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Am Ufer

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11.07.23 00:14
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Ich gehe gerne an den Ufern großer und kleiner Flüsse entlang. Am Rhein, an der Elbe, an der Loire, an der Sèrve oder an der Nive. Das Dahinfließen des Wassers hat eine beruhigende Wirkung auf mich. Gibt es gerade keinen größeren Flusslauf, kann auch ein Bach hilfreich sein. Ich habe den Eindruck, meine Gedanken wirken am fließenden Wasser konzentrierter als sonst und alles Bedrückende verschwindet im Hintergrund. So nutze ich auf meinen Reisen von und nach Frankreich gerne die Ufer der Oise, um meine Gedanken zu ordnen.

Das Tal der Oise liegt nördlich von Paris. Die Oise ist ein kleiner Flusslauf, der nordwestlich von Paris in die Seine mündet. Schiffbar ist der Flusslauf von der Mündung in die Seine bis Compiègne. Wenn ich in der Gegend von Compiègne weile, gehe ich gerne an den Ufern dieses Flusses spazieren und wenn die Zeit reicht, unternehme ich dort eine Wanderung. Es ist angenehm über die Felder oder den Deich zu gehen, auch den Fluss über den Steg von Lacoix-Saint-Ouen nach Jaux mit seiner alten Kirche zu überqueren, ist empfehlenswert. Die ältesten Mauern des Bauwerks stammen dem 12. Jahrhundert. Das Ensemble von Kirchenbau und Bürgermeisteramt ist hübsch anzusehen im sonst, eher öden Ort.

Meist bin ich auf den Wegen entlang des Flusslaufs in heiterer Stimmung. Denn ich bin dort auf dem Weg nach Aquitanien und ich freue mich darauf, bald meine Tochter in die Arme zu schließen oder ich bin auf dem Rückweg nach Hause. Auf zu Hause freue ich mich immer, schließlich lebe ich in einer angenehmen Umgebung mit netten Nachbarn und Freunden.

Die kleinen Frachtschiffe und Ausflugsboote auf dem Fluss rufen in mir Erinnerungen wach. Es ist diese Art von Schiffen, die mich an meine Kindheit am Rhein erinnern. Schiffe dieser Kategorie findet man heutzutage auf dem Rhein so gut wie nicht mehr, nur noch selten trifft man auf eins dieser Schiffe. Die kleinen Frachtkähne wurden durch mächtige Schubverbände ersetzt. Jeder der Leichter eines solchen Verbandes fast mehr Ladung, als einer der früheren Frachtkähne. Ausflugsboote findet man noch, auch die haben nur wenig gemein, mit den Booten, die ich früher sah. Meine Mutter nahm mich gerne auf einem dieser Boote mit nach Kaiserswerth, sofern ihr Geld dazu reichte. Gegen das, was ich von solchen Fahrten in Erinnerung habe, erinnern heutige Ausflugsboote eher an Luxusjachten. Ganz zu schweigen, von den vielen Kreuzfahrtschiffen, die heute auf dem Rhein verkehren. Erinnerung prägen alte Menschen, wie ich es bin. Immer noch blicke ich auf den Rhein und erwarte, dass einer der schier endlos erscheinenden Schleppzüge langsam stromaufwärts fährt. Vornweg ein mächtiger Schaufelraddampfer mit einem Qualm ausstoßenden hohen Kamin, der vor jeder Brücke umgeklappt wurde, damit es nicht zu einer Kollision mit der Brücke kam. Hinter dem Dampfer folgte, eine lange Reihe Frachtkähne, die durch Stahlseile mit dem Dampfer verbunden waren. Aufgereiht, wie Entenküken, die der Mutter folgen.

Auf der Höhe von Compiègne hat die Oise gerade einmal eine Breite von ca. achtzig Metern. So wirken die Schiffe größer, als sie mir damals auf dem Rhein erschienen, denn dieser Strom verfügt in der Niederrheinebene über ein Vielfaches der Breite der Oise. Beeindruckend auf diesem im Verhältnis kleinen Flusslauf sind die seltenen Momente, wenn sich dort zwei Schiffe begegnen, dann wird es eng und erst dann bemerkt man, so klein sind die Schiffe gar nicht.

Noch mehr als Schiffe und Flusslauf beeindruckt es mich, dass ich gefahrlos dort wandere, wo sich einst mächtige Armeen, in tödlicher Umklammerung, sinnlose Kämpfe lieferten. Ein Menschenleben bevor ich meine Zeit an diesen Ufern verbringen konnte, wäre es lebensgefährlich gewesen, sich dort zu vergnügen. Aufgewühlt von den Kämpfen waren die Felder, mit Bombentrichtern und Laufgräben verunstaltet. Statt Getreide und Rüben zu tragen, wurden sie mit Blut getränkt. Mein Vater war einer dieser Menschen, die für Ruhm und Vaterland dort schwer bewaffnet umherzogen, einem sinnlosen Tod ins Auge blickten und selbst Tod und Verderben bereiteten. Männer, die statt aufzubauen und Werte zu schaffen, Tod und Verderben verbreiteten – wie soll ich das verstehen, wo mir so viel daran liegt, in einer friedvollen und gerechten Welt zu leben?

