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Der seltsame Fall des Dr. Wilhelm von Anzengruber

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29.10.18 20:50
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt
Einst kannte ich einen ganz besonderen, um nicht zu sagen äußerst eigenwilligen Menschen, dessen Name Anzengruber lautete. Dr. Wilhelm von Anzengruber (in seiner Doktorarbeit setzte er sich mit der Frage auseinander, inwiefern es dem Menschen möglich ist, in die Naturgeschehnisse einzugreifen, einer Frage, die sein gesamtes restliches Schaffen prägen sollte) war die vollständige Anrede. Es steht mir zu, über das Leben und Schaffen dieses Mannes zu berichten, da ich mit ihm eng vertraut war und in intensivem Kontakt stand. Zumal ist meine Wenigkeit ebenfalls in den Geschehnissen involviert, von denen zu berichten mir sehr gelegen ist. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich, im Angesicht meines drohenden Todes (eine furchtbare und unheilbare Erkrankung des Nervensystems bemächtigte sich meiner und der Zahn der Zeit nagt an meinem Gemüt) das unstillbare Verlangen verspüre, endlich darzulegen, was damals wirklich geschah. Zu lange habe ich bereits geschwiegen und jetzt, da sich mein irdisches Dasein unaufhaltsam dem Ende entgegenneigt, gedenke ich meiner armen Seele Frieden zu verschaffen, sodass sie den Weg in das himmlische Reich zu finden in der Lage ist und der Herrgott sie offen zu empfangen bereit ist. Dementsprechend ist mir daran gelegen, die Ereignisse der Wahrheit entsprechend darzulegen, um neben der Sünde der lange anwährenden Verheimlichung meiner selbst nicht auch noch die schändliche Sünde der Lüge aufzuerlegen. Voraussichtlich wird dieses Schreiben das letzte sein, das von mir überliefert wird, denn ich spüre zusehends wie meine Kräfte schwinden. Wem auch immer es in die Hände fallen wird, so bitte ich diesen es der Nachwelt zu erhalten. Ich erhoffe mir dadurch, künftigen Generationen ein warnendes Beispiel zu sein, um somit zu verhindern, dass Fehler sich wiederholen. Lernet also aus meiner Geschichte und passt auf, nicht auf denselben fehlgeleiteten Wege zu gelangen, wie es meinem alten Freund unglücklicherweise widerfuhr.
Wir schreiben das Jahr 1809 des Herrn. Ich, Albert (den vollständigen Namen möchte ich aus Gründen des Schutzes meiner Familie nicht preisgeben), achtundzwanzigjährig, stand zu jener Zeit in der Blüte meines Lebens und dem Zenit meines Schaffens. An der Universität zu Göttingen widmete ich mich dem Studium der Theologie und erlernte darüber hinaus die hohe Kunst der Philosophie. Geprägt hatte mich vor allem die Lehre Immanuel Kants, den ich zutiefst bewunderte und der mir als Vorbild diente, meine eigene Philosophie zu verbreiten. Ich entsinne mich noch genaustens der unzähligen Stunden, die ich alleine in meinem stillen Kämmerlein zubrachte und schrieb als hinge mein Leben davon ab. Ich verfasste Abhandlungen, Biographien, Aufsätze und Reden und ordnete mein ganzes Leben der Arbeit unter. Aus diesem Grund nahm ich auch stets Abstand vom weiblichen Geschlecht. Ich befürchtete die sinnlichen Reize eines Weibes könnten meinen Verstand derart benebeln, dass ich zu wissenschaftlichem Arbeiten nicht länger in der Lage wäre und der Verführung durch die Sinne vollständig erläge. Stolz vermag ich aufrichtig von mir zu behaupten, dass mir dieses Unterfangen auch gelang, wenngleich es durchaus ein Mädchen gab, das mich derart verzückte, dass ich um ihretwillen tatsächlich von meinen strikten Prinzipien abgewichen wäre. Da diese Liebe jedoch einzig von Annäherungsversuchen meinerseits ausging, die zu keinem Zeitpunkt erwidert und gar abgelehnt wurden, blieb ich folglich alleine. Auf eine kurz anhaltende Periode des unerträglichsten Herzschmerzes folgte die großartige Erkenntnis, dass Gott mir einen großen Gefallen getan und fortan bedankte ich mich bei ihm in meinen Gebeten, dass er meine eigene Schwäche mit der vermeintlichen Herzenskälte eines Weibes ausglich und mich somit vor der Sünde der Fleischeslust bewahrte. Ich deutete dies Eingreifen Gottes als Zeichen dafür, dass mein Leben genau in der Art wie es war, fortzuführen wäre. Genau das tat ich auch, jedenfalls bis zu dem Tage, an dem mich eine überraschende Mittelung ereilte.
Ich, mittlerweile ein angesehener Geisteswissenschaftler, erhielt einen Brief von jemandem, der sich mir als ein gewisser Dr. Wilhelm von Anzengruber vorstellte. Augenblicklich überschlug sich das Herz in meiner Brust wie es bei jedem der Fall ist, wenn er auf einen altbekannten, jedoch fast schon in Vergessenheit geratenen Namen stößt. Die wohligsten Gefühle machten sich in mir breit als ich den Brief meines alten Freundes las. Er stellte sich zu Beginn kurz vor, da er befürchtete, ich habe ihn nach all den Jahren, in denen wir keinerlei Kontakt pflegten vergessen. Anzengruber und ich kannten uns bereits von Kindesbeinen an, da wir das gleiche Internat besuchten. Gemeinsam reiften wir zu Männer heran, unsere Wege trennten sich jedoch, als wir beide unterschiedlichen Studien nachgingen. Wie bereits erwähnt, widmete ich mich der Philosophie und Theologie, wohingegen mein Freund sich den Naturwissenschaften zuwandte, in denen er gar promovierte. Bedingt durch die fehlende räumliche Nähe verloren wir unglücklicherweise auch den Kontakt zueinander, denn was das Auge nicht sieht, das vergisst das Herz schnell. Dass er sich jedoch meiner erinnerte, erfüllte mein Herz mit tiefreichender und aufrichtigster Freude, wie sie einem Jüngling zuteil wird, dessen unsterbliche Liebe zu einem Mädchen auf Erwiderung stößt. Meine Glückseligkeit wich jedoch Furcht, als ich das Anliegen des Briefes gewahr wurde. Anzengruber teilte mir mit, dass er in einer überaus bedenklichen Verfassung des Gemüts wäre und dringend meiner Hilfe bedürfte. In seinen verzweifelsten Stunden entsann er sich meiner, der einzige Freund, den er je besaß. Inständig hoffe er, ich wäre ihm gegenüber nicht mit Gram erfüllt, da er so lange nichts hat von sich hören lassen und flehte mich wahrlich an, ihn so bald als möglich in seinem Heim aufzusuchen, wo er mir genaueres zu seiner misslichen Lage mitzuteilen gedenke. Zuletzt hinterließ er mir die Adresse seines Wohnorts (ich stellte fest, dass er sich mittlerweile in Frankfurt am Main niedergelassen hatte) und empfahl sich. Nachdem ich geendigt hatte, starrte ich beinahe eine ganze Stunde ins Leere. Vor meinem inneren Auge spielten sich all jene herrlichen Erinnerungen aus der Vergangenheit ab. Ich dachte an all die wunderschönen und einzigartigen Momente, die ich in der Kindheit mit meinem Freund erlebt. Ich dachte daran, wie wir gemeinsam gespielt, Schabernack getrieben und uns in das gleiche Mädchen verliebt hatten, vor dem wir jedoch, aus gegenseitigem Respekt voreinander beide Abstand genommen. Der Gedanke, wieder in Kontakt mit meinem langjährigen Freund zu treten, ließ mich ganz unruhig werden. Was mir dagegen sehr zu schaffen machte, war die Vorstellung, dass es ihm schlecht gehe. Ich fragte mich, was dem armen Manne nur so grausames widerfahren wäre. Ob er schwer erkrankt wäre? Oder vom unerträglichsten Herzschmerz gepeinigt? Die düstersten Fantasien malte ich mir aus, dachte daran, wie mein Freund aufs Elendigste zugrunde gehen könne, während ich nicht zur Stelle war und ihm keinerlei Beistand leistete. Dieser Gedanke war mir derart unerträglich, dass es keinerlei Überlegung bedurfte, ob ich nun nach Frankfurt reisen solle oder nicht. Noch am selben Tag packte ich meine Sachen und setzte mich in eine Kutsche, die mich nach Frankfurt brachte.
