Fanfictions > Bücher > Harry Potter > Um das Leben meiner Schwester

Um das Leben meiner Schwester

174
06.01.19 20:37
12 Ab 12 Jahren
Homosexualität
Workaholic

Autorennotiz

„Um das Leben meiner Schwester“ ist eine Fanfiction, die mir schon lange im Kopf rumgeistert und sehr am Herzen liegt. Es kann doch nicht sein, dass es kaum eine deutsche Longfiction gibt, die sich ausführlich der Lebensgeschichte unseres Brausedropsvernichters widmet. Deswegen habe ich beschlossen, sie selbst zu schreiben. Das heißt, nicht seine ganze Lebensgeschichte, sondern die prägenden Jahre zwischen dem Überfall auf Ariana bis zu jenem Moment, in dem er sich entschließt, nach Hogwarts zurückzukehren. Ich habe diese Fanfiction als Mehrteiler angelegt. Noch bin ich mir unschlüssig darüber, ob ich alle Teile in eine Fanfiction packe oder sie aufteile. Es kann also sein, dass sich die Kurzbeschreibung noch ändert und diese Fanfiction nur den ersten Teil umfassen wird. Der erste Teil reicht von Albus‘ Kindheit kurz vor dem Überfall auf Ariana bis zu Kendras Tod.

Ich versuche, halbwegs nah am Romancanon zu schreiben. Das Word of God und andere Werke aus der Lore (wie die "Fantastische Tierwesen"-Reihe) beziehe ich nur zum Teil ein. „Muggleinfos“ zu den Jahren 1890 – 1900 sind nur grob recherchiert.

Charaktere

Albus Dumbledore

Albus Dumbledore ist der Schulleiter von Hogwarts, Harrys Mentor und der Kopf des Phönixordens, der Geheimorganisation, die sich dem Kampf gegen Voldemort verschworen hat. In seiner Jugend war Albus Dumbledore mit dem späteren schwarzen Magier Gellert Grindelwald befreundet. In einer Auseinandersetzung wurde seine Schwester Ariana getötet, was sich Dumbledore nie verzieh.

~o0o~ Wo dein Schatz ist, wird dein Herz auch sein ~o0o~

Matthäus 6:21

~*~

Es war ein Palast, der sich am Rande des Dorfes Mould-on-the-Wold auf einer Lichtung zwischen den letzten Ausläufern des Forest of Dean erhob. Kein Palast wie ihn Fürste und Könige bewohnten mit weiten Hallen aus Gold und Silber oder einem Dach, das von prunkvollen Marmorsäulen getragen wurde. Nein, dieser Palast war klein und schäbig und ein ahnungsloser Wanderer hätte ihn wohl niemals als solchen erkannt. Er glich einem schmucklosen Steinhaus im Englischen Stil zwischen dessen Mauerritzen Spinnen hausten und Blumen auf den Fensterbänken aus ihren Kästen quollen. Mit Gardinen aus Häkelspitze statt edlem Brokat, einer verwitterten Gartenbank als Audienzzimmer und einer knarzenden, alten Holztreppe, die ohne roten Teppich hinauf in die Gemache führte. Und doch war es ein Palast. Wie jedes Haus einem Palast gleicht, solange ein Hofstaat an glücklichen Kindern es mit Lachen und sprudelndem Leben erfüllt. Solange elterliche Geborgenheit jede noch so dünne Wand in die meterdicken Mauern einer sicheren Festung verwandelt. Solange das Glück darin haust und alle, alle, die darin wohnen, wohlauf sind...