Nach den Kämpfen, die im letzten Weltkrieg das Tal der Oise in ein Inferno verwandelten, folgte etwas Weiteres, das mich mit Entsetzen füllt. In Compiègne wurde das Internierungs- und Deportationslager Camp de Royallieu errichtet. Tausende Frauen, Männer und Kinder wurden von dort in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Ein unfassbares Verbrechen – das Verbrechen des Völkermords.

Das alles ist heute Vergangenheit, ein Glücksfall in der europäischen Geschichte. Zu lange wurden im Herzen Europas zu viel Kriege geführt. Jeder dieser Kriege war ein Krieg zu viel. Jedes Opfer eines Krieges ist ein Opfer zu viel und jede verschossene Kugel ist vergeudete Ingenieurskunst. Nichts von diesen Dingen trübt meinen Sinn, wenn ich heute an diesem Fluss weile, diese trüben Gedanken kommen mir, wenn ich fern dieses Flusses bin. Die Feindschaft, die das Tal der Oise in eine Hölle verwandelte, hat ein Ende gefunden.

Da ich die Probleme dieser Welt nicht lösen kann, versuche ich, mit der Welt, so wie sie ist, in Einklang zu leben. Auch das ist nicht immer einfach, denn neue Kriege werden vom Zaun gebrochen, Hunger, Durst und anderes Elend herrschen in weiten Teilen des Erdballs. Unsere Lebensweise heizt den Planeten auf, die Folgen sind für jeden sichtbar und doch machen wir weiter und weiter. Nur liebe Leser verzeiht, am Ende meines Lebens relativiert sich alles, was jüngere Menschen zu Recht anprangern. Eigentlich will ich nur noch in Ruhe meine letzten Tage genießen. Mein Interesse für die laufenden Probleme erlahmt. Was stört mich schon eine galoppierende Inflation oder eine marode Autobahnbrücke? Was wirklich noch stört, ist mangelnde Empathie, Mangel an Aufmerksamkeit und eine Verrohung des Umgangs miteinander. Fehlender Respekt, muss im gleichen Atemzug genannt werden. Nein, ich meine nicht Respekt vor dem Alter. Alter ist keine Leistung, Alter ist ein Zustand. Respektvoll mit allen Menschen umzugehen, erwarte ich. Alle Menschen sind Kinder der gleichen Schöpfung und allein der Respekt vor der Schöpfung, gebietet es, jedem Menschen mit Respekt zu begegnen. Einen Menschen in sozialen Netzwerken zu beschimpfen, ist eine einfache Übung. Sich gegen Dinge aufzustellen, das erfordert Mut. Einem Hilflosen (real oder sinnbildlich) die Hand zu reichen, nimmt Zeit in Anspruch. Warum sich nicht einmal die Zeit nehmen, die Welt mit den Augen des Anderen zu sehen?

Verrohung und mangelnde Empathie sehe ich nicht als das Problem einzelner Generationen oder Gesellschaftsschichten, sondern als Erscheinung, die die gesamte Gesellschaft betrifft. Gerade meine Generation müsste es besser machen, stammen wir doch aus einer Zeit, in der staatlich verordnet ein Menschenleben nicht viel zählte und das verächtlich Machen anderer „Rassen“ und Nationen Staatsraison war.

Den alten Mann, der die Signalbauer an der Bahnstrecke wüst beschimpft, weil er sein Fahrrad um deren Werkstattwagen herum lenken muss, verstehe ich nicht. Den jungen Mann, der abends bewaffnet zum Trinken in die Altstadt geht, den verstehe ich erst recht nicht. Im ersten Fall ist es mir unbegreiflich, was es dort überhaupt zu schimpfen gibt, schließlich ist reichlich Platz auf dem Weg und der zweite Fall, ist mir noch unbegreiflicher. Warum sich bewaffnen, um zu trinken und mit Freunden zusammen durch die Altstadt zu ziehen? Das erschließt sich mir beim besten Willen nicht.

Wie soll ich mit solchen Menschen umgehen? Soll ich sie hassen? Soll ich sie verachten? Ich weiß es wirklich nicht. Beides wären starke Gefühle, vielleicht sind diese Menschen beides nicht wert. Ignorieren kann ich sie auch nicht. Mich lässt das ratlos zurück, selbst die beruhigende Wirkung des Flusses versagt an dieser Stelle. So versuche ich auch diesen Menschen mit Achtung zu begegnen, denn bei keinem Menschen wird es nur gut und böse geben. Es ist wie der Unterschied zwischen schwarz und weiß – dazwischen liegen unzählige Graustufen.

Ich bin ein Fantast? Auch das mag stimmen. Ich blicke weiter auf den ruhig dahinfließenden Fluss, setze einen Fuß vor den anderen, schneller oder langsamer, je nach Verfassung oder Gemütslage und bin immer noch der Ansicht, dass die Zukunft gerade jetzt beginnt.

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Kurzbeschreibung

Ich gehe gerne an den Ufern von Flüssen entlang. Das dahin fließende Wasser hat einen beruhigende Wirkung auf mich, meine Gedanke schweifen zurück in die Vergangenheit und ich versuche Bezüge zur Gegenwart herzustellen.

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