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Akte X in Thüringen

18
06.03.25 14:50
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

8 Charaktere

Stella Runy

ruppige Chefgeologin

Pham Trai Tuan

Teenager, nerdiger Einzelgänger, zu seiner eigenen Überraschung von Abenteuerlust gepackt

Mats Kübler

Tuans Freund, Sohn des Geschäftsführers

Julia

Flamme von Mats

Jonathan Borliesen

Hydrologe, Stellas Stellvertreter

Ennes Asik

Praktikant und Assistent

Pascal Kübler

Geschäftsführer der Feengrotte

René Schöppler

Haustechniker

„Alter, wie krass!“

Tuan verzieht das Gesicht, als Julia ihre Begeisterung in die unterirdische Welt quiekt.

Mats fährt herum. „Leise, habe ich gesagt!“

Auf sein Anblaffen hin legt das Mädchen die Hände vor den Mund und hüpft auf der Stelle wie ein Kind, das gleich seinen Superhelden in Disneyworld umarmen darf.

Nervig, befindet Tuan. Er weiß, dass sein Kumpel seit Langem ein Auge auf die zierliche Blondine geworfen hat und mittlerweile eindeutige Annäherungsversuche macht: Kino, Eis im Freibad, Einladung zu Geburtstagsfeiern und jetzt das hier. Er fragt sich, wieso Mats ihn unbedingt dabeihaben wollte. Wohl kaum als Anstandswauwau. Eher als Rückenstärkung. Na klasse.

Trotzdem muss er Julia recht geben. Er kennt die Grotte, so wie wahrscheinlich jedes Kind Südthüringens. Zig Mal war er schon hier unten, privat und auf Schulausflügen, ist die ellenlangen Stollen entlang gelaufen bis hinab zur untersten Sole. Aber nachts, nur erhellt von ihren Stirnlampen und den Kerzenstummeln, die Mats ihnen als eine Art romantisches Accessoire in die Hand gedrückt hat, wirkt die Tropfsteinhöhle imposanter und um einiges schauriger, vor allem, weil sie sie dank Mats tatsächlich betreten können. Ihre Lichter reichen nicht bis in alle Ecken und Winkel, ein Großteil der Stalaktiten und Stalagmiten wird von Schatten verzerrt. Die Oberfläche des Grubensees ist so dunkel, dass er tiefer und geheimnisvoller als sonst scheint, bedrohlich beinahe.

„Hättest du hier unten nicht auch einfach das Licht einschalten können?“, fragt er seinen Freund leise. „Wie in den Stollen?“

Mats lacht und schüttelt den Kopf. „Nee, das merken die garantiert. Bestimmt hockt irgendwo ein Techniker und starrt auf einen Kontrollbildschirm. Außerdem - wo wäre denn da der Spaß?“

„Was ist mit Kameras?“

„Wozu? Wer ist schon so bekloppt und bricht in ein Bergwerk ein? Ist schließlich nicht ungefährlich. Enge Gänge, tiefe Decken, alles feucht.“

„Hast dir echt was einfallen lassen“, sagt Julia und knufft Mats in den Arm.

„Was tut man nicht alles für eine schöne Frau“, antwortet der Rotschopf. Julias Berührung zaubert ein dümmliches Grinsen auf sein Gesicht.

Julia lächelt zurück. „Und was jetzt?“

„Beweisfoto.“ Er zieht Julia an seine Seite und legt einen Arm um sie. Das Mädchen quietscht aufgeregt. Mats feixt und fordert Tuan mit Blicken und Augenrollen auf, gefälligst auf den Auslöser zu drücken.

Tuan seufzt, nimmt Mats Handy entgegen und spielt das Spielchen mit. Er dirigiert das Pärchen mal in die eine, mal in die andere Richtung, gibt Anweisungen, wie sie stehen, gucken, die Kerzen halten sollen. Nach einem kurzen Blitzlichtgewitter reicht er dem Kumpel sein Handy zurück.

„Und jetzt Handys weg. Wir machen es wie die Höhlenmenschen. Nur Kerzen und die Lampen.“ Mats zeigt in die Düsternis vor ihnen. „Da hinten gibt es eine Stelle, wo wir campen können.“

Tuan runzelt die Stirn. „Campen. Hier drin.“

„Lagern halt. Ihr habt eure Decken dabei?“

Julia klopft auf ihren Rucksack. „Decke, was zu knabbern und ein paar Kippen von meiner Mutter.“

„Ich rauche nicht“, erwidert Tuan und schaut zur Decke, die wie verzaubert aufleuchtet, als der Strahl seiner Stirnlampe sie trifft. „Was ist mit der Sturmwarnung?“

Mats schiebt ihn zur Seite und geht voran in die Dunkelheit. „Was soll sein? Ist eben windig draußen. Hier drinnen ist es schön gemütlich. Ich hab auch was zum Trinken dabei, falls uns kalt wird.“

„Tee?“, fragt Tuan hoffnungsvoll, weil er schon jetzt ein wenig fröstelt.

Mats Auflachen hallt von den Wänden wider. „Du bist echt gut.“

Innerlich stöhnt Tuan, aber er folgt Mats und Julia, deren Beine in einer Doppelschicht Leggings und überdimensionalen Boots stecken. Alle drei bewegen sich vorsichtig, halten Abstand zum See. Tuan spürt den unebenen Boden unter den Turnschuhen, hört das Knirschen der Steinchen, atmet die mineralische Luft ein, die so anders ist unter der Erde; klarer, ohne all den Dreck von oben, ohne Staub und Pollen und die Einflüsse der Witterung.

Minuten später sitzen sie auf ihren Decken und lassen eine Flasche Rotwein kreisen, der zu Tuans Erleichterung von innen wärmt. Mats und Julia paffen eine Zigarette und tuscheln miteinander. Tuan fühlt sich ausgeschlossen, sinkt zurück auf seine Ellenbogen, mustert die Decke, starrt in die kalkigen, glitzernden Spitzen der Tropfsteine. Fasziniert zieht er sein Handy und knipst Bilder von der Umgebung.

„Mann, steck weg!“, zischt Mats ärgerlich, als das Licht ihn zum wiederholten Mal blendet.

Tuan streckt dem Rotschopf die Zunge heraus, verstaut das Handy in der Jackeninnentasche und erschrickt, als er plötzlich ein Tröpfeln vernimmt. Sofort setzt er sich aufrechter hin. „Scheiße, was ist das?“

„Calm down“, sagt Mats. „Wahrscheinlich hat es angefangen zu gießen.“

„Du meinst, es regnet rein?“, hakt Julia nach.

„Kann passieren. Wenn es zu doll wird, müssen wir raus.“

„Wieso?“ Wieder werden ihre Augen kugelrund. Wie Manga-Augen, denkt Tuan.

„Damit wir nicht nass werden, Schätzelein. Außerdem können sich Steine lösen und runter fallen.“

Plötzlich wird Tuan sehr bewusst, dass mehrere Meter Gestein und Erdreich über ihm liegen und er spürt, wie sein Magen sich zusammenzieht. Rasch nimmt er einen weiteren Schluck Wein.

Auch Julia wirkt mit einem Mal unsicher. Mats legt einen Arm um sie. „Du musst keine Angst haben. Ich bin ja da.“

Bescheuertster Spruch aller Zeiten, denkt Tuan, aber Julia scheint sich zu beruhigen. Sie verzieht ihr Gesicht zu einem etwas verkrampften Lächeln und zaubert einen zerknüllten Joint hervor. „Let’s have some fun.“

Während Mats feixt, lässt Tuan sich wieder auf den Rücken fallen und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, wünscht sich zurück in seine Dachkammer hinter seinen Rechner. Real life, scheiß drauf. Er beschließt, spätestens dann zu verschwinden, wenn die beiden Turteltauben zu knutschen anfangen. Was wahrscheinlich nicht mehr lange dauern wird.

Ein Geräusch jagt ihn Sekunden später zurück in die Aufrechte. Es klingt, als schlürfe ein Riese den Rest eines Riesentellers Suppe und sauge gleichzeitig mit einem Riesentrinkhalm den letzten Schluck aus einer Riesencoladose.

Auch Julia und Mats sitzen wie erstarrt und lauschen angestrengt.

Jählings scheint es, als erwache die Umgebung. Weitere, nicht minder seltsame Laute gesellen sich zu dem Schlürfen und Saugen. Ein Mahlen ertönt, als würden Tonnen von Kieseln unter einer Schuhsohle zerdrückt, danach ein Knirschen. Aber es ist nicht das wohlige Knirschen, dass er mit Schnee und Winter assoziiert, sondern ein ungesundes, wie von brechenden Gelenken und reißenden Sehnen. Ein Knirschen, bei dem ihm übel wird.

„Was ist das?“, ruft Julia mit hellerer Stimme als sonst. Ihre Manga-Augen huschen umher, ebenso der Strahl ihrer Stirnlampe. Er springt hin und her, verstärkt die Dunkelheit mehr, als sie zu erhellen.

„Halt still!“, herrscht Tuan die Blondine an, die ruckartig wieder einfriert.

Tuan kämpft sich auf die Füße und stellt sich neben sie. „Guck gerade aus!“, befiehlt er, als sie ihn ansieht und der Strahl ihn blendet.

Sie gehorcht ohne Diskussion.

Mats ist geistesgegenwärtig genug, seine Lampe mit der Hand abzudecken, bevor er sich an ihn wendet. „Was ist? Seht ihr was?“

Tuan blinzelt in die Richtung, in die seine und Julias Lampen strahlen. „Keine Ahnung. Komm mit her.“ Mittlerweile muss er rufen, damit Mats, der nur einen halben Meter neben ihm hockt, ihn hört. Neue Geräusche, die alle nichts Gutes verheißen, dringen von allen Seiten an seine Ohren: Plätschern, Gluckern, Tropfen.

„Irgendwo ist Wasser“, sagt er, als Mats neben ihnen seine Lampe ausrichtet.

„Bricht die Höhle ein?“, fragt Julia verängstigt. Sie klingt jünger als sie ist, zwingt sich jedoch, ihren Kopf nicht zu drehen, wozu durchaus Willenskraft gehört, denn der Geräuschpegel um sie herum wandert noch einige Dezibel nach oben.

Tuan schluckt mit trockener Kehle, aber er konzentriert sich, fokussiert den Blick nach vorn auf den gebündelten Lichtkegel der drei Lampen. Viel sieht er nicht, auch wenn die Lautstärke signalisiert, dass etwas Großes in Bewegung geraten ist. Rötlich-braun schimmernde Wände, gezackte Steingebilde, Unmengen dunkle Nischen, Vorsprünge und Kanten, der See, dessen Wasser sich zu kräuseln scheint.

„Guckt aufs Wasser!“, kommandiert er. Zeitgleich senken sie die Köpfe.

„Was ...?“, fragt Mats und verstummt sodann.

Bläschen steigen von der Wasseroberfläche auf. An anderen Stellen formen sich kleine Strudel und Trichter. An den Rändern des Grottensees bilden sich Wellen, die keinem Muster zu folgen scheinen. Sie verlaufen kreuz und quer, überlappen sich, potenzieren oder nivellieren einander. Wassersäulen schießen aus der Mitte des Sees in die Luft. Seltsamerweise fallen sie nicht wieder in sich zusammen, sondern wandern Richtung Decke, lecken an Stalaktitenspitzen, perlen sich nach oben.

„Verschwinden wir!“, schreit Julia mit einem ersten Anflug von Hysterie in der Stimme.

Verwundert registriert Tuan, dass ihre blonden Haare ihr klamm in die Stirn hängen und auf ihrem Gesicht Tröpfchen glänzen. Mascara läuft ihr über die Wangen. Auch Mats sorgsam gegelte Frisur ist in sich zusammengefallen. Tuan fährt sich über die eigenen Haare. Sie sind feucht.

„Es regnet“, stellt Mats verwirrt fest.

„Nein, es ist eher wie Gischt“, gibt Tuan zurück. „Als wäre man bei Sturm am Meer.“

In der Tat bäumt der See sich auf wie das Südchinesische Meer. Tuan spürt dieselbe Mischung aus Angst, Faszination und Spannung wie damals als Neunjähriger. Gebannt schaut er zu, wie Wellen sich auftürmen, immer höher und höher, bis sie ihn und seine Freunde überragen. Er wappnet sich gegen den Wellenschlag, tastet nach Mats und Julias Händen, stemmt seine Beine in den Boden, aber nichts passiert. Nässe legt sich zwar auf jeden Zentimeter Haut, Haar und Kleidung, doch die Wellen fallen in sich zusammen, strudeln und schäumen, scheinen zu qualmen, während die Lautstärke zunimmt und schmerzhaft in den Ohren dröhnt.

Und dann, mit einem Mal, fließt der See in die Mitte seines Bettes zurück, scheint sich dort zu sammeln, zu einem fließenden Gebilde zu wachsen.

„Zurück“, haucht Tuan, lässt die Hände der beiden anderen los und grapscht blind nach Decke und Rucksack. „Weg hier. Schnell.“ Hastig fliegt sein Kopf in alle Richtungen, suchen seine Augen nach dem Ausgang.

Mats reißt ihn zurück. „Nicht da lang. Hoch. Da hinten. Los.“ Mats stößt die Wörter aus wie ein Marathonläufer kurz vor dem Ziel. Er bückt sich nach seinen Sachen und schubst Julia in Richtung Wand.

„Nein!“, brüllt Tuan. „Nicht zur Wand. Das Wasser zerquetscht uns.“

Mats hört nicht. Er zieht Julia mit sich und Tuan folgt ihnen eine Art Steinbrücke empor, die zwischen zwei Wänden liegt wie die Säule einer antiken Tempelruine. Kopflos kraxeln sie die von der Gischt glitschige Strebe entlang, klammern sich an einen verkalkten Vorsprung, beobachten aus unsicherer Höhe, wie der Grottensee sich zusammenballt wie ein monströses Lebewesen, wie er seine Ränder schlürfend, schmatzend, saugend an sich zieht, wie er wächst und wächst, bis hinauf zu den herabhängenden Spitzen der Tropfsteine. Im Lichtkegel ihrer dürftigen Stirnlampen erkennen sie, wie immer mehr Seeboden erscheint, dunkler als das Gestein und die Erde ringsum. Miniaturartige Lebewesen huschen davon, Molche und Olme vielleicht, möglicherweise auch Krebstierchen oder Wasserspinnen.