Dieser spezielle Palast nun besaß einen Schlosspark, der nur durch den Wall eines klapprigen Lattenzaun von den Ländereien der Grafschaft Mould-on-the-Wold getrennt wurde und aus einem gepflegten (man darf sagen, regelmäßig entgnomten) Rasen bestand, der sich rund ums Haus schlängelte und in Blumen- und Gemüsebeeten auslief. Ein kleines Kräutergärtchen direkt unter den Fenstern der Schlossküche erzählte dem vagabundierenden Fußvolk von den Köstlichkeiten, die hinter diesen Mauern kredenzt wurden. Und auf der anderen Seite, vor den Augen des gemeinen Volkes versteckt, erhoben sich wie verschnörkelte Säulen die knorrigen Stämme alter Obstbäume und verzweigten ihre Äste zu anmutigen Gewölben: Baldachinen aus saftigen Blättern, jugendgrün wie die Hoffnung. Die höchste dieser Säulen jedoch, das Herzstück des Parks, stand frei in der grünen Flur und reckte ihre ausgefächerten Äste stolz der offenen Himmelsdecke entgegen, die wie in einem barocken Gemälde mit blau marmorierten und wolkenweißen Fliesen getäfelt war. Fünf Äste waren es an der Zahl, die aus einem mächtigen Stamm herauswuchsen, sich teilten und verzweigten, bis sie an ihren Enden in wieder fünffingrige Blätter übergingen. Der Schmuck einer kräftigen Kastanie. Und bei dieser Kastanie, zu deren Füßen sich der grüne Samtteppich des jungen Grases ausbreitete, hatten sich an jenem warmen Frühlingsabend die Königskinder des kleinen Reiches versammelt und genossen die letzten Sonnenstrahlen. Verblassende Prunkschimmer des letzten Frühlings, der ihnen in diesem Palast noch blieb…

„Abber… nicht so hoch! Nicht so hoch!“

Die aufgebrachte Mädchenstimme tönte genauso schrill wie das Gefiepse einer Maus, doch wesentlich lauter, über den Rasen. Albus steckte seine Nase noch ein bisschen tiefer in die vergilbten Seiten des lederbeschlagenen Buches, biss noch ein wenig kräftiger auf den Grashalm in seinem Mund, rückte noch ein Stückchen weiter von der Wurzel der Kastanie fort. Doch es half alles nichts. Arianas Geschrei war einfach zu laut. Entnervt verrollte er die Augen, legte die Phönixfeder in das Buch, damit der Wind die Seite nicht umblätterte und schaute sich um. Am Baumstamm, schräg zu seiner Rechten stand seine Schwester in ihrem luftigen weißen Spitzenkleidchen mit dem breiten rosa Seidenband um den Bauch und blickte ins Geäst des Baumes hinauf. Hoch über ihrem Kopf waren zwischen dem grünen Laub nur noch ein nacktes Kinderbein, ein heruntergerutschter Strumpf und ein brauner Halbschuh zu sehen.
„He, was ist denn los?“, rief Albus seiner Schwester zu, „Bei dem Geschrei kann kein Mensch lesen!“,
„Abber ist hochgeklettert. Obwohl Mama es verboten hat!“, rief Ariana überhastet, die kleinen Hände fest gegen den Stamm gepresst.
„Hab glaub‘ ich nen Bowtruckle gesehen“, drang es aus der Krone.
„Bowtruckle gibt’s bei uns nicht. Die gibt’s nur in Süddeutschland“, erklärte Albus nüchtern und vertiefte sich wieder in sein Buch. Warum mussten seine Geschwister ihn eigentlich immer genau dann stören, wenn er gerade mitten in einem Kapitel war?
„Mensch, Albus, du könntest mir echt mal helfen!“, regnete die ärgerliche Stimme seines Bruders auf ihn herab, als er gerade das erste Wort des nächsten Absatzes gelesen hatte. Albus schloss für eine Sekunde die Augen, atmete tief ein, stöhnte. Dann schnappte er sich wieder die Phönixfeder, schlug das Buch zu und sprang auf.

