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Die Welt und Elliot und Leonard

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02.08.25 18:33
16 Ab 16 Jahren
Homosexualität
In Arbeit

Das Gebrülle vor seiner Zimmertür wurde immer lauter. Leo ließ den Stift fallen und fuhr sich einmal mit beiden Händen durchs Gesicht. Er wollte eigentlich nicht aufstehen und hingehen, aber er wollte auch seine nervigen Hausaufgaben endlich erledigt bekommen und bei dem Geschreie konnte er sich absolut nicht konzentrieren. Also seufzte er einmal tief, ging zur Tür und riss sie auf.

„Hört endlich auf, hier rumzuschreien!“ rief er wütend. „Ich mach Hausaufgaben!“

„Aber Tim will mir nicht mein Auto geben,“ rief Henrik mit schwimmenden Augen und wies anklagend auf seinen Bruder, der das Objekt der Begierde an seine Brust drückte. „Das ist mein Auto! Ich hab das zu Weihnachten bekommen!“

„Nein, ich hab das gekriegt!“ Henrik versuchte, Tim das Auto zu entreißen, erfolglos, worauf das furchtbare Gebrülle wieder losging.

„Haltet endlich den Mund!“ versuchte Leo es noch einmal, diesmal noch lauter, aber inzwischen wurde er überhaupt nicht mehr beachtet. Er seufzte wieder. Ein Bruder wäre in Ordnung gewesen, aber es mussten dann ja gleich zwei auf einmal werden, die gefühlt den ganzen Tag nichts anderes machten, als zu streiten.

Und während er noch darüber nachdachte, ob er weiter versuchen sollte diesen Streit hier zu schlichten und ob es was bringen würde, wenn er ihnen einfach das Auto wegnahm, hörte er seine Mutter von unten seinen Namen rufen und als er die Treppe halb heruntergestiegen war, stand sie da mit einem Päckchen in der Hand und lächelte ihm entgegen. „Hättest du vielleicht Lust, mit mir für ein Stündchen zu Charlie zu gehen?“

„Ja!“ antwortete Leo sofort ohne, dass er auch nur eine Sekunde drüber nachdenken musste, während sich das Geschreie hinter ihm in immer neue Höhen hinaufschraubte. Aber auch, wenn das Geschreie nicht gewesen wäre, wäre er auf jeden Fall mitgekommen. Bei Charlie war es immer entspannt, kein Vergleich mit Zuhause. Er würde mit Mark Karten spielen, während seine Mutter und Charlie im Wohnzimmer quatschen und Kuchen essen würde, so, wie sie es immer machten.

Leo beeilte sich, seine Schuhe anzuziehen um schnell hier rauszukommen. Eine Jacke brauchte er nicht, es war immer noch sommerlich warm, auch, wenn man inzwischen schon merkte, dass es nicht mehr lange so bleiben würde.

Zu Charlie war es ein zehnminütiger Fußweg und nachdem sie losgegangen waren, hakte sich seine Mutter bei ihm ein. „Ich find dieses Geschreie übrigens auch furchtbar und bin immer froh, wenn ich mal für n Moment davon wegkomme.“

„Und wieso sagst du ihnen nicht einfach, dass sie damit aufhören sollen?“ wollte Leo wissen. Seiner Meinung nach mischten sich seine Eltern sowieso viel zu selten ein und am Ende blieb es dann oft an ihm hängen, die Streitereien zu beenden.

Seine Mutter lachte einmal. „Du bist dreizehn und die beiden sind zehn, da solltet ihr langsam lernen, sowas alleine hinzubekommen. Das müsst ihr später doch sowieso, ich kann doch wenn ihr zwanzig seid solche Sachen immer noch für euch regeln. Das wäre dann doch ziemlich peinlich, oder?“

„Hm,“ machte Leo nur. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte seine Mutter sich ruhig noch einmischen können, aber er hatte ja jetzt grade gelernt, dass er damit nicht mehr rechnen musste. Und er wusste auch, dass er ihr zwar sagen konnte, dass er das absolut nicht gut fand, sich dadurch aber nichts ändern würde. Also versuchte er es auch gar nicht erst.

Charlie öffnete ihnen direkt die Tür, nachdem sie geklingelt hatten, begrüßte sie beide herzlich und während Leos Mutter und er in die Küche gingen, wo es schon nach Kaffee roch, suchte Leo nach Mark, fand ihn aber nirgendwo. Als er wieder in die Küche kam, war seine Mutter dabei, den Kuchen anzuschneiden, während Charlie Kaffee eingoss.

„Ist Mark gar nicht da?“ fragte Leo und da er die Antwort schon ahnte, konnte er seine Enttäuschung nicht verbergen.

Charlie sah ihn entschuldigend an. „Er muss heute länger arbeiten, tut mir Leid. Aber du kannst dich doch auch gerne zu uns setzen, wenn du möchtest.“

Leo dachte einen Moment drüber nach und wenn schon allein die Vorstellung, hier zu sitzen und zuzuhören, wie seine Mutter und Charlie über total uninteressante Dinge redeten, langweilig war, dann würde es in Wirklichkeit bestimmt noch langweiliger sein. „Nein,“ sagte er deswegen. „Ich geh nach draußen.“

„Hast du eine Uhr dabei?“ fragte seine Mutter und nachdem Leo seine Hand gehoben und sie ihr gezeigt hatte, „Gut, dann sei bitte in einer Stunde wieder da.“

Leo nickte als Antwort nur, ging in den Flur und zog sich seine Schuhe, die er vor ein paar Minuten erst ausgezogen hatte, wieder an, seufzte einmal, öffnete die Haustür und trat nach draußen. Glücklicherweise musste er jetzt nicht lange überlegen, was er machen sollte. Er kannte die Gegend, er war hier schon öfters herumgestreunt, wenn Mark entweder keine Zeit oder keine Lust zum Kartenspielen gehabt hatte.

Er war erst zwei- oder dreimal bei dem kleinen Bach gewesen und hatte niemals andere Menschen gesehen, noch nichtmals jemanden, der einfach nur vorbeigegangen war. Und da man vorher einige Zeit durch den Wald laufen musste, war Leo eigentlich davon ausgegangen, dass er der einzige Mensch auf der Welt war, der wusste, dass es diesen Bach gab.

Doch als er links an der großen Eiche abgebogen war sah er dann nicht nur den Bach vor sich, sondern auch eine Gestalt, die genau da am Ufer saß, wo er bis jetzt immer gesessen hatte, die einzige Stelle, an der die Sonnenstrahlen es durch die dichten Baumkronen schafften.

Leo hatte eigentlich geplant, sich dort in der Sonne auszustrecken und ein bisschen seinen Gedanken nachzuhängen und dem Rauschen des Wassers zuzuhören. Und nachher hätte er vielleicht wieder ein paar Fische beobachten können. Aber das würde ja jetzt nicht gehen und er fühlte sich für einen Moment von der Realität betrogen.

Und als das Gefühl verschwunden war, überlegte er, was er jetzt machen sollte. Hierbleiben würde er auf keinen Fall, er hatte grade keine Lust auf Gesellschaft, schon gar nicht von jemandem, den er nicht kannte. Er wollte einfach nur die Ruhe genießen, bevor er in einer Stunde wieder zurück nach Hause zu seinen schreienden Geschwistern und seinen nervigen Hausaufgaben musste. Aber leider hatte er zu lange nachgedacht und vielleicht auch unbewusst irgendwelche Geräusche gemacht, denn plötzlich drehte sich die Gestalt um, es war ein Junge in seinem Alter, der einen Stock in der Hand hielt, und ihre Blicke trafen sich.

Jetzt wäre die letzte Gelegenheit gewesen, zu verschwinden, die Leo aber einfach verschwendete, in dem er gar nichts machte, und nachdem der Junge „Hallo,“ gesagt hatte, wäre es dann absolut unhöflich gewesen, einfach zu gehen, ohne auch etwas zu sagen.

„Hallo,“ erwiderte Leo deswegen und steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Er wusste nicht, wieso er sich auf einmal verlegen fühlte. Vielleicht, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass der Junge ihn ansprechen würde. Und der war auch noch gar nicht fertig damit. „Wie heißt du?“ wollte er wissen und Leo, der einsah, dass er hier wohl erst mal nicht mehr wegkommen würde, ging auf ihn zu während er „Leonard und du?“ antwortete.

„Elliot,“ erwiderte der Junge und grinste schief.

Leo war inzwischen bei ihm angekommen und nachdem er kurz gezögert hatte, setzte er sich, mit einigem Abstand neben ihn, was sich zwar komisch anfühlte, aber es wäre noch komischer gewesen, einfach stehen zu bleiben. „Elliot ist irgendwie ein merkwürdiger Name,“ meinte er, ohne vorher darüber nachzudenken, dass das nicht sehr nett war.

Aber Elliots schiefes Grinsen wurde danach nur noch schiefer, vermutlich weil Leo genau so reagiert hatte, wie er es wartet hatte. „Es ist echt ein komischer Name,“ sagte er dann und seufzte einmal. „Meine Mutter hat damals irgendein Buch gelesen, das sie dann ganz toll gefunden hat und deswegen heiß ich jetzt Elliot.“ Er sah Leo von der Seite an. „Und wieso heißt du Leonard?“

Leo, der sich darüber noch nie Gedanken gemacht hatte, zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich glaub, der Name hat meinen Eltern einfach gefallen.“

Danach schwiegen sie eine Weile und Leo sah zu, wie Elliot mit dem Stock im Bach herumstocherte, dabei ziemlich viel Zeug am Grund aufwirbelte und sehr wahrscheinlich sämtliche Fische verscheuchte.

Die Leo vermutlich eh nicht hätte beobachten können, denn er fühlte sich grade alles andere als entspannt, hier schweigend mit Elliot zu sitzen und inzwischen bereute er es, sich überhaupt hingesetzt zu haben, was die Angelegenheit zu gehen noch etwas komplizierter machte.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, er hatte noch eine halbe Stunde und musste sich jetzt entscheiden, ob er die lieber hier oder mit Charlie und seiner Mutter auf der Couch verbringen wollte. Natürlich hätte er auch nach Hause zu seinen schreienden Geschwistern und seinem anstrengenden Vater gehen können, aber das schied schon mal direkt aus. Also musste er sich zwischen den ersten beiden entscheiden und eigentlich wäre er ja lieber hier geblieben.

„Bist du auch hier weil deine Eltern doof sind?“ fragte Elliot auf einmal unvermittelt und riss Leo damit nicht nur mitten aus seinen Überlegungen, er war über diese Frage gleichzeitig auch noch so überrascht, dass er einen Moment brauchte, bis er antworten konnte.

„Nein,“ antwortete er dann nur. Er fand seine Eltern zwar ziemlich oft ziemlich doof, vorallem seinen Vater, aber deswegen war er ja nicht hier und selbst, wenn er es gewesen wäre, würde er nicht mit jemandem, den er gar nicht kannte, darüber sprechen.

Elliot hatte da weniger Skrupel. „Sie wollen nicht, dass ich einfach von zuhause weggehe und jetzt bin ich eine Stunde gelaufen bis hierher. Mal sehen, was sie sagen, wenn sie mich suchen und mich nicht finden...“

Er redete noch weiter aber was er sagte, rauschte ungehört an Leo vorbei, der versuchte, sich einen Plan zurecht zu legen, mit dem er vielleicht doch noch für ein paar Minuten die Ruhe genießen konnte, wegen der er hergekommen war.

Aber dann wurde ihm klar, dass er hier gar nicht versuchen musste, irgendwie diplomatisch zu sein. Er würde einfach sagen, wie es war und entweder Elliot war dann wütend und würde abhauen oder er war wütend und würde ihn in Ruhe lassen, so oder so, Leo würde bekommen, was er wollte. Er wartete deswegen auch nicht, bis Elliot fertig geredet hatte, sondern nur, bis er eine Pause zwischen zwei Sätzen machte.

„Ich hab zwei zehn Jahre alte Brüder, die die ganze Zeit nur rumbrüllen und ich bin eigentlich nur hier, um endlich mal ein bisschen Ruhe zu haben,“ sagte er dann und war danach ein bisschen gespannt, was jetzt passieren würde.

Zuerst einmal sah Elliot ihn für ein paar Sekunden überrascht an und runzelte die Stirn und Leo machte sich innerlich darauf gefasst, dass es gleich unschön werden würde. Aber dann lächelte er plötzlich und zog den Stock aus dem Wasser. „Wusstest du, dass es hier Fische gibt? Ich hab vorhin welche gesehen und ich wette, wenn wir jetzt ganz ruhig sind, dann kommen sie bestimmt wieder.“

Leo schaffte es, rechtzeitig aufzuwachen, um die Taste des Weckers zu drücken, bevor dieser mit seinem furchtbaren Gepiepe loslegen konnte.

Dann drehte er sich wieder auf den Rücken, fuhr sich einmal mit beiden Händen durchs Gesicht und seufzte. Die Herbstferien waren jetzt offiziell vorbei und er war unglaublich froh darüber, weil sie nämlich eine echte Katastrophe gewesen waren.

Leo war immer gerne zur Schule gegangen und Lernen und gute Noten zu bekommen war nie ein Problem gewesen. Aber jetzt, wo die Hälfte der neunten Klasse fast um war, hatte er offensichtlich irgend eine unsichtbare Grenze überschritten, denn ab jetzt ging es nicht mehr nur um gute Noten, die aber natürlich trotzdem immer noch eingefordert worden.

Sondern ab jetzt ging es seinen Eltern  auch darum, wie sein Leben später mal aussehen sollte. Etwas, wovon Leo noch überhaupt keine Ahnung hatte, weil er darüber auch noch nie wirklich nachgedacht hatte. Und was er dann, als die Frage das erste Mal aufgekommen war, seinem Vater genau so geantwortet hatte. Was natürlich absolut falsch gewesen war. Vorwurfsvoll wurde ihm gesagt, dass er gefälligst anfangen sollte, darüber nachzudenken und dass die Schule schneller vorbei sein würde, als er gucken konnte.

Und wenn er danach dann ohne irgendetwas da stehen würde, würden sie ihn sicher nicht Zuhause weiter mit durchfüttern. Er brauchte eine ganze Weile bis er diesen ziemlich krassen Satz, den er grade zum ersten Mal gehört hatte, verdaut hatte und der natürlich keineswegs dazu beitrug, dass ihm plötzlich einfiel, was er später mal machen wollte.

Aber mit diesem einen Gespräch war das Thema selbstverständlich nicht aus der Welt. Im Gegenteil, es zog sich durch die ganzen Herbstferien und irgendwann weigerte Leo sich schon aus reinem Trotz, sich auch nur eine Sekunde damit zu beschäftigen.

Woraus dann aus diesen Gesprächen ziemlich hitzige Diskussionen wurden. Die sich dann immer weiter aufheizte, als sein Vater schließlich damit rausrückte, dass er sehr wohl einen Plan für Leos weiteres Leben hatte: Als Sohn eines Uni-Dozenten würde er natürlich sein Abitur machen und dann studieren. Was, das durfte sich Leo sogar gnädigerweise selbst aussuchen, aber ein Studium musste sein.

Auch, wenn Leo sonst noch keine Ahnung hatte, aber dass er sein Abi machen und dann studieren würde, das kam absolut nicht in Frage. Was er dann wieder genau so sagte und bei jedem Mal auch wiederholte.

Noch gestern Abend hatten sein Vater und er sich deswegen wieder heftig gestritten und irgendwann hatte Leo darauf absolut keine Lust mehr gehabt und war einfach aufgestanden und in sein Zimmer gegangen, hatte die Tür hinter sich zugeknallt und den Schlüssel im Schloß umgedreht.

Danach hatte er eigentlich die ganze Zeit drauf gewartet, dass sein Vater wütend ankam und ihn einfach weiter durch die Tür anschrie, aber er tat es nicht.

Was aber bestimmt nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen war. Vermutlich würde es direkt weitergehen, wenn Leo, nachdem er sich die Zähne geputzt und angezogen hatten, gleich in die Küche kommen würde. Was er eigentlich gar nicht wollte, allerdings wollte er auch nicht ohne was Warmes im Bauch aus dem Haus gehen, also hatte er ja gar keine andere Wahl.

Aber schon als er sich der Schwingtür zur Küche näherte, hörte er die lauten Stimmen, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass Tim und Henrik wieder irgendetwas zu diskutieren hatten. Noch etwas, mit dem Leo sich eigentlich nicht auseinandersetzen wollte.

Er blieb vor der Tür stehen, hatte schon die Hand dagegen gelegt, sah vor seinem inneren Auge seinen Vater, der seine Zeitung weglegte, um nahtlos auf die gestrige Diskussion zurückzukommen, während im Hintergrund entweder Tim oder Henrik oder beide gleichzeitig herumschrieen und entschied dann, dass das der erste Schultag werden würde, an dem er ohne den üblichen Becher Tee das Haus verlassen würde. Er ließ seine Hand wieder sinken, ging in den Flur, nahm seine Jacke vom Haken und seinen Rucksack aus der Ecke und verließ das Haus, wobei er die Haustür so leise wie möglich hinter sich in Schloß zog.

Dann beeilte er sich, vom Haus wegzukommen, sodass er von da aus nicht mehr gesehen werden konnte und als er sich sicher war, dass er weit genug weg war, hatte er auf einmal das Gefühl, aus einem Bannkreis herausgetreten zu sein.

Er seufzte erleichtert und griff dann in seine Hosentasche um seine Kopfhörer herauszuholen. Die Musik begleitete ihn das kurze Stück durch den Park und dann über die Straße, wo Jasper an ihrer übliche Ecke auf ihn wartete.

Sie hatten sich die ganzen Ferien lang nicht gesehen, aber als Leo bei ihm angekommen war und er ihm einmal zur Begrüßung zunickte und „Hallo,“ sagte, da war es, als hätten sie sich erst gestern verabschiedet.

Leo erwiderte Jaspers Nicken und sein Hallo auf die gleiche Weise und dann gingen sie schweigend los und wenn es nach Leo gegangen wäre, dann hätten sie das auch den ganzen restlichen Weg so beibehalten können. Nach diesem ätzenden Morgen hatte er grade absolut keine Lust, über irgendetwas zu reden, die Auswahl der Themen wäre sowieso nicht groß gewesen, was sie bei Leo ja eh immer der Fall war, aber diesmal waren es auch alles Themen die er nicht mit Jasper besprechen wollte.

Sie kannten sich zwar schon seit der Grundschule, aber trotzdem hatte ihre Freundschaft eine gewisse Oberflächlichkeit nie verloren. Was aber auch völlig in Ordnung war, denn diese Oberflächlichkeit machte es irgendwie einfach, mit Jasper befreundet zu sein.

Der jetzt grade allerdings Redebedarf hatte. „Wie waren die Ferien?“ wollte er wissen und Leo seufzte. „Ätzend, anstrengend, frag einfach nicht,“ erwiderte er. „Und deine?“

„Ach geht so,“ antwortete Jasper. „Ist ja ganz schön, Verwandte in der Schweiz zu haben, aber müssen wir sie deswegen auch jede Ferien besuchen fahren? Ich sag dir, ich kenn da jetzt sämtliche Berge und Wiesen weil was anderes kann man da ja nicht machen, außer auf Berge zu steigen und über Wiesen zu laufen.“  

Jasper erzählte noch weiter: von seinen Cousinen, mit denen er sich wenigstens ganz gut verstand und dass das Wetter da oben auf dem Berg die meiste Zeit ziemlich schön gewesen war und er irgendwann sogar einen ziemlichen Sonnenbrand im Gesicht gehabt hatte. Er war tatsächlich ziemlich braun geworden und sah aus, als hätte er eher auf einer Insel in der Südsee Urlaub gemacht anstatt auf einem Berg in der Schweiz.

Seine Feriengeschichten füllten den ganzen Schulweg aus, denn natürlich hatte er dann doch noch andere Sachen gemacht, als auf Berge zu steigen und über Wiesen zu laufen und Leo fand es schön, ihm einfach nur zuzuhören. Jasper hatte eine angenehme Art zu erzählen und was auch noch sehr angenehm war, war, dass er, wenn Leo ihn darum bat, nicht nachzufragen, auch einfach nicht nachfragte.

Der Schulhof war schon ziemlich voll, als sie schließlich ankamen und Leo sah auf den ersten Blick, dass sich unter dem großen Baum schon ein paar von den Leuten aus ihrer Klasse eingefunden hatten, mit denen sie in der Pause immer zusammenstanden. Ober besser gesagt, mit denen Jasper zusammenstand. Leo stand eher bei Jasper als bei den anderen.

