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So oft er auf den Dünen über dem Strand stand, dachte er zurück an eine Zeit, die lange zurücklag – sehr lange. Hier weit im Westen Frankreichs hatte er einige der schönsten Zeiten seiner Liebe durchlebt. Er nannte das immer durchlebt, niemals erlebt! ‚Erleben hat nichts mit Leidenschaft zu tun, wo Leidenschaft herrscht, muss sie durchlebt werden‘, kam ihm dabei in den Sinn. Er fand den Begriff Durchleben angemessen für all das, was er als Summe seines Lebens empfand.
Er stand mit dem Rücken an die Wand der Baracke der Rettungsschwimmer gelehnt und blickte auf den breiten flachen Sandstrand, an dem sich die heftige Brandung seit unvorstellbar langer Zeit brach. Als er zum ersten Mal hier gestanden hatte, war er jung, verhältnismäßig jung, wie es sich selbst gestehen musste. Jung bezog sich in diesem Fall auf eine Hochphase seiner leidenschaftlichen Liebe, die er zwar seit über fünf Jahrzehnten in sich verspürte, aber auch in dieser Liebe gab es, wie in jeder Liebe, gute und schlechte Zeiten. Damals, als er zum ersten Mal hier stand, gab es in der Liebe eben gerade das, was er eine Hochphase nannte. Er hatte mit seiner Liebe etliche Hochphasen durchlebt. Hochphasen waren für ihn die Zeiten, wenn es seiner Liebe und ihm gelang, ihre Leidenschaft zu synchronisieren, wenn ihre Körper das gleiche Verlangen quälte und wenn ihre Gedanken im Gleichklang schwangen. Außerhalb der Hochphasen floss das Gefühl gegenseitiger Zugehörigkeit, wie ein stiller, ruhig strömender Fluss dahin. Dann reichte das Gefühl gegenseitiger Nähe, um Glück zu spüren. In den Hochphasen war alles anders, die leidenschaftlichen Gefühle bescherten höchstes Glück, konnten ihnen aber auch äußerst böse Streiche spielen. So wie sie sich in diesen Phasen schnell nahe kamen, konnte eine missverständliche Geste oder Äußerung die Gefühle in eine verkehrte Richtung lenken und dann standen sie sich kampfeslustig gegenüber, bereit sich gegenseitig mit Worten zu verletzen. Sie waren beide nachtragend und hätten sich tagelang weiter angiften können, da sie anderseits aber nicht ohne ihre gegenseitige Nähe leben konnten, mussten sie sich schon kurz nach solchen Vorfällen wohl oder übel wieder zusammenraufen. Wenn ihnen ihre Gefühle keine bösen Streiche spielten, gab es in Zeiten der Hochphasen unbeschreibliche Momente. Sie waren weder in Lage, noch waren sie Willens zu beschreiben, was in ihnen während dieser Phasen vorging. Sie nannten es schlicht und einfach tiefe Gefühle.
Nun stand er hier und er hatte in den letzten dreißig Jahren oft an dieser Stelle gestanden. Zuerst war ihm nicht aufgefallen, wie dabei die Jahre vergingen. Er hatte hier gestanden, wenn er mit seiner Liebe eine Hochphase durchlebte, er hatte hier gestanden, wenn die Liebe sich wie ein stiller, ruhig fließender Fluss anfühlte. Eigentlich hatte er das Gefühl gehabt, es würde für ihn immer so weiter gehen, dass er hoch auf den Dünen stehend über den unendlich erscheinenden Ozean blickte, sooft er in der Gegend weilte. Vor einem halben Jahrzehnt hatten sich erste Zweifel an diesem Gefühl eingeschlichen. Zweifel, die am Anfang nur ganz zaghaft waren. Die Reisen an den Atlantik wurden seltener und mühsamer, die Zweifel wurden stärker. Das Leben war insgesamt mühsamer geworden, aber bisher hatte die Kraft immer noch gereicht, bis an den Atlantik zu reisen, aber die Zweifel waren zur Gewissheit geworden.
All das bedenkend, hatte er es sich seit einigen Jahren angewöhnt, sich am Ende des Aufenthalts so vom Ozean zu verabschieden, als käme er nie wieder zurück an diesen Ort. Dazu genügte ein einziger Blick über die Wassermassen und dann schöpfte er die Hoffnung, Kraft genug für eine weitere Reise zu finden. Ob der Abschied endgültig war oder nicht, konnte sich erst in der Zukunft entscheiden und so war er zutiefst zufrieden, wenn er auf diese Art Abschied genommen hatte. Hochphasen gehörten der Vergangenheit an, es stellten sich immer noch die dazu nötigen Gefühle ein und so gesehen befanden sie sich jetzt in einer Art permanenter Hochphase. Sie lebten weiterhin die ihnen gemeinsame Leidenschaft, ohne jedoch, dass ihre Körper in der Lage waren, diese Leidenschaft auszuleben. Sie hatten gelernt, ihre leidenschaftlichen Empfindungen besser zu steuern. Daher spielten ihnen ihre Gefühle nur noch selten einen Streich. Das quälende Verlangen ihrer Körper war einem ruhigen Gefühl großer Nähe und Wärme gewichen. Sie lebten in der Überzeugung, dass ihre Liebe so endlich war, wie ihr Leben. Mit Zuversicht schauten sie nach vorn, immer in der Hoffnung, wenn es ihnen dann gegeben ist, dann werden sie noch einmal an den Ozean fahren. Er würde dann wieder mit dem Rücken, an die Baracke der Rettungsschwimmer gelehnt dem Spiel der Wogen zusehen und sich am Ende des Aufenthalts erneut verabschieden, so als sei es für immer.
Er löste sich von der Wand der Baracke, warf einen letzten Blick auf das Spiel der Wogen und ging zurück in den Wald, von wo aus er die Dünen bestiegen hatte. In ihm war Dankbarkeit, dass es ihm gegeben war, den Ort wiederum in der Hoffnung zu verlassen, dass er ein weiteres Mal die Kraft finden würde, an diesen Sehnsuchtsort zurückzukehren.
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