Etwas zerrt an Tuans Wangen und Stirn. Als er Mats und Julia ansieht, erkennt er, dass die Wassertröpfchen sich von ihnen lösen und zu dem Seegebilde zurückfliegen, um sich mit diesem zu vereinen. Nach wenigen Minuten fühlt sein Gesicht sich maskenhaft an, weil alle Feuchtigkeit aus seiner Haut verschwunden ist. Einen Wimpernschlag lang überlegt er, ob der See ihnen alles Wasser aus dem Körper saugen und sie vertrocknet und brüchig wie Insektenflügel zurücklassen wird. Der Gedanke schwindet, als er realisiert, dass das Seewesen sich in Bewegung setzt. Es ist ein amorphes Gebilde ohne klare Konturen, quallenartig fließend, substanzlos und gegenständlich zugleich. Niemand von ihnen wagt zu atmen, als der Grottensee sich aus seinem Bett heraus stülpt und sich in den Stollen presst, um die Grotte zu verlassen wie ein heimlicher Besucher.

Als der See verschwunden ist, kehrt ohrenbetäubende Stille ein. Minutenlang starren die drei Jugendlichen sich schweigend an, bis Mats seine Stimme wiederfindet. „Himmel, was für ein Trip.“

Tuan schüttelt seine tauben Arme und Beine aus, befühlt sein Gesicht, spürt bereits, wie das Klima der Grube sich verändert. Es ist trocken wie in der Wüste geworden, aber kalt und klamm. „Von wegen“, knurrt er. „Ich habe nicht mal mitgeraucht.“

„Fuck, was war das?“, fragt Julia. Ihre Stimme zittert, ansonsten wirkt sie überraschend gefasst. Sie sieht anders aus ohne all das Make-up und mit dem verstrubbelten Haar.

„Der See ist verschwunden“, entgegnet Tuan langsam und ausdruckslos.

„Wohin?“ Er zuckt mit den Schultern.

„Hat jemand Fotos gemacht?“

Mats und Tuan schütteln die Köpfe.

„Dann sollten wir hinterher“, schlägt Julia vor. „Wir müssen das aufklären. Beweise sichern.“

Mats Hand schießt hervor, krallt sich um ihren Arm. „Auf gar keinen Fall. Nachher steht das Wasser in den Stollen, wo wir nirgendwohin ausweichen können. Außerdem: Mein Vater bringt mich um.“

„Quatsch.“

„Und wie! Das, was wir hier machen, ist Hausfriedensbruch.“

„Blödsinn. Uns passiert schon nichts, schon gar nicht, wenn wir diese Meldung raushauen.“

„Nein“, beschließt Mats. „Zu riskant. Nachher kriegt mein Vater noch Ärger.“

„Ihm gehört die Grube!“

„Er ist der Geschäftsführer, das ist was anderes. Ihr haltet die Klappe! Alle beide! Schwört!“

„Bist du gar nicht neugierig?“, fragt Tuan. „Du faselst doch immer von Abenteuer, was erleben und so.“

Mats faucht einen Fluch und schickt sich an, vorsichtig die Steinstrebe hinunterzurutschen. „Vergiss es. Kein Wort. Zu niemandem. Sonst waren wir die längste Zeit Freunde. Dann stehst du ziemlich allein da, Tuan.“

Tuan starrt Mats an, bis dessen Blick flackert. Schließlich nickt er und packt seine unnatürlich trockenen Siebensachen zusammen.

„Mann“, stöhnt Mats. „Ich kriege nen Arsch voll Probleme. Wir alle, aber ich am meisten. Lasst uns das Ganze einfach vergessen.“

„Hm.“

„Das ist alles? Hm?“

Stella Runy ignoriert Jonathan Borliesens Bemerkung. Stattdessen legt sie den Kopf in den Nacken und mustert die Stalaktiten. „Schaurig“, murmelt sie.

„Was? Die Tropfsteine?“

Sie nickt, ohne den Blick von der gewölbeartigen Decke zu nehmen. „Sehen aus wie Dolche. Sollten sie beschließen, auf uns zu fallen, durchbohren sie uns glatt. Gruselige Vorstellung.“ Sie schüttelt sich und dreht sich endlich wieder zu den anderen um.

Jonathan verdreht die Augen. „Stalaktiten beschließen nicht, zu fallen. Das sollte die Frau Chefgeologin eigentlich wissen.“

„Nun, das Wasser hat beschlossen, einfach zu verschwinden.“

Jonathan stemmt seine Arme in die schmalen Hüften. „Echt jetzt? Das ist deine Expertenmeinung?“

„Nun ja. Es ist weg. Alles. Jeder verdammte Tropfen, sogar die Tröpfchen auf den Wänden.“ Ihre Stimme wird mit jedem Wort leiser.

„Sag bloß.“ Jonathan lüftet seinen Helm und reibt sich über die Stirn. Hier unten ist es ziemlich kühl, aber an seinem Haaransatz kleben Schweißtropfen.

„Es riecht nicht einmal mehr wie in einer Höhle“, stellt Stella fest und hebt die Nase wie ein Tier, das Witterung aufnimmt. Die Männer tun es ihr nach.

„Krass“, sagt Ennes Asik.

Die anderen nicken unisono.

Pascal Kübler schabt mit der Gummistiefelspitze über den krümeligen Boden. „Knochentrocken. Wie kann das sein? Vor ein paar Tagen stand hier noch ein See. Selbst wenn er irgendwie versickert ist, kann doch nicht alles schon verdunstet sein.“ Seine Stimme hebt sich wie bei einer Frage, signalisiert Unsicherheit.

„Schon gar nicht nach dem monstermäßigen Sturm der letzten Tage“, stimmt René Schöppler zu und streicht sich über seinen zerzausten Vier-Tage-Bart. „Da läuft es immer irgendwo runter. Deshalb hatten wir ja geschlossen.“

„Wann hattet ihr zuletzt geöffnet?“, fragt Stella den stämmigen Kauz in der Bauarbeiterhose.

Der kratzt sich an einer schorfigen Stelle am Hals, bevor er antwortet. „Donnerstag.“

„Da war das Wasser noch da?“

„Klaro.“

Pascal brummt zustimmend. „Ich hatte am Donnerstag mehrere Führungen. Alles war wie immer. Mittags kamen die ersten Sturmwarnungen, nach Feierabend der Sturm. Also machten wir zu.“

„War jemand hier während des Sturms? Du vielleicht?“ Stella sieht René an.

„Nee“, antwortet der Techniker. „Ich nehme an, die Büroleute haben gearbeitet. Die müssen ja nicht runter.“

Pascal verneint. „Home Office. War ziemliches Chaos auf den Straßen und nicht alle Mitarbeiter wohnen in Saalfeld. So war’s am unkompliziertesten. Ein Tag zu Hause ist ja kein großes Ding.“

„Also“, sagt Stella, vorsichtig den ehemaligen Grund des Höhlensees betretend und auf eine der porösen Wände zusteuernd. „Während es draußen tagelang in Strömen goss und es stürmte wie sonstwas, verschwand alles Wasser aus den Feengrotten.“ Sie schnippt mit den Fingern. „Einfach so.“ Sie berührt die mineralisch glitzernden Wände mit beiden Handflächen und atmet tief ein.

„Nur aus dem Märchendom“, berichtigt Jonathan, der sich den Helm in den Nacken geschoben hat. „Oben ist alles wie immer.“

Stella nickt, während sie zuhört und den Boden absucht. Plötzlich stutzt sie und bückt sich nach einer Flasche. „Macht ihr Weinverkostungen hier unten?“, wendet sie sich an den Grotten- und Geschäftsführer Pascal Kübler.

„Ach, Leute schleppen alles Mögliche hier rein. Gibt ihnen eine Art Kick. Sogar Kondome haben wir schon gefunden.“

Stella rümpft die Nase. „Leute haben hier Sex? Während der Führungen?“

„Sie bleiben zurück, trödeln rum, verstecken sich hinter Kurven. Passiert nicht jeden Tag, ist aber schon vorgekommen.“

„Kann es sein, dass sie außerhalb der Öffnungszeiten hier rein kommen?“

„Weshalb denn?“

„Keine Ahnung. Für den besonderen Kick? Ein Abenteuer?“

Pascal sieht René an, der vehement den Kopf schüttelt. „Nein. Man bräuchte einen Schlüssel.“

„Neben- oder Hintereingänge?“

„Ebenfalls verschlossen und verrammelt.“

„Keine Geheimeingänge oder so was?“

„Wir sind nicht bei Indiana Jones, sondern in einem Besucherbergwerk in Thüringen.“

„Also nein.“

Pascal schnaubt durch die Nase. „Nein, Frau Runy. Keine geheimen Stollen, nur ein paar abgelegene Sackgassen. Und die sind vergittert und verschlossen und stehen meistenteils unter Wasser.“

„Schade. Gab es Einbrüche?“

Jetzt schaut der Geschäftsführer den Haustechniker an, der die Mundwinkel nach unten zieht und verneint. „Nee. Nix. Keine aufgebrochenen Schlösser oder so.“

„Zerschlagene Fensterscheiben in einem der Büros?“ Beinahe hoffnungsvoll mustert Stella die Bergwerksmitarbeiter.

„Nee.“

„Hm.“ Stella belässt es dabei, dreht sich um die eigene Achse, betrachtet erneut die trockene Grotte. „Glitzert weniger ohne das Wasser“, murmelt sie. „Kein Spiegelbild mehr, kaum noch Farbenspiel. Viel weniger spektakulär. Nix mehr Märchendom. Einfach nur eine Grotte.“

Pascal fährt erschrocken zusammen. „Meinst du, die Besucher bleiben aus?“

„Bestimmt nicht. Mysterien ziehen Menschen magisch an.“

„Spinnst du jetzt? Mysterien? Ernsthaft?“, blafft Jonathan seine Kollegin an.

„Es hat schon etwas Geheimnisvolles. Findest du nicht?“

„Nein. Es ist anormal.“

„Ist das nicht dasselbe?“

„Wissenschaftliche Anomalien haben nichts mit Hokuspokus zu tun. Ich klemme mich hinter Rechner und Telefon und recherchiere, ob es so was schon mal gab.“

„Klar. Aralsee. Marmarameer.“

Jonathan verdreht die Augen. „Klimakatastrophen. Das Marmarameer ist übrigens noch da, nur tot.“

„Klimawandel? Daran denkt ihr? Hier?“ Pascal sieht den Hydrologen ungläubig an. „Das halbe Bergwerk steht ständig unter Wasser. Es hat tagelang geschüttet wie aus Eimern. Das ist das Gegenteil einer Dürre.“

Jonathan hebt abwehrend die Hände. „Ich denke noch gar nichts. Wie gesagt: Lasst mich erst einmal recherchieren.“ Er seufzt. „Als wären wir nicht schon überlastet genug. Leihst du mir Ennes für die Telefonarbeit, Stella?“

„Nein. Er ist mein Praktikant. Ich brauche ihn.“

„Für was? Deinen Kaffee?“

„Haha.“

„Ich kann aushelfen“, bietet Ennes an. „Wenn die Hydro Hilfe braucht.“

„Du willst lieber am Telefon abhängen als mit mir Feldforschung zu betreiben?“, fragt Stella perplex.

„Was? Nein. Äh. Keine Ahnung.“

„Dann lass mal los.“

„Wohin?“, fragen Pascal und Jonathan gleichzeitig.

„Euern Grubensee suchen.“

„Was meinst du mit suchen? Wo soll er schon hin sein?“ Verdattert blickt Pascal die Geologin an.

„Das würde ich auch gern wissen.“ Jonathan Borliesen verschränkt die Arme vor der Brust.

„Keine Ahnung. Aber irgendwo muss er ja sein.“

Jonathan senkt den Kopf und schüttelt ihn. Als er wieder hochsieht, lächelt er. „Wasser versickert oder es verdunstet. Ich weiß nur noch nicht, wie und warum.“

„Und wohin.“ Stella bohrt die Hacken ihres Wanderstiefels in den staubtrockenen Boden. „Ganz sicher ist es nicht unter uns. Es gäbe noch Pfützen und feuchte Stellen, wie überall sonst hier. Nur ist diese Grotte furztrocken. Aber okay. Vielleicht ist es gut, wenn du die Theorie übernimmst und ich die Praxis. Ich nehme Ennes mit, du holst dir Sarah als Verstärkung. Doch die anderen Sachen haben Vorrang. Du kümmerst dich drum. Bist ja mein Stellvertreter.“

„Ist das eine dienstliche Anweisung?“

„Wenn du willst.“

„Womit fängst du an?“

Sie wackelt mit der Weinflasche. „Hiermit.“

„Ist das nicht ein bisschen früh? Noch vor dem Mittag?“

Stella grinst. „Lustig.“ Dann wird sie wieder ernst und wendet sich an Pascal. „Du bist der Chef hier. Du hast doch bestimmt einen Ersatzschlüssel zu Hause. Für alle Fälle und für alle Türen.“

Pascal wird leichenblass, danach puterrot. „Ich bringe ihn um. Ich schwöre, ich bringe ihn um.“

„Vorher lässt du mich mit ihm reden.“

Tuan blinzelt die Frau mit den auberginefarbenen Haaren an. „Kriegen wir Ärger?“

„Nicht von mir“, entgegnet sie und bohrt ihren Blick reihum in jeden von ihnen.

„Sie sind nicht die Polizei?“, piepst Julia, die neben ihm im Polster der durchgesessenen Couch versinkt.

