleinen Flur ins Wohnzimmer, wo an die zehn Leute in seinem Alter saßen oder standen und bei seinem Eintreten den Kopf wandten und ihn ansahen. Teilweise verstummten die Gespräche und bei der ganzen Aufmerksamkeit fühlte Toni sich doch ein bisschen unbehaglich.

"Das ist Kamillas Cousin der heute anstatt Kamilla hier ist," rief Kara lachend.

"Hallo," sagte Toni und bekam ein vielstimmiges ,Hallo' zurück und dann wandten sich die meisten wieder dem zu, was sie grade getan hatten.

Es war zwar absolut nicht mit einer Party von Linus zu vergleichen aber die Atmosphäre schien ganz gut zu sein und Toni beschloss, zu bleiben.

"Das gibt es doch nicht," sagte da plötzlich eine Stimme schräg hinter ihm, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie war zwar tiefer als vor drei Jahren, aber trotzdem erkannte er sie sofort wieder. Und als er den Kopf drehte, stand er da, etwas größer und nicht mehr so pausbäckig, aber immer noch rotblond und eindeutig Gregor.

Toni war so erschrocken, ihn zu sehen, was seinen Plan schon am ersten Abend zunichte machte, dass er nicht reagieren konnte.

"Ihr kennt euch?" rief das dunkelhaarige Mädchen entzückt. "Woher denn?"

"Er hat mal vor drei Jahren bei uns Ferien gemacht," erwiderte Gegor und grinste Toni an.

"Ist ja irre," meinte Kara und hakte sich bei Toni ein. "Hat er dir auch diese abgefahrene Geschichte von der vergifteten Kerze erzählt? Greg, kannst du die nicht eben noch mal erzählen?!" rief sie und natürlich war Gregor sofort dazu bereit.

Toni, der immer noch unter Schock stand ließ sich willenlos mitziehen, als Kara ihn zu einem freien Platz auf einer Couch zerrte. Sie setzte sich hin und zog ihn mit sich runter, sodass er neben ihr zu sitzen kam. Sie sagte etwas zu dem Jungen neben ihr und hatte die Frage, die sie Toni grade gestellt hatte, anscheinend schon wieder vergessen. Was gut war, denn Toni war nicht in der Lage, ihr eine Antwort zu geben, sein Kopf war wie leergesaugt.

Er krampfte die Hände ineinander und wäre jetzt gerne gegangen aber seine Beine waren grade wie aus Pudding. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu bleiben wo er war und wie durch einen Nebel mitzubekommen, dass Gregor sich ihm gegenüber in einen Sessel setzte und anfing, die Geschichte zu erzählen um die er gebeten worden war.

Die Zeit, die Gregor seine Geschichte erzählte brauchte Toni, um wieder zu sich zu kommen. Und die Flasche Bier, die Kara ihm irgendwann reichte und die er erst einmal zur Hälfte auf Ex leerte trug auch ihren Teil dazu bei, dass er sich schließlich nicht mehr fühlte, als habe ihn ein Auto überfahren.

Als sein Gehirn vollständig aus seiner Schockstarre erwacht war, kam ihm als erstes in den Sinn, dass sich anscheinend doch mehr geändert hatte, als er gedacht hatte. Nicht nur, dass Kamilla ihm eine Brandrede gehalten hatte, die er von ihr nie erwartet hätte, nein, auch Gregor ging jetzt auf Partys und schien tatsächlich ein paar Freunde zu haben.

Was für Tonis Plan natürlich absolut suboptimal war und eigentlich hätte er ja sofort kehrtmachen müssen, als er Gregor gesehen hatte. Aber dann überlegte er sich, dass es doch irgendwie ziemlich billig war, ihm einfach nur aus dem Weg zu gehen. Hätte er ihn nicht hier getroffen, tendierte die Wahrscheinlichkeit, ihm sonst irgendwie zu sehen um ihm dann ausweichen zu können gegen Null, vorallem, weil in diesem Bundesland ja noch nicht einmal Ferien waren. Nein, auf diese Art konnte Toni weder sich selbst noch seiner Mutter irgendetwas beweisen. Die eigentliche Herausforderung war doch eigentlich der ganz normale Umgang mit Gregor, weil absolut nichts zwischen ihnen stand. Und außerdem war hierzusein eindeutig besser, als jetzt bei Peter und seiner Mutter zu sitzen oder im Gästezimmer auf dem Bett zu liegen und zu lesen.  Also blieb er wo er war.

Nachdem Gregor seine Geschichte beendet hatte, verteilten sich die Leute langsam wieder im Raum, aber Toni blieb auf der Couch sitzen, zusammen mit Kara und dem dunkelhaarigen Mädchen Henrike, die ihn mit Fragen durchlöcherten und ganz entzückt waren, als er erzählte, wo er herkam.

"Wie cool," quietschte Kara begeistert. "Es ist so toll, endlich mal jemand Neues hierzuhaben und nicht immer die, die sowieso immer da sind. Und dann auch noch jemand aus einer Großstadt, das ist ja so super!"

"Absolut!" rief Henrike. "Ich würde auch lieber in der Stadt leben, wo immer was los ist. Hier kommt man ja echt um vor Langeweile. Und wenn man mal weggehen will, dann muss man erst mal zwei Stunden mit dem Bus fahren und kann dann nie lange bleiben weil der letzte Bus zurück schon um neun Uhr fährt und dann der nächste erst wieder um sieben Uhr morgens."

"Das ist echt der größte Scheiss überhaupt," bekräftige Kara energisch und sie nickten im Verein.
Danach wollten sie dann jedes Detail aus Tonis Leben wissen und er erzählte sie ihnen auch bereitwillig.

Nicht, dass er sein Leben als sonderlich spannend empfand, es war wohl eher genau so langweilig wie das kaum erträgliche Landleben, aber die Art und Weise, wie Kara und Henrike an seinen Lippen hingen schmeichelte ihm ziemlich und er konnte nicht verhindern, dass er ein wenig dick auftrug und zu den Partys, auf die er gegangen war und Konzerte, die er besucht hatte, noch ein paar dazuzudichten.

In den Redepausen, die entstanden, wenn Kara und Henrike eifrig über etwas, was er erzählt hatte, diskutierten oder sich noch einmal gegenseitig darin bestätigten, wie furchtbar ihr Leben in diesem Kuhkaff war, konnte Toni nicht verhindern, sich ab und zu einmal nach Gregor, der schräg gegenüber von der Couch stand, umzusehen. Leider nicht so unauffällig wie er es geplant hatte denn ihre Blicke hatten sich schon ein paar mal getroffen und weil das schnelle Wegsehen, zu dem sein Körper ihn eigentlich zwingen wollte, bedeutet hätte, dass da doch irgendetwas zwischen ihnen stand, zwang Toni sich, Gregors Blick standzuhalten und ein freundliches Gesicht zu machen und sich erst danach wieder Kara und Henrike zuzuwenden.

Gregor sah ihn ebenfalls freundlich an und Toni hoffte, dass er es nicht als Aufforderung sah, zu ihm rüber zu kommen. Es war ja richtig, die Konfrontation mit ihm zu suchen, anstatt ihm aus dem Weg zu gehen, aber bitte noch nicht jetzt. Einige Zeit sich darauf mental vorzubereiten brauchte Toni schon. Dass das auch ein Zeichen dafür war, dass etwas zwischen ihnen stand, ignorierte er dabei problemlos.

Er blieb dann aber die ganze Party von Gregor verschont, was wohl einmal daran lag, dass Kara und Henrike ihn die ganze Zeit in Beschlag nahmen, aber sicher auch weil die Party um halb zwölf schon zuende war, als nämlich Karas Eltern nach Hause kamen, erklärten, dass jetzt Ende war und alle zur Haustür strömten, sich ihre Schuhe und Jacken anzogen, sich verabschiedeten und sich dann draußen in verschiedene Richtungen zerstreuten. Und natürlich ging niemand anderes hoch zu Burg außer Toni und Gregor. Toni hatte zwar einen kleinen Vorsprung, aber da Gregor nach wie vor sehr schnell laufen konnte, hatte er bald zu ihm aufgeschlossen.

"Hey," sagte er, als sie auf einer Höhe waren. "Das ist ja wohl echt ein irrer Zufall, dass wir uns ausgerechnet auf Karas Party treffen, was?"

Natürlich hätte Toni jetzt auch irgendetwas in der Art sagen müssen, irgendetwas Unverfängliches aber er bekam zu seinem Ärger kein Wort heraus. "Mhm," war der einzige Laut, den er produzieren konnte.

"Wie gehts dir denn? Du...." fing Gregor an und jetzt hatte Toni seine Sprache wiedergefunden. "Ich habe eine Freundin," platzte es aus ihm heraus dann verdrehte er innerlich genervt die Augen. Das hier lief alles absolut nicht so, wie er es sich ausgemalt hatte. Das waren bloß alles nur Startschwierigkeiten versuchte er dann gleich sich selbst zu beruhigen. Aber es war schon mal gut, dass Gregor wusste, dass er eine Freundin hatte.

"Oh, cool," erwiderte Gregor herzlich. "Wie heisst sie denn?"

"Lydia," antwortete Toni.

"Die Lydia von damals? Mit der du befreundet gewesen bist?" erkundigte Gregor sich und die Tatsache, dass er das nach der ganzen Zeit noch wusste, machte Toni aus irgendeinem Grund richtig wütend. Er selbst konnte sich, außer an Gregors Geschichten, sonst an gar nichts von dem erinnern, was er ihm damals erzählt hatte. "Ja, die Lydia!" spuckte er die Worte förmlich aus und rammte die geballten Fäuste in die Hosentaschen. Am liebsten hätte er Gregor jetzt einfach stehengelassen, aber er ging schon so schnell er konnte und Gregor hatte keinerlei Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Deswegen beschloss irgendetwas in Toni, die ganze Situation noch schlimmer zu machen indem er: "Und wenn es dich interessiert, der Sex ist einfach großartig und wir haben es praktisch schon überall gemacht," sagte. Unmittelbar danach spürte er, wie sein Gesicht heiß wurde und er wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Bis auf das erste Mal auf der Party und das auch nur aus therapeutischen Gründen, hatte er bis jetzt noch mit niemandem über sein Sexleben geredet, noch nicht einmal mit Max, der ihn ständig deswegen löcherte. Und jetzt war es ihm einfach so herausgeplatzt und dann auch noch vor Gregor.

Aber wieder schaffte es Toni sich zu beruhigen, weil das hier ja auch eine ganz normale Unterhaltung zwischen zwei Kerlen sein konnte, Max protzte schließlich auch immer gerne herum, wo und in welchen Stellungen er es schon gemacht hatte ohne, dass er dabei rot wurde.

Gregor empfand es allem Anschein nach auch als normal denn er erwiderte bloß: "Klingt ja super. Und aus Freundschaften entstehen ja meistens die besten Beziehungen."

Der letzte Satz ließ, aus welchem Grund auch immer, den Ärger in Toni erneut aufwallen und er hatte jetzt keine Lust mehr dieses Gespräch fortzusetzen. Glücklicherweise gingen sie da bereits schon an der Burgmauer entlang und es war nicht mehr weit bis zu Nadjas Haus.

Toni war unglaublich erleichtert, als er die erleuchteten Fenster im oberen Stockwerk sah und holte noch einmal alles aus sich heraus um bloß schnell aus dieser Situation wegzukommen. Er hörte, dass Gregor ihm ein ,Gute Nacht' hinterherrief, aber er würde den Teufel tun und darauf reagieren.

Er schnaufte einmal erleichtert, als er die Haustür hinter sich zuwerfen konnte. Die Räume vor ihm lagen im Dunkeln, lediglich das Licht über der Eingangstür brannte. Deswegen konnte Toni sich gegen die Tür lehnen, sich einmal mit der Hand durchs Gesicht fahren und einmal tief durchatmen.   Er hatte sich zwar grade wie ein Idiot benommen, jedenfalls empfand er es so, aber es war trotzdem gut, dass er all die Dinge jetzt schon gesagt hatte. Da wusste Gregor wenigstens gleich über alles Bescheid. Denn es konnte ja sein, dass von seiner Seite nach irgendetwas da war, was Toni sofort im Keim ersticken lassen wollte. Er selbst hatte ja schon mit allem abgeschlossen, ja, das hatte er! Und diese Situation von grade gab wirklich nicht genug Stoff her, um jetzt noch wer weiß wie lange darüber nachzudenken also tat er es ab jetzt auch nicht mehr!

Er stieg die Treppe hoch und als er oben angekommen war, sah er den Lichtstreifen unter Kamillas Tür. Für einen Moment packte ihn die Neugierde zu wissen, wo sie gewesen war  und welche Probleme sie mit Kara und den anderen hatte, die doch eigentlich alle richtig nett waren, aber dann verzichtete er darauf, zu ihr zu gehen. Vielleicht lag sie ja schon im Bett, da wollte er nicht einfach hereinplatzen. Und selbst, wenn sie es nicht tat, würde er bestimmt wieder nicht besonders viel aus ihr herausbekommen.

Stattdessen trat er ins Gästezimmer, zog sich seine Schlafklamotten an, nahm sich ein Buch und legte sich aufs Bett. Er schickte Lydia einen kurzen Text, dass er gut angekommen und den Abend auf einer Party gewesen war und wünschte ihr dann eine Gute Nacht. Dann las er so lange, bis er die Augen nicht mehr offenhalten konnte. Nachdem er das Licht ausgeknipst und sich in seine bevorzugte Schlafposition auf die Seite gerollt hatte, bereitete er sich schon einmal mental darauf vor, den morgigen Tag mit Peter verbringen zu müssen. Dann schlief er ein, ohne sonst noch über irgendetwas anderes nachzudenken.

Vielleicht hatte Toni sich mental darauf vorbereitet, mehr Stunden mit Peter zu verbringen, als ihm lieb war, aber nicht darauf, um acht Uhr von heftigem Klopfen an seiner Tür wach zu werden. "Toni, deine Eltern sind hier," informierte ihn die Stimme auf der anderen Seite und es dauerte einen Moment, bis Toni sie als die von Thorsten identifiziert hatte. Gleich danach stieg der Wunsch in ihm hoch, ihm zu erklären, dass Peter nicht sein Vater und es deswegen nicht seine Eltern waren und, dass es absolut gar nicht ging, in den Ferien so früh geweckt zu werden und einfach nicht aufzustehen, aber dann ließ er es sein. Es wäre nur eine sinnlose und kräftezehrende Rebellion geworden und er brauchte seine Kräfte heute definitiv für etwas anderes. Also stand er nur seufzend auf, griff sich seine Klamotten und ging aufs Badezimmer.

Das Frühstück mit Rührei, zwei verschiedenen Sorten Brötchen und haufenweise Aufstrich, versöhnte ihn ein bisschen mit der frühen Uhrzeit. Er langte kräftig zu, während seine Mutter ihm den heutigen Plan eröffnete, der aus dem Besuch irgendeiner Stadt mit mittelalterlichem Stadtkern bestand. Die Einzelheiten interessierten Toni nicht besonders, weswegen die Worte seiner Mutter teilweise ungehört an ihm vorbeirauschten. Erst, als sie ihm den Arm tätschelte und "Ich freu mich so, dass du mitkommst," sagte, blickte er auf. Sie lächelte ihn an, er lächelte zurück und dann fiel ihm ein, dass jetzt eine gute Gelegenheit war, Phase eins seines Vorhabens zu beginnen. "Ich hab Gregor gestern auf der Party getroffen," sagte er beiläufig.

Sofort erschien dieses wissende Lächeln im Gesicht seiner Mutter, genau, wie Toni es erwartet hatte, "Und? Hat er dich wiedererkannt?"

"Ja hat er," erwiderte Toni gleichmütig, während er sich noch ein Brötchen schmiert. "Ich ihn aber auch. Liegt wohl daran, dass wir uns beide nicht sonderlich verändert haben."

"Ah ja," erwiderte seine Mutter nur, aber Toni merkte, wie weitere Fragen in ihr brodelten, die sie dann aber nicht aussprach.

Zeit, Phase zwei einzuläuten und das Bild, das sie von ihm hatte, endlich richtig zu stellen. Denn jetzt, wo er sie für das Thema sensibilisiert hatte, würde sie auf ein Zusammentreffen von Gregor und ihm lauern und ihn dann ganz besonders im Auge behalten. Und dann war seine Stunde endlich gekommen.


Der Ausflug wurde dann doch ganz angenehm. Nicht nur, weil die Stadt nicht mehr als eine halbe Stunde Autofahrt weg war und Toni Maja diesmal nicht bespaßen musste. Da es Sonntag war, war in der Stadt auch nicht viel los und sie musste sich nicht durch Horden von Touristen quetschen. Toni musste zwar den Kinderwagen schieben, während Peter und seine Mutter Arm in Arm vor ihm hergingen, aber das war in Ordnung. Und die Stadt war auch richtig schön und Toni blieb häufiger stehen um Fotos von den tollen alten Häusern zu schießen. Einige davon schickte er Lydia, die sich für solche Dinge auch begeistern konnte.

Auch mit Peter gab es keine Probleme, weil er sich seine üblichen Sprüche verkniff und selbst dann nichts sagte, als Toni sich in dem Restaurant, in das sie zum Abschluss gingen, ein dickes Steak bestellte. Toni hoffte, dass er nicht nur einfach einen guten Tag hatte, sondern dass es die ganze Zeit so weitergehen würde. Peter, der die Klappe hielt und der Plan, der langsam ins Rollen kam besser konnte es ja gar nicht laufen.

Sie waren gegen drei Uhr wieder auf der Burg und so, wie es schien, hatte Toni den Rest des Tages jetzt ganz für sich, etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er war sich zwar nicht sicher, was er machen sollte so alleine, denn definitiv würde er nicht nach Gregor suchen! Und runter ins Dorf zu Kara zu gehen kam ihm auch nicht wie eine gute Idee vor. Er würde einfach Lydia anrufen und danach eins seiner Bücher lesen und entspannen.

Als er allerdings ums Auto herumgegangen war, trat seine Mutter ihm in den Weg und hielt ihm Maja entgegen. "Deine Zeit als Babysitter ist noch nicht zuende," sagte sie und grinste ihn an. "Und während du auf dein Schwesterchen aufpasst werden Peter und ich schön in die Hotelsauna gehen. So in einer oder zwei Stunden sind wir wieder da." Mit diesen Worten hängte sie ihm noch die Wickeltasche über die Schulter, lächelte ihn noch einmal an und schloß dann zu Peter auf, der schon ein paar Schritte vorausgegangen war.

