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Er blinzelte mehrmals, den Kopf zur Decke geneigt, bis das wirbelnde Muster scharf in sein Bewusstsein drang: Blaue Lilien, verschlungen in ein Netz giftgrüner Ranken, glitten langsam über ihm hinweg. Zuerst haftete sein Blick benommen daran, dann wurde ihm plötzlich klar – dies war kein Traum. Das kalte Zupacken der Finger, die sich in sein Fleisch bohrten, fühlte sich viel zu real an. Der modrige Gestank in der Luft brannte in seiner Nase, und das laute, dröhnende Pochen seines Herzens schien jede Sekunde stärker zu werden.
Wann bin ich das letzte Mal schlafgewandelt? Jahre mussten vergangen sein, seit er zuletzt mitten in der Nacht in der Küche gestanden hatte, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt war. Das hier war ähnlich und doch ganz anders. Er hatte noch nie eine solche Schwere in seinen Gliedern gespürt, noch nie dieses lähmende Gefühl.
Dieser Ort – bedrückend, unheimlich, und vollkommen fremd. Auch die Männer, die ihn grob und schweigend fortzerrten, waren ihm unbekannt. Sie rochen nach Eisen und Dreck.
Er suchte verzweifelt nach einer Erklärung. Drogen? Nein, er hatte nie Drogen angerührt. Alkohol? Nur gelegentlich und nie in Mengen, die ihn hätten so fühlen lassen. Und doch... irgendetwas hatte ihn hierher gebracht, irgendetwas hatte die Kontrolle über seinen Körper geraubt. Sein Verstand klammerte sich an die Hoffnung auf eine rationale Erklärung, aber tief in seinem Inneren wusste er, dass es keine gab. Nicht hier, nicht heute.
Er war aufgewacht, erschöpft und verwirrt, als fremde Stimmen auf ihn einredeten und fremde Hände ihn packten. Die Welt war verschwommen, die Gedanken zerstreut, als wäre er aus einer langen Narkose erwacht. Jetzt sah er die bröckeligen Steinwände um ihn herum. Die Benommenheit wich allmählich, und eine kalte, lähmende Angst kroch in ihm empor, wie das heimtückische Gift einer Schlange, das sich unaufhaltsam in seine Adern fraß.
Vier Männer trugen ihn durch weite Gänge. Zwei hielten seine Beine fest, während die anderen beiden seine Arme im Griff hatten. Immer wieder erhaschte er im Augenwinkel Gestalten, die sie beobachteten, leise flüsternd. An einer Weggabelung erblickte er Menschen in einem Garten mit einem Springbrunnen in der Mitte. Ihre Gespräche verstummten, als die Männer mit ihm näherkamen. Einen Augenblick lang war nur das leise Plätschern des Springbrunnens zu hören. Sein Blick traf den einer jungen Frau, die ihn aufmerksam musterte. Sie trug geflochtenes Haar und ein bodenlanges Kleid. Er konnte nicht erkennen, was sie in den Händen hielt, aber sein Verstand pochte darauf, dass es ein Handy war. Aus irgendeinem Grund wünschte er sehnlichst, dass es tatsächlich eines war.
Dann ließen sie den Garten hinter sich und betraten einen stickigen, brütend heißen Gang.
„Was soll das?“, keuchte er. „Was wollt ihr von mir?“
Nur schwer gelang es, die Worte aus dem entkräfteten Mund zu pressen.
Die Männer antworteten nicht. Sie marschierten zielstrebig weiter, bogen gelegentlich um eine Ecke oder schleppten ihn einige Stufen hinunter. Ihm fehlte die Kraft, sich zu wehren, und er befürchtete, dass Widerstand etwas noch Schlimmeres zur Folge hätte. Die Männer wirkten ernst und abgeklärt. Obwohl deutlich kleiner als er, strahlten sie eine bedrohliche Kraft aus. Ihre Zielstrebigkeit verängstigte ihn.