Je näher wir der Stadt am Main kamen, desto stärker wurde meine Sehnsucht nach Anzengruber. Tatsächlich ward es mir plötzlich unbegreiflich, wie ich derart lange ohne ihn hatte leben können. Ich vermisste ihn aufs Innigste und ihn wiederzusehen war alles, an das ich denken konnte. Selbst meine geliebte Arbeit rückte in diesen Stunden in den Hintergrund, da ich nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Unter allen Geschöpfen der Sonne sehnte ich mich einzig nach meinem alten Freund. Wie mochte er wohl aussehen? Hatte er sich im Laufe der Zeit merklich verändert oder war er noch so wie früher? Sicher war ich mir nur bezüglich seines Charakters. Er musste nach wie vor ein feiner Mensch sein, denn einen derart edlen Charakter vermochte nichts zu trüben.
Nach mehreren Tagen der anstrengenden Reise erreichten wir endlich Frankfurt und alsbald auch das Anwesen meines Freundes, eine prächtige Villa (er stammte aus einer wohlhabenden Familie und nachdem der Vater früh verstorben war, erbte mein Freund das gesamte Vermögen). Zu meiner Freude erwartete mich mein Freund bereits. Vor dem Eingange stehend winkte er mir freudig zu und eilte mir entgegen, als ich von der Kutsche stieg. Als er sich mir schnellen Schrittes näherte, wurde ich endlich nach ewiger Zeit des Wartens seiner ansichtig. Er war ein großgewachsener und breitschultriger Mann, der mich an Größe deutlich übertraf, äußerst vornehm in ein schwarzes Frack gekleidet, braunäugig, schwarzhaarig und prächtige Koteletten tragend. So sehr sich sein Äußeres auch gewandelt hatte, entsann ich mich dennoch der Gesichtszüge, die ihm nach wie vor zu eigen waren, was mich sehr erfreute. In dieser stattlichen Erscheinung erkannte ich tatsächlich meinen alten Freund wieder. Seinem Verhalten nach zu urteilen, erging es ihm ähnlich.
Sehr enthusiastisch, beinahe stürmisch fiel er mir in die Arme und begrüßte mich mit den wohligsten Worten des Empfangs, bevor er mich feierlich in sein Haus geleitete. Zwar erwiderte ich seine Freude über das Wiedersehen, fühlte mich von diesem Überschwang der Gefühle jedoch überwältigt, weshalb ich mich zunächst eher zurückhaltend zeigte, zumal ich nach wie vor nicht wusste, weshalb er mich so dringend sehen wollte. Erst als ich meinen Freund aus nächster Nähe sah, fiel mir auf, dass er recht blass war und sein Gesicht bereits einige Furchen und Falten aufwies, was ich auf den Stress zurückführte, dem ein derart erfolgreicher und angesehener Mann zweifelsohne ausgesetzt war.
Anzengruber führte mich in das Esszimmer wo wir beide uns gegenübersetzend Platz nahmen. Ich ließ meinen neugierigen Blick durch den Raum schweifen und staunte nicht schlecht ob der äußerst imposanten Architektur und geschmackvollen Einrichtung. Aus unseren gemeinsamen Jünglingsjahren war ich mir noch bewusst, dass mein Freund schon immer eine Vorliebe für den Barock hatte. Dementsprechend war sein Anwesen auch eingerichtet. Die Möbel sowie die prunkvolle, luxuriöse Kunst, die die Wände schmückte, stammte noch aus jener Zeit oder war zumindest in diesem Stile angefertigt. Des Weiteren wurde ich eines großen Bücherregals ansichtig, in welchem sich die wissenschaftlichen Werke, die sich in meines Freundes Besitz befanden nur so tummelten. Neben Grundlagen der Physik, Werken über die höhere Mathematik sowie einiger biologischer und chemischer Abhandlungen, bemerkte ich vor allem die zahlreichen Werke, die sich mit Themen wie der Erschaffung menschlichen Lebens sowie der Verhinderung des Todes auseinandersetzen, was ich den Titeln dieser Schriften entnahm. Den Wahrheitsgehalt dieser Bücher zweifelte ich jedoch stark an, glaubte ich als überzeugter Theologe und Philosoph doch nicht an etwas derartiges, da es doch alleine Gott obliegt, Leben zu erschaffen und den Tod herbeizuführen. Diesen Gedanken schob ich jedoch beiseite und schenkte meinem Gegenüber die vollste Aufmerksamkeit.
Nachdem mein Freund und ich einige Neuigkeiten ausgetauscht, indem wir dem anderen voller Inbrunst versicherten, wie sehr wir uns freuten den anderen wiederzusehen und uns gegenseitig von unserem beruflichen Werdegang und dem Leben im Allgemeinen berichtet hatten (ich erfuhr beispielsweise, dass Anzengruber es zum angesehenen Wissenschaftler gebracht hatte, er sich jedoch weitesgehend aus der Öffentlichkeit zurückzog, um sich seiner Arbeit zu widmen und daher auch kein Interesse am weiblichen Geschlecht zeigte und generell nur äußerst selten Menschen in sein Haus einlud), kamen wir endlich zu meines Freundes wahrem Anliegen. Meinem scharfen Blick entging nicht, dass Anzengruber sich alles andere als wohl fühlte, als ich das Thema ansprach und ihn bat, mir alles zu erklären. Nachdem er sich jedoch gefasst hatte, begann er mir Folgendes zu berichten:
Der einzige Mensch, zu dem er in all diesen Jahren ein enges Verhältnis aufgebaut hatte, war Johannes, sein fünf Jahre älterer Bruder, den er im Übrigen auch in seiner Unterkunft beherbergte. Einer unglücklichen Wendung des Schicksals wegen, ward dieser jedoch schwer erkrankt und folglich dem Tod überlassen. Ihn, Wilhelm, habe dies schwer zugesetzt und in eine tiefe Depression gestürzt. Johannes befand sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Bette im Untergeschoss des Anwesens und war nicht mehr ansprechbar. Es konnte sich also nur noch um Tage handeln, bis er endgültig dahinschied und nichts vermochte dies zu verhindern. Mein wissenschaftlich bewandelter Freund kümmerte sich vorbildlich um seinen über alles geliebten Bruder und suchte verzweifelt, ein Heilmittel herzustellen, jedoch bislang ohne Erfolg, was ihn die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit und allgemeinen Limitiertheit des Menschen drastisch vor Augen führte und nur noch tiefer in die Verzweiflung stürzte. In diesen schrecklichsten Stunden seines Lebens erhoffe sich mein Freund meines Beistandes und bedürfe meiner, um der Einsamkeit zu entkommen. Einzig mir könne er vertrauen und nur ich vermöge sein Leid zu lindern, war ich ihm doch stets ein treuer und ergebener Freund gewesen.