Toni hatte sich ja von Anfang an drauf eingestellt, hier ab und zu einmal den Babysitter zu geben, allerdings hätte er Peter doch gerne mal darauf hingewiesen, dass er fast einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte nur, weil Toni einmal Kerzen angezündet hatte, aber gleichzeitig noch nie ein Problem damit gehabt hatte, ihm bedenkenlos und nur hin und wieder graniert mit einigen oberlehrerhaften Sprüchen sein einziges Kind anzuvertrauen. Für einen Moment spielte Toni so ein Szenario im Kopf ab, aber dann strampelte Maja murrend in seinen Armen und da Toni absolut keine Lust auf Gebrüll hatte stellte er die Wickeltasche, die er sowieso nicht brauchen würde, neben die Haustüre und dann Maja auf den Boden, die sofort aufhörte zu quengeln.

Toni nahm ihre Hand und während sie neben ihm hertapste überlegte er, was er jetzt mit ihr machen sollte. Aufs Zimmer wollte er auf keinen Fall, auf der Burg herumlaufen wollte er auch nicht und den Berg heruntergehen absolut nicht. Also beschloss er, mit ihr durch das Burgtor zu gehen und dann nach rechts wo damals ja noch eine große Wiese gewesen war. Vielleicht war sie ja immer noch da.
Also ging es im Schneckentempo los und sie hatten schon die Hälfte der Stecke geschafft, als Toni hinter sich ein freundliches "Hallo", hörte, von einer Stimme, die er sofort wiedererkannt und er konnte nicht verhindern, dass sein Herz einen kurzen Sprung machte.

Er schloß für den Bruchteil einer Sekunde die Augen und überzeugte sich selbst davon, dass das grade einfach nicht passiert war. Dann setzte er einen freundlichen Gesichtsausdruck auf und drehte sich zu Gregor um, während Maja einmal laut protestierte, dass es nicht weiterging. "Hallo," erwiderte Toni und sah sich unauffällig nach seiner Mutter um, aber die war natürlich schon verschwunden. Er bedauerte die verpasste Gelegenheit und es wurde ihm bewusst, dass er vermutlich nicht allzuviele geben würde. Erst dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Gregor und er konnte nicht verhindern, dass sein erster Gedanken war, wie gut dieser in seiner schwarzen Jacke aussah. Eine weitere Sache die er in der ,es war einfach nicht passiert'-Schublade verschwinden lies.

"Deine Schwester?" fragte Gregor und wies auf Maja, die inzwischen heftig an Toni Hand zog.

"Ist sie," antwortete Toni und Gregor lachte einmal. "Ist es also doch noch passiert? Du meintest ja damals, dass du darauf echt keinen Bock hättest."

Schon wieder etwas, an das Gregor sich erinnern konnte, während bei Toni da nur eine gähnende Leere herrschte. Wieder stieg Wut in ihm auf, aber er verdrängte sie, indem er sich zu einem echten Lächeln zwang. "Ja, stimmt, hatte ich echt nicht. Aber als sie dann auf der Welt war, war es gar nicht mehr so schlimm und jetzt ist es eigentlich ganz ok. Meistens kümmert sich eh meine Mutter drum. Aber jetzt hat sie eben Urlaub und da bin ich mal wieder dran."

Toni war überrascht über seinen Redefluß, er hatte gar nicht vorgehabt, soviel zu sagen. Allerdings gehörte sowas doch dazu, wenn er normal mit Gregor umgehen wollte. Also war alles gut.
In diesem Moment stieß Maja einen entrüsteten Schrei aus und zerrte noch mehr an seiner Hand.

"Na ja ich geh dann mal weiter, sonst fängt sie noch an zu brüllen und das ist kein schönes Geräusch," meinte Toni und gab Majas Zerren nach.

"Warte ich komm mit, ich hab grad sowieso nix anderes zu tun," sagte Gregor und ehe Toni sich besinnen konnte stand er schon neben ihm.

Also gingen sie zu dritt langsam weiter zum Burgtor und Toni konzentrierte sich dabei ganz auf Maja, weil er nicht so recht wusste, was er mit Gregor reden sollte. Was ihm nicht sonderlich gefiel, denn eine unverkrampfte Unterhaltung wäre hier eigentlich angebracht, nachdem sie sich einige Zeit nicht gesehen hatte und vorallem ein Zeichen, dass da nichts mehr war, das zwischen ihnen stand. Andererseits hatten sie auch damals nicht besonders viel geredet von daher war Schweigen hier vielleicht passender. Und wieso sollte er jetzt eine Unterhaltung anfangen? Gregor konnte das doch auch ebenso gut machen. Toni warf ihm einen schnellen Seitenblick zu und stolperte dann fast über Maja, die ihm just in diesem Moment vor die Füße gelaufen war. Er wäre sicher hingeflogen, wenn Gregor nicht blitzschnell reagiert und nach seinem Arm gegriffen hatte.

Für einen kurzen Moment spielte sich in absoluter Klarheit die Szene vor Tonis innerem Auge ab, in der er und Gregor auf dem Weg zu dem verlassenen Dorf gewesen waren und er über die Baumwurzel gestolpert war. Auch da hatte Gregor ihn aufgefangen und in dieser Sekunde durchlebte Toni noch einmal wie es sich angefühlt hatte, in seinen Armen zu liegen.

Gregor hatte ihn gleich wieder losgelassen und Majas Weinen holte Toni sofort wieder in die Realität zurück. "Danke," sagte er hastig zu Gregor, dann nahm er Maja auf den Arm und versuchte sie mit Schsch-Geräuschen zu beruhigen. Sie wurde dann auch mit einem Schlag ruhig als ihr Gregor auffiel und sie ihn mit großen Augen musterte. Dann gluckste sie einmal fröhlich und streckte ihm die Hand hin.

Gregor schüttelte sie vorsichtig. "Hallo, ich bin Gregor, und wie heißt du?"

"Dada!" schmetterte ihm Maja enthusiastisch entgegen und Toni lachte. "Sogar fast richtig. Sie heißt Maja."

"Ein sehr schöner Name," sagte Gregor zu Maja und lächelte sie an, was sie dazu veranlasste, das Gesicht an Tonis Hals zu vergraben.

Toni war dankbar für das kleine Geplänkel zwischen den beiden, denn so konnte er langsam wieder runterkommen, auf welchem Trip er da auch immer grade gewesen war. Sie gingen weiter, erst wieder schweigend aber als sie die Wiese, die wirklich immer noch da war, schon fast erreicht hatte meinte Gregor: "Deine Mutter hat wohl eine Vorliebe für Namen mit vier Buchstaben, was?"

"Wieso?" wollte Toni wissen, der sich fühlte, als würde er grade ziemlich auf dem Schlauch stehen.

"Na ja, Toni sind vier Buchstaben und Maja auch," erwiderte Gregor und Toni, der sich wie vor den Kopf geschlagen fühlte, dass er nicht in der Lage gewesen war, diesen einfachen Gedankengang selbst zu gehen, lachte einmal verlegen. "Ja stimmt. So hab ich da noch gar nicht drüber nachgedacht."

Ihre Blicke trafen sich, Toni hatte es nicht verhindern können, es war wie ein Zwang gewesen, Gregor anzusehen. Er war irgendwie ganz anders als der Gregor von damals. Der wäre sicher schon mindestens zweimal ausgerastet wegen irgendetwas, was Toni gesagt hatte. Aber dieser Gregor war noch nicht ausgerastet, auch gestern auf der Party nicht. Im Gegenteil, er schien eine gewisse Ruhe auszustrahlen.

Toni erschreckte über seine eigenen Gedanken und hätte am liebsten einmal kurz den Kopf geschüttelt, um sich wieder zur Besinnung zu bringen, aber er wollte nicht, dass Gregor ihn dann fragte, wieso er das gemacht hatte. Stattdessen schluckte er nur einmal hart um den Kloß, den er aus irgendeinem Grund jetzt im Hals hatte, loszuwerden.

Glücklicherweise hatte Maja jetzt wieder genug davon, herumgetragen zu werden und sie an der Hand zu führen sorgte wenigstens für ein bisschen Ablenkung.

Als sie auf der Wiese angekommen waren, setzte er sie ins Gras und sich daneben. Gregor ließ sich gegenüber von ihm nieder, sodass er ihn ständig im Augenwinkel hatte, eine Tatsache, die ihn ziemlich störte aber natürlich sagte er das nicht. Stattdessen sah er Maja zu, die mit Begeisterung Gras herausriss und sich in den Mund stopfte. Aber bevor Toni eingreifen und es ihr herausziehen konnte, hatte sie es schon von selbst ausgespuckt.

"Kara fand dich übrigens ziemlich toll," meinte Gregor dann. "Sie hat mir heute schon drei Nachrichten geschickt, ob ich wüsste, wie es dir geht und jetzt kann ihr ja schreiben, dass es dir gut geht, oder?"

Toni räusperte sich einmal. "Ja, mir geht es gut, allerdings vermiss ich meine Freundin ziemlich." Er hatte Lydia erwähnen müssen, denn er hatte grade das Gefühl, wegzudriften und dass sein Plan dabei war, grandios zu scheitern. Aber Lydia würde seine Rettungsleine sein, damit er nicht in diesem Sumpf versank.

Gregor lachte einmal. "Ich werd es Kara genau so schreiben. Aber ich glaub nicht, dass du dir Sorgen machen musst, sie steht schon ewig auf Daniel. Du weißt schon, groß, Fussballer, son Typ auf den die Mädels total abfahren." Er starrte sinnierend vor sich hin.

"Stehst du auf sie?" erkundigte Toni sich und Gregor grinste. "Nein, sicher nicht. Sie ist mir viel zu anstrengend. Außerdem weiss ich gar nicht, ob ich überhaupt mit nem Mädchen was anfangen will."

Toni starrte ihn an. "Was?!" schoß es ungläubig aus ihm heraus bevor er es zurückhalten konnte und das wäre jetzt definitiv eine Situation gewesen, in der Vulkan Gregor ausgebrochen wäre. Aber der existierte wohl nicht mehr, denn Gregor sah ihn nur ruhig an und zuckte mit den Schultern. "Na ja, Mädels sind schon cool, aber mit Kerlen fühlt es sich einfach besser an."

Toni musste aufpassen, dass ihn nicht vor lauter Überraschung der Mund offenstehen blieb. "Echt? W...wissen das auch die Leute, mit denen du abhängst?"

"Klar wissen sie es," erwiderte Gregor, als sei es die normalste Sache der Welt. "Sonst wären es nicht meine Leute. Ich kann ja sowieso nichts daran ändern, also wieso sollte ich mit da mit welchen abhängen, die ein Problem damit haben?!"

Toni wusste absolut nicht, was er dazu sagen sollte, aber gottseidank rettete ihn Maja wieder einmal, indem sie zu ihm hingekrabbelt kam, sich an ihm hochzog um dann ein paar wackelige Schritte zu gehen, bevor sie das Gleichgewicht verlor und wieder auf die Wiese plumpste. Aber sie ließ sich davon nicht entmutigen und kam zurückgekrochen um es gleich noch einmal zu versuchen.

Toni spürte Gregors Blick auf sich aber nie im Leben hätte er ihn jetzt ansehen oder etwas sagen können. Seine Worte tanzten in seinem Kopf und er war immer noch ziemlich schockiert.

In diesem Moment ertönte plötzlich ein aktueller Popsong aus Gregors Jackentasche. Er holte sein Handy heraus und beantwortete den Anruf. "Ja.... Ja...Mach ich..." sagte er abgehackt und nachdem er das Handy vom Ohr genommen hatte, sah Toni, wie er für einen kurzen Moment die Lippen so fest zusammenpresste, dass sie nur noch ein dünner Strich waren und dabei die Stirn runzelte. Aber so schnell, wie er kam, war dieser Gesichtsausdruck wieder verschwunden und hatte einem kleinen Lächeln Platz gemacht. "Na ja ich muss dann mal. Das Hotel ist ja schließlich ein Familienbetrieb und Goldjunge Johann hat dann ja doch auch nur zwei Hände." Er grinste einmal schief, dann stand er auf und klopfte sich den Hosenboden ab. Er nickte Toni noch einmal zu, sagte "Bis dann" und ging.

Toni konnte sich selbst nicht davon abhalten, ihm hinterher zu sehen. Gregor war teilweise also immer noch der Alte. Johann und er verstanden sich immer noch nicht besonders gut und nachdem der Anruf gekommen war, wäre er dann doch ausgerastet, wenn er nicht gelernt hatte, es zu kontrollieren.

Und über das, was er vorher gesagt hatte würde Toni noch eine ganze Weile nachdenken müssen, dass wusste er schon jetzt. Aber die ganzen komischen Gefühle, die er in der letzten Stunde gehabt hatte, die würde er ignorieren. Schließlich galt es immer noch, seinen Plan durchzuführen.

Kurz, nachdem Gregor verschwunden war meldete sich auch Tonis Handy. Seine Mutter hatte ihm eine Nachricht geschickt, dass sie jetzt bei Nadja und Thorsten waren und dass er Maja gerne wieder bei ihnen abliefern konnte.

Also sammelte Toni seine Schwester auf, die inzwischen ein ganzes Stück von ihm weggekrochen und nicht sehr begeistert war, als sie plötzlich hochgehoben wurde. Aber jetzt störte Toni sich nicht an dem Geschreie, denn gleich konnten sich damit ja wieder Peter und seine Mutter rumschlagen. Und außerdem war sein Kopf grade viel zu voll als dass das Geschreie nennenswert zu ihm durchdringen konnte.

Seine Eltern saßen mit Nadja und Thorsten in der Couchecke und Maja streckte schon die Arme nach ihnen aus, kaum, das sie zur Haustür reingekommen waren.

Toni wurde die kleine Fracht los und fing sich dann eine Rüge von Peter ein, dass er die ganze Zeit mit ihr draußen gewesen war, wo es doch schon so kalt war.

Toni hatte in diesem Moment absolut keine Lust, ihm dafür irgendeinen Spruch zurückzuschicken, deswegen mühte er sich nur ein verzerrtes Grinsen ab und stand dann ein paar Sekunden planlos herum, weil er nicht wusste, was er machen sollte. Alleine bleiben wollte er auf keinen Fall, denn das hätte Nachdenken bedeutet, worauf er gut verzichten konnte. Doch dann fiel ihm Lydia ein und wenn er erst mal mit ihr gesprochen hatte, dann würde alles wieder gradegerückt sein. Gut, dass sie auch die zwei Wochen Urlaub hatte und nicht die Gefahr bestand, dass er sie nicht erreichen konnte, weil sie in der Firma war.

Seine Mutter hatte seine Planlosigkeit inzwischen auch gespürt und klopfte auf den freien Platz neben sich. "Komm, setz dich zu uns. Wir wollten gleich eine kleine Spielerunde starten."

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Toni so ein Angebot schon in der Sekunde abgelehnt, in der es ausgesprochen worden war, aber diesmal dachte er darüber nach, es anzunehmen. Denn seine Mutter, Peter, Nadja und Thorsten waren besser als gar keine Gesellschaft. "Ich rufe nur eben Lydia an und dann mach ich gerne mit," erwiderte er deswegen und seine Mutter sah ihn groß an. "Guck mal an," meinte sie. "Dieser Urlaub macht ja einen ganz neuen Menschen aus dir."

Toni zuckte nur mit den Schultern, zog seine Schuhe aus, hängte seine Jacke  an die Gaderobe und ging in sein Zimmer.

Lydia nahm schon beim zweiten Klingeln ab, sodass Toni auch jetzt keine Zeit zum Nachdenken hatte. Gespräche mit ihr, mochten sie auch nie besonders lang sein, schafften es immer wieder, dass Toni sich besser fühlte. Er schaffte es sogar, ihr von Gregor zu erzählen und es ihr als die Belanglosigkeit zu verkaufen, als der er es gerne empfunden hätte.

Am Ende versicherte Toni ihr, wie sehr er sich auf die Woche gemeinsamen Urlaub freute und wie verdammt er sie vermisste. Und nach dem Gespräch fühlte er sich wieder absolut unangreifbar für alles, was da kommen mochte. Trotzdem riskierte er es jetzt nicht, alleine zu bleiben sondern ging wieder runter zu den anderen.

Es wurde sogar ein richtig angenehmer Abend, zu dem sich auch Kamilla irgendwann gesellte. Toni konnte sogar Bier trinken, ohne von Peter schief angesehen zu werden und Nadjas lockere Art sorgte dafür, dass er sich keinen Moment so fühlte als würde er hier mit den langweiligen Erwachsenen sitzen. Sie bestellten sich schließlich sogar Pizza, etwas, das Peter sonst auch immer gerne verurteilte, aber er schien echt einen ziemlich guten Tag zu haben.

Als Toni und Kamilla einen Stoß Gläser in die Küche brachten, damit der Tisch nicht ganz so überfrachtet war, bekam er sogar die Gelegenheit sie zu fragen, wo sie gestern gewesen war.
Allerdings war ihre Antwort die nur aus dem Wort "Unterwegs" bestand, genau so informativ wie das meiste andere, was sie bis jetzt zu ihm gesagt hatte. Aber Toni, der so jemanden wie sie noch nie vorher getroffen hatte und jetzt wirklich neugierig war, ließ sich davon nicht abspeisen. "Bist du  im Wald rumgelaufen? Alleine? Hast du da keinen Schiß?" hakte er nach.

Sie sah ihn an und dann lächelte sie sogar leicht. "Ja bin ich. Es gibt da einen kleinen Hügel von da aus kann man die Sterne richtig gut sehen, da bin ich gewesen. Es ist wirklich schön da, man ist ganz alleine und außer den Waldgeräuschen hört man absolut nichts und es gibt auch kein störendes Licht," antwortete sie. "Und nein, ich habe keinen Schiß. Ich hab einenn guten Schutzgeist." Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und ging zurück zu den anderen, während Toni sich fragte, was sie mit Schutzgeist gemeint hatte. Schutzengel hätte er verstanden aber Schutzgeist? Kamilla war schon echt merkwürdig.

Die Spielrunde endete weit nach Mitternacht und Toni hatte mehr Spaß gehabt, als er sich eingestehen wollte.

Er verabschiedete sich von Peter und seiner Mutter mit der tief schlafenden Maja im Arm und half danach noch Nadja und Kamilla dabei, das Chaos zu beseitigen.

"Du bist ja ein richtiger Kavalier geworden," meinte Nadja, als er ihr mit den Armen voller Flaschen entgegenkam.

"Tja, da hat meine Mutter mit ihrer Erziehung dann ja doch etwas richtig gemacht," erwiderte Toni grinsend.

"Ich werde dich morgen lobend bei ihr erwähnen," versicherte Nadja und klopfte ihm einmal auf die Schulter. "Aber ihr könnt jetzt ruhig auch nach oben gehen, mit dem Rest werd ich locker selbst fertig."