„Er … er wird noch runterfallen und sich was brechen“, schniefte Ariana, als er den Baumstamm erreichte.
„Wird er nicht“, erklärte Albus ruhig und im nächsten Augenblick erhob sich das alte Tischtuch, auf dem die Kinder gelagert hatten und verknotete sich mit den Zipfeln an den untersten Zweigen, so dass eine Art Sprungtuch im Baum hing.
Bewundernd schaute Ariana zu ihm auf.
„Hast du das absichtlich gemacht?“
Sie blinzelte erstaunt.  
„Wahrscheinlich“, sagte Albus. Er hatte noch nicht ganz herausgefunden, wie er es angestellt hatte, doch konnte er nicht verleugnen, dass er sich genau das gewünscht hatte. Es war nicht das erste Mal. In letzter Zeit passierten die Dinge häufiger so, wie er sie sich gedacht hatte, während es im Winter noch reine Zufälle gewesen waren. Seine Eltern würden wohl sagen, dass er begonnen hätte, seine Magie kontrollieren zu lernen. Und vermutlich auch, dass er damit ziemlich früh dran war. Denn noch war Albus erst neun Jahre alt. Wenn auch nicht mehr lange. Ein letztes Mal schaute er auf Ariana hinab, dann setzte er seinen Fuß auf die Strickleiter und folgte seinem Bruder den Baum hinauf.
„Wenn das wirklich ein Bowtruckle ist, dann ist unsere Kastanie ein Zauberstabbaum. Dann brauchen wir vielleicht nie zu Ollivander. Dann können wir uns unsere Zauberstäbe selbst machen, wenn ich noch mehr darüber lerne.“
„Du bist echt `n Streber, Albus“, rief Aberforth ihm von aus oben zu, während Albus sich durchs Geäst kämpfte, aufpassen musste, dass seine langen Haare sich nicht in den Zweigen verhedderten. Mit jedem neuen Ast, den er erklomm, kam wieder ein Stückchen mehr von seinem Bruder zum Vorschein: Ein zweiter Schuh, ein zweites Bein, dann eine kurze, braune Hose mit umgestülpten Taschen, der Saum eines weiten, hellblauen Hemdes und schließlich eine Mütze, unter der kurze Stoppeln kastanienbraunen Haares hervorschauten. Eine Frisur, viel praktischer zum Klettern und Toben als seine eigene Mähne. Gerade hatte Albus den Ast erreicht, auf dem sein Bruder ein Bein links, ein Bein rechts hockte, als Aberforth plötzlich mit dem den Kopf zuckte.
„Was ist?“, rief Albus, während er sich an den Oberzweigen festhaltend auf ihn zu balancierte.
„Ich glaub ich hab ihn gesehen“, hauchte Aberforth und deutete ohne sich zu ihm umzudrehen auf ein großes Kastanienblatt, das über ihm im Wind schaukelte, „Mist! Entwischt! Siehst du ihn noch irgendwo?“

Albus schaute sich um, arbeitete sich vorsichtig vor und lugte über den Kopf seines Bruders in die Ferne. Zwischen den Blättern schoben sich vor einem sanft bewölkten Himmel die moosbefleckten Dachziegel des Hauses in sein Sichtfeld und der Schornstein, aus dem grauer Rauch quoll. Nur ein Stückchen ließ er seinen Blick weiter wandern und schon änderte sich das Bild. Er sah die Cottages und Häuser von Mould-on-the-Wold mit ihren verwilderten Gärten und morschen Gartenzäunen, die schlammige Zufahrtsstraße, auf der sich von Ochsen gezogene Wägen durch den Matsch wühlten, so dass die Räder ganz schmutzig wurden. Er sah die goldenen Weizenfelder und die blühende Heide, die das Dorf umgaben. Sah Prozessionen aus Bauern mit hochgekrempelten Ärmeln und Hosenbeinen sowie Mägde in braunen Miedern und mit weißen Hauben, die alle staubverdreckt und verschwitzt von den Ländereien heimkehrten, Harken und Rechen als Reliquien vor sich hertrugen. Er sah die großen Gehöfte am Rande des Dorfes, mit ihren Holzställen zwischen denen Kühe und Kälber auf Weiden grasten und Fohlen ihrer Mutter ausgelassen entgegensprangen. Sah den Bach sich zwischen dem Schilfgras und Findlingssteinen gemächlich dahin schlängeln - immer der verfallenen, breiten Steinbrücke entgegen, auf der ein paar Jungen Reifen vor sich hertrieben. Sah vom glitzernden Turm der alten Kirche eine aufgeschreckte Schar Vögel in die Abendsonne davon flattern, als die Glocken zur vollen Stunde schlugen und einen Straßenköter, der gefolgt von einem kleinen Mädchen gemächlich eine Gasse herauf trottete. Doch nirgendwo sah Albus etwas von einem Bowtruckle.