Nachdem er mit seinem Bericht geendigt hatte, brach Anzengruber in Tränen aus. Ich hielt ihn fest, suchte ihn aufzuheitern und vergoß selber die ein oder andere Träne, wobei ich ihm versprach, die nächste Zeit bei ihm zu verweilen und ihm Beistand versprach. Da es bereits spät war und ich ohnehin müde von der langen Reise war, beschlossen wir, uns schlafen zu legen, doch zuvor sahen wir noch nach Johannes, dessen Krankheit im Übrigen nicht ansteckend war. Wilhelm führte mich die Treppen hinunter und öffnete eine schwere Tür. Wir betraten einen dunklen, jedoch durch den Kamin gut beheizten Raum. Die brennende Kerze in meines Freundes Hand diente uns als Lichtquelle. Wir näherten uns einem Bett in der eine furchtbar zugerichtete Gestalt lag. Ein völlig ausgemergeltes Gesicht, umgeben von einem Vorhang fettigen und schon ergrauten Haares. Die starren Augen, die denen eines Fisches glichen beobachten mich aufmerksam, zu sprechen war der Mann jedoch nicht mehr in der Lage. Mein Freund verabreichte dem Sterbenden Medikamente, die nur noch der Linderung der Schmerzen dienten und verabschiedete sich unter Tränen von ihm (dies pflegte er jeden Abend zu tun, da jeder Abend der letzte sein könnte, an dem er noch die Gelegenheit dazu hatte). Er wählte die herzzerreißensten Worte, die wiederzugeben ich mich nicht in der Lage sehe. Zu nahe ging mir diese Szene des absoluten Elends. Auch ich sprach kurz mit Johannes, stellte mich in wenigen Sätzen vor und verabschiedete mich sogleich wieder. Meine Intuition, auf die stets Verlass war, sagte mir, dass ich seiner jedenfalls lebendig nie wieder ansichtig würde. Nach wenigen Minuten verließen wir das Zimmer, der immer noch vollkommen aufgelöste Anzengruber geleitete mich in mein künftiges Schlafgemach und suchte anschließend das seinige auf. Ich verbrachte eine äußerst unruhige Nacht und fand kaum Schlaf.
Der nächste Morgen brachte die von mir bereits mit Schaudern erwartete Botschaft.  Johannes von Anzengruber war in der Nacht vom 25. auf den 26. April entschlafen. Meinem Freund ward das Herz gebrochen. Ich fand ihn in der Kammer seines Bruders auf, den Leichnam fest umarmend und die Haut des Verblichenen mit seinen Tränen benetzend. Nichts vermochte Wilhelm in diesen düsteren Momenten Trost zu spenden. Ich nahm ihn zwar in den Arm und versicherte ihm mein aufrichtigstes Beileid und betrauerte den Verlust, wobei ich auch darauf einging, dass die Seele des Verstorbenen nun endlich in Gott aufgehen und Frieden finden würde, doch Wilhelm schickte mich weg, da er der Ruhe bedurfte. Selbstverständlich akzeptierte ich dies und suchte erneut mein Gemach auf. In plötzlichem Nachdenken verfallen, setzte ich mich an den Schreibtisch, nahm etwas zum Schreiben in die Hand und nahm die Arbeit wieder auf. Die Konfrontation mit dem Tod hatte mich dazu bewegt, mich mit selbigem auseinanderzusetzen und lieferte mir einige philosophische Erkenntnisse, die aus der soeben gewonnen Erfahrung resultierten. Ausgiebig und mit äußerster Sorgfalt schrieb ich Zeile um Zeile, Seite um Seite und war schließlich derart in meinem Schaffen versunken, dass ich an nichts anderes mehr zu denken vermochte. Ich vergaß Zeit und Raum, den Ort an dem ich mich befand, sowie den Grund aus welchem ich mich hier befand. Der Verstand des Denkers funktioniert immer, selbst in den schrecklichsten Zeiten ist er noch in der Lage, sich der Vernunft zu bedienen und seinem gewohnten Arbeitsprozess nachzugehen. Besonders die furchtbaren Geschehnisse lieferten die herausragensten und philosophisch bedeutsamsten Erkenntnisse (vermutlich dienten selbige auch nur diesem Zweck).
Der Tod stellte das Zentrum meines Denkens dar. Ich dachte über ihn nach, sowie dessen Sinn und Bedeutung. Der Tod, so schrecklich er auch für Außenstehende erscheinen mag, kann sicherlich nicht von derartiger Gefahr sein. Er ist ein natürlicher Bestandteil des Lebens und er wird früher oder später jedes irdische Lebewesen ereilen, da in der materiellen Welt alles dem Verfall unterliegt. Im Krankheitsfalle (wie bei Johannes von Anzengruber) stellt er vielmehr Erlösung, denn Bestrafung dar. Letzteres war der Tod ohnehin nur für diejenigen, die ihr Leben verschwendet und ihre Veranlagungen nicht genutzt haben. Wer dagegen das Leben in all seinen Zügen genossen hat und auch aus schwierigen Zeiten gestärkt hervorgegangen ist, der hat bereits den Sieg davongetragen und somit auch den Tod nicht zu fürchten. Der Tod geht mit dem Aufgehen in Gott einher und ist zwar einerseits das Ende des irdischen Lebens, andererseits jedoch der Übergang in eine bessere Welt, das Reich des Himmels. In unserer materiellen Welt sehen wir nur den Vorhang. Unsere Realität, da sie an die Wahrnehmung unserer Sinne untrennbar gebunden ist und folglich nur in unserem Kopf, unserem Bewusstsein entsteht, stellt keineswegs die Wirklichkeit, die Wahrheit dar, sondern nur eine Scheinwelt. Erst der Tod ermöglicht uns den Übergang in die Welt der Ideen, die Welt des realen. Nach unserem Ableben öffnet sich der Vorhang und wir sehen die eigentliche Bühne, das eigentliche Schauspiel. Dann werden wir der Sinnlosigkeit unseres irdischen Lebens gewahr und uns wünschen, dass der Tod uns nicht schon viel früher ereilt hat. Doch trotz der Scheinhaftigkeit des Seins, der Sinnestäuschung, der wir tagtäglich ausgesetzt sind, ist unser irdisches Leben dennoch nicht ganz ohne Bedeutung auch wenn uns dies im Vergleich mit dem wahren, dem ewigen Leben im Jenseits durchaus so vorkommen mag. Schließlich werden wir im Hier und Jetzt auf das, was uns nach dem Tod erwartet vorbereitet. Leben heißt folglich, sterben lernen und sich auf den Tod vorbereiten. Außerdem lernen wir dadurch, dass Wahre vom Falschen zu unterscheiden, was die wichtigste Erkenntnis und den obersten Zweck dieses irdischen Lebens darstellt.
