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„The past is never dead. It's not even past.“ - William Faulkner
Wir sahen einander an – und für einen flüchtigen Moment war es, als hätten die Jahrzehnte keinen Bestand, als seien fünfzig Jahre nicht mehr als ein Windstoß, der durch das welke Laub eines längst vergangenen Herbstes fuhr. Seine Augen, dachte ich, hatten sich nicht verändert. Die Falten, die sich darum gelegt hatten, die buschigen Brauen, die einst feine Linien gewesen waren, das alles war nur Staffage, wie Theatermalerei über einem unveränderten Bühnenbild. Das Blau in seinen Augen war geblieben. Und dieser durchdringende, fast raubvogelhafte Blick, in dem ein Glanz lag, den wohl nur ein alter Freund, ein sehr alter Freund, wirklich deuten konnte.
Unser Händedruck war fest, die Umarmung aufrichtig. Nicht unbedingt aus Herzlichkeit geboren, sondern aus etwas anderem. Etwas Tieferem. Etwas, das nur diejenigen verband, die einst gemeinsam an den Rand der Hölle gegangen waren. Außenstehende hätten es vielleicht für Kameradschaft gehalten, für Nostalgie. Doch es war etwas, das sich nicht erklären ließ. Es hatte keine Worte. Nur Spuren.
Einmal hatte ich spät nachts den Fernseher laufen lassen. Eine dieser unzähligen Kriegsdokumentationen. Ich weiß nicht mehr, um welchen Krieg es ging – es war auch gleichgültig. Da sprach ein alter Soldat, mit brüchiger Stimme. Er sagte: „Ich bin im Krieg gestorben. Mit meinen Kameraden. Nur der Körper hat überlebt. Die Seele, die ist dortgeblieben.“
Und während er das sagte, traten ihm Tränen in die Augen. Ich saß wie erstarrt. Als wäre ein Blitz in mich eingeschlagen. Ich schaltete sofort um, aber das Bild blieb in mir. Diese eine Nacht war schlimm gewesen. In jener Nacht spürte ich ihre Finger an meinem Nacken – die Hand, die nur noch einen Wimpernschlag davon entfernt war, mich zu packen.
Als eines Abends das Telefon klingelte und ich Josef am Apparat hörte, war es wieder so, als schlüge ein Blitz in mein Innerstes. Für einen Moment wollte ich nur fliehen. Mein Herz raste, mein Verstand flackerte. Doch der Schock verglühte rasch, verdrängt von einer seltsamen Ruhe, fast wie Trost. Denn irgendwo in mir hatte ich gewusst, dass dieser Tag kommen musste. Es war wie ein stummer Schwur, den keiner je ausgesprochen hatte, den wir aber beide verstanden: Bevor wir sterben, müssen wir noch einmal darüber sprechen. Über das, was damals geschah. Über das, was keiner von uns je benannt, aber beide nie vergessen hatten.
Ich hätte den Hörer wohl niemals selbst in die Hand genommen. Doch als Josef anrief, wusste ich: Es war Zeit. Zwei Wochen spät stand er vor meiner Tür – hier, in den weiten Feldern der rheinhessischen Provinz. Aus Niederbayern war er angereist, längst im Ruhestand, auf einen Krückstock gestützt. Der Mann, der einst so groß und stolz gewesen war, der voller Ungeduld in den Krieg gezogen war, um sich zu beweisen – er stand nun gebeugt vor mir, geschrumpft und geschwächt. Aber seine Augen; sie hatten nichts von ihrem Raubvogelblick verloren.
Zunächst war unser Gespräch zögerlich. Wir umkreisten einander wie Fremde, die sich aus einem früheren Leben kennen. Der Krieg hatte uns ebenso verbunden, wie er uns schlussendlich auseinandergerissen hatte. Da war eine Distanz, wie zwischen zwei Schauspielern, die nach Jahrzehnten auf die Bühne zurückkehren, ohne den Text ganz zu kennen. Wir scherzten über unsere körperlichen Gebrechen, über das Alter, über die Zeit.
Dann begann Josef zu erzählen. Von seiner Rückkehr an den Schreibtisch nach dem Krieg, als wäre er zuvor nicht wie ein Wahnsinniger durch die Lande gepflügt. Von den Zahlen hinter denen er sich verbarg wie hinter einer Mauer. Von seinen drei Kindern. Und dann, leiser, mit gesenktem Blick, von seinem Ältesten, Gabriel.
„Vor über zehn Jahren hat ihn der Krebs geholt“, sagte er kaum hörbar. „Bauchspeicheldrüse. Keine Chance. Elise kam nie darüber hinweg. Er war ein guter Junge, musst du wissen. Ingenieur bei Daimler. Und in der Jugend – ein Ass im Schwimmen. Nationalmannschaft bis er achtzehn war.“
Sein Blick ging ins Leere, und doch nickte er stolz. Dann fügte er hinzu, noch leiser: „Letztes Jahr ist sie friedlich eingeschlafen. Ich hätte nie gedacht, dass sie vor mir geht.“
Ich sprach mein Beileid aus. Was sollte man auch sagen? Also erzählte ich von Christa, meiner Frau, die vor fünf Jahren an einem Nierenleiden gestorben war. Ich vermisste sie sehr. Große Bindungen waren mir nie leicht gefallen, aber mit ihr hatte ich Frieden gefunden. Wir hatten keine Kinder. Seit ihrem Tod war ich allein und das störte mich kaum. Nur die beiden Söhne meines Bruders Ernst kamen ab und zu vorbei. Der Rest war Schweigen und Alltag.
Ich erzählte von meinen Jahren, von der Arbeit auf dem Feld, dem zähen Geschäft mit Land, von Wintern, die kamen und gingen, ohne dass ich je wirklich den Ruhestand angetreten hätte. Selbst mit Ende 70 fuhr ich noch fast täglich hinaus, über die lehmigen Wege, durch den Nebel der Morgenstunden, weil ich nichts anderes kannte.
Unser Gespräch verlor sich in Belanglosigkeiten – absichtlich, beinahe trotzig. Doch wir wussten beide: Nichts davon bot Schutz. Jedes Wort war nur ein Schleier, zu dünn, um das Unausweichliche zu verdecken. Das Unsagbare hing zwischen uns, lauter als jedes Geräusch, das der Raum zu bieten hatte.
Ich fühlte mich wie ein Fahrer in einem Auto, das langsam und unaufhaltsam auf einen Abgrund zurollt. Noch war da Ruhe. Noch war da Aufschub. Aber der Abgrund war bereits in Sichtweite.
Über mir hing das Jesuskreuz, seine Augen bohrten sich in mich, gekreuzigt, ernst, doch ich wich seinem Blick aus. Ich dachte an die Worte, die ich einmal in der Kirche gehört hatte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“
Die Worte klangen in mir nach, aber sie riefen nur Befangenheit hervor, als wären sie ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen Jesus und mir.
Neben dem Kreuz hing das Bild eines Weizens. „Unser tägliches Brot“ stand dort in verblasster Schrift.
Mit einer fast unbewussten Geste fuhr meine Hand zum Kreuz, das ich immer noch um den Hals trug. Es war nicht mehr nur ein Zeichen, es war ein Teil von mir, kalt und vertraut. Der feine Metallrand fühlte sich kühl an unter meinen Fingern. Ich drückte es fest.
Josef lehnte sich zurück, schwerfällig, sein Bierglas umklammert, während er vom letzten Winter erzählte. Einem Winter, der so hart gewesen war, dass er an den morschen Balken seines Hauses gerüttelt hatte, als wolle er es zu Boden reißen. „Die Ziegel, die Fassade … Wer soll das denn noch machen?“ Er schüttelte den Kopf, trank.
Draußen hatte die Dämmerung längst Besitz vom Himmel ergriffen, ein dunkles, samtenes Blau, das sich über die Felder legte wie ein schweres Tuch. Der Winter war hart gewesen – erbarmungslos wie die Zeit selbst. Und doch blühte der Frühling nun auf, als wäre nichts gewesen. Genau wie damals.
Zufälle, dachte ich, und verwarf den Gedanken sofort. Die Felder lagen da, als hätten sie das Vergangene längst verschluckt, als hätten Gras und Blüten alles überdeckt. Doch ich vergaß nie. Jeder Frühling war ein Geschenk. Oder eine Mahnung. Auf meinem Balkon ließen sich manchmal Vögel nieder, Spatzen, eine Amsel – sie sangen, frühmorgens, schrill und voller Leben. Jetzt war es still. Ihr Gesang war verstummt.
„Früher hab ich das alles noch selbst gemacht“, sagte Josef. „Jetzt bin ich froh, wenn meine Enkel helfen. Was selten genug passiert.“
„Josef, entschuldige“, sagte ich plötzlich, die Worte klangen hohl in meinen Ohren. „Ich muss kurz auf die Toilette.“
Ich stand auf, spürte das Zittern in den Knien, schlurfte durch den dämmrigen Flur. Ein kühler Luftzug rüttelte an den Fensterfugen. Ich blieb stehen, lauschte, als hoffte ich, irgendwo doch noch einen Vogel singen zu hören, aber da war natürlich nichts. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Und plötzlich wusste ich: Es war ein Fehler gewesen, ihn einzuladen. Manche Dinge sollte man ruhen lassen. Wenn sie es denn könnten.
Ich betätigte die Spülung, obwohl ich nicht gepinkelt hatte, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Im Spiegel starrte mir ein fremder Mann entgegen; eingefallen, blass, die Haut von den Jahreszeiten gezeichnet. Die Schatten unter den Augen erzählten von Nächten, die keinen Schlaf kannten. Von Träumen, die nie vergingen, egal wie oft man sie fortzuspülen versuchte.
Stell dich, flüsterte es in meinem Innern. Du weißt, dass du dich stellen musst. Bevor du stirbst, musst du es aussprechen. Sonst frisst es dich auf. Und Josef ebenso, sonst wäre er nicht gekommen.
Als ich zurückkehrte, war die Welt draußen dunkler geworden. Die fünfzehn Grad des Tages waren inzwischen auf sieben gesunken, der Wind fuhr durch die Schatten, als wolle er sie über die Felder treiben. Kein Vogel sang. Kaum ein Laut unterbrach die Stille. Ich musste nicht länger warten.
Josef saß noch immer an seinem Platz, das Glas in der Hand, der Blick wachsam. Seine Augen – jene kalten, klaren Raubvogelaugen – ruhten auf mir.
Stell dich, alter Mann, sagten sie. So wie ich mich auch stellen werde.
Es gab kein Zurück mehr. Wir stürzten der Vergangenheit entgegen wie ein Fallschirmspringer ohne Schirm. Und erneut mussten wir uns durch das Gestrüpp schlagen, das sich über Jahre vor unsere Erinnerungen gelegt hatte. Erst als Josef endlich das Wort ergriff, es wie einen Ast zur Seite bog, öffnete sich der Weg…
… und wir traten hindurch. Auf eine Lichtung. Weit, still, von wildem Grün nur spärlich bewachsen. Decker ging voraus. Obergefreiter Friedrich "Fritz" Decker, Jahrgang ’12, aus Osthessen. Er war der Ranghöchste unter uns – und der Älteste, mit der meisten Fronterfahrung. Schon beim Polenfeldzug war er dabei gewesen. Für Hannes, mich und viele andere war es das erste Gefecht.