„Ich bin Stella Runy vom Landesamt für Umwelt, Bergbau und Naturschutz.“

„Wie der Fußballer?“, mischt Mats sich ein. Er hat die erste Standpauke seines Vaters bereits hinter sich und schaut erschöpft in die Runde.

„Bei uns arbeitet kein Fußballer, soweit ich weiß.“

Ennes kichert. „Meinst du Rooney?“, fragt er Mats. „Nein, sie heißt Runy. R-U-N-Y.“ Er sieht seine Chefin an und fügt erklärend hinzu: „Wayne Rooney. Englischer Mittelfeldstürmer. Damals jüngster Torschütze der Premier League. Galt als eine Art Fußball-Wunderkind.“

„Aha“, sagt Stella unbeeindruckt und kneift die Augen zusammen, um die drei Teenager erneut zu mustern. „Also?“

„Sie wollen wissen, was mit dem See passiert ist, oder?“, fragt Tuan.

„Oh ja.“

„Sind Sie Spezialistin für Wasser?“

„Ich bin Geologin.“

„Steine?“

„Auch.“ Sie zieht sich einen unbequem aussehenden Korbstuhl heran, dreht die Lehne zu sich und lässt sich wie ein Cowboy mit weit gespreizten Beinen auf ihm nieder. Ein herber Duft von Männerduschbad weht zu ihnen hinüber, als sie ihre Regenjacke aufknöpft. „Jetzt ihr.“

Mats und Julia beginnen gleichzeitig zu reden, wild durcheinander, sich gegenseitig ins Wort fallend und übertönend. Stella Runy runzelt die Stirn, versucht, zu verstehen, schwenkt aber bald einen Arm.

„Erzähl du“, fordert sie Tuan auf.

Er beginnt mit dem Betreten der Grotte und schließt mit ihrem Weggang, bemüht sich um die richtige Reihenfolge und die wesentlichen Fakten. Berichtsform, wie in der Schule. Außer, dass er das Präteritum nicht ganz durchhält.

Die Geologin unterbricht ihn kein einziges Mal, behält ihre stoische Miene bei. Nur als ihr Praktikant an einigen Stellen leise schnaubt, verzieht sie unwirsch die Stirn. „Wie ein Gebilde?“, vergewissert sie sich, sobald Tuan fertig ist.

„Ich weiß, wie bescheuert das klingt“, verteidigt er sich. „Aber so hat es nun mal ausgesehen.“

„Wasser hat keine eigene Form.“

„Dieses schon.“

Sie schürzt die Lippen, als sie schweigend eine Weile nachdenkt. „Habt ihr was geraucht?“, fragt sie dann.

Mats und Julia kriechen tiefer in die Polster. „Wir haben nur zweimal gezogen, höchstens dreimal. Wir waren nicht stoned“, verteidigt sich Mats.

„Plus Wein.“

„Plörre von der letzten Pizzabestellung. Wir haben nicht mal die ganze Pulle gesüffelt.“

„Weder betrunken noch stoned“, fasst Stella zusammen.

„Exactamente. Und Tuan sowieso nicht. Der ist wie Buddha in der Hinsicht.“

Stellas Blick schwenkt zurück zu Tuan. „Wo kommst du her?“, fragt sie.

„Saalfeld.“

Ihr Mund verzieht sich zu einem Lächeln, welches die Fältchen um ihre Augen vertieft. „Touché. Blöde Frage. Sorry.“

„Vietnam“, sagt er. „Meine Großeltern.“

„Seid ihr Buddhisten?“

„Kein Stück.“

„Aber du rauchst und trinkst nicht.“

„Nicht wirklich.“

„Stehst du auf so fantastisches Zeug? Science Fiction, Fantasy?“

Er lächelt. „Ja, und ich zocke Ballerspiele.“ Er wird wieder ernst. „Ich kann Fiktion und Wirklichkeit ganz gut auseinanderhalten. Wir verarschen Sie nicht. Das Wasser zog sich in die Mitte des Sees zurück, wie bei diesem Tsunami damals. In Asien. Wissen Sie noch, wie das Meer erst zurückwich?“

Ihr Gesicht wirkt mit einem Mal wie versteinert, als sie bejaht.

„Der Grubensee machte im Prinzip das Gleiche. Nur, dass er keine Riesenwelle wurde, obwohl es einen Moment genau danach aussah.“

„Tsunami heißt lange Welle, nicht hohe Welle.“

„Das Ding war weder das eine noch das andere. Es sah eher aus wie ein, na ja, ein Ding halt.“

„Das durch die Stollen verschwand. Ewig lange, enge Stollen. Aus mehreren Metern Tiefe, schön brav das Stollenlabyrinth hoch wie ein Besucher.“

„Ja. Zumindest haben wir nichts gesehen, als wir raus sind.“

„Wo seid ihr raus?“

„Den neuen Weg.“

Sie beugt sich vor und starrt ihn eindringlich an. „Ich habe mir die Grotte genau angesehen. Nirgendwo abgebrochene Stalaktiten, nicht einmal die Fadenstalaktiten, nirgendwo aufgerissene Wände oder aufgeschwemmter Boden. Nichts. Sieht aus, als wäre euer Wassergebilde auf Zehenspitzen hinausgetapst. Es hat keine Spuren hinterlassen.“

Tuan lehnt sich zurück. Ihr drängender Blick ist schwer auszuhalten. Sie hätte eine gute Verhörspezialistin abgegeben. „Ich lüge nicht.“

„Und dann? Was hat es draußen gemacht?“

„Keine Ahnung. Wir saßen auf dem Vorsprung.“

„Vielleicht hat es sich mit dem Regen vermischt“, wirft Julia leise ein. „Das wäre doch irgendwie logisch?“ Ihr Blick mäandert zwischen Stella, dem Praktikanten, Tuan und Mats hin und her.

„Keine Berichte von Flutwellen die Straßen entlang“, sagt der Praktikant auf eine stumme Frage seiner Chefin hin. „Habe vorhin noch einmal die Nachrichten gecheckt. Gab eine Menge Überschwemmungen und so, aber nichts Ungewöhnliches.“

„Niemand außer euch hat also irgendwas gesehen“, fügt Stella hinzu.

„Das wissen Sie nicht“, entgegnet Tuan.

„Meinst du nicht, jemand hätte sich gemeldet, wenn er so was sieht?“

„Wir haben uns auch nicht gemeldet.“ Jetzt klingt er beinahe trotzig.

„Aus offensichtlichen Gründen.“ Stella nickt und atmet hörbar aus. „Ihr hättet gleich Bescheid sagen sollen.“ Sie erhebt sich mit knirschenden Kniegelenken von dem unbequemen Stuhl.

„Eigentlich macht das keinen Unterschied.“

Sie verharrt mitten in der Bewegung und mustert ihn sekundenlang. Er schrumpft unter ihrem Blick, hält ihm jedoch stand. Zu seiner Überraschung nickt sie erneut. „Wahrscheinlich nicht, nein. Ich denke, deine Freundin hat recht. Grubenseewasser vermischt sich mit Regenwasser. Direkt vor dem Bergwerk löst sich der See quasi auf.“

Mats hebt den Arm wie in der Schule, bevor er spricht. „Und was ist, wenn er zusammengeblieben wäre? Als Gebilde? Wenn er woanders hingegangen ist?“

Vier Augenpaare blitzen ihn skeptisch an, bis er mit den Schultern zuckt. „Ich meine ja nur. Es sah wirklich so aus, als wäre er aus seinem Bett aufgestanden und hätte sich auf den Weg gemacht. Und ja, ich weiß, ich klinge komplett bescheuert. Was ist, wenn er, tja, keine Ahnung, sich ein neues Bett gesucht hat oder so? Wenn er nur auf so einen Megasturm gewartet hat, damit er heimlich verschwinden kann?“ Mats rollt die Unterlippe zwischen den Zähnen und lehnt sich zurück.

Kurz herrscht beinahe absolute Stille, in die Stellas „Warum?“ wie ein Donnergrollen hereinbricht.

„Weiß ich doch nicht, Mann. Klimawandel? Übersäuerter Boden? Zu viele Touristen? Verschmutzung? Langeweile?“

Das letzte Wort löst die angespannte Stimmung. Julia und er kichern, der Praktikant und Tuan schnauben. Selbst die ruppige Geologin verzieht den Mund, bevor sie sich an Ennes wendet. „Vorschläge?“

„Ähm ... Nö. Ich habe kein Plan“, erwidert er ehrlich.

„Keinen Plan“, verbessert sie, was ihr ein Augenrollen einbringt.

„Zu Befehl, jefa.“

„Und hör auf so zu reden, als wäre ich eine Drogenkartellkönigin aus Kolumbien.“

Tuan sieht seine Freunde an, die beide grinsen, belustigt vom Geplänkel der Umweltfrau und ihres Assistenten. Stella wirkt nun weniger autoritär als zu Beginn der Befragung, wenngleich ihr düsterer Blick und ihre dunkle Stimme ihnen weiterhin Respekt abnötigt.

„Und Sie?“, fragt Tuan die Frau mit den dunklen Haaren ernst. „Haben Sie einen Plan? Suchen Sie weiter nach dem Wasser?“

„Sicher. Ich hasse Schreibtischarbeit sowieso.“

„Also latschen Sie draußen rum und schauen, ob es irgendwo mehr Wasser gibt als vorher? Einen neuen See oder so?“

Nachdenklich reibt sie sich ihr Kinn. „Das klingt gar nicht so blöd.“

„Doch, das tut es“, wendet Ennes mit einem charmanten Grinsen ein. „Ich wüsste nicht mal, wo wir anfangen sollten.“

„Mit einem Helikopter.“

„Ernsthaft jetzt?“

Plötzlich erfasst die Geologin unruhige Betriebsamkeit und sie beginnt, in dem Dachzimmerchen hin und her zu tigern. „Wir überfliegen in einem Radius von 50 Kilometern. Das müsste die meisten Talsperren abdecken. Schmalwasser, Ohratal, Lütschetal, Heyda, Ratscher. Weida. Lössau und Zeulenroda. Obere und untere Saale.“ Sie zählt die Gewässer an den Fingern ab. „Sag den Kollegen in Sachsen und Bayern vorsichtshalber Bescheid. Und hol dir alle Pegelstände aus dem Gebiet. Schau nach, ob irgendwas aufploppt, Abweichungen und so. Halt dich auf dem Laufenden, Nachrichten betreffend. Und mich hast du auf der Standleitung.“

Ennes, der auf seinem Handy mitschreibt, nickt eifrig, dann sieht er auf. „Was machst du?“

„Einen Spaziergang.“

„Warten Sie!“

Stella dreht sich um, sieht den Teenager auf sich zukommen. Er verfällt in einen leichten Laufschritt, als er ihre Ungeduld bemerkt. Schlaksig wirkt er in den ausgewaschenen Jeans und dem Parka. Immerhin trägt er keine Jogginghosen wie sein Kumpel Mats.

Pham Trai Tuan, wiederholt sie im Kopf. Ennes hat die Namen der Jugendlichen penibel aufgeschrieben, weil er später ein Gesprächsprotokoll anfertigen möchte. Wahrscheinlich hat Borliesen ihm den Tipp gegeben.

Schwerer atmend langt Tuan bei ihr an. Offensichtlich ist er nicht in der Form seines Lebens. „Du keuchst ganz schön. Bist kein Sportler, was?“

„E-Sport ist eher mein Ding“, erwidert er und sieht sie an, als erwarte er eine Frage. Sie stellt sie nicht. Stattdessen wartet sie.

Er druckst nicht lange herum. „Darf ich mitkommen?“

Verwirrt schüttelt sie den Kopf. „Was? Wieso?“

„Mir ist langweilig“, gesteht er. „Mats hat Hausarrest für den Rest seines Lebens und Julia ... na ja, ich hänge nur mit ihr ab, weil Mats auf sie scharf ist.“

„Hast du keine anderen Freunde?“

Jetzt wird sein Teint noch eine Spur dunkler. „Nicht wirklich.“

„Was ist mit deinem E-Sport? Rechner kaputt?“

„Sie kennen das? Wie alt sind Sie?“

„Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man Frauen nicht nach ihrem Alter fragt?“

Er besitzt den Anstand, rot zu werden. „Sorry. Die meisten Leute Ihrer Generation wissen nicht, was E-Sport ist.“

„Ich habe einen Neffen und eine Nichte in deinem Alter.“

„Oh.“

Während sie plaudern, gehen sie die Straßen entlang, ohne einen Blick auf die Geschäfte und Cafés zu werfen. Der Tag ist bewölkt und ziemlich kalt, alles wirkt nass und grau und leer.

„Warum seid ihr eigentlich nicht in der Schule?“

„Wandertag. Aber bei dem Wetter hatten die meisten keinen Bock.“

„Und dann bleibt ihr einfach zu Hause?“

Er zuckt mit den Schultern. „Interessiert in der Elften niemanden mehr so richtig.“

„Seid ihr in derselben Klasse?“

„Wir haben ein paar Kurse zusammen.“

„Kurssystem, stimmt. Ist schon länger her bei mir, die Schule. Ich bin übrigens achtundvierzig.“

„Echt? Krass.“

„Das kommt häufiger vor, als man denkt.“ An einer Ampel bleibt sie stehen. „Also. Aus lauter Langeweile dackelst du nun mir hinterher, weil du denkst, ich nehme dich mit zu meinen Untersuchungen? Wie stellst du dir das vor?“

„Ist ja nicht so, als würden Sie Leichen bergen. Sie suchen Wasser. Das ist doch kein Staatsgeheimnis. Ich finde es einfach spannend. Ich will wissen, wie so was passieren kann.“

„Okay. Aber du kannst trotzdem nicht mit. Ich arbeite schließlich.“

„Ich kann Ihnen helfen. Gratis, als ... als Schülerpraktikant. Wo doch Ihrer beschäftigt ist.“

„Ennes ist einundzwanzig und studiert.“

„Na und? Ich hab Bio und Physik als Leistungskurs.“

„Oh, ein Naturwissenschaftler.“ Ihre Stimme klingt spöttisch, aber nicht verletzend.