Er bemerkte nun ihre seltsame Kleidung. Die Männer trugen Gewänder, die an eine Mischung aus Shakespeare und Kostümball erinnerten. Mit ihren dicken Stoffen und hohen Kragen sahen sie aus wie Figuren aus einem historischen Theaterstück. Ihre Ärmel waren weit und gepufft, an den Schultern ausladend, aber an den Handgelenken enganliegend. Sie trugen enge Reiterhosen, die in hohen, fest geschnürten Stiefeln endeten. Der Mann rechts vor ihm war von kleiner, gedrungener Gestalt. Neben ihm schritt ein weitaus schmalerer Kerl voran, dessen lichtes Haar in krausen Locken über die Ohren fiel.
Verzweifelte Gedankenströme stürmten durch seinen Kopf. Zuerst hatte er geglaubt, jemand spielte ihm einen grausamen Streich. Doch je mehr er darüber nachdachte, desto düsterer wurden die Theorien, die er versuchte, auf Distanz zu halten.
Er sah an sich hinab und bemerkte, dass er unter den lumpigen Fetzen in die er gehüllt war, eine Sporthose trug. Jene Sporthose der Marke Adidas, die er gelegentlich zum Schlafen anzog.
Nur die Trägheit bewahrte ihn davor, in Panik auszubrechen.
Altertümliche Gemälde huschten an ihm vorbei: ein rothaariger Mann auf einem Pferd, Menschen, die Schwerter in die Luft reckten, und das Antlitz von Jesus Christus. Es wirkte, als wäre er in einem Schloss gelandet.
Eine Sekte? Ein Ritual? Und immer wieder die erschreckendste aller Fragen: Wo bringen sie mich hin? Was wollen sie mir antun?
Verzweifelt versuchte er tief durch die Nase ein- und aus dem Mund auszuatmen. Er musste die drohende Panikattacke unterdrücken, um halbwegs klar denken zu können. Die Erinnerungen an den vorherigen Tag waren so vage, als lägen sie Jahre zurück. Das letzte, woran er sich entsinnen konnte, war, dass er mit Luisa im Park saß, wo sie ihre Freunde Samu und Melina getroffen hatten. Anschließend waren sie in die Unibibliothek geschlendert. Er musste lange überlegen, was danach geschah, kam jedoch nicht über den Punkt hinaus, als er mit einem Lehrbuch über Wirtschaftsrecht in der Bibliothek am Campus saß. Sein Herz raste unangenehm schnell, der Griff ihrer Hände schmerzte nun unerträglich, und der Gestank – dieser faulige, abgestandene Kellergeruch – kroch ihm in die Nase und ließ Übelkeit in Wellen durch seinen Magen rollen.
Er war überzeugt, dass sein Leben noch gestern in geordneten Bahnen verlaufen war. Dann war er aufgewacht, in den Händen dieser Männer. Ich wurde entführt, dachte er. Sie müssen mich unter Drogen gesetzt und entführt haben. Immer neue Theorien drangen in seinen Kopf ein, so wie der Alptraum, den er durchlebte, in sein Leben eingedrungen war. Und so war er vollkommen in Gedanken verloren, als die Männer abrupt stehenblieben.
Lautes Klopfen hallte durch den Gang.
„Öffnet! Der Gefangene ist hier.“
„Gefangener?“, winselte der Mann. „Was soll das alles? Bitte. Ich ruf nicht die Polizei, ich will nur heim.“, flehte er ohne zu wissen, woher die Worte kamen. Sie sprudelten einfach aus ihm heraus. Es klang wie eine weinerliche Karikatur seiner eigenen Stimme, die von weit weg zu ihm drang.
Die Männer tauschten untereinander Blicke.
Dann sagte einer von ihnen: „Schweigt. Kein Wort mehr.“
Die Tür ging mit einem wuchtigen Klacken auf, gefolgt von einem elendig langen Quietschen. Sie traten in einen Saal – und der Alptraum nahm endgültig Gestalt an.
Sie waren in einem Kerker, in dessen Mitte zwei große Säulen emporragten. Die massiven, grob behauenen Steine der Wände zeugten von einer Bauart, die wohl Jahrhunderte zurückreichte, und der modrige Geruch feuchter Erde und abgestandener Luft erfüllte den Raum. Spärliche Lichtstrahlen drangen durch schmale Schlitze hoch oben in den Wänden, kaum genug, um die Dunkelheit zu vertreiben, doch ausreichend, um den Raum in ein unheimliches Halbdunkel zu tauchen. Der Boden war uneben und von feuchtem Moos bedeckt, was das Voranschreiten gefährlich rutschig machte.