Diese Überlegungen stellten das Kernstück meiner Philosophie dar. Es folgten von mir herbeigezogene Gottesbeweise und stellte indem ich mich meines Verstandes bediente, logische Beweise an. Ich vermag nicht mit Genauigkeit zu sagen, wie lange ich mit meiner Arbeit beschäftigt war, doch es musste sich um viele Stunden handeln, denn ich wurde plötzlich gewahr, dass es draußen bereits dunkel war. Ich lehnte zurück, legte die Feder beiseite und begutachtete überaus zufrieden den sich vor mir befindenden Stapel von oben bis unten beschriebener Seiten. Ich war davon überzeugt, dass es sich bei dieser Abhandlung um das Beste handelte, das ich jemals verfasst hatte und freute mich bereits auf die Veröffentlichung. Gleichzeitig überkam mich jedoch auch das schlechte Gewissen und entsetzt wurde mir wieder bewusst, wo ich war und warum ich mich an diesem Ort befand. Ich dachte an meinen Freund, der doch vermutlich gerade jetzt dringend meiner seelischen und moralischen Unterstützung bedurfte, während ich mich den ganzen Tag in mein Gemach zurückgezogen hatte und mich auch noch an meinen Schriften ergötzte, die nur dadurch zustande kamen, dass meinem Freund ein tragisches Erlebnis widerfuhr. Ich schämte mich meiner kindlichen und unangebrachten Freude und eilte sofort in das Esszimmer, wo ich Anzengruber vermutete. Allerdings war dort niemand. Das gesamte Haus schien verlassen und mir wurde unwohl. Die Gemälde an der Wand schienen mich zu beobachten, ich konnte mich unmöglich ihrem tadelndem Blick entgehen. Eine zutiefst beängstigende Stille war vorherrschend. Es war wie auf einem Friedhof. Tödliche Stille, absolute Einsamkeit und Dunkelheit. Ich rief nach meinem Freund und bemerkte selbst die Furcht, die aus meiner schwachen Stimme hervorging. Keine Antwort. Langsam stieg ich die Treppen zum Untergeschoss hinunter. Die Stufen unter mir heulten unter meinem Gewicht und ich wurde das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden nicht los. Die Bilder an der Wand hatten Augen. Sie verfolgten mich, beobachteten mich auf Schritt und Tritt. Meine Anspannung steigerte sich bis ins Unermessliche, als ich vor der schweren Tür stand, hinter der in der vergangenen Nacht ein Mensch zu Tode gekommen war. Die Vorstellung, das Haus mit einer Leiche zu teilen, ängstigte mich nur noch mehr. Die Schweißperlen standen mir auf der Stirn und ich spürte mein Herz bis in den Hals pochen. Mit zittrigen Händen, öffnete ich vorsichtig die Tür und bereitete mich schon auf den grässlichsten Anblick meines Lebens vor. Direkt vor mir würde Johannes von Anzengruber stehen, von den Toten auferstanden, ein Messer in der Hand und sich auf mich, auf den Verräter seines Bruders stürzen und meinem elenden Leben ein jähes Ende bereiten. Langsam trat ich ein und hielt den Atem an. Doch nichts dergleichen geschah. Niemand befand sich in dem Raum. Das Bett war verwaist, der Leichnam wurde bereits davongetragen. Ich redete mir ein, wie töricht ich doch wäre, dass ich derlei Fantasien hege, wobei mir der mir so wichtige Verstand doch mitteilen müsse, dass es keine Gespenster gebe und für alles eine logische Erklärung vorhanden sei. Dennoch beruhigte mich dieser Gedanke keineswegs, denn ich hatte Wilhelm nach wie vor nicht ausfindig machen können und musste weiter nach ihm suchen. Ich rief ihn erneut und erhielt erneut keine Antwort. Plötzlich bemächtigte sich ein entsetzlicher Gedanke meiner. Was wäre, wenn mein Freund sich aus Verzweiflung das Leben genommen hatte? Womöglich hatte er sich irgendwo in der Wohnung erhängt oder vergiftet. Von Panik ergriffen eilte ich wieder die Treppen hinauf und ignorierte diesmal das unbehagliche Gefühl, das sich meines Inneren bemächtigte. Verzweifelt schrie ich immerfort meines Freundes Namen, betrat sämtliche Räume und suchte überall im Haus nach ihm. Alles erfolglos. Er war nirgends aufzufinden. Ich setzte mich in das Esszimmer und weinte leise, während ich mich bemühte, einen klaren Gedanken zu fassen. Wo konnte Anzengruber nur hin sein? Hatte er das Anwesen etwa verlassen und mich zurückgelassen, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen? Ist er etwa entführt worden? Hat er sich womöglich draußen etwas angetan? Und was hat er mit seines Bruders Leichnam angestellt? Warum befand sich dieser nicht mehr an dem erwarteten Platz? All jene Fragen quälten meinen Geist und ließen mir keine Ruhe. Ich bereute es zutiefst, meinen Freund nicht unter Beobachtung gehalten zu haben. Ich hätte ihn niemals alleine lassen dürfen, auch wenn er vehement darauf bestand. Was wenn er mich nur wegschickte, um sich das Leben zu nehmen? Von Schuldgefühlen geplagt, legte ich meinen Kopf auf den Tisch und wusste nicht mehr weiter. Tatsächlich war ich derart müde, dass ich beinahe sofort einschlief.
Es ist mir unmöglich zu sagen, wie lange ich geruht hatte. Jedenfalls kam es mir vor, wie eine Ewigkeit, bis ich schließlich von irgendetwas wachgerüttelt wurde. In meinem Schreck fiel ich vom Stuhl und stieß einen entsetzen Schrei aus. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich um sich und bemerkte zu meiner Erleichterung, dass es Anzengruber war, der mich weckte. In all seiner Pracht und Erhabenheit stand er vor mir, das Gesicht allerdings so blass wie der Mond und von noch mehr Falten durchzogen. Etwas irritiert fragte er mich, warum ich im Esszimmer geschlafen hatte. Ich erzählte ihm daraufhin von meiner verzweifelten Suche nach ihm und den Ängsten, die mich belasteten. Ich stellte ihm meinerseits die Frage, wo er die ganze Zeit über war. Meines Freundes Miene verdunkelte sich und er weigerte sich, mir darüber Auskunft zu geben. Dies teilte er mir mit einer unmissverständlichen Deutlichkeit mit, die jede weitere Nachfrage erübrigte. Er half mir schlussendlich auf die Beine und wir setzten uns zusammen, um uns zu unterhalten. Anzengruber bat mich, den Tod seines Bruders für mich zu behalten und niemandem davon zu berichten. Ich sagte, dass man sein Ableben zuständigen Behörden mitteilen müsse, sodass ihn niemand vermisse oder misstrauisch werde, doch diese Worte verärgerten meinen Freund zutiefst. Er brach in lautes Geschreih aus und teilte mir mit, dass ich zu schweigen habe, wenn am Leben zu bleiben mir lieb wäre. Dies ließ mich erschaudern und ich willigte ein. Anzengruber war stets ein sehr liebenswerter Mensch, weshalb es sehr schockierend für mich war, ihn in dieser Gemütsverfassung zu erleben. Nie zuvor hatte ich ihn derart zornig und aufgebracht erlebt, erst recht nicht gegen mich. Jedoch wurde ihm schnell bewusst, was er getan hatte und entschuldigte sich unter Tränen. Der Verlust habe so sehr an seinen Nerven genagt, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle habe. Ich zeigte natürlich Verständnis dafür, nahm ihn in den Arm und versprach, niemandem von des Johannes Tod zu berichten, wenngleich ich mich insgeheim nach dem Grund dieses seltsamen Verhaltens fragte. Im Anschluss unterhielten Anzengruber und ich uns eine ganze Weile. Stundenlang schwärmte er von seinem Bruder, was für ein intelligenter und moralischer Mensch er doch gewesen sei, wie sehr er ihn doch liebe und vermisse. Ich leistete meinem Freund den größtmöglichen moralischen Beistand, den zu liefern ich in der Lage war. Ich kann jedoch nicht leugnen, dass mir schon zu diesem Zeitpunkt das Verhalten meines Freundes äußerst suspekt vorkam. So versicherte er mir seine aufrichtigste Dankbarkeit und dankte Gott, dass es mich gäbe, ließ dies jedoch beinahe emotionslos verlauten. Die Kälte, die in seinem Blick lag, erschütterte mich bis ins Mark und selbst als er mich umarmte, fühlte es sich für mich so an, als würde er mich nur noch weiter von ihm wegstoßen. Ich schob dieses Verhalten auf seine angeschlagenen Nerven, auf den Schock, den es noch zu verarbeiten, sowie die unsägliche Trauer, die es noch zu überwinden galt. Dennoch trug all dies dazu bei, dass ich mich im Hause Anzengruber zusehends unwohl fühlte. Zudem war die ganze Nacht über nichts als sein Geheul zu hören, das mich vom Schlafen abhielt. Das Seufzen und Jammern ging durch das ganze Haus und hallte bedrohlich wider. Es erfüllte mich mittlerweile nicht mehr mit Mitleid, sondern nur noch mit Grauen und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dieses Haus so bald als möglich wieder zu verlassen und in heimische Gefilde zurückzukehren, wo ich meinem gewohnten Alltag wieder nachzugehen gedachte. Einzig das bei mir tief verwurzelte Gefühl der moralischen Verpflichtung und der Verantwortung hielten mich von diesem Vorhaben ab, da ich es nicht übers Herz bringen konnte, meinen Freund alleine zu lassen.
