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Data Mining

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30.05.24 13:10
16 Ab 16 Jahren
Fertiggestellt

Je länger ich hier sitze, desto länger wird der Tisch. Ich habe keine Ahnung, weshalb sie mich zum Gespräch gebeten haben. Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her und frage Löcher in meinen Schädel. Mittlerweile ist der Tisch so lang, dass ich das Tischende verschwommen wahrnehme. Endlich geht der Bildschirm am anderen Ende an. Ich kneife die Augen zusammen. Mein Mund ist trocken, meine Zunge ein toter Lappen. «Guten Tag» sagt die Person auf dem Bildschirm, die ich nicht kenne. Ich wälze meine Zunge in den verbleibenden Spucketropfen, die noch in meinem Mund sind, und presse ein «Guten Tag» heraus. Dann geht ein zweiter Bildschirm an. Darauf meine Chef*in. Sie legt gleich los. Spricht schnell und ohne Pause. Ich kann kaum etwas erkennen. Klammere mich am Tisch fest und lehne mich nach vorne. Die Gesichter meiner beiden Gegenüber sind nur Augen und Mund. Der Mund spricht, die Augen schauen streng. Ich bin verzweifelt, denn der Tisch wird immer noch länger und ich sehe und höre immer weniger. Doch ich fürchte, wenn ich aufstehe wirkt das seltsam. Also bleibe ich sitzen und versuche zu begreifen, was passiert. Mittlerweile ist der Tisch so lang geworden, dass er eine Krümmung zu haben scheint. Dann verstehe ich ein paar Wortfetzen: «… Eintrag in Ihrem Profil nicht vereinbar mit unserer Firmenphilosophie…». In meinen Ohren dröhnt es. Weitere Wortfetzen: «…darum müssen wir Sie leider entlassen…». Ich reiße die Augen auf und rufe: «ENTLASSEN? WESHALB?». Da sind die Bildschirme aber schon wieder ausgeschalten, der Mund und die Augen darauf verschwunden. Ich stehe auf. Verlasse den Raum und hole meine Sachen. Alex klopft mir beim Rausgehen auf die Schulter. «Tut mir leid… diese Persönlichkeitsprofile sind übel…». Mit leerem Kopf trete ich auf die Straße und laufe ziellos nach Hause. Auf dem Weg verpasse ich immer wieder meine Abzweigungen, laufe in Sackgassen, drehe um und realisiere, was für Umwege ich nehme. Als ich zu Hause ankomme ist es schon dunkel. Ich betrete die Wohnung und muss wie ein Gespenst aussehen, denn Tanja schaut mich schockiert an. «Was ist passiert?» fragt sie und ich antworte, dass ich entlassen wurde. Dabei kratze ich mich am Kopf und gehe in die Küche. Der Kühlschrank mahnt meinen niedrigen Blutzuckerspiegel und mein Flüssigkeitsdefizit an und empfiehlt mir eine Banane und ein Glas Wasser. Ich stürze das Wasser runter. Tanja steht im Türrahmen und glotzt immer noch erschrocken. «Entlassen? Weshalb?». Ich antworte, dass ich es nicht weiß und esse die vom Kühlschrank empfohlene Banane. Sie schmeckt nach nichts. Ich überlege. Erinnere mich an eine Ankündigung vor einigen Monaten. Die Persönlichkeitsprofile wurden für alle Mitarbeiter*innen implementiert hieß es darin erzähle ich Tanja. In diesen werden automatisiert alle Daten einer Person zusammengeführt, sortiert und aufbereitet. Zur Optimierung der internen Abläufe. Zur Optimierung der Aufgabenzuteilung. Zur Optimierung des Arbeitsklimas und der Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen. Ich dachte mir nicht viel dabei. Jetzt frage ich mich, was in diesem Profil zusammengeführt wurde und was dort drinsteht, das zu meiner Entlassung geführt hat. Tanja und ich kochen zu Abend. Schweigend kauen wir uns an und ich merke, wie Tanja durch mich hindurchblickt. Sie wirkt verstört, behandelt mich wie einen Fremden. Manchmal murmelt sie «Persönlichkeitsprofil. Nicht mit der Firmenphilosophie vereinbar» und starrt dabei in die Luft hinter meinem Kopf. Später sagt sie mir, dass ich