Trotz dieser trostlosen Atmosphäre war der Kerker aufwendig gestaltet. Die beiden Säulen in der Mitte, aus poliertem Marmor und mit kunstvollen Reliefs verziert, wirkten wie Fremdkörper in dieser Umgebung. An den Wänden hingen abgenutzte Wandteppiche, die Szenen der Gerichtsbarkeit darstellten, ihre Farben verblasst und ihre Ränder zerfetzt. Die Fackeln, in den Wänden verankert, gaben ein flackerndes Licht ab, das die Dunkelheit kaum durchbrach.
Husten quoll ihm aus der Brust und als er realisierte, dass sie ihn auf einem Stuhl fixieren wollten, begann er plötzlich zu kämpfen. Auch diese Wehrhaftigkeit entsprang keinem zugrundeliegenden Gedanken. Er tat es einfach, strampelte, schlug und trat um sich. „Nein! Nein! Hört auf! Lasst mich los!“
Tatsächlich hatten die Wachen zunächst Mühe mit der unerwarteten Gegenwehr fertigzuwerden.
„So haltet ihn doch!“, rief einer von ihnen.
Der Mann war groß, mit seinen 1,90 Meter überragte er die Wachen um einiges, und auch seine muskulöse Statur bereitete ihnen Probleme.
Dann durchzuckte ein heller Schmerz seine Schulter und er stöhnte laut auf. Schließlich gelang es ihnen, den Gefangenen, der drauf und dran war, ihrem Griff zu entkommen, wieder fest zu packen.
Sie schlugen ihn nicht, dafür rammten sie ihn in den engen Stuhl und schnürten seine Arme und Beine fest.
Er sprach weitere flehende Bitten aus, was so untypisch für diesen jungen Kerl war, der noch nie im Leben für etwas gebettelt hatte.
Warme Tränen kullerten seine Wangen hinab. Zuerst flossen sie langsam, dann setzte ein heftiges Zittern ein. Die Arme bebten unter den Seilen, die ihn an den Stuhl festbanden. Der Brustkorb hob und senkte sich schwer, bevor ihn ein Weinkrampf übermannte.
„Bitte, bitte, bitte!“, flehte er erneut, diesmal in panischer Verzweiflung, weinend wie ein kleines Kind.
Die Rückseite einer Hand prallte hart gegen sein Gesicht.
„Haltet jetzt endlich euer Maul!“
Der Junge krümmte sich so gut es ging auf dem Stuhl zusammen, er wollte so klein sein, wie möglich. Er schwieg, aber in seinem Kopf klang das Flehen weiter (Bitte, oh bitte lieber Gott, ich will weg, ich will heim, bitte…). Die Augen kniff er fest zusammen, weil er nicht sehen wollte, was als Nächstes passieren würde.
In seinen Gedanken saß er plötzlich auf dem Fahrrad und fuhr den Berg hinab, ehe er in Richtung Altstadt abbog. Der Weg, den er fast jeden Tag in die Universität zurücklegte. Der Weg, den er häufig genug in seiner Freizeit zurücklegte, um seine Freunde in der Stadt zu treffen. Er sah den Dom im Hintergrund, Menschen, die über den Markt schlenderten, er hörte das Bimmeln der Straßenbahn, die vorüberfuhr.