Es war Ende Mai 1940. Der Befehl lautete „Tempo“, was nichts anderes als „Vorwärts“ bedeutete. Wir sollten schnellstmöglich die französischen Ardennen überqueren und der schnellen Bewegung der Truppen folgen. Mit Panzerdivisionen und motorisierten Kompanien ging es immer weiter in Richtung Paris. Der Blitzkrieg, der uns den Sieg über Polen beschert hatte, setzte sich fort, und die Euphorie war in der Truppe spürbar. Der Grabenkrieg, den unsere Väter oder Großväter noch erlebten, schien weit entfernt, als wir nun im strahlenden Glanz des neuen deutschen Krieges voranbrausten.
Doch nicht alle von uns waren in der ersten Reihe. Als Neulinge steckten wir oft in den Kolonnen fest, harrten aus in den Wäldern und warteten auf den Moment, wenn auch wir vorstoßen würden. Wir hörten von den Erfolgen: Sedan war gefallen, die Maas überquert, der Vormarsch nach Paris nur noch eine Frage der Zeit. Je länger wir warteten, desto mehr nagte die Angst an uns, dass wir nie die Gelegenheit bekämen, uns zu beweisen. Der Vormarsch kam nur langsam voran, während die Truppen nachrückten und die Nachschubwege gesichert werden mussten. Die Wälder und Dörfer wurden gesäubert, Partisanen abgewehrt und die Flanken geschützt. All die Aufgaben, die nicht in den glorifizierten Siegesgeschichten vorkamen, aber die wirkliche Arbeit des Krieges ausmachten.
Wir waren südlich von Sedan und die meisten Dörfer schienen längst von der Landkarte verschwunden. Der Wald, endlos und dicht, flüsterte Geschichten von jenen, die hier zuvor vorbeigezogen waren, doch die Spuren des Krieges waren nur in vereinzelten Abdrücken zu finden.: Munition, Einschlagskrater und haufenweise Müll. In wenigen Tagen sollten auch wir die Maas überqueren, doch der Vormarsch war mehr eine Schleichfahrt als ein Sturm. Die meiste Zeit fühlte es sich eher an wie ein endloser Wandertag, und nicht wie der Krieg, den wir uns vorgestellt hatten.
Gelegentlich, in den Gesprächen der Offiziere, fiel das Wort „Gegenangriff“, aber auch diese Drohung verpuffte schnell. Selten geschah etwas.
Ich erinnere mich noch, wie ich dann endlich geschossen habe, blind, fast feierlich, in eine Richtung, in der feindliche Stellungen vermutet wurden. Wahrscheinlich traf ich nichts. Ich war seit drei Wochen eingezogen, kaum das Stalagschild trocken, und nach all den Erwartungen plötzlich mittendrin: das Dröhnen der Artillerie, das rhythmische Rattern der MGs, das Geschrei, hektisch und schrill. Für einen Moment fühlte ich mich unsterblich. Wie ein Teil von etwas Größerem, das mich trug.
Wir waren ein zusammengewürfelter Haufen; eine wilde Mischung aus jungen Kerlen, die kaum wussten, wie man ein Gewehr richtig hielt, erwachsenen Männern, die zuvor Metzger oder Bänker gewesen waren, und alten Frontschweinen, die bereits vor mehr als zwanzig Jahren in Frankreich gekämpft hatten. Viele der Veteranen hatten sich inzwischen zu Befehlshabern hochgearbeitet, aber sicher nicht alle. Die Entwicklungen im vergangenen Jahr hatte uns in den Sog gezogen, wir wollten dabei sein, wollten unseren Platz in dieser Welle des Erfolges finden.
Die Ausbildung war kurz und bündig, schließlich hatten wir in der HJ bereits so einiges gelernt, was man unter „Kriegstauglichkeit“ verstand. Die Befehle waren klar und die Motivation schier unerschöpflich.
Wir wussten, dass die Franzosen überrumpelt worden waren, dass es geradezu fantastisch lief. Jedenfalls zog ich nicht mit der Vorstellung in die Ardennen, dort sterben zu müssen. Im Gegenteil, ich glaubte fest an das, was uns über Jahre eingetrichtert worden war: dass wir überlegen waren. Härter. Zäher.
An jenem Tag, als der Kampf losbrach, war ich voll und ganz davon überzeugt, glaubte es mit jeder Faser meines Körpers, als ich das MG hochriss und blind ins Unterholz feuerte. Der Gedanke an Tod oder Rückzug kam mir nicht in den Sinn. Stattdessen dachte ich nur daran, dass wir gebraucht wurden, um den Sieg zu erringen, um die Geschichte zu schreiben. Wir, die Elite.
Und für einen Moment fühlte ich mich stark. Besser.
Dieses Gefühl sollte nicht lange anhalten. Ein schwerer Granateneinschlag – oder was auch immer es war – riss ein klaffendes Loch in die Welt um uns. Dann ein zweiter Einschlag, gefolgt von einem dritten. Jeder Aufprall war ohrenbetäubend. Einige Minuten lang schien es, als hätte man das Gehör verloren, als wäre alles nur noch ein wirres Rauschen und dumpfes Dröhnen.
Die Luft zerbarst, die Erde wölbte sich, als wolle sie alles und jeden verschlucken Die Schreie kippten. Das Johlen und Brüllen wurde jäh zu einem Kreischen, ein schrilles, irrsinniges Geschrei, das wie ein eisiger Nagel ins Herz stach. Kein Mut mehr, kein Rausch. Nur noch Angst. Nur noch das reine, nackte Entsetzen.
Der Geruch schlug mir entgegen wie eine Faust; aufgewühlte Erde, Metall, und etwas anderes, Vertrautes. Etwas vom Hof. Vom Schlachten. Wenn die Haut aufplatzte und der warme Fleischdunst in die kalte Morgenluft stieg. Süßlich und beizend. Ich schmeckte ihn im Hals, bekam ihn nicht mehr los.
Vor mir lag eine Waldlandschaft, die mehr an eine ausgebrannte Wüste erinnerte als an lebendiges Grün. Zerfetzte Baumstümpfe ragten wie abgebrochene Knochen aus dem Boden, dazwischen Krater, aufgerissen von Granaten. Die Natur selbst schien zu einem Zerrbild des Krieges geworden zu sein – entstellt, verbrannt, ohne jeden Trost.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich tote Menschen. Nicht aus der Ferne. Zerrissene Körper, explodierte Köpfe, Gliedmaßen, die wie weggeworfen im Dreck lagen, noch in feldgrauer Uniform. Noch warm. Blut und Innereien, dort verstreut, wo eben noch Leben herrschte.
Meine zitternden Finger tasteten nach dem Kreuz an meiner Brust, als suchten sie darin Halt. Gott im Himmel, dachte ich, das also ist der Krieg. Das ist es, wovon sie immer sprachen, wovon sie schwärmten.
Ich lief seitlich weg. Nicht vorwärts, nicht zurück, einfach nur weg, wie ein aufgeschrecktes Tier. Aus dem Rauch, aus der Hitze, aus dem Grauen hinaus. Hannes tauchte neben mir auf, schweigend, aber mit demselben Blick. Wir kannten uns seit der Schulzeit, wurden gemeinsam eingezogen, gemeinsam gedrillt und seitdem wichen wir einander nicht von der Seite. Er war mein Spiegel in all dem Irrsinn und jetzt war er mein Schatten.
Vor uns hetzte Decker, erstaunlich schnell für einen Mann, der schon zwei Verwundetenabzeichen trug. Ihm folgten drei weitere aus unserem Zug: Jakob Steinweg, schweigsam, kantig, trug das MG wie ein Kreuz. Josef Gruber, kaum älter als wir, mit roten Bäckchen und wachem Blick. Und Heinrich Schmied, ein stämmiger Ruhrpottler, der sonst jeden Satz mit einem Spruch beendete, jetzt stumm, die Augen weit.
Wir waren keine Einheit. Nur Versprengte. Abgetrennt vom Rest, fortgerissen von einer Welle, die wir nicht hatten kommen sehen. Der Rauch verschluckte, was hinter uns lag. Und was vor uns lag, wussten wir nicht.
Decker rief ohne sich umzudrehen: „Zum nächsten Dorf! Da treffen wir auf den Nachschub! Weiter!“ Und wir rannten. Fort von unserem Posten, hinein in etwas anderes. Etwas, das in den Schatten zwischen den Bäumen zu warten schien. Das Unterholz wurde dichter, das Vorankommen schwerfälliger. Zweige griffen nach unseren Uniformen, als wollten sie uns zum Bleiben zwingen. Wir schoben uns weiter, Schritt für Schritt, bis die Schreie und das ferne Dröhnen der Artillerie schließlich verklangen. Nur noch ein Wispern in der Ferne, wie das Echo eines Alptraums.
Mein Puls begann sich zu beruhigen, das Zittern in den Händen ließ langsam nach. Doch mein Rücken brannte, der Rucksack schien mit jedem Meter schwerer zu werden. Keiner sprach. Wir keuchten nur, kämpften uns durch die Äste wie durch Spinnweben, bis sich vor uns schließlich das Dickicht lichtete.
Schmied war der Erste, der etwas sagte. Er fluchte leise, trat auf einen morschen Ast und murmelte: „Ein Dreck ist das hier… Decker, wissen Sie, wo’s weitergeht?“
Feldwebel Friedrich Decker, der Mann, dem wir unser Leben anvertraut hatten, antwortete nicht sofort. Er trat ein paar Schritte vor, schirmte die Augen gegen das fahle Nachmittagslicht, das durch die Baumkronen fiel. Hier, kaum zwei Kilometer von einem Ort entfernt, an dem Männer zerrissen und verbrannt wurden, war die Welt schön – unverschämt schön, fast obszön. Ein schmaler Bach schlängelte sich gluckernd durch das Gelände, verschwand zwischen Moosen und Wurzeln, teilte sich in kleine Rinnsale, die sich weiter unten wieder zu einem klaren, ruhigen Strom vereinten.
Den Schlachten zum Trotz stand der Wald in voller Frühlingsblüte. In den Tagen zuvor waren wir an steilen Flusstälern vorbeigekommen, deren saftig-grüne Hänge uns in Staunen versetzte.
Das junge Laub der Buchen hatte längst ein saftiges Grün angenommen. Die Baumkronen schlossen sich über unseren Köpfen wie ein gewölbtes Dach, ließen die Sonnenstrahlen nur in schmalen Fäden zu Boden. Dort unten wucherten Farne und Brennnesseln. Zwischen den Wurzeln blühten Maiglöckchen, Löwenzahn und Gänseblümchen.
Ein Veilchenduft hing in der Luft, durchmischt mit dem herben Aroma von nassem Holz. Aus dem Dickicht klang das rhythmische Hämmern eines Spechts, begleitet vom leisen Rascheln kleiner Pfoten auf trockenem Laub.
Es war schön, ja – so schön, dass es wehtat. Und so lebendig, dass wir uns in unseren Uniformen wie Fremdkörper fühlten.
„Hier lang“, sagte Decker schließlich. Er deutete mit der flachen Hand auf einen schmalen Trampelpfad, der sich durch das Unterholz wand. „Richtung Norden. Irgendwo dort muss das nächste Dorf sein. Da treffen wir auf unsere Leute.“
Niemand widersprach. Wir sahen einander kurz an, schweigend, wie Kinder, die wussten, dass sie gerade gegen die Regeln verstießen. Dann folgten wir ihm. Einer nach dem anderen. Auf dem schmalen Pfad, halb ausgewaschen vom Regen der Vortage, besserte sich die Stimmung allmählich. Das Adrenalin in unseren Adern, vermischt mit der schneidenden Klarheit des Pervitin, begann sein Werk zu tun. Die Gesichter lockerten sich, die ersten Sprüche flogen durch die Reihen.