"Nein, nein, ich bleib bis alles weg ist!" beeilte Toni sich zu sagen. Er wollte es so lange es ging herauszögern alleine zu sein, denn der Lydia-Effekt war schon lange wieder verschwunden und er spürte schon wieder die Gedanken lauern.

Nadja zog die Augenbrauen hoch. "Oh ok. Dann werde ich dich morgen doppelt lobend erwähnen!"

Leider dauerte es danach nur noch fünf  Minuten bis alles an seinem Platz war, da Kamilla natürlich auch geblieben war, und Toni nichts anderes übrig blieb, als nach oben zu gehen. Ein Blick auf die Uhr die ihm kurz nach zwei anzeigte wies ihn darauf hin, dass es jetzt definitiv zu spät war, Lydia noch einmal anzurufen um den Effekt wieder aufzufrischen.

Er schickte ihr trotzdem eine hoffnungsvolle Nachricht und legte sich dann aufs Bett, um auf eine Antwort zu warten. Die aber nicht kam. Stattdessen kamen die Gedanken und überfielen ihn ohne Chance, sich dagegen zu wehren. Er sah Gregor ganz deutlich vor sich auf der Wiese sitzen, er musste dazu gar nicht mal die Augen schließen. Und er hörte noch einmal die Worte, die ihn so aufgewühlt hatten. Dass er eigentlich lieber was mit einem Kerl anfangen würde. Und dass er ja nichts an dem ändern konnte. Und das seine Freunde das auch akzeptierten.

Vorallem bei dem Teil mit dem ,Nichts dran ändern können' regte sich Tonis Protest. Natürlich konnte man das ändern. Er hatte es geschafft, er war glücklich mit Lydia zusammen und ihm fehlte nichts.

"Wirklich?" sagte eine Stimme spöttisch in seinem Kopf, die er ärgerlich wieder verscheuchte. Nein, er war glücklich mit Lydia, Ende der Diskussion. Gregor wusste eben gar nicht, wovon er redete.

Dass Toni manchmal ein paar Ausrutscher hatte, wie Gedanken an Oliver, wenn er mit Lydia schlief, oder dass Gregor in seiner Jacke gut aussah, waren eben Ausnahme von der Regel. Das hatte sicher jeder Mal. Also absolut kein Grund, sich zu fühlen, als würde etwas innerlich an einem zerren, so wie es grade bei ihm der Fall war. Er würde morgen einfach noch einmal mit Lydia telefonieren und dann war die ganze Sache erledigt!

Mit diesem Entschluß drehte er sich auf die Seite und konnte endlich einschlafen, aber als er diesmal wieder gegen 8 Uhr geweckt wurde war das Aufstehen doppelt so schwer wie gestern weil er gefühlt nur drei Stunden geschlafen hatte.

Heute stand eine Wanderung in irgendeinem Nationalpark auf dem Programm. Toni hatte absolut nichts übrig für Wanderungen aber er behielt es für sich.

Und auch diesmal war es gar nicht mal so schlimm. Das Wetter war wunderbar herbstlich und die Landschaft richtig schön. Wieder schoß Toni viele Fotos die er mit Lydia teilte, er tobte mit Maja auf einem Spielplatz herum und ließ sich nachher das Essen in einem Restaurant an einem See schmecken.

Und als sie dann, diesmal gegen vier Uhr, wieder bei Nadja waren und er diesmal nicht auf Maja aufpassen musste lag der Nachmittag völlig frei vor ihm, aber wieder hatte er keine Lust alleine zu sein- Denn alleine sein bedeutete bloß wieder nachdenken und das wollte er nicht, denn er spürte, wie brüchig die Wand zwischen ihm und dem Bedürfnis, alles in Frage zu stellen geworden war.

Er hätte jetzt sogar gerne etwas mit Kamilla gemacht, vorallem sich erklären zu lassen was ein Schutzgeist war und woher sie einen hatte, aber sie half schon in der Gärtnerei aus und so blieb ihm eigentlich nichts übrig, als mit Nadja, Peter und seiner Mutter Kaffee zu trinken, Grade, als er seinen Platz in der Küche, von dem aus er Nadja und seiner Mutter beim Kaffeekochen und Kuchenschneiden zugesehen hatte, verlassen und zu Peter und Maja auf der Couch gehen wollte, klopfte es.

Natürlich hätte es jeder sein können aber Tonis Herz hatte sich dafür entschieden, dass es nur Gregor sein konnte, denn wieder machte es diesen dummen kleinen Hüpfer und Toni erstarrte in seiner Bewegung. Dann wurde ihm aber bewusst, wie merkwürdig er aussah und er bemühte sich, einfach lässig weiterzugehen, während Nadja an ihm vorbei zur Tür eilte.

"Hey Gregor," kam dann auch prompt die Bestätigung von Tonis Verdacht. "Du willst doch bestimmt zu Toni, oder?"

Natürlich wollte Gregor das und Toni atmete einmal tief durch und straffte die Schultern. Seine Mutter war nicht weit weg und ohne hinzusehen wusste er ganz genau, dass sie zur Tür blickte. Jetzt konnte er endlich ihr Bild von ihm geraderücken. Ruhig und beherrscht ging er zur Tür.

"Hallo," sagte er und auch, wenn Gregors Lächeln für ein angenehmes Gefühl in seinem Bauch sorgte, ließ er sich nichts anmerken.

"Hey," nickte Gregor ihm zu. "Wir wollen ins verlassene Dorf und ich dachte, ich frag mal, ob du nicht mitkommen willst. Du fandest das damals ja ziemlich cool da."

Toni wusste nicht, ob das eine Anspielung sein sollte, aber selbst, wenn es keine war, konnte er nicht verhindern, dass er rot wurde weil er unweigerlich an ihren ersten Kuss denken musste. Seine Mutter konnte es gottseidank nicht sehen, aber Gregor und Toni war das grade unglaublich unangenehm. Aber wenn er sich jetzt entsprechend benahm würde es nur noch unangenehmer werden. Also sagte er genau so gelassen wie vorher: "Ja klar, ich komm gerne mit."

Gregor, der die gesamte Aufmerksamkeit aller Leute im Raum auf sich gezogen hatte, meinte: "Ok, super. Ich warte dann draußen auf dich.", und verschwand wieder.

Toni zog sich rasch seine Schuhe an und als er nach seiner Jacke griff tauchte plötzlich seine Mutter neben ihm auf. "Das war also Gregor mal wieder," sagte sie. "Er sieht ja ganz schön gut aus, nicht wahr?" Sie stupste ihn leicht mit dem Ellenbogen in die Seite.

Und damit war die Situation da, die Toni die ganze Zeit herbeigewünscht hatte. Jetzt galt es, trotz innerem Gefühlschaos die richtigen Worte zu finden und genau so ruhig und gelassen zu bleiben wie grade bei Gregor. "Wenn du das sagst, dann ist es sicher auch so," meinte er kurz angebunden und tat noch eine Prise Genervtheit dazu.

"Ja, meine ich," erwiderte seine Mutter und dann drückte sie ihn einmal kurz an sich. "Aber ich weiß ja, dass es für dich nur noch Lydia gibt." Sie ließ ihn wieder los und kehrte zu Nadja in die Küche zurück.

Während Toni sich seine Jacke anzog überlegte er, ob das jetzt ein Volltreffer gewesen oder sie den letzten Satz irgendwie ironisch gemeint hatte. Er wiederholte ihn noch einmal vor seinem inneren Ohr, entschied, dass da nirgendwo auch nur der Hauch Ironie beigewesen war und es deswegen der Voltreffer geworden war, den er haben wollte.

"Was ist los?" wollte Gregor wissen, als Toni mit einem breiten Grinsen aus dem Haus trat. Er zuckte mit den Schultern: "Ach, ich hab nur n kleines Spielchen gegen meine Mutter gewonnen."

"Na dann Glückwünsch," sagte Gregor und ging los. "Wir treffen die anderen am Wald.

Genau wie gestern war es nicht so leicht für Toni, mit Gregor Schritt zu halten. Was vermutlich teilweise auch daran lag, dass er es einfach nicht verhindern konnte, ihn hin und wieder anzusehen. Nur ganz kurz und bei jedem Seitenblick schwor er sich, dass es der letzte war, aber es funktionierte nicht.

"Und, was hast du heute gemacht?" erkundigte Gregor sich, als sie über die Wiese gingen, auf der sie gestern noch gesessen hatten.

"Ich war mit Peter und meiner Mutter wandern," antwortete Toni etwas außer Atem. "Ich hasse Wandern, aber ich wusste ja, dass das hier ein Familienurlaub wird also hab ich mich auf so ödes Zeug eingestellt." Dass es dann wider seines Erwartens doch nicht so schlimm gewesen war behielt er für sich. "Und du?"

Gregor lachte. "Oh, mein Tag war total spannend. Erst acht Stunden Schule, dann fast ne Stunde in nem vollen Zug nach Hause fahren und jetzt müsste ich eigentlich noch Hausaufgaben machen, aber da hab ich jetzt echt keinen Bock drauf."

"Also machst du auch Abi," vermutete Toni und Gregor nickte.

Und das war dann das Ende ihrer Unterhaltung, weil jetzt der Berg kam, dem Toni dann doch etwas mehr Aufmerksamkeit schenken musste, um nicht hinzufallen. Dabei hätte er Gregor gerne noch ein paar Dinge gefragt. Wie zum Beispiel was er studieren wollte. Oder ob er schon einmal was mit einem Kerl gehabt hatte. Vielleicht war er ja sogar schon mal mit einem ins Bett gegangen und Toni hätte gerne gewusst, wie sich das angefühlt hatte. Er war so erschrocken über seine Gedanken, dass er fast ins Rutschen geraten wäre und sich grade eben noch fangen konnte.

"Da sind sie," rief Gregor dann und ging noch schneller als vorher obwohl sie den Berg noch gar nicht runter waren, sodass jede weitere Unterhaltung im Keim erstickt wurde, weil Toni viel zu sehr damit beschäftigt war, mit ihm mitzuhalten und gleichzeitig nicht hinzufallen.

Die Gruppe, die am Waldrand auf sie wartet bestand aus fünf Leuten: Kara, Henrike und drei Kerle, die zwar auch auf der Party gewesen waren, aber von denn Toni die Namen nicht kannte. Und einfach zu fragen kam ihm irgendwie doof vor, deswegen nickte er ihnen nur zu und sagte: "Hi."

"Hallo," war das Echo und Kara hängte sich an seinen Arm. "Echt cool, dass du mitkommst!" rief sie

Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und unter den Bäumen war es schon richtig dunkel, weswegen einer der Jungs eine mitgebrachte Taschenlampe anknipste, bevor sie losgingen.

Kara war die ganze Zeit an Tonis Seite und redete. Das meiste, was sie sagte, rauschte aber ungehört an ihm vorbei, weil er viel zu sehr mit beschäftigt war, Gregor im Auge zu behalten, der neben einem von den Kerlen ging und sich eifrig mit ihm unterhielt.

Toni spürte einen Stich und identifizierte ihn als Eifersucht. Aber worauf sollte er eifersüchtig sein? Es war doch ganz egal, dass Gregor ihn gefragt hatte, ob er mitkommen wollte und ihn jetzt einfach links liegen ließ! Er war ja nicht wegen ihm hier!

Er wandte den Blick ab und beobachtete seine Umgebung, was aber auch keine gute Idee war denn die dunklen Bäume, die Geräusche, von denen er nicht alle identifizieren konnte, die dunklen Gestalten um ihn herum, das leise Stimmengewirr, der tanzende Lichtkegel der Taschenlampe- das alles führte dazu, dass Toni sich etwas mulmig fühlte und jetzt war er dankbar für Karas Anhänglichkeit. Er räusperte sich einmal um nicht Gefahr zu laufen, dass seine Stimme zitterte. "Was macht ihr eigentlich in dem Dorf so?" erkundigte er sich, als Kara grade einmal eine Redepause machte.

"Ach ganz vieles unterschiedliches Zeug," antwortete sie. "Jens macht immer Fotos, von den alten Häusern und uns und er fotografiert echt gut. Er hatte sogar mal eine Ausstellung in der Schule. Ich wette, er wird später mal Fotograf. Und Philipp kann Gitarre spielen und manchmal nimmt er sie mit und dann singen wir ein paar Lieder, was auch cool ist. Vorallem jetzt, wo es dunkel ist und wir das Lagerfeuer anzünden. Und die Jungs haben da auch immer einen Kasten Bier stehen und dann trinken wir eben auch was."

"Klingt gut," erwiderte Toni und versuchte das mulmige Gefühl in seinem Bauch loszuwerden. Er war hier mit Leuten zusammen, die nicht zum ersten Mal bei Dunkelheit im Wald waren und denen nichts passiert war und so begeistert wie Kara gewesen war musste es echt eine tolle Sache sein.

Doch als Kara dann von Henrike gerufen wurde, die ein Stück vor ihnen ging, sie ihn losließ und er dann plötzlich ganz alleine war, da war das mulmige Gefühl sofort wieder zurück. Hatte da hinter ihm nicht grade was geknackt? Er konnte sich selbst nicht davon abhalten, einmal kurz über die Schulter zu schauen.

"Alles in Ordnung?" ertönte da plötzlich eine Stimme vor ihm und erschreckte ihn fast zur Tode. Er keuchte einmal auf und fuhr herum und es dauerte einen Moment, bis er die Gestalt vor ihm als Gregor identifizieren konnte. Sein rasender Herzschlag beruhigte sich langsam wieder. "Ja klar, warum sollte nicht alles in Ordnung sein?" erwiderte er spitzer, als er es geplant hatte.

"Na ja, ich dachte nur, weil du früher doch eher ein Angsthase gewesen bist," sagte Gregor und Toni hörte das Lächeln in seiner Stimme.

Verschwunden war das mulmige Gefühl und machte einer leichten Angefressenheit Platz. "Das war vor drei Jahren," entgegenete er würdevoll. "Jetzt hab ich natürlich keine Angst mehr.

Gregor seufzte einmal. "Oh das ist gut. Natürlich gibt es auch in dem Dorf einen kleinen Geist, aber wenn du ja keine Angst mehr hast, dann macht dir das ja nichts aus."

Toni schluckte einmal. "N...nein tut es nicht," stotterte er und damit war er enttarnt.

Gregor lachte. "Ich wusste es doch! Manche Dinge ändern sich eben einfach nie."

"Du bist also auch immer noch der gleiche Blödmann," rief Toni und schubste ihn einmal leicht.

"Vielleicht bin ich das," erwiderte Gregor und schubste genau so leicht zurück. "Aber ich werd dich auch vor allem Bösen beschützen, genau wie damals!"

Jetzt war die Anspielung definitiv keine Anspielung mehr und Toni merkte, wie sein Gesicht wieder heiß wurde. Und eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Bauch aus. Alle weiteren dummen Sprüche blieben ihm im Hals stecken und heraus kam nur ein Wort: "Danke."

"Immer wieder gerne," sagte Gregor und aus seiner Stimme war auch alles Neckisches verschwunden. Im Gegenteil, die Art, wie er es gesagt hatte, jagte Toni einen kleinen Schauer über den Rücken.

Schweigend und ziemlich eng nebeneinander gingen sie hinter den anderen her und obwohl das Licht der Taschenlampe ziemlich weit weg war fühlte Toni sich nicht mehr unwohl.

Glücklicherweise war der Weg zum Dorf hin jetzt schon so oft belaufen worden, dass sich ein kleiner Trampelpfad gebildet hatte und Toni keine Angst mehr haben musste, über irgendetwas zu stolpern, so wie es damals gewesen war. Überhaupt, je länger sie unterwegs waren, desto drängten sich Toni die Erinnerungen an früher auf. Vielleicht wusste er nicht mehr, was Gregor ihm damals erzählt hatte, aber wie sie bei Regen auf dem Dachboden zusammengekuschelt im Bett gelegen hatten, das wusste er noch genau. Oder wie sie Hand in Hand durch den Wald gegangen waren...

Je länger er an diese Sachen dachte, desto merkwürdiger fühlte er sich und er wusste nicht so wirklich, wie er dieses Gefühl deuten und was er davon halten sollte und war deswegen froh, als sie am Dorf angekommen waren. Obwohl die dunklen eckigen Umrisse der Häuserruinen dann doch wieder etwas ziemlich Gruseliges an sich hatten und Toni musste einmal tief durchatmen. In diesem Moment spürte er Gregors Hand ganz leicht auf seiner Schulter und dann ging es ihm gleich besser.

"So, ihr wisst ja Bescheid," sagte der, der die Taschenlampe hatte und dann machten zu Tonis Erstaunen alle anderen die Lichter ihrer Handys an und zogen in verschiedenen Richtungen ab. Wieder war das mulmige Gefühl da, bis Gregor dicht neben ihm sagte: "Komm, wir gehen Holz sammeln. Unser Vorrat ist alle und ohne Holz kein Feuer."

"Ja klar," erwiderte Toni fest, als war er genau davon ausgegangen. Auch Gregor hatte inzwischen das Licht an seinem Handy angemacht und Toni tastete in seinen Taschen nach seinem und musste dann feststellen, dass er es vergessen hatte. Was nicht besonders vorteilhaft war, denn jetzt gab es keinen Trampelpfad mehr und er musste aufpassen, dass er nicht stolperte. Glücklicherweise leuchtete Gregor auf der Suche nach geeigneten Ästen über den Boden, sodass er heimtückische Stolperfallen sofort ausmachen konnte.

Wieder gingen sie schweigend und blieben nur hin und wieder stehen, damit Gregor sich nach einem vielversprechenden Ast bücken konnte.

Irgendwann wurde Toni die Stille zu viel. Das ganze unidentifizierbare Geknacke und Geraschel um ihm herum und dazu dieses Gefühl, dass da zwischen ihm und Gregor irgendetwas war, das immer stärker wurde...

"Weißt du denn schon, was du nach dem Abi machen willst?" setzte er deswegen das Gespräch von vorhin fort.

"Absolut!" antwortete Gregor ohne lange zu überlegen. "Geschichte studieren. Oder Archäologie. Ich wette, um die Burg herum und hier im Wald kann man noch Einiges ausgraben und das würde ich echt gerne machen. Aber mein Vater hat schon gesagt, weil das angeblich ein brotloses Studium ist würde er das nicht unterstützen. Er will, dass ich BWL oder Hotelmanagement studiere, aber da hab ich echt keinen Bock drauf!" Es entstand eine kleine Pause und Toni wusste, ohne es zu sehen, dass Gregor jetzt wieder die Lippen zusammenkniff und die Stirn runzelte. "Und du?" wollte er dann wissen.

Toni zuckte mit den Schultern. "Ich hab keine Ahnung. Ich bin erst mal froh, wenn ich das Abi überhaupt geschafft hab."