„Nein, nichts zu sehen“, rief er Aberforth zu, „Ich hab’s dir doch gesagt. Hier gibt’s keine.“
„Aber ich hab doch zwei dunkle Augen gesehen“
„Wahrscheinlich war’s ein Käfer oder sonst ein Insekt. Komm, lass uns wieder runterklett-“
Albus hielt inne. Durch die Blätter hatte er selbst gerade zwei Augen schimmern sehen. Keine von einem Bowtruckle. Menschliche Augen, blitzend und hellblau. Augen in einem vertrauten Gesicht. Ein Gesicht mit einer großen Hakennase, einem gepflegten Schnurrbart und langem, kastanienbraunem Haar zu den Seiten.
„Vater!“, rief Aberforth freudig, als der Mann im waldgrünen Umhang sich gegen die Hauswand neben der Gartentüre lehnte und Ariana, die sich längst schon an ihn drückte, liebevoll über den Kopf streichelte.
„Guten Abend, ihr beiden“, rief er zum Baum hinauf blickend, „Schönes Plätzchen habt ihr da gefunden. Dachte im ersten Moment, dass unsere Kastanie heute aber merkwürdige Früchte trägt. Doch dann hab ich gesehen, dass es nur meine Söhne sind, die da in den Zweigen hängen. Hat euch eure Mutter eigentlich erlaubt, auf den Baum zu klettern?“
Aberforth und Albus tauschten vielsagende Blicke.
„Vea victis!“, rief Letzerer erschrocken dem Ersten zu, der gerade beschämt den Kopf gesenkt hatte, dann aber mit hoch gezogenen Augenbrauen wieder zu seinem Bruder aufblickte.
„Was heißt denn das?!?“
Percival am Boden lachte einmal kurz und heftig auf - amüsiert und zugleich darum bemüht, es sich zu verkneifen.
Wehe den Besiegten, Aberforth. Albus hat offensichtlich sein Latein gelernt. Nun, wenn es nach mir ginge, könntet ihr noch ein Weilchen da oben bleiben. Aber ich war gerade in der Küche und nach den Neuigkeiten, die ich dort erfuhr, sollte ich euch um eurer selbst willen wohl langsam da runter pflücken. Das Abendessen ist nämlich fertig.“
Seelenruhig wartete Percival darauf, dass sie herabklettern würden. Aberforth, der ob der ausgebliebenen Standpaukte wohl wieder neuen Mut gefasst hatte, kam plötzlich in Bewegung.  
„Vater, stell dir vor, wir haben einen Bowtruckle hier im Baum!“, platze er mit weit aufgerissenen Augen heraus.
„Was! wirklich? Wo?“, fragte Percival mit gespielter Überraschung.
Albus beobachtete das Schauspiel mit finsterer Miene. Warum musste sein Vater den Unsinn seines Bruders eigentlich immer bestätigen? Es brannte ihn unter den Nägeln, ihn zu verbessern.  
„Ist doch gar nicht wahr! Das bildet Abber sich nur ein. Hier gibt’s doch gar keine Bowtrucklel!... Hmm, was gibt’s denn heut zum Essen?“
„Nun, wenn man dem Duft trauen darf, dann wohl den besten Cumberland Pie  in ganz Mould-on-the-Wold. Und für den Nachtisch habe ich euch noch etwas Senftorte aus London mitge-.“
Mit einem Schlag kippte Albus‘ Stimmung.
„Senftorte?“, rief er vergnügt und spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er zögerte keine Sekunde. Sofort taumelte er den Ast nach vorne, stieß Aberforth beinahe vom Baum -
„He, pass doch auf!“
- und sprang direkt hinab in das Tischtuch. Dann rappelte er sich wieder auf, rauschte auf seinen Vater zu, ließ ihn links liegen und stürmte durch die offene Gartentüre ins Haus.
„Senftorte! Ich komme!“, schallte es noch in den Garten hinaus.  
Percival lachte laut auf.
„Du meine Güte, was habe ich nur für Leckermäuler gezeugt“, rief er und schaute Albus kopfschüttelnd hinterher. Dann wartete er auf Aberforth, der den langsameren und sichereren Weg abwärts nahm und brachte seinen Nachwuchs ins Haus.

Unter der Kastanie im Garten blieb nur noch ein altes Buch in einem Ledereinband liegen. „Zauberstabkunde“ blitzte der Titel im letzten Sonnenlicht golden auf. Und der Frühlingswind fuhr leise durch die Fasern der Phönixfeder.

Es roch köstlich. Bis hinaus auf die Straße musste der Duft von gebackenen Kartoffeln, Zwiebeln und geschmolzenem Cheddar wohl ziehen. Albus hob die Nase und sog ihn kräftig ein. Mit jedem Schritt, dem er sich dem Esszimmer näherte, knurrte sein Magen lauter und lauter. Er war hungrig. Noch größer aber als sein Hunger war sein Appetit und das gab seinen Füßen erst richtig Feuer. Er nahm die Strecke zwischen dem Garten und der Esszimmertür mit dem Ehrgeiz eines Marathonläufers in Angriff. Doch dann-