Ich bin ein gewöhnlicher Typ. Normal. Ein ganz normaler Mensch, dachte er, so als wolle er sich selbst davon überzeugen. Und so beschwor er sein Leben herauf, dass ihm zunehmend wie der eigentliche Traum vorkam. Wie sehr wünschte er sich, in dieses andere Leben, in diese andere Zeit zurückzukehren. Er war 23 Jahre alt, studierte Wirtschaftsrecht an der Universität in Erfurt, jobbte nebenbei in einem kleinen Café in der Altstadt. Zusammen mit Nathan und Chris wohnte er in der kleinen WG am Boyneburgufer, direkt gegenüber vom Kiosk. Seit drei Jahren war er mit Luisa zusammen, die er während des Abiturs in Fulda kennengelernt hatte. In seiner Freizeit liebte er es, Volleyball zu spielen, zumindest bis ihm vorletztes Jahr die Rotatorenmanschette in der linken Schulter riss. Er hatte Freunde, die er sehr schätzte, mit denen er gerne ausging oder in ihren WGs rumhing. Er spielte seit seinem achten Lebensjahr Klavier, hatte so viele Jahre mit Üben verbracht und dennoch nie vor Publikum gespielt. Er dachte an das Musikzimmer in seinem Elternhaus mit dem alten Flügel und den Indianerbildern an der Wand. Fast war es, als höre von weit weg die Klänge seines Lieblingsstücks „Clair de Lune“.
Nie hatte er etwas ernsthaft Bösartiges getan, oder wirklich große Schwierigkeiten gehabt. Abgesehen von einigen Streitigkeiten mit der Familie, meist aufgrund seines aufbrausenden Wesens, oder Zeiten in denen ernsthafte Geldsorgen ihn beschäftigen, war nie ein Alptraum in sein Leben getreten – bis er am heutigen Tag die Augen öffnete. Ebenso wie er sie jetzt erneut öffnete, weil ihm ein harter Schlag gegen den Hinterkopf versetzt wurde. Der sehnlichste Wunsch, einfach wieder in seinem Bett zu liegen, erfüllte sich nicht.
Was zur Hölle, dachte er. Was zur verfickten Hölle geht hier nur ab.
Vor ihm sah er eine Art… Tribunal. Ein langgezogener Holztisch, der auf einer Erhöhung stand, an dem ein halbes Dutzend Leute saßen und auf ihn herabblickten. Es waren ausschließlich Männer und jetzt wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Die letzte flüchtige Hoffnung, es könnte alles nur ein böser Scherz sein, zerfiel zu Asche. Die finstere (wirkliche) Ernsthaftigkeit in den Mienen der Männer, ihr Äußeres, die unheimliche Umgebung, die Räumlichkeiten – und vor allem der furchtbare Geruch - ließen für ihn keinen anderen Schluss zu: Dies war bittere Realität.
Die Realität aus einer anderen Zeit… aus einer ganzen anderen Zeit…
Der Gedanke ließ ihn dem Abgrund des Wahnsinns gefährlich nahekommen. Es war, als balancierte er mit seinem verbliebenen Verstand über einem schmalen Steg, der direkt über das weite Nichts führte. Seine Wahrnehmung schien Gefahr zu laufen, sich von seinem Bewusstsein zu lösen. Erneut überwältigte ihn rasende Panik. Er schmeckte den bitteren Geschmack von Adrenalin auf der Zunge.
Jeden Moment würde der Steg nachgeben, dass spürte er ganz deutlich. Und womöglich wäre es nicht verkehrt, an dieser Stelle einfach verrückt zu werden, sich dem Wahnsinn hinzugeben und zu hoffen, schnellstmöglich von einer dunklen Wolke für immer umhüllt zu werden.
Die Männer trugen weite Roben, manche von ihnen hatten weiße oder graue Haare, andere hingegen bedeckten ihre Köpfe mit schmalen Hüten in Form eines Dreispitzes.
Sie redeten irgendetwas, aber er hatte Mühe, die Realität weiterhin zu akzeptieren. Die Konturen verschwammen, als ob sie in eine nebelhafte Unwirklichkeit sanken; die Worte zogen sich in die Ferne zurück, und in seinem Geiste tauchte das Bild wilder Pferde auf, die durch den dunstverhangenen Sand eines fremden, öden Strandes jagten, deren donnernde Hufe den Puls einer Welt zu schlagen schienen, die jenseits seiner Vorstellungskraft lag. Pferde, die in Freiheit waren und rannten, rannten, rannten.