"Ich bin sicher, das packst du ohne Probleme," sagte Gregor und da war wieder etwas in seiner Stimme, das Toni erschauern ließ.

Und auf einmal prallte alles über Toni zusammen: das, was Gregor auf der Wiese gesagt hatte, die Gefühle, die er in ihm auslöste, diese komische Atmosphäre, die da grade zwischen ihnen herrschte und die Tatsache, dass Toni keine Möglichkeiten hatte, das alles abzuwehren, indem er kurz mit Lydia telefonierte. In diesem Moment fühlte er sich gepackt und aus der doch ziemlich bröckeligen Festung gezogen, in der er all die Jahre versucht hatte, sich zu verschanzen.

Und als Gregor das nächste Mal stehenblieb um einen Ast aufzusammeln, da küsste Toni ihn einfach. Gregor erwiderte den Kuss sofort und dass sie beide alles hineinfließen ließen, alle Erinnerungen, alle Gefühle füreinander, die in all den Jahren nie verschwunden waren und die besondere Atmosphäre, die sie beide gespürt hatten, sorgte dafür, dass es gleich richtig heftig wurde.

Erst, als Gregor seine Hand ganz sanft auf Tonis Schulter legte, war für Toni schlagartig alles vorbei. Dieser Kuss zusammen mit dieser liebevollen Berührung konnte er dann doch noch nicht stemmen. Er machte einen hastigen Schritt zurück. "E...entschuldigung," stotterte er und dann ging er einfach los, egal wohin, nur weg von Gregor. Es war genau wie damals nachdem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten mit dem Unterschied, dass Toni jetzt keine Angst hatte, dass Gregor ihm nachsetzte, um ihn zu verprügeln.

Glücklicherweise bestand in diesem Moment gar nicht die Chance für Toni, sich zu verlaufen, denn direkt vor ihm sah er ein weiteres Handylicht aufleuchten, auf das er einfach zuhielt und auf Kara und einen der unbekannten Jungs trafen.

"Ach Gott Toni, was machst du denn hier?" rief Kara, als er plötzlich aus einem Busch gestampft kam. "Du hast mich ganz schön erschreckt. Ich dachte schon, es wäre der Waldgeist." Sie lachten beide einmal laut.

Toni, der noch halb in Trance befand, blinzelte in das Licht, das direkt auf ihn gerichtet war. "Ich...ich," stammelte er und suchte in seinem leeren Hirn nach den passenden Wörtern und erst, als es anfing peinlich zu werden, fielen sie ihm ein. "Ich bin wohl irgendwie vom Weg abgekommen. Gut, dass ich euch gefunden hab!"

"Alles in Ordnung mit dir?" erkundigte sich der Typ, der für Toni jetzt einfach Jens hieß. "Du siehst echt aus, als hättet du grad einen Geist gesehen."

Toni schluckte einmal. "Nein, alles ok. Ich bin ein Stadtkind," fügte er als Erklärung hinzu und das reichte den beiden, denn sie stellten keine weiteren Fragen.

"Wir haben schon einiges an Holz gesammelt," sagte Kara stattdessen und tätschelte den Arm von dem Kerl. "Simon ist ein echtes Naturtalent. Wir sind schon auf dem Rückweg."

"Das bin ich definitiv!" stimmte Simon ihr unumwunden zu und klopfte sich auf die Brust. "Wir sind bestimmt wieder als erstes da. Los kommt, keine Müdigkeit vortäuschen!"

Sie gingen los und Toni stolperte hinter ihnen her.

Natürlich hätte Toni jetzt sofort umdrehen und zurück zur Burg gehen müssen um seinen schon mit dem Tod ringenden Plan noch einigermaßen zu retten.

Hätte er grade einen klaren Kopf gehabt, dann wäre ihm das auch aufgefallen und dann hätte er sich Gedanken machen müssen, wie er es ohne eigene Taschenlampe und ohne sich zu verirren zurückgeschafft hätte. Aber das Einzige, wozu sein Gehirn jetzt in der Lage war, war die Szene von vorhin, obwohl sie nicht länger als zwanzig oder dreißg Sekunden gedauert hatte, immer und immer wieder vor seinem inneren Auge abzuspielen: wie er die Hand auf Gregors Arm legte, Gregors überraschter Gesichtsausdruck und dann der nur den Bruchteil einer Sekunde dauernde Kuss.

Und während er hinter Kara und Simon herstapfte wurde dieser sekundenlange Film immer und immer wieder abgespielt und erst ein etwas heftiger Stoß in die Seite ließ ihn wieder zu sich kommen. Sie waren zurück im Dorf, vor ihnen lag die Feuerstelle und Simon kniete bereits auf dem Boden und war damit beschäftigt, das Feuer in Gang zu bringen und neben Toni stand Kara, die ihn grade unsanft angestoßen hatte.

"Hallo, Erde an Toni, ist da jemand?" rief sie und es dauerte einen Moment bis Toni seine Gedanken wieder soweit unter Kontrolle hatte, dass er zu einer Antwort in der Lage war. "Ja klar ist hier jemand!" erwiderte er und Kara lachte einmal: "Aber auch erst, nachdem ich zum zweiten Mal nachgefragt hab. Der dunkle Wald scheint dir ja wirklich nicht gut zu bekommen, du Stadtkind. Komm, ich geb dir jetzt mal Medizin gegen das Gruseln." Sie hakte Toni unter und zog ihn mit sich.

Toni hatte sich inzwischen wieder völlig gefangen und fing an, sich über den Eindruck, den er auf Kara gemacht hatte zu ärgern. Er ließ sich zwar weiter von ihr mitziehen, aber erwiderte fest: "Ich grusel mich nicht, das hab ich die ganze Zeit schon nicht! Es ist halt nur viel dunkler wenn nicht überall Laternen rumstehen und da musste ich mich eben erst mal dran gewöhnen."

Kara lachte wieder. "Ok, ok. Aber willst du das Bier, das ich dir geben wollte, trotzdem?"

"Ja klar," schoss es aus Toni heraus. Alkohol wäre jetzt sicher genau das Richtige, um sein völlig aufgewühltes Innenleben wieder zu beruhigen. Er setzte sich auf einen von den drei Baumstämmen, die um die Feuerstelle herum angeordnet waren, während Kara in einer dunklen Hausruine verschwand und kurz darauf mit zwei geöffneten Flachen Bier in der Hand wiederkam. Sie drückte Toni eine in die Hand und setzte sich dann mit der anderen neben ihn. Sie stießen an und dann nahm Toni einen tiefen Schluck, nach dem er sich tatsächlich etwas besser fühlte.

Seine Finger schlossen sich um das kühle Glas. Er war froh, dass er etwas hatte, an dem er sich festhalten konnte, denn in diesem Moment kamen die anderen mit Zweigen beladen zurück und legten sie in der Nähe der Feuerstelle ab, wo es Simon inzwischen gelungen war, eine kleine Flamme zu entzünden, die rasch größer wurde.

Toni wollte Gregor eigentlich nicht ansehen, am liebsten nie wieder. Aber als er als Vorletzter mit seinen gesammelten Zweigen im Arm auftauchte, da zog er Tonis Blick wie magnetisch an und ihm wurde in dieser Sekunde klar, wie angreifbar er sich durch diesen Kuss gemacht hatte. Er versuchte verzweifelt an Gregors Gesichtsausdruck zu erkennen ob er wütend war. Denn er könnte sich jetzt einfach hinstellen und sagen, Toni habe ihn geküsst und dann würde Toni im Ansehen aller gleich auf die allerniedrigste Stufe sinken. Es würde ihm so gehen, wie dem Typen aus der Parallelklasse, der sich geoutet hatte und mit dem jetzt so gut wie niemand was zutun haben wollte und über den alle, besonders Max, immer absolut miese Witze rissen.

Und Kara und die anderen waren eigentlich total in Ordnung, sodass Toni auf keinen Fall wollte, dass sie ihn gleich hassten. Trotz des Feuers wurde ihm eiskalt und er umklammerte die Bierflasche so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Gegors Miene war in dieser totalen Dunkelheit und nur beleuchtet durch den Feuerschein nicht zu deuten und Toni saß angespannt wie eine Sprungfeder da um sofort aufzustehen und wegrennen zu können, wenn Gregor etwas sagte.

Sein Herz klopfte heftig und zwar rasten die Gedanken in seinem Kopf herum, aber kein einziger davon erinnerte ihn daran, wie Gregor gesagt hatte, dass seine Leute mit soetwas kein Problem hatte. Also saß Toni wie erstarrt da, während Gregor seine Zweige zu denen der anderen legte, ein Bier in die Hand gedrückt kam und sich dann mit Henrike unterhielt, ohne auch nur einmal den Kopf in Tonis Richtung zu drehen.

Auch später beachtete er Toni nicht aber der brauchte trotzdem noch zwei Bier, um sich wieder soweit zu entspannen, dass er sich an den Gesprächen um ihn herum beteiligen konnte.

Durch das Lagefeuer verloren die Dunkelheit und die verfallenen Ruinen ihre Gruseligkeit und sie wurde durch etwas ersetzt, für das Toni keinen Namen hatte, aber sich sehr angenehm anfühlte. Und als Phillip schließlich seine Gitarre rausholte und anfing zu spielen und die anderen mitsangen, wenn sie das Lied kannten, da wurde er endgültig von dieser Atmosphäre gefangen genommen.

Ohne, dass er sich selbst davon abhalten konnte, wanderten seine Blicke wieder zu Gregor, der ihm gegenüber saß, aber nicht, weil er Angst hatte, dass er den anderen von dem Kuss erzählte. Die Angst und die Anspannung waren verschwunden. Nein er sah Gregor einfach an, weil er ihn gerne ansah und als sich ihre Blicke dann schließlich trafen, da sah Toni nicht weg. Ebensowenig wie Gregor, sodass sie sich eine ganze Weile über das Feuer hinweg ansahen und als Gregor lächelte, da erwiderte Toni das Lächeln, während sein Herz einen Hüpfer machte. Und in diesem Augenblick war es ihm absolut egal, ob das gegen seinen Plan verstieß. Jetzt in dieser Sekunde war es einfach nur wunderbar.

Das böse Erwachen kam dann aber, als das Feuer heruntergebrannt war und Phillip seine Gitarre zur Seite legte um es zusammen mit Jens und Gregor endgültig zu löschen. Die anderen machten ihre Handytaschenlampen an um ihnen dabei zu leuchten und Toni wurde mit einem Ruck aus der kleinen unkomplizierten Welt gerissen, in der er für ein paar Stunden gewesen war. Jetzt fühlte sich die Starrerei mit Gregor mehr als unangenehm an und Toni hoffte inständig, dass sie keiner dabei gesehen hatte. Er lauschte unauffälig den Gesprächen um sich herum, aber zu seiner Erleichterung wurde es von niemandem auch nur ansatzweise erwähnt.

Vielleicht war er jetzt noch davongekommen, aber er würde das Risiko kein zweites Mal eingehen. Wenn er zuhause war, würde er erst einmal Lydia anrufen, er war erschrocken als ihm klar wurde, dass er sich, bis auf die paar Fotos, die er ihr vom Ausflug geschickt hatte, heute noch gar nicht bei ihr gemeldet hatte. In diesem Moment ärgerte er sich zum ersten Mal, dass er sein Handy vergessen hatte und er wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich zurück zur Burg.

Das war der eine Grund wieso er, als sie auf dem Rückweg waren, ganz vorne bei Henrike und Jens lief. Der andere war, dass er unbedingt vor Gregor auf der Burg sein wollte, was hieß, er brauchte einen großen Abstand.

Er brachte den Weg aus dem Wald hinter sich, ohne groß zu stolpern und verabschiedete sich dann hastig von seinem Grüppchen. Danach ging es dann allerdings nicht mehr so schnell voran, weil er jetzt absolut kein Licht mehr hatte und die völlige Dunkelheit nicht nur erschreckend war, sondern ihm auch den Aufstieg auf den Berg etwas erschwerte.

Er verlor wertvolle Sekunden und als Gregor ihn schließlich von hinten mit seiner Taschenlampe anleuchtete und "Warte mal!" rief, da wusste er, dass er verloren hatte und es ärgerte ihm maßlos. Er blieb zwar nicht stehen, ging aber etwas langsamer, schließlich würde Gregor ihn jetzt ja sowieso einholen. Er schloß dann auch innerhalb von einer halben Minute zu ihm auf und Toni musste sich jetzt ziemlich anstrengen um das Tempo, das er die ganze Zeit gehalten hatte, auch weiterhin halten zu können, denn auf keinen Fall wollte er jetzt zurückbleiben. Seite an Seite mit Gregor zu gehen reichte schon.

Sie liefen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her und die Geräusche ihrer Schritte waren die einzigen weit und breit.

Aber natürlich würde Gregor noch über den Kuss sprechen wollen, davon war Toni fest überzeugt. Deswegen fing alles in ihm an, sich nur noch auf Gregor zu konzentrieren und bei jedem Atemzug den er tat spannte Toni sich immer mehr an, bis er schließlich die Zähne so fest aufeinanderbiss, dass es  nach einer Weile anfing wehzutun, und seine Hände zu Fäusten ballte.

Gregor ließ sich Zeit, bis sie die Straße zur Burg erreicht hatten. "H...hast du eigentlich mal an mich gedacht?" fragte er dann schüchtern und jetzt war endlich die Gelegenheit gekommen, bei der Toni seine ganze Anspannung rauslassen konnte. "Warum um Himmelswillen sollte ich auch nur eine Sekunde an dich gedacht haben!?" schrie er Gregor an und blieb erbost stehen. "Ich habe eine Freundin, bei uns läuft alles bestens und du bist mir echt scheißegal! Und ich hab absolut keinen Bock drauf, dich noch einmal zu sehen!"

Nach diesen Worten stampfte er immer noch mit mit geballten Fäusten, an Gregor, der ein paar Zentimeter vor ihm ebenfalls stehengeblieben war, vorbei. Jetzt brauchte er kein Licht mehr, hier gab es Straßenlaternen und auch im Burghof brannten ein paar Lampen.

Leider war es noch nicht so spät, dass alle Hausbewohner schon schliefen und als Toni eintrat, wurde er von Nadja empfangen, die am Küchentisch saß.

"Da ist er ja," rief sie und strahlte ihn an. "Ich bin ganz überrascht, dass du das Abendessen ausfallen gelassen hast. Du wirst uns noch vom Fleisch fallen!"

Toni zwang sich zu einem Lächeln und bemerkte nach einem schnellen Rundumblick erleichtert, dass weder Peter noch seine Mutter zu sehen waren.

Seine Anspannung löste sich langsam wieder auf und jetzt, wo Nadja Essen erwähnt hatte, war gleich wieder ein riesiges Loch in seinem Magen und es war ihm egal, dass sie  anfing laut  zu lachen, als er fragte, ob noch etwas vom Abendbrot da war.

Sie stand auf und ging zum Kühlschrank. "Natürlich ist noch was da, schließlich kenn ich ja meinen Gast."

Also bekam Toni sein Abendessen und Nadja setzte sich zu ihm an den Tisch, während er aß. "Wo bist du denn heute gewesen?" erkundigte sie sich und Toni erzählte ihr kurz angebunden von dem Lagerfeuer.

Nadja stützte den Kopf in die Hände. "Ich hab mir schon gedacht, dass sich die Jugendlichen da rumtreiben, obwohl es eigentlich verboten ist. Aber was macht man nicht alles für Sachen, wenn man jung ist?! Wenn ich da an meine Jugend denke..." Ihr Blick schweifte ab und Toni hütete sich, sie zu fragen, was sie damals alles gemacht hatte, sondern beeilte sich, sein Brot zu essen.

Schließlich war Nadja diejenige, die seiner Mutter diese dummen Flausen mit Gregor und ihm in den Kopf gesetzt hatte, was das ganze Elend, in dem Toni sich grade befand, überhaupt erst in Gang gesetzt hatte. Das Risiko, dass ihr das jetzt wieder einfiel und sie ihn nach Gregor fragte war ziemlich hoch und Toni wollte unbedingt vermeiden, dass das passierte. Deswegen stopfte er sich die letzten Reste in den Mund und stand vom Stuhl auf.

"Ich geh ins Bett, gute Nacht," quetschte er hervor, bevor er die Treppe hochlief, in das Gästezimmer trat und die Tür leise hinter sich schloß. Dann schnappte er sich sein Handy, das auf dem Nachttisch lag. Er hatte zwei verpasste Anrufe von Lydia und ein halbes Dutzend Nachrichten von ihr und er beeilte sich, sie anzurufen.

Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang und danach war Toni sich sicher, dass er sich jetzt besser fühlte aber das hielt nur so lange an, wie er noch nicht im Bett lag, um zu schlafen. Denn so einfach wie aus ihr herausgezogen zu werden war es nicht, in seine bröckelige Festung der Selbstverleugung zurückzukehren. Während er sich im Bett herumwälzte musste er wieder an den Kuss denken. Die Erinnerung hatte in den Stunden, die dazwischen lagen, nichts von ihrer Lebhaftigkeit verloren und auch, wenn Toni dagegen anzukämpfen versuchte fühlte es sich nach wie vor gut an. Richtig gut.

Und dann der Weg zurück, als er Gregor so angeschrieen hatte. Was Toni jetzt so unglaublich Leid tat, dass er am liebsten auf der Stelle zu ihm gegangen und sich bei ihm entschuldigt hätte. Was er natürlich nicht tat. Nicht nur, weil Gregor jetzt sicherlich in seinem Bett oben in seinem Turmzimmer lag und damit unerreichbar für ihn war, sondern auch, weil ein Teil in ihm immer noch kämpfte, diese Gefühle zu verdrängen.

Es war ein verzweifelter Kampf und es war klar, dass er verloren gehen würde. Denn sonst wäre Toni nicht zwischen diesen beiden Szenarien aufgerieben worden, bis er das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen und von den vier Wänden um ihn herum erdrückt zu werden. Er musste hier sofort raus, sonst würde er explodieren.

Er stand auf und es war ihm völlig egal, dass er seine Schlafsachen noch anhatte. Er wollte nur noch raus hier. Er schlich sich nach unten ohne Licht anzumachen, zog sich seine Schuhe an und öffnete die Tür. Die kühle Luft, die ihm entgegenschlug fühlte sich wunderbar an und Toni tat ein paar tiefe Atemzüge .

Er trat nach draußen und stand dann einen Moment vor dem Haus. Der ehemalige Burghof, der jetzt ein Parkplatz war, lag verlassen vor ihm und es brannten nur noch vereinzelt Lampen. Die hinteren Häuser wurden nicht von ihrem Licht erreicht und waren nichts als riesige schwarze Schatten. Wie die Ruinen in dem Dorf, bevor sie mit ihren Taschenlampen und dem Lagerfeuer gekommen war.

