Storys > Kurzgeschichten > Drama > Un Milagro llamado Navidad

Un Milagro llamado Navidad

126
28.12.18 17:43
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Sie sprachen nicht.
Niemals.

Sie brauchten keine Worte, um einander verstehen zu können. Ein Blick genügte und sie wussten, was der andere dachte. Sie waren Geschwister und Geschwistern wurde oftmals nachgesagt, sie hätten eine merkwürdige Verbindung zu einander. Vielleicht wurden sie deshalb überall abgelehnt. Weil sie merkwürdig waren. 

Wunderlich. 
Abnormal. 
Anders. 

Sie atmete die milde Winterluft ein und spürte, wie ein sanfter Windhauch über ihren Kopf hinweg zog. Weder wusste sie, was für ein Tag heute war, noch hatte sie eine Uhr bei sich, um die Zeit bestimmen zu können. Doch wenn sie ehrlich zu sich selbst war, machte sie sich nur etwas vor. Sie konnte kaum Zahlen lesen, wie sollte sie also sagen können, wie spät es war? Geschweige denn, welche Zahl der heutige Tag trug. 

Es war die Zeit um Weihnachten. Das wusste sie. Vielleicht war es auch schon Weihnachten, wer von ihnen konnte das schon genau sagen? Doch die Einwohner der Hafenstadt Almería liefen hektisch durch die Straßen, schrien sich Dinge zu, die sie nicht ganz verstehen konnte. Und die Mülleimer waren so voll wie zuletzt vor langer Zeit. 

Ein Gefühl, das ihren Körper langsam taub werden ließ, machte sich in ihr breit. War es etwa tatsächlich wieder soweit? War es Weihnachtszeit? 

Sie sah hinauf zu den Dächern der Stadt, die sie zu erdrücken drohten. Überall waren Lichterketten befestigt. Sie schienen in den buntesten Farben, doch nur wenige konnte sie auch richtig benennen. Da leuchtete ein grüner Tannenbaum auf sie herab, während in einem anderen Fenster der braune Kopf eines Tieres mit Geweih zu sehen war. Es sah süß aus und erinnerte sie an ein Reh, das sie einmal auf einem Bild gesehen hatte. Doch wenn sie versuchte, sich daran zu erinnern, erschien es ihr, als wäre das Bild nur eine kindliche Vorstellung, die niemals wirklich existiert hatte. Genauso wie die junge Frau, die ihr, in ihrer Erinnerung, entgegenlächelte.

Ihre Gedanken wurden jäh durcheinander gebracht, als sie plötzlich unsanft auf den Boden fiel und ein Brennen am Handgelenk spürte. Sie sah auf und konnte gerade noch erkennen, wie ein großer bulliger Mann abrupt stehen blieb und sich zu ihr umdrehte. Er brüllte etwas, das sie erst nach einigen Sekunden ganz verstanden hatte. Wobei sie sich dieses eine Wort nicht erklären konnte – Missgeburt. Was bedeutete dieses Wort? Hatte sie es nicht schon einmal gehört? Ein einziges Mal zuvor?

Sie rappelte sich ungeschickt wieder auf, ging ein paar Schritte zurück, ehe sie verängstigt wieder den Weg entlang lief, den sie vor wenigen Minuten gekommen war. Dieser führte sie auch wieder zurück auf den Plaza de Murcia. Nun wusste sie auch wieder, wo sie war und wie sie wieder zurück zu ihrem Zuhause kam, doch ehe sie sich in Bewegung setzte, blieb ihr Blick an einem Schaufenster hängen. Es war ein Fachgeschäft für Elektronik. Die Fernsehgeräte, die vor der großen, weiten Glasscheibe auf Regalen standen, präsentierten stolz den Auftritt eines Mannes. Sie wusste, sie sollte ihn kennen, doch sie hatte keine Ahnung, wer er war. Ein wichtiger Mann Spaniens. 

Er sprach von einer friedvollen Zeit. Einer Zeit, in der alle Menschen sich die Hände reichen sollten, um jenen, die nichts, oder nur wenig, hatten, geben zu können. Nur so würde das Band der Menschen Spaniens wieder enger werden. Zumal Weihnachten doch auch das heilige Fest der Liebe sei.

Sie legte den Kopf schief. Meinte er damit auch Menschen wie sie? Menschen, die kein Zuhause hatten und nicht geliebt wurden? Oder sprach er von Menschen, die so waren, wie er? 

