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Oh, wie leicht ist Lissabon

01.12.25 18:58
6 Ab 6 Jahren
Fertiggestellt

 

Hotel Marquês de Pombal

Der Rezeptionist schiebt mir den Schlüssel über den Tresen, als würde er mir etwas Fragiles anvertrauen.
„Erdgeschoss, wie Sie es gewünscht haben.“
Ein wattiges Lächeln. Er ahnt nichts, und doch scheint er alles zu wissen.

Ich hatte es in das Kommentarfeld geschrieben: Bitte ein Zimmer in den unteren Etagen. Mein Magen reagiert empfindlich auf große Höhen. Ein Satz wie ein altes Geländer, an dem man sich festhält.
Am Tag vor der Abreise griff ich zum Telefon, um das Hotel zu erinnern – und mich selbst zu vergewissern, dass dieser Urlaub, dieser!, unbeschwert werden würde.

Un-be-schwert.

In Florenz, im Frühjahr, als ich die Uffizien besichtigte, war mein Hinweis übersehen worden. Und ich hatte versäumt, ihn zu bekräftigen.
Das einzige freie Zimmer: elfter Stock, gegenüber der Eingangstür eine Wand aus Glas, zur Hälfte ein Fenster.
Ich saß starr auf der Bettkante. Die wortlose Tiefe zog an mir. Die Finger bohrten sich in die Matratze, die Herzschläge in ihren eigenen Rhythmus.

Am Empfang stammelte ich verschüchtert von einem diffusen Gefühl: „wie im Himmel – zu wandeln.“
Die Nacht verbrachte ich auf einer Couch im Foyer, ein verschämtes Häufchen Mensch, das sein Gesicht vor den Ein- und Ausgehenden verbarg.
Am Morgen rettete mich der erste Stock. Gott, paradiesisch.

Estação do Rossio

Die Mittagssonne schneidet die Schatten so scharf, dass sie wie ausgeschnittene Kulissen wirken.
Der Eingang des Bahnhofs: ein hufeisenförmiges Portal, neomanuelinische Verzierungen, alte Welt, Entdeckungsreisen.
Dahinter: industrielles Skelett, Eisen, Glas, Pragmatismus.

Ich folge den Schildern, ohne zu denken, nur mit den Füßen.
Dann taucht sie vor mir auf wie ein grausamer Witz der Architektur: eine Rolltreppe, deren Verlauf ein massiver Betonblock verschluckt.
Der Gedanke wartet nicht: Diese Treppe könnte in eine andere Dimension führen.

Im Flughafen von Osaka begegnete mir ein solches Exemplar.
Ich wollte mutig sein, sie bezwingen – und kehrte in der Mitte wieder um. Gegen den Strom. Gegen die Panik. Gegen gewundene Körper, verzogene Gesichter, Munch-Schreie.

Jetzt kleben meine Füße am Boden. Um mich herum fließt das Leben weiter: Touristen mit Ray-Bans, Designer-Rucksäcken, Schritt-hier-Schritt-dort-Energie.
Ihr fröhliches Spiegelbild beleuchtet mein verwildertes Ich gnadenlos:
der Bart, der schon fast ein zweites Gesicht bildet; die erschöpften, sumpfgrün verfärbten Tränensäcke; das schwefelgelbe Fruit-of-the-Loom-Shirt mit Mottenlöchern an der Schulter, die mir eben erst aufgefallen sind.

Die Happy Ones werfen kurze Blicke.
Ein „Oh“, ein „Hm“ – ich, ein skurriles Hindernis, ein Fragezeichen in ihrem Spiel.

Ich kenne meine Rettung. Ich beginne zu zählen:

Einatmen – eins, zwei, drei, vier.
Halten – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.
Ausatmen – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht.

Die Zahlen fallen lautlos, verschwinden.
Ich setze den ersten Fuß auf die Rolltreppe, ruhig, den zweiten ebenso bedacht.
Sie hebt mich an: Adrenalin schießt, ein aufgeschreckter Vogel.
Ich beiße mir auf die Zunge, schmecke Schmerz und Metall, atme weiter. Gelernt ist gelernt.

Ich komme an. Hinter dem Betongeschwulst. Wieder fester Boden.
Ich kaufe mein Ticket nach Sintra, lächle der Angestellten zu, mit geschlossenem Mund.
Sie muss es ja nicht sehen.
Sie lächelt zurück. Ein gewöhnlicher Tourist.

Der Zug wartet. Ich steige ein.
Nie war ich leichter unterwegs.

Ponte 25 de Abril

San Diego, letztes Jahr, Coronado Bay Bridge: ein pazifikblaues Ungeheuer, das sich in einem kühnen Bogen über das Wasser spannt.
Doch die imposante Erscheinung war nicht das Problem.