Toni vermisste die Stimmung, in der er sich befunden hatte, als sie alle auf den Baumstämmen gesessen hatten. Da war es einfach gewesen Gregor anzusehen und sich selbst einzugestehen, dass es sich gut anfühlte, aufgrund der simplen Tatsache, dass da Gefühle im Spiel waren. Was sie eigentlich die ganze Zeit schon gewesen waren, Toni hatte nur irgendwann gelernt, sie zu verdrängen und darin war er sehr erfolgreich geworden.

Denn wenn er nicht erfolgreich wäre, dann würde er seine Freunde verlieren und ganz alleine dastehen. Wie der Junge aus seiner Schule. Lydia würde dann natürlich auch nichts mehr von ihm wissen wollen und ganz alleine dazustehen war das Schlimmste, das Toni sich vorstellen konnte.

Deswegen war es vielleicht so einfach, zuhause zu verdrängen, was er wirklich fühlte, während er es hier von Anfang an nicht geschafft hatte. Und überhaupt, wenn er grade schon so ehrlich zu sich selbst war, dann konnte er sich ja jetzt auch eingestehen, dass er gar nicht mit hierher gekommen war, um sich selbst und seiner Mutter zu beweisen, dass zwischen ihm und Gregor nichts war und Toni ihm ohne Probleme aus dem Weg gehen konnte.

Das genaue Gegenteil war der Fall: er war hergekommen, um Gregor wiederzusehen. Er wollte ihm nicht aus dem Weg gehen, er wollte in seiner Nähe sein, seine Stimme hören und sein Lachen und hoffen, dass es vielleicht wie damals werden würde.

Aber das konnte er ja jetzt vergessen.

Toni fuhr sich einmal mit der Hand durchs Gesicht und als er sie wieder herunternahm, war sie feucht. Für einen Moment dachte er, er habe angefangen zu weinen, ohne es mitzubekommen, aber dann spürte er die Regentropfen auf seinem Kopf und seinen Armen und bevor es richtig anfing zu regnen ging er lieber wieder schnell ins Haus. Und jetzt, wo er gefühlsmäßig einigermaßen mit sich im Reinen war, gelang es ihm auch, einzuschlafen. Nachdem er sich fest vorgenommen hatte, sich morgen bei Gregor zu entschuldigen. Egal wie, er würde es tun!

Als er am nächsten Morgen aufwachte war das auch immer noch der einzige Gedanke, den er hatte nur leider musste er bis nachmittags warten, denn es war mitten in der Woche und Gregor war in der Schule.

Toni hatte keine Ahnung, wann er zurückkam und die Zeit verging unglaublich langsam. Er versuchte sich mit verschiedenen Dingen abzulenken, aber er schaffte es, sich maximal fünf Minuten auf eine Sache zu konzentrieren.

Zu allem Überfluß regnete es immer noch und bei diesem Wetter hatten Peter und seine Mutter keine große Lust etwas zu unternehmen, sie blieben lieber im schönen Hotel mit seiner Sauna und seinem tollen Schwimmbad. Nicht einmal auf Maja musste Toni aufpassen. Er wurde zwar eingeladen, auch die Vorzüge des Hotels zu nutzen aber dazu hatte er nicht wirklich Lust. Seine Mutter würde doch nur mal wieder merken, dass etwas mit ihm nicht stimmte und ihn darauf ansprechen und darauf konnte er gut verzichten.

Also verbrachte er den Tag damit, zwischen seinem Buch, seinem Handy und dem Fenster hin- und herzupendeln und ab und zu mal etwas zu essen, um bei Nadja keinen Verdacht zu erregen.

Gegen zwei Uhr hielt er es dann nicht mehr im Haus aus, nahm sich einen Regenschirm von der Garderobe und trat nach draußen. Ziellos schlenderte er auf dem Parkplatz zwischen den Autos herum, beobachtete die Menschen, die kamen und gingen, und es war ihm egal, dass er mit seinem gelben Schirm bestimmt auffiel. Manchmal ging er zum Tor und sah die Straße hinunter, ob Gregor vielleicht aufftauchte.

Und gegen halb vier, als Toni wieder eine von gefühlt hundert Runden um den Parkplatz beendet hatte, war Gregor plötzlich einfach da. Er hatte weder Schirm noch Kapuze und seine Klamotten und seine Haare klebten ihm am Körper.

Toni stand da im Trockenen unter seinem Schirm und als Gregor ihn entdeckt hatte, erwartete er eigentlich, dass er gleich weiterging. Nicht nur, weil er so naß war, sondern auch, weil er nach der Szene gestern auf keinen Fall mehr mit ihm reden wollte. Doch Gregor ging nicht weg. Er blieb stehen und sie sahen sich einen Moment an.

Dann holte Toni einmal tief Luft. "Ich w... wollte mich für gestern entschuldigen. Was... was ich gesagt hab tut mir so leid, ehrlich! Ich wünschte, ich könnte es zurücknehmen. Ich...ich hoffe du bist nicht sauer auf mich." Seine Finger schlossen sich fester um den Griff des Regenschirms und sein Herz fing heftig an zu klopfen. Natürlich würde Vulkan Gregor gleich ausbrechen, es konnte einfach nicht anders sein. Und natürlich würde er dann Nein brüllen und dass er seine Entschuldigung niemals akzeptieren würde, es konnte einfach nicht anders sein, bei dem Arschloch, das Toni gewesen war.

Aber Gregor stand nur klatschnass da und sah Toni ruhig an, während der seine Entschuldigung stammelte. Und als Toni fertig gestammelt hatte, fragte Gregor immer noch ruhig: "Können wir reden?"

Toni, der mit so einer Erwiderung niemals gerechnet hatte, brauchte einige Zeit um darauf zu reagieren. "J...ja klar können wir reden," rief er dann und die Erleichterung strömte durch seinen ganzen Körper.

Doch als sie losgingen und Toni den Schirm zwischen sie hielt, damit der tropfnasse Gregor nicht noch tropfnasser wurde, da war die Anspannung, die grade der Erleichterung Platz gemacht hatte, mit einem Schlag wieder da.

Denn ihm war eingefallen, dass sie gleich über den Kuss reden würden. Es konnte gar nicht anders sein. Und Toni hatte keine Möglichkeit irgendwie zu behaupten, dass es ein Unfall gewesen und er es gar nicht gewollt hatte. Er hatte Gregor am Arm gepackt. Er hatte sich zu ihm heruntergebeugt. Gregor war nicht dumm und die Beweise eindeutig. Und wenn er ihn dann fragte, wieso er das gemacht hatte, was sollte Toni dann sagen? Dass er ihn hatte küssen wollen weil er all die alten Gefühle wieder hochgebracht hatte, die Toni jahrelang ganz tief in sich vergraben hatte?

Es war eine Sache, das vor sich selbst einzugestehen aber es vor jemand anderem auszusprechen kam Toni unmöglich vor. Dabei konnte einfach nichts Positives herauskommen! Vermutlich würde Gregor, da er es bis jetzt nicht getan hatte, dann ausrasten und seinen Leuten davon erzählen und dann wäre Toni bei allen unten durch.

Und auch, wenn er sie kaum kannte und sehr wahrscheinlich auch nie wiedersehen würde, wenn diese Woche herum war, wollte er doch nicht von ihnen schief angeschaut werden. Und vorallem wollte er nicht von Gregor schief angeschaut werden. Allein bei dem Gedanken fühlte es sich an, als würde jemand an Tonis Herz herumreißen.

Er warf Gregor einen raschen Blick zu, in der Hoffnung, an einer Miene irgendetwas von seinen Gefühlen ablesen zu können, aber Gregors Gesichtsausdruck gab absolut nichts preis. Dafür merkte er, dass Toni in ansah und drehte den Kopf, sodass sich ihre Blicke trafen. Tonis Herz machte diesen wohlbekannten Hüpfer und er spürte, wie er rot wurde, ohne richtig zu wissen, warum. Er wandte den Kopf schnell wieder ab und bekam erst mit Verspätung mit, dass Gregor etwas zu ihm sagte.

"W...was?" stotterte er.

"Ich muss jetzt erst mal was essen. Ich hoff, das ist okay für dich?" wiederholte Gregor und Toni, der mit etwas anderem gerechnet hatte, erwiderte verwirrt. "Ja klar."

In diesem Moment fiel ihm auf, dass sie gar nicht auf dem Weg zum Wohngebäude waren sondern auf das Restaurant zugingen, das bei seinem erstem Besuch nur ein Haus voller Gerümpel gewesen war. Jetzt war alles herausgeputzt, der Steinfußboden war poliert, an den Wänden standen Ritterrüstungen, es gab eine Bar mit einer langen Theke und ungefähr ein Dutzend Tische waren überall verteilt. Im Vorraum gab es einen Gaderobe an die Gregor seine nasse Jacke hängte und Toni tat es ihm gleich und stellte den tropfenden Schirm in den Ständer.

Dann setzten sie sich an den erstbesten Tisch und sofort kam eine Frau angelaufen. Sie nickte ihnen beiden zu. "Hallo. Was wollt ihr denn essen?"

"Ist noch was von dem Eintopf da?" erkundigte sich Gregor und als sie das bejahte sagte er: "Dann hätte ich gerne einen sehr großen Teller davon."

Sie nickte und wandte sich an Toni. "Und du?"

"Gar nichts, danke," sagte Toni, denn nie im Leben hätte er grade auch nur einen Bissen herunterbekommen. Er krampfte die Finger in seinem Schoß zusammen und wartete auf das, was jetzt passierte.

Es fing damit an, dass Gregor ihn besorgt musterte und dann "Ist alles in Ordnung mit dir?" fragte.

"Ja klar, warum sollte irgendetwas nicht in Ordnung sein?" entgegnete Toni mit fester Stimme und

Gregor zuckte mit den Schultern. "Weiß nicht, du siehst irgendwie so blass aus."

Toni machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach was, ist echt alles okay!"

Gregor atmete einmal tief ein. "Dann ist ja gut." Er lächelte kurz sein schiefes Lächeln. "Tut mir leid, dass ich dich jetzt mit hierhin geschleppt hab und auch eigentlich gar nicht viel Zeit hab, aber ich dachte, wir sollten einfach mal reden. Da sind wir ja bis jetzt nicht wirklich zu gekommen."

"Ja klar," sagte Toni wieder und er wusste jetzt schon genau, worüber Gregor reden wollte. Was das einzige Thema werde würde, weswegen sie hier überhaupt saßen.

"Also, wie läuft's so bei dir und da, wo du herkommst?" wollte Gregor wissen und Toni konnte zuerst mit seinem lockeren Tonfall absolut nichts anfangen. "Na ja, es läuft wie immer," erwiderte er und fragte sich dabei, ob Gregor sich langsam an das Thema Kuss herantasten wollte.

Aber da der ihn erwartungsvoll ansah, fühlte Toni sich dazu getrieben, noch mehr zu sagen. "Schule ist der übliche Scheiss, ich häng immer noch mit den gleichen Leuten rum, wie früher, Peter ist immer noch der gleiche ätzende Typ und das Einzige, was neu ist, ist, dass ich eine Schwester bekommen hab, die du ja auch schon kennengelernt hast."

Gregor verschränkte die Arme auf der Tischplatte. "Du hast eins vergessen. Was ist mit deiner Freundin?"

"S...stimmt," erwiderte Toni hastig und war für eine Sekunde schockiert darüber, dass er Lydia völlig ausgeblendet hatte. Dabei war doch jetzt wieder eine der Gelegenheiten, wo er unbedingt über sie sprechen sollte, auch, wenn Gregor sie vermutlich nur erwähnt hatte, um sie dann irgendwie gegen Toni zu benutzen. Deswegen war es vermutlich auch besser, nicht allzuviel dazu zu sagen.

"Da gibt's auch nicht viel zu erzählen," antwortete Toni deswegen auch. "Wir sind schon seit Jahren befreundet und irgendwann haben wir festgestellt, das da dann doch mehr ist und seitdem läuft es super!"

"Wie romantisch," erwiderte Gregor lachend und Toni zuckte mit den Schultern. "So ist es halt."

"Ach ja." Gregor lehnte sich grinsend in seinem Stuhl zurück. "Ich sehe schon, du bist immer noch kein größerer Redner als damals."

"Was ist mit dir?" wollte Toni wissen.

Gregor runzelte die Stirn. "Na ja, eigentlich gibts bei mir auch nicht mehr zu sagen. Ich hab viel zu tun in der Schule weil wir irgendwie jede Woche eine Klausur schreiben. Wenn ich dann nach Hause komme kann ich was von dem essen, das die Gäste übrig gelassen haben weil meine Mutter keine Zeit mehr hat, irgendwas zu kochen und ich keinen Bock hab mir selbst zu machen.

Wenn ich gegessen hab, dann kann ich meine Tonnen von Hausaufgaben machen und wenn ich damit fertig bin gibt es immer irgendetwas hier zu tun und leider erwarten meine Eltern auch immer, dass ich mithelfe. Goldjunge Johann kann eben doch nicht alles alleine machen, obwohl alle immer so tun als ob."

Er ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, einmal kurz zur Faust aber sein Tonfall war dann genau so locker wie vorher als er weitersprach. " Also klammere ich mich einfach dran, dass es nur noch ein paar Jahre sind. Und dann bin ich weg weil ich da studieren werde, von wo ich mal nicht eben vorbeikommen und aushelfen kann! Denn wenn ich hier in der Nähe bleib dann würden sie genau das tun, das weiß ich genau! Und so lange ich das nicht kann muss ich eben gucken, dass ich ein bisschen Spaß hab. So wie gestern. Hat es dir auch gefallen?"

Jetzt würde das Thema langsam auf den Kuss kommen. Es musste einfach so sein und Toni richtete sich schon mal drauf ein als er antwortete: "Ja das war cool. Und deine Leute sind echt in Ordnung."

"Ja, die sind alle total super," bekräftigte Gregor. "Und wenn du nicht gewesen wärst, dann hätte ich sie nie kennengelernt." Er war plötzlich ganz erst geworden und sah Toni tief in die Augen.

Der spürte, wie sein Gesicht heiß wurde und er konnte Gregors Blick nicht mehr standhalten und sah aufs weiße Tischtuch, weil Gregor es dann vielleicht nicht ganz so auffiel. "A...Achso?" murmelte er.

Wieder verlief das Gespräch ganz und gar nicht so, wie er es erwartet hatte.

Auch Gregors Stimme klang jetzt ernst. "Als du damals weggefahren bist, da ging's mir so richtig scheiße. Ich hab fast zwei Wochen mein Zimmer nur verlassen, um zur Schule zu gehen. Und ich hatte auch keinen Bock mehr auf irgendwas. Noch nichtmals darauf, mich ständig aufzuregen. Im Gegenteil, mir war einfach alles scheißegal geworden. Und als ich dann nicht mehr wegen jedem Scheiß gleich in die Luft gegangen bin, da kam ich dann auch besser mit den Leuten aus meiner Klasse klar. Vorher hab ich immer gedacht, das sind alles Idioten, mit denen ich nix zu tun haben will. Aber dann hab ich schließlich festgestellt, dass ich immer der Idiot gewesen bin. Na ja und dann hat Kara mich schließlich aufgelesen und in ihre Clique geholt und da bin ich jetzt hängen geblieben."

Er zuckte einmal mit den Schultern und lächelte. "Also, wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre mein Leben jetzt nicht so einigermaßen gut, wie es grade ist."

Toni schluckte einmal: "D... das freut mich," stotterte er und wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte. Auch Gregor schwieg und stattdessen hingen ihre Blicke für einen Moment ineinander.

Dann kam die Frau mit einem Teller voll Eintopf und einem Glas Wasser wieder und stellte beides mit einem leisen Klirren vor Gregor hin.und riss sie beide aus der kleinen Welt, in der sie sich grade befunden hatte. Mit einem "Lass es dir schmecken," verschwand sie dann wieder und Gregor griff zum Löffel.

Er hatte seinen lockeren Tonfall wiedergefunden. "Also wenns dir gestern gefallen hat, dann hast du ja vielleicht auch Lust, heute mitzukommen. Wir gehen zu Philip, der hat heute Geburstag. Und weil es in der Woche ist gibt es nur n kleinen Umtrunk und nix Großes. Er wohnt ein Dorf weiter. Wie sieht's aus, willste mit?"

"Na klar," sagte Toni sofort und es war nicht die Aussicht auf den kleinen Umtrunk oder die anderen wiederzusehen, die ihn zusagen ließen.

"Super!" freute sich Gregor und tauchte den Löffel in den Eintopf. "Ich muss jetzt leider essen und dann Hausaufgaben machen und dann meinen Eltern helfen. Ich versuch, dass ich alles bis halb acht fertig hab und dann hol ich dich ab, okay?"

"Sicher," antwortete Toni und während Gregor anfing, den Eintopf in sich hineinzuschaufeln stand er mit einem ,Dann bis später' auf und ging.

Als er draußen im Regen unter seinem Schirm stand atmete er einmal tief durch und schloß für einen Moment die Augen. Das war grade absolut nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte. Gregor hatte den Kuss nicht einmal ansatzweise erwähnt. Aber es war nicht die Erleichterung, dass er dem gefürchteten Gespräch entkommen war, die dafür sorgte, dass ihm ganz warm im Bauch war. Sondern einfach nur Gregor und die Aussicht, ihn nachher wiederzusehen und Toni war sich des breiten Grinsens auf seinem Gesicht bewusst, als er über den Burghof lief.

Keiner war da, als er die Tür des grauen Steinhauses aufriß. Er trat sich hastig die Schuhe von den Füßen, hing die Jacke auf, stellte den Schirm weg und stürmte nach oben ins Gästezimmer. Er holte seine Tasche aus dem Schrank und fing an, in ihr herumzuwühlen. Als er es dann in den Händen hielt war er fast erschüttert darüber, dass er tatsächlich eins von seinen richtig guten Hemden eingepackt hatte. Nicht, weil er davon ausgegangen war, dass er mal mit Peter und seiner Mutter in eine Situation kommen würde, in denen er ein gutes Hemd anziehen musste.

Nein, hier hatte er einzig und allein Gregor im Hinterkopf gehabt. Es war nicht nur erschreckend, dass Gregor irgendwie doch die ganze Zeit da gewesen war, ohne, dass Toni in den letzten Jahren bewusst mal an ihn gedacht hatte, sondern auch, dass Toni sich vor einem Treffen mit Lydia noch nie darüber Gedanken gemacht hatte, was er anziehen wollte und wie er damit dann auf sie wirken würde. Er hatte einfach das erstbeste aus seinem Schrank genommen und sich danach noch nicht einmal mehr im Spiegel angesehen.