Jasper hatte sie bestimmt auch gesehen, aber trotzdem blieb er am Tor stehen und auf Leos fragenden Blick hin erklärte er: „Stefan schuldet mir immer noch die fünfzehn Euro von letztem Monat und er hat mir versprochen, dass er sie mir heute mitbringt. Und ich hab keinen Bock, nachher nach ihm zu suchen, also werd ich ihn jetzt direkt hier abfangen, bevor der Drecksack wieder mal abhauen kann!“

Leo kannte die Geschichte mit den 15 Euro natürlich und selbstverständlich wartete er mit Jasper. In erster Linie natürlich wegen Jasper, aber auch, weil er sonst nichts hatte, wo er hätte hingehen könnte.

Stefan würde natürlich zu spät kommen, wenn er überhaupt kam. Er war zwar nicht in ihrer Klasse, aber berühmt berüchtigt dafür, zu kommen und zu gehen, wann er wollte, patzig zu den Lehrern zu sein und sich Geld zu schnorren, ohne es jemals zurückzuzahlen. Deswegen war Leo sich ziemlich sicher, dass auch Jasper seine 15 Euro niemals wiedersehen würde, sagte aber nichts, sondern beobachtete das Treiben um ihn herum, ohne an irgendetwas Bestimmtes zu denken.

Bis er plötzlich eine Stimme „Hey“, sagen hörte und natürlich wusste er, auch ohne hinzusehen, wer das war. Und eigentlich wollte er auch gar nicht hinsehen, aber wie unter Zwang drehte sich sein Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sein Herz machte diesen heftigen Satz, von dem er eigentlich gedacht hatte, dass er ihn über die Herbstferien losgeworden war.

Und da er gleichzeitig auch noch merkte, wie er rot wurde, streifte er Alex, der kurz die Hand in Richtung Jasper gehoben hatten und dann direkt weiterging, nur mit einem flüchtigen Blick. Aber auch dieser flüchtige Blick reichte aus, dass er wieder dieses komische Gefühl im Bauch bekam.

Das damals zusammen mit dem heftigen Satz gekommen war, als er auf einer Party, auf die ihn Jasper mitgenommen hatte und die im Keller von irgendjemandem stattgefunden hatte, Alex begegnet war, als er die Treppe hochgestiegen war.

Alex war der beste Sportler der Klasse, der, der am besten aussah, am besten bei den Mädchen ankam, eigentlich der Beste in allem. Und so jemand würde sich natürlich nie mit Leo, der definitiv irgendwo ganz weit hinten auf jeglicher Liste stand, abgeben.

Aber diesmal hatte er keine Chance, weil Leo ihm ja auf der ziemlich schmalen Treppe entgegenkam. Natürlich wollte der ihm direkt ausweichen und wechselte von die linke auf die rechte Seite. Was Alex in dieser Sekunde auch tat. Und als Leo dann wieder zurückwechselte, tat Alex das auch. Leo, der mit dieser Situation ziemlich überfordert war, und nicht wusste, was er jetzt machen sollte, erstarrte dann einfach.

Und in dieser Sekunde grinste Alex dann auf einmal. Er grinste natürlich nicht Leo an, er hatte ihn eigentlich keinen einzigen Blick zugeworfen, aber Leo sah das Lächeln natürlich und in diesem Moment entschied sich sein Herz dazu, diesen heftigen Satz zu machen, während gleichzeitig das komische Gefühl auftauchte.

Dann zwängte sich Alex elegant an ihm vorbei und ging die Treppe hinunter und Leo konnte nicht anders, als ihm nachzugucken, bis er verschwunden war.

Auch, als er zurückgekommen und sich wieder neben Jasper gesetzt hatte, sah er ständig zu Alex rüber, auch, wenn er das eigentlich gar nicht wollte.

Alex stand, umringt von einigen anderen, hauptsächlich Mädchen, in einer Ecke und führte natürlich das große Wort. Er grinste auch wieder und diesmal hatte sein Grinsen auch ein Ziel und das war Larissa und Larissa war jemand, der auch auf sämtlichen Listen ganz oben stand.

Leo seufzte einmal tief und wusste dann nicht so wirklich, wieso er das getan hatte. Aber was ihm in diesem Moment einfiel war, dass er jetzt eine ganze Zeit zu Alex rübergestarrt hatte und auch, wenn es den Anderen um ihn herum vermutlich nicht aufgefallen war, weil er ihnen eh ziemlich egal und nur Jaspers Anhängsel war, Jasper hatte es eventuell mitbekommen und Leo hatte absolut keine Lust darauf, dass er ihn nachher nach dem Grund fragte.

Er hatte nämlich beschlossen, sich einfach dumm zu stellen obwohl das am Ende nichts bringen würde, schließlich kannte er Charlie schon sein ganzes und Mark mindestens sein halbes Leben.

Aber Leo wollte einfach nicht so über sich nachdenken, es fühlte sich viel zu seltsam an. Dass Jasper nachher auch nicht gefragt hatte und nach dieser Party dann sowieso Herbstferien waren und er Alex jetzt zwei Wochen nicht sehen würde, wodurch sich das alles dann sicher von selbst erledigen würde, machten es dann für ihn auch noch einfacher, erst einmal alles weit von sich zu schieben.

Aber die Begegnung mit Alex grade hatte ihm gezeigt, dass er gar nichts losgeworden war, weder die Gefühle noch die Unwilligkeit, darüber nachzudenken. Er seufzte einmal innerlich und hatte gar nicht gemerkt, wie tief er in seine Gedanken versunken gewesen war. Es fiel ihm erst auf, als Jasper ihm die Hand auf die Schulter legte,  „Komm, wir gehen, ich wette, der Scheißkerl kommt überhaupt nicht!“ sagte und ihn damit fast zu Tode erschreckte.

Diesen Schultag verbrachte Leo zu 50% damit, dem Unterricht zu folgen, 20% damit, Gefühle und Gedanken von sich wegzuschieben und 30% damit, Alex zu beobachten, der an dem Tisch schräg links vor ihm saß, was wieder absolut gegen seinen Willen geschah, aber wieder konnte er sich nicht dagegen wehren.

Zwischendurch sah er auch noch aus dem Fenster dabei zu, wie sich am vorher blauen Himmel immer mehr dunkle Wolken zusammenballten.

Als sie schließlich nach der letzten Stunden aus dem Gebäude traten, hatte es angefangen zu regnen, weswegen sie erst noch unterm Dach stehen blieben, während Jasper einen Blick auf sein Handy warf. „Tut mir Leid,“ sagte er, als er den Kopf wieder hob. „Aber meine Mama hat mir grad geschrieben, dass ich jetzt zu meinem Vater gehen soll.“

Was hieß, dass er jetzt in die entgegensetzte Richtung musste, sodass sie nicht zusammen zurückgehen würde. Was Leo in diesem Moment absolut nicht schlimm fand. Der Tag hatte ihn mehr angestrengt, als es ein normaler Schultag eigentlich getan hätte weswegen er jetzt absolut kein Problem damit hatte, alleine zu sein.

Sie verabschiedeten sich und als Leo sich alleine auf den Weg zum Tor machte, atmete er einmal tief ein und das fühlte sich absolut befreiend an. Wie, als hätte er den ganzen Schultag über die Luft angehalten.

Er war grade vom Schulhof auf den Bürgersteig getreten und nach rechts abgebogen, als sein Handy heftig in seiner Hosentasche vibrierte, also keine Nachricht, sondern ein Anruf und eigentlich hatte er jetzt absolut keine Lust auf ein Telefonat, weil das bestimmt einer von seinen Eltern war.

Eigentlich hatte er schon längst eine Nachricht oder einen Anruf in der Pause erwartet, entweder von einem oder beiden, weil sie wütend darüber waren, dass er heute morgen einfach gegangen war.

Oder es war Elliot, was aber eher unwahrscheinlich war. Schließlich hatten sie erst gestern über eine Stunde telefoniert weil er Leo unbedingt von seinen zwei Wochen im Tennis-Camp irgendwo in Spanien erzählen musste.

Sein Vater hatte zwar gewollt, dass er in dieses Camp fuhr und Elliot hatte es zuerst ziemlich scheiße gefunden. Aber dann hatte es ihm, abseits vom ständigen Tennisspielen ziemlich gut gefallen und er hatte Leo ausführlich von den vielen coolen Leuten erzählt, die er da kennengelernt hatte.

Natürlich hatte er Leo auch nach seinen Ferien gefragt, aber Leo hatte ihm genau das geantwortet, was er Jasper auch gesagt hatte. Irgendwann würde er Elliot bestimmt mehr davon erzählen, aber manchmal war es schöner, einfach nur zuzuhören, anstatt selber zu reden. Oder, in Leos Fall, eigentlich ständig.

Und eben weil sie gestern diese Stunde telefoniert hatten, war Leo überrascht, dass er ihn jetzt schon wieder anrief, denn nachdem er das Handy aus der Hosentasche geholt und drauf geguckt hatte, war es tatsächlich Elliot.

Er ließ Leo dann auch grade Zeit ,Hallo' zu sagen, bevor er auch schon wie aus der Pistole geschossen losredete: „Ich hab sie heute nochmal gefragt und sie will sich mit mir treffen! Am Samstag und Billard spielen gehen, aber nicht alleine, sie will auch noch ne Freundin mitbringen und vielleicht könntest du dann auch mitkommen? Damit die Freundin nicht ständig an ihr dran hängt und ich auch mal mit ihr alleine reden kann.“

„Ja klar komm ich mit,“ erwiderte Leo sofort. Obwohl er sich bessere Beschäftigungen für einen Samstag vorstellen konnte als ihn mit zwei Mädchen, von der er die eine gar nicht und Lara bisher nur aus Elliots Erzählungen kannte, zu verbringen und dabei Billard zu spielen, einem Spiel, von über das er absolut gar nicht wusste.

Aber hier ging es grade nicht um ihn sondern um Elliot, der schon ziemlich lange in Lara verknallt war und bei der er erst seit der Woche vor den Herbstferien langsam Fortschritte machte.

Leo hatte ziemlich mit ihm mitgelitten, als Elliot sie damals zum ersten Mal gefragt hatte, ob sie mal mit ihm ausgehen wollte und sie direkt nein gesagt hatte und er am Boden zerstört gewesen war. Elliot hatte ihm gestern gesagt, dass er versuchen würde, sie heute noch mal zu fragen und dass er es dann auch wirklich gemacht hatte, beeindruckte Leo ziemlich. Er selber hätte das nicht gekonnt.

„Was machst du jetzt noch?“ fragte Elliot in diesem Moment und Leo der jetzt eigentlich nicht mit seinen Gedanken allein sein wollte, wollte grade antworten, dass er nichts mehr machte und sie sich gerne noch irgendwo treffen konnte, aber dann hörte er bei Elliot im Hintergrund jemanden etwas sagen und Elliot erwiderte „Ja, ich komm ja gleich, beruhig dich!“ und da war klar, dass sich Leo nicht nur mit Elliot sondern auch mit seinen Freunden treffen würde. Worauf er absolut keine Lust hatte.

Denn Elliot war dann immer ganz anders, er war laut, musste ständig beweisen, dass er besser war, als die anderen und teilweise fand Leo ihn auch ziemlich arrogant. Dieser Elliot hatte mit dem, der manchmal einfach nur stundenlang neben Leo auf dem Bett lag, während sie über alles Mögliche redeten oder der ganz versunken Klavier spielte, während Leo neben ihm saß und ihm zusah, gar nichts gemeinsam und auf diesen Elliot hatte Leo grade absolut gar keine Lust.

„Ich kann nicht,“ sagte er deswegen und sparte sich die Erklärung. Nicht nur, weil er nicht sagen wollte, dass er keine Lust auf den Elliot mit seinen Freunden hatte, sondern auch, weil er inzwischen wusste, dass er keine brauchte. Wenn er sagte, er konnte nicht, dann war das für Elliot schon völlig ausreichend. Deswegen meinte er dann auch nur ,Schade, bis dann' und hatte aufgelegt, bevor Leo sich ebenfalls verabschieden konnte.

Der Regen begleitete Leo den ganzen Weg nach Hause und trotz Kapuze war er ziemlich durchnässt, als er schließlich vor der Haustür stand. Er hatte schon die Hand in die Tasche gesteckt, um seinen Schlüssel rauszuholen, aber dann wurde ihm klar, dass er grade noch weniger Lust auf seine Familie hatte, als heute morgen.

Deswegen drehte er sich wieder um, bog nach rechts ab und ging zum Gartentor. Er drückte die Klinke runter und es war natürlich mal wieder nicht abgeschlossen. Wenn sein Vater das wüsste, würde er definitiv einen mittleren Tobsuchtsanfall bekommen. Nicht, dass Leo es ihm sagen würde...

Er ging durch den Garten, stieg die drei Stufen zur Terrasse hoch und setzte sich dann in den alten Schaukelstuhl und während er langsam vor und zurückschaukelte und in den Regen hinaussah, machte er nahtlos weiter mit dem, was er sowieso schon fast den ganzen Tag lang gemacht hatte: die unliebsamen Gedanken, die immer hartnäckiger darauf drängten, gedacht zu werden, von sich weg zu schieben und stattdessen nach einer fadenscheinigen Erklärung zu suchen, wieso ihn Alex heute wieder so aus der Bahn geworfen hatte.

Und als er sie schließlich gefunden hatte, Alex hatte ihn deswegen so aus der Bahn geworfen, weil er ihn jetzt eben zwei Wochen nicht gesehen hatte und morgen hätte sich dann alles auf jeden Fall erledigt, ertönte plötzlich die Stimme seines Vaters direkt neben ihm die vorwurfsvoll sagte: „Hast du nichts Besseres zu tun, als dumm hier herumzusitzen und Löcher in die Luft zu starren?! Wie wäre es denn zum Beispiel mit Hausaufgaben oder Lernen?! Oder über deine Zukunft nachzudenken?!“

Leo fuhr hoch und brauchte einen Moment, bis er wieder zurück in die Realität gefunden hatte. Er öffnete den Mund, entschied dann aber, dass er grade definitiv keine Lust hatte, sich mal wieder mit seinem Vater herumzustreiten und nahm stattdessen seinen Rucksack und ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Er spürte, wie sich sein Blick die ganze Zeit, die er brauchte, um durch das Wohnzimmer in den Flur zu gehen, wo er seine Schuhe auszog und seine Jacke aufhängte, in ihn bohrte und wartete nur darauf, dass sein Vater es ansprechen würde, dass er heute morgen einfach gegangen war

Aber er sagte nichts weiter, sondern sah ihm nur dabei zu, wie er aus dem Flur zurückkam und die Treppe hochstieg und dabei krampfhaft versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm das Angestarre war. So unangenehm, dass er, obwohl er Hunger hatte, jetzt definitiv nichts runterkriegen würde.

Er atmete einmal tief ein, als er es endlich aus diesem Bannkreis herausgeschafft hatte, beeilte sich, in sein Zimmer zu komme, wo er leise die Tür schloss, noch leiser den Schlüssel umdrehte und dann den Rucksack einfach fallen ließ.

Eigentlich hatte er zwar absolut keine Lust auf Hausaufgaben, aber er brauchte jetzt dringend etwas, um sich abzulenken.

 

Natürlich änderte sich am nächsten Tag gar nichts. Und den Tag danach auch nichts. Und am Donnerstag war es dann endgültig vorbei, als sie sich vor der Doppelstunde Sport umzogen und  Alex genau da stand, wo Leo ihn ansehen konnte, ohne, dass es zum Beispiel Jasper direkt neben ihm aufgefallen wäre.

Das Bild des halbnackten Alex war dann auch das Einzige, das an diesem Tag Platz in Leos
Hirn hatte und es sorgte dafür, dass das komische Gefühl im Bauch, das ihn natürlich schon die ganze Woche lang begleitet hatte, sich nicht nur noch komischer anfühlte, sondern auch weiter  nach unten wanderte und als Leo nach Hause gekommen war, fühlte es sich schon fast unangenehm an.

Er vergeudete dann wertvolle Sekunden damit, seine Mutter abzuwimmeln, die
natürlich ausgerechnet an diesem Tag dringend und sofort etwas mit ihm besprechen musste, nachdem er zur Haustür reingekommen war.

Glücklicherweise ließ sie ihn in Ruhe, nachdem er ihr versichert hatte, dass er in fünf Minuten wiederkommen würde und warf ihm nur noch einen komischen Blick zu, was Leo aber herzlich egal war.

Er bemühte sich, die Treppe in unauffälligem Tempo hochzugehen und erst schneller
zu werden, als er außer Sichtweite war.

Im Zimmer angekommen, schloß leise die Tür hinter sich und drehte dann genau so leise den Schlüssel um. Dann warf er sich aufs Bett, während er sich gleichzeitig die Hose aufmachte.

Er hatte es sich natürlich auch schon selbst gemacht aber so schnell und so heftig gekommen wie dieses Mal war er vorher noch nie.

Er hatte vorher aber auch noch nie an jemand Bestimmten gedacht, so wie heute, er hatte damals einfach immer nur dem Gefühl nachgegeben und sich an den richtigen Stellen richtig anzufassen hatte gereicht.

Aber als er jetzt schweratmend dalag und erst einmal wieder in die Realität zurückkommen
musste, wurde ihm klar, dass er jetzt vermutlich schon wieder eine unsichtbare Grenze überschritten hatte hinter der es nicht mehr möglich sein würde, einfach an nichts zu denken. Oder an niemanden.

Und vermutlich war jetzt auch der Zeitpunkt gekommen, sich mit der Realität, wenn er sie wieder gefunden hatte, auszueinanderzusetzen, auch, wenn es sich dann immer noch komisch anfühlen würde.

Allerdings, etwas in ihm weigerte sich immer noch vehement, diesen Gedanken nachzugeben, denn er hatte ja immer noch einen Strohhalm, an den er sich klammern konnte.

Und der hieß das Mädchen, mit dem er sich am Samstag beschäftigen sollte, damit Elliot sich in Ruhe an Lara heranmachen konnte.

Leo hatte vorher noch nie wirklich viel mit Mädchen zu tun gehabt, außer,
dass er sich ein paar Mal mit welchen unterhalten hatte, die bei Elliot und seinen Leuten rumgehangen hatten. Aber das war ja was anderes, als es das am Samstag sein würde.

Und vielleicht würde sich dann ja herausstellen, dass das mit Alex nur irgendein komischer Ausrutscher gewesen war, der sich dann erledigt hatte.

Als er soweit mit seinen Gedanken gekommen war, klopfte es plötzlich an der Tür, während die Klinke heftig runtergedrückt wurde.

„Das sind aber lange fünf Minuten,“ ertönte dann die genervte Stimme seiner Mutter.

Leo seufzte einmal innerlich. „Bin gleich da,“ sagte er während er gleichzeitig nach der
Packung Taschentücher griff, die auf seinem Nachttisch lag.

Das Dringende für das ihn Mutter unbedingt brauchte, war, dass er einen Schrank aufbauen sollte, den sie fürs Wohnzimmer gekauft hatte, was aus irgendeinem Grund, den mal wieder nur sie kannte, auch nicht bis später hatte warten können.

Sie hasste es, Möbel zusammen zu bauen, weswegen sowas absolut nichts Neues für Leo war, aber als sie sich mit einer Tasse Kaffee aufs Sofa setzte und ihm dann dabei zusah, wie er versuchte, die sehr unübersichtliche Anleitung zu dechiffrieren, hätte er am liebsten etwas dazu gesagt, schluckte es dann aber hinunter, das würde eh nur Probleme geben, auf die er gar kein
Bock hatte, und widmete sich schweigend dem unfertigen Schrank.

Wäre Alex nicht gewesen, dann wäre Leo wegen Samstag auf jeden Fall schon am Donnerstag nervös geworden. Aber da sich Alex ja dauerhaft in seinem Hirn festgesetzt hatte und sich auch nicht durch so triviale Dinge wie Hausaufgaben oder Lernen oder Diskussionen über seine Zukunft mit seinem Vater verscheuchen ließ, dauerte es bis Freitagabend bis sie dann doch kam.

Er saß auf Elliots Bett und sah ihm dabei zu, wie er verschiedene Sachen aus seinem überfüllten Kleiderschrank anprobierte, sich kritisch von allen Seiten im Spiegel ansah und Leo dann fragte, wie er es fand, als sie zum Sprung ansetzte und dann sogar Alex hin und wieder aus seinem Kopf verdrängte zugunsten von kleinen Szenarien die er sich ausmalte und die morgen so sicherlich niemals stattfinden würden.

Aber glücklicherweise war ja Elliot da, der ihn einigermaßen ablenkte, weil er ununterbrochen redete und Leo damit zeigte, dass er auch nervös war.