„Ich bin nicht doof.“

„Das habe ich nicht behauptet.“

„Und ich bin Augenzeuge. Vielleicht erkenne ich was wieder, was Ihnen entgehen würde.“

Schnaubend drückt sie auf dem Knopf für Blinde herum, weil die Ampel nicht umschaltet.

„Das bringt überhaupt nichts“, erklärt Tuan. „Die Ampeln schalten nach einem Algorithmus. Computergesteuert.“

„Bis eben warst du mir sympathisch. Jetzt klingst du wie ein Klugscheißer.“

„Bitte. Vier Augen sehen mehr als zwei. Wo wollen Sie überhaupt hin?“ Er springt ihr hinterher, als sie endlich forschen Schrittes die Straße überquert.

„Zu mir nach Hause.“

„Hä?“

„Ich will mich noch mal ein Stündchen hinlegen und danach einen Kaffee trinken. Ist ekliges Wetter. Ich bin ganz schön durchgefroren und hatte noch kein Frühstück. Ennes Kaffee ist zwar spitzenmäßig, mit Kardamom und so, aber hey, in der Not ...“

Sie beendet den Satz nicht, weil sie vor einem Vierfamilienhaus stehengeblieben ist und in ihrem Rucksack nach dem Haustürschlüssel kramt, während Tuan sie mit offenem Mund anstarrt.

Wider Willen muss sie lachen. „Ich hole mein Auto“, erklärt sie. „Ennes hat den Dienstwagen. Aber einen Kaffee koche ich mir. Wie trinkst du deinen?“

„Ich trinke Tee.“

Stöhnend rollt sie mit den Augen. „Auch das noch. Wie weit wohnst du weg?“

„Zehn Minuten, wenn ich renne.“

„Dann renn mal. Ich habe nur eine Thermoskanne, und in die kommt garantiert kein Tee, es sei denn, ich bin krank. In einer halben Stunde haue ich ab. Wenn du bis dahin nicht zurück bist, hast du Pech gehabt.“

Ein zaghaftes Strahlen erscheint auf seinem nur wenig verpickelten Gesicht. „Bin sofort wieder da.“

„Zieh dir was Wärmeres an.“

Tuan stülpt sich die Kapuze über seinen Zopf, weil es anfängt zu nieseln. „Sehen Sie etwas Auffälliges?“

Sie sind zu den Feenwelten gefahren und haben dort geparkt. Danach sind sie ein paar hundert Meter einen Weg entlang gelaufen, wobei Stella besonders an dem schmalen Köditzbach interessiert scheint, zu dem sie immer wieder abbiegt.

„Nein. Du?“

Er hebt die Achseln. „Ein stinknormaler Bach, würde ich sagen. Glauben Sie, das Wasser ist in ihn gelaufen?“

Ein wenig abwesend starrt sie in den Nieselregen. „Irgendwie schon. Aber das ist vielleicht zu logisch, zu physikalisch - dass Wasser sich mit Wasser wiedervereint.“

„Sie meinen, wie ein Tier, das zurück zu seiner Herde will.“

„So ungefähr. Herrgott, kann es nicht einfach ein besonders ausgebuffter Aprilscherz sein?“

„Heute ist der dritte April.“

„Danke, mein Handy hat auch einen Kalender.“

„Wir waren von Donnerstag auf Freitag in der Grotte. Es haut nicht hin.“

„Es war auch als verzweifelter Scherz gemeint, Tuan.“

„Oh.“ Er kneift die Lippen zusammen.

„Mit Humor hast du es nicht so, stimmt’s?“

„Wollen Sie den gesamten Bach absuchen?“, lenkt er ab. „Das ist ein Stück.“

„Ein paar hundert Meter? Die wirst du ja wohl zu Fuß schaffen.“

„Ich meinte nur, ob Sie danach am Graben weiter gehen wollen.“

„Ja, bis zur Saale.“

„Und dann? Flussabwärts?“

Stella reibt sich die kalte Nasenspitze. „Tja, wie gesagt, wahrscheinlich denke ich zu logisch.“

„Wohin fließt die Saale?“

„Nanu? In Heimatkunde nicht aufgepasst?“

„Was ist Heimatkunde?“

Sie gluckert ein Lachen tief in ihrer Kehle. „Altes Schulfach in der DDR. Von der hast du aber schon mal gehört?“

„Haha.“

„Die Saale entspringt im Fichtelgebirge und mündet in die Elbe.“

„Wo genau?“

„Barby. Keine Sorge. Bis dahin laufen wir nicht.“

„Bis wohin dann?“

Sie wirft die Arme in die Luft. „Keine Ahnung! Ich weiß ja nicht einmal, wonach genau ich suche. Ich habe nur die winzige Hoffnung, dass sich der Grubensee irgendwo staut. Vielleicht meldet sich Ennes ja zwischendurch.“

„Jetzt mal ganz ohne Scheiß“, sagt Tuan. „Was glauben Sie denn, was da passiert ist? Was bringt einen See dazu, sich so zu verhalten?“

Ratlos hebt sie die Schultern. „Borliesen ist der Hydrologe.“

„Magnetismus“, schlägt Tuan vor. „Irgendwelche Störungen im Magnetfeld der Erde.“

„Wasser beeinflusst das Magnetfeld nicht, so weit ich weiß. Es ist ein Dipol und lässt sich von Magneten kaum ablenken. Außerdem würde doch dann alles Wasser auf der Erde reagieren.“

„Sonnenenergie. Sonnenstürme.“

„Oje, jetzt fährst du aber die ganz starken Geschütze auf. Doch auch hier gilt: Wäre dann nicht alles Wasser betroffen? Warum gerade dieser eine See?“

„Vielleicht ist es gar nicht der einzige.“

„Davon hätten wir gehört. Meldungen würden sich überschlagen.“

„Nicht, wenn es unerschlossene Höhlen sind, irgendwo im Regenwald oder so. Oder es hängt mit diesen Sinkholes zusammen. Davon gibt es in Thüringen doch mehrere, wegen der alten Bergwerke. Ich habe eine Doku darüber gesehen.“

„Wir nennen sie Senklöcher oder Erdfälle. Im Untergrund bilden sich Hohlräume, vor allem dort, wo es leicht lösliche Materialien gibt. Das Gestein wird von Wasser weggespült. Sind die Hohlräume zu nah an der Oberfläche - Bingo.“

„Sehen Sie? Wasser und Höhlen.“

„Dabei verschwindet doch aber kein See, schon gar nicht bis auf das letzte Partikel. Die gesamte Grotte weist kein Tröpfchen Wasser mehr auf. Es bleibt abzuwarten, was mit dem Höhlenklima passiert. Möglicherweise wird es für Menschen gefährlich.“ Sie nimmt ihr Handy heraus und aktiviert den Rekorder. „Borliesen auf Gefahr in Feengrotte hinweisen. Eventuelle Schließung vorbereiten.“

„Irgendwas mit dem Mond? Wie bei Ebbe und Flut?“

„Warum nicht gleich Außerirdische?“, fragt sie zurück, das Handy wieder wegsteckend. Sie seufzt frustriert und stiefelt weiter am Bach entlang. Ihre Nasenspitze leuchtet rot.

Für den Rest des längeren Spaziergangs verstummt das Gespräch. Beide hängen ihren Gedanken nach, wälzen absurde Ideen und abwegige Theorien im Kopf.

Vom Wasser keine Spur. Der Bach plätschert vor sich hin wie immer, vielleicht ein wenig stärker nach den Regenfällen der letzten Tage. Der Nieselregen wird dichter, sodass auch Stella irgendwann die Kapuze ihrer zweckmäßigen Jacke über ihr Haar stülpt. Sie schlagen sich am Bachufer entlang bis zur Saale und schauen sich um. Abgesehen von einer Baustelle entdecken sie nichts Auffälliges.

„Ach, Scheiße“, murmelt Stella und reibt sich die Stirn. In ihrem Gesicht stehen Ratlosigkeit und Frustration.

„Die neue wird bestimmt moderner als das alte DDR-Teil“, sagt Tuan und fängt sich einen gereizten Blick der Geologin ein. „Die Brücke“, schiebt er als Erklärung hinterher.

„Aha.“ Ihre Laune scheint sich verschlechtert zu haben, denn ihr Gesicht ist zur Faust geballt und sie ist kurz angebunden. Das schüchtert ihn ein.

„Wollen Sie eine Pause machen?“, fragt er zaghaft. „Wir könnten zur Kaffeestube an der großen Brücke gehen.“

„Haben die schon auf?“

Tuan bemüht sein Handy. „Seit 12, ja. Die haben alle möglichen Kaffeespezialitäten und Kuchen.“

„Zucker klingt gut.“ Wieder reibt Stella sich über die Stirn und kneift sich in den Nasenrücken.

„Haben Sie Kopfschmerzen?“

Sie stößt den Atem aus und schließt kurz die Augen. „Ein bisschen.“

„Sehen Sie verschwommen?“

„Warum fragst du?“

„Meine Mutter kriegt vor einem Migräneanfall meist diese Auren. Wenn das passiert, legt sie sich sofort ins Bett und macht die Vorhänge zu und alles aus: Fernseher, Radio, selbst ihr Handy. Wie ist das bei Ihnen?“

„Ich kotze. Aber nur bei ganz schlimmen Anfällen. Das hier ist wahrscheinlich nur normaler Kopfschmerz. Kälte bekommt mir nicht so. Habe auch nicht so viel geschlafen.“

„Haben Sie mittlerweile gefrühstückt?“

Sie seufzt. „Toll, meine Mutter ist ein sechzehnjähriger Teenie.“

Ennes ruft an, als Stella bei ihrem zweiten Stück Kuchen ist. Kauend meldet sie sich und hört dem Wortschwall ihres Praktikanten zu. Ihr Gesicht, welches sich bei Kaffee und Kuchen entspannt hat, nimmt wieder härtere Züge an. Sie stellt nur wenige Fragen, legt brüsk auf und signalisiert der Bedienung, dass sie zahlen möchte. Das letzte Stück Zupfkuchen isst sie bereits im Stehen.

Draußen hat der Nieselregen sich vorerst verzogen, aber es bleibt grau und kalt, als sie durch die verhangene Stadt Richtung Feengrotten eilen. So kommen einige Kilometer zusammen, denkt Tuan und rülpst verhalten. Der Mohnkuchen liegt in seinem Magen wie ein Stein, poltert unangenehm, als er versucht, mit der energischen Frau mitzuhalten. Sie scheint gut in Form, besser als er, obwohl sie in einer Behörde arbeitet und vermutlich Ewigkeiten am Schreibtisch sitzt. Vielleicht macht sie Sport. Oder vielleicht wandert sie öfter in der Natur herum und untersucht Gesteine.

Ennes schien aufgeregt, auch wenn er nicht gehört hat, worum genau es ging. Und Stella Runy scheint momentan nicht gewillt, ihn aufzuklären. Er muss sich wohl gedulden, bis sie beim Auto sind. Ob sie ihn weiter mitnimmt? Er wundert sich immer noch, dass sie ihn ohne längere Diskussionen hat mitmachen lassen. Noch mehr wundert er sich über sich selbst. Normalerweise mag er Fremde nicht sonderlich. Es fällt ihm schon schwer, mit Leuten, die er kennt, zu kommunizieren, Fremden gegenüber schweigt er meistens. Doch die Sache mit dem See hat ihn das ganze Wochenende beschäftigt, sogar bei Dark Souls konnte er nicht aufhören, über das nächtliche Abenteuer nachzudenken. Also hat er gegoogelt und Hypothesen aufgestellt. Der Entschluss, die ruppige Geologin zu fragen, ist so spontan gewesen, dass er ihn selbst überrumpelt hat. Als er zu Hause Tee gekocht und seinen Rucksack gepackt hat, haben seine Hände vor Aufregung gezittert.

Ihr Auto riecht noch genauso komisch wie vorhin, nach Männerduschbad, verbranntem Staub, altem Essen und Kaffee. Das mickrige Duftbäumchen, das über dem Spiegel baumelt, kann dagegen nichts ausrichten. Viele Gedanken scheint sie sich um ihre Karre nicht zu machen. Vorhin hat sie ihn angewiesen, den Papierkram und übrig gebliebene Einkäufe einfach auf die vollgestellte Rückbank zu schieben. Anscheinend fährt sie meist allein.

„Ennes hat eine Nachricht bekommen“, beginnt Stella, nachdem sie vom Parkplatz auf die B281 eingebogen sind. „Er hat alle möglichen Nachrichtenapps auf dem Handy, Social Media und auch das seriösere Zeug. Offenbar haben Wanderer beobachtet, wie ein alter Schieferbruch sich rasant mit Wasser füllte.“

„Okay. Also fließt es nicht mit dem anderen Wasser mit? Wir fahren nach Süden, oder?“ Er weist auf das Navi.

„Probstzella, ja. Warst du da schon mal?“

„Glaub nicht.“

„Stubenhocker. Ist schön da. Geheimtipp, wie unsere ganze Gegend hier. Ennes hat mir den Link zum Eintrag beim BfN geschickt.“ Sie nickt in Richtung ihres Handys.

Zögerlich nimmt er das Smartphone von der magnetischen Halterung, öffnet Signal und tippt auf Ennes Link. „Ehemaliges Schiefer-Bergbaugebiet mit größeren Silikat-Schutthalden, zahlreichen Stollen, Zwergstrauchheiden, Berg-Mähwiesen sowie Fichten- und Kiefernbeständen“, zitiert er von der Webseite.