Josef, rotgesichtig und mit der Aufgekratztheit eines Jungen, der gerade erst entdeckt hatte, wozu er fähig war, prahlte: „Zwei Franzosen hab ich erwischt. Den einen direkt durch’n Helm. Weg war der Kopf.“
Schmied grölte, als hätte man ihm einen tollen Witz erzählt.
Hannes und ich fielen ein, redeten plötzlich durcheinander, als wäre ein Damm gebrochen aus dem die Worte nun unaufhaltsam rausströmten.
„Wahnsinn war das“, sagte Hannes und fuhr sich durch das feuchte Haar. „Ich bin mein halbes Magazin losgeworden, einfach draufgehalten.“
Ich nickte. Auch ich hatte geschossen. Vielleicht hatte ich getroffen. Vielleicht auch nicht. Aber für einen Moment hatte ich gespürt, wie das Herz mir bis in die Fingerspitzen schlug und es hatte sich gut angefühlt. Komisch, aber gut. Ich war jetzt Soldat.
Steinweg ging still neben uns her, die Augen auf den Boden gerichtet, als wäge er jeden Schritt. Decker – unser Feldwebel – hatte sich eine Zigarette angezündet, deren Rauch er gierig inhalierte. Er sagte nichts, warf uns aber ab und an einen Blick zu. Grimmig, wie ein Lehrer, der duldet, dass die Schüler im Unterricht flüstern, solange sie nicht zu laut werden. Es war offensichtlich, dass er zurück wollte, zurück ins Gefecht, zurück zur Ordnung, zur Struktur. Niemand sollte glauben, wir seien auf der Flucht. Wir waren nicht fahnenflüchtig, nur versprengt.
Der Wald lag vor uns wie auf einer Postkarte. Der Boden war weich, die Luft voller Erde und feuchtem Laub. Wenn nicht Krieg gewesen wäre, hätte man meinen können, wir seien auf einem Marsch durch das Bergische Land, irgendwann im Mai. Dann, ganz plötzlich, durchbrach ein hohes Piepsen das Rascheln des Waldes. Es kam von oben aus den Baumkronen. Ein Geräusch, das entfernt an Vogelgesang erinnerte, aber verzerrt, falsch, als würde jemand eine verstimmte Geige viel zu hektisch streichen.
Es war laut und eindringlich.
„Hört euch das an“, sagte Schmied und spuckte in das nasse Moos. „Nicht mal die Vögel können hier richtig singen.“
Er lachte dumpf.
„Die müssen’s erst lernen“, sagte Hannes.
Ich setzte nach, um nicht außen vor zu bleiben: „Na, das bringen wir ihnen schon bei.“
Da lachten sie alle. Sogar Steinweg lächelte.
Der Wind fuhr durch die hohen Wipfel, setzte sie in Bewegung. Und dann kam der Regen. Zuerst nur ein feiner Niesel, wie das Klopfen kleiner Finger auf unsere Helme. Als wir die letzten Bäume hinter uns ließen und das erste graue Ziegeldach in Sicht kam, wurde er stärker.
Das Dorf lag still, wie ausgestorben. Zwei Straßen, kaum mehr, gesäumt von krummen Fachwerkhäusern und verwitterten Ställen. Das kleine Dorf war eingebettet zwischen tiefen Schluchten und umgeben von endlosen Wäldern, die sich wie eine grüne Wand bis zum Horizont zogen. Kein Mensch, kein Laut. Auch keine deutschen Einheiten – keine Feldpost, keine Sanitäter, kein Posten mit dem Gewehr am Tor. Nur wir, der Regen und die Pflastersteine, die unter unseren Stiefeln klackerten.
Wir gingen weiter, ohne Plan und ohne Ziel. Und doch war da diese angespannte Bereitschaft in der Luft. Die dumpfe Erwartung, irgendetwas bewirken zu müssen. Decker schien gerade ansetzen zu wollen, um das weitere Vorgehen zu besprechen, als mir etwas auffiel. Neben uns stand ein düsteres Bauernhaus, das Dach mit Lücken übersät, die Ziegel moosbewachsen. Es wirkte verlassen und doch meinte ich im Fenster einen Schatten gesehen zu haben, eine Bewegung, kaum mehr als ein Flackern im Augenwinkel. Ich blinzelte, versuchte genauer hinzusehen.
„Da! Am Fenster!“, rief ich und zeigte auf den schiefen Schuppen, dessen Dach wie ein gekrümmter Rücken in den Regen hing. Der Holzzaun davor war zerfallen, das Tor ragte aus den Angeln.
„Ein Mann! Ich hab ihn gesehen!“
Decker zögerte keine Sekunde. Er ging mit schnellen Schritten auf das beschlagene Fenster zu, drückte sich an die Scheibe, spähte hinein – dann zog er den Karabiner von der Schulter und lud durch.
Wir wichen zurück, wie auf Kommando, suchten Deckung an der Hauswand. Im Innern des Schuppens erhob sich plötzlich Stimmengewirr, ein Schreien, heiser und unverständlich. Ich verstand kein Wort – mein Französisch war dürftig – aber selbst ohne Sprache war klar, was diese Rufe bedeuteten: Flehen. Panik. Plötzlich fragte ich mich, ob es überhaupt klug gewesen war, meine Beobachtung laut auszusprechen, aber ich wollte einfach irgendetwas beitragen. Wozu genau, wusste ich selbst nicht.
„Sortez là-bas!“, brüllte Decker in einer Sprache, die nur entfernt an Französisch erinnerte. Drinnen Stimmen, weiterhin flehend.
„Die holen wir da raus“, sagte er entschlossen, und wir folgten ihm zur Tür. Noch ehe jemand etwas sagen konnte, krachte sie unter einem Tritt in sich zusammen.
Drinnen war es finster, stickig, nach altem Gemüse und Moder roch es. Zwei Männer kauerten im Halbdunkel. Beide alt – an die sechzig, schätzte ich. Der eine war lang und ausgezerrt mit einem verkniffenen Ausdruck im Gesicht. Der andere war kleiner, stämmig, mit Halbglatze und Schnauzbart. Er trug ein kariertes Bauernhemd, das über dem Bauch spannte. Beide hatten die Arme in die Höhe gerissen, als wären sie festgenagelt worden.
Und doch wirkten sie, trotz ihrer Angst, irgendwie aufrecht.
Was hätten sie sagen können in diesem Moment? Welche Worte wählt man, wenn einem fremde, bewaffneter Männer gegenüberstehen; Soldaten, die die eigene Sprache kaum sprechen und noch weniger verstehen wollen?
„Partisanen“, knurrte Decker, fast wie ein Urteil.
„No. No. No.“, stammelten die beiden, wankten leicht auf ihren Beinen. Natürlich waren sie keine Partisanen. Sie wirkten wie Bauern, wie Männer, die ihr Leben lang mit Erde, Werkzeug und Vieh zu tun gehabt hatten.
„Juden!“, rief er ihnen entgegen. Doch wieder schüttelten sie heftig die Köpfe, sprachen durcheinander: „No! No! No!“
Wir zogen sie nach draußen, als seien sie Kriegsbeute.
Die Arme noch immer gehoben, stolperten sie in den Regen hinaus. Decker versuchte sich in einer Art Verhör, mischte seinen rauen Ton mit brüchigem Französisch. Die Männer antworteten, leise, zittrig. Wir verstanden kaum etwas.
Und doch folgten wir.
Aufgeregt, angespannt, auch verwirrt.
Warum nahmen wir sie mit? Zwei Zivilisten, zwei alte Männer, die sich kaum auf den Beinen halten konnten. Unbewaffnet. Was hatten wir vor? Warum zogen wir sie mit uns, als wären sie der Schlüssel zur Rückkehr in irgendeine Ordnung?
Vielleicht lag es daran, dass wir uns in gewisser Weise reinwaschen wollten – für unser Fernbleiben vom Gefecht, für unsere ziellose Flucht durch die Wälder. Vielleicht wollten wir etwas vorweisen, eine Tat, irgendein Zeichen dafür, dass wir noch immer Teil des Ganzen waren. Keine Deserteure, keine Feiglinge.
Etwas musste geschehen.
Etwas, das man später rechtfertigen konnte.
Eine Zeit lang trieben wir die beiden Alten durch das verlassene Dorf, wie Vieh, das man nicht recht zu brauchen weiß. Dann verlangte Decker zu wissen, wo es etwas zu essen gebe, wo man trinken könne. Die Bauern zögerten, doch letztlich fügten sie sich wortlos, führten uns zu einer Hütte am Rand des Orts.
Drinnen sammelten wir uns in der Küche, einem düsteren Raum, der mehr nach Vergangenheit roch als nach Leben. Die Schränke hingen schief in den Angeln, der Boden war mit einer dicken Staubschicht bedeckt.
Ich hatte keinen Hunger – nicht wirklich –, aber jeder wusste, selbst wir Neulinge, dass Nahrung im Krieg mehr wog als Gold. König Midas hätte im Schützengraben seine Schätze getauscht, hätte er dafür ein Stück Brot bekommen.
Also durchstöberten wir die Regale. Was immer wir fanden, verschwand in unseren Taschen oder direkt in unseren Mündern: altes Brot, ein paar Eier, sogar gepökeltes Fleisch in einem Tuch. Ich sah, wie Steinweg sich mit versteinerter Miene eine Wurst in die Feldjacke stopfte.
Wir tranken Milch aus Blechbechern, die nach Metall schmeckte. Dann rief Schmied plötzlich aufgeregt:
„Na also – wusst’ ich’s doch! Wein! Vino!“
Er hatte ein paar Flaschen hinter einem Vorhang entdeckt, ordentlich gelagert in einem Korb – grüne Glasflaschen mit dunklem Rotwein darin. Ein Vorrat für bessere Tage, wahrscheinlich ein Rest der letzten Ernte.
„Bedient euch“, sagte Schmied grinsend, als wäre es ein Fest.
Wir taten es.
Tranken. Aßen. Füllten unsere Mägen und Taschen. Es war kein Gelage, nicht wirklich – zu still, zu angespannt war die Stimmung. Und doch war es der Moment, in dem wir etwas spürten, das vage an Genugtuung erinnerte.
Draußen war es inzwischen finster geworden. Uns war es kaum aufgefallen – wie oft sich der Himmel verfinsterte in jenen Tagen –, doch nun tobte ein regelrechter Sturm. Der Regen prasselte in dichten Schleiern herab, der Wind heulte durch die Bäume und aus der Ferne grollte es tief wie ein zorniger Riese. Dennoch drängte Decker mehrmals darauf, weiter zu gehen.
Ein Gewitter über dem Wald. Und jeder von uns wusste, was das bedeutete: keine sichere Richtung, kein Orientierungspunkt. Dafür tiefe Dunkelheit.
Schmied begann gerade wieder zu scherzen, irgendetwas mit dem Wein und den „neuen Freunden“, da fuhr Decker ihn scharf an: „Maul halten! Wir ziehen jetzt weiter. Durch den Wald, aber diesmal aus westlicher Richtung. Da müssen irgendwo unsere Truppen sein. Marsch!“
Er wirkte, als passe ihm die ganze Lage nicht im Geringsten. Wahrscheinlich war er überzeugt, dass, sollte es Ärger geben, er ihn mit voller Wucht zu spüren bekäme.