Das Problem war die Nähe. Zwölf Minuten zu Fuß.

Was nah ist, wird Möglichkeit. Und Möglichkeiten sind Fallen.

Hier in Lissabon: die monumentale Ponte 25 de Abril über dem Tejo.
Nach der Yavuz-Sultan-Selim-Brücke in Istanbul und der Tsing-Ma-Brücke in Hongkong die weltweit drittgrößte Hängebrücke mit Straßen- und Eisenbahnverkehr.

Doch sie ist sieben Kilometer vom Hotel entfernt.
Wie beruhigend.
Ein Gedanke, der nur gelegentlich vorbeischaut – beim Blättern im Reiseführer, beim Griff zur Zahnbürste – und schnell wieder verschwindet.

Rooftop-Bar Icon

Sechster Stock. Tabitas Idee. Natürlich.

Wir sitzen am Rand der Terrasse, die Stadt unter uns wie ein funkelnder Teppich, den jemand bis zum Horizont ausgerollt hat.
Tabita spielt mit dem Cocktail-Schirmchen, bohrt es neckisch in meinen Bart, als wäre der ein exotisches Unterholz.

„Pascal, glaubst du, dieses Ding hier würde uns retten, wenn ein Gewitter kommt?“ fragt sie, halb Witz, halb Wunder.

„Ich denke, es schützt höchstens vor Langeweile“, antworte ich und tue so, als beherrschte ich die Kunst des süffisanten Flirts.

Doch meine Hände bleiben immer am Glas, sichtbar und kontrolliert, oder in meinen Taschen, sicher verwahrt wie in einem Tresor.
Ich halte sie dort, damit sie nicht … nun ja.
So können sie diese eine Dummheit nicht begehen: mich mit Schwung von der Brüstung zu stoßen, um mit der Aussicht, die Tabita so sehr liebt, eins zu werden.
Ich halte meine unheimlichen Impulse in Schach wie widerspenstige Tiere, die niemand sehen darf, mit Tricks, deren Logik nur ich begreife.

Tabita ahnt nichts.
Sie sieht nur einen Mann mit lässiger Haltung.
Sie weiß auch nicht: Sie ist Teil meines Systems, ein rettendes Netz.
Im Notfall würde ich sie eindringlich anschauen und mit scharfem Ton sagen:
„Halt mich fest. Halt mich so fest du kannst!“
Und sie würde es tun, keine näheren Erklärungen verlangen.
Davon bin ich überzeugt.

Wir verlassen die Bar, steigen hinab in die belebten Gassen von Bairro Alto.
Ich führe Tabita routiniert durch das Labyrinth der Wege und Stimmen, als wäre ich hier zu Hause.

Wir stolpern in eine Pagoden-Party.
Brasilianische Rhythmen durchdringen die siedende Luft, Trommeln wogen wie eine zweite Schwerkraft.
Unsere Arme und Beine zerfließen in den Schlägen.
Kein Abgrund mehr.

Nur Klang.
Glühen.
Verschmelzung.
Tô Te Filmando.

Erdbeben

Ein heftiges Rütteln erfasst das Zimmer. Ich blinzle, werde wach.
Mein Blick tastet sich durch das Halbdunkel.
Das Wasserglas auf dem Nachttisch tänzelt, fällt, verstummt im Teppich.
Der Schrank schwankt, die Wände knacken.

Seltsam, denke ich, aber irgendwie aufregend.

Nach Sekunden ebbt das Beben ab.
Ich drehe mich um, ziehe die Decke bis zur Schulter, schließe die Augen – und finde zurück in den Traum.

Am nächsten Morgen:
Die Homepage von Público zeigt seismografische Grafiken.
5,3 auf der Richterskala. Sieben Verletzte.
Zehntstärkstes Beben seit dem 16. Jahrhundert.
Epizentrum bei Sines, 60 km entfernt.
Selbst Marokko spürte es.

Ich lese es beiläufig, wie man die Wettervorhersage überfliegt.

Boca do Inferno

Ich stehe am Rand. Die Füße wie Nägel im Fels.

Die Wellen donnern gegen die Klippen, stürzen sich durch das Felsentor, bersten in gleißenden Schaum.
Ein Grollen vibriert in der Brust. Ein Ur-Klang. Eine Ur-Kraft.

Ur-ur-ur-ge-walt.
SURGEWALT.
GE-WALT. GE WAL T.

Die Luft schmeckt nach Salz und etwas Archaischem, das sich in mir festsetzt.

Ich fühle mich riesig. Unerschütterlich.
Keine Macht der Welt könnte mich aus meiner Mitte reißen.
Donald, Wladimir, Kim – versucht’s doch.

Die Rocky Mountains.
Alles zerschellt.
Angst zerschellt.