„Ennes und Borliesen sind schon losgefahren. Wir treffen sie in Probstzella. Von dort aus laufen wir los. Gibt mehrere Halden und Brüche da.“

Tuan öffnet die Navigation wieder und heftet das Handy an das Magnettäfelchen. „Das kapiere ich nicht. Unser Grottensee ist, quasi als komplettes Ganzes, offenkundig in eine andere Höhle gewandert. Ich meine, geht das überhaupt?“

„Nein“, erwidert Stella und grinst so breit, dass zwei Reihen von Grübchen in ihren Wangen erscheinen. „Das ist absolut unmöglich.“ Sie klatscht mit beiden Händen aufs Lenkrad. „Total absurd.“

„Trotzdem haben Sie jetzt gute Laune?“, fragt Tuan und überlegt, ob die Kombination aus Koffein, Ibuprofen und Zucker sie immer so werden lässt.

„Immerhin haben wir eine Spur. Das blinde Herumgestochere von vorhin war nervtötend. Hoffentlich ist die Meldung echt.“ Sie schaut auf ihre Smartwatch. „Halbe Stunde circa. Dann sind wir in Probstzella.“ Sie dreht das Radio lauter und stimmt in ein Lied ein, das er schon mal gehört hat. „Ooh woo, I’m a rebel just for kicks, now / I been feeling it since 1966, now / Might be over now, but I feel it still.“ Mit den Händen klatscht sie den Takt auf dem Lenkrad mit, vollführt mit dem Oberkörper schlangenartige Tanzbewegungen.

Er sitzt stocksteif. Erwachsene, die sich gebärden wie Julia in der Disco, sind zum Fremdschämen. Dennoch muss er lächeln. Diese Geologin überrascht ihn immer wieder.

„Hausarrest?“, fragt Ennes grinsend. „Ernsthaft? Ich dachte, Kübler wollte seinen Spross bestrafen. Dabei denkt der sich: Cool, mehr Zeit am Rechner.“

Jonathan Borliesen nickt. „Früher haben Eltern die Kinder rausgejagt, heute ist es nur drinnen sicher.“

„Du musst es ja wissen, Opa“, sagt Stella.

„Stimmt doch“, entgegnet der Hydrologe, der bestimmt zehn, fünfzehn Jahre jünger ist als seine Chefin. Er trägt akkurat sitzende, dunkle Jeans und eine Jack-Wolfskin-Jacke, die ein Vermögen gekostet haben muss. Dutzende Taschen, Schnüre, Reißverschlüsse, zwei Kapuzen. Einzig seine knöchelhohen Schuhe weisen Gebrauchsspuren auf. Sie sind verschlammt und haben ihre ursprüngliche Farbe eingebüßt.

„Mein Neffe ist ständig draußen“, erwidert Stella. „Klar, er hockt viel hinter Bildschirmen, aber er macht auch eine Menge Sport, genau wie meine Nichte.“

„Hast du irgendwelche Kids auf dem Weg hierher gesehen? Außer deinem neuen Assistenten?“

„Hast du irgendwelche anderen Leute gesehen?“, kontert sie. „Bei dem Scheißwetter will doch niemand raus. Die Stadt ist wie ausgestorben. Wir sind die einzigen Idioten, die sich vor die Tür trauen.“

„Und die Wanderer“, widerspricht Ennes.

Tuan muss sich anstrengen, um mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Die drei marschieren über Straßen, Wege, Pfade und Wiesen, ohne auch nur schneller zu atmen. Im Gegensatz zu ihm, der ständig über Wurzeln und Steine stolpert und auf nassem Gras ausrutscht, laufen sie auf jedem Untergrund so sicher wie auf Asphalt.

„Mats darf nicht zocken“, keucht er zwischen tiefen Atemzügen. „Internetsperre und Handyverbot. Außerdem muss er in der Grotte aushelfen. Eine Woche lang, nach der Schule. Putzen und so.“

„Schau an. Der strenge Herr Kübler“, antwortet Ennes. „Und deine Freundin und du? Ihr wart doch auch dabei.“

„Tuan arbeitet seine Schuld bei mir ab“, sagt Stella.

„Wie denn? Er dackelt doch nur mit.“

„Er muss sie ertragen“, wirft Borliesen grinsend ein. „Das ist Strafe genug.“

Über die giftige Bemerkung muss sogar Stella lachen. Tuan denkt an ihren schiefen Gesang im Auto und gibt Borliesen teilweise recht. Dann sagt er laut: „Mats Vater hat Julias Eltern informiert. Wahrscheinlich darf sie Mats eine Weile nicht sehen und muss ihre kleinen Geschwister babysitten.“

„Wie weit noch?“, beendet Borliesen abrupt das Thema.

Ennes checkt sein Handy, springt zwischen Notizapp, Google Maps und Maps.Me hin und her. „Müssten gleich da sein. Ey, ohne Handy wären wir so aufgeschmissen. Bei dem Dunst und den Schauern sieht man keine drei Meter weit.“

„Übertreib nicht“, mahnt Stella.

Tuan blinzelt unter seiner Kapuze hervor. Aus dem Niesel ist anhaltender Regen geworden, der in Strippen aus dem Himmel fällt. Bleiern hängen die Wolken am Horizont. Die Landschaft sieht aus wie in mehrere Schichten Zement getaucht. Vor ihren Mündern bilden sich Atemwölkchen, wenn sie ausatmen oder sprechen. Abgesehen von den beiden Wanderern sind sie keiner Menschenseele begegnet, seit sie den Parkplatz verlassen haben. Ein bisschen fühlt es sich an, als sei die Menschheit ausgestorben.

„Ich habe mal so ein Buch gelesen“, sagt Ennes, als sie sich auf einer Anhöhe orientieren.

„Wow“, kommentiert Borliesen trocken.

„Da hat es einfach nicht mehr aufgehört zu regnen. Die ganze Welt ist abgesoffen. Am Ende verschwindet die Spitze des Mount Everest unter Wasser.“ Ennes dreht sich nach rechts und rutscht vorsichtig einen mit Schiefergestein übersäten Abhang hinab. „Ich kriege die Einzelheiten nicht mehr zusammen, aber es wurde mit einem versteckten Meer erklärt.“

„Ozeanhöhlen in der Antarktis“, sagt Borliesen. „Wurden schon in den Siebzigern erforscht. Spannendes Thema, vor allem im Hinblick auf den Klimawandel.“

Innerlich stöhnt Tuan. Er kann das Wort Klimawandel längst nicht mehr hören. Natürlich weiß er, dass das Thema wichtig ist - es wird einem ja pausenlos um die Ohren gehauen - aber es nervt ihn auch. Stella Runys Blick nach zu urteilen, geht es ihr ähnlich.

Während Ennes Asik und Jonathan Borliesen weiter über abtauendes Schelfeis, thermohaline Zirkulation und ansteigende Meeresspiegel fachsimpeln, studiert er die Landschaft um sich herum und muss zugeben, dass sie ihm gefällt. Sanfte Hügel und Täler, waldige Abschnitte, viel Schiefer.

„Hübsch“, sagt er zu Stella.

„Ja, ganz reizvoll“, erwidert die Geologin. „Musst mal herkommen, wenn die Sonne scheint und alles grünt und blüht. Thüringen hat interessante Ecken.“

„Okay.“ Tuan denkt an Vietnam, Laos und Kambodscha, wo seine Familie alle drei Jahre ihren Urlaub verbringt. Dagegen wirkt Thüringen doch ein wenig unspektakulär.

Stella sieht ihm seine Skepsis wohl an, denn ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht. „Geologisch gesehen. Wir haben Gesteine aus beinahe allen Perioden der Erdgeschichte.“

„Und Sie laufen rum und untersuchen die?“

„In meiner Freizeit. Mein Job besteht mehr aus Geophysik, Aerogeophysik, Umweltschutz und Tourismus. Am allermeisten aus Administration und Datenschutzgedöns.“ Sie seufzt.

„Also ist der verschwundene See eigentlich eine willkommene Abwechslung?“

„Ein wenig“, gibt sie zu. „Ich komme zwar viel rum, aber oft muss ich nur Sachen besichtigen und mit Leuten diskutieren.“

„Sammeln Sie Steine?“

Sie lacht und sieht sehnsüchtig auf den schiefergrauen Horizont. „Als ich etwa in deinem Alter war, hatte ich Steine aus jedem Urlaub auf dem Dachboden meiner Eltern. Hauptsächlich aus dem Erzgebirge, Böhmen, dem Harz oder von der Ostsee. Wo man halt so hinfuhr früher. Besonders stolz war ich auf einen Kiesel vom Balaton. Ich hab mir fest vorgenommen, aus jedem Land der Erde einen Stein mitzubringen.“

„Haben Sie es geschafft?“

„Nicht mal annähernd. Aber immerhin darf ich stolz behaupten, dass ich Steine von jedem Kontinent besitze.“

„Auch aus der Antarktis?“

„Ja, aber da habe ich geschummelt. Der Bekannte eines ehemaligen Studienfreundes hat mir einen von dort mitgebracht. Alle anderen habe ich eigenhändig aufgehoben.“

„Krass.“

„Sammelst du auch was?“

„Nee. Spiele vielleicht. Woher stammt Ihr asiatischer Stein?“

Schlagartig verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Ihre Züge verhärten sich und ihre Kiefer treten hervor. „Thailand.“

„Da drüben müsste es sein“, unterbricht Ennes in diesem Moment ihr Gespräch.

Zwischen nassen Birken und bemoosten Halden sind halb verfallene Schiefermauern aufgetaucht, auf denen gelbliche Flechten sprießen.

„Ab hier Vorsicht“, warnt Stella. „Es gibt mehrere Eingänge zu alten Tagebauen, aber auch versteckte Löcher und tiefe Stollen. Weißt du, wo genau die Wanderer waren?“

Ennes schüttelt den Kopf, dass Tröpfchen aus seinen Stirnlocken fliegen. „Sie haben mir nur die Skizze auf ihrer Restaurantrechnung in die Hand gedrückt. Offenbar sind sie hier überall herumgestromert.“

„Haben sie nicht gebloggt?“, fragt Tuan.

„Nein. Sie haben ein Foto gemacht, noch dazu ziemlich krisselig, und an ihren Sohn geschickt. Der hat es bei Insta hochgeladen und auf meine Anfrage geantwortet. Sie verbringen Ostern hier.“ Er tippt auf seinem Handy herum und zeigt ihnen das Bild des Wanderehepaars. Hinter ihnen sieht man ein dunkles Loch, ein paar Felswände und etwas Schillerndes.

Tuan tritt einen Schritt zurück, damit die drei Wissenschaftler das unscharfe Foto genauer studieren können. „Was ist das Weiße da?“, fragt er schließlich.

„Eis“, sagen Stella und Jonathan Borliesen wie aus einem Mund.

„Findet man in vielen verlassenen Stollen in nahezu allen Mittelgebirgen“, fügt Ennes hinzu. „Manchmal das ganze Jahr über.“

„Schränkt die Suche nur geringfügig ein“, seufzt Stella. Sie nimmt das Handy und hält es dichter vor ihre Augen, schiebt mit den Fingern das Bild größer. „Feldspat, ein bisschen Quarz, minimale Spuren Buntsandstein, Schwarzschiefer. Alles wie erwartet.“ Sie gibt das Handy an Ennes zurück und zuckt mit den Achseln. „Uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als überall zu suchen. Sollen wir uns aufteilen?“

„Jep“, entgegnet Borliesen entschieden, zieht ein paar Schnüre an seiner Jacke fester und legt Schultergurt und Bauchgurt seines Rucksacks um. Jetzt sieht er aus wie einer dieser Survival-Typen. Allerdings machen seine gebügelte Jeans und das glatt rasierte, rotwangige Gesicht den Eindruck ein wenig zunichte. „Ennes und ich fangen da hinten bei der Wand an, du und dein Schützling hier. Uhrenvergleich?“

„Mach halblang“, erwidert Stella. „Wir brüllen einfach, wenn wir was sehen.“

„Hört man nicht unter der Erde. Und Handyempfang gibt es wahrscheinlich auch nicht.“

„Habt ihr keine Walkie-Talkies?“, mischt sich Tuan ein.

„Sind wir bei Akte X oder so?“, schnappt Borliesen zurück.

„Hä?“

Stella lenkt ein, bevor die Diskussion ausufert. „Na gut, Jonathan. Es ist jetzt kurz vor vier. Alle halbe Stunde kommen wir an die Oberfläche und tauschen uns aus.“

„Ist das eine dienstliche Anordnung?“

Stella verdreht die Augen. „Ja. Herrgott.“ Sie macht auf dem Hacken kehrt und strebt einen verwitterten halbhohen Eingang eines Tagebaus an. Auf dem Weg dorthin kramt sie eine Taschenlampe heraus, während Tuan seine Kapuze zurückschlägt und sich seine Stirnlampe umschnallt.

„Du bleibst hinter mir“, befiehlt sie Tuan. „Und immer schön vorsichtig. Du bist nicht wirklich bei uns angestellt und damit nicht über uns versichert. Eigentlich ist es sogar besser, du bleibst draußen.“

„Ach, kommen Sie.“

„Ist nicht ganz ungefährlich da unten. Nicht umsonst sind die meisten alten Tagebaue versperrt.“

„Der hier nicht.“

„Trotzdem.“

„Ich bin mit meinen Eltern in Angkor Wat rumgekraxelt, als ich zwölf war.“

„Wirklich?“

„Ja.“

„Hm.“ Sie rümpft die Nase und denkt nach. „Na gut. Aber aufpassen.“

„Klaro. Bin ja kein Baby.“

Tuan macht das Herumklettern in den alten Stollen unerwartet viel Spaß, auch wenn er sich zweimal den Kopf stößt. Er fühlt sich seltsam leicht und befreit, denkt an nichts Besonderes. Es ist kalt hier unten, so kalt, dass seine Nasenspitze gefriert und er in der feuchten Kleidung zittert. Außerdem ist es eng, stellenweise so sehr, dass sie Bauch und Schultern einziehen und sich durch Spalten quetschen müssen. Die Steine sind scharfkantig und von Eis durchsetzt; manchmal entdecken sie sogar Eiszapfen. Die Höhlen und Stollen schimmern nicht rötlichbraun-golden wie die Feengrotten, was Stella mit der Abwesenheit von Metallen und Mineralien begründet. Abgesehen vom Scheuern ihrer Schuhsohlen und einem gelegentlich wegkullernden Stein ist es still. Richtig düster wird es selten. Die meisten Gänge und Tunnel sind kurz, halb verfallen und lassen von oben Tageslicht hindurch, dennoch behalten sie die Lampen an. Hin und wieder bleibt Stella stehen und betastet eine Wand oder einen einzelnen Stein, murmelt dazu Namen und Erklärungen. Ein paar Mal sehen sie uralte Bergbauüberbleibsel: Nieten und Ringe, eine eingesunkene, rostzerfressene Lore, den Griff eines Werkzeugs. Stella erklärt ihm, dass hier Schiefer abgeschlagen wurde, manchmal auch metallisches Gestein.