Der Mann in der Mitte, der älter aussah als die anderen, hielt ein Stück Pergament in den Händen, von dem er vorlas: „…der in unser heiliges Land eingedrungen ist. Höchst merkwürdig sich verhielt, sprach und gewandt. Gott sei gnädig, wurde er von unseren braven Bürgern gefasst!“
Er sprach laut und theatralisch „…vor uns versammelt, um seine Schuld in den genannten Anklagepunkten zu erläutern. Vor dem heiligen Gericht, vor den Augen und Ohren des Heiligen Vaters, der uns dazu verleiten wird, ein gerechtes Urteil zu fällen. Ich als Vorsitzender werde dem Schwur Folge leisten und das erwarte ich von allen braven Dienern Gottes.“
Nun legte er das Pergament zur Seite und erhob die Stimme noch mehr: „Los! Nun sprich schon, Bursche!“
„Was?“, stammelte der junge Mann. „Was… bitte… was?“
„Sprich! Oder wagst du es nicht, die wahren Gründe deines Besuchs offenzulegen?“ fragte der Vorsitzende süffisant. Sein ausgemergeltes Gesicht war von Zorn erfüllt. Die anderen Männer saßen schweigend da, ihre konzentrierten Blicke hafteten auf ihm. Die Wachen blieben dicht neben ihm stehen.
„Ich weiß doch gar nicht, worum es hier geht. Was… was habe ich denn gemacht?“
„Was du gemacht hast? Niederer Wicht! Das du es dich traust, dass heiligste Gericht so zu verspotten!“
„Das möchte ich nicht, aber ich bin nicht hier eingedrungen. Ich weiß selbst nicht, wie ich hierherkam.“
„Er spricht höchst seltsam.“, murrte einer der Männer am Tisch, und das Gelächter der anderen folgte rasch, bis der Alte mit einer stummen Geste die Meute zum Schweigen brachte.
„Lügner!“ donnerte er. „Nun sprich! Welche abscheulichen Beweggründe haben dich hierhergeführt? Du bist ohne Erlaubnis eingebrochen!“
„Ich... ich habe nichts getan, wirklich!“ Der junge Mann rang nach Luft, seine Worte stolperten hektisch heraus. „Ich bin nur ein Student aus...“ Er hielt inne, atmete tief ein, suchte nach Fassung. „Ein Student aus Erfurt. Ich habe nichts von dem getan, was ihr mir vorwerft.“
Seine Stimme gewann an Festigkeit, während die Hitze des Zorns langsam in ihm aufstieg, als er die hasserfüllten Gesichter betrachtete. Der alte Mann blickte ihn abschätzig an.
„Erfurt, sagst du?“ höhnte der Alte und wandte sich an einen Schreiber. „Notiert das, Gerichtsdiener! Weit gereist für einen so nichtsnutzigen Schurken. Also ein Spion? Ein Mörder?“
„Nichts dergleichen. Wo habt ihr mich überhaupt gefunden?“
Der Alte lehnte sich zurück. „Ein Narr, also. Ein Lügner, der uns glauben machen will, er sei seines Verstandes beraubt.“
„Warum stellt ihr mir diese Fragen überhaupt?“ spuckte der Junge heraus.
Der Alte lächelte erneut, dieses Mal eine widerliche Fratze voll abfälliger Selbstgefälligkeit.
„Früher, in anderen Zeiten, hätte man Bastarde wie dich einfach verbannt. Nur damit du mit einem Haufen Barbaren zurückkehrst, um uns zu verraten und zu vernichten. Doch das hier“, seine Stimme schwoll an, „ist ein heiliges Gebiet, ein Gottesstaat, geführt von Recht und Tugend.“
Die Männer um den Tisch nickten beifällig, während der Alte triumphierend fortfuhr. „Wir dulden keine Spione, keine Fremden – und schon gar keine Ketzer, wie du einer bist.“
Das Blut des jungen Mannes kochte. Er spürte die Ohnmacht, das drohende Unheil, doch die Worte brachen aus ihm hervor. „Was für eine Scheiße ist das hier? Wo zum Fick bin ich?“
Für einen kurzen Moment erstarrten die Männer, als hätte keiner von ihnen je erlebt, dass jemand in ihrer Gegenwart den Mut fand, zu schreien. Die Luft im Raum schien dick und schwer, doch der Junge verspürte Genugtuung in der Stille, die er mit seinem Ausbruch geschaffen hatte.