Er brauchte dann auch ewig, bis er
schließlich ein Hemd und eine Hose gefunden hatte, die er für morgen als passend erachtete, aber danach war er ja noch nicht fertig, denn jetzt waren die Haare dran.

Er kämmte sie auf verschiedene Art und Weise und fragte Leo dann nach seiner Meinung, die Leo eigentlich nicht
hatte, weil für ihn alles mehr oder weniger gleich und gut aussah, bemühte sich dann aber doch um eine, weil es Elliot wichtig war.

Das Ganze war natürlich nicht besonders spannend weil Elliot von nichts anderem redete, als Lara und nichts anderes machte, als sich um seine Klamotten und Haare zu kümmern, aber trotzdem blieb Leo, bis er schließlich von Elliots Vater vor die Tür gesetzt wurde, in seiner üblichen unfreundlichen Art.

Die an diesem Abend wahrscheinlich auch deswegen besonders unfreundlich gewesen war, weil ihn das Chaos in Elliots Zimmer ziemlich aufgeregt hatte, Leo hatte es ihm sofort angesehen und sich deswegen beeilt, wegzukommen.

Er hatte Elliots Vater noch nie wütend erlebt, aber er kannte mehr als genug Geschichten darüber und wollte definitiv nicht anwesend sein, wenn es mal wieder soweit war.

Von Elliot zu ihm nach Hause war es ein ziemliches Stück, das er eigentlich am liebsten mit dem Bus fuhr, aber er war einfach innerlich grade zu unruhig um dazusitzen und aus dem Fenster zu sehen.

Stattdessen ging er die halbe Stunde zu Fuß, während ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf rasten, hauptsächlich wegen morgen, aber Alex kam auch ziemlich oft vor und natürlich die andere Sache über die er nicht nachdenken, die aber einfach nicht
aufgeben wollte. Aber nach morgen würde er sie bestimmt los sein, er musste nur fest daran glauben.

Und vielleicht einfach ein bisschen mehr so werden, wie Elliot, dem es immer
unglaublich wichtig war, wie er auf andere wirkte, während Leo sich darüber nie wirklich
Gedanken gemacht hatte. Aber vermutlich war es jetzt einfach Zeit, damit anzufangen.

Für heute hatte er aber keine Lust mehr darauf, denn als er nach Hause kam, war er einfach nur müde.

So lautlos wie möglich trat er in den Hausflur, schloss die Tür hinter sich, zog sich Schuhe und Jacke aus und huschte dann die Treppe hoch. Es war halb zehn, er hätte eigentlich
schon um neun Uhr zuhause sein müssen und vermutlich taten seine Eltern nur so, als würden sie im Wohnzimmer fernsehen denn eigentlich warteten sie nur darauf, dass er nach Hause kam.

Aber er schien sie erfolgreich ausgetrickst zu haben, denn niemand tauchte plötzlich hinter ihm auf und hielt ihn zurück.

Aber als er die Treppe hochgestiegen war, stand da Henrik und grinste ihn an.

Leo, der sofort wusste, was er vorhatte, stürzte sich auf ihn, um ihm den Mund zuzuhalten, was er grade noch
rechtzeitig schaffe, Henrik hatte nämlich schon Luft geholt. Bei dem Gedanken, was ansonsten passiert wäre, wurde ihm für eine Sekunde ganz flau im Magen.

„Was willst du?“ zischte er, ohne Henrik loszulassen, der aber auch gar nicht sagen musste. Es reichte völlig, beide Hände zu heben.

„Und dann hältst du die Fresse?!“ wollte Leo wissen, während er ihn aus Frust noch fester
packte. Henrik nickte mit dem Kopf, Leo vertraute ihm zwar nicht, aber er konnte ihn ja auch nicht ewig festhalte.

Er holte sein Portemonnaie aus der Hosentasche und reichte Henrik
widerwillig den zehn Euro-Schein. Der nahm ihn, grinste erneut und sagte: „Immer wieder
schön, mit dir Geschäfte zu machen.“ Dann verschwand er wieder in seinem Zimmer und Leo seufzte erleichtert auf. Er ärgerte sich zwar maßlos, dass er jetzt nur noch zehn Euro für morgenhatte, aber letztendlich war ihm das dann doch lieber, als sich jetzt noch mit seinem Vater auseinandersetzen zu müssen.

Und er würde morgen mal sein Zimmer gründlich durchsuchen, vielleicht würde er ja noch irgendwo Geld finden. Aber jetzt würde er erst einmal schlafen gehen. Er war einfach nur unfassbar müde.

Er verzichtete aufs Zähneputzen, weil sein Kraft grade noch ausreichte, um seine Schlafsachen anzuziehen und unter die Decke zu kriechen.

Heute gab es auch keine Gedanken, die ihn ewig davon abhielten, einzuschlafen. Er machte einfach nur die Augen zu und weg war er.

Sein Samstag begann damit, dass er, wie üblich, viel zu früh zum Familienfrühstück geweckt wurde, auf das er, wie üblich, absolut keine Lust hatte und an dem er sich, wie üblich, wieder Einiges von seinem Vater anhören durfte, während Tim und Henrik daneben saßen und, wie
üblich, schadenfroh grinsten.

Was Leo so wütend machte, dass er sich zusammenreißen musste, um nichts zu sagen. Stattdessen wünschte er sich, dass sie in zwei Jahren genau in der gleichen
Situation sein würde, wie er jetzt und er dann in einer, wo er derjenige sein würde, der dann
schadenfroh grinsen würde.

Glücklicherweise ging es diesmal auch nur darum, dass er nicht zur vorgeschriebenen Zeit zuhause gewesen war, ein Vortrag, der absolut besser zu ertragen war, als Zukunfts-
Diskussionen.

Leo hoffte inständig, dass sein Vater inzwischen die Lust dran verloren hatte,
immer wieder über das Gleiche zu reden und er ihn ab jetzt in Ruhe ließ, aber er wusste schon jetzt, dass sich dieser Wunsch eher nicht erfüllen würde. Sein Vater war grade nur abgelenkt, weil der neue Schrank in seinen Augen viel zu teuer gewesen war, was dann das beherrschende Thema dieses Frühstücks war.

Leo machte sich so klein wie möglich, während er sein Müsli löffelte, um nicht doch irgendwie noch ins Fadenkreuz der heftigen Diskussion seiner Eltern zu geraten.

Als sie aufstehen durften, beeilte er sich, in sein Zimmer zu kommen, schnappte sich
seinen Zeichenblock und ein Buch und sah dann zu, dass er ungesehen aus dem Haus kam.

Er hatte noch ein paar Stunden zu überbrücken, bis er sich mit Elliot traf und die würde er sicher nicht zuhause verbringen.
Das Wetter griff ihm dabei auch kräftig unter die Arme.

Er ging in den Park, suchte sich eineabgelegene Bank und genoss erst einmal die Sonne, wer weiß, wie lange sie noch so scheinen würde, bevor er die Nase in sein Buch steckte und krampfhaft versuchte, nicht an Alex zu denken, der sich mal wieder ziemlich hartnäckig in sein Hirn drängte.

Zwischen Gedanken an Alex zu verdrängen, aufgeregt wegen später zu sein, lesen und hin und wieder etwas auf seinen Block zu kritzeln verging die Zeit dann glücklicherweise ziemlich schnell.

Das Mittagessen sparte er sich heute, was seine Mutter ziemlich aufregen würde aber vielleicht war das der Trick um den Zukunftsdiskussionen wenigstens hin und wieder mal zu entgehen: Etwas machen, was seine Eltern so aufregte, dass das sie von Dingen wie Abitur oder Studium
ablenkte. Leo nahm sich vor, das jetzt einfach häufiger mal zu probieren.

Er hatte auch bewusst sein Handy zuhause gelassen, sodass seine Mutter sich auch nicht per Text oder Anruf beschweren konnte sondern alles für später aufbewahren musste, wenn er nach Hause kam.

Aber als er dann nach Hause kam, war niemand da, um sich aufzuregen. Auf dem kleinen Flurtisch lag ein Zettel, dass seine Eltern zu Freunden gefahren waren und Tim und Henrik mitgenommen hatten. Was Leo eine gerechte Strafe für ihr schadenfrohes Grinsen von heute morgen fand.

Und es war sehr gut, dass sie weg waren, weil er sich jetzt in aller Ruhe auf seine
Klamottenauswahl konzentrieren konnte. Denn er hatte sich fest vorgenommen, da heute genau soviel Wert zu legen, wie Elliot es gestern getan hatte.

Er öffnete seinen Schrank und sah erst mal nur Kapuzenpullis, denn das war das, was er immer trug. Entweder waren sie schwarz oder braun, dazu Jeans, wenns warm war, irgend ein einfarbiges T-Shirt, fertig.

Während er den Blick schweifen ließ, blitzte plötzlich etwas Weißes zwischen dem Dunkeln hervor und als er daran zog war es das weiße Hemd, das zu dem Anzug gehörte, den er damals zu einem sehr festlichen runden Geburtstag von einer seiner Tanten hatte tragen müssen.

Natürlich hatte er den Anzug nicht gemocht und das Hemd noch weniger und ohne es zu
wollen, rümpfte er die Nase, als er es jetzt in der Hand hielt.

Aber er zog es trotzdem an, knöpfte es zu, wobei ihm diese blöden kleinen Knöpfe tierisch auf die Nerven gingen, und
stellte sich dann vor den Spiegel.

Er konnte nicht anders, als direkt wieder die Nase zu rümpfen, denn er sah einfach beschissen aus.

Aber trotzdem fing er an, mit seinen Haaren ein paar von den Dingen zu machen, die Elliot gestern gemacht hatte, was ihn, wenn das überhaupt möglich war, noch bescheuerter aussehen ließ.

Er blickte sein Spiegelbild an und fragte sich, ob es dieses Mädchen, das er noch nie zuvor gesehen hatte, wirklich wert war, dass er aussah wie ein Idiot und sich auch so fühlte.

Ganz sicher war sie das nicht und wenn sie ihn in Kapuzenpulli und Jeans nicht mochte, dann interessierte sie ihn sowieso nicht.

Doch trotzdem konnte er nicht verhindern, dass er irgendwie enttäuscht von sich selber war, als er sich dann seine üblichen Klamotten anzog.

Aber dem Gefühl konnte er jetzt auch nicht wirklich nachgeben, denn es war inzwischen schon reichlich spät und er musste sich beeilen.

Bevor er ging, kramte er aber eben noch einmal kurz auf dem Schreibtisch herum und fand tatsächlich noch fünf Euro in Kleingeld, das er hastig in die Hosentasche stopfte, bevor er eilig das Haus verließ.

 

Selbstverständlich war am Leo am Ende trotzdem viel zu früh. Was nicht wirklich dabei half, dass er natürlich absolut nervös war. Aber das Gefühl verschwand sofort, als er plötzlich Elliot auf der anderen Straßenseite sah und er wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war.

Beunruhigt ging er ihm entgegen, Elliot fing an zu rennen und als er näher gekommen war und Leo sah, wie blass er war und wie riesig seine Augen wurde er noch unruhiger.

„Was ist passiert?“ fragte er, als Elliot bei bei ihm angekommen war. und der musste einmal kurz Luft holen bevor er atemlos „Ich bin von zuhause abgehauen," hervorstieß.

Echt?!“ war das Einzige, was der total schockierte Leo dazu sagen konnte, aber Elliot hatte inzwischen wieder genug Luft, um direkt weiterzuerzählen: „Ich hatte absolut keine Lust, Hausaufgaben zu machen und leider hat er das mitbekommen und... und ich habs auch nicht geschafft, ihn deswegen anzulügen, er hat mich angeguckt und wusste sofort Bescheid. Und dann hat er gesagt, ich dürfte nicht eher gehen, bis ich die Hausaufgaben gemacht hab, aber dann wär ich viel zu spät gekommen.“ Er atmete einmal tief ein. „Und deswegen bin ich aus dem Fenster gestiegen und den Baum runtergeklettert.“

„Krass!“ war die einzige Erwiderung, die Leo dazu einfiel.

„Er wird mich nachher umbringen,“ seufzte Elliot und wollte sich einmal mit der Hand durch die Haare fahren, erinnert sich dann aber rechtzeitig daran, dass er dadurch seine sorgsam gewählte Frisur durcheinander bringen würde und ließ die Hand wieder sinken.

Leo war sich auch ziemlich sicher, dass Elliots Vater ihn nachher umbringen würde, was nicht sehr aufbauend war und er konnte sich grade noch davon abhalten, es wirklich zu sagen. Stattdessen schwieg er, aber das war dann am Ende gar nicht schlimm, denn während er noch nach etwas Besserem suchte, veränderte Elliots Gesichtsausdruck als er Leo über die Schulter blickte und nachdem der sich umgedreht hatte, sah er auf der anderen Straßenseite Lara, die ihnen zuwinkte.

Elliot ließ ihn sofort stehen und vermutlich war Leo jetzt für den Rest des Abends erst einmal abgemeldet, aber das war in Ordnung. Er hatte schließlich eine Aufgabe, die jetzt offensichtlich losgehen würde. Denn als er Elliot folgte, sah er neben Lara ein blondes Mädchen stehen, das wirklich nett aussah, aber Leo fühlte sich auf einmal unfassbar unsicher und das Einzige, was ihn davon abhielt, einfach zu verschwinden, war, dass sie ihm schon entgegensah. Vermutlich hatte Lara ihr so etwas Ähnliches gesagt, wie Elliot ihm.

Ihr strahlendes Lächeln machte es ihm dann aber ein bisschen einfacher, zu ihr hinzugehen und er musste auch gar nichts sagen, als er bei ihr angekommen war, denn sie fing sofort an zu reden: „Hallo! Ich bin Lill. Na ja eigentlich Lilliana aber so nennen mich nur meine Eltern.“

„Hallo! Ich bin Leo. Na ja, eigentlich Leonard aber so nennen mich nur meine Eltern,“ hatte Leo in diesem Moment einen Geistesblitz und es funktionierte, denn sie grinsten sich an und dann war das Eis zu Leos Überraschung auch schon gebrochen. Sie folgten Lara und Elliot, die bereits reingegangen waren und sich an einen Tisch in der Nähe der Tür gesetzt hatten.

Leo überlegte, ob sie sich jetzt dazu setzen sollten und fand das eigentlich eine sehr schlechte Idee, aber Lill steuerte sowieso direkt auf einen freien Billardtisch zu, also folgte Leo ihr.

Sie stellten dann schnell fest, dass keiner von ihnen wusste, wie man spielte. Im Internet fanden sie die Informationen, die sie brauchten, aber es dauerte erst einmal noch eine ganze Weile, bis sie es schafften, den Queue richtig festzuhalten und danach dann noch eine weitere, bis sie es schafften, mit der weißen Kugel die anderen Kugeln zu treffen.

Sie mussten ziemlich über ihre eigene Unfähigkeit lachen und Leo kam es schließlich vor, als würde er Lill schon länger als ein paar Stunden kennen. Es war auch gar nicht schlimm, dass er am Anfang keine Ahnung hatte, was er sagen sollte, weil Lill die ganze Zeit redete und er wusste ziemlich schnell ziemlich viel von ihr, was das Gefühl der Vertrautheit noch verstärkte.

Und bei Elliot, zu dem Leo hin und wieder einmal hinsah, schien es auch echt gut zu laufen, denn er sah ziemlich glücklich aus und einmal blickte Leo genau in dem Moment rüber, als Lara seine Hand berührte.

Die allgemeine Harmonie des Abends wurde auch nur einmal abrupt gestört, nämlich als Lill plötzlich fragte: „Weißt du eigentlich schon, was du später mal werden willst?“

Sofort fuhr Leo seine Abwehrschilde hoch und spürte, wie der Trotz in ihm aufstieg, die Reaktion, die immer sofort kam, sobald sein Vater die ersten Anzeichen zeigte, mit ihm wieder über seine Zukunft reden zu wollen. Natürlich war Lill nicht sein Vater und das würde auch kein solches Gespräch werden, doch trotzdem konnte er die Reaktion nicht unterdrücken. Aber zumindest konnte er sich selbst davon abhalten, jetzt irgendetwas Unfreundliches zu sagen.

„Ich weiß es noch nicht,“ erwiderte er und es kostete ihn ziemlich viel Selbstbeherrschung, dass man seiner Stimme nicht anmerkte, wie es grade in ihm aussah. „Du denn?“ schob er dann direkt nach, damit Lill bloß nicht weiter fragte.

Sie nickte heftig. „Ich will auf jeden Fall Tänzerin werden. Am liebsten eine Ballerina.“ Sie beugte sich in einem echt krassen Winkel nach hinten und hob die Arme, was ziemlich elegant aussah und Leo, der noch weniger Ahnung von Ballett hatte als von Billard, ziemlich beeindruckte.

Als sie sich wieder aufgerichtete hatte, seufzte sie einmal tief und runzelte die Stirn. „Aber leider wird das mit der Ballerina nichts werden, weil ich dafür viel zu spät angefangen hab. Aber egal,“ rief sie dann und lächelte auf einmal wieder. „Ich werd auf jedenfall später Tanz studieren!“

Leo sah sie an und beneidete sie plötzlich. Natürlich hatte er noch ein bisschen Zeit, sich zu überlegen, was er später mal machen wollte, aber eben auch nicht mehr so viel und es musste echt toll sein, jetzt schon einen Plan zu haben. Er sollte vielleicht wirklich langsam mal anfangen, sich ernsthaft mit dem Thema zu beschäftigen und seinem Vater würde er davon absolut nichts sagen!

Aber jetzt war natürlich nicht die Zeit, um über sowas nachzudenken, jetzt war die Zeit, seine neugewonnen Billardkenntnisse umzusetzen und sie schafften es schließlich sogar ein einigermaßen ordentliches Spiel hinzubekommen. Danach sah Lill auf die Uhr und stieß einen kleinen Schrei aus. „Es ist ja schon total spät! Lara hat sich drauf verlassen, dass ich ihr Bescheid sage, weil sie das immer verschusselt. Und jetzt hab ich das selbst geschafft.“

Sie sahen gleichzeitig zu dem Tisch hin, an dem Lara und Elliot vorhin noch gesessen haben. Beide waren weg.

„Vielleicht hat sie es ja doch nicht vergessen und sie sind schon rausgegangen,“ überlegte Lill laut. „Ich geh mal gucken. Kommst du mit?“

Auch für Leo war es inzwischen eigentlich schon viel zu spät, wie er nach einem Blick auf seine eigene Uhr feststellte und für Elliot dann erst recht. Vorallem, nachdem er von Zuhause abgehauen war. Es war definitiv besser, ihn jetzt zu finden und ihn dann so schnell wie möglich nach Hause zu bringen. Deswegen folgte er Lill, als sie sich zwischen den Menschen hindurchdrängte, denn mittlerweile war es echt voll geworden, was Leo erst jetzt auffiel.

Auch draußen standen einige Menschen in Gruppen zusammen und da es inzwischen dunkel geworden war, mussten sie zu jeder von ihnen hingehen um festzustellen, dass Elliot und Lara nicht dabei waren.

Leo wurde immer unruhiger. Er musste Elliot unbedingt finden, damit der nicht noch mehr Probleme bekam. Er dachte nicht mehr daran, dass Lill ja auch noch da war, sondern ging um das Gebäude herum, wo es ziemlich dunkel und keine Menschen mehr waren. Elliot natürlich auch nicht.

Leo fuhr sich einmal mit einer schon ziemlich verzweifelten Geste durchs Haar und überlegte für eine Sekunde, ihn einfach anzurufen und ihn zu fragen, wo er steckte. Aber ein Gefühl sagte ihm, dass er bestimmt nicht rangehen würde und ihm nichts anderes übrig blieb, als nach ihm zu suchen.

Plötzlich spürte er, wie etwas seine Hand berührte und als er den Kopf drehte, stand Lill neben ihm und sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an und auch, wenn Leo in diesen Dingen noch keinerlei Erfahrung hatte, hatte er genug Serien und Filme gesehen, um diesen Blick zu kennen.

In diesem Moment wurde ihm klar, dass er Lill wirklich sehr nett und auch sehr hübsch fand und sie sich auch echt gut verstanden hatten, er aber kein einziges Mal daran gedacht hatte, sie zu küssen während sie das aber sehr wohl getan hatte.

Er fühlte sich eine Sekunde lang wie vor den Kopf geschlagen, aber dann fiel ihm ein, dass das hier ja jetzt der letzte Strohhalm sein würde und sein Herz fing heftig an zu klopfen.