Also verließen wir die Hütte. Widerrede hätte nichts gebracht. Wir zogen los, zurück ins Dickicht. Der Wald war finster, feucht, unbarmherzig. Der Regen peitschte uns ins Gesicht, drang durch jede Naht unserer Uniformen. Die Bäume bogen sich im Wind, knarrten wie alte Holzdielen.
Die beiden Alten – unsere Gefangenen, obwohl wir das Wort nicht aussprachen – stolperten vor uns her, bar jeden Schutzes, die Arme noch immer über dem Kopf. Ihre Bewegungen waren steif geworden, fast mechanisch.
Der Weg führte uns tiefer in das Dunkel, das keine Richtung kannte. Kein Schuss, kein Rufen, keine Zeichen unserer Truppe – nur Wind, Regen, das Rauschen der Bäume wie ein ferner Applaus.
Decker wirkte entschlossen, doch ich zweifelte, dass er wirklich wusste, wohin wir marschierten. Die Ardennen sind groß, dachte ich, größer als unser Wille, sie zu durchqueren. Irgendwann würde uns das Wetter, nicht der Feind, den Rest geben.
Aber wir folgten. Immer weiter.
Mir war aufgefallen, dass Hannes still geworden war. Von seinem anfänglichen Elan war nichts geblieben – nur noch dieser Blick, müde, abwesend, irgendwo zwischen Resignation und Nachdenklichkeit. Hannes, der selbst aus einer Bauernfamilie stammte und bei den Großeltern aufgewachsen war, warf den Alten manchmal flüchtige, mitleidige Blicke zu – kaum merklich, aber sie waren da. Mehr wagte er nicht zu zeigen. Wir hatten hier nichts zu melden. Ich fühlte ähnlich, aber zwischen Gefühl und Handeln lag ein tiefer Graben.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich leise.
Er nickte rasch, fast zu heftig. „Scheiß Wetter, was?“
„Im Wald bei Sturm und Blitz… Das, mein Lieber, wird leider nichts.“, murmelte ich. Wir mussten lachen. Es war mehr Reflex als echter Humor.
„Oder wie ging dieses Sprichwort?“, setzte ich an, doch da unterbrach uns Steinwegs Stimme. Er hatte das Fernglas erhoben und klang plötzlich ungewohnt bestimmt.
„Herr Feldwebel“, sagte er und seine Stimme schnitt durch den Regen – ruhig, aber eindringlich. Wenn ein sonst so schweigsamer Kamerad das Wort ergriff, dann hörte man hin. „Das Donnergrollen kommt näher. Wir sollten einen Unterschlupf suchen. Dort drüben, ich glaube, ich sehe eine Hütte.“
Decker blickte ihn scharf an. Wenn einer von uns das gesagt hätte, hätte es vermutlich einen Rüffel gegeben. Aber Steinweg war in seinem Alter, wir vermuteten, die beiden kannten sich. Und er klang… vernünftig. Das war in diesem Moment mehr wert als jeder Rang.
„Sie haben recht. Führen Sie uns hin“, sagte Decker, laut gegen den Regen an. „Wir bleiben dort, bis das Unwetter vorbei ist.“ Dann fuhr er herum, seine Stimme wurde zum Befehl. „Und ihr zwei!“, brüllte er die Alten an. „Bewegt euren Arsch! Hände hoch! Allez! Allez!“
Die Gefangenen setzten sich eilig in Bewegung. Ein Wunder, dass ihre Arme noch nicht abgefallen waren. Sie hielten sie immer noch oben, zitternd, eingefroren in dieser Geste der Ohnmacht.
Die Hütte lag am Rand einer großen Scheune. Als wir sie erreichten, riss der Regen in Strömen an unseren Mänteln. Das Haus war leer. Kein Mensch. Kaum Möbel, kein Essen, nur Stille. Es wirkte, als hätte jemand es überstürzt verlassen. Trotzdem: Wir waren dankbar. Endlich Schutz. Endlich Ruhe.
Wir schlossen die Tür hinter uns, warfen unsere Rucksäcke und die Ausrüstung zu Boden. Drinnen war es wärmer, oder es kam uns so vor – vielleicht auch nur, weil der Regen draußen so kalt geworden war. Eine Pause. Endlich. Niemand sprach. Jeder atmete nur schwer und ließ sich tropfend nieder, wo Platz war.
Wie viele Kilometer lagen hinter uns? Niemand wusste es genau.
Es lag eine eigentümliche, trübselige Stimmung in der Hütte. Irgendetwas drückte auf uns – nicht greifbar, aber spürbar in der Luft. Der Frühling, draußen im Wald noch voller Leben, voller Farben und Vogelstimmen, schien hier drinnen plötzlich weit entfernt. Als hätte das Gewitter ihn ausgelöscht. Der Sturm tobte unbarmherzig gegen die Bretterwände, heulte in den Ritzen, als wolle er uns herauszerren.
Wir saßen im Halbdunkel, eng beisammen, wortlos. Der Blick richtete sich wie von selbst auf die beiden Alten, die nun am Boden hockten – erschöpft, durchnässt, verstummt. Ihre Augen flackerten nicht mehr, sondern blickten dumpf ins Nichts. Man musste kein Menschenfreund sein, um dabei ein Ziehen in der Brust zu verspüren.
Mit jeder Minute, die verstrich, wurde mir unbehaglicher. Es muss das Warten gewesen sein. Oder der Rotwein. Oder vielleicht… ich weiß es nicht. Jedenfalls machte ich den Fehler, aus dem Fenster zu sehen. Ich sah schattenhaft den Garten, wild, verwuchert, aber klar erkennbar als ein Ort, der einmal gepflegt worden war. Ich stellte mir Tiere darin vor, ein paar Hühner, eine Ziege. Und dann schlich sich der Gedanke an mein eigenes Zuhause ein. Das traf mich mit voller Wucht. Für einen Moment schien mir alles fremd, alles falsch. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken.
„Bin im Pott großgeworden. Oberhausen“, sagte Schmied plötzlich, als hätte er gespürt, dass Stille uns verschluckte. Er hatte die nächste Flasche Wein geöffnet und seine Stimme klang weich, fast heimatlich. „Hab unter Tage geschafft, wie mein Alter. Will aber irgendwann raus da. Was Eigenes machen. ’n Laden vielleicht.“
Die Flasche machte die Runde. Große Schlücke. Der Wein war herb, kräftig, und in dieser Hütte schmeckte er wie ein Geschenk. Decker sog ihn gierig hinunter, als hätte er jahrelang darauf gewartet. Bald schon wurde die zweite Flasche geöffnet. Draußen war es inzwischen stockfinster, der Regen trommelte unablässig auf das Dach, und Donner rollte wie ferne Kanonen durch die Nacht. An Aufbruch war nicht zu denken.
„Nicht schlecht, was?“ sagte Hannes und reichte mir erneut die Flasche. „Zwar nicht so gut wie unserer, aber man kann ihn trinken.“
Ich nahm sie entgegen und nickte. Vom Wein verstand ich herzlich wenig, seine Familie war im Weinbau groß geworden, ich nicht, aber wir hatten schon mehr als ein feuchtfröhliches Gelage miteinander bestritten.
„Über euren Wein, Hannes, geht eben nichts.“
Er lächelte.
Die Gespräche in der Gruppe, erst noch harmlos, kippten mit jedem Schluck Alkohol. Sie wurden gröber, lauter. Decker begann zu prahlen. Er erzählte mit glasigem Blick, wie er einem Polen die Kehle durchgeschnitten hatte, wie dieser an seinem eigenen Blut erstickt sei. „Hätte er bei mir genauso gemacht“, sagte er und grinste schief. „Im Krieg ist das so.“
Wir redeten alle plötzlich wie Helden, wie Männer aus Eisen. Jeder hatte eine Geschichte, ein Blutbad, einen Sieg. Und dann – ganz plötzlich – richtete sich der Blick auf die beiden Alten. Die Franzosen. Sie saßen noch immer da, klein, geduckt.
Der erste Schlag fiel fast beiläufig. Ich glaube, es war Josef. Der Bub, kaum älter als wir, der immer so eindringlich schaute. Eine flache Hand, direkt ins Gesicht des Dicken. Ein Klatschen, dann Stille. Hannes erstarrte neben mir. Wir sahen uns nicht an, wir wollten nichts sehen.
Dann kamen die Beleidigungen. Laut, schmutzig, wie losgelassen. Man redete sich in Rage. Von Informationen war die Rede, von „Verhören“. Es war ein Vorwand, nicht mehr.
Decker wirkte zuerst, als hielte er sich zurück, aber er lallte bereits, war sternhagelvoll. Als er schließlich dem Mann mit dem Schnauzer einen Tritt verpasste, war klar: Jetzt galt kein Anstand mehr. Keine Grenzen. Keine „Menschlichkeit“. Nur noch Krieg.
Das unwürdige Schauspiel zog sich hin, wie eine Farce, in der jeder wusste, dass sie längst entglitten war. Und dann riefen sie auch uns dazu. „Was’n los? Guckst nur blöd? Machst du nix dagegen, dass der ein Partisan ist?“, fauchte Josef – plötzlich frech, übermütig, aufgebläht vom Wein und der Gewalt.
Ich weiß nicht mehr, was ich mir in dem Moment dachte. Jedenfalls schlug ich zu, halbherzig, fahrig, traf den Dicken nur an der Wange. Trotzdem entwich ihm ein gepresster Laut. Hannes tat es mir gleich, wie in Trance. Ich versuchte, nicht zu denken, ließ den Rausch die Kontrolle übernehmen.
Decker hatte sich vor den Franzosen aufgebaut, als stünde er auf einer Bühne und wir seien das Publikum.
„Na, was meint ihr – Deutschland oder Frankreich, hein? Le grande nation! Sacré bleu!“
Er grinste breit, dann krachte seine Hand erst dem einen, dann dem anderen ins Gesicht. Die Ohrfeigen hallten wie Peitschenhiebe durch den Raum.
Die beiden Franzosen zuckten kaum, aber irgendetwas in ihrem Ausdruck hatte sich verändert. Weniger Angst, mehr gekränkter Stolz. Doch ließen sie die Blicke gesenkt, den Dreck auf dem Boden anstarrend, als läge dort das letzte bisschen Würde.
An der Wand hing ein schlichtes Holzkreuz, daran der gekreuzigte Jesus. Ganz so wie bei uns daheim über dem Küchentisch. Nur schien dieser Jesus mit enttäuschter Miene auf mich herabzublicken. War das alles nichts mehr wert, was man uns einst in der Sonntagsschule eingebläut hatte? Du sollst nicht töten. Du sollst nicht lügen. Von Nächstenliebe keine Spur, weder draußen im Wald noch hier in diesem dunklen Haus. Wenn das alles stimmte – wenn es einen Gott gab, der sah und rechnete? Dann ebnete ich mir gerade selbst den Weg ins Fegefeuer. Ich wandte den Blick ab vom Kreuz, als könne ich damit auch den Gedanken entkommen.
Trotzdem tastete ich kurz nach meinem eigenen Kreuz, nur um sicherzugehen, dass es noch da war.
Es waren doch Feinde, oder? Ihre Enkel hatten uns doch vorhin in einen Hinterhalt gelockt. Sie hatten Granaten in unsere Reihen geworfen. Meine Kameraden zerrissen, ihre Schreie noch im Ohr. Es musste also gerecht sein. Irgendwie. Doch während ich das dachte, fühlte ich es schon nicht mehr. Es waren Gedanken wie Abwehrmechanismen, die ständig kamen und gingen.