heute Nacht lieber auf dem Sofa schlafen soll. In meinem Kopf ist es so laut, dass ich ihren Vorschlag nur peripher wahrnehme und nicke. Geistesabwesend sitze ich neben den Bettbezügen und zerdenke mein Leben. Seziere meine Vergangenheit, soweit ich mich erinnern kann. Überlege, auf welchen Plattformen ich mich registriert habe. Welche Konten? Welche Profile? In welchen Datenbanken? Was ich gepostet habe. Was ich geliked habe. Was ich geteilt habe. Was ich mir angeschaut habe. Welche Abos? Welche Verträge? In meinem Persönlichkeitsprofil muss irgendetwas Schlimmes stehen. Je länger ich die Spuren meines Lebens geistig zurückverfolge, desto weiter sackt mein Magen ab. Mir ist übel. Doch ich komme nicht drauf. Bald kreisen meine Gedanken nurmehr um eine Verfehlung, von der ich nichts weiß und die trotzdem all meine Aufmerksamkeit bindet. Die nächsten Tage bin ich zu nichts zu gebrauchen. Ich laufe verloren durch die Wohnung. Reagiere nicht auf Tanja. Lebe wie ein Geist neben ihr her. In meinem Kopf ist nurmehr Platz für dieses Unbekannte. Ich schlafe nach wie vor auf dem Sofa. Tanja hat begonnen, ihre Sachen zu packen. «Bei uns in der Firma sind die Persönlichkeitsprofile schon länger implementiert worden und ich weiß von niemandem, der deshalb seinen Job verloren hat» sagt sie mir, den Tränen nahe. Da müsse etwas sehr Ernstes drinstehen und da ich ihr nicht sage, was, sieht sie keine andere Möglichkeit, als mich zu verlassen. Meine Chef*in reagiert nicht auf meine Kontaktversuche. Alex, der mir tröstend auf die Schulter klopfte, ignoriert meine Nachrichten. Meine Vergangenheit besteht mittlerweile nurmehr aus Verfehlungen. Alle dummen Ideen, all der jugendliche Leichtsinn, der erwachsene Leichtsinn, all die Versehen und Schlampigkeiten. All die kleinen Fehler und Missgeschicke meines Lebens fühlen sich jetzt wie existentielle Fehler an. Manchmal kann ich unter deren Last nicht atmen, wenn ich nachts wachliege und auf die Decke starre. Meine Gedanken sind lauter als das Dröhnen der Welt. Eines Morgens beantrage ich Einsicht in mein Persönlichkeitsprofil. Ich bin mittlerweile nurmehr ein Knäuel schlechter Erinnerungen. Es klingelt an der Türe. Zwei Androide stehen da. Auf dem Gesichtsbildschirm des einen sehe ich streng dreinblickende Augen. Auf dem Bildschirm des anderen einen riesigen Mund. «Guten Tag. Sie werden in Sektor B12 übersiedelt, bitte folgen Sie uns». Ich verstehe nicht. Frage: «Weshalb?» «Wegen Ihres Antrags auf Einsicht in Ihr Persönlichkeitsprofil» antwortet der Androidenmund. Sektor B12 liegt am äussersten Rand der Stadt, ein riesiger Betonklotz ohne Fenster. Dort bekomme ich ein Zimmer. So wie alle anderen, die auch Einsicht in ihr Persönlichkeitsprofil beantragt haben. Jeden Tag erhalte ich einen ausgedruckten Ordner. Moderne Technik ist in B12 nicht erlaubt. Ich muss Seite für Seite, Eintrag für Eintrag lesen. Bisher habe ich nichts Schreckliches gefunden. Doch ich habe noch viele Ordner vor mir.

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schlacksiger-EFW (Autor)Am 04.06.2024 um 9:29 Uhr
Data Mining gibt es auch als Kurzhörspiel: podcasters.spotify.com/pod/show/efw/episodes/Data-Mining-e2kd71l

Autor

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Sätze: 115
Wörter: 1.053
Zeichen: 6.468

Kurzbeschreibung

Ich wurde entlassen und weiß nicht, wieso. Es heißt, wegen eines Eintrags in meinem automatisierten Persönlichkeitsprofil. Dort muss etwas Schlimmes vermerkt sein. Bald kreisen all meine Gedanken nurmehr um diese Unbekannte.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Science Fiction auch in den Genres Horror und Angst gelistet.

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