Er kam Lill entgegen, schloss die Augen und als er dann schließlich ihre Lippen auf seinen spürte, wartete er auf das Feuerwerk, das zuverlässig immer gekommen war, wenn er seinen ersten Kuss in Gedanken mit irgendeinem gesichtslosen Mädchen durchgespielt hatte, zumindest war er immer davon ausgegangen, dass es ein Mädchen gewesen war.

Aber das Feuerwerk blieb aus. Stattdessen fragte er sich plötzlich, wo er seine Hände hintun sollte. Oder was Lill, für die das hier definitiv nicht der erste Kuss war, wohl von ihm denken würde, weil er noch völlig unerfahren war. Oder warum er überhaupt über so etwas nachdachte, wo ihn sein erster Kuss doch eigentlich total aus der Realität reißen sollte. Aber er tat es auch nicht, nachdem sie sich schon eine ganze Weile geküsst hatten und in Leo stieg schließlich die Gewissheit hoch, dass das auch niemals passieren würde, egal, wie lange dieser Kuss noch dauern würde.

Lill hatte ihre Hand ganz leicht auf seinen Oberarm gelegt, was er natürlich mitbekommen hatte und als sie ihn jetzt wegnahm, merkte er das auch direkt. Gleichzeitig mit der Hand verschwanden auch ihre Lippen und als er die Augen öffnete, sah sie ihn an und grinste. Aber es war kein herablassendes Grinsen, weil der Kuss vermutlich ziemlich mies gewesen war. Es war eine Art von Grinsen, die er nicht einordnen konnte aber glücklicherweise musste er nicht lange darüber nachgrübeln, denn Lill sagte: „Ich hab mir schon gedacht, dass du das nicht besonders toll finden wirst.“

Leo schluckte einmal. Es war nicht so, als hätte ihn die Tatsache, dass der Kuss in ihm nicht die erwarteten Gefühle ausgelöst hatte, ihn jetzt komplett aus der Bahn geworfen hatte. Ein Teil von ihm hatte da ja sowieso schon mit gerechnet. Aber was sich jetzt wirklich merkwürdig anfühlte war, dass Lill das offensichtlich auch schon vorher gewusst hatte.

Er hatte plötzlich keine Lust mehr hier zu sein oder mit Lill, die ihn immer noch ansah, darüber zu reden, er wollte nach Hause und alleine sein, aber er konnte Elliot natürlich auch nicht im Stich lassen. Er hörte, wie Lill anfing, etwas zu sagen, es würde natürlich über die Situation von grade sein und es war natürlich auch nicht nett, dass er jetzt einfach ging und sie stehen ließ, aber er war grade mit der Situation viel zu überfordert, um sich über so etwas Gedanken zu machen. Er wollte jetzt einfach nur Elliot finden, zusehen, dass der nach Hause kam und danach in sein Bett kriechen und sich die Decke über den Kopf ziehen.

Als er wieder um Gebäude gebogen war, hatte sich die Menschenmenge zum größten Teil verlaufen und Leo bekam für einen Moment Schiss, dass Elliot vielleicht doch dabei gewesen und jetzt schon ganz woanders war und er ihn nie finden würde. Aber dann sah er ihn auf der anderen Straßenseite stehen, alleine ohne Lara. Er seufzte einmal erleichtert auf und dann lief er zu ihm hin.

Elliot hatte ein breites Grinsen im Gesicht und es war Leo natürlich sofort klar, woher es kam. Und da er, trotz dem, was grade passiert war, dann doch noch nicht bereit war, das, dem er grade noch keinen Namen geben wollte, gehen zu lassen, spürte er in dieser Sekunde einen heftigen Stich. Denn eigentlich hätte er jetzt genau so aussehen müssen.

Dieses Gefühl dauerte aber nur eine kurze Sekunde und dann konnte er sich wieder auf das konzentrieren, was grad wichtiger war. Er berührte Elliot, der gar nicht mitbekommen hatte, dass er da war, leicht an der Schulter. „Wir sollten jetzt echt gehen, es ist schon total spät!“

Elliot, den es wirklich aus der Realität gerissen hatte, brauchte einen Moment um zu verstehen, was Leo meinte und dann wechselte seine Gesichtsfarbe von einer Sekunde auf die andere von sehr rot zu sehr blass. „Das hab ich ja total vergessen,“ sagte er und atmete einmal tief ein. „Ja komm, wir gehen.“

Sie gingen ungefähr fünf Schritte, dann blieb Elliot abrupt stehen. „Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich gar nicht nach Hause gehen. Vielleicht ist er ja morgen dann nicht mehr ganz so mies drauf. Kann ich vielleicht bei dir pennen?“

„Ja klar!“ erwiderte Leo sofort. Er würde natürlich seine eigenen Probleme bekommen, weil er auch schon wieder viel zu spät kam, vermutlich würde es seinen Eltern diesmal auch direkt auffallen aber sie würden ihn wahrscheinlich erst mal in Ruhe lassen, wenn Elliot mit dabei war. Andererseits...

„Glaubst du denn echt, wenn du dann erst morgen kommst, dass er sich dann weniger aufregen wird?“ fügte er hinzu und konnte sich das, bei dem, was er von Elliots Vater bis jetzt kennengelernt hatte, gar nicht vorstellen.

Elliot auch nicht, denn er seufzte einmal tief. „Nein, er ist dann bestimmt nur noch wütender. Komm, wir gehen besser!“

Den nicht sehr weiten Weg legten sie schweigend zurück. Leo konnte Elliots Anspannung fast körperlich spüren und heftiges Mitleid stieg in ihm hoch. Gegenüber Elliots Eltern kamen ihm seine eigenen manchmal total harmlos vor.

Als sie an der Treppe zur Haustür ankamen, blieb Elliot stehen und atmete einmal tief ein. „Bestimmt steht er schon im Flur und wenn ich jetzt gleich reinkomme, dann packt er mich, zerrt mich in den Keller, sperrt mich da irgendwo ein und schmeißt den Schlüssel weg.“

„Willst du vielleicht doch mit zu mir kommen?“ fragte Leo und Elliot schüttelte den Kopf und straffte die Schultern. „Ich mach das jetzt,“ sagte er und dann stieg er die Stufen hoch. Leo sah, wie er den Schlüssel ins Schloss schob, aber bevor er ihn drehen konnte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen und sein Vater stand da.

„Du bist zu spät!“ fuhr er Elliot an, der einen Schritt zurückwich, aber sein Vater packte ihn unsanft am Arm und zog ihn ins Haus. Kurz, bevor er die Tür zuwarf, fiel ihm Leo auf und der eiskalte Blick, den er ihm zuwarf, ging ihm durch Mark und Bein.

Auch, nachdem die Tür schon zu war, stand Leo noch einen Moment da. Am liebsten hätte er Elliot da jetzt direkt wieder rausgeholt, er konnte ja einfach nochmal den Baum runterklettern. Ohne seinen Beinen bewusst den Befehl gegeben zu haben, setzten sich diese in Bewegung und gingen auf das Tor neben der Garage zu, das in den Garten führte.

Erst, als Leo schon die Hand auf der Klinke hatte, wurde ihm klar, dass das ein absolut schwachsinniger Plan war, bei dem Elliot auf keinen Fall mitmachen würde. Er drückte trotzdem die Klinke runter und das abgeschlossene Tor beendete sein Vorhaben dann endgültig. Er schrieb Elliot eine Nachricht, dass er sich auf jeden Fall bei ihm melden sollte, wenn er wieder konnte, denn sicher hatte sein Vater ihm direkt das Handy weggenommen, und machte sich dann auf seinen eigenen Nachhauseweg.

Sein Vater erwartete ihn ebenfalls schon, aber im Gegensatz zu dem von Elliot riss er nicht die Tür auf, nachdem Leo den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte. Er wartete, bis er in den Flur getreten war, bevor er „Schon wieder zu spät!“ sagte.

Und er packte ihn auch nicht am Arm, sondern er machte eine Kopfbewegung in Richtung Küche und wartete dann, bis Leo an ihm vorbeigegangen war, bevor er ebenfalls eintrat und die Tür hinter ihnen zuzog. Natürlich interessierte es ihn nicht, warum Leo zu spät gekommen war, er hatte, wie sonst auch immer, nur einen Gedanken.

„Es wird langsam Zeit, dass du Verantwortung für dein Leben übernimmst! Und dazu gehört nicht nur, dass du zur vereinbarten Zeit zuhause bist, sondern auch, dass du endlich anfängst, dich damit auseinanderzusetzen, dass du bald das Abitur machen wirst und dir zu überlegen, was du danach studieren willst!“

Leo rollte innerlich mit den Augen. War ja klar, dass es wieder hier enden würde. Völlig egal, was er sonst machte, vielleicht hätte er ja sogar Drogen nehmen können, letztendlich würde es sowieso wieder auf ein Gespräch übers Abi und Studium hinauslaufen.

Natürlich könnte dieses Gespräch auch jetzt wieder genau so werden, wie all die Gespräche vorher: sein Vater würde die ganze Zeit sagen, dass er Abi machen solle und Leo würde erwidern, dass er das auf keinen Fall tun würde, am Ende würden sie sich anschreien, Leo würde in sein Zimmer gehen, die Tür abschließen und beim nächsten Mal würde es dann wieder genau so werden.

Und er hatte da inzwischen keine Lust mehr drauf. Deswegen entschied er sich, es jetzt mal etwas Anderes auszuprobieren.

„Es ist mein Leben!“ sagte er und versuchte dabei, so ruhig wie möglich zu bleiben, was ihm aber schlecht gelang, weil seine Stimme doch ziemlich wackelte. „Und deswegen entscheide ich, ob ich Abi machen will oder nicht!“ Und wegen seiner wackeligen Stimme kam das natürlich alles andere als überzeugend rüber.

Weswegen es sein Vater auch mit einer lässigen Handbewegung einfach wegwischte. „Es ist vielleicht dein Leben, aber solange du noch nicht achtzehn bist, in meinem Haus wohnst und von meinem Geld lebst, bin ich die letzte Instanz darin und deswegen hältst du dich an meine Regeln und hörst auf mich wenn ich sage, dass du Abi machst, studieren gehst und jetzt zwei Tage Hausarrest hast!“

Das waren jetzt schon wieder Sachen, die Leo heute das erste Mal hörte und die erneut so krass waren, dass er nicht wusste, wie er jetzt darauf reagieren sollte. Und von einer Sekunde auf die andere war ihm auf einmal so zum Heulen zumute, dass er es nur noch mit Mühe zurückdrängen konnte. Denn vor seinem Vater zu heulen war definitiv das Letzte was er machen wollte. Weswegen er ohne noch etwas zu sagen in sein Zimmer stürmte, was sich wie eine totale Niederlage anfühlte, aber er konnte grade absolut nicht mehr.

Er schloss seine Zimmertür ab, dann warf er sich aufs Bett und vergrub das Gesicht im Kissen. Glücklicherweise war es nur ein kurzer Heulkrampf mehr hatte die ganze Situation auch gar nicht verdient.

Als er vorbei war, drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke, als die Gedanken schließlich kamen, die die Sorge um Elliot und danach sein Vater bis jetzt verdrängt hatten.

Er hatte auf einmal ein furchtbar schlechtes Gewissen wegen Lill. Er hatte sich mit ihr so gut verstanden, dass sie es echt nicht verdient hatte, dass er sie dann einfach stehengelassen hatte. Vermutlich hasste sie ihn jetzt, er hätte sich ja selber auch gehasst, aber trotzdem wollte er sich unbedingt bei ihr entschuldigen. Nur leider hatten sie, obwohl sie sich so verdammt gut verstanden hatten, keine Nummern ausgetauscht. Und er wusste zwar ungefähr, wo sie wohnte, aber er würde sicher nicht da vorbeigehen, in der Hoffnung, sie dann irgendwann mal zu treffen. Das fühlte sich einfach nicht richtig an.

Da sie Laras Freundin war, ging sie bestimmt mit ihr und Elliot auf eine Schule und vielleicht kam er ja über Elliot irgendwie an sie ran.

Und dann der Kuss... sein erster Kuss, der absolut nicht der Strohhalm gewesen war, auf den er gehofft hatte. Wobei, vielleicht hatte er sich einen Kuss auch immer falsch vorgestellt, vielleicht rissen Küsse einen nicht aus der Realität, vielleicht fühlten sie sich genau so an wie der vorhin.

Vielleicht sollte er mal Elliot fragen, aber als er an dessen Gesicht dachte, war erstens total klar, dass das absolut nicht der Fall war und zweitens, dass er hier wieder nur nach einer Ausrede suchte.

Nein, jetzt war definitiv die Zeit gekommen, sich endlich einzugestehen, dass er wohl auf Jungs stand. Was ihm aber nicht klar war, war, woher das auf einmal kam, wo doch da vorher einfach gar nichts gewesen war. Und dann gleich das. Und warum ausgerechnet er?

Vielleicht sollte er deswegen mal mit Charlie reden. Er wusste, dass Charlie meistens von Zuhause aus arbeitete und er beschloss, morgen nach der Schule bei ihm vorbeizugehen, vielleicht hatte er ja Glück und er würde dann wirklich da sein.

Die Tatsache, dass er eigentlich Hausarrest hatte, war Leo grade ziemlich egal.

Leo verbrachte einen hauptsächlich entspannten Sonntag. Hausarrest war eigentlich keine Strafe für ihn, er hatte genug ungelesene Bücher, genug ungesehene Serienfolgen und aus dem Fenster in den Garten zu schauen und zu zeichnen ging auch immer.

Was seine Eltern natürlich niemals herausfinden durften. Genau sowenig wie, dass das eiskalte Schweigen, mit dem sie ihn immer behandelten, wenn er Hausarrest hatte, ziemlich super fand.

Früher war es für ihn wirklich schlimm gewesen, wenn sie nicht mehr mit ihm geredet hatten, wenn er Mist gemacht hatte, aber inzwischen, wo die Gespräche, die sie führten, hauptsächlich ätzend waren, war es einfach wunderbar.

Und als Jasper ihn fragte, ob er nicht Lust hatte, zur Schule zu kommen, wo er mit einigen aus der Klasse auf dem Schulhof abhing, konnte er ohne Probleme sagen, dass er nicht kommen konnte, weil er Hausarrest hatte und musste sich keine Ausrede einfallen lassen und sich danach deswegen und aus welchem Grund auch immer irgendwie mies zu fühlen.

Jasper alleine wäre ja total in Ordnung gewesen, aber nicht Jasper zusammen mit irgendwelchen anderen aus der Klasse. Alex war sicher auch da, er und Jasper verstanden sich ziemlich gut, und Leo war noch nicht bereit, ihn, nach dem, was gestern passiert war, wiederzusehen.

Gestern war auch überhaupt der Grund, wieso der Sonntag dann doch nicht ganz so entspannt war. Er hatte immer noch nichts von Elliot gehört und eigentlich hatte er auch gar nicht erwartet, dass er sein Handy einen Tag später schon zurückbekommen würde, aber trotzdem hatte er die ganze Zeit über ein ungutes Gefühl im Bauch. Das sich zu dem schlechten Gewissen wegen Lill gesellte.

Aus diesem Grund fiel es ihm dann doch ziemlich schwer, sich auf das Buch in seiner Hand, die Folge auf dem Laptop oder das Motiv im Garten, das er zeichnen wollte, zu konzentrieren.

Deswegen war er dann doch ganz froh, als ihn der Wecker Montagmorgen zum Aufstehen zwang. In der Schule hatte er weniger Gelegenheit seinen Gedanken nachzugehen, jedenfalls war das früher der Fall gewesen.

Aber inzwischen hatten sich einige Dinge geändert, wie zum Beispiel, dass er einfach nicht aufhören konnte, Alex heimlich anzusehen. Oder sich im Kopf mit anderen Dingen zu beschäftigen, wenn über Themen gesprochen wurde, die ihn nicht interessierten, was eigentlich meistens der Fall war. Er hoffte einfach, dass Lernen und gelegentliches Melden ausreichte, damit seine Noten nicht viel schlechter wurden.

Natürlich dachte er neben den ganzen anderen Sachen auch noch darüber nach, wie das Gespräch mit Charlie nachher vielleicht laufen würde. Konnte er ihm das überhaupt anvertrauen, ohne, dass er es seiner Mutter direkt weitererzählte? Er sollte ihn vielleicht vorher darum bitten, das nicht zu machen. Aber vielleicht würde er dann sagen, er würde es nicht weitererzählen und dann trotzdem tun? Musste er überhaupt mit irgendjemandem darüber reden? Vielleicht war es besser, das einfach nur mit sich selbst auszumachen. Aber eigentlich wollte er ja darüber reden und Charlie war grade der Einzige, mit dem er das machen konnte. Vielleicht...

In diesem Moment wurde er leicht von Jasper angestoßen, der ihm einen Stapel Blätter hinhielt, die der Lehrer zum Verteilen herum gegeben hatte.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“ fragte Jasper, nachdem Leo sich ein Blatt genommen, die restlichen weitergegeben und sich wieder zurückgelehnt hatte. Und Leo wurde erst jetzt bewusst, dass seine geistige Abwesenheit nicht nur seinen Noten schaden würde, sondern den Menschen um ihn herum auffiel. Er sollte besser anfangen, sich zusammenzureißen, um nicht irgendwann irgendwelche Fragen beantworten zu müssen, die er gar nicht beantworten wollte.

Wahrscheinlich würde ein Gespräch mit Charlie ihm da helfen also sollte er es definitiv heute machen. Und was ihm absolut nicht helfen würde war, dieses Gespräch permanent im Kopf durchzugehen. Am Ende würde es doch sowieso ganz anders kommen.

Er bemühte sich, Jasper anzugrinsen, als er „Alles in Ordnung,“ erwiderte und dann den Rest des Schultags in der Gegenwart zu bleiben.

Nach der Schule entschuldigte er, dass er nicht mit Jasper nach Hause gegen konnte, damit, dass er sich noch mit Elliot traf, von dem er allerdings immer noch nichts gehört hatte.

Er verzichtete dann auch darauf, zur Fuß zu gehen, obwohl es gar nicht mal so weit war. Aber das würde nur dafür sorgen, dass er wieder zu viel nachdachte, weswegen er sich dann lieber in den schon mit Schülern vollgequetschten Bus zwängte und die drei Minuten fuhr, in denen er versuchte, an nichts anderes denken zu denken, als wie furchtbar es war, hier dicht an dicht mit anderen zu stehen und nicht den Halt zu verlieren, als der Bus einmal bremsen musste und dann heftig wieder anfuhr.

Von der Haltestelle waren es dann auch nur noch ein paar Meter bis zu Charlies Haustür und mit jedem Schritt wurde Leo immer langsamer, obwohl er es eigentlich gar nicht wollte.

Aber er musste plötzlich daran denken, dass darüber reden es irgendwie endgültig machen würde und er wusste nicht ob er dafür schon bereit war.

Aber vielleicht konnten sie ja darüber reden, ohne direkt darüber zu reden. Charlie würde sicher sehr schnell klar sein, was los war, einfach schon dadurch, dass Leo bei ihm auftauchte und Fragen zu dem Thema stellte, sodass er dann eigentlich gar nichts mehr sagen musste.

Er war inzwischen vor Charlies Haustür angekommen und jetzt konnte er sich gar nicht mehr bewegen, während er auf das Haus starrte und sein Herz anfing zu klopfen. Er hätte jetzt auch ohne Probleme weitergehen und den Geist einfach in der Flasche lassen können.

Aber das wollte er ja gar nicht, er wollte schließlich mit jemandem darüber sprechen, wenn vielleicht auch nur indirekt.

Und außerdem, vielleicht war Charlie ja auch gar nicht zuhause oder würde keine Zeit für ihn haben und dann hatte er sich wieder ganz umsonst Gedanken gemacht. Deswegen holte er einmal tief Luft und ging dann ohne zu zögern zur Haustür und drückte auf die Klingel.

Die Sekunden danach kamen ihm wie eine Ewigkeit vor und als er sich schon sicher war, dass Charlie nicht da war, ertönten von drinnen Schritte und dann stand er auf einmal vor ihm.

Er war so überrascht, Leo zu sehen und Leo nicht in der Lage, etwas zu sagen, so dass sie sich für einen Augenblick einfach nur schweigend anblickten, bis Charlie schließlich in der Lage war verblüfft „Leonard, was machst du denn hier?“ zu rufen.

Leo schluckte einmal. „K... kann ich dich mal was fragen?“

Charlie sah, wenn das überhaupt möglich war, noch überraschter aus. „Klar,“ erwiderte er. „Direkt hier draußen oder möchtest du reinkommen?“

„Reinkommen... wenn das in Ordnung ist,“ erwiderte Leo und jetzt lächelte Charlie.