Die Tage wurden immer unerträglicher und sie zogen sich scheinbar endlos in die Länge. Die meiste Zeit über, waren Anzengruber und ich voneinader getrennt. Er wollte seine Ruhe haben und ich versuchte mich daher in die Arbeit zu flüchten, was mir jedoch nicht mehr gelang. Oftmals saßen wir beide nur schweigend nebeneinander vor dem Kamin und starrten in die lodernden Flammen, wobei ich jedoch den größtmöglichen Abstand zu meinem Freund hielt. Meistens sprach er kein einzig Wort, sondern war in die Lektüre seiner obskuren Bücher versunken, die ich bei meiner Ankunft, die mittlerweile schon Wochen zurücklag, bemerkt hatte. Seine aktuelle Lektüre stammte von einem Mann namens Satansbach und trug den Titel "Über die Macht Leben zu erschaffen". Anzengrubers Augen waren weit geöffnet und wie paralysiert saß er regungslos da und wandte seinen faszinierten Blick nicht von dem Buch ab. Als ich ihn auf den Inhalt des Buches ansprach, erhielt ich keine Antwort. Genaugenommen bedurfte ich auch keinerlei Auskunft, der Titel des Werkes verriet mir bereits alles, was ich wissen musste. Mich überkam eine entsetzliche Vorahnung, die auszusprechen ich nicht wagte. Stattdessen teilte ich meinem Freund meine Gedanken über den Tod mit, die ich in meiner kürzlich verfassten Abhandlung ausführlich dargelegt hatte. Ich berichtete, von der Notwendigkeit des Todes und dass es allein Gott obliegt, über Leben und Tod zu entscheiden und dass kein Mensch dieses Recht für sich beanspruchen dürfe, da es wider die Natur wäre und somit zutiefst moralisch verwerflich. Zudem argumentierte ich mit Immanuel Kant für den das moralisch richtige Handeln an oberster Stelle stehe. Ohne von seinem Buch aufzusehen, antwortete Anzengruber mit einem gleichgültigen und daher beängstigenden Ton in der Stimme, dass die Philosophen nicht allzu stolz auf ihren Verstand sein sollten. Dieser gehöre untrennbar zum Subjekt und stellt folglich nichts dar, was außerhalb seiner Selbst existiere. Daher würde er auch mit einem selbst zugrunde gehen. Er, Anzengruber suche jedoch nach Möglichkeiten, die eigene Existenz zu überdauern.
Die Mehrdeutigkeit dieser Aussage bereitete mir Unbehagen. Was meinte mein Freund nur damit, einen Weg zu finden, die eigene Existenz zu überdauern? Etwas zu erschaffen, wofür ihm der Ruhm der Nachwelt sicher wäre? Doch was könnte das nur sein? Oder strebte er die eigene irdische Unsterblichkeit an? Im Grunde wusste ich ganz genau, was er damit meinte, doch wollte ich es nicht wahrhaben. Zu entsetzlich war mir allein der Gedanke.
Ich fragte ihn erneut, wo sich Johannes Leiche befände und was mit ihr geschehen sei. Damit hatte ich etwas gesagt, was Wilhelm zutiefst traf. Er legte sein Buch beiseite, warf mir einen wütenden Blick zu und erhob sich. Sich vor mir aufbäumend sagte er, dass ich ihm zu viele Fragen stelle und mich aus seinen Angelegenheiten gefälligst heraushalten solle. Dann schickte er mich auf mein Zimmer, er wolle mich an diesem Tag nicht mehr sehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich diesem Wunsch zu beugen, befürchtete ich doch einen erneuten Wutausbruch meines Freundes, der, so war ich sicher, beim nächsten Mal für mich deutlich verherende Konsequenzen nach sich ziehen würde als der vorherige. Somit entschuldigte ich mich und schritt von dannen. Jedoch suchte ich noch nicht direkt mein Gemach auf, sondern blieb auf der Treppe kurz stehen, um einen Blick zurückzuwerfen. Schließlich war ich mir sicher, außer Sichtweite zu sein. Von meinem Versteck aus, beobachtete ich Anzengruber, wie er sich in seinem Sessel ausstreckte und seine Aufmerksamkeit wieder vollends der Lektüre widmete. Während er aufmerksam las, murmelte er vor sich und hielt wichtige Erkenntnisse in Form von Notizen fest. Nach einer Weile stieß er plötzlich einen Freudenschrei aus und sprang auf. Mit dem Buch unter dem Arm eilte er in eine dunkle Ecke des Raumes. Ich ging einige Stufen zurück nach unten, um dem Geschehen weiterhin folgen zu können. Überrascht stellte ich fest, dass Anzengruber sein Bücherregal zur Seite verschob. Dahinter offenbarte sich ein Geheimgang, den er nun betrat und eins mit der Dunkelheit wurde. Ich hatte nun keine Zweifel daran, dass dies der Ort war, an dem er sich zurückzog und wo er sich auch aufhielt, als er am Tage des Todes seines Bruders auf seltsame Weise verschwand. Ich starrte noch einige Minuten intensiv nachdenkend ins Leere, bevor ich wirklich mein Schlafgemach aufsuchte und mich ins Bett legte. Tausende Gedanken schossen mir gleichzeitig durch den Kopf. Nur eines vermochte ich mich Bestimmtheit zu sagen: Es war meine Aufgabe, hinter dieses dunkle Geheimnis zu kommen! Mit diesem Gedanken fiel ich in einen unruhigen und von den übelsten Alpträumen durchzogenen Schlaf. Ich träume von Anzengruber, dem lebendig gewordenen Johannes und den Geistern, die mich heimsuchten.