Später brachte uns Decker hinüber in die Scheune, die für die Nacht unser Quartier sein sollte. In einer Ecke fanden wir eine alte Petroleumlampe und zündeten sie an. Ein vertrauter, leicht stechender Ölgeruch breitete sich aus; der gleiche, den ich von Zuhause kannte. Das Licht flackerte sanft, warf zitternde Schatten an die Holzwände und tauchte die Scheune in einen warmen, unruhigen Schein. Viel sah man nicht, doch genug, um sich ein Bild zu machen: die Kameraden, die eingekauerten Franzosen, die knarrende Leiter zum Dachboden.
Die Scheune war ebenso alt wie das Haus. Aus grobem Fachwerk gezimmert, die Balken aus dem Holz der umliegenden Bäume geschnitzt. Der Boden war gestampfte Erde, stellenweise mit Heu bedeckt. Es roch nach trockenem Gras, altem Leder – und nach Tieren, die hier wohl noch vor kurzem gestanden hatten: Rinder, vielleicht ein Pferd. Der Duft hing noch in der Luft.
Lose Strohbündel lagen herum, aber ansonsten war der Schuppen leer – genug Platz für uns alle, wenn man zusammenrückte. Es war ruhig dort. Nur der Regen prasselte beständig an die Holzfassade. Für einen Moment wirkte sie wie ein Ort außerhalb der Zeit, fern vom Krieg.
Wir warfen das Heu in die Ecken, machten uns aus Rucksäcken und nassen Decken eine provisorische Matratze. Der Wein war längst alle, aber die Prügel gingen weiter. Die Alten kauerten sich zusammen, blieben stumm, gefangen unter den Dachsparren. Natürlich hatten wir sie mitgeschleppt. Aber wir verprügelten sie nicht im eigentlichen Sinne. Es war nicht der Schmerz, den wir ihnen zufügten, sondern das Spiel mit ihrer Würde. Eine Ohrfeige hier, eine gehässige Bemerkung dort. Es ging nicht darum, sie ernsthaft zu verletzen, sondern uns zu beweisen, wie hart und unbarmherzig wir waren. Wie unnahbar.
Irgendwann sagte Decker mit einem leichten Grinsen: „Genug jetzt. Den Dreck lassen wir für morgen.“ Und so ließen wir sie links liegen, wie nutzlos gewordenes Werkzeug.
Die Gespräche gingen weiter, grob, schmutzig, wie aufgedrehte Maschinen, die niemand mehr stoppen konnte. Und wir waren mittendrin. Ob man wollte oder nicht – man war immer mittendrin.
Draußen tobte der Regen, der Donner grollte tief und fern wie die Erinnerung an etwas Schreckliches. Mein Herz war schwer von Heimweh, aber ich zwang es nieder. Für Gefühle war hier kein Platz. Alles war fremd geworden, surreal, als lebte man einen Traum, aus dem man nicht mehr erwachte. Wir redeten über abgetrennte Köpfe, Heldenmut und Frauen, mit denen wir angeblich geschlafen hatten. Selbst Hannes legte einen Ton an den Tag, den ich so nicht von ihm kannte. Zwischendrin immer wieder das Lachen von Schmied. Dieses laute, hohle Gelächter.
Dann passierte es.
Einer der Alten – der stämmige mit dem Schnauzer – erhob sich langsam, murmelte etwas auf Französisch in Deckers Richtung. Wahrscheinlich wollte er nur austreten, ein Bedürfnis melden, irgendetwas Harmloses. Er sah müde aus, mit Schwellungen im Gesicht. Der andere Alte, bleich vor Angst, packte ihn am Arm, versuchte ihn zurückzuhalten. Eine Geste wie ein stummer Schrei. Aber er ließ sich nicht zurückhalten, sprach wieder einige Worte in Richtung Decker, der ihn nur fassungslos ansah, als wollte er sagen: Wie kannst DU es wagen, mich überhaupt anzusprechen.
Decker herrschte ihn an, sich gefälligst wieder hinzusetzen, doch der Mann ließ sich nicht beirren. Er redete weiter, mit erhobener Stimme, gestikulierte, doch keiner von uns verstand, was er eigentlich wollte. Dann verstummte er abrupt, stand nur noch da, mittendrin im dämmrigen Licht der Petroleumlampe. Keiner sagte etwas, doch die Luft schien zu knistern.
Und ausgerechnet Steinweg, der bis dahin kaum ein Wort gesagt hatte, stets im Schatten geblieben war – still, in sich gekehrt –, trat vor. Ohne Zorn. Ohne einen Laut. Er holte aus, und stieß das Metall seines Gewehrs mit brutaler Wucht in das Gesicht des Alten.
Ein hässliches, feuchtes Knacken. Wie eine überreife Frucht, die auf dem Asphalt zerplatzt. Der Körper sackte sofort in sich zusammen, fiel dumpf zu Boden. Er robbte sich kurz nach oben auf die Arme gestützt. Das Gesicht von dunkelrotem Blut überlaufen. Robbte etwas weiter und brach dann erneut zusammen. Regungslos.
Der andere Alte stieß einen schrillen Schrei aus. „Oh mon dieu!“
Ein einziger Ruf, der sich tief über Jahre in mein Innerstes brennen sollte. So voll von Schock und Angst.
Decker schrie etwas auf Französisch, undeutlich, Schmied lachte schrill auf, und im nächsten Moment brach die Menge in ein Gejohle aus, als hätte man soeben ein Fußballspiel gewonnen. Zwischen dem Lärm hörte ich Hannes feierliches Geschrei und erst da wurde mir bewusst, dass auch meine eigene Stimme durch den Raum hallte. Die Ekstase kam wie eine Lawine: nicht aufzuhalten, nicht zu erklären. Sie riss uns mit sich, einen nach dem anderen und schließlich auch den großen, hageren Franzosen.
Zuerst hatte er nur dagestanden, starr wie aus Stein, das Gesicht bleich und schmal, regungslos im flackernden Licht. Doch als unser Lärmen in ein Nachbeben überging, als wir einander ansahen wie nach einer Tat, die uns zu Helden gemacht hatte, da wanderte sein Blick zu dem blutverschmierten Gesicht seines Kameraden, der noch immer auf dem Boden lag, schief, wie eine Puppe, aus der das Leben langsam raussickerte.
Was dann geschah, war nicht Mut und nicht Idiotie; es war etwas Grundmenschliches, ein Aufbäumen gegen das Unabwendbare. Ohne jede Vorwarnung warf er sich zur Scheunentür, wild entschlossen, der Gewalt zu entkommen, hinein in das Gewitter, in das schützende Dunkel des Waldes, den er besser kannte als wir je würden.
Für einen Sekundenbruchteil war alles still. Wir standen wie angewurzelt, den Lärm noch in den Gliedern, aber unfähig, uns zu rühren. Er hatte bereits den Riegel erfasst, schob ihn zur Seite, zog das schwere Tor einen Spalt auf und der prasselnde Regen schlug wütend gegen die Bretter. Er war drauf und dran, sich durch die Öffnung ins Freie zu drücken.
Einige begannen zu lachen – wohl eher aus Unsicherheit. Aber es hätte wohl keinen wirklich gekümmert, wenn der Alte einfach in die Dunkelheit hinausgerannt und im Wald verschwunden wäre. Niemand rührte sich. Es war, als hätte man akzeptiert, ihn ziehen zu lassen.
Dann ein markerschütternder Knall.
Ich zuckte zusammen, hob instinktiv die Hände an die Ohren. Der Geruch von Pulverrauch schob sich in die Scheunenluft.
Der Franzose fiel lautlos zu Boden. Ein dunkles Loch klaffte in seinem Nacken. Dünner Rauch stieg daraus empor.
Josef stand noch mit erhobenem Karabiner 98k, die Schultern angespannt, die Hände zitternd. Kein Wort kam über seine Lippen. Nur dieser wache Raubvogelblick.
„Ach, Scheiße“, sagte Decker, nicht etwa wütend, eher zufrieden, beinahe vergnügt. „Keine Gefangenen töten, heißt’s. Zumindest nicht ohne Befehl. Aber gut, dass es Partisanen waren, die uns ans Leder wollten. Obendrein noch Juden! Und wir das alle bezeugen können. Nicht wahr, Männer?“
„Ich …“, stammelte Josef, „… ich dachte, der holt Verstärkung. Und wenn die kommen, sitzen wir hier wie auf dem Präsentierteller.“
Decker lallte leicht, seine Zunge schwer vom Wein.
„Klar ist jetzt nur eins: Den anderen müssen wir auch erledigen. Und dann raus mit den Leichen. Wer meldet sich?“
Stille.
„Ich mach’s“, sagte Schmied nach kurzem Zögern und trat einen Schritt vor. Doch das war nicht, worauf Decker hinauswollte. Ich wusste es, lange bevor er sprach. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
„Der Gruber hat sich ja schon bewährt“, säuselte Decker, schmeichelnd wie die Schlange im Garten Eden. „Wie steht’s mit den anderen Jünglingen?“
Sein Blick glitt durch die Runde – und dann sahen sie alle zu Hannes und mir.
Mein Herz rutschte mir so tief in die Hose, dass ich beinahe spürte, wie es in meinen Stiefeln klopfte. Ich bekam kaum Luft. Ihre Blicke waren fordernd, kalt, gleichgültig und doch voll Erwartung. Josef grinste. Kein Spott, eher Erleichterung: Er war raus.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen – vielleicht um zu protestieren, vielleicht um mich bereit zu erklären – doch da erklang Hannes’ Stimme, laut und fest:
„Ich mach das schon.“
Ungläubig starrte ich ihn an, meinen Freund, wie er vortrat, die Schultern gerade, den Blick leer. Ein Musterknabe, wie er im Buche stand; pflichtbewusst, gläubig, ein frommer Katholik und guter Sohn.
Decker klopfte ihm auf den Rücken wie einem Hund, der sich brav verhalten hatte.
Meine Knie wurden weich, als wir gemeinsam auf den Franzosen zugingen.
Er lag noch immer regungslos da, schwer atmend. Steinweg hatte ihm das Gesicht zerschlagen – die Nase, das Jochbein, wer weiß, was noch. Doch er lebte. Der Bauch hob und senkte sich langsam.
Ich betrachtete ihn. Ein kräftiger Mann, breite Schultern, grobe Hände – ein Arbeiter, circa sechzig Jahre alt. Ich musste an meinen Großvater denken, der heute Mittag irgendwo auf einem Feld gearbeitet hatte. Auch Bauer. Auch in Baumwollhemd und Stiefeln.
Am Ärmel war ein dicker Blutstreifen. Wahrscheinlich hatte er noch versucht, sich das Blut aus dem Gesicht zu wischen, ehe er das Bewusstsein verlor. Jetzt war eben jenes Gesicht nur noch eine starre, rote Maske.
Hannes stand über ihm, den Karabiner gespannt, den Blick noch immer leer.
Wenige Sekunden später zerriss ein einzelner Schuss die Luft.
Hannes hatte ihm mitten ins Gesicht geschossen. Mein Hannes.
Ich drehte mich noch weg, doch etwas Flüssiges traf mich, klatschte gegen den Stoff meiner Uniform. Blut. Hirnmasse. Ein Laut entrang sich mir, ein dünnes Wimmern, das zum Glück im Lärm unterging.