Reich.
Mächtig.
Bekannt.

Das Gefühl des Hasses kroch in ihrem kleinen Körper hoch und verleitete sie dazu, die Hände zu Fäusten zu ballen. Hatte sie überhaupt ein Recht darauf, wütend auf jemanden zu sein, den sie nicht kannte? War sie überhaupt alt genug, um so etwas wie Hass empfinden zu können, zu dürfen? Sie war doch erst … 

Sie öffnete ihr Hand wieder und streckte die Finger aus. Die Stimme einer Frau erklang leise in ihrem Kopf, die ihr sagte, dass sie an jeder Hand fünf Finger hatte. Fünf. Sie öffnete auch ihre zweite Hand. Das waren auch wieder fünf, doch fünf und fünf zusammen musste mehr ergeben, als sie alt war. Die Finger wieder gekrümmt, sodass ihre Nägel sich in das Fleisch bohrten, wandte sie sich von dem Schaufenster ab und lief über die Straße.

 

~°~°~°~


Sie hatte ein mulmiges Gefühl, als sie die wenigen Treppen hinabsprang, die sie zu der kleinen Überdachung am Strand führte, unter der sie seit geraumer Zeit hausten. Das Dach war an einigen Stellen undicht, weswegen es auch schon vorkam, dass sie in manchen Nächten völlig durchnässt aufgewacht waren. Doch zum Glück war dies häufig im Sommer geschehen. 

Es fiel ihr erst nach wenigen Sekunden auf, dass ihr Bruder, nicht wie sonst, am oberen Rand lag, sondern mitten unter dem Blechdach. Unter dem größten Loch. Mit aufgerissenen Augen sprintete sie die letzten Meter auf ihn zu und ließ sich mit den Knien in den Sand fallen. Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, zog sie die rote, mit Sternen übersäte Decke ein Stück zurück. Zum Vorschein kam sein heller Haarschopf, der wirr vom glühend heißen Kopf abstand. Seine Gesichtsfarbe glich der einer überreifen Tomate und sie wusste, dass dies kein gutes Zeichen war. Er zitterte am ganzen Leib. 

Mit zittrigen Fingern strich sie ihm die schweißnassen Haare aus der Stirn, woraufhin seine Lider leicht zuckten. Sein Atem ging stoßweiße, schnell. Zu schnell. 

Er war krank. 
Und er würde sterben.

Dieser Gedanke schoss ihr in den Kopf und ließ sie nicht mehr los. Sie spürte, wie eine Träne ihr Auge verließ. Spürte, wie sie langsam ihre Nase entlanglief und letztendlich im feinen Sand versank. Das Rauschen des Meeres neben ihr bewegte sie dazu, sich die Ohren zuzuhalten und die Augen zu schließen.

Wieso war sie hier?
Wieso musste das geschehen?
Wieso er?

Er war doch alles, was sie noch hatte.

Leise Stimmen drangen durch die Hände an ihre Ohren. Menschen, die an ihnen vorbeigingen. Sie deuteten mit den Fingern, zeigten auf sie. Sie schienen zu flüstern, dennoch konnte sie alles hören. Oder bildete sie sich das nur ein? 

Ruckartig wandte sie ihren Kopf nach hinten und sah gerade noch, wie eine alte Frau in ihre Richtung blickte. An einer Hand hielt sie ein Mädchen mit schwarzen Locken und braunen Augen. Ihr Blick schien sie zu durchbohren, schien alles aus ihr herauszusaugen. Sie drehte sich wieder weg und sah hinab auf ihren Bruder, der noch immer wild zitternd auf dem Boden lag. 

Wenn all diese Menschen um sie herum doch so viel Mitleid mit ihnen hatten, wieso half ihnen dann niemand? Waren sie blind gegenüber dem, was sie sahen? Oder wollten sie einfach keinen zwei kleinen Kindern helfen, die komplett auf sich alleine gestellt waren? Es war doch Weihnachten.

Weihnachten.
Die Zeit der Besinnlichkeit.
Die Zeit der Freude.
Die Zeit des Teilens.

Immer mehr Tränen bahnten sich ihre Wege über die kleinen, roten Wangen. Die Hände hatte sie in den Sand vergraben, die Knie brannten bereits. Wie viel Zeit war bereits vergangen, seit sie wieder hier angekommen war? Minuten? Stunden? Vielleicht waren es auch schon Tage. Nein. Es war noch Tag. Dämmerung. 