Ich will es hinausschreien:
R O C K Y M O U N T A I N S.

Dann ziehe ich das Handy hervor.
Tippe „Boca do Inferno“ ein.
Ein Name erscheint: Guilherme de Faria, Dichter.
1929. Zweiundzwanzig.
Er sprang.

Der Gedanke trifft mich.

Ich blicke wieder auf die Klippen. Hoch, kantig, messerschnittscharf.
Nicht nur ein Fels – eine Einladung mit sicherem Ausgang.

Und mit einem Mal schiebt sich ein anderer Fels dazwischen.

Teufelskanzel. Harz. Juli. Regen.
Der Fels glitschig.
Meine Schwester Marla ausgelassen, lachend, dann … fallend.

Ihre Schreie, vom Wind zerfetzt, von der Tiefe verschlungen.
Kein Empfang. Kein rettendes Signal.
Nur mein Rennen durchs Tal.
Panik wie Säure in der Lunge.
Tränen, an denen ich fast ersticke.

Der Hubschrauber kommt. Zu spät.

Sie wollte Journalistin werden.
Wie ich.

Einmal schrieb sie heimlich einen Bericht über mich, als ich aus einem Teebeutel einen kaum erkennbaren Schmetterling faltete: „Ein aufstrebender Avantgardist mit meisterhaften Handgriffen begeistert mit seinem Erstlingswerk ‚Space-Butterfly‘ das Tate-Modern-Publikum.“

Ihre charmante Kritik liegt bis heute in meiner Lebenslieblingsworte-Schublade.

Warum sie?
Warum nicht ich?

Ein Schritt nach vorn. Ein Zögern.
Ein stechendes Kribbeln, wie ein Kristallnebel, der in mir aufsteigt und sich in meinen Gliedern ausbreitet.
Ich taste über meine Oberschenkel, als könnte ich mich festhalten.

Ich weiche zurück. Stürmisch. Unkoordiniert. Zwanzig Meter.

Hebe das rechte Bein. Außer Gefecht.

Ich atme.

Ein.
Aus.

Nichts verrückt mich.

Rückflug

Neben mir sitzt ein alter Mann in einem alten Smoking, mit einer Miene, die das Universum zusammenhalten könnte.
In seinen kräftigen Händen ein winziges Gebetsbuch, kaum größer als eine Zigarettenschachtel.
Er bekreuzigt sich wieder und wieder – nicht als Schutz vor einem Absturz, meine ich, sondern weil es sein Ritual ist.
Vielleicht hat mich sein Morgengebet in letzter Sekunde den Bus zum Flughafen erreichen lassen.

Ich bin dankbar für ihn.
An ihm schiebt man sich nicht ohne schlechtes Gewissen vorbei.
Seine würdevolle Präsenz wirkt wie ein Schutzwall gegen jene absurden Pläne, die mich bisweilen überfallen.

Eine weitere glückliche Tatsache:
Ich sehe den Notausgang nicht.
Ich wähle bewusst Sitze, die mich vor mir selbst schützen.
Und selbst wenn: Ich kenne die Öffnungstechnik nicht.
Man würde mich rechtzeitig überwältigen.

Ich frage mich, ob ich meine Tricks aufschreiben und mit der Welt teilen sollte – oder zumindest mit Menschen, die dasselbe Thema plagt.
Die Zahlen.
Das Stehen auf einem Bein.
Smooth Operator von Sade, ein Lied, das ich summe, um mich in Trance zu versetzen.
Das Chili-Bonbon, das meinen Schock in Schärfe auflöst.

Einige habe ich recherchiert, die meisten sind mir zugeflogen – wenn man das so sagen kann, wenn sich durch ständiges Grübeln irgendwann von selbst Lösungen formen.
Mittlerweile sind es einige Dutzend.
Ich halte sie einsatzbereit, indem ich sie regelmäßig anwende und ihre Wirkung teste – man weiß ja nie, wann eine andere versagt.

Meine Therapeutin wäre stolz.
Oder zumindest milde beeindruckt.

Ich bin nun mal eigenartig verschaltet.
Ich halte an meinen Schrägheiten fest, weil sie mich stabilisieren.
Ich zähle weiter.
Beiß mir auf die Zunge.
Ziehe an den Haaren.
Verkrampfe meine Fußzehen.
Verstecke meine Hände.
Präge mir Fluchtwege ein.
Buche Sitzplätze strategisch.
Führe Kontrollanrufe durch.
Werde zum Mount Everest.

Der Flieger schaukelt, Lissabon liegt hinter uns.

Ich schließe die Augen.

Ich hoffe.

Ich hoffe, dass diese Leichtigkeit bleibt.

Marla, es tut mir leid.

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Diese Story wird neben Reise auch in den Genres Philosophie und Schmerz & Trost gelistet.