Mit fortschreitender Zeit gewahrte ich, dass sich auch mein eigener gesundheitlicher Zustand stetig verschlechterte. Die psychologische Belastung, der ich ausgesetzt war, machte meinem Gemüt schwer zu schaffen und hinterließ tiefe Einschnitte in meiner Seele. Ich lebte praktisch in ständiger Angst. Anzengrubers Wutausbrüche wurden zur Regelmäßigkeit. Nicht selten geschah es mittlerweile, dass er gar Gemälde von der Wand riss und über dem Knie zerbrach, Möbel durch den Raum schleuderte und sie zerstörte oder aus seinen Büchern laut fluchend und heulend Seiten ausriss und in den Kamin warf. Ich fürchtete gewaltsame Übergriffe, die sich gegen mich richteten und suchte schnell das Weite, wenn sich ein weiterer unkontrollierter Verlust von Zurechnungsfähigkeit anbahnte. Noch ward ich nicht Opfer seiner Launen, doch eine ungeheurliche Angst bemächtigte sich meiner. Ich war vollkommen isoliert. Niemand wusste von meinem Aufenthaltsort, Nachbarn, die ich im Notfall hätte verständigen können, waren nicht existent (die Villa befand sich an einem verlassenen Standort). Folglich war ich einem mir körperlich weitaus überlegenen Mann, der mehr und mehr drohte, den Verstand zu verlieren, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Des Nachts fand ich keinen Schlaf. Die vorherrschende Ruhe brachte mich an den Rande des Wahnsinns, da ich befürchtete jeden Augenblick könne etwas schreckliches geschehen. Anzengruber könnte sich klammheimlich in mein Gemach schleichen und sich spontan dazu entschließen, sich meiner zu entledigen. Zwar schloss ich die Tür mittlerweile in meiner Angst ab, doch das vermochte einen Mann von der Statur meines Freundes wohl kaum aufzuhalten. An den besonders unerträglichen Tagen ließ ich mir die Möglichkeit durch den Kopf gehen, mich des Nachts aus dem Haus zu schleichen und heimlich die Flucht zu ergreifen. Doch auch davor hatte ich zu viel Angst. Was wäre, wenn Anzengruber mich auflauerte? Zweifellos stünde es dann sehr schlecht um mich. Zudem fühlte ich mich nach wie vor moralisch dazu verpflichtet, ihm Beistand zu leisten. Seine aktuelle Verfassung schob ich nach wie vor dem Verlust seines Bruders zu, der ihn schwer mitgenommen hatte und zweifelsohne der Auslöser für den sich anbahnenden Wahnsinn meines Freundes verantwortlich war. Außerdem kann ich nicht leugnen, dass meine Neugierde nach wie vor zu groß war und es mir daher unmöglich machte, zu flüchten. Zuvor wollte ich unbedingt des Anzengrubers Rätsel lösen, wollte in Erfahrung bringen, wofür es den versteckten Raum gab und was er dort den ganzen Tag über zu schaffen pflegte.
In aller Regelmäßigkeit erschrak ich, alsbald ich einen Blick in den Spiegel warf. Ich vermochte kaum die Gestalt, die mich dort anstarrte wiederzuerkennen, schwer fiel es mir zu glauben, dass es sich dabei um das Abbild meiner Selbst handelte. Mein Gesicht war äußerst ungepflegt, hatte ich die Körperpflege in dieser schweren Zeit doch völlig ignoriert. Die Blässe, die mir ins Gesicht geschrieben stand, legte den Schluss nahe, dass ich bereits seit langem nicht mehr in der Sonne war, was selbstverständlich auch die Wahrheit darstellte. Dennoch war mein jämmerlicher Zustand nichts im Vergleich zu Anzengruber. Seine Haut hatte jedwede Menschlichkeit eingebüßt, so unnatürlich bleich war sie erstarrt. Wahrlich sah er aus wie der Tod höchstselbst. Trotz meiner Furcht machte ich mir Sorgen um ihn. Mir war bewusst, dass er sich in das Ableben seines Bruders auf eine vollkommen ungesunde Art hineingesteigert hatte. Er war regelrecht besessen von Johannes und dem Tod.
Eines Abends, ich hatte mittlerweile schon aufgehört die Tage zu zählen, jedoch stand außer Frage, dass ich bereits seit Monaten im Hause Anzengruber verweilte, saßen wir, wie es uns zur Gewohnheit geworden war, erneut gemeinsam am Feuer, er in seine Lektüre vertieft und mich nicht beachtend und ich zitternd neben ihm. Als die schier unerträgliche und tödliche Stille nicht länger zu ertragen vermochte, platzte es wie aus dem Nichts aus mir heraus. Ich sagte meinem Freund, er solle seines Bruders Tod endlich akzeptieren und lernen loszulassen, da er sich ansonsten nur noch mehr quälen und dadurch völlig krank würde. Zudem flehte ich ihn an, das Buch beiseite zu legen und nimmermehr anzurühren, da es einen sehr negativen Einfluss auf sein ohnehin schon angeschlagenes Gemüt habe. Um diese Worte auszusprechen bedurfte es des größten Mutes, den ich aufzubringen in der Lage war und wie ich die Worte gesprochen, bereute ich es gesagt zu haben. Ich war mir meines Freundes Zornes gewiss und befürchtete eine schlimme Strafe. Zu meiner Verwunderung geschah nichts dergleichen. In ruhigem Ton gab er mir eine Antwort, die mich jedoch aufgrund ihres Inhalts keineswegs beruhigte. Er könne den Tod nicht akzeptieren, dieser habe ihm alles genommen, was ihm jemals von Bedeutung gewesen und aus diesem Grund würde er sich gegen selbigen auflehnen und sich an ihm rächen. Er würde einen Weg finden, dem Tod zu trotzen, dies wäre der einzige Grund, aus welchem er noch lebe.
Ich gab daraufhin klein bei und erkannte die Sinnlosigkeit meines Unterfangens. Auch meine Versuche, ihm die Notwendigkeit des Todes erneut vor Augen zu führen und dass es sich dabei um den von der Natur berufenen Lebenskreislauf handle, scheiterten. Er wollte einfach nicht hören, sondern vertiefte sich erneut in seine Lektüre. Eine Vorstellung, wenn sie zur fixen Idee geworden, ist demjenigen nicht mehr auszureden und er wird an dieser bis zuletzt festhalten und wenn es seinen Untergang bedeutet. Darin besteht die größte Gefahr der Idee und genau derselben war mein Freund hilflos ausgeliefert.
Wenige Minuten später stieß Anzengruber einen Freudeschrei aus und rief immerfort, er hätte die Lösung gefunden. Euphorisch und übermütig wie ein kleines Kind sprang er auf, tanzte jubelnd im Kreis und wies mit der Hand auf eine Textstellte. Dies sei die Lösung, rief er voller Freude und Stolz, entschuldigte sich und eilte schleunigst davon. Dies war der Moment, in dem ich realisierte, dass es so nicht weitergehen konnte. Es lag an mir, dem Fluch, diesem bitterbösen Alptraum ein Ende zu bereiten. Mein Freund war gefangen in seinem eigenen Geist und jenseits aller Rettung. Ich sah es als meine Pflicht an, seinem grausamen Schaffen, was immer er auch tat, ein Ende zu setzen, sowohl zu seinem Schutz als auch zu meinem eigenen. Ich ignorierte also meine grenzenlose Furcht und schlich mich meinem Freund hinterher. Ich würde alles daran setzen, ihn vor seinem tragischen Schicksal zu bewahren und ihn wieder auf den richtigen Weg zu führen. Ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.