„Natürlich ist das in Ordnung,“ erwiderte er und trat zur Seite, sodass Leo an ihm vorbei in den Flur gehen konnte.

Charlie schloss die Haustür und ging dann in die Küche. „Möchtest du einen Kaffee?“ fragte er um dann nach einer Sekunde hinzuzufügen: „Trinkst du überhaupt welchen?“

Leo hatte noch nie vorher Kaffee getrunken und jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen. Er folgte Charlie in die Küche.

„Keinen Kaffee,“ antwortete er, blieb in der Tür stehen und sah Charlie dabei zu, wie er sich aus einer Kanne Kaffee in einen Becher schüttete.

Leo war schon gefühlt tausendmal in dieser Küche gewesen, hatte am Tisch mit Mark Karten gespielt, während Charlie und seine Mutter im Wohnzimmer gesessen und geredet und Kuchen gegessen hatten, aber irgendwie war heute alles anders.

„Möchtest du was Anderes haben?“ fragte Charlie und sah ihn über die Schulter hinweg an und obwohl Leos Mund staubtrocken war, schüttelte er den Kopf.

Charlie drehte sich mit dem Becher in der Hand zu ihm um und lächelte einmal flüchtig. „Du liebe Zeit, ich kann deine Anspannung ja beinah mit den Händen greifen. Komm, wir setzen uns und dann stellst du mir deine Frage.“

Leo setzte sich auf die Bank, dahin, wo er sonst auch immer saß, ihm fiel auf, dass er seine Jacke noch anhatte, die er aber grade nicht ausziehen wollte, und, dass er die Hände unter dem Tisch ineinander krampfte, was ziemlich schnell ziemlich weh tat, weswegen er sie schließlich auf seine Knie legte.

Er zwang sich, den Kopf zu heben, begegnete Charlies erwartungsvollem Blick und schluckte einmal. „W... wann hast du gewusst, dass... dass du auf Jungs stehst?“ brachte er nur mühsam hervor und dann war die Sache auf einmal in der Welt und er konnte sie nie mehr zurücknehmen. Denn er sah Charlies Gesichtsausdruck an, dass er sofort wusste, warum Leo diese Frage gestellt hatte, was der ja auch erwartet hatte.

Der wissende und auch etwas überraschte Gesichtsausdruck verschwand dann aber nach einer Sekunde, Charlie lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte einmal. „Als ich sechzehn war, war ich Mitglied in einer Gruppe von Jungs, die ziemlich krasse Sachen gemacht haben wie Sachen geklaut oder Graffiti gesprüht, am liebsten an Bahngleisen, wo es gleich doppelt gefährlich gewesen ist. Ich fands großartig, jeder Tag war ein Abenteuer, weil ich nie gewusst hab, was als nächstes passiert. Die Jungs haben einfach immer das gemacht, worauf sie grade Bock hatten. Meine Mutter hat mir natürlich verboten, mit ihnen abzuhängen was sie dann nur noch toller gemacht hatte.

Da gab es einen, Fabian hieß er, er war älter als ich und der Anführer und hat die krassesten Sachen von allen gemacht. Ich hab ihn absolut angehimmelt, ich dachte zuerst immer, weil er eben so krass drauf gewesen ist aber irgendwann wurde mir klar, dass es gar nicht mal das war. Ich fands toll, wie er aussah, wie sich seine Stimme angehört hat, wie er lachte, wie er sich bewegt hat...

Ich fing an von ihm zu träumen, erst nachts, später auch in der Schule, wenns langweilig gewesen ist, eigentlich ständig. Irgendwann ging er mir dann einfach gar nicht mehr aus dem Kopf und als ich schließlich anfing darüber nachzudenken, wie es sich wohl anfühlen würde, ihn zu küssen, war klar, dass ich ihn auf eine ganz andere Art gut fand. Aber ich hab mich natürlich nie getraut es ihm zu sagen. Nicht nur, weil ich Angst hatte, was er und die anderen dann von mir denken würden, sondern auch, weil er sowieso kein Interesse an mir gehabt hätte. Es gab immer gefühlt drei Mädchen gleichzeitig, mit denen er was hatte.

Irgendwann wurden er und ein paar von den anderen dann von der Polizei aufgegriffen und ich hab ihn danach nie wiedergesehen. Ich hab irgendwann gehört, dass er in ein Erziehungsheim gekommen ist, weil es in seiner Familie wohl echt übel gewesen ist, aber, wie gesagt, ich hab das nur gehört.“

Er beugte sich wieder vor, schloss die Hände um seinen Kaffeebecher und blickte sinnend an Leo vorbei in eine imaginäre Ferne. Sie schwiegen, während Charlie sich auf seiner Reise in die Vergangenheit befand. Aus der er aber nach nicht ganz einer Minute wieder zurück war.

Er räusperte sich einmal. „Als Fabian dann weg war, gab es erst mal keinen mehr, der mir so gut gefallen hat und ich dachte, das mit ihm war vielleicht nur ein Ausrutscher. Ich habs danach nochmal mit einem Mädchen versucht, die auch auch wirklich sehr hübsch und sehr nett fand, aber so wie bei Fabian hat es sich nie angefühlt. Und als ich dann dachte, ich würde nie wieder im Leben jemanden so toll finden, kam dann doch ein Junge, der mich einfach umgehauen hat. Küssen, Händchenhalten, Kuscheln... das hat sich alles so unglaublich großartig mit ihm angefühlt, dass ich irgendwann akzeptieren musste, dass ich auf Jungs stehe. Und zwar nur auf Jungs.“

„Und du hast dich nie für Mädchen interessiert?“ hakte Leo nach und Charlie lächelte. „Nein, nie. Obwohl ich es damals gedacht hab. Weil alle meine Freunde es taten und dass das eben so ist, wie es läuft und dass es bei mir ganz selbstverständlich dann auch so ist. Und ich dachte, wenn man ein Mädchen hübsch findet und sich mit ihr unterhält, dann ist das auch alles.“

Jetzt lachte er einmal lauf auf. „Aber als meine Freunde dann irgendwann anfingen, Mädchen auch zu küssen oder davon erzählten, wie sie mit einem rumgemacht hatten, fing ich an, mich schlecht zu fühlen, weil mich das eigentlich gar nicht interessiert hat. Ich hab dann zwar versucht, dass es mich interessierte und auch ein paar Mädchen geküsst, aber gar nichts dabei gefühlt.“

Er zuckte einmal mit den Schultern. „Und dann kam Fabian und danach sah die Welt dann ganz anders aus für mich.“

Einiges von dem, was Charlie erzählt hatte, kam Leo ziemlich bekannt vor und er fühlte sich auf einmal nicht mehr ganz so angespannt.

„Weißt du, wieso das so ist? Dass alle auf Mädchen stehen, nur du nicht?“ fragte er.

„Es gibt da verschiedene Theorien, die du vielleicht selber mal nachliest,“ erwiderte Charlie. „Aber worin sie sich alle einig sind, ist, dass das etwas ist, mit dem du auf die Welt kommst und das auch immer so bleibt. Es geht nicht irgendwann weg, egal was du tust oder nicht tust. Und es ändert sich auch nicht, auch, wenn du es vielleicht scheiße findest. Ich kenne ein paar, bei denen so gewesen ist und sie haben ganz furchtbar darunter gelitten.“

Leo hatte auf einmal ein ungutes Gefühl im Bauch. „Was ist mit ihnen passiert?“ fragte er und Charlie sah plötzlich ganz ernst aus. „Darüber möchte ich mit dir nicht reden! Jedenfalls jetzt noch nicht!“

Leo gefiel die momentane Stimmung in dieser kleinen Küche grade absolut nicht und deswegen suchte er nach etwas Unverfänglichem, über das er reden konnte.

„Ich würde jetzt doch gerne was trinken, wenn das in Ordnung ist,“ sagte er dann, nicht nur, weil das etwas Unverfänglicheres war, sondern weil er inzwischen wirklich Durst hatte.

Charlie stand sofort auf. „Was möchtest du denn haben? Wasser? Saft? Oder vielleicht doch Kaffee?“ Zu Leos Erleichterung lachte er wieder.

„Saft,“ erwiderte Leo, so würdevoll, wie er konnte und nachdem Charlie ein Glas mit Orangensaft vor ihn hingestellt hatte, nahm Leo direkt einen großen Schluck.

Während der ganzen Zeit spürte er Charlies Blick auf sich und wusste, dass er jetzt an der Reihe war. Und nachdem er das Glas wieder abgestellt hatte, stellte Charlie dann auch die erwartete Frage: „Möchtest du mir jetzt vielleicht auch was erzählen?“ Seine Stimme war ganz sanft und es steckte keinerlei Aufforderung darin, nur freundliches Interesse, also hätte Leo natürlich auch Nein sagen können und damit wäre die Sache dann erledigt gewesen.

Aber nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, wurde ihm klar, dass er jetzt wirklich darüber reden wollte. Allerdings gesellte sich zu diesem Gedanke dann auch sehr schnell einer von denen, die er sich vorher gemacht hatte, der auch durch das, was Charlie gesagt hatte, nicht verschwunden war.

Leo atmete einmal tief ein. „Du... du sagst das dann doch nicht meinen Eltern, oder?“

Charlie hob drei Finger zum Schwur und legte gleichzeitig die andere Hand auf sein Herz. „Niemals!“ erwiderte er ernst und obwohl Leo ihm sofort glaubte, fiel es ihm dann trotzdem nicht so leicht, mit dem Reden anzufangen, aber hauptsächlich deswegen, weil er gar nicht wusste, womit er beginnen sollte.

Aber dann beschloss er, damit anzufangen, wo auch für ihn alles angefangen hatte: seine Begegnung mit Alex auf der Treppe. Und als er erst einmal angefangen hatte, konnte er nicht wieder aufhören, bis er Charlie fast alles erzählt hatte, sogar von seinem total schlechten Gewissen Lill gegenüber. Nur, was er gemacht hatte, nachdem er Alex heimlich beim Umziehen beobachtet hatte, behielt er für sich.

„Ich... ich glaube, ich steh auch auf Jungs,“ sagte er abschließend und in den paar Sekunden Schweigen, die danach kamen, stürzten plötzlich die Konsequenzen, die das Ganze bestimmt mit sich zog, auf ihn ein und ihm schwirrte der Kopf.

Sollte er es seinen Eltern sagen? Sie waren schon ewig mit Charlie befreundet, also würden sie vermutlich kein Problem damit haben. Und wenn doch? Wenn das wieder etwas werden würde, was sein Vater in seine ellenlange ,Du musst endlich dein Leben in den Griff'-Reden benutzen würde? Nein, das würde Leo auf keinen Fall riskieren. Seine Eltern würde er es definitiv nicht sagen. Und Elliot? Wie würde er das finden? Ihm müsste er es eigentlich sagen. Und was war mit Jasper? Musste er ihm auch sagen?

„Was...was soll ich jetzt machen?“ Die Frage war schließlich in Leos Kopf aufgetaucht und er hatte gar nicht geplant, sie laut auszusprechen, aber dann war sie ihm doch rausgerutscht aber er konnte sie dann auch nicht mehr zurücknehmen, denn Charlie, der kurz aufgestanden war, um sich noch einen Kaffee einzuschenken, war schneller.

„Diese Frage möchte ich dir eigentlich nicht beantworten,“ sagte er, wieder ganz ernst und stellte den Becher auf den Tisch, bevor er sich wieder auf den Stuhl fallen ließ. „Weil erst einmal weiß ich überhaupt nicht, wie es in deinem Leben aussieht und außerdem ist heute Einiges anders als damals. Vermutlich nicht unbedingt besser, aber anders.“

Er räusperte sich einmal. „Aber was ich dir sagen kann ist, dass es ein paar Situationen gibt, die du lieber vermeiden solltest, weil du daraus bestimmt nicht wieder glücklich rauskommen wirst. Zum Beispiel, wenn ein Typ dir sagt, dass er wirklich nur auf Frauen steht, aber dich richtig gut findet und deswegen nur für dich eine Ausnahme machen will, lass die Finger davon. Am Ende wird dir dann sowieso nur das Herz gebrochen. Das Gleiche, wenn einer mit dir rummachen will, der völlig betrunken ist, bei sowas kommt am Ende auch nie irgendwas Gutes raus.“

Leo, dem immer noch der Kopf schwirrte, jetzt nicht mehr unbedingt von den eigenen Gedanken sondern hauptsächlich von dem, was Charlie gesagt hatte, nickte nur stumm und Charlie lachte. „Tut mir leid, ich glaube, um das zu sagen war grade der falsche Zeitpunkt. Aber weißt du was und ich weiß nicht, ob deine Mama dir das jemals erzählt hat, aber ich betreue eine Jugendgruppe drüben im Zentrum, da sind Jungs mit dabei, denen es genau so geht, wie dir.

Wir treffen uns immer einmal die Woche, diesmal am Mittwoch und wenn du magst, kannst du gerne kommen. Es ist vermutlich eine größere Hilfe für dich, wenn du mit denen sprichst als mit dir. Wie siehts aus? Möchtest du Mittwoch vielleicht auch kommen?“

„Ja,“ erwiderte Leo sofort. Er wusste zwar nicht, ob er, nachdem es ihn schon bei Charlie einiges an Überwindung gekostet hatte, mit völlig Fremden darüber würde sprechen können, vorallem, wenn sie so alt waren wie er, aber sich das mal anzugucken konnte auf jeden Fall nicht schaden.

Es war natürlich nicht das erste Wochenende, an dem Elliot am Samstag zu spät nach Hause gekommen war und deswegen den Sonntag mehr oder weniger in sein Zimmer eingeschlossen wurde.

Es war auch nicht der erste Sonntag ohne Handy, weil es ihm als Bestrafung weggenommen worden war. Er wusste sogar, wo sein Vater es hingetan hatte: in die abschließbare Schublade oben rechts vom Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Anne hatte ihm mal erzählt, wie man die Schublade mit dem Brieföffner knacken konnte und es hatte sich ziemlich einfach angehört.

Aber im Gegensatz zu seiner Schwester hatte Elliot bis jetzt nicht den Mut gehabt, es zu probieren und er hatte das Telefon eigentlich auch immer sonntags abends zurückbekommen.  

Aber es war der erste Sonntag, nachdem Lara und er sich geküsst hatten.  

Er hatte sie vorher schon die ganze Zeit nicht aus dem Kopf bekommen, aber seit gestern war es unmöglich, an etwas anderes zu denken, als an sie. Bestimmt fragte sie sich schon, warum er sich noch nicht bei ihr gemeldet hatte. Oder vielleicht hatte sie ihm auch geschrieben, eventuell sogar schon gestern und fragte sich jetzt, warum er noch nicht geantwortet hatte. Und vielleicht fragte sie sich auch, ob er sie die ganze Zeit nur verarscht hatte und war jetzt sauer auf ihn und wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Lara war auch der Grund, wieso er sich beim Tennis-Training, bei dem sein Vater drauf bestanden hatte, dass er, trotz Hausarrest, hinging, absolut nicht konzentrieren konnte.

Er versuchte es natürlich trotzdem, weil sein Vater der wie sonst auch immer sonntags, am Spielfeldrand stand und ihn nicht aus den Augen ließ, weswegen er sich auch mit jedem Ball, der daneben ging, schlechter fühlte, weil er genau wusste, was sein Vater grade dachte. Aber so sehr er auch versuchte, besser zu spielen, er bekam es einfach nicht hin und obwohl jeder Gedanke an Lara und ihren Kuss sich unglaublich anfühlte, kam dieses Gefühl trotzdem nicht gegen die wachsende Verzweiflung an, die gleichzeitig in ihm hochstieg.

Denn natürlich wusste er schon, was danach auf ihn zukam. Erst eisiges Schweigen auf der Rückfahrt und danach zitierte ihn sein Vater ins Arbeitszimmer, er saß in seinem Stuhl während Elliot vor ihm stehen musste und dann hielt er ihm die übliche Rede, die Elliot inzwischen schon fast Wort für Wort aufschreiben konnte: Wenn er alles immer so schleifen ließ wie das Training, würde er nie Erfolg im Leben haben und als Versager und Schwächling enden! Und in ihrer Familie gab es eigentlich keine Versager und Schwächlinge, also war bei Elliot irgendetwas nicht in Ordnung, weil er es einfach nicht hinbekam. Das sagte sein Vater ihm zwar nicht genau so, aber es war trotzdem deutlich herauszuhören.

Auch, wenn Elliot diese Worte jetzt schon gefühlt hundert Mal gehört hatte, änderte es nichts daran, dass er sich danach wieder genau so mies fühlte, wie sonst auch immer.

Er stand in seinem Zimmer am Fenster, starrte hinaus und versuchte krampfhaft, nicht zu heulen. Schließlich war Heulen auch was für Schwächlinge, noch etwas, was sein Vater ihm auch schon gefühlte tausend Mal gesagt hatte. Und er wollte eigentlich auch gar kein Schwächling sein aber er bekam es ja offenbar einfach nicht besser hin.

Normalerweise dauerte es immer eine ganze Weile, bis er sich besser fühlte und dann wütend auf seinen Vater wurde, dass er ihn einfach nicht in Ruhe ließ. Aber jetzt gab es ja Lara und die Gedanken an sie hatten es ziemlich schnell geschafft sich durch die dunkle Wolke um ihn herum zu kämpfen und an sie zu denken sorgte dafür, dass er sich gleich wieder besser fühlte.

Allerdings kam mit den Gedanken an sie auch die Angst wieder zurück, dass sie inzwischen sauer war, dass er sich noch nicht bei ihr gemeldet hatte und deswegen nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.

Hoffentlich bekam er das Handy heute Abend auch wirklich zurück. Und natürlich musste er sich dann auch noch eine Ausrede einfallen lassen, wieso er sich so lange nicht gemeldet hatte, schließlich würde er ihr definitiv nicht erzählen, dass sein Vater ihm zur Strafe sein Handy weggenommen hatte.

Vielleicht konnte er sagen, dass er es gestern auf dem Weg nach Hause verloren hatte, ewig danach gesucht und erst dann wiedergefunden hatte. Oder dass es ihm runtergefallen und kaputt gegangen war, aber er es geschafft hatte, es wieder zu reparieren. Wenn er ihr sagte, dass er es repariert hatte, würde sie das sicher beeindrucken, also würde er natürlich diese Ausrede nehmen.

Als er soweit mit seinen Gedanken gekommen war, tauchte plötzlich die Frage auf, wieso er hier rumstand und darüber nachdachte, was er machen würde, wenn er das Handy wieder kriegen würde, anstatt hinzugehen und es sich zu holen. Warten, wenn er doch eigentlich handeln konnte war doch auch etwas für Schwächlinge. Er wusste schließlich, wo das Handy war und wie er es wiederbekommen würde. Wenn Anne das geschafft hatte, dann würde er es auch schaffen.

Dass sein Vater, als er es damals herausgefunden hatte, ziemlich ausgerastet war und Anne das gleichmütig über sich hatte ergehen lassen, ihm das Handy auch nicht zurückgegeben hatte und Elliot noch genau wusste, wie er sie damals dafür bewundert hatte und wie er sich sicher gewesen war, dass er sowas niemals schaffen würde, weil er nicht mutig genug dafür war, blendete er dabei aus.

Er öffnete leise die Tür und lauschte auf den Flur hinaus. Dass sein Vater nicht da war, da konnte er sich sicher sein, aber seine Mutter durfte ihn natürlich auch auf keinen Fall erwischen.

Er war sich sicher aus dem Wohnzimmer Geräusche zu hören, also war die Luft rein.

Trotzdem schlich er so leise er konnte zur Tür des Arbeitszimmers und als er seine Hand auf die Klinke legte, fing sein Herz so heftig an zu klopfen, dass er für einen Moment nicht in der Lage war, sie herunterzudrücken. Erst, als er einmal tief eingeatmet hatte, schaffte er es.

Er öffnete die Tür nur so weit, dass er sich grade eben hindurchquetschen konnte, sah sich noch einmal nach allen Seiten um, der Flur war natürlich immer noch leer und seine Mutter tauchte auch nicht plötzlich aus dem Nichts auf, schob sich dann durch den Spalt und schloss die Tür hinter sich. Er atmete er noch einmal tief ein, fixierte den Schreibtisch und versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren und sein immer noch hämmerndes Herz zu ignorieren.