Aber jetzt war es ihm wichtig, was er bei Gregor für einen Eindruck hinterlassen würde und seit letzter Nacht hatte er auch kein Problem mehr damit, es sich selbst einzugestehen.

Vielleicht würde er Gregor in diesem Hemd ja auch gefallen. Und vielleicht würde er ihm das ja sogar sagen. Allein bei diesem Gedanken wurde Toni schon wieder rot. Er faltete das Hemd sorgsam zusammen und legte es auf das Bett.

Dann griff er nach seinem Handy, das schon seit Stunden unbeachtet auf dem Nachttisch gelegen hatte und er hatte natürlich einige Nachrichten von Lydia bekommen. Aber irgendwie interessierten sie ihn grade gar nicht. War sie vorher noch ständig präsent gewesen in Form seines Schutzschildes, passte sie jetzt plötzlich irgendwie nicht mehr dazu. Deswegen interessierten ihn die Nachrichten von ihr auch nur insoweit, dass er sie kurz überflog und ihr dann einen Einzeiler schrieb.

Auf den verpassten Anruf seiner Mutter rief er sie zurück und wurde gefragt, ob er Lust hatte, jetzt mit ins Dorf zu gehen, Sie wollten dort nach einem netten Restaurant gucken, weil ihnen die Preise des Hotels etwas zu teuer waren. Nachdem die Anspannung jetzt von Toni abgefallen war und seine Mutter das Wort Essen erwähnt hatte, war da gleich wieder das altbekannte kilometertiefe Loch in seinem Magen und er willigte nur zu gern ein, mitzugehen.

Nicht nur, um etwas zu essen, sondern auch, weil es Ablenkung bedeutete. Bis halb acht war es noch einige Zeit und Toni war jetzt schon ziemlich aufgeregt. Und wie immer in solchen Situationen würde die Zeit sich ziehen wie Kaugummi. Vorallem, wenn er alleine irgendwo herumhing. Dann lieber ein paar Stunden in Peters und Majas Gesellschaft.

Und gutem Essen, denn sie fanden ein nettes kleinen Restaurant, in dem es wirklich leckere Sachen gab und Toni langte ordentlich zu. Danach erklärte er sich dann noch einverstanden, den anschließenden Verdauungsspaziergang mitzumachen.

Während Peter und seine Mutter Arm in Arm vor ihm hergingen, hatte Toni mit Maja alle Hände voll zu tun. Natürlich zeigte sie keinerlei Anzeichen, dass sie nach dem Essen ein Schläfchen machen wollte. Im Gegenteil, eine Minute im Kinderwagen und sie fing lauthals an zu brüllen.

Also wackelte sie auf ihren kurzen Beinchen neben Toni her, der ihre Hand mit der einen hielt und mit der anderen den Kinderwagen schob. Aber ausnahmsweise war es nicht schlimm, dass Maja mal wieder seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte, denn dann musste er wenigstens nicht pausenlos nur an Gregor denken.

Nach dem Spaziergang gingen sie alle noch mit zu Nadja, die Kaffee und Kuchen bereithielt, aber Toni hatte jetzt erst einmal genug von Familie und nutzte die erstbeste Gelegenheit sich zu verabschieden und im Gästezimmer zu verschwinden.

Er hatte zwar schon einen Großteil der Zeit herumbekommen, doch es war immer noch etwas davon übrig. Aber der Rest bekam gar nicht die Möglichkeit, sich wie Kaugummi zu ziehen, denn es gab noch ein paar Dinge, die Toni unbedingt erledigen musste. Zuerst einmal duschen gehen. Danach und nachdem er sich die beste Jeans, die er mitgenommen hatte, und das Hemd angezogen hatte, stand er eine ganze Weile vor dem Spiegel und kämmte seine Haare hin- und her, bis er endlich mit der Frisur zuf rieden war.

Auf dem Weg zurück ins Gästezimmer klingelte es und Toni erstarrte für einen Moment auf dem Flur. Es war zwar erst fünf nach sieben aber das konnte nur Gregor sein. Eigentlich hätte Toni sich lieber draußen mit ihm getroffen, damit seine Mutter nicht mitbekam, dass sie schon wieder was zusammen machten, aber dass er jetzt hier war und sie es mitbekam war jetzt auch nicht mehr so dramatisch. Wichtig war nur, dass Toni ihn gleich wiedersehen würde.

Mit klopfendem Herzen ging Toni ins Gästezimmer zurück, zog sich eilig seine Socken an und kam die Treppe herunter grade als Nadja Gregor die Tür geöffnet hatte. Und als sich ihre Blicke trafen, da war Toni seine Mutter mit einem Schlag völlig egal geworden.  

Gregor strahlte ihn an. "Hallo. Ich konnt mich heut n bisschen eher befreien und ich dachte, ich hol dich einfach jetzt schon ab. Wenn du Zeit hast."

"Ja klar!" beeilte Toni sich zu sagen und zog sich schnell seine Schuhe und seine Jacke an. Kurz bevor er hinter Gregor aus dem Haus trat, spürte er einen leichten Klaps auf der Schulter und als er sich umdrehte, zwinkerte Nadja ihm zu.

Natürlich wusste Toni genau, was dieses Zwinkern bedeutete und in jedem anderen Moment hätte es ihn ziemlich aufgeregt, aber jetzt nicht. Stattdessen zwinkerte er einfach zurück, ohne groß drüber nachzudenken.

Draußen war es bereits dunkel geworden, aber wenigstens hatte der Regen nicht wieder angefangen.

Ohne sich abgesprochen zu haben gingen Toni und Gregor über den beleuchtete Hof zum Tor und dann nach rechts über die Wiese. Sie schwiegen, aber es fühlte sich für Toni nicht mehr wie das an, das herrschte, wenn man nicht wusste, was man reden sollte. Es hatte mehr was von dem Schweigen, das sie damals in den Sommerferien geteilt hatten. Wo es einfach gereicht hatte, zusammen zu sein.

Aber dann, kurz bevor sie den Abhang erreichten, sagte Gregor doch etwas. "Ich dachte, wir gehen vielleicht mal zum See. Wenn du auch Lust hast. Wir können zwar nicht schwimmen gehen, aber es ist eigentlich trotzdem schön da. Auch, wenn wir davon jetzt nichts mehr sehen werden." Er lachte einmal leise.

"Sehr gerne," antwortete Toni, wobei es ihm aber ziemlich egal war, wo sie jetzt hingingen. Was ihn anging hätten sie auch einfach stur immer geradeaus laufen können und das stundenlang. Wichtig war nur, dass sie weiterhin so dicht nebeneinander gingen. Manchmal streiften sich ihre Hände ganz kurz und dann machte Tonis Herz jedes Mal einen Hüpfer. Wenn diese kurzen Berührungen sich schon so gut anfühlten, wie würde es dann erst sein, wenn er Gregors Hand ganz festhielt?

Toni bewegte die Finger als würde er nach seiner Hand greifen, aber mehr tat er nicht. Vielleicht wollte Gregors es gar nicht. Vielleicht war es wirklich von seiner Seite aus nur purer Zufall, wenn sich ihre Hände berührten. Und eigentlich war es doch auch sehr merkwürdig, dass er bis jetzt noch kein Wort über den Kuss verloren hatte. Vielleicht, weil er es einfach nur schnell wieder vergessen wollte. Vermutlich hatte er nur deswegen mit Toni reden wollen und dann nur Alltagskram erzählt, um ihm dadurch zu zeigen, wie egal es ihm war.

Als Tonis Gedanken soweit gekommen war und ihm alles absolut plausibel erschien, spürte er eine dumpfe Enttäuschung und versuchte sie wegzureden, in dem er sich klar machte, dass er absolut nichts davon hatte, seine Gefühle zu zeigen. Nicht nur, dass er bald wieder nach Hause fahren und hier sicher nie wieder herkommen würde, da gab es ja auch noch Lydia, die in dieser Situation wieder interessant war, weil sie, erneut, eine bequeme Ausflucht bot.

Als sie schließlich den Wald erreichten, in dem es natürlich schon stockdunkel war machte Gregor die Taschenlampe an seinem Handy an und legte dann für einen kurzen Augenblick die Hand auf Tonis Arm. "Keine Sorge," sagte er neckend. "Ich werde natürlich wieder auf dich aufpassen!"

Der Blick, mit dem er Toni bei diesen Worten ansah und den dieser mehr spürte als sah, und dazu seine Hand auf seinem Arm ließen Toni mit einem Mal daran zweifeln, dass die Theorie, die er sich grade zusammengebastelt hatte, wirklich richtig war. Und dann fiel ihm auch wieder ein, dass Gregor ihn gefragt hatte, ob er in den drei Jahren mal an ihn gedacht hatte. Und diese Frage passte auch nicht zu seiner Theorie. Aber da war ja auch noch Lydia, oder besser gesagt das, wofür sie stellvertretend stand und von dem Toni sich einfach nicht losmachen konnte.

Also zog er seinen Arm aus Gregors Griff, räusperte sich einmal und erwiderte dann gespielt wütend: "Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich keine Angst hab. Das hatte ich damals auch nicht. Vorallem nicht vor deinen Baby-Gruselgeschichten!"

"Baby-Gruselgeschichten?!" erwiderte Gregor und bei ihm war die Empörung darüber nur halb gespielt. "Die sind absolut gruselig und du hattest auch Angst, egal was du sagst!"

Während sie in den Wald gingen und der zitternde Punkt der Taschenlampe auf dem Waldboden das einzige Licht weit und breit war, war Toni froh, dass sie sich erst einmal freundschaftlich weiterstritten. Diese absolute Dunkelheit und die Stille, die nur von den Geräuschen des Waldes gestört würde war etwas, an das er sich immer wieder gewöhnen musste.

Vom See sahen sie natürlich auch nicht viel aber sie hatten sowieso nicht mehr allzuviel Zeit dort zu bleiben. Also gingen sie bis ans Wasser, Gregor leuchtete einmal mit seiner Taschenlampe aufs Wasser und dann mussten sie auch schon wieder umdrehen. Aber der Weg zum See hatte ja sowieso einen ganz anderen Zweck erfüllt als dann wirklich dazustehen und sich die Landschaft anzusehen.

Sie trafen sich mit den anderen in einem Teil des Waldes, in dem Toni vorher noch nie gewesen war.  Auch, wenn Philip ein Dorf weiter wohnte war das natürlich kein Grund mit dem Bus zu fahren. Nein, es ging durch den Wald und bei dem halbstündigen strammen Fußmarsch, der folgte war Toni viel zu sehr damit beschäftigt, mit den anderen Schritt zu halten, um über irgendetwas nachzudenken.

Stattdessen hörte er nur den Gesprächen um ihn herum zu, an denen auch Gregor beteiligt war. Und obwohl der eigentlich viel schneller laufen konnte, blieb er trotzdem die ganze Zeit an Tonis Seite.
Der Wald hörte nach einer für Toni gefühlten Ewigkeit plötzlich abrupt auf und er wäre fast über einen der Pflastersteine gestolpert, aus denen die Straße bestand auf die er plötzlich getreten war.

Gregor konnte ihn grade noch festhalten bevor er hinfiel. Er stellte Toni zurück auf die Füße, ihre Blicke trafen sich und beide mussten lächeln. Toni fragte sich, ob Gregor auch grade dran dachte, wie er damals im Wald gestolpert und Gregor ihn festgehalten hatte.

Philip wohnte in einem kleinen zweistöckigen Haus und bevor sie klingelten unterschrieb jeder noch schnell eine Karte, auf denen drei Bierflaschen zum Geburtstag gratulierten und die zusammen mit dem Comicheft, das Simon auf Ebay ersteigert hatte, geschenkt werden sollte. Wie Toni von Kara erfuhr sammelte Philip Comichefte.

Toni hatte zwar kein Geld zum Geschenk dazugegeben, wurde aber trotzdem dazu aufgefordert, auch zu unterschreiben. Er tat es und dachte, dass, wenn Philip sich die Karte in ein paar Jahren noch einmal anguckte, er sicher keine Ahnung mehr haben würde, wer Toni war.

Philips Eltern waren nicht so Hause, sodass sie das Wohnzimmer mit Beschlag belegen konnten, das hauptsächlich aus einer riesigen u-förmigen Couch bestand auf die sie alle auch in doppelter Ausführung drauf gepasst hätten.

Aber trotzdem zogen Toni und Gregor es vor, möglichst nah nebeneinander zu sitzen. Toni dachte gar nicht groß drüber nach, es passierte einfach. Und das Schönste am ganzen Abend waren nicht die lustigen Spiele, die sie spielten, oder die witzigen Reden die Henrike und Jens auf das Geburtstagskind hielten. Nein, das Schönste war eindeutig die Blicke, die er und Gregor sich immer wieder zuwarfen. Es passierte, ohne, dass Toni es bewusst steuerte. Sie sahen sich an, lächelten sich kurz zu und wandten sich dann wieder den anderen zu. Bis zum nächsten Mal.

Angesichts der Gefühle, die diese Blicke in Toni auslösten war es ihm unmöglich, einigermaßen rational darüber nachzudenken und dass seine Tarnung eventuell dabei war, aufzufliegen. Er ging einfach davon aus, dass die anderen zu beschäftigt waren, als dass ihnen diese kurzen Blickaustausche auffielen. Und was Lydia anging war sie grade nur noch eine ferne Gestalt in Tonis alter Welt, die für ihn grade völlig unbedeutend war.

Als Toni nach dem dritten Bier vom Klo kam, traf er im Flur auf eine grinsende Kara, die einen Schritt zur Seite machte und ihm den Weg versperrte. "Wir haben uns ja heute noch gar nicht unterhalten und ich dachte, das sollten wir jetzt mal nachholen," meinte sie und die Art, wie sie es sagte, bewirkte, dass Toni sich mit einem Schlag unwohl fühlte.

Natürlich wusste er worüber sie reden wollte und in diesem Augenblick verfluchte er sich selbst dafür, dass er die ganze letzte Stunde so unvorsichtig gewesen war. Er merkte, dass Kara auf eine Reaktion wartet und räusperte sich einmal in der Hoffnung, dass seine Stimme nichts von dem Unwohlsein verriet, das grade in ihm hochgestiegen war.

"Okay..." fing er an und hätte danach noch gerne irgendetwas Unverfängliches gesagt, von dem er aber noch keine Ahnung hatte, was es sein würde, aber Kara ließ ihm dafür gar keine Chance. "Zwischen dir und Gregor da läuft doch was, ne?! Das hab ich doch schon damals auf meiner Party gleich gemerkt!"

Toni sah sie an und überlegte fieberhaft, was er jetzt erwidern sollte. Natürlich konnte er ihr sagen, dass sie absolut falsch lag, aber er wusste erstens, dass Gregor und er absolut nicht unauffällig gewesen waren und zweitens, dass Kara nicht doof war.

Und dann war er mit einem Schlag in der Situation, die er vor ein paar Stunden noch so gefürchtet hatte. Plötzlich hatte er ein flaues Gefühl im Magen und wäre jetzt am liebsten einfach gegangen. Aber auch dafür stand Kara ihm im Weg und wenn Toni noch einen letzten Rest seiner Würde behalten wollte, dann musste er jetzt absolut cool reagieren. "Wäre das ein Problem für dich?" war der erste Satz, der ihm da einfiel und der sich ihm dann auch gleich so auf die Zunge drängte, dass er nicht anders konnte, als ihn auszusprechen.

Kara lachte. "Ich hab überhaupt kein Problem damit, denn ich steh absolut nicht auf Rothaarige. Er gehört also dir ganz alleine."

"Ach... ach so?" erwiderte Toni, beinah komplett erschüttert von der Art, auf die sie ihn mißverstanden hatte.

Kara nickte. "Jap. Und ich wollte auch nur wissen ob ich richtig liege, aber das tue ich ja." Sie seufzte einmal. "Ach, das freut mich ja so für euch. Gregor hat es echt mal verdient." Sie tätschelte Toni einmal die Schulter und ging dann an ihm vorbei zum Badezimmer.

Toni starrte ihr nach, bis sie die Tür hinter geschlossen hatte und ihre Worte tanzten in seinem Kopf. Und dort blieben sie den ganzen Rest des Abends und er konnte einfach nicht aufhören, immer wieder über sie nachzudenken. Bis Gregor sich schließlich zu ihm rüberbeugte und besorgt "Ist alles in Ordnung?" fragte.

"Ja alles gut," antwortete Toni und er schaffte auch wirklich, sich wieder etwas zu fangen und an der nächsten Runde Kniffel teilzunehmen.

Da alle außer Toni am nächsten Tag Schule hatten blieben sie nicht allzu lange und um zehn Uhr verabschiedeten sie sich schließlich von Philip und traten den Heimweg durch den Wald an, in dem es jetzt noch dunkler war, als vorher. Da war Toni sich sicher.

Allerdings hatte das jetzt nicht den gleichen Effekt auf ihn wie sonst immer, weil er noch viel zu sehr an Karas Worte dachte und dieses Missverständnis, das ihn eiskalt erwischt hatte. Zwar hatte Gregor damals gesagt, dass seine Freunde kein Problem damit hatten, aber erst jetzt, wo Toni es am eigenen Leib erfahren hatte, glaubte er es auch wirklich. Und diese Erkenntnis fing an, hartnäckig an der letzten Schutzwand herumzuhämmern, mit der er sich umgab. Denn diese Schutzwand bestand nur aus der Furcht, von seinem Umfeld schief angesehen zu werden. Aber zumindest dieses Umfeld hier würde ihn nicht schief ansehen.

Und je länger er darüber nachdachte, desto mehr fragte er sich, was es ihm jetzt noch brachte, seine Gefühle zu verleugnen. Mehr als dass er sich schlecht fühlte, sich selbst immer wieder hinter die Wand zu zwingen absolut gar nichts.

Als er dann das letzte Stück durch den Wald mit Gregor alleine war, da beschloss er schliesslich, sich jetzt endlich mal ein Herz zu fassen.

"Ich... ich hab doch an dich gedacht," sagte er in die Stille hinein, die wieder zwischen ihnen herrschte, seitdem sie alleine waren.

Gregor blieb stehen und Toni tat es ihm gleich.

"Ich weiß," erwiderte Gregor leise.

"Wieso?" fragte Toni ebenso leise, obwohl die Antwort absolut offensichtlich war.

"Du hast mich geküsst," sagte Gregor trotzdem.

"Ja, das hab ich," erwiderte Toni und überbrückte den Abstand zwischen ihnen mit einem einzigen kleinen Schritt. "Und hast du was dagegen, wenn ich es jetzt wieder mache?"

"Absolut nicht!" flüsterte Gregor, Toni nahm sein Gesicht zärtlich in beide Hände und küsste ihn. Gregor schlang beide Arme um ihn und zog ihn dicht an sich.