„Verrückter!“, zischte der Alte schließlich, seine Stimme bebend vor Zorn. Er zeigte mit seinem knochigen Finger auf den jungen Mann. „Das heiligste Gericht, in ewiger Tradition der Gerechtigkeit, spricht das Urteil: Du, ein gottloser Eindringling, ein Verbrecher wider die Ordnung, wirst des Todes sein!“
Die Worte hallten kalt durch den Raum. Nach einer kurzen Pause fuhrt der Alte fort: „Zum Tode durch Rädern, wegen Einbruchs, Bedrohung und Gotteslästerung.“
Nun, leider war es so, dass der junge Mann sich inzwischen vollkommen darüber bewusst war, egal welch kranke Macht ihn an diesen Ort brachte, dass dies tatsächlich mit ihm geschehen würde – und obendrein wusste er, was Rädern bedeutete. Irgendwann, in einer anderen Welt, hatte er ein YouTube-Video über alte Hinrichtungsmethoden gesehen. Sie hatten im Seminar zur Geschichte des Strafrechts ausführlich über diese und andere Methoden aus dem Mittelalter gesprochen. Als sie ihn von dem Stuhl losschnallten, schloss er die Augen, und musste an die Worte denken, die er glaubte im Hinblick auf das Rädern in Erinnerung behalten zu haben (…der Verurteilte wurde auf ein Rad gefesselt, seine Gliedmaßen wurden zerschlagen und durch die Speichen des Rades gezogen).
Er sah zum Tribunal hinauf. Der Vorsitzende fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick, seine Züge hart und unerbittlich, wie aus Stein gemeißelt. Die buschigen Brauen zogen sich fragend nach oben, als warte er auf eine Reaktion. Der junge Mann jedoch verharrte schweigend, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Schließlich hob der Vorsitzende seine Knochenhand und gab mit einer knappen Geste das Zeichen. Die Wachen traten vor und packten den Verurteilten, zerrten ihn fort, während er kraftlos in ihren Armen hing.
Er hoffte darauf, dass dieser schreckliche Alptraum endlich in sich zusammenfallen würde. Das jenes Gerüst der Illusion kollabierte, ihn an seinen rechtmäßigen Platz zurückbrachte, aber nichts geschah. Es dauerte oft Stundenlang bis der Gefolterte starb… Ein eisiger Schauer durchfuhr seinen Körper, und sein Herz schlug so heftig, dass es ihm die Luft raubte. Ihm war übel, der Schweiß rann ihm von der Stirn und er spürte, wie seine Hände unkontrolliert zitterten. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte er, die Umgebung zu erfassen, doch alles verschwamm erneut zu einem wirren Kaleidoskop aus Gesichtern, Wänden und unklaren Formen. Die Stimmen des Tribunals waren wieder weit entfernte Echos. Wilde Pferde, die mit ihren Hufen den Sand aufwirbelten.
Er realisierte, dass er von Panik zerfressen wurde.
Die Wachen lösten die Fesseln und packten ihn. Mit jedem Schritt, den sie ihn weitertrugen, sank sein Herz tiefer in die Dunkelheit. Die Realität seines bevorstehenden Todes, so grausam und unerbittlich, so unfair und unverhofft über ihn hereingebrochen.
Gerade als sie die große Tür erreichten, hörte er, wie der Vorsitzende sagte: „Moment. Bringt ihn zurück.“
Also drehten die Wachen um, setzten ihn auf den engen Stuhl, der ihm das Fleisch abquetschte.
Der Vorsitzende lächelte wieder: „Womöglich möchte Gott doch noch nicht das du stirbst. Erzähl uns Geschichten über Erfurt. Ergötze uns mit deiner merkwürdigen Sprache.“
Nun grinsten sie alle und der junge Mann verstand, was hier geschah. Sie spielten mit ihm, wollten ihn quälen und verhöhnen. Er sank in dem Stuhl zusammen, sah an die Decke und betrachte das Muster. Die blauen Lilien waren im Halbdunkel des Kerkers nicht mehr als ein verwelkter Trauerkranz, verschlungen in einem Netz aus Unkraut. Irgendwo dort oben war ein kleines Objekt, was er kurz für einen Feuermelder hielt. Während er so nach oben blickte, fasste er tief in seinen Gedanken einen Entschluss.