Obwohl der Weg zum Tisch keine fünf Schritte betrug, fühlte es sich für ihn an, wie eine Ewigkeit. Während er mit seinen Füßen die nicht ganz fünf Schritte auf dem blank polierten Parkett ging, ging er in seinem Gehirn nochmal die Schritte durch um den Schreibtisch zu knacken, die er noch Wort für Wort im Kopf hatte, obwohl es schon bestimmt zwei Jahre her war, dass Anne sie ihm erklärt hatte.

Sein immer schneller schlagendes Herz nach wie vor nicht beachtend, fand er mit den Augen auf dem Tisch den Brieföffner und streckte die Hand danach aus. Seine Finger schlossen sich um den Griff, der aus dem Kästchen ragte aber es dauerte ewig, bis er in der Lage war, ihn herauszuziehen, weil er gefühlt eine Tonne wog.

Erst jetzt wurde Elliot der Teil in ihm bewusst, der die ganze Zeit gegen das, was er hier vorhatte, ankämpfte und ihm klar zu machen versuchte, was für eine absolut schlechte Idee das war und was sein Vater mit ihm machen würde, wenn er herausfand, was er hier tat.

Und als ihm dieser Teil bewusst geworden war, war es unmöglich, ihn wieder zu ignorieren. Im Gegenteil, er hatte jetzt das Heft in der Hand und Elliot musste ziemlich mit sich selber kämpfen, den Brieföffner Richtung Schloss zu bewegen, aber er hatte schon verloren.

Seine Hand fing an zu zittern, er konnte nichts dagegen tun. Trotzdem biss er die Zähne zusammen, packte mit der rechten, die genau so zitterte, seine linke Hand und versuchte weiterzumachen, aber natürlich brachte es nichts. Er schaffte es einfach nicht, die kleine Öffnung zu treffen und selbst, wenn er es geschafft hätte, mit so zittrigen Händen konnte er niemals das Feingefühl aufbringen, das nötig war, um das Schloss zu knacken.

Er stöhnte einmal frustriert auf und versuchte es trotzdem weiter, obwohl ihm inzwischen ja klar geworden war, dass es sinnlos war. Aber Aufgeben war etwas für Versager und er wollte ja keiner sein.

Vermutlich hätte er hier jetzt noch stundenlang gestanden und es trotz totaler Sinnlosigkeit einfach immer weiter probiert, die Zeit darüber vergessen und irgendwann wäre dann sein Vater aufgetaucht und hätte ihn in flagranti erwischt.

Aber das wurde dann dadurch verhindert, dass auf einmal ein Knarren ertönte, das ihn so sehr erschreckte, dass er den Brieföffner fallen ließ. Glücklicherweise fiel er nur auf den Teppich, auf dem der Schreibtisch stand und machte keinerlei Geräusche.

Elliots erste Blick ging zur Tür, aber da war niemand. Und obwohl es eigentlich unnötig war, sah er sich danach noch einmal im Zimmer um, aber da war natürlich auch niemand. Vermutlich hatte lediglich das Holz des riesigen Bücherregals geknarrt oder sonst irgendwas anderes, aber so oder so, es hatte dafür gesorgt, dass Elliot endlich die Tatsache an sich heranlassen konnte, dass er das Schloss nicht knacken würde. Und auf einmal wollte er nur noch aus diesem Zimmer, in dem für ihn noch nie etwas Gutes passiert war, raus.

Glücklicherweise war er so geistesgegenwärtig, den Brieföffner zurück ins Kästchen zu stecken. Seinem Vater wäre natürlich sofort aufgefallen, dass er nicht mehr da war und da er auch in der Lage war, eins und eins zusammenzuzählen, wäre ihm dann auch sofort klar gewesen, dass Elliot an seinem Schreibtisch gewesen war. Und dann wäre er zwar nicht wegen der aufgebrochenen Schublade und des entwendeten Handys ausgerastet, sondern, weil Elliot überhaupt hier gewesen war.

Nachdem der Öffner wieder sicher verstaut war, schlich Elliot zur Tür, öffnete sie  vorsichtig und blickte auf den Flur hinaus. Niemand zu sehen, der Weg zurück in sein Zimmer war frei.

Erst, als er im Zimmer war, wurde ihm bewusst dass sein Herz immer noch rasend schnell gegen seine Brust hämmerte und dass er schweißgebadet war. Aber all das Schwitzen und Herzklopfen hatte rein gar nichts gebracht. Er hatte mal wieder auf ganzer Linie versagt und jetzt blieb ihm tatsächlich nichts Anderes übrig, als darauf zu warten, dass ihm sein Vater das Handy wiedergab und Lara, wenn sie morgen überhaupt noch mit ihm reden würde, die vorbereitete Ausrede zu präsentieren.

Als er an Morgen dachte, fiel ihm auf einmal siedendheiß ein, dass er immer noch keine Hausaufgaben gemacht hatte.

Elliot hatte gar nicht mehr dran gedacht und sein Vater sich heute Vormittag glücklicherweise und ganz im Gegensatz zu ihm, völlig aufs Training konzentriert und deswegen wohl vergessen, sich nach den Hausaufgaben zu erkundigen. Aber wenn er aus der Kanzlei zurückkam würde er es definitiv tun und wenn er mitbekam, dass Elliot seine Hausaufgaben immer noch nicht gemacht hatte, würde er, mal wieder, ziemlich wütend werden und Elliot sein Handy heute sicher nicht wiederbekommen. Und nach dem, was gestern passiert war, würde er definitiv nicht nochmal versuchen, ihn anzulügen.

Also holte Elliot seine Sachen, setzte sich an den Schreibtisch, schlug Buch und Heft auf, aber anstatt sich wirklich ernsthaft dranzusetzen, dachte er an Lara. Und als er dabei aus dem Fenster auf den Baum sah, an dem er gestern heruntergeklettert war, fiel ihm ein, dass er das ja eigentlich auch wieder machen konnte. Er würde ein paar Sachen packen und dann würde er zu Leo gehen und ihn frage, ob er nicht einfach bei ihm bleiben konnte bis er achtzehn war. Leo fand seine Eltern zwar auch ätzend und Elliot war auch absolut der Meinung, dass ständig mit seinem Vater darüber zu streiten, was er später mal machen sollte, absolut nervig war, aber das war eigentlich gar nichts, verglichen mit seinen eigenen Eltern. Was Elliot natürlich nie so sagen würde, weil er ja sah, wie fertig Leo das machte. Aber trotzdem...

Und er hatte Leos Eltern ja schon mehr als einmal gesehen und immer waren sie nett zu ihm gewesen, was das absolute Gegenteil von dem war, wie seine eigenen Eltern Leo behandelten.

Für einen kurzen irren Moment erschien es Elliot tatsächlich möglich, die nächsten drei Jahre einfach bei Leo zu wohnen und er hatte plötzlich ein Kribbeln im Bauch. Was dann aber auch schnell wieder verschwand, denn natürlich war es nicht möglich. Seine Eltern würden ihn finden und zurückzerren und dann vermutlich wirklich im Keller einsperren. Ihm würde gar nichts anderes übrig bleiben, als die nächsten drei Jahre hier irgendwie rumzukriegen und erst dann zu verschwinden. Er würde es wie seine Schwester machen, die am Tag nach ihrem achtzehnten Geburtstag einfach weg gewesen war. Elliot, der sich immer richtig gut mit ihr verstanden hatte, war eine ganze Weile wütend auf sie gewesen, dass sie ihn jetzt allein gelassen hatte, aber gleichzeitig hatte er es total verstanden.

Die Frage war nur, ob er später auch genau so mutig sein würde, wie Anne, wobei ihm die Aktion mit dem Schreibtisch ja eigentlich gezeigt hatte, dass er es nicht war.

Er fuhr sich einmal mit beiden Händen durchs Gesicht und seufzte tief. Das Gefühl, ein totaler Versager zu sein, war natürlich immer noch da und er hatte absolut keine Lust mehr darauf. Weswegen er jetzt versuchte, sämtlich Gedanken an Lara, Anne, das Handy im Schreibtisch und Leo an die Seite zu schieben und sich ernsthaft an seine Hausaufgaben zu machen.

Vorher war es immer so gewesen, dass er sein Handy nach dem Abendessen wieder bekommen hatte und er sollte auch diesmal zu seinem Vater ins Arbeitszimmer kommen – aber es ging lediglich darum, dass seine Hausaufgaben zu kontrollieren, ihn mal wieder wegen seiner unleserlichen Handschrift zu tadeln und ihn dann mit der Anweisung, die Tür hinter sich zu schließen, wieder wegzuschicken.

Das Handy wurde mit keinem Wort erwähnt und für einen Moment überlegte Elliot wirklich, ihn danach zu fragen, aber ließ es dann doch sein. Wenn er gefragt hätte, hätte das seinen Vater vielleicht wütend gemacht und dann hätte er es gar nicht zurückbekommen.

Er wusste natürlich auch, wieso er es noch nicht wieder bekommen hatte, denn schließlich war er nicht nur zu spät nach Hause gekommen, er hatte außerdem davor noch fast seinen Vater angelogen und war abgehauen. Vermutlich konnte er froh sein, wenn es morgen soweit war.

Was hieß, er musste sich eine neue Ausrede ausdenken, die ihm dann aber auch relativ schnell einfiel, weil er die erste Hälfte schon hatte: sein Handy war heute kaputt gegangen und sein Vater würde ihm morgen ein besseres kaufen. Lara wusste bestimmt nicht, wie sein Handy aussah, also konnte er es dann auch ohne Probleme als das bessere ausgeben.

Wenn er für morgen überhaupt noch eine Ausrede brauchte.

Denn die Möglichkeit, dass sie sauer auf ihn war und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, schwebte ja schon den ganzen Tag wie eine graue Wolke über ihm. Weswegen er es auch kaum erwarten konnte, endlich wieder zur Schule zu gehen, was ihm noch nie vorher passiert war und was dafür sorgte, dass der Sonntagabend sich hinzog, wie Kaugummi.

Elliot versuchte, sich so gut wie möglich abzulenken, er spielte ein bisschen Klavier, was ihm aber nicht soviel Spaß machte, wie sonst immer, versuchte, in dem Buch zu lesen, das er vor Monaten mal angefangen, aber dann das Interesse verloren hatte, stellte dann sehr schnell fest, dass er es nach wie vor langweilig fand, und landete dann am Ende vor der Konsole an einer Stelle von einem Spiel, an der er schon seit Ewigkeiten nicht weiter kam. Er schaffte es auch diesmal nicht, was ihn ziemlich frustrierte aber immerhin hatte es dabei geholfen, dass die Zeit rumgegangen war.

Aber als er dann endlich im Bett lag, konnte er an nichts anderes denken, als daran, dass das mit Lara jetzt schon wieder vorbei war und dann vermutlich auch nur, weil er zu feige gewesen war, sein Handy aus dieser Schublade zu holen.

Er wälzte sich unruhig hin und her, bis ihm schließlich klar wurde, dass er diese Nacht vermutlich gar nicht mehr schlafen würde. Vorallem nicht, als ihm, zusätzlich zu dem grauenhaften Gedanken, dass Lara jetzt nichts mehr von ihm wissen wollte, auch noch einfiel, dass seine Freunde ihn total auslachen würden, wenn sie das mitbekamen, was sie natürlich würden. Er hätte also schon wieder auf ganzer Linie versagt.

Als der Wecker schließlich klingelte, war Elliot froh, dass die Nacht endlich vorbei war.

Er fühlte sich einfach nur furchtbar und nach einem Blick in den Badezimmerspiegel stellte er fest, dass er auch so aussah. Und so konnte er nicht nur Lara nicht unter die Augen treten, sondern auch sonst niemandem.

Sich wieder in einen vorzeigbaren Menschen zu verwandeln brauchte so viel Zeit, dass Elliot auf das Frühstück verzichten musste. Und als dann schließlich nicht nur keine Zeit mehr fürs Frühstück sogar überhaupt keine Zeit mehr übrig war, war er mit dem Ergebnis absolut nicht zufrieden, aber ihm blieb nichts anderes übrig als so das Haus zu verlassen.

So schnell wie er heute war bestimmt noch nie jemand den Weg mit dem Fahrrad gefahren und er war völlig außer Atem, als er auf den Schulhof fuhr. Außerdem schwitzte er ziemlich, was seine Frisur bestimmt komplett zerstört hatte. Aber jegliche Gedanken an seine Haare oder ans Zuspätkommen oder an sonst irgendwas verpufften sofort, als er Lara entdeckte, die am Fahrradständer stand und ihm entgegen sah.

Sein Herz machte einen Hüpfer. Sie hatte bestimmt auf ihn gewartet. Und man wartete doch nicht auf jemanden, den man gar nicht mehr zu tun haben wollte, oder?

Doch die Euphorie, die ihn bei Laras Anblick gepackt hatte, wurde dann allerdings dadurch ein bisschen getrübt, dass ihm Lill auffiel, die, natürlich, wieder an Lara klebte.

Elliot knirschte einmal mit den Zähnen. Das war das Einzige, was ihn an Lara störte. Deswegen war er auch total froh gewesen, dass Leo ihnen Lill am Samstag vom Hals gehalten hatte. Für eine Sekunde fiel ihm ein, dass er Leo unbedingt noch fragen musste, wie es mit Lill gelaufen war, aber dann kam Lara auf ihn zu und sofort hatte er alles Andere vergessen.  

Er stieg vom Rad und ging Lara entgegen, während er versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Sie hatte zwar die Stirn gerunzelt, aber Elliot war sich sicher, dass sie nicht wütend aussah.

„Hallo,“ sagte sie, als sie bei ihm angekommen war und auch ihre Stimme klang nicht wütend und Elliot hatte sich noch nie vorher in seinem Leben so erleichtert gefühlt.

„Hallo,“ erwiderte er mit seiner Stimme, die ihm nicht wirklich gehorchte und wusste danach nicht mehr, was er sagen oder machen sollte. Sollte er sich jetzt direkt entschuldigen und Lara die Ausrede auftischen?

Aber Lara war nach dem Hallo noch nicht fertig. „Ich hab dir gestern geschrieben und auch versucht, dich anzurufen aber du bist nicht rangegangen und ich hab gedacht, dir ist vielleicht was passiert oder du willst nichts mehr mit mir zu tun haben, nachdem...“

Sie sprach nicht weiter, aber Elliot wusste auch so, was sie sagen wollte. „Nein, so ist das absolut nicht,“ beeilte er sich zu erwidern und jetzt war es definitiv Zeit für die Ausrede. „Mir ist nur das Handy runtergefallen und es ist kaputt gegangen, aber mein Vater kauft mir nachher ein neues und besseres,“ sagte er und hoffte, es hörte sich absolut lässig an, weil er sich innerlich grade nämlich alles andere als lässig fühlte.

Lara lächelte. „Ist natürlich scheiße, dass es kaputt gegangen ist, aber cool, dass du ein Besseres kriegst,“ erwiderte sie. „Und wenn du es hast, muss du mir sofort schreiben!“

Elliot nickte heftig und erwiderte ihr Lächeln. „Na klar, das wird das Erste sein, was ich mache.“

Sie sahen sich einen Moment an und Elliot fühlte sich auf einmal absolut unsicher.

Wollte Lara jetzt geküsst werden? Hatte sie ihn Samstag vorher auch so angesehen? Und wenn sie nicht geküsst werden wollte und er es trotzdem machte, würde sie vielleicht dann sauer auf ihn werden?

Elliot wollte sie wirklich gerne wieder küssen, eigentlich wollte er in seinem Leben nichts  mehr anderes machen als das und deswegen beschloss er, es einfach zu riskieren. Er beugte sich zu ihr vor, sie kam ihm entgegen und sein Herz machte einen heftigen Sprung.

Leider dauerte ihr Kuss nicht sehr lange, weil ihnen die Schulklingel dazwischen kam, aber nachdem Elliot sein Fahrrad abgestellt hatte und sie Richtung Gebäude gingen, griff Lara nach seiner Hand und lächelte ihn an und Elliot fühlte sich, als würde er grade irgendwo in der Luft schweben. Er erwiderte ihr Lächeln und drückte vorsichtig ihre Hand.

Lill neben ihnen plapperte die ganze Zeit irgendwelches Zeug aber davon kam bei Elliot in der kleinen Welt, in der es außer Lara grade nichts anderes gab, vorallem nicht seine Eltern oder irgendwelche anderen Probleme, absolut gar nichts an.

 

Natürlich waren Leos Eltern ziemlich angepisst, als er, trotz Hausarrest, viel zu spät nach Hause kam. Nicht nur, dass sie ihm zur Strafe noch einen weiteren Tag aufbrummten, was er aber auch schon erwartet hatte, sie nutzten die Gelegenheit auch, ihm eine Lektionen des Lebens-Ansprache zu halten, bei der es nicht nur mal wieder darum ging, dass man sich an Regeln zu halten hatte, sondern es wurde auch wieder abgearbeitet, dass er sich endlich mal um seine Zukunft kümmern sollte.

Wirklich sagen konnte Leo das aber nicht, weil die Worte hauptsächlich ungehört an ihm vorbeirauschten. Er blickte sie zwar abwechselnd an und versuchte so auszusehen, als würde er zuhören, aber er hatte grade wirklich Wichtigeres, über das er sich Gedanken machen musste, als ein schlechtes Gewissen zu haben, weil er zu spät gekommen war oder sich mit der Frage zu beschäftigen, was er später mal machen wollte. Es war auch gar nicht schlimm, dass er jetzt noch einen weiteren Tag Hausarrest haben würde, schließlich war das nur der Dienstag und auf den Mittwoch kam es ja an.

Allein bei dem Gedanken, zu diesem Treffen zu gehen, bekam Leo Herzklopfen, es war natürlich viel zu früh dafür, jetzt schon nervös zu werden, aber wie sonst auch konnte er mal wieder nichts dagegen machen.

Und wenn er grade nicht darüber nachdachte, wie dieses Treffen vielleicht ablaufen könnte und wie die anderen Jungs wohl so waren, dann ging er das Gespräch mit Charlie wieder und wieder durch. Was er auch später noch machte, als er auf dem Bett lag und an die Decke starrte.

Obwohl er sich absolut in dem wiedergefunden hatte, was Charlie gesagt hatte und trotz der Dinge, die da mit Alex und Lill passiert waren, gab es da immer noch einen kleinen Teil in ihm, der nach wie vor fest davon überzeugt war, dass es gar nicht so war, wie er dachte. Dass sich der Kuss mit Lill nur deswegen so komisch angefühlt hatte, weil sie eben nicht die Richtige gewesen war. Was natürlich Quatsch war, denn er hatte sich noch mit keinem Mädchen so gut verstanden, wie mit ihr. Und hübsch hatte er sie auch gefunden. Vermutlich war alles, was dieser Teil von sich gab, totaler Quatsch.

Leo seufzte einmal. Andererseits, konnte er sich vorstellen, Alex zu küssen, so wie Charlie sich damals mit Fabian hatte vorstellen können? Er schloss die Augen und versuchte, daran zu denken, aber selbst in seinem Kopf war er nicht in der Lage, die soziale Grenze zwischen ihm und Alex zu überwinden. Niemals würde Alex sich dazu herablassen, ihn zu küssen. Er würde ihn eher auslachen und dann einfach stehen lassen.

Deswegen war es auch viel einfacher, an den halbnackten Alex in der Umkleidekabine zu denken, weil das etwas war, was wirklich passiert war. Und als Leo daran dachte, war zuverlässig wieder dieses komische Bauchgefühl da. Das nicht nur dafür sorgte, ihm erneut klar zu machen, dass hier auf jeden Fall etwas anders war, sondern das ihn auch wieder dazu brachte, es sich selbst zu machen, genau so wie es das zuverlässig auch die letzten Tage getan hatte, manchmal dann sogar mehr als einmal.

Danach fühlte er sich gleich um Einiges entspannter und hatte dann auch wieder Platz für andere Gedanken. Wie Hausaufgaben. Er stand auf und grade, als er zum Schreibtisch gehen wollte, brummte es in seinem Rucksack, mehrfach hintereinander, also ein Anruf. Und da fiel Leo erst wieder Elliot ein, von dem er bis jetzt immer noch nichts gehört hatte, der aber von mehreren Dingen gleichzeitig aus seinem Hirn gedrängt worden war.

Er war natürlich der Anrufer, also würde Leo jetzt gleich alle wichtigen Details erfahren.

Nachdem er dran gegangen war, ließ Elliot ihm mal wieder kaum Zeit, Hallo zu sagen, sondern fing gleich an zu reden, darüber, wie er heute erst sein Handy wiederbekommen hatte, es hatte auf dem Küchentisch gelegen als er aus der Schule gekommen war, zusammen mit zwei voll beschriebenen Blätter von seinem Vater, in dem er ihn warnte, so etwas nie wieder zu machen, wie er versucht hatte, den Schreibtisch zu knacken um es schon am Sonntag wiederzubekommen, aber wie er es einfach nicht geschafft hatte und dann Schiss bekommen hatte, dass Lara nicht sauer auf ihn war und dass sie sich morgen nach der Schule treffen würde...