Wie erwartet war das Bücherregal beiseite geschoben. Anzengruber hatte erneut seinen Geheimraum aufgesucht um seiner Arbeit nachzugehen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und folgte ihm, betrat den engen, nur schwach von einigen schon fast abgebrannten Kerzen beleuchteten Gang, der sich direkt hinter dem Regal offenbarte. Es führte eine Wendeltreppe hinab, die ich behutsam hinabstieg, wobei ich mich bemühte so leise wie möglich zu sein. Unten angekommen befand ich mich vor einer geöffneten Tür, die ich durchschritt.
Zu meinem Erstaunen fand ich mich in einem gigantischen Raum wieder, dessen Ausmaße ich niemals für möglich gehalten hatte. Er schien mindestens doppelt so groß wie das ohnehin schon sehr geräumige Esszimmer. Überall im Raum verteilt befanden sich Regale, gefüllt mit großen Behältern, Bechern, Reagenzgläsern, die verschiedene Flüssigkeiten unterschiedlichster Farben beinhalteten. Ich erblickte einige  Experimentiertische, auf denen Bücher und mir noch nie zuvor ansichtig gewordene Werkzeuge und ähnliche Geräte lagen. Auch eines Ofens wurde ich ansichtig, aus dem die Flammen nur so herausloderten (eine Schutzvorrichtung war zu meinem Unverständnis nicht vorhanden). Über jenen gebeugt, erblickte ich Anzengruber. Er trug einen weißen, jedoch schon äußerst befleckten und verschmutzten Schutzkittel und hielt ein gläsernes Gefäß mit einer blauen Flüssigkeit über das Feuer. Kurz darauf eilte er mit der erhitzten Chemikalie zu einem nahestehenden Experimentiertisch. Erst jetzt wurde mir bewusst, was sich auf diesem Tisch befand. Voller Grauen und Entsetzen, meinen Augen kaum trauend, gewahrte ich, dass dort die ausgestreckte und bereits zu faulen begannende Leiche des Johannes lag. Ich schlug die Hände vor den Mund und suchte Zuflucht hinter einem nahestehenden Regal, von wo aus ich das Geschehen zwar noch verfolgen, Anzengruber mich jedoch entdecken konnte, da er mich noch nicht bemerkt hatte. Nun hatte ich endgültige Gewissheit. Meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Er versuchte, seinen verstorbenen Bruder wieder zum Leben zu erwecken. Natürlich stellte dies keine sonderliche Überraschung für mich dar, hatte ich doch die ganze Zeit über mit derlei gerechnet, jedoch ist es etwas vollkommen anderes, wenn man etwas nur annimmt und befürchtet und wenn man dem schließlich leibhaftig ansichtig wird und es sich somit als die harte und bittere Wahrheit herausstellt. Was mich in diesem Moment jedoch noch mehr ängstigte, war die Vorstellung, dass es ihm gelänge, dass Johannes tatsächlich von den Toten wiederkehre doch als etwas Abscheuliches und nicht als die Person, die er zu eigentlichen Lebzeiten verkörperte. Meine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen als Anzengruber, der mit dem Rücken zu mir gewandt stand plötzlich lauthals verkündete, ich solle aus meinem Versteck hervorkommen, er wisse, dass ich mich in diesem Raum befände.
Das Blut in meinen Adern gefror mir und die Angst drohte, mich zu übermannen. Wie festgewachsen stand ich da, unfähig mich zu bewegen und vollkommen erstarrt. Erst nach erneuter Aufforderung und nachdem ich all meinen Mut zusammengenommen hatte, kam ich hinter dem Regal hervor und offenbarte mich. Anzengruber dagegen drehte sich nicht um, sondern blieb weiterhin auf seine Arbeit konzentriert. Mit seltsam anmutenden Werkzeugen hantierte er an der Leiche herum, verabreichte selbiger die verschiedensten Flüssigkeiten und ergoss sämtliche Chemikalien über sie. Dabei fiel mir auf, wie geschicktcer dabei vorging. Kein einziger Tropfen wurde verschüttet, alles fand genaustens seinen Platz. Er ging in erschreckender Präzision vor, die den Schluss nahelegte, er wisse genau, was er tue. Auf einmal befahl er mir, näher zu treten und sein kurz vor der Vollendung stehendes Werk zu begutachten. Er habe endlich einen Weg gefunden, den Tod zu hintergehen und das Sterben derjeniger, welcher ihm nahe standen, zu verhindern.
Vorsichtig näherte ich mich, hielt jedoch entsetzt inne, als Anzengruber sich plötzlich zu mir umdrehte. Sein Gesicht war derart entstellt, dass ich es kaum wiederzuerkennen vermochte. Die Augen leuchteten rot, die Haut leichenblass, die Zähne, die sein wahnsinniges Grinsen entblößte, unnatürlich spitz zulaufend. Ich befand mich wahrhaftig in des Satans Küche.
Mit zittriger Stimme schrie ich aus Leibeskräften, er müsse dieses Teufelswerk einstellen. Er wäre nicht mehr er selbst, eine fremde und böse Macht hätte sich seiner bemächtigt und die Kontrolle über sein Handeln übernommen. Er handle willkürlich, aus Neigung, nicht jedoch aus Pflicht vor dem moralischen Gesetz, nicht vernünftig. Was er täte, sei wider die Natur und daher eine moralisch zutiefst verwerfliche Handlung. Etwas schreckliches würde geschehen, der Zorn Gottes wäre ihm für diese Sünde gewiss.
Doch alle meine Warnungen nützten nichts, er werkelte unbeirrt weiter und ergänzte jetzt seine neue Wunderzutat. Mithilfe eines Trichters verleibte er dem Verblichenen die zuvor erhitzte blaue Flüssigkeit oral ein. Damit würde es funktionieren, lachte Anzengruber und verfiel in grausames Gelächter, das durch Mark und Bein ging. Die Luft war satt vom Gestank einer verwesenden Leiche, verbranntem Fleisch und einiger nicht identifizierbarer Chemikalien. Erkennend, dass meine Worte den Wahnsinnigen nicht aufzuhalten vermochten, stürmte ich von hinten auf ihn los, doch kurz bevor ich ihn erreichte, wandte er sich in meine Richtung und schlug mir seine geballte Faust mit voller Wucht ins Gesicht, schreiend, dass ich ihn nicht von der Vollendung seines Lebenswerkes abbringen solle. Seine Sehnsucht nach seinem Bruder ward ihm unerträglich und er würde ohne ihn nie wieder glücklich werden. Vor Schmerzen heulend kauerte ich mich auf dem Boden zusammen, meine Nase, gewiss gebrochen, blutete unaufhörlich. Meine Niederlage eingestehend, kroch ich auf allen vieren davon und ließ mich, ausreichend Abstand haltend, unter einem Regal nieder. Verzweifelt sah ich mich um und überlegte fieberhaft, was ich nur unternehmen könnte. Hilflos musste ich mitansehen, wie Anzengruber nicht von der Leiche abließ. Der geheimnisvolle Trank war ihr mittlerweile gänzlich einverleibt. Der Wahnsinnige ging einige Schritte zurück und wartete, was geschah. Zunächst passierte nichts. Er starrte regungslos und wie gebannt auf die Leiche, doch sie regte sich nicht. Ich hielt den Atem an, beobachtete das Geschehen ebenfalls gebannt und wagte es nicht, mich zu bewegen. Für den Bruchteil einer Sekunde überkam mich Erleichterung. Das teuflische Werk misslang, Anzengruber hatte sein Ziel nicht erreicht. Meine Hoffnungen wurden jedoch jäh zerstört. Plötzlich und wie von Geisterhand, begann der leblose Körper sich zu regen. Zuerst zuckte nur ein Bein, kaum merklich, doch dann erhoben sich plötzlich die Arme und schließlich richtete sich der gesamte Oberkörper auf. Satan hatte tatsächlich gesiegt. Vor meinen Augen erhob sich der tote, in ein Leichentuch gehüllte Johannes von Anzengruber. Sein Antlitz war von derart ungeheuerlicher Grässlichkeit, das ich es kaum in Worte zu fassen vermag. Die Augen waren weiß, denen eines Blinden gleichend und traten deutlich aus den Höhlen hervor. Die verschrumpelte Haut war in sich zusammengefallen und leichenblass. Die Mundwinkel waren entsetzlich zu einem grausamen Grinsen entstellt, wobei die dünnen Lippen farblos waren. Der ganzen geisterhaften Erscheinung fehlte alle Menschlichkeit.