Trotz Kälte, Nässe, Enge und Zwielicht findet Tuan das alles aufregend. Ihm gefällt das Erkunden, das Entdecken vergessener Nischen. Er fühlt sich wie ein Abenteurer, zuckt jedes Mal enttäuscht zusammen, wenn er ein weggeworfenes Tempo oder eine Verpackung sieht, schimpft auf die Rücksichtslosigkeit früherer Besucher.

„Komm doch mal mit einer Tüte her und sammle den Müll ein“, schlägt Stella ihm vor.

„Quatsch.“

„Es gibt Leute, die machen so was. Ich zum Beispiel.“

„Sie gehen Müll aufsammeln?“

„Hin und wieder.“

„In Asien sammeln Freiwilligentrupps Müll am Strand ein“, fällt Tuan ein.

„Nicht nur da.“

Ein Surren ertönt. „Wir müssen hoch“, sagt Tuan und schaltet den Timer aus.

„Eine Sekunde.“ Stella nimmt ihre Maglite in die linke Hand, weil sie sich mit der rechten an einem Vorsprung festhält, unter dem sie sich hindurch duckt. Tuan tut es ihr gleich, gleitet unter dem tief hängenden Deckenstück hindurch und prallt gegen die Geologin, die unvermutet stehengeblieben ist und nach vorn starrt.

„Meine Fresse“, flüstert Tuan, als seine Stirnlampe eine gelartige, leise zitternde Fläche erfasst. „Da ist er. Das ist er doch?“

„Wenn er es nicht ist, weiß ich nicht, was das sonst sein soll. Es sieht aus wie Wasser, aber irgendwie auch wieder nicht. Scheiße. Das ist wirklich wie bei Akte X“, murmelt Stella und schwenkt ihre Taschenlampe, die mehr Power hat als seine bei Alibaba bestellte Funzel.

Der Strahl beleuchtet eine Art Wasserkugel, die sich an die Wände presst, alle Ecken, Nischen und jedes noch so kleine Löchlein ausfüllend. Dennoch sieht man, fühlt man, dass dieses Wasser hier nicht hergehört; nicht nur, weil es alles Licht zu schlucken scheint, ihre Lampenstrahlen kaum reflektiert, sondern auch, weil seine Konsistenz dickflüssiger wirkt. Zwar füllt es die Hohlräume aus, aber gleichzeitig liegt manchmal ein Fingerbreit Nichts zwischen dem Wasserrand und der nächsten festen Oberfläche.

Akte X? Ist das nicht so eine olle Mystery-Serie?“

„So, wie du es sagst, klingt es wie jeder beliebige Scheiß auf Netflix. Aber Akte X war völlig anders als alles davor. Gott, was hab ich das geliebt! Hab jeden Teil aufgenommen und dreimal geschaut, bevor der nächste lief. Oft ohne Ton, weil ich Lippen lesen wollte.“

„Hä? Warum das?“

„Gab noch keine englische Tonspur. Ich wollte aber unbedingt wissen, was Mulder und Scully im Original sagen.“

Tuan stößt ein Lachen aus und schüttelt den Kopf.

„Was war ich geschockt, als ich die beiden das erste Mal auf Englisch gesehen habe. Er nuschelt und sie klingt komplett anders. Heute schmunzele ich darüber, aber damals, mein Gott! Was war ich verknallt in die beiden.“

Die Bemerkung schafft es, dass Tuan seine Augen von der seltsamen Wasserfläche losreißt.

„Guck nicht so. Ich bin nicht die einzige Frau, die einen girl crush hatte.“

„Äh ...“

„Als ich Kind war, waren alle Hauptcharaktere Männer. Scully war eine Ikone.“

„Sind Sie lesbisch oder so?“

Sie wendet den Blick immer noch nicht von dem Wasser ab. „Nein. - Borliesen muss hiervon eine Probe nehmen. Kommt mir so vor, als wäre die Zusammensetzung nicht wie bei normalem Wasser. Vielleicht ist es verunreinigt.“

„Ich finde, es sieht aus, als wäre es farbig. Nicht durchsichtig wie sonst.“

„Ich weiß, was du meinst, aber das kann an der Umgebung liegen. Bodenbeschaffenheit, Lichteinfall, Reflexionen von den Wänden und so weiter. Oder etwas ist in ihm drin, ein Öl oder Überreste vom Tagebau ... Es riecht nicht komisch. Eigentlich riecht es nach gar nichts.“

Vorsichtig macht sie zwei Schritte auf das Wasser zu. Dessen Ränder ziehen sich zurück wie eine Hand, die einer Berührung ausweicht.

Verblüfft bleibt Stella stehen und dreht sich zu ihm um. „Hast du das ...?“

„Es hat Angst vor Ihnen.“ Völlig perplex starrt Tuan zwischen Stella und dem Wasser hin und her.

Sie nimmt ihre Maglite in den Mund, zieht ihr Handy, schüttelt es, um die Taschenlampe einzuschalten und öffnet die Video-App. Dann macht sie einen großen, entschlossenen Schritt. Diesmal sieht man deutlich, wie das Wasser wabert und sich zurückzieht. Gleichzeitig bildet sich direkt vor ihrer Schuhspitze eine kleine Welle, die wie auf einem Gemälde in der Luft erstarrt.

„Das gibt’s doch gar nicht“, stößt die Geologin nuschelnd hervor und reicht Tuan ihre Maglite. „Hier. Ich will alles filmen.“

Tuan ist so gebannt, dass er die Lampe nimmt, ohne sie vorher abzuwischen. „Sieht aus, als ginge es zum Angriff über. Seien Sie vorsichtig.“

Stella nickt und geht um die Welle herum, lacht erstaunt auf, als diese ihrer Bewegung folgt. „Wie eine winzige Schlange“, sagt sie und wirkt dabei beinahe erheitert, während Tuan ein mehr als ungutes Gefühl erfasst.

„Schlangen beißen“, warnt er. „Nicht, dass es giftig ist.“

Stella zögert, zieht dann aber ihr Bein zurück. „Borliesen muss eine Probe nehmen“, wiederholt sie.

„Wenn es ihn ranlässt.“

Jonathan Borliesen und Ennes Asik schauen sich fassungslos an.

„Und? Was ist deine fachliche Expertise?“, erkundigt sich Stella.

Borliesens Antwort besteht aus einem Schulterzucken. Er räuspert sich. „Sind wir sicher, dass das das Wasser aus den Feengrotten ist?“ Zum ersten Mal an diesem Nachmittag sieht er Tuan direkt an.

„Denke schon“, stottert dieser.

„Es reagiert wie ein Lebewesen“, rettet Stella den Jungen vor dem drängenden Blick des Hydrologen. „Du hast die Aufnahme gesehen. Es hat eine andere Beschaffenheit als Wasser. Eine andere molare Masse vielleicht, möglicherweise sogar einen neuen Aggregatzustand.“

Borliesen schnaubt und fährt sich durch sein kurzes Haar. „Oder es ist einfach Schmelzwasser, das irgendwelche Sedimente aufgenommen hat.“

Stella verdreht genervt die Augen.

„Es sieht aus wie sehr flüssiger Brotteig“, murmelt Ennes. „Es zerfließt zwar nach allen Seiten, aber eben nicht ... richtig.“

„Hast du Probenbehälter dabei?“, fragt Stella den Hydrologen.

Borliesen nickt, kramt in seinem Rucksack und befördert einen Becher zutage, der Tuan an die Urinbecher erinnert, die seine Mutter im Krankenhaus analysiert. Borliesen macht einen Schritt auf das Wasser zu und hockt sich hin. Wie bei Stella zieht sich der Saum des Wassers eine Fingerlänge zurück.

Borliesens nun folgende Versuche, einige Milliliter in den Behälter zu befördern, erinnern an eine Slapstick-Einlage, die jedoch niemanden schmunzeln lässt. Immer wieder weicht der Grubensee, der sich einen verfallenen Schiefertagebau als neue Heimat ausgesucht zu haben scheint, vor Händen und Becher zurück. Borliesen wechselt von der rechten in die linke Hand, täuscht das Wasser mit Scheinangriffen, versucht es mit Schöpfen, Eintunken, sogar mit einer Pipette, aber er hat keine Chance. Das Wasser spielt mit ihm, fließt mal zur einen, mal zur anderen Seite, teilt sich zwischen seinen Fingern, umspült ihn. Einmal bildet es einen Ring um seine Hand. Es erinnert Tuan an die gewaltigen Vogelschwärme, die er mal in einer Doku gesehen hat.

Schließlich wirft Borliesen den Becher genervt mitten in den See. Es klappert, als das Plastikgeschoss auf nackten, trockenen Boden fällt. Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern beobachten sie, wie das Wasser in Lichtgeschwindigkeit die Wände emporsteigt, sich sogar über die Decke hin ausbreitet, um die kahle Stelle zu schaffen, auf der nun der Becher liegt.

„Das glaub ich nicht“, murmelt Borliesen und für einen Augenblick empfindet Tuan Mitleid mit dem Hydrologen, dessen wissenschaftliche Weltanschauung gerade in sich zusammenfällt wie ein Kartenhaus im Wind.

„Das ist physikalisch völlig unmöglich“, raunt Ennes. „Das ... das widerspricht so ziemlich jedem Naturgesetz. Kann mich mal jemand kneifen?“

Stella zwickt ihn in die weiche Haut auf dem Handrücken und der Praktikant zuckt zusammen. Dann nimmt er Anlauf und rennt auf die Wasserfläche zu, so unerwartet, dass niemand ihn aufhalten kann. Das Wasser gibt ein bedrohliches Gluckern von sich und spritzt auf, als es vor dem jungen Mann zurückweicht. Reflexartig heben die anderen die Arme, aber kein Tropfen erreicht sie. Ennes indessen steht wie zur Salzsäule erstarrt und wagt nicht mehr, sich zu rühren, während ein Geräuschteppich sich um sie erhebt.

„So ähnlich klang es in der Grotte“, sagt Tuan mit tauben Lippen. „Bevor es ... losging.“

Niemand erwidert etwas. Alle beobachten, wie die gelierartige Flüssigkeit zurück in die Mitte fließt. Sie kriecht von den Wänden herunter, umschließt Ennes, ohne ihn zu berühren.

„Mein Becher“, flüstert Borliesen und alle Augen schwenken zu dem Plastikgefäß, vor welchem das Wasser innehält. Es streckt sich zu ihm aus wie Finger einer konturenlosen Hand. Dann schnellt ein Wasserfinger nach vorn und sofort wieder zurück, rascher als ein Blinzeln. Der Becher wackelt hin und her.

„Es ist neugierig“, sagt Stella in normaler Lautstärke. Ihre Stimme knackst, als wäre sie heiser. „Wie ein Kätzchen. Ich kriege Gänsehaut.“

„Leute?“, fragt Ennes dünn. „Was mache ich jetzt?“

„Kommst du an den Becher?“, erwidert die Geologin. „Aber ganz sachte. Es soll sich nicht erschrecken.“

„Du weißt schon, wie sich das anhört?“, fragt Borliesen. Er sieht blasser aus als vorhin und scheint in sich hineingesunken.

„Wirf mal deine Naturwissenschaft über Bord und lass dich drauf ein.“

„Das ist, als würdest du einen Gläubigen auffordern, nicht mehr an Gott zu glauben.“

„Nat.“

Er blinzelt, als er den Spitznamen hört. „Okay, schon gut.“

„Sobald sich Ennes bückt, tunken wir zwei was ins Wasser“, sagt Stella. „Irgendwas. Schuh, Finger, egal. Mit ein bisschen Glück bekommt einer von uns dreien eine Probe.“

„Ich nicht?“, fragt Tuan.

„Nein. Du bleibst Beobachter. Filme mit, aber fass es nicht an. Möglicherweise ist es wirklich mit irgendwas kontaminiert.“

„Okay.“ Tuan kann die Erleichterung nicht ganz aus seiner Stimme heraushalten.

„Auf drei, Ennes.“

Stella zählt herunter. Bei drei drückt Tuan den Aufnahmeknopf seines Handys, Ennes bückt sich linkisch nach dem Becher, Stella macht einen langen Schritt nach vorn und Borliesen patscht mit dem Arm gegen das Wasser. Der Geräuschteppich wird schlagartig dichter und lauter.

„Es ist sauer!“, brüllt Stella, deren Fuß das Wasser verfehlt hat.

„Leute?“, ruft Ennes, noch kläglicher als vorhin. Er hat den Becher in der Hand und Tuan sieht deutlich das Glitzern auf dem Plastik. Rasch zoomt er heran und beobachtet mit angehaltenem Atem, wie etwas an dem Becher zerrt. An der Unterseite des Gefäßes fließen einzelne Tropfen zu einer kleiner Säule zusammen, die zäh bis zum Boden tropft. Die Säule beginnt zu wirbeln, ähnlich wie die Miniaturtornados in einer Wasserflasche. Ein leichtes Grummeln begleitet die Bewegung.

„Lass los!“, schreit Stella, als Ennes sich mit einem Schmerzensschrei zur Seite beugt.