„Halt! Nicht so schnell, junger Mann!“, rief ihm eine strenge Stimme hinterher, als er schon die Hälfte des Wohnzimmers durchquert hatte. Albus stöhnte, blieb abrupt stehen und wandte sich um. Die Stimme kam von einem der Gemälde über dem storchbeinigen Ziertischchen, auf dem ein Blumentopf mit einer großen Geranie stand. Sie gehörte zu einem alten Zauberer, dessen Lippen sich gerade schlossen, als Albus‘ Blick ihn traf.
„Guten Abend, Großvater“, sagte Albus förmlich und versuchte zu lächeln. Auch wenn er kein bisschen begeistert war. Der alte Mann im Rahmen aber schien das zu ignorieren.
„Was ist das für Art, hier durchs Wohnzimmer zu rennen“, schimpfte er und musterte seinen Enkel kritisch, „Und wie siehst du überhaupt aus? Die Haare völlig zerzaust, das Hemd hängt aus der Hose, die Träger lose, die Strümpfe verrutscht…“
Albus hörte seinem Schimpfen nicht zu, sondern warf einen verstohlenen, sehnsüchtigen Blick hinüber zur Esszimmertüre, auf die er sofort zusprinten würde, sobald die Stimme seines Großvaters verstummt war. Doch sie verstummte nicht. Im Gegenteil.
„He Bursche, ich rede mit dir! Nimm sofort Haltung an!“, donnerte sie ihm entgegen.
„Aye, aye, Sir“, rief Albus blitzschnell und salutierte in übertriebener Betonung.
„Sind deine Hände rein?“
„So rein wie sie nur sein können, wenn man gerade aus dem Garten kommt.“
„Werd nicht frech, Bürschchen. Richte dein Hemd, zieh die Strümpfe hoch, binde deine Haare zusammen“
Albus griff sich hastig an den Hosenträger, doch noch ehe er sein Hemd packen konnte, zog es sich von selbst in den Hosenbund. Seine Haare strafften sich blitzschnell, die lose Haarbinde surrte sich fest und seine Strümpfe streiften sich über die Beine. Überrascht drehte Albus sich um. Und da stand sein Vater mit Aberforth, Ariana und einem gezückten Zauberstab.

„Danke, Wulfric“, wandte sich Percival mit dem unmissverständlichen Ton eines Machtwortes an das Gemälde. Der Mann auf der Leinwand starrte ihn mit finsterem Blick an, dann wandte er sich um.
„Diese neuen Sitten“, murmelte er vor sich hin, „Toben in meinem Haus. Kein Benehmen – keine Disziplin. Ich hab meine Kinder noch ordentlich erzogen. Diese neuen Sitten…“
Langsam zog er sich in den Bildhintergrund zurück, lies sich auf dem gemalten Sessel nieder, der wie ein Spiegelbild in natura seitlich zur Portätwand stand und steckte seine Nase in eine Zeitung.
Percival schien von seinem Verhalten nicht sonderlich überrascht zu sein, ja nahm noch nicht einmal groß Notiz davon.

„Geht euch die Hände waschen, Kinder“, sagte er ruhig und unterdrückte ein Gähnen. Wie er so oft versuchte, sich nach einem harten Arbeitstag seine Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Doch Albus kannte seinen Vater gut genug, um seine Erschöpfung zu durchschauen. Und noch etwas sah er, das dieser vor seinem Nachwuchs wohl eigentlich geheim halten wollte: Einen winzigen Hauch von Melancholie in dessen Zügen, als er Wulfrics Bild einen letzten Seitenblick zuwarf. Albus wurde sehr still. Wie eine leichte Sommerbrise spürte er, dass ihm mulmig wurde. Ein Ahnen von etwas ergriff ihn, das er nicht benennen konnte. Hatte das alles etwas mit ihm zu tun? Für einen Augenblick war die Senftorte vergessen. Schnell schaute Albus zur Seite, versuchte zu verbergen, was er fühlte. Weniger vor seinem Vater als vor Aberforth und Ariana, die sich ungerührt auf den Weg zu Badezimmer gemacht hatten. Sein Blick fiel auf die Ledertasche neben dem Kamin, in dem noch die Asche rauchte. Offensichtlich war Vater noch nicht lange zuhause. Wahrscheinlich hatte er nach seiner Ankunft nur schnell den Kuchen in Küche gebracht und war dann gleich herausgekommen, um sie drei zum Essen zu holen. Endlich fiel die Tür am anderen Ende des Wohnzimmers ins Schloss und Albus blickte wieder auf. Percival hatte seinen waldgrünen Zauberhut abgelegt und begonnen, den Umhang aufzuknöpfen, als die Augen seines Sohns ihn trafen.

