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Warum bist du diesmal so weit vorausgegangen? So weit, dass ich dir mit den Augen nicht mehr folgen kann. Du bist so weit fort und trotzdem, mit jeder Faser meines Körpers spüre ich dich. Ich weiß, eines Tages werde ich dich einholen, aber weder ich noch andere Menschen können wissen, wann das geschehen wird. In unseren vielen gemeinsamen erlebten und durchlebten Jahrzehnten bist du oft vorangegangen, aber immer hattest du darauf geachtet, dass ich dir folgen konnte. Diesmal hast du mich zurückgelassen und ich kann es nicht begreifen. Warum?
Seit wir uns in Liebe vereinigt hatten, haben wir all unsere Wege stets gemeinsam bewältigt. Ja, du warst alles auf einmal – du warst die Umsichtige, die Mutigere und auch diejenige, die schneller entscheiden konnte als ich. So bist du oft vorangegangen, aber nie so weit, dass ich dich aus den Augen verlor.
Jetzt ist das anders. Mir fehlt dein Rat, mir fehlt deine Klugheit und mir fehlen deine nicht immer richtigen, aber immer spontanen Entscheidungen, damit es weitergehen konnte. Du weißt, ich bin ein zögerlicher Mensch, selbst da, wo schnelles Handeln gefragt ist. Du warst der erforderliche Ausgleich dazu. Wenn ich zögerte, gingst du voran. Ich durfte dich aber auch zurückhalten, wenn du gar zu stürmisch in deinem Voranschreiten warst.
Deine Autonomie war dir immer wichtig und du hast autonom gehandelt, bis zu deiner letzten Entscheidung. Nein, keine Sorge, ich kritisiere das nicht. Wahrscheinlich hätte ich genau so entschieden, wenn ich in deiner Lage gewesen wäre. So bist du gegangen, gegangen auf deinen Weg ohne Wiederkehr. Ich habe dein Recht diesen Weg zu gehen verteidigt, obwohl ich das Gefühl hatte, dass man etwas Anderes von mir erwartete. Ich hätte dieses Recht verteidigt, mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung standen; und wenn es mich das Leben gekostet hätte! Doch sei beruhigt, niemand hat sich ernsthaft getraut, mich zu beeinflussen. Mir wurde nur eine einzige Frage gestellt, die habe ich anders beantwortet als erwünscht. Für mich war die Antwort klar, ich hatte es dir versprochen. So blieb mir nichts, als diese eine letzte gemeinsame Nacht. Sie wurde die längste Nacht meines Lebens und sie dauerte, bis du gingst und ich dir weder folgen konnte, noch folgen durfte.
Ja, ich weiß, du bist nur vorausgegangen. Voraus in die Unendlichkeit. Du bist vorausgegangen, weil sich dein Lebenskreis geschlossen hatte. Vielleicht hättest du noch einmal innehalten sollen, damit ich dir hätte folgen können. Nein, ich weiß, das geht nicht. Diesen Weg geht jeder Mensch für sich allein. Für einen selbst, ist das sicher der Moment, in dem alles getan ist, was zu tun war. Für die, die zurückbleiben, ist und bleibt es unverständlich. Aber ich bin schließlich selbst an einem Punkt in meinem Leben, wo alle Zukunft, die ich mir vorstellen kann, ein überschaubarer Zeitraum ist. Ein Zeitraum, der, wenn es gut läuft, ein paar Jahre dauert. Gemessen an meinem bisher zurückgelegtem Weg, nur noch eine kurze Strecke.
Auf der größten Strecke meines langen Lebensweges hast du mich begleitet. Wir haben miteinander und füreinander gelebt. Dieser Teil des Weges ist zu Ende. Unser Lebensinhalt war das Füreinander und die Liebe, die uns verband. Alles ist zu Ende gegangen in einer einzigen Nacht, an deren Ende ich orientierungslos auf der Straße stand und nicht wusste, wie es weitergehen könnte. Ich habe mich neu sortiert. Anmaßend und verlogen wäre es, wenn ich an dieser Stelle von Lebensfreude sprechen würde. Nein, es ist etwas Anderes, das mich bewegt! Du kennst mich, die mir innewohnenden Neugier treibt mich voran. Ich will wissen, was noch kommt, will erleben, was das Leben mir noch zu bieten hat, will wissen, was ich noch gestalten kann und am Ende werde auch ich sterben.
Das ist nicht der Moment, auf den ich hinarbeite, aber es ist der Moment, in dem ich dich eingeholt habe. Dieser Moment wird kommen, es mag noch dauern, aber der körperliche Verfall ist unaufhaltsam. Ich laufe dagegen an, ich stemme Gewichte, ich lese und schreibe und doch weiß ich, in meinem Alter sind das nur noch Scheingefechte. Die Gewissheit, dass der Tod unausweichlich ist, hat für mich etwas Beruhigendes. Auch alt zu sein, empfinde ich nicht als Last oder Belastung. Es gibt keine Wahl, der Mensch startet in das Leben, mit einer unbestimmt langen Lebenszeit. Stirbt er im hohen Alter, sollte er das als Gnade empfinden. Auch du warst schon in einem fortgeschrittenen Alter, als du mir davongeeilt bist und ich weiß, genau wie ich, hast du vor allem unseren langen gemeinsamen Weg als Gnade empfunden.
Ich will nicht weiter philosophieren und ich werde nicht erklären, was wir beide unter Gnade verstehen, das bleibt unser Geheimnis. So bleibt mir zum Schluss nur noch das Eine zu sagen: Blicke ich zurück auf unser Leben, so bin ich von Dank erfüllt.
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