Er lässt den Becher fallen. Entgeistert filmt Tuan, wie die Säule sich in Nullkommanichts in eine kreisrunde Fläche verwandelt, die sich wie ein Eierkuchen in der Mitte faltet, in den Becher fließt, sich wieder auseinanderfaltet und den Becher zerreißt. Eine Art Schmatzen ertönt, dann verschwindet der Becher in strudelndem Wasser. Der kleine Akt der Grausamkeit erschüttert Tuan und er senkt das Handy.

Indessen hat Borliesen triumphierend den rechten Arm gehoben. „Ich habe was!“, kräht er. Tatsächlich hängt der Ärmel seiner teuren Jacke schwer herunter.

Stella ist mit einem Satz bei ihm, zerrt einen weiteren Probenbehälter aus Borliesens Rucksack, schraubt den Deckel ab und streift mit dem Becherrand Tropfen vom Ärmel ihres Kollegen.

Irgendeine unsichtbare Kraft schlägt ihr den Becher aus der Hand. Borliesens Jackenärmel beginnt sich zu bewegen. Wasser läuft an der Naht zusammen, sammelt sich an einem losen Faden und tropft zu Boden. Sofort beginnen die Tropfen auf den Becher zuzustreben, aus dessen Inneren eine kleine Pfütze kriecht, die sich mit dem Wasser am Boden vereint. Einen Lidschlag später zerbirst der Becher. Winzige Plastikgeschosse bohren sich in Borliesens und Stellas Hände. Borliesens Jacke knistert, als das Wasser auch den letzten Rest Feuchtigkeit mitnimmt. Der Ärmel krümmt sich um den Arm des Hydrologen wie eine Fessel, verschrumpelt wie ein alter Apfel.

„Ich glaube, wir sollten lieber verschwinden“, ruft Tuan in die Melange aus Tönen hinein. „Es fühlt sich angegriffen.“

Borliesen nickt erschöpft.

„Okay, Rückzug, Jungs“, sagt Stella und hält Ennes ihre Hand hin. „Komm langsam rüber.“

Ennes Augen irrlichtern über Boden, Decke und Wände, bevor er einen Fuß vor den anderen setzt. Das Wasser folgt ihm, fließt um seine Schuhe, ohne ihn zu berühren. Bei jedem Schritt hinterlässt der Praktikant einen kleinen Kreis. Es sieht aus, als würde er über das Wasser gehen.

An der Engstelle mit der niedrigen Decke verharrt das Wasser und kriecht zurück. Die vier bleiben stehen. Borliesen massiert sein Kinn. Seine Hand zittert leicht. Ennes verschränkt die Arme vor der Brust, als würde er sich selbst umarmen, Tuan knetet das Handy mit klammen Händen. Stella scheint in ihre Jacke zu kriechen, wirkt aber von allen am gefassten.

„Es ist ein Lebewesen“, sagt sie schließlich laut und deutlich.

Borliesen schnaubt. „Du spinnst.“

„Wir haben es alle gesehen.“

Tuan wackelt mit dem Handy. „Ich habe alles aufgenommen. Beweise.“

Borliesen knurrt etwas Undefinierbares.

Die Geologin lässt sich gegen eine Wand fallen und atmet tief aus. „Es ist knappe zwölf Kilometer Luftlinie von der Grotte hierhin gewandert. Jemand muss es gesehen haben.“

„Wer denn?“, widerspricht Borliesen. „Es kriecht durch Dunkelheit und Regen mitten durch die Natur, mehr oder weniger durchsichtig. Es kann seine Form verändern, sich an alle Gegebenheiten anpassen.“

„Es riecht nicht und es scheint defensiv, solange man es in Ruhe lässt“, fügt Stella hinzu. „Das alles lässt nur einen halbwegs vernünftigen Schluss zu.“

„Nämlich?“

„Es ist außerirdisch. Oder der coolste Aprilscherz aller Zeiten.“

Die drei Männer schauen sich an, danach bricht Jonathan Borliesen in ein Lachen aus, das jedoch nur zwei Herzschläge lang anhält. „Mann, Stella, wenn dich jemand hört, lässt er dich einweisen. Du bist Wissenschaftlerin.“ Er beginnt, in Schleifen hin und her zu laufen. „Das ... das ist total verrückt. Komplett bescheuert. Es muss eine andere Erklärung geben.“

Stella beobachtet ihn eine Weile, dann stößt sie sich von der Felswand ab. „Welche denn? Ernsthaft, welche? Lass es uns doch einfach mal annehmen, so unwahrscheinlich es auch ist. Alle Wissenschaft basiert letztlich auf Theorien und Hypothesen. Also lass uns einfach mal spekulieren. Nat? Bitte?“

Er reibt sich über die Augen, strafft sich dann jedoch und nickt. „Also gut, bitte. Von allen Orten dieser Welt landen Aliens ausgerechnet im beschaulichen Thüringen.“

„Roswell ist auch nicht gerade der Nabel der Welt“, kommentiert Stella, woraufhin alle die Mundwinkel zu einem Grinsen verziehen. „Und dass Außerirdische immer in den USA landen, ist Hollywood-Scheiß.“

„Außerdem wissen wir gar nicht, ob das hier der einzige Vorfall war“, wiederholt Tuan seine Vermutung von heute Mittag. Dass er mit Stella Runy Kuchen essen war, scheint eine Ewigkeit her zu sein.

„Wowo.“ Borliesen hebt beide Arme. „Nun wird es richtig abgefahren. Eine Alien-Invasion? An verschiedenen Stellen der Erde?“

„Vielleicht ist es schon ewig hier“, denkt Tuan laut. „Vielleicht seit der Entstehung des Planeten.“ Er muss kurz die Luft anhalten, so ungeheuerlich ist dieser Gedanke.

„Bis jetzt verhält es sich nicht invasiv“, entgegnet Stella völlig nüchtern. „Es hat niemanden angegriffen. Die Kids in der Grotte nicht, niemanden auf dem Weg hierher - so weit wir wissen - uns nicht. Allerdings weiß ich nicht, was passieren würde, wenn man es herausfordert.“

„Vergiss nicht, dass es das Klima der Grotte verändert hat, als es verschwand. Das ist invasiv.“

Stella wiegt ihren Kopf hin und her und gibt ihrem Kollegen mit einem Nicken recht.

„Wenn es ein Lebewesen ist, muss es dann nicht atmen, essen, sich fortpflanzen?“, fragt Tuan. „Was frisst es denn?“

Stella hebt die Schultern. „Einzeller? Keine Ahnung. All das müsste man erforschen, doch es lässt uns ja nicht.“

„Warum hat es seinen Lebensraum gewechselt?“, erkundigt sich Ennes.

„Wegen der Besucher vielleicht. Oder irgendwas hat sich in seinem Habitat verändert.“

„Aber woher wusste es von diesem Ort? Was gibt es hier, was es braucht?“

„Die Grotte war ab dem 16. Jahrhundert ein Bergwerk“, überlegt Stella. „Sie suchten nach Erz, fanden jedoch Alaunschiefer. Alaun war wertvoll, man benötigte es zum Gerben, also baute man den Schiefer ab und laugte ihn aus. Gewann Vitriol. Hundert Jahre später war Schluss mit dem Abbau. Stattdessen staute der neue Besitzer das Grubenwasser, um Eisenocker zu gewinnen. Nach 1900 machte man das Schaubergwerk und den Heilstollen daraus. Das Ganze wurde touristisch.“

„Hat es das Grubenwasser getrunken?“, fragt Ennes. „Oder sich mit diesem vermischt?“

„Vielleicht frisst es auch Schiefer“, schlägt Borliesen vor.

„Warum fragen wir es nicht einfach?“, meint Tuan.

„Du willst mit ihm kommunizieren?“, erkundigt sich Stella verblüfft.

„Machen sie das nicht in jedem Film und jeder Serie?“

„Kommunikation ist eine Eigenschaft von Lebewesen“, bestätigt Ennes.

„Ich glaube nicht, dass es redet“, widerspricht Borliesen. Er schaute auf seine Uhr. „Außerdem ist es - meine Güte - schon fast sieben. Ich will nicht im Dunkeln hier durch die Natur stromern und mir die Beine brechen. Lasst uns Experten anrufen. Die sollen das aufklären.“

„Wen denn?“, fragt Stella zuckersüß. „Unseren Alien-Beauftragten?“

„Quatsch. Wissenschaftler.“

„Das sind wir, Jonathan. Uns schicken sie hierher.“

„Dann lass uns Hilfe bei der Bundeswehr anfordern. Meeresbiologen. Jemanden von der ESA.“

„Das können wir alles immer noch machen, wenn wir mehr Beweise haben. Im Moment würde man uns auslachen. Und die Presse würde uns auf die Pelle rücken. Wundert mich eh, dass die noch nicht da sind.“

„Wir haben den Ball flach gehalten“, erklärt Ennes. „Außerdem sind sie mit den Wetterkapriolen gut beschäftigt. Aber ein paar Meldungen wird es geben und die werden Pseudowissenschaftler und Verschwörungsidioten anziehen.“

„Lass uns noch einen Versuch starten“, bittet Stella. „Noch ist es hell draußen.“

Als alle nicken, Borliesen zögerlich und sichtlich genervt, ducken sie sich erneut unter der überhängenden Felsdecke hindurch.

Das Wasser ist noch da. Friedlich und unbewegt schlummert es in seinem neuen Bett. Die beiden Becher sind verschwunden. Stella spürt ein Ziehen in ihren Händen und begreift, dass die mikroskopisch kleinen Partikel, die an den Plastiksplittern hingen, aus ihrer Haut gerupft werden. Sie spürt auch ein Ziehen in ihrer Brust, wie immer, wenn sie Wasserflächen betrachtet. Sie mag den Anblick von Ozeanen, Seen und Tümpeln, aber das Unbehagen nistet stets in ihrem Geist.

„Hey, du“, spricht sie das Wasserwesen an, stellt sich vor, wie dieses ein Auge aufschlägt, obwohl sie weiß, dass der Gedanke blanker Unsinn ist. „Wir wollen nichts Böses, verstehst du? Nur Frieden.“ Wie ein Shaolin-Mönch legt sie die Hände aneinander und deutet eine Verbeugung an. Jonathans verächtliches Schnauben blendet sie aus. Auch ohne seine Kommentare kommt sie sich dumm vor. Sie wiederholt ihre Anrede auf Englisch, Spanisch, Russisch und grauenhaftem Französisch, bittet Ennes, es auf Türkisch zu versuchen, und Tuan auf Vietnamesisch. Borliesen spricht ein paar Brocken Dänisch, aber er weigert sich schlicht, mit dem Wesen zu kommunizieren.

Probeweise macht sie einen Schritt nach vorn. Sofort weicht das Wasser zurück. Sie kniet sich hin und senkt ihre Handflächen, langsam und behutsam, als wolle sie das Wasser streicheln. Es gurgelt und zieht sich auseinander, macht Platz für ihre Hände und Beine. Sie verdrängt nicht so viel wie Ennes mit seinem Sprung vorhin, deswegen kriecht es diesmal nicht die Wände hoch, sondern staut sich nur wenige Zentimeter hinter ihren Fingerspitzen und Fersen. Abwartend beinahe, züngelnd wie eine Schlange.

„Tuan“, sagt sie zwischen den Zähnen hindurch. „Filme wieder. Filmt vorsichtshalber alle. Macht Fotos.“

Die Männer zücken ihre Handys. Blitzlichter flammen auf, als Ennes und Jonathan aus verschiedenen Winkeln fotografieren. Das aufgestaute Wasser beginnt zu zittern und ein leichtes Gurgeln setzt ein, ein bisschen so, als hätte jemand den Stöpsel aus der Wanne gezogen.

„Scht“, macht Stella und hebt beruhigend die Hände, offenbar das falsche Signal, denn mehrere Wasserköpfe heben sich. Sofort lässt sie sich auf die Fersen fallen und senkt die Arme wieder. Ennes schießt Fotos, eine rasche Abfolge von Blitzlichtern zuckt auf. Verblüfft sieht Stella, dass das Wasser sich weiter aufrichtet, seine Ausläufer von ihr weg zusammenzieht, noch ein Stück höher wächst. Eine Kobra, denkt sie. Mit aufgefächertem Kopf.

Sie schluckt schwer, beugt sich zurück, bereut, ihr Yogatraining nicht fortgeführt zu haben. Ihre Knie knirschen und ihre Oberschenkel und Füße beginnen zu brennen. Doch die Wasserkobra folgt nicht ihr. Sie gleitet um sie herum auf Ennes zu. Dann, so plötzlich, dass allen der Schreckensschrei noch in der Kehle steckt, schnellt das Wasserwesen nach vorn, direkt auf den Praktikanten zu. Ennes erhält einen Stoß, der ihn nach hinten umwirft, nicht dramatisch wie bei einem Kampf in einem Film, sondern plump und schmerzhaft. Ächzend bleibt Ennes liegen und ringt um Luft.

Reflexartig dreht Stella sich zu ihm, bereut augenblicklich ihre Hast, denn das Wasser um sie sirrt wie eine Bogensehne, macht ein Geräusch wie ein Peitschenhieb. Es erzittert und hebt sich leicht, vibriert vor Anspannung und gibt eine Art Impuls ab, der sie auf die Seite wirft.

Tuan und Jonathan erstarren zu Stein.

„Aua“, sagt Stella und reibt sich ihren linken Arm, während sie sich aufrichtet.

„Alles okay?“, fragt Borliesen.

„Ja.“

„Ist es geladen?“

„Scheint so. Fühlte sich an wie ein elektrischer Schlag.“

„Es ist keine Feuchtigkeit an dir. An Ennes auch nicht, so weit ich sehen kann.“ Borliesen beugt sich vor, tippt auf das Handy. „Ich zoome ran.“

Blitzlichter flammen auf. Wieder erzittert das Wasser, wieder gurgelt es.