Und Toni tauchte in eine andere Welt ab, die nur aus den Gefühlen bestand, die dieser Kuss in ihm auslöste und die ihn atemlos und mit weichen Knien zurück ließen.

Nachher umarmte Gregor ihn und legte den Kopf auf seine Schulter. Toni streichelte seinen Rücken und ihn festzuhalten fühlte sich auf einmal absolut selbstverständlich an. So, als würde er nur existieren, um es zu tun.

Eine Weile standen so da im Stockdunkeln, denn Gregor hatte die Taschenlampe ausgemacht; der Wind rauschte in den Baumkronen und irgendwo knackte es, aber jetzt machte Toni das nichts aus. Jetzt gehörte es zu der neuen kleinen Welt, die er grade betreten hatte.

"Ich hab dich so vermisst," murmelte Gregor an seinem Ohr. "Ich hab gedacht, ich werd verrückt deswegen. Ich hab immer wieder überlegt, Kamilla nach deiner Adresse oder deiner Nummer zu fragen. Aber dann konnte ich es nicht weil ich Angst hatte, dass du dann irgendwie nicht mehr der Gleiche bist. Und das wäre für mich schlimmer gewesen, als dich zu vermissen. Denn da hatte ich ja die ganzen Erinnerungen an dich."

Toni wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Die Wahrheit, für die er sich angesichts Gregors Worte plötzlich unglaublich schämte, konnte er ihm absolut nicht sagen, aber zu einer Lüge war er grade auch nicht fähig. Also drückte er ihn einfach fester an sich und schwieg.

Nachher, als sie weitergingen, griff Toni nach Gregors Hand und das wunderbare Gefühl, sie festzuhalten während sie schweigend und eng nebeneinander weitergingen fügte sich nahtlos in die kleine zauberhafte Welt ein, in der Toni sich grade befand.

Und dass Gregor, als sie weitergingen, die Taschenlampe nicht wieder anmachte, passte auch dazu. Denn der dunkle Wald, das Rauschen des Windes und das Knacken unter ihren Füßen als sie weitergingen gehörten auch zu dieser Welt. Obwohl Toni das alles auf dem Hinweg noch ziemlich gruselig gefunden hatte. Aber seitdem er Gregor geküsst hatte, hatte auch er sich dieser Welt angepasst. Verschwunden war jeglicher Druck, unbedingt auf dem Weg des Normalen zu bleiben; er fühlte sich grade einfach nur frei und das Leben erschien ihm unglaublich einfach.

Das blieb auch so, als sie aus dem Wald kamen und den Berg hochstiegen, ohne sich dabei loszulassen. Was Toni sogar halbwegs unfallfrei gelang. Nur einmal trat er überraschend in eine Kuhle und strauchelte, aber da seine Hand nach wie vor fest mit Gregors verbunden war, half der ihm, das Gleichgewicht zu halten und nicht auf die Nase zu fallen. Gregor, der Toni auffing, bevor er hinfiel war eine Situation, die inzwischen schon fast typisch für sie war, sie mussten beide in diesem Moment daran denken und fingen an zu lachen. Und nachdem sie fertig gelacht hatten, küssten sie sich noch einmal lange und innig.

Den Rest des Weges legten sie ohne weitere Schwierigkeiten zurück und als das Burgtor dann vor ihnen auftauchte wurde Toni klar, dass die kleine wunderbare Welt hier ein Ende haben würde. Denn hinter diesem Tor lag die andere Welt, in der es Menschen gab wie seine Mutter zum Beispiel, bei der Toni bisher verzweifelt versucht hatte, sie davon zu überzeugen, dass er und Lydia eine wunderbare Beziehung hatten und er so normal war wie alle anderen. Zusammen mit der Gewissheit, in sehr absehbarer Zeit wieder nach Hause zurückzufahren, wo Leute lebten wie Max, die nicht nur davon ausgingen, dass Toni normal war, sondern es sogar erwarteten, weil sie ihn sonst nur noch schief ansehen, ihn aus ihrem Freundeskreis werfen und sich anschließend über ihn lustig machen würde. Eine Vorstellung, die nach wie vor erschreckend war.

Unwillkürlich ging Toni langsamer, obwohl es völlig unwichtig war, wann er jetzt durch dieses Tor ging, denn der alte Toni hatte ihn bereits wieder eingeholt.

Auch bei Gregor hatte sich etwas verändert. Er hielt Tonis Hand jetzt nicht mehr so fest wie vorher und passte sich Tonis veränderter Gehweise an, ohne nachzufragen, wieso sie jetzt langsamer waren.
Er sagte erst wieder etwas, als sie die magische Grenze zwischen den Welten durchschritten hatten und im Burghof angekommen waren.

"Willst du schon schlafen gehen?" fragte er und in seiner Stimme schwang ein Hauch von Unsicherheit mit, die Toni aber sofort auffiel, weil er sich selbst grade ziemlich unsicher fühlte. "Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor," antwortete er, denn auch, wenn das Leben nicht mehr so einfach war und er sich nicht mehr so frei fühlte war es nach wie vor schön, mit Gregor zusammen zu sein.

"Ok," sagte Gregor und jetzt klang es fast erleichtert. "Meine Mutter hat sich einen neuen Garten gemacht, nachdem sie den alten wegen des Hotels aufgeben musste. Komm, ich zeig ihn dir."

Hand in Hand gingen sie weiter, zum hinteren Teil des Burghofes, wo in den Häusern, soweit Toni das beurteilen konnte, noch nichts Hotel- oder Touristenmäßiges untergebracht war. Die Tür des kleinen Hauses, vor dem sie schließlich stehenblieben, bestätigte seine Theorie, denn Gregor musste sie erst mit einem Schlüssel von seinem enormen Schlüsselbund aufschließen.

Sie gingen einen engen Flur entlang, vorbei an einigen offenstehenden Türen und ein kurzer Blick zeigte Toni, dass in manchen von ihnen irgendwelches Zeug herumstand, das er aber aufgrund der Dunkelheit nicht näher identifizieren konnte. Das war jetzt wieder verdammt unheimlich und Toni war froh, dass Gregor weiter seine Hand hielt und sie das Haus nach nicht einmal einer Minute durch eine zweite Tür wieder verließen. Sie kamen in den Garten, der Toni ziemlich an den von früher erinnerte. Es gab die Rasenfläche, die Bank und die Stühle, die Blumenkästen, die Burgmauer und sogar das Windspiel.

Eng nebeneinander setzten sie sich auf die Bank und schwiegen eine Weile. Toni, der inzwischen eine ziemlich gute Vorstellung davon hatte, was gleich kommen würde, hätte die Situation zwar schon gerne hinter sich, aber er würde trotzdem nicht der Erste sein, der mit dem Reden anfangen würde.

Gregor spielte einen Moment, wie Toni es schien gedankenverloren, mit seinen Fingern, bevor er sich schließlich räusperte. "Das...das mit Lydia, das... ist das was Ernstes?"

Tonis erste Reaktion war ,Ja' zu sagen, eine Sekunde nach der Frage hatte das Wort sich schon auf seine Zunge gedrängt und verlangte, sofort ausgesprochen zu werden. Aber er konnte es grade noch zurückhalten und dann war es ihm peinlich, dass er beinahe so reagiert hätte. Denn was würde es ihm jetzt bringen, seine Scheinbeziehung mit Lydia vor Gregor zu verteidigen? Eigentlich nur, dass er sich danach ziemlich mies fühlen würde und Gregor bestimmt auch. Und was spräche dagegen, ihm die Wahrheit zu sagen? Im Grunde genommen gar nichts, denn Gregor kannte weder Lydia noch einen aus Tonis Freundeskreis, dem er es erzählen konnte. Was er auch überhaupt nicht machen würde, denn da würde er sich ja nur ins eigene Fleisch schneiden. Schließlich hatte er auch Toni geküsst und mit ihm Händchen gehalten... Toni merkte, wie seine Gedanken anfingen, sich zu verheddern und Gregor auf eine Antwort wartete.

Toni dachte daran zurück, wie er sich vorhin im Wald gefühlt hatte und das er das Gefühl gerne wiederhaben würde, was ihm aber nur gelingen würde, wenn er den Ballast, den er mitgebracht hatte, einfach hinter sich ließ. Und so entschloss er sich schließlich für die Wahrheit. "Das mit Lydia und mir, das ist eigentlich gar nichts," erwiderte er leise und entzog Gregor seine Hand, weil er die Berührung in diesen Moment nicht ertragen konnte. "Ich... ich hab einfach nur was mit ihr angefangen, damit niemand mitbekommt, dass ich eigentlich gar nicht auf Frauen steh. Weil... na ja es gibt Einige in meinem Freundeskreis, die mich dann mit dem Arsch nicht mehr angucken würden."

Er atmete einmal tief ein und in diesem Moment durchströmte ihn die Art von Erleichterung, die einen manchmal überkommt, wenn man endlich die Wahrheit sagen konnte. Toni merkte, dass Gregor etwas sagen wollte, aber er ließ ihn nicht zu Wort kommen. Denn jetzt, wo er einmal damit angefangen hatte, über die Dinge zu reden, die er seit Monaten mit sich herumschleppte, konnte er nicht mehr damit aufhören, die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus: "Es war so einfach, sie herumzukriegen weil wir uns schon so ewig kennen und uns gut verstehen. Ich weiß was sie mag und alles andere hab ich mir aus den Zeitschriften von meiner Mutter zusammengelesen.

Ok, mit dem Sex war es zuerst etwas schwierig und ich hab auch ein paar Anläufe gebraucht, aber dann hat es irgendwann geklappt. Wir haben es dann einfach auf ner Party von einem aus meiner Stufe getan und das war nicht nur super, weil ich es endlich hingekriegt hab, sondern auch, weil ich das Max erzählen konnte. Und das sind genau so Geschichten, die er gut findet und mit der ich ihm zeigen konnte, wie super das mit mir und Lydia läuft. Und es läuft immer noch gut, aber meine Mutter will das einfach nicht wahrhaben. Dabei hab ich echt alles versucht, sie davon zu überzeugen..."

Hier brach er abrupt ab. So gut es auch tat, endlich jemandem alles zu erzählen, war er sich doch sicher, dass es Gregor verletzen konnte, wenn Toni ihm von seinem Plan berichtete, den er vorgeschoben hatte, um hier herzukommen. Und Gregor in irgendeiner Art weh zu tun war das absolut Letzte, das Toni wollte. Deswegen verschränkte er die Hände im Schoß und schwieg.

Gregor schwieg auch und so saßen sie eine ganze Weile einfach nur da, eng nebeneinander, aber ohne sich zu berühren.

"Du hast also Lydia total ausgenutzt, nur, damit keiner darauf kommt, dass du nicht auf Frauen stehst," fasste Gregor dann das Gesagte zusammen und aus irgendeinem Grund provozierte er Toni mit der völlig leidenschaftslosen Art in der er das sagte.

"Was hätte ich denn machen sollen?" erwiderte Toni deswegen ziemlich angefressen. "Meinst du, ich will meine Freunde wegen... wegen sowas verlieren?"

"Wegen sowas?" wiederholte Gregor mit leicht erhobener Stimme. "Das ist doch absolut nicht einfach sowas, sondern etwas das du bist und auch nicht ändern kannst! Meinst du nicht, dass du dir da lieber andere Freunde suchen solltest, die dich auch genau so akzeptieren?!"

Jetzt wurde Toni richtig wütend und sprang auf. "Ich kenn Max und Lydia seit Jahren, denkst du, ich lass sie da so einfach fallen?! Und ist ja schön für dich, dass es dir so einfach fällt, Freunde zu finden, die dich so akzeptieren, wie du bist, aber bei mir sieht's da komplett anders aus!"

Es entstand eine Pause und auch, wenn Toni grade nicht zu Gregor hinüberblickte sondern zornig auf die Burgmauer starrte, konnte er sich doch gut vorstellen, dass er grade das Gesicht zu der Grimasse verzog, die er jetzt machte, wenn er eigentlich ausrasten wollte.

"Falls du dich erinnerst, war es absolut nicht einfach für mich Freunde zu finden," sagte er dann mit gefährlich ruhiger Stimme, hinter der Toni aber die geballte Wut heraushören konnte. "Und es ist wirklich gut zu wissen, was für ein eiskalter Manipulator du bist! Ich hab dich echt absolut falsch eingeschätzt!"

"Ach du hast doch absolut keine Ahnung, was bei mir abgeht!" schrie Toni ihn an und spürte zu seinem Ärger, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Ein Teil von ihm wäre jetzt gerne davon gestürmt. Aber der Teil, der stärker war, wollte bei Gregor bleiben. Deswegen vergrub Toni nur das Gesicht in der rechten Hand und gab sich keinerlei Mühe, vor Gregor zu verbergen, dass er weinte, denn es wäre umsonst gewesen.

Sofort stand Gregor auf, nahm ihn in die Arme und zog ihn an sich. "Entschuldigung," sagte er reumütig an Tonis Ohr. "Ich sitz immer auf einem hohen Ross mit meinen toleranten Freunden, da vergess ich immer wieder gerne, dass der Rest der Welt alles andere als tolerant ist." Er streichelte seinen Rücken und diese zärtliche Berührung schaffte es, neben der Umarmung, ihn wieder runterzuholen.

"Schon gut," erwiderte Toni. "Meine Situation ist ja auch wirklich nicht die Tollste. Und ich hab ja auch eigentlich n schlechtes Gewissen, dass ich Lydia so ausnutze. Aber ich weiss nicht, was ich sonst machen soll."

"Du hast ja gemerkt, dass ich nur scheiß Ratschläge geben kann," meinte Gregor. "Deswegen sag ich dazu jetzt mal lieber nichts."

Toni lachte. "Ach was. Ich bin einfach nur ein hoffnungloser Fall."

"Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht," sagte Gregor. "Aber eigentlich war dieser Abend viel zu schön, um jetzt den Rest davon damit zu verbringen, über so ernste Sachen zu reden. Das können wir später auch noch machen."

"Mhm," murmelte Toni nur und legte den Kopf auf seine Schulter. Was ihn anging mussten sie auch später nicht mehr darüber sprechen, weil seiner Meinung nach sowieso alles gesagt worden war, aber die Aussicht, dass Gregor von der Zukunft gesprochen hatte, war sehr tröstlich.

"Na komm," sagte Gregor und zog Toni zurück auf die Bank. Dort legte er den Arm um ihn und Toni lehnte sich gegen ihn.

Eine Weile schwiegen sie wieder, aber sie waren zu ihrem angenehmen Schweigen zurückgekehrt.

"Weißt du eigentlich, dass du ganz schön vorhersehbar bist," sagte Gregor schließlich lachend. "Nicht nur, dass du ständig hinfällst und ich dich auffangen muss, nein, du küsst mich auch immer und rennst dann erst einmal weg."

"Und jedes Mal fühl ich mich danach richtig schlecht," erwiderte Toni und stimmte in Gregors Lachen ein.

"Als du dann danach mit mir reden wolltest, hab ich mich noch mieser gefühlt, weil ich mir sicher war, dass du ziemlich sauer gewesen bist. Aber stattdessen redest du dann nur über Alltagsscheiß. Da... hab ich gedacht, dass dir der Kuss total egal gewesen ist und du nur deswegen über Alltagsscheiß geredet hast, weil du mir damit zeigen wolltest, wie egal dir das gewesen ist."

"Und ich hab nur über Alltagsscheiß geredet, weil ich dich unbedingt sehen, aber nicht wieder verscheuchen wollte. Und ich war mir sicher, dass würde ich, wenn ich über den Kuss rede," erklärte Gregor, während er mit Tonis Haaren spielte. "Niemals wäre ich deswegen sauer gewesen! Es ist einfach nur schön, dich wiederzuhaben!"

"Es ist auch einfach nur schön, dich wiederzuhaben," sagte Toni leise und richtete sich auf für den Kuss, der jetzt folgte und er ihn für einen Moment alles andere vergessen ließ.

Für einen Moment befürchete Toni, dass das Gespräch von grade die Stimmung zwischen ihnen jetzt total kaputt gemacht hatte. Aber je länger sie Arm in Arm auf der Bank saßen, desto mehr fing Toni wieder an, sich so frei und leicht wie vorhin im Wald zu fühlen.

Gregor hatte eine Art unter dem Pullover über seinen Arm zu streicheln, von der Toni der Kopf auf eine unglaublich angenehme Art schwirrte. Er versuchte sich zu revanchieren, in dem er mit den Fingern immer wieder sanft über Gregors Hand strich und so wie der seufzte und sich gegen ihn drückte machte Toni seine Sache wohl auch ziemlich gut.

Zungenküssen mit Lydia hatte Toni nie etwas abgewinnen können, aber es natürlich trotzdem gemacht, weil es eben dazugehörte. Zungenküsse mit Gregor aber waren unglaublich und sorgten dafür, dass Tonis Kopf nur noch mehr schwirrte.

Wie eigentlich immer, wenn sie zusammen waren, redeten sie wenig und wenn, dann war es hauptsächlich Gregor, der etwas sagte und er hatte sein Talent zu erzählen absolut nicht verloren, im Gegenteil. Und natürlich hatte er auch einige Geschichten parat, die sich diesmal aber nicht um seine Vorfahren drehte, sondern um die Hotelgäste, die sich irgendwie daneben benommen hatten.

Und auch eine Familiengeschichte jüngeren Datums war, dabei, nämlich, als vor einem Jahr ein Verwandter einen runden Geburstag feierte und die übers ganze Land verstreute Familie mal wieder zusammen kam. Dabei handelte es sich dann immerhin um über hundert Leute die mehr oder weniger schrullig waren und Toni kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.

Er selbst hatte so gut wie gar nichts zu erzählen, denn bei den interessanten Sachen, die ihm in der letzten Zeit passiert waren, war Lydia dabei gewesen. Und auch, wenn er das eigentlich gar nicht hätte erwähnen brauchen, hätte es sich für ihn trotzdem komisch angefühlt und er wollte diese wunderbare Stimmung durch nichts kaputt machen. Also beschränkte er sich, wenn er mal etwas sagte, auf Streitereien mit Peter, lustige Dinge, die Maja mal gemacht hatte und Schulgeschichten. Aber eigentlich reichte es ihm voll und ganz, hier zu sitzen und Gregor zuzuhören. Oder mit ihm zusammen zu schweigen.  

Die kleine Welt, in die sie sich wieder zurückgezogen hatten und in der Zeit absolut keine Rolle spielte, wurde schließlich durch ein lautes Piepen aus Gregors Jackentasche abrupt zerstört.

"Ach man!" murmelte Gregor, ohne das Handy aus der Tasche zu holen, und drückte sein Gesicht in Tonis Schulter. "Das ist meine Mama," sagte er in seine Jacke und seufzte einmal tief.