Verschwommen nahm ich die breiigen Überreste wahr, die nun am Boden klafften.
Keine Mimik mehr. Kein Mensch mehr. Nur noch ein leerer Körper.
Alles war auf einmal so schnell gegangen. Warum nur hatte ich meine Beobachtung überhaupt gemeldet?
Ich half Schmied beim „Entsorgen“. Ich musste helfen. Um dabei gewesen zu sein. Um kein Ziel zu sein.
Ich packte den schweren Körper bei den Handgelenken, zog ihn durch den Dreck wie einen Kartoffelsack. Und genau das – redete ich mir ein – war er: ein Sack Kartoffeln. Keine Leiche. Kein zerfetzter Kopf. Nur ein Sack.
Wie zu Hause. Auf dem Hof. Kartoffeln.
Aber ich sah wieder diesen Hemdsärmel. Diesen letzten, hilflosen Strich Blut. Das letzte, was er tat, als er noch lebte.
Ich war dankbar, dass es draußen regnete und dunkel war. Der Regen peitschte die Welt in Bewegung. Nichts war mehr deutlich zu erkennen.
„Komm, hier ums Eck“, rief Schmied. Ich folgte ihm, stapfte durch Schlamm und Pfützen. Wir wurden klatschnass.
Ein paar Meter hinter der Scheune tobte der Bach, angeschwollen vom Gewitter. Schmied hatte den schmächtigen Franzosen über die Schulter geworfen wie ein Tuch. Jetzt schleuderte er ihn achtlos ins Wasser. Der Körper schlug auf, rollte halb über den Rand, die Beine knallten ins Wasser und wurden vom Strom umspielt – nicht stark genug, ihn fortzureißen.
Ich zerrte den Dicken ans Ufer, ließ ihn der Länge nach ins Gras fallen, den Kopf nach unten, das Gesicht im Matsch. Zumindest die Überreste davon.
Dann rannten wir zurück zur Scheune.
Schmied schwieg ausnahmsweise. Und dafür war ich ihm unendlich dankbar.
Anschließend feierte niemand mehr. Auch das letzte überdrehte Geplapper war verstummt. Ein dumpfes Schweigen hatte sich über uns gelegt, schwerer noch als die nasse Wolle. Ich war froh, dass es vorbei war. Vorbei für heute.
Niemand sagte es, aber wir alle wollten nur noch schlafen, eingekesselt vom Grollen des Gewitters, das über dem Dach tobte. Ich wusste, so wie man weiß, dass Schnee kalt ist, dass dies erst der Anfang war. Mein Anfang.
Ich durfte es nicht zu nah an mich heranlassen. Nicht jetzt. Denn das hier – ob ich wollte oder nicht – war nun der Alltag. Die Pflicht, das Vaterland zu verteidigen, hieß es. Nicht schön, aber notwendig. Wir alle teilten dieses Los.
Ich dachte an Hannes. An seinen Blick. An die Stimme, mit der er sich gemeldet hatte. Ohne Zögern, ohne Bitten. Er hatte seinen Schatten überschritten. So hatte ich ihn mir nie vorgestellt. Ich verurteilte ihn. Und doch war da etwas in mir, das sich nicht verbannen ließ. Etwas wie Respekt. Oder die verstörende Erkenntnis, dass er getan hatte, was ich nicht vermocht hätte. Oder doch? Hätte ich es gekonnt? Würde ich es eines Tages auch tun?
Als das erste Schnarchen durch den Raum drang, nahm das Unwetter an Heftigkeit zu. Ich lag auf der Seite, drehte mich immer wieder, meine Uniform klamm, das Heu stachlig, der Körper wund.
Über mir, in einem der Dachsparren, klaffte ein faustgroßes Loch. Dort zischte der Wind hinein, heulte auf wie ein Wolf und immer wieder tröpfelte Regen durch die Öffnung. Ich streckte mich und lugte hinaus. Der Himmel zuckte in flammendem Licht. Wetterleuchten. Für einen Herzschlag war der Wald sichtbar, gleißend hell – und dann sah ich sie.
Die Leichen.
Kaum fünf Meter von uns entfernt.
Ich sah die Stiefel des Dicken, die noch im Gras lagen, genau dort, wo wir ihn hingeschleift hatten. Das Gesicht nach unten, der Körper schwer im Matsch.
Ich wandte mich ab, versuchte zu schlafen. Aber es ließ mich nicht los.
Ständig tauchten sie vor meinem inneren Auge auf, die beiden Alten, wie sie auf dem kalten Steinboden hockten, bleich und zusammengesunken, während wir sie durch das Haus trieben. Ich fragte mich, was meine Mutter wohl sagen würde, oder meine Großmutter, wenn sie sehen könnten, was ich hier tat.
Aber es ist Krieg, redete ich mir ein. Im Krieg ist das so.
Dann sah ich wieder die abgerissenen Gliedmaßen im Wald, wie sie in den Ästen hingen oder unter Matsch begraben waren. Der Schrei des einen, oh mon dieu, hallte noch immer in meinem Kopf, klang verzweifelt und erbärmlich. Das Blut des Mannes klebte nun am Lehmboden der Scheune.
Ich fragte mich, in welchem Verhältnis sie zueinanderstanden. Freunde? Nachbarn? Brüder? Sie sahen sich kaum ähnlich. Es spielte keine Rolle mehr. Jetzt waren sie tot.
Die Erschöpfung saß mir in den Knochen, schwer wie Blei. Und doch wollte der Schlaf nicht kommen.
Ein weiterer Blitz krachte irgendwo in der Nähe zu Boden. Der Donner war ein Riss, der durch mein Innerstes fuhr.
Ich lauschte in den Wald hinein. Irgendwo knackte ein Ast, leise, beinahe vorsichtig, als bewege sich dort etwas, das nicht gesehen werden wollte. ›Wer reitet so spät durch Nacht und Wind‹, schoss es mir durch den Kopf. Es klang nicht wie das hastige Huschen eines Tieres. Natürlich wusste ich, dass der Wald nachts nicht schläft, dass seine Bewohner dann erst richtig lebendig werden. Doch es ließ mich nicht los.
Warum auch immer, ich musste wieder hinaussehen. Nur ein letzter Blick. Nur um sicherzugehen.
Nichts. Nur Dunkelheit, regenschwer und undurchdringlich. Ich hielt den Atem an, den Blick in die Schwärze gerichtet. Ich wartete auf das nächste Aufflammen des Himmels. Als es schließlich kam – nicht nur einmal, sondern in schnellen, zuckenden Blitzen – legten fahle Lichter das Gelände bloß.
Es war, als hätte ich nur darauf gewartet.
War es mein Verstand, der sich abwandte? Der Glaube, der mich verließ?
Etwas jedenfalls wich von mir und ich wusste in diesem Moment, dass es nie zurückkehren würde.
Da war nichts mehr.
Keine Körper.
Die Stiefel – fort. Der Dicke – verschwunden.
Ich starrte auf die Stelle, an der er gelegen hatte. Nur nasses, niedergetretenes Gras.
Dann wieder Dunkelheit.
Das Rauschen des Baches, das an Fahrt aufgenommen hatte.
Mein Herz hämmerte so laut, dass es mir schien, als müsse jeder davon erwachen. Ich griff nach dem kleinen Kreuz, das ich um den Hals trug. Kalt war es, wie tot.
Noch ehe ich begreifen konnte, was geschah, zuckte ein weiterer Blitz über den Himmel.
Und da stand er.
Der Bauer. Aufrecht. Mit dem Rücken zu mir. Das Hemd klebte an seinem breiten Rücken, vom Regen durchtränkt.
Daneben der andere Alte. Reglos.
Sie bewegten sich nicht, blickten nicht zurück.
Ich sah sie. Für einen Moment nur – verschwommen im silbrigen Licht, geisterhaft. Aber ich sah sie.
Oder?
War es nur mein Verstand, der mir einen Streich spielte?
Ich wusste, was ich gesehen hatte: Zwei Männer, wo vorher Tote gelegen hatten.
Und der schwere Körper des Bauern – er war fort. Spurlos.
Dunkelheit.
Ich schrie. Versuchte, es zurückzuhalten, aber es brach aus mir heraus, heiser, kreischend, kindlich. Ich hatte keine Kontrolle mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich völlig in Panik.
Die anderen fuhren auf.
„Hey! Was ist denn da los?“, brummte Decker, schlaftrunken und genervt.
„Was soll denn der Scheiß?“
„Sie … sie sind da draußen!“, stammelte ich. Ich zitterte. Hatte aufgehört zu schreien. Presste mein Gesicht wieder an das Loch. Aber jetzt war es zu dunkel. Nichts mehr zu sehen.
„Wer ist da draußen?“, fragte Josef.
„Die Toten“, sagte ich.
„Ja klar. Wo sollen se auch sonst sein?“, kicherte Schmied.
„Ich glaub, der Jüngling hat heute ein bisschen viel gesehen.“
„Beruhig dich!“, schnauzte Decker. „Ich will schlafen. Wenn du weiter rumheulst, mach ich morgen Meldung, verstanden?“
„Sie sind wirklich da …“, flüsterte ich. Meine Stimme zitterte noch immer.
„Man, jetzt halt endlich—“
„Vielleicht sind Partisanen da.“, unterbrach ihn Steinweg. „Hier leben noch andere Leute in der Gegend. Soldaten, Widerstandskämpfer, wer weiß. Und die Schüsse waren laut genug. Draußen liegen die Leichen für jeden sichtbar.“
Die Stimmung kippte. Plötzlich war jeder wieder hellwach.
Wir wussten alle: Diese Scheune war kein Ort, um sich zu verteidigen. Nicht gegen Partisanen. Nicht gegen irgendwen.
Aber ich wusste etwas anderes.
Was ich gesehen hatte, das waren keine Partisanen.
„Wen hast du gesehen?“, zischte Decker. „Wie viele waren es? Hatten sie Waffen?“
„Zwei“, antwortete ich. „Ich glaube nicht, dass sie bewaffnet waren.“
Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich.
„Ruhe!“, befahl Decker. „Ich will hören, ob draußen was ist. Und ihr hört mit!“
Wir lauschten.
Nur Regen. Das ferne Grollen eines Donners.
Ich stellte mich schon auf eine Tracht Prügel ein.
Dann sagte Hannes, leise, ruhig, das Ohr nahe am Scheunentor:
„Ich hab was gehört. Äste sind gebrochen. Da draußen schleicht jemand herum.“
Mir jagte es eiskalt über den Rücken. Jeder Muskel war gespannt.
„Zuhören!“, bellte Decker mit einer Schärfe in der Stimme, die selbst dem Regen kurz Einhalt zu gebieten schien. „Weg vom Eingang. Links einer, rechts einer. Der Rest in die Mitte. Niemand feuert, bevor ich den Befehl gebe!“
Dann trat er an die offene Tür, sein Karabiner halb erhoben, und brüllte hinaus in die Nacht: „Wenn da draußen jemand ist – verschwinden! Sofort! Oder wir töten euch. Mort aux Partisans!“
Ein Donnergrollen antwortete, aber kein Laut aus dem Wald. Minuten zogen sich wie Stunden. Wir hielten die Position, klamme Finger am Abzug, Dunkelheit im Blick. Nichts bewegte sich.
„Wenn da draußen niemand ist – ich schwör’s euch – dann tret’ ich euch Jünglingen morgen so in den Arsch, dass ihr euch nach dem Heimatschutz sehnt“, murmelte Decker.