Stöhnend setzt der Assistent sich auf, betastet seinen Rücken. „Boah, mein Hintern. Kann man sich den Steiß brechen?“

„Ja“, erwidert Stella. „Kannst du stehen?“

„Mal schauen.“ Ennes kommt vorsichtig auf die Beine, lässt sich von Tuan helfen, sieht sich um, runzelt die Stirn. „Scheiße, mein Handy.“ Er tastet sich weiter ab, sucht in seinen Taschen, dreht sich im Kreis. „Es ist weg.“

„Immerhin ist dein Steiß intakt“, entgegnet Borliesen. „Sonst könntest du nicht stehen und dich drehen.“

„Mann, das Handy war teuer! Helft ihr mir suchen?“

„Wenn das Ding wirklich elektrisch geladen ist, dann gnade uns Gott“, sagt Stella nachdenklich. Sie spürt, wie ihr Magen verklumpt, betrachtet das Wasser, schätzt seine Menge ab, denkt an die Fläche, die es als Grubensee eingenommen hat und bekommt eine trockene Kehle. Hier sieht es weniger aus, da der Stollen schmal und nicht besonders lang ist, dafür steht es höher. Bei all den seltsamen Eigenschaften, die es aufweist, kann es sich vielleicht sogar zusammenziehen oder ausdehnen. Seine Viskosität ändern. Von Wasser zu Honig in Sekundenbruchteilen und zurück. Bestimmt kann das Wesen - die Entität - sich teilen. Möglicherweise bewohnt es noch andere Stollen.

Die Geräusche der Männer lenken sie vom Denken ab. Ennes Ärger über das verschwundene Handy löst Unruhe aus. Humpelnd tapst er in dem Stollen herum, tastet mit dem Fuß den Boden ab, fordert Borliesen und Tuan auf, ihm zu leuchten. Die Geschäftigkeit überträgt sich. Das Wasser bewegt sich wie ein Ozean bei aufkommendem Wind. Es kräuselt sich, gurgelt, schwappt gegen die Wände.

Speichel sammelt sich in ihrem Mund und wieder schluckt sie. „Hört auf“, ruft sie den Männern zu. „Steht verdammt noch mal still. Ihr macht es nervös.“

Noch während sie redet, formt das Wesen ein Art Mulde, die sich kurz nach innen zieht. Dann knallt es, als löse man einen Korken aus einer Sektflasche und ein Gegenstand fliegt Ennes gegen die Stirn. Wimmernd geht der Praktikant in die Knie. Blut rinnt zwischen seinen Fingern hervor.

Erschrocken keucht Tuan auf und macht einen hastigen Schritt zurück.

„Still!“, ruft Stella, aber das Wasser hat sich bereits zusammengeballt und weicht von ihr zurück. Es wächst zu einer Woge zusammen, die sich am Ende des Stollens bedrohlich aufrichtet.

„Es greift an!“, schreit Borliesen mit Anflügen von Panik in der Stimme.

„Es hat Angst!“, brüllt Stella zurück. „Ich glaube, es reagiert auf unsere ... Gefühle, unsere Anspannung.“

„Und auf die Handys“, sagt Tuan und weist auf den Gegenstand, der ein Loch in Ennes Stirn gezaubert hat. „Das ist sein Smartphone.“

Ennes stutzt, grunzt und bückt sich nach dem Handy, schüttelt es. „Völlig hin“, jammert er. „Scheiße.“

„Die Blitzlichter“, begreift Stella. „Es mag kein Licht.“

„Deshalb lebt es unter der Erde“, nimmt Tuan den Gedankenfaden auf.

„In der Grotte gibt es seit Ewigkeiten Lampen“, knurrt Borliesen.

„Die nur zeitweise leuchten. Dafür nehmen die Handys zu. Jeder macht doch ständig Fotos. Tuan und seine Freunde auch, und das mitten in der Nacht, wo es normalerweise ruhig ist.“ Stella rappelt sich auf, behält die Woge im Blick, die, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz, in der Ecke verharrt, schwankend und in sich fließend wie ein Vorhang. Der Klumpen in ihrem Magen fühlt sich an wie Zement. Sie redet weiter, um sich vor dem Gefühl, dass eine Wasserwand jeden Augenblick auf sie zurasen und sie unter sich begraben könnte, abzulenken. „Ihr müsst die Dinger ausmachen, Nat. Zumindest die Blitzlichter. Vielleicht sollten wir gar kein Licht machen.“

„Aber dann ist es stockduster hier drin.“

„Riskieren wir es.“ Stella gibt ein stummes Zeichen.

Dunkelheit umfängt sie, als das letzte Licht verschwindet. Instinktiv streckt Stella die Arme aus, wie um den fehlenden Sinn zu kompensieren. Eisige Angst hüllt sie ein. Sie war in vielen Höhlen in ihrem Leben, kennt sich aus mit Düsternis und Enge, mit stickiger und kalter Luft, die gefangen scheint unter der Erde. Sie erinnert sich an die Lavahöhle auf Island, an den Tourguide, der sie an einer Stelle aufforderte, die Helmlampen auszuknipsen, an das Gefühl überwältigender Stille und absoluter Dunkelheit. Auch damals hat ihr Herz laut geklopft, das Blut in ihren Ohren gerauscht. Jetzt allerdings galoppiert ihr Herz wie ein unbändiges Fohlen. Das liegt nicht an der Dunkelheit, dem Gefühl erdrückender Einsamkeit oder dem Gedanken, lebendig begraben zu sein. Es liegt am Wasser. Sie weiß, dass es sich vor ihr auftürmt, hört es gluckern und gurgeln und plätschern, weiß, dass es darauf wartet, sich auf sie zu stürzen, sie hinweg zu spülen wie ...

Sie beißt die Lippen aufeinander, dreht den Kopf, versucht, die Dunkelheit zu durchdringen. Sie weiß, dass Augen sich an weniger Licht gewöhnen, aber noch sieht sie nichts. Nur wenn sie sich Richtung Eingang dreht, vermeint sie, einen Streifen wahrzunehmen, der um Nuancen heller ist als das Schwarz hier hinten.

Sofort zuckt ihr Kopf zurück. Der Gedanke, der lauernden Woge den Rücken zuzukehren, von hinten überrascht, überrollt zu werden, ist unerträglich. Der Gedanke, dass eine riesige Welle sie ungesehen von vorn erwischt, ist allerdings nicht viel besser.

„Jungs?“ Sie erschrickt vor ihrer eigenen Stimme. Sie klingt nicht wie sie selbst.

„Wir sind noch da.“ Borliesen. Die meiste Zeit können sie einander nicht ausstehen, doch irgendwie hält er zu ihr. Er grummelt und nörgelt pausenlos, aber er stärkt ihr den Rücken, ist loyal.

„Das ist scheiße gruselig“, ertönt Ennes hellere Stimme.

„Tuan?“, fragt sie.

„Hier. Ich fühle mich wie ein Blinder.“

„Und nun, Stella? Irgendwelche Ideen?“, erkundigt sich ihr Stellvertreter.

Sie denkt nach, aber ihr Kopf ist leer. Oder zu voll mit Angst und Erinnerung.

„Da“, sagt Tuan in diesem Moment. „Es macht etwas.“

Vor ihrem geistigen Auge sieht sie Wassermassen heranrollen, schmeckt Blut und Salz, hört ein gewaltiges Rauschen.

„Es leuchtet.“

Die Stimme des Teenagers löst sie aus ihrer Starre. Erleichtert registriert sie, dass das Rauschen aus ihrem Inneren kommt, nicht vom Wasser. Sie reißt die Augen weiter auf, konzentriert sich und tatsächlich - die Wasserwand vor ihr scheint zu glimmen. Wie Glut, kurz bevor sie erlischt.

„Elektrizität“, haucht Borliesen. „Biolumineszenz vielleicht. Wie bei Tiefseelebewesen.“

„Es sieht schön aus.“ Fasziniert schiebt sich Ennes an die Woge heran, streckt eine Hand aus. Ein kleiner Lichtbogen schießt aus dem Wasser, aber er wirkt kontrolliert, lässt Ennes lediglich zurückzucken. „Schon gut“, sagt er und tritt den Rückzug an. Das Wasser entspannt merklich. Es zittert und beginnt zu kräuseln.

„Es reagiert genauso viel, wie es muss“, stellt Tuan hingerissen fest. „Und es wird heller.“

Stella beobachtet, wie der Jugendliche die Augen schließt und sich konzentriert, mehrmals tief Luft holt, die Schultern senkt. Danach schiebt er sich wie Ennes an das Wasser heran, flüstert etwas. Das Wasser erzittert erneut, aber sanfter diesmal. Es neigt sich nach vorn, was Stellas Adrenalinspiegel in die Höhe treibt, verharrt dann. „Seht ihr? Es ist neugierig“, sagt Tuan lächelnd. Das Wasserwesen scheint an Tuan zu riechen, macht sachte pendelnde Bewegungen, als reibe es sich an ihm.

„Könntest du es berühren?“, fragt Borliesen.

„Ich glaube nicht. Dafür ist es zu vorsichtig. Ich will es auch nicht herausfordern.“ Tuan schließt erneut die Augen, wiegt sich in der Hüfte. „Ich glaube, es möchte, dass wir gehen. Wir bedeuten Stress, trotz aller Neugier.“

„Lassen wir es einfach hier?“, will Borliesen wissen.

„Das ist zu gefährlich“, erwidert Stella, noch immer mit trockener Kehle. „Wenn sich wieder Wanderer hierher verirren, greift es vielleicht an.“

„Als Grubensee hat es nie angegriffen.“

„Es ist friedlich“, bestätigt Stella. „Es bevorzugt die Flucht. Aber wenn es sich in die Enge getrieben fühlt ...“

„Können Sie den Stollen nicht versperren?“, fragt Tuan.

Stella sieht Borliesen an. „Wenn wir eine gute Begründung finden.“

„Einsturzgefahr.“

„Das müssen Experten bestätigen. Formulare, Anträge, Gegenanträge.“

„Sind Sie nicht die Expertin?“

Erneut mustert Stella ihren Stellvertreter. „Tuan hat recht. Wir machen das Ding dicht. Unbürokratisch, ja? Jonathan?“

„Ist das eine dienstliche Anweisung?“

„So was von.“

„Erforschen können wir es nicht?“ Bedauern schwingt in Borliesens Stimme mit.

„Wir halten Kontakt zu ihm. Vielleicht erlaubt es uns eines Tages mehr Einblicke.“ Stella tritt zu den Männern. „Das bleibt unser Geheimnis. Niemand redet. Ihr wisst, was passiert, wenn die Öffentlichkeit davon erfährt.“

„E.T.“, erwidert Borliesen tonlos und nickt. „Okay.“

Tuan und Ennes nicken ebenfalls.

„Und wegen des verschwundenen Sees denken wir uns eine hanebüchene Erklärung aus?“, hakt der Hydrologe nach.

„Uns wird schon was einfallen. Und nun raus hier, damit wir noch ein bisschen Dämmerung abkriegen.“

Behutsam treten die Männer den Rückzug an, verschwinden hinter der Engstelle. Stella bückt sich, sucht nach liegengebliebenen Sachen, hebt ihren Rucksack auf, verstaut ihre Taschenlampe. Dann tritt sie noch einmal vor die Woge, die sich auf ihre Kopfhöhe absenkt, als wolle sie ihr in die Augen sehen. Stella merkt, wie ihr Brustkorb sich verengt. „Ich mag Wasser nicht besonders“, flüstert sie. „Seit damals.“ Sie kann nicht weitersprechen, schluckt krampfhaft gegen den Kloß in ihrer Kehle an, räuspert sich. „Also wenn wir ... uns wiedersehen ... falls du ... mich angreifst, angreifen musst, dann bitte lieber mit Strom. Schnell.“

Damit wendet sie sich ab. Das Wesen beginnt zu gluckern. Danach sinkt es weiter ab, zerfließt nach allen Seiten. Stella geht rückwärts. Das Wasser folgt ihrem Weg, füllt den Stollen aus, ruht schließlich wieder sanft wie ein See.

„Danke“, wispert Stella Runy und zieht ihre verstopfte Nase hoch.

Der See blinkert, wie zum Abschied.

Hinter der Engstelle wartet Tuan. „Sind Sie okay?“

„Ja, es ist nur ...“

„Sie haben Schiss vor Wasser. Ich hab’s gehört. Sorry.“

„Nur vor großen Wellen. Oder langen.“

Tuan sieht sie mitfühlend an. „Waren Sie dabei?“

„Nein, aber jemand, den ich kannte. Gut kannte.“

„Der, dessen Duschbad Sie benutzen?“

Sie zieht ihre Brauen zusammen, doch sein Blick bleibt freundlich und interessiert. „Es erinnert mich an ihn, ja.“ Schließlich schüttelt sie sich und die Erinnerung ab. „Ist lange her. Hey, wenn du magst, kannst du im Sommer bei uns jobben. Schülerpraktikum oder so. Hast dich ganz gut gemacht heute.“

„Das mach ich vielleicht. Halten Sie mich auf dem Laufenden wegen ... ihm?“

Stella wirft einen letzten Blick zurück in den Stollen, grinst dann Tuan an. „Klaro. Aber bis dahin schaust jeden Teil von Akte X.“

„Ist das eine dienstliche Anweisung?“

„Gewöhne dich schon mal dran.“

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Kapitel: 10
Sätze: 1.682
Wörter: 14.613
Zeichen: 87.689

Kurzbeschreibung

Ein See verschwindet... Kleine Story, die mal im Rahmen einer Ausschreibung entstanden ist und sich noch auf meinem Rechner tummelte. Die Geschichte sowie alle Personen in ihr sind frei erfunden. Die Feengrotte in Saalfeld hingegen existiert. Ich habe mich bezüglich Geografie, Topografie, Historie usw. um Genauigkeit bemüht; musste jedoch hier und da ein wenig ausschmücken oder weglassen. Alle Abweichungen von tatsächlichen Gegebenheiten gehen auf meine Kappe. Sorry.

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