Die Menschen verschwanden nach und nach, bis sie wieder alleine war. Alleine mit ihrem Bruder, der zu sterben drohte, wenn ihm nicht geholfen wurde. Ein leises Schluchzen entfloh ihrem Mund und es überraschte sie selbst, einen Laut von sich zu hören. Wie lange hatte sie schon nicht mehr gesprochen? Es kam ihr vor, als hätte sie ihre Stimme schon längst verloren, doch dem war offenbar nicht so.

Erneut drangen Stimmen an ihr Ohr. Sie wollte sich umdrehen, sie anschreien, sie sollen doch verschwinden, doch sie konnte nicht. Sie war nicht in der Lage dazu. Sie wollte nur alleine gelassen werden mit ihrem Bruder. 

Etwas Warmes legte sich auf ihren Rücken. Sie hob langsam ihren Kopf und sah ein Knie neben sich im Sand. Und auch die Spitze eines Schuhs. 

„Hola“, erklang eine sanfte Stimme leise neben ihr, doch sie wagte nicht, sich dieser Stimme zuzuwenden. Die Angst war einfach zu groß. Sie war wie gelähmt. „¿Quién eres?“ 

Sie wusste, dass sie antworten sollte, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Vielleicht war Weinen doch etwas anderes als Sprechen. Konnte sie überhaupt sprechen? Sie wusste, dass sie es konnte. Früher. Doch da war sie noch klein.

„¿Comprendes español?“, fragte die Stimme erneut leise und strich ihr beruhigend über den Rücken. Sie schaffte es, mit einem leichten, kaum merklichen Nicken zu antworten. „¿Cómo te llamas?“ 

Sie schluckte und wagte es, ihren Blick auf den Mann zu richten, der neben ihr kniete. Sie antwortete nicht auf seine Frage, sondern folgte dem anderen Mann mit ihren Augen, der sich über ihren Bruder beugte. Sofort machte sie einen Schritt auf ihn zu, doch genauso abrupt blieb sie auch wieder stehen, als sie sah, wie er ihm über die Stirn strich.

„Er hat sehr hohes Fieber.“ 

Die beiden Männer tauschten Blicke aus. Sie hatte nicht verstanden, was eben gesprochen wurde, die Sprache klang fremd in ihren Ohren. Doch etwas sagte ihr, dass es um ihren Bruder ging. Um seinen Zustand.

„Wir müssen die beiden mitnehmen. Es ist Weihnachten …“

Mehr wurde nicht mehr gesagt. Stattdessen griff der Mann um ihre Taille und hob sie mit Schwung hoch. Sie sah überrascht hinab auf ihren Bruder, der ebenfalls hochgenommen wurde. Samt Decke und allem, was sie noch bei sich hatten. Es war nicht viel, doch es war wichtig für sie. Ein kleiner schwarzer Beutel, den sich die beiden Männer genauer ansahen.

„Da ist etwas drinnen. Etwas Hartes.“

Der Mann, der sie auf dem Arm hatte, drehte den Beutel um. Zum Vorschein kam eine kleine, silber-schwarze Mundharmonika. Sofort streckte sie ihren Arm danach aus, woraufhin ihr das Musikinstrument gereicht wurde. Fest umklammert presste sie es gegen ihre Brust.

Sie sagten nichts darauf, sondern besahen sich einfach nur das Bild, das sich ihnen bot. Ohne sich ein weiteres Mal umzudrehen, wurden sie fortgetragen und die Frage, ob sie ihre Heimat jemals wieder sehen würde, kam in ihr auf. Doch es gab etwas, das sie noch mehr nachdenken ließ.

Es hieß, an Weihnachten würde jedem Kind ein Wunder zuteil.

War es das also?
War dies das Wunder?
War das ihr Wunder namens Weihnachten?

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

SushiAteAlaskas Profilbild SushiAteAlaska

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Sätze: 142
Wörter: 1.797
Zeichen: 10.170

Kurzbeschreibung

Es heißt, an Weihnachten würde jedem Kind ein Wunder zuteil. Doch trifft das auch zu, wenn man das Leben eines Straßenkindes führt?

Kategorisierung

Diese Story wird neben Drama auch im Genre Familie gelistet.

Ähnliche Storys