Er schwärmte Leo eine ganze Zeit von Lara vor, dass sie sich wieder geküsst hatten und wie toll er das fand und wie toll er sie fand und je länger er das tat, desto mehr kam Leo sich plötzlich wie ein Ausgestoßener vor. In diesem Augenblick hatte er Charlie, ihr Gespräch und Mittwoch verdrängt und fühlte sich einfach nur mies, ganz besonders deswegen, weil er Lill geküsst und rein gar nichts gespürt hatte. Eigentlich hätte es ihm doch jetzt genau wie Elliot gehen müssen!

„Wie war es denn eigentlich am Samstag mit Lill,“ überrumpelte Elliot ihn dann völlig und Leo wurde im Bruchteil einer Sekunde klar, dass er ihm auf keinen Fall die Wahrheit sagen konnte.

„Es war toll,“ erwiderte er deswegen so enthusiastisch, wie es ihm möglich war. „Sie ist echt super nett und hübsch und wir hatten total viel Spaß!“

„Wirklich?“ erwiderte Elliot ungläubig und Leo spürte, wie sein Herz eine Etage tiefer sank. Hatte Elliot ihn etwa durchschaut, genau wie Lill? Konnte man es ihm vielleicht ansehen?

„Wir haben uns auch geküsst und es war super!“ beeilte er sich hinzuzufügen. „Und... und ich würde mich gerne noch mal mit ihr treffen, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll.“

Elliot lachte, es klang immer noch ungläubig und Leo merkte in diesem Moment, dass er inzwischen ziemlich schwitzte. Er schluckte einmal und war kurz davor, Elliot zu fragen, wieso er so komisch reagierte, aber da meinte der: „Ich kann dir bestimmt ihre Nummer besorgen, ich frag morgen mal nach, sie hängt ja ständig mit Lara zusammen.“

Leo musste sich zusammenreißen, um nicht vor totaler Erleichterung ins Telefon zu seufzen.

„Das wäre toll,“ erwiderte er stattdessen. Auch, wenn er absolut kein Interesse an Lill hatte, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er sie unbedingt nochmal küssen oder noch andere Dinge mit ihr machen wollte, wenn er ihre Nummer hatte, konnte er sich vielleicht wirklich mit ihr treffen und sich dann entschuldigen.

Und sie vielleicht auch fragen, wieso sie sich damals sicher gewesen war, dass er gar kein Interesse am Küssen gehabt hatte.

„Na ja, ich muss dann wieder auflegen, Lara und ich wollen gleich telefonieren,“ erwiderte Elliot. „Machs gut!“

„Du auch,“ erwiderte Leo aber da war er auch schon weg.

Die Hausaufgaben waren jetzt natürlich kilometerweit entfernt, Leo hatte grade genug damit zu tun, über Elliots komische Reaktion nachzudenken.

Und den Gedanken, den er grade gehabt hatte. Sah man es ihm vielleicht wirklich an? Und taten die anderen so, als würde es nicht so sein, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen? Aber wieso sollten sie ausgerechnet dabei Rücksicht nehmen, aber sich über andere Sachen wie seine Schuhe und seine Klamotten und wie er redete lustig machen?

Hätte Jasper dann nicht eigentlich schon längst was gesagt, nur eben auf eine nette Art? Er kannte ihn schließlich schon viel länger als Elliot. Und hätte Elliot ihn damals überhaupt angesprochen, wenn er es ihm schon angesehen hätte?

Oder hatten vielleicht alle einfach kein Problem mit? Vielleicht Jasper und Elliot nicht, aber irgendjemand von den anderen bestimmt. Leo lebte ja nicht unter einem Stein, er guckte gelegentlich mal Nachrichten und das Internet war ja auch noch da.

Aber vielleicht sah er auch gar nicht komisch aus und bildete sich alles nur ein. Er musste deswegen unbedingt mit Lill sprechen.

Und bevor er am Mittwoch nicht feststellte, dass alle Jungs von Charlies Gruppe auch irgendwie komisch aussahen, ging er einfach davon aus, dass er es ebenfalls nicht tat. Und jetzt würde er Hausaufgaben machen.

Allerdings ließ ihn der Gedanke dann doch nicht ganz los und er verbrachte die meiste Zeit des Schuldienstages nicht nur damit, Alex heimlich anzusehen, sondern auch die anderen Jungs zu beobachten, ob sie ihm irgendwelche komischen Blicke zuwarfen, aber sie ignorierten ihn wie üblich. Genau wie die Mädchen. Und Jasper war natürlich auch nicht plötzlich anders. Alles war wie immer, also hatte er sich, wie üblich, mal wieder viel zu viele Gedanken gemacht.

Aber als er am Abend mit Elliot telefonierte, schaffte er es trotzdem nicht, ihn zu fragen, wieso er wegen Lill so komisch reagiert hatte. Er schrieb sich nur ihre Nummer auf, die Elliot ihm durchgab, weil er vorher vergessen hatte, sie ihm zu schicken, sagte dann, dass er auch heute noch Hausarrest hatte und dass es ansonsten nichts Neues gab und hörte dann zu, als Elliot ihm wieder von Lara erzählte.

Morgen würde er nach der Schule das erste Mal mit zu ihr gehen und bestimmt auch ihre Eltern kennenlernen weil die auch zuhause waren und er war ziemlich aufgeregt deswegen.

„Keine Ahnung, was ich machen soll, wenn sie mich nicht mögen,“ sagte er und klang ziemlich panisch.

„Keine Sorge, das tun sie schon nicht,“ versuchte Leo ihn zu beruhigen. „Lara hat ihnen bestimmt nur gute Sachen über dich erzählt also mögen sie dich ja eigentlich schon, du darfst dich dann halt nur nicht blöd anstellen.“

Elliot schwieg eine Sekunde. „Du hast Recht,“ sagte er dann und klang ziemlich erleichtert. „Ich weiß auch noch gar nicht, was ich anziehen soll aber es sollte auf jeden Fall gut aussehen!“ Er fing an, ein paar Hosen und Hemden aufzuzählen, die geeignet waren und Leo war froh, dass er nicht mehr panisch klang. Er freute sich für ihn, dass es mit Lara so gut klappte und hoffte, dass das auch so weitergehen würde.

Elliot redete noch eine ganze Weile über Klamotten und Leo hörte zu, konnte aber nichts dazu besteuern.

„Also, du triffst dich dann mit Lill,“ fragte Elliot dann plötzlich unvermittelt, wieder war da ein komischer Unterton in seiner Stimme und Leo versuchte mit aller Macht, ihn nicht auf sich zu beziehen.

„Ich weiß ja gar nicht, ob sie sich überhaupt mit mir treffen will und ich hab auch irgendwie ein bisschen Angst, sie zu fragen,“ erwiderte er und Angst hatte er ja tatsächlich, aber aus einem völlig anderen Grund, als Elliot jetzt vermutlich dachte.

Der setzte an, etwas zu sagen, aber auf einmal ertönte bei ihm eine ziemlich genervte Stimme im Hintergrund und er stieß hastig hervor: „Ich muss jetzt auflegen,“ was er dann auch direkt tat.

Leo ließ das Handy sinken und seufzte einmal. Dann fiel sein Blick auf den Zettel, auf den er sich grade Lills Nummer notiert hatte. Er speicherte sie in seinem Telefonbuch ab, öffnete dann das Chat-Fenster und überlegte, was er jetzt schreiben sollte. Er konnte ja nicht einfach nur Hallo schreiben und wer er war und ob Lill sich irgendwann mal mit ihm treffen wollte. Das wäre irgendwie unhöflich gewesen.

Aber zu schreiben, wer er war und dann zu fragen, wie es ihr ginge, wäre definitiv höflich gewesen.

Aber so sehr er es auch versuchte, er schaffte es einfach nicht die Worte einzutippen. Nach fünf Minuten gab er schließlich auf, warf das Handy aufs Bett und entschied sich dafür das mit Lill mit zu den anderen Dingen zu packen, um die er sich nach Mittwoch kümmern würde.

Schon bevor er am Mittwochmorgen die Augen aufmachte, schoss ihm die Aufregung in sämtliche Knochen. Heute würde es anfangen! Was das für ein Anfang sein sollte und wie genau er aussehen würde, wusste er nicht, aber auf jeden Fall würde etwas anfangen!

Nachdem er aus dem Bett gestiegen war, warf er zum ersten Mal seit gestern Abend einen Blick aufs Handy und die Nachricht von Elliot, dass es mit Laras Vater richtig gut gelaufen war, sorgte dafür, dass seine Laune nur noch besser wurde.

Nachdem seine Eltern nie ein Wort darüber verloren hatte, dass er damals zur Schule gegangen war, ohne vorher seinen üblichen Becher Tee zu trinken, hatte Leo das jetzt ständig gemacht und auch, wenn er die Tasse Tee manchmal noch vermisste, der Morgen fühlte sich ohne seine anstrengende Familie einfach besser an.

Aber heute war er absolut dazu in der Lage, es mal wieder mit ihnen aufzunehmen, also beeilte er sich mit Zähneputzen und Anziehen und als er in die Küche kam, war zu seiner Überraschung alles friedlich. Sein Vater war schon früh morgens zu einer Konferenz losgefahren, Henrik und Tim hatten ihre Köpfe gemeinschaftlich in irgendeiner Zeitschrift vergraben und Leos Mutter schenkte ihm ein sehr selten gewordenes Lächeln. „Wie schön, dass du uns morgens mal wieder Gesellschaft leistest.“

Leo sagte nicht dazu, erwiderte aber ihr Lächeln und ging zum Wasserkocher.

Die Aufregung blieb selbstverständlich auch den ganzen Schultag über und sorgte dafür, dass er, im Gegensatz zu sonst, ziemlich viel redete. Was ihm natürlich absolut klar war, aber er konnte einfach nicht aufhören. Schon auf dem Schulweg erzählte er Jasper ausführlich von der Folge der Serie, die er grade guckte und die echt gut gewesen war.

Und auch den Schultag über fand sein Gehirn immer wieder neue Dinge, über die er reden wollte und mehr als einmal fing er einen belustigten Blick von Jasper auf.

Leo wartete die ganze Zeit darauf, dass er ihn fragte, was los sei und vorsichtshalber suchte er schon einmal nach einer passenden Ausrede, denn Jasper die Wahrheit zu sagen kam natürlich nicht infrage. Er hatte die Ausrede auch schnell gefunden, er würde einfach sagen, er war aufgeregt, wie es in der Serie weiterging, in der Hoffnung, dass Jasper ihm das auch abnehmen würde.

Allerdings hatte der seine ganz eigenen Schlüsse gezogen, denn als sie auf dem Weg zum Chemieraum waren, fragte er plötzlich: „Wie heißt sie?“

Leo war zuerst so überrascht über die Frage, dass er ein paar Sekunden brauchte, bis er sie verarbeitet hatte.

„Wen meinst du?“ erwiderte er dann und Jasper lachte. „Ach komm, jetzt tu nicht so! Erst bist du total abwesend und jetzt auf einmal redest du die ganze Zeit und bist voll aufgeregt. Du hast doch irgendein Mädchen kennengelernt und ich will jetzt wissen, wie sie heißt!“

Leo hatte natürlich niemals gedacht, dass Jasper ausgerechnet auf sowas kommen würde, vorallem da sie vorher noch nie über Mädchen gesprochen hatten. Aber jetzt, wo er darüber nachdachte, war es dann eigentlich doch keine Überraschung mehr. Ihm wurde erst jetzt bewusst, dass auf jeden Fall die meisten Menschen, die er in seinem Leben treffen würde, davon ausgehen würden, dass er auf Mädchen stand und er sich dann irgendwann überlegen musste, ob er ihnen sagen wollte, dass das nicht so war. Wenn es denn nicht so war.

Natürlich wusste Leo, dass es Leute gab, denen er es besser nicht sagen sollte und er fragte sich in diesem Moment, ob Jasper vielleicht dazu gehörte.

Er hatte jetzt aber keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken, denn nicht nur, dass sie inzwischen am Chemieraum angekommen und der Lehrer auch schon in Sichtweite war, Jaspers fordernder Blick zeigte auch ganz genau, dass der ihn nicht in Ruhe lassen würde, bis Leo ihm eine zufriedenstellende Antwort gegeben hatte.

Er öffnete den Mund, ohne genau zu wissen, was er jetzt sagen sollte und da fiel ihm Lill ein. „Ich hab sie am Samstag im Zentrum kennengelernt, wir haben Billard gespielt und uns dann auch geküsst. Und gestern hat Elliot mit ihre Nummer gegeben und ich werd ihr heute schreiben, ob sie sich nochmal mit mir treffen will.“

Das war definitiv eine zufriedenstellende Antwort für Jasper. Er grinste einmal breit. „Krass,“ meinte er und wollte noch etwas hinzufügen, aber in diesem Moment war der Lehrer bei ihnen angekommen und sagte irgendetwas, während er die Tür aufschloss. Leo hatte keine Ahnung, was es gewesen war, aber er war froh, dass es Jasper davon abgehalten hatte, weiterzureden. Die Sache mit Lill war ja auch wirklich so passiert, das hatte er ja ohne Probleme erzählen können, aber er hatte wenig Lust, sich ab jetzt irgendwelche Sachen auszudenken.

Glücklicherweise ließ Jasper ihn aber für den Rest des Tages in Ruhe. Alex hatte irgendein ein neues Spiel auf dem Handy, das viel interessanter war und Jasper erst in der Pause und dann für den Rest des Schultags ablenkte.

Und nach der Schule musste er wieder mal zu seinem Vater und konnte deswegen nicht mit Leo zurück gehen.

Was sehr gut war, denn der wollte sich nicht schon wieder eine Ausrede überlegen, wieso er nicht nach Hause ging. Natürlich hätte er wieder sagen können, dass er sich mit Elliot traf und das würde Jasper definitiv auch niemals hinterfragen. Aber darum ging es auch grade gar nicht. Sondern darum, dass Leo heute damit konfrontiert worden war, dass er sich wohl für den Rest seines Lebens Ausreden würde ausdenken müssen. Wenn er wirklich auf Jungs stand.

Aber das würde er ja jetzt vielleicht gleich herausfinden und das war bestimmt auch das, was heute anfangen würde: sein Leben, in dem er entweder auf Jungs oder auf Mädchen stand.

Leo hatte eigentlich gar nicht gedacht, dass er an heute irgendwelche Erwartungen gehabt hatte. Aber als er schließlich vor dem Zentrum aus dem Bus ausstieg, stellte er nicht nur sehr schnell fest, dass er tatsächlich welche hatte, sondern auch, welche es waren. Nämlich, dass er jetzt gleich einfach zu diesen völlig unbekannten Jungs hingehen und total lässig und cool sein würde und alle würden ihn toll finden.

Aber in Wirklichkeit stand er jetzt hier, sein Herz fing heftig an zu klopfen und er schaffte es einfach nicht, weiterzugehen, obwohl ihm Charlie ganz genau beschrieben hatte, wo er hinmusste. Er bekam auf einmal Schiss, dass er das jetzt gleich nicht hinbekommen würde, obwohl er es doch absolut wollte.

„Hey Leonard, wie schön, dass du echt gekommen bist,“ ertönte in diesem Augenblick eine Stimme neben ihm und Leo fiel ein echter Stein vom Herzen, als ihm klar wurde, dass es die von Charlie gewesen war.

Er drehte den Kopf, sie sahen sich an und Charlie lächelte. „Ich hatte schon Angst, dass ich zu spät kommen würde, aber ist ja grade nochmal gut gegangen. Kommst du mit? Oder willst du noch einen Moment hier draußen bleiben?“

Leo erwiderte sein Lächeln und fühlte sich nicht mehr so unsicher. „Ich komm mit!“ erwiderte er mit fester Stimme.

Obwohl Leo ja schon vorher gewusst hatte, dass es eine Treppe runtergehen und dass dahinter dann auf jeden Fall irgendwelche Kellerräume liegen würden, hatte er trotzdem nicht damit gerechnet, dass sie in einen ziemlich dunklen Flur treten würden und Charlie erst einmal das Licht anmachte. Noch etwas, was absolut nicht seinen Erwartungen, von denen er nicht gewusst hatte, dass er sie überhaupt hatte, entsprach,

Und der Raum, in den sie danach kamen und in dem neben vielen alten Regalen voll mit Büchern und Gesellschaftspielen noch eine schon ziemlich durchgesessenen Couch in der Ecke und lauter Stühle und Tische, die nicht zusammenpassten, standen, auch nicht. Aber immerhin fiel durch die ziemlich hoch liegenden Fenstern genug Tageslicht, sodass wenigstens hier kein weiteres Licht gebraucht wurde.

Kaum war Charlie hinter Leo durch die Tür getreten, als sich schon zwei Jungs auf ihn stürzten und aufgeregt auf ihn einredeten.

Leo blieb erst, wo er war, aber als er dann hörte, wie einer der Jungs mit ,meine Eltern haben gestern' anfing wurde ihm klar, dass es ziemlich unhöflich war, hier zu stehen und zuzuhören, weswegen er ein Stück wegging, dann wieder stehen blieb und keine Ahnung hatte, was er jetzt machen sollte.

Er sah sich um und entdeckte zwei andere Jungs, die nebeneinander auf der Couch saßen und offensichtlich irgendetwas auf ihren Handys zockten und außerdem noch drei, die um einen Kicker herumstanden und ungefähr genau so alt waren wie er.

Drei Leute für ein Spiel, für das man besser eine gerade Anzahl an Mitspielern hatte – das hätte Leos Chance sein können. Aber anstatt rüberzugehen und so cool und lässig zu sein, wie in seiner Vorstellung, blieb er wo er war und traute sich einfach nicht.

Er musste an Elliot denken, der absolut kein Problem damit gehabt hätten, da jetzt hinzugehen und mitzuspielen und war in diesem Moment wütend auf sich selbst, dass er nicht so war. Er sah sich schon ganz alleine auf dem Sofa sitzen und wenn das Treffen zuende war, würde er gehen, ohne mit jemand anderem als Charlie gesprochen zu haben. Die Vorstellung fühlte sich echt ziemlich scheiße an, schaffte es aber trotzdem nicht, ihn dazu zu bringen, sich endlich in Bewegung zu setzen.

„Hey,“ sagte da plötzlich eine Stimme neben ihm und holte ihn die Wirklichkeit zurück. Er drehte den Kopf und vor ihm stand einer der Jungs vom Kicker. Er lächelte. „Hast du vielleicht Lust, bei uns mitzumachen? Der arme Gabriel braucht dringend jemand, der ihm hilft, er ist so furchtbar schlecht...“

„Halte die Fresse, Alex!“ rief einer der anderen beiden Jungen, die noch am Kicker standen und zeigte Alex den Mittelfinger, der laut lachte.

Leo musste erst einmal damit klar kommen, dass der Typ da vor ihm auch Alex hieß. Nicht, weil er vorher davon ausgegangen war, dass der Alex in seiner Klasse der einzige Alex auf der Welt war. Sondern weil dieser Alex hier auch noch auf Jungs stand, was bei dem anderen Alex absolut undenkbar war. Deswegen merkte er erst mit einiger Verspätung, dass er auf die Frage noch nicht geantwortet hatte und spürte, wie er rot wurde.

„Klar spiel ich mit,“ erwiderte er was natürlich absolut nicht cool und lässig rüberkam, vorallem nicht zusammen mit seinem jetzt bestimmt total roten Gesicht und er fühlte sich in diesem Moment wie der größte Idiot überhaupt.

Aber wenn Alex sowas in der Art gedacht hatte, dann war er gut darin, es absolut nicht zu zeigen, denn sein Lächeln sah genau so aus wie vorher und seine Stimme verriet auch nichts als er „Super,“ erwiderte und dann zurück zum Kicker ging.

Leo folgte ihm und stellte sich gegenüber von Alex neben den, der dann ja wohl Gabriel war. Der sah ihn mit gerunzelter Stirn an und sagte ernst: „Ich hoffe, du bist gut! Ich will dem doofen Scheißkerl nämlich das Maul stopfen!“

Alex grinste ihn an und streckte ihm die Zunge raus und Gabriel erwiderte das Grinsen.