„Da ist jemand“, sagte Steinweg plötzlich. Leise, fast beiläufig. „Ich hab es auch gehört.“
Und wieder: Schweigen. Nur der Regen, der unermüdlich auf das Dach der Scheune trommelte, das ferne Grollen des Donners – und darunter etwas, das nicht in diese Ordnung gehörte. Ein Knacken, zu gleichmäßig, zu gezielt. Kein Tier trat so bedacht auf. Der Wald atmete anders. Lauter. Wachsamer.
Die Luft war elektrisch geladen, gespannt wie ein Draht, der jeden Moment reißen konnte. Selbst die Älteren, die sonst nur über unsere Nervosität lächelten, hatten ihre Köpfe gesenkt und starrten ins Dunkel. Ich spürte, wie sich meine Gedanken lösten, wie ich in einen Abgrund gezogen wurde, einen, der nicht einfach nur schwarz war, sondern ein eigenes Bewusstsein zu haben schien.
Jemand war da draußen. Ganz in der Nähe. Jemand, der nicht nur zufällig vorbeistrich, sondern uns suchte. Oder schon längst gefunden hatte.
Ein leises Knarren, kaum mehr als ein Hauch und doch schnitt es durch die Stille wie ein Messer durch Stoff. Das große Tor bewegte sich. Nur einen Fingerbreit. Vielleicht der Wind, sagte etwas in mir. Aber der Wind fragte nicht vorher. Der Wind tastete nicht mit kalten, zielgerichteten Fingern an einem Riegel entlang.
Ich hielt den Atem an. Für den Bruchteil eines Moments glaubte ich, es gespürt zu haben – wie etwas draußen stand. So nah, dass nur ein Hauch ausgereicht hätte, um es hereinzulassen. Etwas, das längst wusste, wer wir waren. Und das Geduld hatte.
Das Knarren verstummte – nur für einen Atemzug –, dann hörte ich es erneut, klarer diesmal, langsamer, wie das Öffnen eines alten Sarges. Das große Scheunentor bewegte sich weiter, lautlos fast, aber nicht zufällig. Der Spalt wurde breiter.
Neben mir atmete jemand flach und schnell. Jemand anderes presste ein Gebet durch die Zähne. Ich wollte schreien: Schließt das Tor!, aber mein Körper war wie gelähmt.
Zuerst sah ich nur Dunkelheit. Dann ein Umriss. Viel zu still. Viel zu lang. Jemand, oder etwas, ragte dort in den Spalt.
„Habt ihr das gesehen?“, flüsterte Hannes neben mir, aber niemand antwortete. Dann, als hätte es die Worte gehört, zog sich die Gestalt zurück – nur, um im nächsten Moment auf der anderen Seite des Tores wieder aufzutauchen. Jetzt ein zweiter Schatten, reglos, tiefschwarz gegen das fahle Grau der Nacht.
Sie kamen nicht stürmend. Sie drangen nicht ein wie Feinde auf dem Schlachtfeld. Wie Nebel, der durch Ritzen kriecht, sickerten sie in die Scheune
Es knirschte leise, wie gebrochene Eierschalen unter nackten Sohlen. Und dann – ein Laut. Ein Flüstern, wie Stimmen, die durch Wasser gesprochen wurden.
Wir sahen einander an. Ich spürte, wie sich in mir eine Kälte ausbreitete, die nichts mit dem Regen zu tun hatte.
Die Schatten standen nun schweigend in der Scheune. Wartend.
Dann brach das Chaos los.
Decker schrie. Kein Befehlston mehr, kein Funken Autorität. Nur nackte Panik. Seine Stimme überschlug sich, gequält, hilflos.
Auch ich schrie, ohne zu wissen warum, bloß weil alle schrien, weil es unmöglich war, nicht zu schreien. Die Panik zuckte wie ein Stromschlag durch die Scheune. Gewehrläufe rissen umher wie zuckende Glieder. Noch schoss niemand. Noch hielt irgendein Rest an Vernunft.
Aber wir waren blind. Gefangen in der Scheune. Das Licht der Petroleumlampe war schwach. Nur das irrsinnige Wetterleuchten, das uns sekundenlang unsere Gesichter zeigte – entfremdet, fahl, mit Angst in den Augen.
Und die Gestalten, die hereinkamen – sie schwiegen noch immer.
Ich glaubte das Schlurfen ihrer Glieder zu hören. Nicht wie Schritte, mehr ein dumpfes, rhythmisches Schleifen. Als zöge jemand einen Sack Kartoffeln über den Heuboden.
Dann riss plötzlich Steinweg die Stille in Stücke:
„Da! Da sind sie!“ schrie er.
Doch das war nicht die ruhige, kontrollierte Stimme, die wir kannten. Sie war hoch, brüchig, irre.
Dann – zu unser aller Entsetzen – begann er zu lachen. Ein kurzes, kehliges Lachen, das abrupt im Würgen erstickte. Sein Gewehr zitterte in den Händen. Er zielte nicht, er ruderte damit, wie ein Ertrinkender mit einem Ast.
„Nicht schießen!“, rief Hannes.
Er war jetzt der Einzige, der noch bei Verstand schien. Die Worte kamen ruhig. Kein Bitten – ein Befehl.
Aber es war zu spät.
Ein grelles Wetterleuchten –
Gesichter wie Totenmasken.
Münder offen. Augen weit.
Nur Hannes wirkte lebendig.
Decker krümmte sich, als hätte ihn etwas Unsichtbares gepackt.
„Ahh! Oh mein grundgütiger Gott… mein… mein grundgütiger...“
Ich wusste, was er sah. Oder glaubte zu sehen.
Ich ließ meinen Karabiner ins Stroh fallen. Mein Körper hatte schneller entschieden als mein Verstand.
Ich stand halb verborgen, links in der Ecke nahe dem Eingang. Der Tumult wütete jenseits der Scheune, auf der anderen Seite, wie ein Sturm, der dort erst richtig geboren wurde.
„Grundgütiger!“, kreischte Decker – und dann krachte der erste Schuss.
Wie ein Stein, der das Wasser bricht, folgte eine Kette aus Detonationen, wild, ziellos. Kein Feuergefecht. Ein Massaker der Angst.
Schüsse. Schreie. Entsetzen.
Stimmen brachen, überschlugen sich, verreckten in den Mündern.
„Aufhören!“ – Hannes, immer noch.
Aber es war, als brüllte er gegen einen Orkan.
Ich drängte mich an der Wand entlang, das Gesicht verzogen in Erwartung eines Querschlägers. Alles in mir wollte nur noch raus. Fort. Fort aus dieser Finsternis. Dann zuckte wieder ein greller Blitz über den Himmel – und da stand er vor mir.
Der dicke Bauer. Mitten in der Scheune. Tropfend nass, seine Stiefel voller Schlamm. Der blutige Hemdsärmel leuchtete auf wie ein Mahnmal.
Für den Wimpernschlag einer Ewigkeit sah ich dorthin, wo einst sein Gesicht war.
Und ich sah den verbrannten Wald, die zerfetzten Gliedmaßen, den aufgerissenen Schlund der Erde – ein Ort jenseits der Gnade. Das Fegefeuer, dachte ich. Oder schlimmer noch: die Wahrheit.
Etwas so Entsetzliches, dass kein menschlicher Verstand es je unversehrt hätte begreifen können.
Vielleicht war ich in jenem Moment bereits so weit fort, wie ein Mann nur fort sein kann, ohne in Ketten gelegt zu werden. Wahnsinnig, ja – aber nicht blind. Denn was ich sah, stand da. Ich schwöre es.
Ein Fremder, der nicht zu uns gehörte – oder doch? Vielleicht nahm er einfach nur wieder den Platz ein, der ihm einst gehörte.
In diesem Augenblick, dieser unaushaltbar langen Sekunde, stand die Welt still. Ich wollte schreien, aber kein Laut kam heraus.
Die Dunkelheit schlug zurück, verschluckte ihn und mich beinahe mit.
Ich riss mich los, stolperte weiter. Josef stand wie versteinert am Eingang, das Gewehr in den Armen, aber ohne jede Regung. Ich stieß ihn an, drückte ihn hinaus in den Regen, bevor ich selbst hinausfiel – taumelnd, halb weinend, halb irrsinnig.
Und ich werde nie vergessen – nie, nicht in hundert Leben –, wie ich über die Schwelle stolperte, überzeugt, dass mich gleich die Hand des Bauern packen würde. Seine kalte, schmutzige, tote Hand. Dass sie mich zurückreißen würde in die Scheune, in dieses höllische Halbdunkel, in das Land der Toten.
Aber die Hand kam nicht.
Sie kam nie.
Doch das Gefühl, dass sie es doch noch tun könnte, dass sie hinter mir war, direkt hinter meinem Nacken, dieses Gefühl wurde mein Begleiter. Für den Rest meines Lebens. Denn im Traum... da kam sie. Immer wieder. Und zog mich zurück.
Wir rannten. Josef und ich. Weinend. Hysterisch. In die schwarze, zuckende Nacht hinaus. Ohne uns umzudrehen. Ohne Ziel. Durch das dichte Geäst, durch Sträucher und Dornen, die uns die Haut aufrissen. Das Gewitter über uns zerbarst in grellen Fontänen, aber es war uns egal. Der Schmerz, der Regen, alles gleichgültig. Hauptsache fort. Hauptsache lebendig.
Wir rannten, bis unsere Körper versagten. Ich glaubte nicht, dass wir eine Pause einlegten. Irgendwann, irgendwo, erreichten wir ein Dorf. Ich weiß nicht mehr, wie es hieß. Wir brachen einfach auf dem nassen Zement der Dorfstraße zusammen. Zwei durchnässte, halbbewusstlose Burschen, die Soldaten spielten. Die Leute aus dem Ort erschossen uns nicht.
Als ich die Augen wieder öffnete, war es Tag. Über uns das fahle Licht eines neuen Morgens, um uns herum graue Uniformen. Ein anderes Bataillon. Deutsche Soldaten, stumm, prüfend. Man brachte uns in ein Lazarett. Wir bluteten. Nicht schwer, aber genug, um auf einer Trage zu landen. Der Arzt murmelte etwas von „Erschöpfung“ und „Schock“. Josef schlief wie ein Toter.
Am Nachmittag traten zwei Männer an mein Feldbett. Offiziere. Der eine war Oberleutnant, trug eine sauber gebügelte Uniform mit blassgrünen Kragenspiegeln. Der andere war älter, ein Unteroffizier der Feldgendarmerie, mit kurzem grauen Haar und einer Nickelbrille, die er ständig ab- und wieder aufsetzte. Der Unteroffizier stellte keine Fragen, er schrieb einfach. Der Leutnant sprach mit kühler Stimme:
„Name? Einheit?“
Ich nannte beides, stockend.
„Berichten Sie, was vorgefallen ist.“
Ich sagte, dass eine Explosion uns von unserer Truppe getrennt habe. Dass wir versuchten, den Anschluss wiederzufinden, aber die Orientierung verloren. Dass wir in einem verlassenen Dorf Unterschlupf suchten. In einer Scheune. Dass wir in der Nacht von Partisanen überfallen wurden – und dass nur Josef und ich entkamen.
Der Leutnant hörte schweigend zu. Dann begann er mit Gegenfragen.