„Was ist, Albus? Willst du mir etwas sagen?“, fragte er sanft.
Albus hielt sich nicht mit Umschweifen auf.
„Großvater Wulfric, hat er mich eigentlich gemocht, Vater?“
Verwundert starrte Percival ihn an.
„Natürlich, wie kommst du denn auf den Gedanken, dass er dich nicht gemocht hätte?“
„Naja“, sagte Albus und warf dem Portrait, das noch immer vor sich hinmurmelte, einen Blick zu, „Er verbietet mir so viel. Das heißt, wenn er es könnte.“
„Es gibt überall Regeln an die wir uns halten müssen, Albus. Eine feste Hand, ein wenig Strenge hat noch keinem Jungen geschadet, auch dir nicht.“
„Das ist keine Strenge mehr. Er nennt uns verzogen, verliert nie ein gutes Wort über uns.“
Es war die Wahrheit. Albus konnte sich nicht erinnern, dass sein Großvater ihn jemals gelobt hätte. Wann immer er sich zu Wort meldete, beschwerte er sich über sein Betragen oder das seiner Geschwister. Und wenn sie sich zufällig einmal alle drei tadellos benahmen und Wulfric nichts zum Schimpfen fand, dann schwieg er oder erzählte Geschichten aus seinem Leben. Aber das war es auch schon.
Percival schien eine Weile zu überlegen, was er antworten sollte, dann beugte er sich zu seinem Sohn herab.
„Ja, da hast du wohl Recht, Albus. Zugegeben, Wulfric ist ein wenig mürrisch, war er schon zu Lebzeiten. Und du weißt ja, dass die Porträts sich nicht mehr ändern. Aber auch mürrische, ruppige Menschen können ihre Familie mögen. Das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun.“
Albus blinzelte seinen Vater an, konnte ihm nicht ganz trauen.
„Hör mir mal zu“, sagte Percival eindringlich und griff seine Hände, „ Auch wenn es dir anders erscheinen mag, aber Großvater mag dich. Eben auf seine eigene Art. Als du noch ganz klein warst, kurz bevor er starb, da warst du einmal schwer krank. Und Mutter konnte sich nicht um dich kümmern, weil sie selbst im Bett lag.“
„Was hatte sie denn?“, platze Albus voll plötzlicher Sorge heraus, „Etwas Schlimmes?“
Zu seiner größten Verwunderung aber lachte Percival nur auf.
„Nein, nein. Es war nur eine, nennen wir es Kinderkrankheit. Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig. Jedenfalls - weißt du, wer da ihrer statt an deinem Bettchen saß und dich mit Heiltränken versorgt hat?“
„Großvater Wulfric?“, fragte Albus ganz leise, ganz verwundert.
„Genau - Großvater Wulfric“, antwortete Percival ruhig, „Und er war in genauso großer Sorge um dich wie wir.“
Albus kniff die Augen zusammen.
„Aber wenn er mich wirklich gemocht hat, warum gönnt er mir dann nie was? Warum bin ich ihm nie gut genug?“
Percival seufzte schwer und warf einen erneuten Blick zu dem Porträt hinauf.
„Weißt du, Albus, Menschen haben oft ihre ganz eigenen Vorstellungen davon, was gut für Andere ist und nicht immer liegen sie damit richtig.“
Für einen Moment schwiegen Vater und Sohn sich an.
„Vater“, fragte Albus schließlich leise, „War… war er eigentlich auch schon zu dir so?“
Percivals Gesicht wurde auf einmal sehr ernst und er blickte Albus mit großen Augen an. Doch noch ehe er ein Wort sprach, ertönte ein lautes Magengluckern. Und es kam direkt aus Albus‘ Bauch.
„Hmm, höchste Zeit fürs Essen, glaub ich“, sagte Percival.
Albus grinste. Endlich nahm er den Duft wieder wahr, der vom Esszimmer ins Wohnzimmer strömte und vor seinem inneren Auge tauchte ein riesiges, köstliches Stück Kuchen auf, das er bald verschlingen würde.
„Senftorte!“, feixte er und sprang seinem Vater davon.