Leo beobachtete, wie Alex und Gabriel miteinander umgingen und entschied, dass Gabriel das trotz seines Gesichts grade nicht ernst gemeint hatte. Er konnte aber nichts dagegen machen, dass er sich trotzdem plötzlich unter Druck gesetzt fühlte, doch glücklicherweise konnte er gut spielen. Sie hatten zuhause im Keller einen Kicker stehen und er hatte in der einfachen Zeit, wie er sie inzwischen immer häufiger für sich nannte, sehr oft mit Henrik, Tim und seinem Vater gespielt.

Es fiel natürlich schnell auf, dass er kickern konnte und er bekam einige beeindruckte Blicke zugeworfen und Gabriel klopfte ihm irgendwann sogar einmal kurz anerkennend auf die Schulter. „Richtig gut, Mann!“ sagte er und das und die Blicke fühlten sich einfach unfassbar großartig an.

Und während Leo in die Runde blickte und sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen konnte, stellte er außerdem noch fest, dass alle drei ganz normal aussahen und wenn er nicht gewusst hätte, dass jeder in diesem Raum, auf Jungs stand, hätte er es bei ihnen nie vermutet.

Also war es natürlich mal wieder Unsinn gewesen, was er sich damals zusammengereimt hatte, aber das war ihm ja auch schon vorher irgendwie klar gewesen.

Doch dann war die Frage erst recht, woher Lill gewusst hatte, dass er es nicht besonders toll finden würde, sie zu küssen und warum Elliot so komisch reagiert hatte, als Leo ihm gesagt hatte, dass er sich nochmal mit Lill treffen wollte.

Aber weiter dachte er darüber auch nicht nach, denn jetzt war absolut nicht die Zeit um sich irgendwelche Gedanken zu machen, denn er wollte auf keinen Fall nachlassen und musste sich deswegen aufs Spiel konzentrieren.

Er wusste nicht, wie viele Runden sie gespielt hatten, nur, dass es echt viele gewesen waren und Gabriel und er fast jede davon gewonnen hatten.

Oder, wie lange so ein Treffen überhaupt ging und immer, wenn er sich kurz nach Charlie umsah, redete der entweder mit einem der anderen Jungs oder er saß an einem Tisch und schrieb irgendetwas

Das Spiel endete dann auch nicht, weil Charlie sagte, dass sie jetzt alle nach Hause gehen sollten, sondern weil Olli, der Vierte im Bunde, plötzlich die Kickerstange losließ und sich einmal räusperte.

„Ich muss euch mal was erzählen,“ sagte er dann und ohne sich abgesprochen zu haben, ließen auch alle anderen ihre Stangen gleichzeitig los und setzten sich dann einen Tisch in der Nähe.

Leo hatte über das Kickern ganz vergessen, wieso er überhaupt hier hergekommen war und er war plötzlich ziemlich gespannt auf das, was Olli gleich sagen würde. Er merkte, dass er ihn anstarrte und senkte schnell den Blick, aber Olli, der erst mal nur da saß und auf die Tischplatte blickte, hatte das glücklicherweise gar nicht mitbekommen.

Er seufzte einmal tief und ballte seine Hände zu Fäusten. „Ich habs Erik gestern gesagt,“ stieß er dann hervor und auch, wenn Leo keine Ahnung hatte, wer Erik war, bei dem Gesicht, das Olli machte, war klar, dass jetzt nichts Gutes kommen würde.

Alex und Gabriel warteten schweigend, bis er weiter sprach und als Leo kurz zu ihnen rübersah, sahen sie ziemlich ernst aus, was jetzt definitiv nicht gespielt war.

Olli seufzte noch einmal und sagte: „Er meinte, das wäre ja absolut widerlich und dass er jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben will und wenn ich ihm noch mal schreibe oder zu ihm hingehe, dann wird er es den anderen sagen und die werden es genau so widerlich finden.“ Er presste einmal kurz die Lippen aufeinander und fügte dann noch hinzu: „Ich hab echt gedacht, er wär mein bester Freund und dann sagt er sowas.“

Alex, der neben ihm saß, legte den Arm um ihn. „Was für ein Arschloch!“ erwiderte er und Gabriel nickte heftig. „Total!“ rief er. „Aber mit so einem Trottel würde ich auch gar nicht weiter befreundet bleiben! Was sind das denn für Freunde, die einen nicht so akzeptieren, wie man ist?! Die können doch einfach weg!“

„Seh ich auch so,“ stimmte Alex ihm zu. „Und außerdem, nur weil er gesagt hat, dass alle anderen das auch widerlich finden, stimmt das absolut nicht!“

Olli wischte sich einmal mit dem Handrücken über die Augen und lächelte dann angestrengt. „Fühlt sich zwar grade irgendwie so an, aber ich weiß das ja. Und ich will ja jetzt auch nicht mehr mit Erik befreundet sein, aber ich hab grad echt Angst, das irgendjemand anderem zu sagen. Aber ich will auch nicht die ganze Zeit so tun, als ob.“

Alex und Gabriel nickten und erwiderten, dass sie das absolut verstehen konnten und es ihnen genauso ging und in dieser Sekunde ertönte Charlies Stimme plötzlich hinter Leo: „Alles gut hier?“ und alle drei antworteten im Chor: „Ja, alles gut.“

„Ihr wisst, wenn ihr was auf dem Herzen habt, könnt ihr immer zu mir kommen und reden!“ sagte Charlie und diesmal nickte Leo mit den drei anderen mit und Alex erwiderte, stellvertretend für sie alle: „Wissen wir Charlie, danke schön.“

Leo war während des gesamten Gespräches ziemlich angespannt gewesen und merkte schon, wie Gedanken im Hintergrund lauerten und nur auf den richtigen Moment warten, um hervorzuspringen und sein Hirn zu überfallen.

Und jetzt, wo die Lage nicht mehr so ernst war, fiel ihm auch noch auf, dass sie und Charlie die Letzten im Raum waren und ein Blick auf seine Uhr informierte ihn darüber, dass es inzwischen auch schon kurz vor sieben war.

„Ist schon ziemlich spät geworden,“ meinte Charlie in diesem Moment. „Absolut Zeit zu gehen; ihr kleinen Küken müsst doch schließlich früh ins Bett!“

„Haha,“ machte Gabriel. „Ich glaub, hier müssen eher die alten Säcke so wie du früh ins Bett!“

Charlie wuschelte ihm einmal durchs Haar. „Frech wie immer,“ sagte er liebevoll. „Aber jetzt mal im Ernst: Es ist spät geworden und wir gehen jetzt alle nach Hause! Und wer will, kann nächsten Donnerstag wiederkommen. Früher kann ich leider nicht.“

Leo wollte den anderen folgen, die schon zur Tür hinaus waren, aber Charlie hielt ihn zurück und als Leo sich zu ihm umdrehte, sah er ihn neugierig an. „Und? Wie hats dir gefallen?“ fragte er und Leo musste lächeln. „Gut,“ erwiderte er und das entsprach absolut der Wahrheit, auch, wenn der Anfang etwas holprig gewesen war.

Charlie erwiderte sein Lächeln. „Sehr schön. Und vielleicht magst du ja Donnerstag auch wiederkommen. Ich würde mich freuen.“

Im Moment sprach eigentlich nichts dagegen, wiederzukommen, allerdings hatte Leo grade viel zu viel mit der Gegenwart zu tun, als sich jetzt mit der Zukunft zu beschäftigen. Deswegen nickte er auch nur, sagte Tschüss und folgte dann Alex, Olli und Gabriel, die jetzt natürlich schon längst weg waren, anstatt auf Charlie zu warten, der noch die Türen abschließen musste.

Nachdem Leo die Treppe hochgestiegen war, sah er zu seiner Überraschung Alex, Olli und Gabriel in einer Ecke stehen und miteinander reden aber Leo hatte irgendwie das Gefühl, dass er da jetzt nicht willkommen war und machte sich auf den Weg zur Haltestelle.

Er ließ sich auf die Bank fallen und seufzte einmal. Jetzt, wo er alleine war, bereite sich sein Hirn natürlich darauf vor, über die letzten Stunden und vorallem das, was Olli erzählt hatte, nachzudenken, aber dann wurde er wieder abgelenkt, als sich jemand neben ihn setzte und als er den Kopf hob, war es Gabriel, der ihn angrinste.

„Wo musst du denn hin,“ fragte er und nachdem Leo es ihm gesagt hatte „Okay, ich muss den anderen Bus nehmen. Also ganz ehrlich, du bist echt super im Kickern, Alex hat total gar keine Ahnung gehabt, was er machen soll!“ Er lachte einmal und klatschte in die Hände.

Leo, der nicht wusste, was er sagen sollte, sagte dann auch nichts, er hatte nur ein angenehm warmes Gefühl im Bauch.

„Spielst du Fußball?“ fragte Gabriel und anstatt sofort zu antworten, musste Leo erst einmal an den Tag denken, an dem er sich von Elliot hatte überreden lassen, mit ihm und seinen Freunden Fußball zu spielen.

Leo hatte vorher noch nie Fußball gespielt und bei Elliot und seinen Freunden wurde eigentlich nie aus Spaß gespielt sondern es war immer ein knallharter Wettbewerb bei dem auch ziemlich viel rumgeschrien wurde.

Leo, der keine Ahnung von irgendwas hatte, war natürlich absolut verloren gewesen. Er hatte sich aber auch nicht getraut zu sagen, dass er nicht mehr mitspielen wollte aber dann war er irgendwann unglücklich auf den Ball getreten und auf den Hintern gefallen, was verdammt weh getan hatte und dadurch hatte sich die Sache dann erledigt.

„Ich möchte echt gern wissen, woran du denkst, wenn du so ein Gesicht machst,“ holte ihn da Gabriels Stimme zurück in die Wirklichkeit und wieder wurde Leo bewusst, dass er auf eine Frage einfach nicht geantwortet hatte und natürlich wurde er auch direkt wieder rot.

„Ich spiel kein Fußball,“ erwiderte er dann und weil Gabriel ihn so erwartungsvoll ansah, entschied er sich dann dazu, ihm auch noch die Fußball-Geschichte zu erzählen.

Als er fertig war, lachte Gabriel, es war aber absolut kein herablassendes Lachen und ziemlich ansteckend, weswegen Leo einfach mitlachen musste und dabei auf einmal ein Kribbeln im ganzen Körper spürte, das er noch nie vorher gehabt hatte.

Nachdem er fertig gelacht hatte, erzählte Gabriel dann auch eine Fußball-Geschichte, die daraus bestand, dass er in einem ziemlich wichtigen Spiel anstatt gegen den Ball in den Boden getreten und sich auch verdammt weh getan hatte. Er musste sofort ausgewechselt werden und seine Mannschaft verlor das Spiel knapp.

„Hat mich damals echt total geärgert,“ fing er an, fixierte dann einen Punkt neben Leo und sprang auf. „Da kommt mein Bus,“ rief er, sah Leo dann aber nochmal an, als er „Wir haben Samstag übrigens wieder ein Spiel, im Stadion neben dem Schwimmbad, also wenn du Bock hast, dann komm doch vorbei, Anstoß ist um zwei,“ sagte und dabei lächelte, was dafür sorgte, dass das Kribbeln sofort wieder da war.

Dann kam auch schon der Bus und Gabriel war weg.

Anstatt jetzt über die letzten Stunden nachzudenken und über das, was Olli gesagt hatte und sich deswegen dann vielleicht wieder angespannt zu fühlen, war Leos Kopf jetzt grade nur voll mit Gabriel. Wie er gelächelt hatte. Wie sich sein Lachen und seine Stimme angehört hatte und wie er mit den Händen in der Luft herumgefuchtelt hatte während er seine Geschichte erzählt hatte.

Es fühlte sich echt gut an, an ihn zu denken und in diesem Moment fiel Leo auf, dass seine Gedanken grade dem ähnelten, was Charlie damals über Fabian gesagt hatte. Und dass jetzt endgültig Schluss war mit dem ständigen Drumherumgerede und dem Denken, dass es vielleicht doch irgendwo ein Mädchen gab, das er toll finden würde!

Alex hatte es vielleicht nicht geschafft, Leo davon zu überzeugen, dass er eindeutig auf Jungs stand, aber die letzten Stunden und vorallem das mit Gabriel grade hatten es.

Aber als er dann im Bus saß und aus dem Fenster sah, musste er dann doch an das denken, was Olli erzählt hatte und wie die anderen darauf reagiert hatten und entschied, dass er auch mit niemandem befreundet sein wollte, der ihn nicht akzeptierten würde, wie er war, ganz besonders nicht, nachdem allein schon die Vorstellung, sich in der Zukunft ständig irgendwelche Ausreden für Jasper einfallen zu lassen, einfach nur anstrengend gewesen war.

Allerdings war Jasper hier auch erst mal nur zweitrangig und bei ihm bestand ja auch die Gefahr, dass er wie Erik reagieren und es dann vielleicht in der Klasse herumerzählen würde, in die Leo noch ein bisschen länger als ein Jahr gehen würde.

Und dann ein bisschen länger als ein Jahr von seinen Klassenkameraden deswegen auch noch gehänselt oder vielleicht Schlimmeres zu werden war definitiv ätzender, als sich ständig Ausreden für Jasper ausdenken zu müssen.

Aber Elliot war wichtig und es würde verdammt weh tun, wenn er dann nichts mehr mit Leo zu tun haben wollte. Aber hier war es absolut das Beste, das Pflaster mit einem Ruck abzureißen, anstatt es ewig mit sich herumzutragen, ständig über das ,Was wäre wenn' nachzugrübeln und sich dann mies zu fühlen, weil Elliot ihn eventuell fallen lassen würde.

Da es nach sieben war, war Elliot natürlich zu Hause, schließlich waren seine Eltern es auch, aber Leo wollte jetzt natürlich nicht einfach bei ihm auftauchen.

Deswegen stieg er an der nächsten Haltestelle aus und nachdem er kurz mit sich selbst debattiert hatte, ob ein Text oder ein Anruf hier mehr Sinn machen würde, entschied er sich für den Anruf. Da würde Elliot definitiv eher drauf reagieren, als wenn Leo ihm schrieb. Wobei Elliot wegen Lara wahrscheinlich jetzt dauerhaft am Handy hing, aber das hieß ja nichts.

Dass Leo Elliot anrief, war seitdem sie sich kannten ungefähr zwei Mal vorgekommen und das war dann auch bestimmt der Grund, wieso Elliot nicht nur gleich dran ging sondern auch direkt mit ziemlich besorgter Stimme fragte: „Ist alles in Ordnung?“

„Ist es,“ erwiderte Leo. „Ich muss nur unbedingt mit dir reden und das kann ich nicht am Handy machen. Kann ich vielleicht kurz bei dir vorbeikommen?“

„Na klar,“ sagte Elliot sofort. „Es ist Besuch da, da kriegen sie nicht mit, wenn ich mal kurz raus geh.“

Es war von der Haltestelle, an der Leo ausgestiegen war, glücklicherweise nicht mehr ganz so weit bis zu Elliot und nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten, war Leo von einer Sekunde auf die andere plötzlich unfassbar nervös.

Er hätte zwar in ein paar Minuten einen Bus nehmen können, der ihm ein wenig Fußweg abgenommen hätte, aber er war innerlich viel zu angespannt, um jetzt zu warten.

Also fing er an zu laufen und je näher er Elliots Haus kam, desto heftiger fing sein Herz an zu klopfen und als er schließlich angekommen war, fühlte es sich wie die dümmste Idee des Jahres an.

Aber nachdem er ihn angerufen und gesagt hatte, dass er unbedingt mit ihm reden musste, musste Leo es jetzt auch durchziehen. Vorallem, weil er ja grade noch für sich selbst entschieden hatte, dass er absolut keine Lust auf Ausreden hatte.

Und außerdem, so aufgeregt, wie er grade war, wäre ihm sowieso keine passende eingefallen. Deswegen holte er einmal tief Luft, nahm sein Handy in die Hand und schrieb Elliot, dass er jetzt unten vor dem Haus stand und danach es dauerte keine fünf Minuten, bis die Haustür geöffnet wurde und Elliot herauskam.

Er sah immer noch ziemlich besorgt aus, während er die Stufen hinunterstieg und als er bei Leo ankam sagte er leise: „Ich hab jetzt die ganze Zeit drüber nachgedacht, worüber du reden willst und ich hab absolut keine Ahnung und deswegen musst du es mir jetzt auch sofort sagen!“

Leo blickte ihn an und schluckte einmal. Jetzt war der Moment gekommen, in dem sich entschied, ob diese Freundschaft hier weiter Bestand haben würde oder nicht.

„Können... können wir uns vielleicht hinsetzen?“ holte er dann doch noch ein paar Sekunden heraus aber als Elliot genickt und sie sich nebeneinander auf die vorletzte Stufe gesetzt hatten, war es Zeit, endlich mit der Sprache rauszurücken.

Leo räusperte sich einmal, sah auf seine ineinander verkrampften Hände hinunter und entschied sich dann, einfach zu springen.

„Ich... ich wollte dir sagen, dass... dass ich auf Jungs stehe.“

Er sah Elliot nicht an, als er das sagte, aber in den Sekunden, die danach kamen, in denen Elliot schwieg und die sich für Leo wie Jahrhunderte anfühlte, drehte er dann doch den Kopf und tat es.

Elliot starrte einen Augenblick vor sich hin, dann erwiderte er Leos Blick und grinste einmal schief. „Okay,“ sagte er einfach und aus dem schiefen Grinsen wurde ein richtiges, als er hinzufügte: „Dabei sind Mädchen doch viel besser als Jungs!“

Und nachdem Leo jetzt ein ein tonnenschwerer Felsen vom Herzen gefallen war, war es absolut einfach „Sind sie nicht!“ zu erwidern und auch zu grinsen und für einen Moment grinsten sie sich dann einfach nur an.

Und damit war diese Sache erledigt aber Leo fiel in diesem Moment eine ein, die es definitiv noch nicht war. „Warum bist du eigentlich damals so komisch gewesen, als ich dir gesagt hab, dass ich mich nochmal mit Lill treffen will?“

„Weil ich sie total nervig finde,“ erwiderte Elliot ziemlich heftig. „Die ganze Zeit klebt sie an Lara und hört einfach nicht auf, zu reden. Ich hatte auch ein bisschen Schiss, dass du vielleicht nach dem Samstag sauer auf mich bist, weil sie dich auch so genervt hat. Und ich wusste nicht, ob du jetzt einfach nur nichts gesagt hast oder sie dich nicht genervt hat und ich kann halt einfach nicht glauben, dass es jemanden gibt, den sie nicht nervt. Aber als du mir dann erzählt hast, dass ihr euch total gut verstanden habt und du dich wieder mit ihr treffen willst, konnte ich das zwar nicht glauben, aber ich war auch froh, dass du wegen ihr nicht sauer auf mich gewesen ist.“

„Und warum hast du mir dann ihre Nummer besorgt?“ erkundigte sich Leo und Elliot zuckte mit den Schultern. „Na ja, wenn du sie toll findest und dich mit ihr treffen willst dann helf ich dir natürlich, auch, wenn ich einfach nur schrecklich finde. Willst du das denn jetzt immer noch?“

Leo nickte. „Ja, aber natürlich nicht deswegen. Ich will einfach nur mit ihr reden.“

Elliot öffnete den Mund, entschied sich dann aber gegen das, was er sagen wollte und seufzte stattdessen einmal. „Ich muss dann jetzt mal wieder rein. Eigentlich muss ich ja für Spanisch lernen und mein Vater fragt mich bestimmt nachher noch ab. Da muss ich dann wenigstens so tun, als hätte ich was gemacht. Also bis morgen.“

Leo stand zusammen mit ihm auf.

„Bis morgen,“ sagte er und sah noch zu, wie Elliot die Treppe hochstieg und im Haus verschwand, bevor er sich auf den Weg machte.

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Kapitel: 8
Sätze: 1.059
Wörter: 25.472
Zeichen: 143.863

Kurzbeschreibung

Leo und Elliot lernen sich durch Zufall kennen aber aus dem Zufall wird schnell eine enge Freundschaft, in der sie füreinander da sind; sei es, wenn Elliots Eltern seine Beziehungen sabotieren oder Leo auf einmal feststellt, dass er auf Jungs steht. Das ändert sich auch nicht, als sie älter werden. Was sich aber ändert, ist, dass sie auf einmal erkennen, dass da eigentlich mehr als Freundschaft zwischen ihnen ist und beide haben keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollen. Ganz besonders Elliot nicht, der es nie geschafft hat, sich von seinen Eltern zu lösen - langsames Erzähltempo

Kategorisierung

Diese Story wird neben Liebe auch in den Genres Entwicklung, Freundschaft und Schmerz & Trost gelistet.