Ein zutiefst gequälter und erschütternder Schrei erfüllte den Raum. Ich erkannte zuerst gar nicht, dass es sich dabei um meinen eigenen handelte. Anzengruber konnte den Blick nicht von dem Wiederbelebten abwenden. Schwarze Magie musste dies teuflische Werk vollbracht haben. Mein Freund hatte zweifelsohne einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, anders lässt sich dieses übernatürliche und zutiefst verstörende Ereignis nicht erklären. Ich faltete meine Hände und setzte zum Gebet an. Göttlichen Beistand zu erbitten, war alles, was mir noch übrig blieb. Auf die Macht des Allmächtigen musste ich vertrauen. Eines stand jedenfalls fest: Einer musste an diesem Tag sterben. Entweder ich oder Anzengruber.
Dieser huldigte seinem toten Bruder, dem er von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, vergoss Tränen der Freude und teilte Johannes seine grenzenlose Liebe und Sehnsucht nach ihm mit. Anschließend umarmte er den Untoten und küsste ihn auf die verweste Wange. Doch dann geschah Unfassbares! Die Leiche, die bislang nur regungslos dastand, packte Wilhelm plötzlich am Hals, während sie unverständliche Laute von sich gab, die denen eines Kleinkindes ähnelten. Als sich ihre eiskalten Klauen um meines Freundes Gurgel klammerten, packte auch ihn endlich das Entsetzen und er wurde sich seiner Tat bewusst. Johannes als den liebenswerten Menschen zurückzubringen, der er einst war, stellte ein unmögliches und von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Unterfangen dar. Er war tot und konnte nicht zurückgebracht werden. Doch genau dies vermochte mein Freund nicht zu erkennen und wahrzuhaben. Stattdessen hatte er ein Monster erschaffen!
Ich richtete mich langsam auf und näherte mich dem Ausgang. Aus der Ferne beobachtete ich den erbitterten Kampf, den sich Anzengruber mit dem Monster lieferte. Ein Kampf auf Leben und Tod. Sie rangen miteinander, würgten einander, schlugen wild aufeinander ein, wehrten sich mit Fäusten und Füßen. Mein Freund leistete bemerkenswerten Widerstand, vermochte dem Monster jedoch keinerlei Schaden zuzufügen. Es wirbelte ihn herum und stieß ihn auf einmal mit voller Wucht gegen ein Regal, auf dem sich die Behälter und befüllten Gläser nur zu tummelten. Anzengruber verlor das Gleichgewicht, die Gläser fielen herab und zerschmetterten auf dem Boden. Ein Glas, das sich ganz weit oben befand, fiel genau in den nahestehenden Ofen. Ich hörte nur noch einen entsetzlichen Schrei meines Freundes, der genau wusste, was dies zu bedeuten hatte. Da ich es auch ahnte, sah ich nicht mehr zurück, sondern rannte um mein Leben. Ich eilte wie nie zuvor die Treppe hinauf und verließ das Anwesen so schnell ich konnte. Ein ohrenbetäubender Knall erklang und hinter mir brach alles zusammen. Fetzen einer Mauer und allerhand Gegenstände flogen an mir vorbei, von der gewaltigen Explosion erschüttert. Selbst nachdem ich das Hause Anzengruber, das vollkommen in Flammen aufgegangen und vollständig zerstört war, schon längst hinter mir gelassen hatte, hörte ich nicht auf zu rennen. Ich rannte mehrere Kilometer in einem niemals für möglich gehaltenen Tempo. Erst nachdem ich mich weit genug entfernt hatte, hielt ich inne. Dann brach ich augenblicklich zusammen.
Nach mehreren Tagen, wachte ich schließlich im Krankenhaus wieder auf. Ich hatte einen vollständigen Nervenzusammenbruch erlitten. Dort kümmerte man sich allerding vorbildlich um meine körperlichen und seelischen Gebrechen. Ein Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt war jedoch unumgänglich. Zutiefst traumatisiert hatte mich die Zeit im Hause Anzengruber.
Es dauerte Jahre bis ich wieder des Verstandes mächtig, meine Arbeit aufnehmen konnte. In selbiger suchte ich fortan Zuflucht. Ich kehrte nach Göttingen zurück, wo ich mich weiter als Philosoph betätigte. Der Erfolg blieb jedoch fortan aus. Nie mehr gelang es mir meine vollständige Leistungsfähigkeit wiederzuerlangen. Ich konnte nicht mehr länger als eine Stunde am Stück schreiben. Die Gedanken und revolutionären Ideen fielen mir nicht mehr zu. Ich hatte große Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Dass ich dennoch ein materiell abgesichertes und sorgenfreies Leben zu führen imstande war, verdanke ich meinen großen Erfolgen, die ich erlangte, bevor mich die denkwürdigen Erlebnisse im Hause Anzengruber für immer arbeitsunfähig machten. Bedauerlich, dass mein bestes Werk, die Abhandlung über den Tod, den Flammen zum Opfer fiel. Oft habe ich seitdem versucht, das Werk zu rekonstruieren und neu zu verfassen, was mir unglücklicherweise nicht gelang. Die Worte wollten einfach nicht zusammen passen. Doch ich habe mich damit abgefunden und diese Tatsache akzeptiert. Ich habe gesehen, was geschieht, wenn ein Mensch sich den Naturgesetzen widersetzt, bestimmte unumgängliche Sachverhalte nicht akzeptiert und sich gegen Gott und die Moral wendet. Diese prägenden und einschneidenden Erfahrungen haben mich zweifelsohne ein jedweder Hinsicht reifen lassen. Ob ich noch an meinen alten Freund, Dr. Wilhelm von Anzengruber denke? Ja, das tue ich. Und zwar jeden Tag. Wahrlich, es vergeht kein Tag, an dem ich ihn nicht vermisse. Trotz allem, was er mir angetan, bedeutet er mir doch nach wie vor sehr viel. Tatsächlich habe ich ihm vergeben. Zutiefst bedauer ich, dass es mir nicht gelang, ihn zu retten. Viele Vorwürfe mache ich mir deswegen. Womöglich hätte ich dies grausames Schicksal verhindern können, wäre ich nicht derart von der Angst ergriffen gewesen. Doch jetzt, da ich mich ausgesprochen, mein großes Geheimnis nach so vielen Jahren endlich preisgebe und der Öffentlichkeit zugänglich mache, fühle ich mich befreit von Zorn, Trauer und sämtlichen negativen Emotionen. Der Herr möge meiner armen und belasteten Seele gnädig sein. Nun kann ich in Frieden sterben und bin mit mir im Reinen. Die schlimmsten Dämonen sind immer noch die, die in einem selbst lauern und dem eigenen Verstand entstammen.
Amen!

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