Das Bad neben der Küche war längst leer, als Albus seine Hände in die Waschschüssel tauchte und in den schmutzigen Spiegel blickte, der immer sauberer wurde, je gründlicher er sich wusch. Er konnte nicht sagen, ob sein Großvater ihm sonderlich sympathisch war. Großmutter Urninde mochte er viel lieber. Auch wenn sie kaum etwas sprach, meist nur stumm lächelte und schon gestorben war, als Albus zur Welt kam. Aber irgendwo gehörte auch Großvater Wulfric zur Familie und vielleicht hatte er ja genauso über Albus gedacht. Damals, als er noch lebte.

Dunstschwaden über Dunstschwaden waberten über den gefliesten Küchenboden, als Albus aus der kleinen, angrenzenden Toilette zurückkehrte. Die Küche war inzwischen leer. Der Rührlöffel drehte sich auf dem Kohleherd in einem Kochtopf mit Kohlblättern von selbst um und auch die Bürsten putzten im Waschtrog Schneidebrettchen, Reiben und Messer ganz von allein. Nur zu Füßen des Kachelofens räkelte sich friedlich Bastus, der Knieselkater, auf einem Weidekorb mit Holzscheiten. Albus warf ihm einen Blick zu, schnappte sich den gefüllten Brotkorb vom schmalen Küchentisch und verschwand in Richtung Esszimmer. Bastus folgte ihm und auch ein ganzes Geschwader an Messern und Kuchengabeln, Trinkgläsern und Untersetzern, großen und kleinen Tellern, die plötzlich überall durch die Luft schwirrten, als Albus das Esszimmer betrat. Blitzschnell und gerade noch rechtzeitig wich er einem Messer aus, das sich in tödlicher Geschwindigkeit auf ihn stürzte, tauchte unter den Tisch und an seinem Platz wieder auf.

Er wusste noch nicht, was geschehen war, als auf einmal ein „Oh nein!“ in der Stimme seiner Mutter durch den Raum schallte. Doch er sah es, als er mit der Tischplatte auf Augenhöhe kam. Bei seinem Ausweichmanöver hatte er das Tischtuch ein Stück weit mitgezerrt. Und dieses hatte wiederum den Kelch mit dem Kürbissaft in einen gefährlich schwankenden Kreisel verwandelt, der dem Tischtuch nun ein hübsches Sprenkelmuster verpasste.  

Ariana kicherte, Bastus maunzte und Kendra, die noch in der Kochschürze Geschirr und Besteck von der Vitrine zum Tisch dirigiert hatte, runzelte die Stirn.
„Sieht wohl so aus, als bräuchten wir eine neue Tischdecke“, sagte sie, als der Kürbissaftkreisel durch ein Schnippen ihres Zauberstabs zum Stillstand kam.
„Ich geh schon“, murmelte Aberforth, der am nächsten zur Türe saß, nachdem sich nach einer halben Minute noch kein anderer Freiwilliger gefunden hatte.
„Wo ist der Wäscheschrank heute?“
„Heute ist Montag, Abber“, sagte Albus lächelnd.
„Und das heißt?“, fragte Aberforth finster.
„Auf dem Dachboden“, gluckste Ariana, die sich noch immer nicht eingekriegt hatte.
Aberforth blieb im Türrahmen stehen, starrte seine Geschwister einen Augenblick lang an und zog dann leise vor sich hin schimpfend von dannen.
„Ob er es sich wohl noch einmal merken wird, wenn Dinge ihren Platz wechseln?“, fragte Percival und blickte seinem Sohn besorgt hinterher. Er war gerade mit der Abendausgabe des Tagespropheten unterm Arm zur Türe hereingekommen, nachdem er Umhang und Hut in die Garderobe gebracht hatte.
Kendra schwieg für einen Augenblick. Dann seufzte sie leise.
„Ich will es hoffen. Er wird sich in Hogwarts sonst noch böse verirren.“
Und mit einem weiteren Schlenker ihres Zauberstabs schwebten der dampfende Topf und die Auflaufform ins Zimmer, landeten zielgenau in der Mitte des Tisches.