"Will sie etwa wissen wo du bist, weil sie gesehen hat, dass du noch nicht im Bett liegst?" fragte Toni scherzhaft.

Gregor seufzte wieder. "Ich weiss es ist grausam aber es ist genau das," antwortete er. "Gegen elf guckt sie immer noch bei mir rein und am liebsten hätte sie es, wenn ich dann auch schon im Bett liege. Hab mich schon mit ihr deswegen gestritten, weil das doch echt lächerlich ist! Inzwischen ist sie soweit, dass sie nicht mehr drauf besteht, dass ich im Bett liege, aber dass ich wenigstens im Zimmer bin. Und am schlimmsten ist echt, dass sie auch am Wochenende so drauf ist. Aber das seh ich dann erst recht nicht ein, weswegen wir uns dann auch wieder streiten. Einziger Trost ist, dass sie bei Johann genau so ist."

Toni fiel wieder ein, wie Gregors Mutter damals schon immer Punkt 21 Uhr aufgetaucht war und Toni dann sofort hatte gehen müssen. Da schien sich ja in den drei Jahren absolut nichts geändert zu haben, von der Uhrzeit mal abgesehen. Er seufzte jetzt auch und drückte Gregor einmal mitleidig an sich. "Das ist ja echt super scheisse," sagte er mitfühlend.

"Mhm," murmelte Gregor, das Gesicht inzwischen an Tonis Hals. Eine Weile saßen sie so da, bis Gregor einmal herzhaft gähnte. "Jetzt bin ich leider doch echt müde geworden," sagte er missmutig.

"Willst du nach Hause?" fragte Toni und Gregor schüttelte den Kopf. "Absolut nicht!" erwiderte er entschlossen. "Von mir aus können wir hier noch ewig weiter sitzen. Scheiss auf Schule oder Arbeit oder sonst irgendwas! Oder irgendwen!"

Toni, der noch immer ganz berauscht von Gregors Nähe und den Küssen war, hätte selbstverständlich auch noch ewig hierbleiben können. Er fühlte sich noch kein bisschen müde und es wäre bestimmt schön gewesen, sich den Sonnenaufgang zusammen anzugucken. Allerdings durch die Nachricht von Gregors Mutter und dass sie dann darüber geredet hatten, waren sie von der Realität wieder eingeholt worden. Und die bestand eben daraus, dass sie nicht bis Sonnenaufgang auf dieser Bank sitzen konnten, weil Gregor morgen wieder zur Schule gehen musste.

Toni konnte zwar ausschlafen aber das Gespräch von grade wegen Lydia war doch nicht ganz so spurlos an ihm vorbeigegangen, wie er gedacht hatte. Und jetzt merkte er auch erst richtig, wie kalt der Wind eigentlich war. Und wie hart die Bank.

Die Ernüchterung, wie schnell diese wunderbare kleine Welt zerstört werden konnte und wie unsanft sich der Aufprall auf den harten Boden der Tatsachen anfühlte, machte sich in Toni breit.

Sie blieben noch für einen Moment sitzen und genossen die letzten Sekunden auf ihrem sterbenden kleinen Planeten. Dann standen sie wie auf ein unsichtbares Kommando gleichzeitig auf und gingen schweigend zur Tür.

Irgendwie frustrierte Toni die Tatsache, dass das Haus auf dem Rückweg immer noch genau so gruselig war, wie auf dem Hinweg. Denn obwohl sich die letzten Stunden mit Gregor so super angefühlt hatten, hatte sich trotzdem absolut gar nichts geändert. Alle seine Probleme waren noch da, angefangen von dem gruseligen Haus bis hin zu seinem schlechten Gewissen gegenüber Lydia. Natürlich wusste er selber, dass es absolut schwachsinnig war, dass sich alles in Wohlgefallen auflöste, nur weil das zwischen ihm und Gregor so toll war. Aber trotzdem hatte Toni sich nicht gegen diesen Gedanken wehren können.

Aber dann griff Gregor nach seiner Hand, nachdem sie aus dem Haus gekommen waren, und Toni wurde mit einem Schlag wieder etwas mit der Realität versöhnt.

"Komm," sagte Gregor. "Ich bring dich zurück."

Eigentlich wäre es Toni umgekehrt lieber gewesen, denn bis zu Gregor war der Weg länger. Aber dann musste er dran denken, dass nicht nur er grade aus den Wolken gefallen war, sondern Gregor vermutlich auch genau so. Und dann war ihm klar geworden, dass er morgen wahnsinnig früh aufstehen musste und dass es vielleicht doch besser war,vorher noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Aber im Gegensatz zu Toni ließ er sich von der Realität nicht ganz so niederdrücken, denn es gab ja nicht nur heute. "Wir wollten morgen in die Stadt, da gibt es eine Kneipe, wo wir öfters mal hingehen," sagte er, nachdem sie einen Moment schweigend Hand in Hand gegangen waren. "Und ich fänd's echt super toll, wenn du auch mitkommen würdest. Es ist wirklich immer klasse da, die Musik ist gut und das Bier kostet nicht viel."

"Na klar komm ich mit!" rief Toni wie aus der Pistole geschossen. "Ich wär auch mitgekommen, wenn die Musik scheisse und das Bier teuer wäre!"

Gregor lachte einmal und weil sie inzwischen bei Nadjas Haus angekommen waren, blieb er stehen, legte die Arme um Tonis Hals und dann küssten sie sich eine ganze Weile.

Und nicht nur der Kuss sorgte dafür, dass Toni sich gleich wieder besser fühlte, sondern auch, dass er Gregor morgen wiedersehen würde und es sprach ja auch absolut nichts dagegen, dass es auch dann wieder so wunderbar werden würde, wie es heute gewesen war.

Er zog Gregor ganz dicht an sich heran und nach dem Kuss blieben sie noch einen Moment mit geschlossenen Augen stehen, Gregor legte sein Stirn an Tonis und streichelte seine Schultern. "Gleich, wenn ich gegangen bin, werd ich die ganze Zeit an dich denken müssen," sagte er liebevoll und Toni erwiderte "Ich auch," obwohl er genau wusste, dass das eine absolut schamlose Lüge war. Denn er spürte schon, wie sich ihm andere Gedanken aufdrängten, die sich nur wieder um die gleichen Dinge wie sonst auch drehten, denen er aber trotzdem nicht entkommen konnte.

Vermutlich hätten sie jetzt noch eine weitere Stunde genau so stehen können, wenn Gregors Handy nicht erneut gepiept hätte. Seufztend ließ er Toni los. "Ich versuch, mich morgen so früh wie möglich freizumachen und dann komm ich gleich zu dir, okay?" fragte er und Toni nickte heftig. "Na klar!" Er drückte Gregors Hand. "Ich vermiss dich jetzt schon."

"Ich dich auch!" erwiderte Gregor, dann küssten sie sich noch einmal kurz und er ging los, aber nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und die Hand zu heben.

Toni winkte zurück und sah ihm nach, bis er endgültig in der Dunkelheit verschwunden war. Dann öffnete er leise die Haustür, zog seine Schuhe aus und ging hoch ins Gästezimmer. Sein blinkendes Handy, das heute den ganzen Tag nur auf dem Nachttisch gelegen hatte, empfing ihn schon und nachdem er das Licht eingeschaltet hatte, holte er einmal tief Luft, bevor er es in die Hand nahm und auf den Bildschirm sah.  

Lydia hatte ihm fünf Nachrichten geschickt, die er schnell überflog immer in der Erwartung, dass sie in irgendeiner davon richtig wütend geworden war, weil er sich einfach nicht meldete. Aber sie wurde in keiner einzigen Nachricht wütend, sondern erzählte nur von ihrem Tag, dass sie sich ein paar Bücher gekauft hatte, die Toni sicher auch gefallen würde und um halb zehn hatte sie die letzte Nachricht geschrieben, dass er wohl ziemlich viel unterwegs sei und deswegen keine Zeit hatte, ihr zurückzuschreiben und dass sie sich sehr freue, dass er anscheinend richtig viel Spaß hatte.

Als Toni diese Nachricht las, spürte er einen sehr unangenehmen Stich, vorallem, mit der Unterhaltung vorhin mit Gregor im Hinterkopf.

Er nahm den einen Stuhl, stellte ihn ans Fenster, setzte sich drauf und stüzte die Arme auf dem Fensterbrett ab, während er durch die Scheibe auf den menschenleeren Burghof sah. Er musste auch an Gregor denken und wie schön es heute mit ihm gewesen war. Eigentlich war es echt das Beste, das Toni bis jetzt erlebt hatte und er wünschte sich, dass es einfach immer so weitergehen würde. Aber das hätte entweder bedeutet, zwei Beziehungen zu führen, einmal die Scheinbeziehung mit Lydia zuhause und dann die Beziehung mit Gregor hier, wobei Gregor da sicher nicht mit einverstanden gewesen wäre.

Er könnte dann natürlich mit Lydia Schluss machen und ihr einfach zu sagen, dass es mit ihnen dann doch nicht funktionierte. Auch, wenn er ihr gar nichts davon erzählte, wie es wirklich in ihm aussah, wäre es dann damit zuende gewesen, denn er hatte noch nie mitbekommen, dass eine Freundschaft nach einer Trennung wirklich funktioniert hatte.

Und wenn er mit Lydia dann nicht mehr zusammen war, dann würde Max wieder anfangen zu fragen, wie es mit den Mädchen lief und da gar nichts laufen würde, würde er das irgendwann komisch finden und Toni fragen, ob er schwul sei. Und auch, wenn Toni das dann, natürlich, abstreiten würde, würde es ihre Freundschaft sicherlich trotzdem belasten. Was hieße, er hätte dann auch seinen zweiten engen Freund verloren und Gregors Rat, sich einfach neue Freunde zu suchen half natürlich nichts.

Allerdings sollten diese Probleme nicht angesichts dessen, was da zwischen ihm und Gregor war, eher unwichtig sein? Denn vermutlich konnte Toni wirklich nichts an dem ändern, was er war. Sonst hätte die Beziehung mit Lydia, die ja eigentlich richtig gut lief, wenn er sie mit denen von seinen Freunden verglich, ihm das doch schon gezeigt, oder?

Also sollte er sich dann doch auf das konzentrieren, was sich gut für ihn anfühlte und was eindeutig Gregor war. Und wenn er dann wirklich mit ihm zusammen war und nicht nur hier, weit weg von allem anderen, dann würden andere gute Dinge passieren, weil er sich dann ja nicht mehr versteckte. Was aber auch heißen würde, er würde noch einmal ganz von vorne anfangen müssen und wenn er an den geouteten Jungen aus der Parallelklasse dachte würde es ein ziemlicher Kampf werden.

Doch wenn Toni ehrlich war, dann war er absolut nicht bereit, diesen Kampf auf sich zu nehmen und das lag daran, dass er einfach ein Feigling war. Ein Feigling, den es auch nicht anspornte, mit Gregor zusammen zu sein, um nicht mehr feige zu sein. Also verdiente er doch im Grunde das Dilemma, in dem er grade steckte und alles würde beim Alten bleiben.

Eine Erkenntnis, die ziemlich bitter schmeckte, aber wahr war. Und die Toni schon längst hätte vor sich selbst aussprechen sollen. Denn jetzt musste er sich wenigstens nicht immer wieder dieselben Gedanken machen und sich fragen, wieso er Lydia so ausnutzte und einfach nicht zu sich selbst stehen konnte. Schließlich war die Antwort immer, dass er eben einfach ein Feigling war.

Natürlich war das Ganze eine sehr billige Ausflucht aber er nahm sie trotzdem gerne an. Denn sie schaffte es, die nervigen Gedanken in seinem Kopf zu stoppen, sodass er Lydia eine Nachricht schreiben konnte, in der er sich dafür entschuldigte, sich kaum zu melden und dass er wirklich viel Spaß hatte. Und danach konnte er sich aufs Bett legen und einfach nur noch an Gregor und die letzten Stunden denken und sich darauf freuen, ihn morgen wiederzusehen.

Die Quittung war dann allerdings, dass er verdammt schlecht schlief und ein Haufen unsinniges Zeug träumte. Als er dann schon um acht Uhr aus dem Schlaf hochschreckte, hatte er Kopfschmerzen und obwohl er immer noch ziemlich müde war, war ihm gleich klar, dass er nicht wieder einschlafen würde. Also stand er auf, zog sich an und ging nach unten. Er hatte zwar eigentlich keinen Bock auf Gesellschaft, aber ebensowenig drauf, allein zu sein.

Nadja empfing ihn mit einem fröhlichen "Ach, sieh mal einer an, wer da schon wach ist! Guten Morgen!" und Toni fragte sich, ob sie auch jemals schlechte Laune hatte.

Er erwiderte ihren Gruß mit einem gequälten Grinsen und ging an ihr vorbei zur Couchecke, wo seine Mutter und Peter, mit Maja auf dem Schoß, saßen. "Da bist du ja schon," empfing ihn seine Mutter lächelnd und streichelte seinen Arm, als er sich neben sie setzte. "Deine Tasche hast du doch sicher auch schon gepackt, was? Hauptsache schnell weg hier, nicht wahr?" Sie lachte einmal.

"Was meinst du?" fragte Toni verwirrt, dessen immer noch ziemlich verschlafenes Gehirn den Satz noch nicht wirklich verarbeiten konnte und sie sah ihn mit großen Augen an. "Das überrascht mich jetzt aber. Schließlich warst du derjenige der drauf bestanden hat, dass wir am Freitag gleich wieder nach Hause fahren."

Die Tatsache, dass heute Freitag war überrumpelte Toni völlig. Die Tage, von denen er vorher noch gedacht hatte, dass sie ewig dauern würden, waren einfach so an ihm vorbeigeflogen. Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte.

"Aber wollten wir nicht erst heute Abend fahren?" fragte er dann und das war natürlich absolut nicht die Reaktion, mit der seine Mutter gerechnet hatte. "Eigentlich schon," antwortete sie erstaunt. "Aber dann dachten wir, wir sparen uns das Geld für einen weiteren Tag im Hotel und fahren doch morgens. Und wir sind eigentlich davon ausgegangen, dass dir das sehr recht wäre."

War es Toni aber absolut nicht. Auf keinen Fall würde er es verpassen, heute mit Gregor in diese Kneipe zu gehen! "Ich kann noch nicht fahren," erwiderte er deswegen. "Ich bin für heute verabredet!"

"Mit Gregor?" erkundigte sich seine Mutter lächelnd und eigentlich wäre jetzt nichts leichter gewesen, als einfach Ja zu sagen. Toni wusste, dass er völlig versagt hatte, sie davon zu überzeugen, dass er in Gregor nichts anderes sah, als einen Freund und dass die Beziehung zwischen Lydia und ihm ganz wunderbar lief.

Dass sie definitiv hinter ihm stehen würde, hatte sie ihm ja auch schon mehrfach gezeigt, aber Toni  hatte ja gestern festgestellt, dass er einfach nur ein Feigling war.

"Nicht mit Gregor!" stellte er deswegen klar. "Sondern mit den Leuten, mit denen ich die letzten Tage rumgehangen hab! Wir wollen in eine Kneipe in der Stadt und es wird spät werden. Deswegen werd ich hier wohl noch einmal übernachten werden."

"Sieh mal an." Seine Mutter verschränkte die Arme vor der Brust. "Das kommt jetzt aber echt unerwartet. Und wie willst du dann nach Hause kommen?"

Toni zuckte mit den Schultern. "Mit dem Zug natürlich," erwiderte er. "Ich bin die Strecke einmal hingefahren, also werde ich sie auch zurück schaffen. Und die Kosten für das Ticket könnt ihr mir ja vom Taschengeld abziehen," sagte er schnell, als er sah, dass Peter den Mund aufmachte.

"Tja," machte seine Mutter. "Verbieten hierzubleiben werden wir dir ja wohl kaum können. Aber hast du denn Nadja oder Thorsten gefragt, ob es für sie okay ist, wenn du noch eine Nacht hier schläfst?!"

"Ach, natürlich ist das in Ordnung," schaltete sich Nadja ins Gespräch ein, als sie mit einem großen Teller voller belegter Brote zu ihnen trat. Sie stellte den Teller auf den Tisch. "Meinetwegen kann er auch noch eine weitere Woche bleiben. Ist immer schön, ihn hierzuhaben. Für einen so guten Esser macht es doch immer Spaß zu kochen." Sie wuschelte Toni einmal durch die Haare. Er stieß ihre Hand sanft aber bestimmt weg und strich sich so würdevoll wie möglich seine Haare wieder glatt.

"Siehst du?" sagte er zu seiner Mutter und jetzt war sie an der Reihe, mit den Schultern zu zucken. "Also gut, wie du willst. Bevor wir losfahren schauen wir dann eben noch am Bahnhof vorbei und kaufen dir eine Fahrkarte. Aber morgen kommst du dann definitiv nach Hause?!"

Toni nickte. "Klar. Ich muss doch noch mit Lydia den Urlaub planen. Wir wollen ja Montag fahren."

"Ach so," machte seine Mutter nur, aber Toni wusste genau, was sie grade dachte. Doch bevor er jetzt anfing, sich wegen seiner Verlogenheit wieder einmal schlecht zu fühlen, erinnert er sich einfach wieder daran, dass er ein Feigling war. Und am Allerwichtigsten war grade sowieso nur, dass er Gregor nachher wiedersehen würde.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

0
Stratis Profilbild
Strati Am 03.07.2018 um 14:53 Uhr
Tolle Geschichte! Lies sich super Lesen! Bin gespannt wie es weiter geht :P
Aber wie bist du auf das Thema gekommen? :D
Fennis Profilbild
Fenni (Autor)Am 03.07.2018 um 23:48 Uhr
Erst einmal vielen lieben Dank für deinen Kommi und deine Bewertung =). Und leider kann ich dir nicht sagen, wie ich auf das Thema gekommen bin. Es ploppte irgendwann einfach in meinem Kopf auf.

Autor

Fennis Profilbild Fenni

Bewertung

Eine Bewertung

Statistik

Kapitel: 36
Sätze: 3.695
Wörter: 80.467
Zeichen: 455.973

Kurzbeschreibung

Als der geplante Portugal-Urlaub ins Wasser fällt, muss Toni gegen seinen Willen für zwei Wochen zu seinen Verwandten auf eine langweilige Burg. Die sich dann doch nicht als so langweilig herausstellt, weil er dort Gregor kennen lernt. Schnell wird Toni klar, dass da zwischen ihnen mehr als Freundschaft ist. Eine Tatsache, mit der er sich nicht so leicht abfinden kann. Der er aber nicht mehr entkommen kann, ebenso wenig wie er Gregor entkommen kann. Egal, wieviel Zeit vergeht.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Liebe auch in den Genres Entwicklung, Freundschaft und Familie gelistet.