„Na gut…“, stammelte er. „Was wollt ihr wissen? Ich kann…“, und als die Wachen den scheinbar wehrlosen Mann erneut fesseln wollten, sprang dieser auf. Sie griffen nach ihm und er warf sich zu Boden.
Tatsächlich schien er die Männer damit überrascht zu haben. Der kahle Wachmann stolperte nach vorne und prallte auf das Gegenüber. Hektik und Schreie erfüllten plötzlich den Kerker. Der junge Mann war robust und es gelang ihm, sich auf die Seite zu rollen, gierige Hände mit Tritten fernzuhalten. Mit aller Wucht trat er aus und traf das Knie eines Wachmanns, der laut aufschrie. Dann mühte er sich aus der Hocke nach oben, taumelte in Richtung Tür, aber dort warteten bereits die nächsten Wachen. Hinter sich hörte er die schrillen Schreie des Vorsitzenden.
Er sah sich um; überall waren hässliche Fratzen der Vergangenheit. Ihre wütenden, aber so teuflisch echten Augen rückten zögerlich näher an ihn heran. Sie spüren, dass hier etwas nicht stimmt, dachte er halb belustigt. Diese ekligen Mittelalter-Spasten spüren es selbst. Der kräftige Wächter stand vor ihm und zückte einen Säbel. Er saß in der Falle.
Dennoch war die Panik beinahe gänzlich verzogen.
Langsam nahm er die Fäuste hoch und sagte: „Dann holt mich doch ihr Missgeburten!“
Es tat gut diese Worte auszusprechen, auch wenn sie nicht wirklich an die Wachen oder das Tribunal gerichtet waren, sondern viel mehr den Schrauben des Universums galten, die auseinandergeraten waren und ihn ohne Vorwarnung, ohne Versäumnis, an jenen Ort brachten.
Die Wachen zögerten noch immer, und der junge Mann nutzte den Moment. Mit einem plötzlichen Ruck machte er kehrt, setzte zum Sprint an und brach mitten durch ihre Reihen, das Ziel fest vor Augen: die große Holztüre. Für einen kurzen, hoffnungsvollen Augenblick schien es, als würde er es schaffen. Nur noch wenige Meter trennten ihn von dem Ausgang.
Dann schoss etwas durch die Luft, ein silberner Schweif, der im trüben Licht des Kerkers aufblitzte. Der Säbel traf ihn an der Schulter, riss durch Stoff und Haut, bis das rohe Fleisch freigelegt war. Ein jäher Schmerz durchzuckte ihn, als würde sein Nervensystem zersplittern. Warmes Blut lief den Arm hinunter, der binnen Sekunden taub wurde. Mit einem dumpfen Aufprall ging er in die Knie, den blutenden Arm fest an die Seite gepresst. Der kleine Wachmann, der ihm auf dem Weg hierher das Bein umklammert hatte, trat näher und hob den Säbel, bereit zum finalen Schlag.
Bevor die Klinge niedersausen konnte, erklang erneut die Stimme des Vorsitzenden: „Bringt ihn fort. Lasst ihn bis Sonnenaufgang verwahren.“
Ohne Widerstand zu leisten wurde er von den Wachen gepackt und davon geschleppt. Sein Geist hatte sich der Verzweiflung ergeben. Sie schleiften ihn denselben Weg zurück. Die Gänge waren nun menschenleer und der Garten verwaist. Ein drückendes Schweigen lag über dem Ort, durchbrochen nur von den gedämpften Schritten der Wachen und dem schleifenden Geräusch seines Körpers auf den kalten Steinplatten.
Trotz der immensen Schmerzen sprach er ruhig: „Ihr müsst das nicht tun. Ich bin unschuldig.“
Keine Antwort. Nur die stummen, geübten Gesichter der Wachen, die ihn hartnäckig vorwärts zogen. Einer von ihnen, vielleicht der Jüngste, warf ihm einen kurzen, mitleidigen Blick zu. Zumindest glaubte er das.