„Warum sind Sie so weit vom Sammelpunkt abgekommen?“
„Wir dachten… wir waren überzeugt, in die richtige Richtung zu marschieren.“
„Wie viele Angreifer in der Scheune?“
„Vielleicht zehn. Es war dunkel.“
„Welche Waffen?“
„Deutsche Karabiner.“
„Und wer hat zuerst geschossen?“
„Sie… sie haben sofort das Feuer eröffnet.“ Ich schluckte. „In der Scheune war Dunkelheit… Lärm… dann war nur noch Chaos.“
Er sah mich lange an. Kein Mitleid. Kein Zorn. Nur Abschätzung.
„Alle anderen Kameraden sind tot. Fünf Leichen. Keiner überlebt, außer Ihnen beiden.“
Ich versuchte, nicht zu zittern. „Sind… sind sie sicher, dass sie alle tot sind?“
„Sicher.“ Der Unteroffizier sprach zum ersten Mal. Seine Stimme war heiser. „Sie lagen verteilt in der Scheune. Erschossen. Teils mehrfach.“
Ich schwieg. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich dachte an Hannes. An den Schussregen. An das Gesicht, das keines mehr gewesen war. Und dann daran, wie der Bauer plötzlich wieder aufrecht vor mir stand. Oder hatte ich das nur gesehen, weil ich längst den Verstand verloren hatte?
„Wurden auch Partisanen gefunden?“ fragte ich leise.
„Darüber liegen mir keine Erkenntnisse vor. Es wurden vier gefallene deutsche Soldaten gemeldet – mehr nicht.“
Er sah mich eine Weile an, dann sagte er milder: „Keine Sorge, Junge. Wird schon kein Ärger geben. Ihr seid kaum zwanzig, was? Der Krieg hat Schlimmeres gesehen. Und was die Partisanen betrifft – die kriegen wir noch. So oder so.“
Dann legte er mir eine Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich fremd an. Hart, aber irgendwie… väterlich.
„Jetzt erholen Sie sich, Kamerad. Bald geht’s weiter an die Front. Paris wartet. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Kameraden wollen gerächt werden. Partisanen gehören vor das Standgericht, nicht wahr?“
„Jawohl“, sagte ich.
Er nickte. Dann gingen sie. Josef hatte ihnen offenbar eine ähnliche Geschichte erzählt. Ich konnte ihn nicht fragen, da wir uns nicht mehr wieder sahen. Jedenfalls wurde weiter nichts unternommen. Kein Verfahren. Kein Rapport. Kein weiteres Wort. Der Vorfall verschwand – wie so vieles in diesem Krieg – im Nebel aus Schweigen, Angst und Chaos.
Ob ich wollte oder nicht, meine Gedanken kreisten nur noch um jene Nacht. Und je länger ich darüber nachdachte, desto weniger wusste ich, was wirklich geschehen war. Irgendjemand war dort hineingekommen, da bin ich mir sicher. Nur wer – oder was – das war, das wollte ich lieber gar nicht so genau wissen. Auch wenn ich mich nie wirklich belügen konnte.
Letztlich kam ich zu der Überzeugung, dass unsere Kameraden sich in der Dunkelheit, geblendet von Angst und Wahnsinn, gegenseitig totgeschossen hatten. Im engen Bauch dieses Schuppens. Wären wir nur ein wenig länger geblieben, hätte es auch uns erwischt. Oder etwas anderes.
Wenig später wurde ich erneut an die Front beordert. Zunächst blieb ich noch eine Weile in Frankreich, das wir inzwischen vollständig unter Kontrolle gebracht hatten. Bei einem Gefecht südlich von Paris traf mich eine Kugel in den Oberschenkel. Abgefeuert von einem Partisanen, man stelle sich vor. Danach lag ich drei Monate im Heimatlazarett, ehe man mich wieder für einsatzfähig erklärte. Diesmal schickte man mich in den Süden auf den Balkan, in ein zerrissenes Gebiet. Dort waren die „Partisanen“ mehr Schatten als Menschen.
Das Ende des Krieges kam für mich, als mein Großvater starb. Mein Vater war schon kurz nach meiner Geburt an einer Sepsis gestorben – eine Spätfolge einer Verwundung im Ersten Weltkrieg, wie man mir später sagte. Als mein Großvater einem Herzinfarkt erlag, holte man mich zurück auf den Hof. Man brauchte kräftige Arme, um die Kartoffeln aus der Erde zu holen. 1944 wollten sie mich erneut einziehen, aber dazu kam es nicht mehr. Gott sei Dank.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich weinte, als der Brief kam.
Bitte, lieber Gott, sagte ich laut, lass mich nicht zurück in diese Hölle.
Für einen flüchtigen Moment trug ich sogar den Gedanken in mir, lieber selbst Schluss zu machen, als noch einmal den Fuß in den Krieg zu setzen.
Aber dann war da Christa; eine wunderbare Frau, stark, liebevoll, gütig.
Der Hof trug gut, das Leben war schlicht, aber lebbar. Und obwohl die Narben des Krieges nie ganz verheilten, hatte ich gelernt, mit ihnen zu leben.
Nur eines blieb mir unmöglich: zurückzugehen.
Ich sehe mich noch heute, wie ich dort saß, das Schreiben in der Hand, den Blick auf das Emblem der Wehrmacht gerichtet, jenes Eiserne Kreuz, das so vieles bedeckt hielt, was nie gesagt werden durfte.
Auch damals, wie könnte es anders sein …
… prasselte der Regen gegen das Fenster.
Josef starrte hinaus, als suchte er dort draußen etwas – oder jemanden –, den nur er sehen konnte.
Meine Augen brannten. Ich kämpfte gegen das Zittern in meiner Stimme, gegen den Kloß im Hals. Es war ein seltsames Gefühl, als wir so sprachen. Fremd und doch vertraut. Für einen Moment schien es, als wäre alles nie wirklich geschehen, zu fern, zu unwirklich. Aber je mehr wir voneinander erfuhren, je mehr Worte wir fanden für das Unaussprechliche, desto deutlicher wurden die Einzelheiten. Und schlimmer noch: Die Gefühle von damals kehrten zurück. Gefühle, die ich nie wieder so gespürt hatte. Roh. Ungefiltert. Wie aus einer aufgebrochenen Wunde.
Dann fragte Josef unvermittelt: „Was glaubst du… wer kam damals in die Scheune?“
Ich sah ihn lange an.
„Ich glaube, du weißt es“, sagte ich schließlich. Und schwieg.
Auch er schwieg. In seinen Augen lag ein fernes Glimmen, als trüge er ein Feuer in sich, das nie ganz erloschen war. Was in ihm vorging, was er all die Jahre mit sich herumtrug, das wusste nur er allein. Wie hätte ich aus seinem Blick Wahrheit lesen sollen? Er hatte sich, wie wir alle, ein eigenes Bild zurechtgelegt. Eines, das ihn durch die Jahre brachte. Vielleicht hatte er immer geglaubt, dass es Partisanen waren. Dass es Menschen gewesen waren. Und vielleicht war das ja auch die Wahrheit. Gott weiß es. Ich nicht.
Es gab nichts mehr zu sagen. Die Worte waren gesprochen, das Schweigen durchbrochen. Es war wie nach einem Gewitter: die Luft gereinigt, aber schwer. Wir sprachen noch kurz über Belangloses. Über alte Kameraden, Wetter, Arztbesuche. Nur damit es nicht merkwürdig war.
Josef stand schließlich auf. Gebrechlich. Zitternd. Der Regen hatte sich verdichtet, ein trüber Schleier vor dem Fenster. Ich erhob mich ebenfalls, steif vor innerer Spannung.
„Schaffst du’s denn heim bei dem Regen?“, fragte ich.
„Ja, keine Sorge“, sagte er und sah mir direkt in die Augen.
Er reichte mir die Hand. Ich nahm sie. Und da war wieder dieser Blick. Wach. Hart. Der alte Raubvogel, der kurz vor dem Abflug noch einmal prüfend spähte.
Dann fiel ein letztes Mal die Maske. Wir umarmten uns. Zitternd. Schluchzend. Zwei alte Männer, die am Ende ihres Lebens standen und dort etwas fanden, das nie ganz vergehen konnte.
Ich sah ihn an, sagte leise: „Was haben wir da nur gesehen, Josef? Was haben wir getan?“
Er hielt meinen Blick. Tränen liefen über seine eingefallenen Wangen.
„Wir sind Verräter, nicht wahr?“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Verräter? Das war es, was ihn all die Jahre beschäftigt hatte? Nicht der Tod, nicht der Schrecken, nicht das Unbegreifliche – sondern Verrat?
Daran hatte ich nie gedacht.
Mir stockte der Atem. Ich spürte, wie die Zeit erneut stillstand. Wie damals in der Scheune. Wir hatten so lange von einer anderen Vergangenheit gesprochen, einer, die wir uns zurechtgelegt hatten. Jetzt brach sie unter uns zusammen.
„Josef… wieso…“, begann ich. Aber es kam nichts mehr. Kein Wort.
Er nickte langsam. „Du“, sagte er mit bebender Stimme, „du hast mich zum Verräter gemacht.“
Dann lächelte er. Traurig und sanft. „Aber ich bin dir trotzdem dankbar.“
Er drückte meine Hand ein letztes Mal, dann drehte er sich um, stützte sich auf seinen Gehstock und humpelte davon. Wie ein Geist, der nur ein einziges Mal zurückgekehrt war, um etwas auszusprechen, das nur ein Verdammter aussprechen konnte. Der Regen und die Dunkelheit verschluckten ihn. Oder meine Erinnerung. Womöglich beides.
Ich blieb sitzen. Spürte eine tiefe Leere in mir. Ein Grollen kündigte Gewitter an und ich starrte lange ins Dunkel, wo sich Himmel und Erde vermischten.
Dann blickte ich auf das Kreuz über meinem Küchentisch. Ich vermochte nicht zu sagen, ob Jesus enttäuscht auf mich hinabsah. Womöglich schlief er nur. Ruhte, wie einst im Grab, bereit, erneut aufzuerstehen, wenn die Stunde kam. War es nicht Paulus, der schrieb: Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dann ist auch Christus nicht auferweckt worden? Und was, wenn er diesmal nicht aufersteht? Was, wenn es diesmal jemand anderes tut?
Wieder legte ich die Finger um das alte Kreuz an meinem Hals, strich darüber, als könnte ich es milde stimmen.
Ich schwor mir: Das war das letzte Mal, dass ich freiwillig dorthin zurückkehrte. Dorthin, wo die Vögel singen lernen.
Es war zu viel. Zu schwer.
In meinen Träumen und vielleicht auch bald in Wirklichkeit, würde die Hand wieder da sein. Sie würde mich finden. Diesmal endgültig.
Ein Verräter – das sah Josef in mir und er war nicht allein.
Ein Mörder – für die, die nie eine Stimme hatten.
Und für mich selbst? Ein Unschuldiger, wenn auch nur in der Geschichte, die ich mir erzählte, um weiterleben zu können.
So war ich durchs Leben gegangen, zwischen Widersprüchen, die sich weder greifen noch auflösen ließen, manche kaum bewusst, andere tief eingegraben, als gehörten sie eben dazu.
Draußen knackten die Äste im Unterholz. Der Regen trommelte unablässig auf die Welt herab und fern am Himmel wuchs der Donner wie ein drohender Gedanke, der näher rückte.
In jener Nacht lag ich lange wach und fragte mich, wohin sie mich ziehen wird, wenn sie mich eines Tages erwischt –
diese kalte Hand aus der Scheune.
Ich wusste es nicht. Aber ich ahnte es.
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