Diesmal schritten sie schwerfälliger, ihre Bewegungen langsamer, als wären auch sie erschöpft von diesem endlosen Durcheinander. Wie Schlafwandler schlurften sie durch das Labyrinth des Schlosses. Es fühlte sich an, als ob sie alle – er und die Wachen gleichermaßen – an den Rand der Erschöpfung getrieben waren, ziellos in einer Welt, die jeden Sinn verloren hatte.
Sie zerrten ihn endlose Treppen hinauf, keuchend unter der Last seines schlaffen Körpers, bis ihre Atemzüge wie das Hecheln erschöpfter Tiere klangen. Schließlich warfen sie ihn in eine winzige Zelle, kaum größer als drei Schritte in jede Richtung. Kein Bett, nur ein spärlicher Haufen Heu, zusammengehalten von einem groben Leinensack, lag auf dem Boden.
Die Ketten an seinen Füßen klirrten leise, als er sich in das Heu sinken ließ. Sie schnitten in seine Haut, scheuerten sie auf, aber der Schmerz war längst zu einem dumpfen Pochen geworden, das er kaum noch wahrnahm.
Grausige Kopfschmerzen plagten ihn, machten jeden klaren Gedanken unmöglich. Alles, was er wollte, war ein Schluck Wasser.
Von der Schulter bis zum Ellbogen war jede Empfindung verschwunden, die Lumpen schwer von getrocknetem Blut, doch die Wunde hatte endlich aufgehört zu bluten. Immer wieder dröhnte die Stimme des Vorsitzenden in seinem Kopf: Ein Spion? Ein Mörder?
Das kleine, runde Objekt an der Decke des Kerkers, das einem Feuermelder ähnelte oder zu ähneln schien, tauchte kurz in seinen Gedanken auf, nur um sogleich wieder in die Bedeutungslosigkeit zu sinken – nicht mehr als ein funkelnder Tropfen im weiten, unergründlichen Ozean.
Sonnenstrahlen drangen durch einen Spalt in der Wand und warfen ein trübes Licht auf die Steinmauern. Er robbte näher an den Spalt heran. Von hier aus konnte er die imposanten Türme der Festung sehen, die hoch über dem Boden ragten. Dazwischen breiteten sich weitläufige Gärten aus, in denen Rosen und Sträucher wuchsen. Durch den Spalt hindurch konnte er zudem die Silhouetten weiterer Springbrunnen erkennen.
Ein warmer Sommerwind strich hinein, als wollte er ein letztes Lebewohl flüstern. In der Ferne erstreckten sich Wälder, die im goldenen Glanz des abendlichen Himmels verschwanden. Geschwungene Wege verbanden das Anwesen mit der Wildnis.
Wie es wohl wäre, auf einem Pferd dort entlangzureiten, den Wind in den Haaren, die Unendlichkeit der Wälder vor sich?
Er fühlte sich müde und zermürbt. War dies alles real? Die Gedankenströme waren nun ebenso kraftlos wie seine Glieder. Er versuchte, sich an Luisa zu erinnern, an seine Eltern, an die Sicherheit seines früheren Lebens. Die Bilder zerflossen, nichts blieb greifbar.
Vielleicht, so dachte er, wache ich morgen in meinem eigenen Bett auf. Der Gedanke klang fast lächerlich, doch er klammerte sich daran, wie ein Ertrinkender an einem Strohhalm. Für einen Moment spendete ihm diese Hoffnung Trost.
So blieb er still vor dem Spalt sitzen, beobachtete, wie die letzten Sonnenstrahlen des Tages verblassten, bis der bleiche Mondschein ihn umhüllte.
Vielleicht würde er morgen wirklich erwachen. Oder nie mehr.
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SaSa2602 • Am 30.09.2024 um 10:27 Uhr | |||
Super spannend geschrieben. Mag auch das offene Ende… | ||||
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Klugscheisser • Am 29.09.2024 um 22:41 Uhr | |||||||||||
Sorry, ist mir etwas zu heftig. | ||||||||||||
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