Der wandernde Wäscheschrank oder besser gesagt die wandernde Besenkammer, in der sich der Wäscheschrank befand, war nicht die einzige Absonderlichkeit des kleinen Bauernhauses in Mould-on-the-Wold, welches die Familie Dumbledore bewohnte. Das ganze Anwesen war voller Rätsel und Wunderlichkeiten, die einem Muggle wie die Erscheinungen eines merkwürdigen Traums vorgekommen wären. So wie die sprechenden Porträts; der schmutzige Spiegel, der sich von selbst reinigte, je gründlicher man sich wusch oder die Treppe zum Obergeschoss, die sich in Bewegung setzte, sobald jemand älter als sechzig war oder an einer Verletzung litt, die das Gehen beeinträchtigte. Doch war noch nie ein Muggle weiter in das Anwesen eingedrungen als bis zum Gartenzaun. Zumindest keiner, der nicht mit den Dumledores eng verwandt gewesen wäre. Und so blieb das Wunderhaus ein wohlgehütetes Familiengeheimnis.

Im Esszimmer, dessen Möbel aus zwei sich gegenüberstehenden, wuchtigen Vitrinen, einem zierlichen Sideboard mit Hängeregal, einer schweren Standuhr und dem großen Esstisch bestand, waren es die Stillleben an der dunkelblau und beige gestreiften Tapete, die das Haus als Zaubererheim verrieten. Im Herbst, wenn das Kanonenöfchen in der Ecke angefacht wurde, zeigten die Bäume sich in leuchtenden Feuerfarben, im Winter fiel auf vielen Bildern Schnee. Und jetzt, im Frühling, wiegten die Blumen und Blüten ihre Köpfe wie im Sommerwind.

Albus warf einen kurzen Blick auf ein Bild mit blühenden Hortensien, dann griff er sich den Teil des Tagespropheten, den sein Vater liegen gelassen hatte. Das Geräusch der Kelle, die in den Kochtopf tauchte und sich dann in seinen Teller entleerte, störte ihn wenig. Und auch die Gläser seiner Lesebrille, die sich mit heißem Essensdunst beschlugen, waren schnell abgewischt. Wie ein Spiegelbilder saß er Percival, beide in ihre Zeitungen vertieft, er die kleinere Ausgabe seines Vaters. Ariana stieß ihre Gabel in den Pie, Aberforth seine in den Kohl. Von einem goldenen Käfig hinter den Stühlen ertönte wohliges Schnarchen. Ein Abendessen wie jeden Tag.

Nicolas Flamel plant Jubiläum mit Lesung zu begehen, las Albus die Bildunterschrift des ersten Fotos. Es zeigte einen gedrungenen Zauberer in einer weinroten Samtrobe, der dem Beobachter ohne den leisesten Anflug eines Lächelns mit einem goldenen Kelch zuprostete. Zeitgleich erklang zu Albus‘ Linken erst Zeitungsrascheln, dann die säuselnde Stimme seines Vaters.
„Der Pie duftet köstlich, Kendy. Und was ist das eigentlich für ein Kohl? Ich kann nicht erinnern, jemals solche Blätter gesehen zu haben.“
„Drachenblaukraut. Eine von Thelmas eigenen Züchtungen, ausschließlich mit Drachenmist gedüngt. Sie hat mir eine ganze Kiste vermacht, als Anzahlung, da sie nach ihrer neuesten Errungenschaft etwas knapp bei Kasse sei.“
„Ach nein“
„Ja. Und das, obwohl ich ihr schon zig Mal gesagt habe, dass sie mir nicht mal einen Knut zu geben bräuchte, nach allem, was sie schon für uns getan hat.“

Zur Feier seines 550. Geburtstages plant der berühmte Alchemist ein Kapitel aus seinem neuesten Werk vorzutragen, las Albus, stockte, ging an den Anfang der Zeile zurück und las den Satz nochmal. Zur Feier seines 550. Geburtstages… 550. Geburtstages… 550…
Irritiert starrte er das Zeitungspapier an.

„Ach, du kennst sie doch Kendra. Sie ist einfach unverbesserlich. Wie geht es ihr eigentlich?“, fragte Percival. Zwischen Gabelgeklapper, Messerkratzen, Schmatzen, Schnarchen und Schnurren ging seine Stimme fast unter.
„Kuriert allmählich aus“, antwortete Kendra, „Der Verband war heute fast trocken. Meinte doch glatt, ich sei ein Glücksfall fürs Dorf. Auf so eine gute Pflege könnte man in St. Mungo lange hoffen. Ich fürchte, langsam baut auch ihr Gedächtnis ab.“
Sie machte eine Gedankenpause, seufzte leise und fuhr in gedämpften Tonfall fort.
„Ich hab ihr nicht gesagt, dass ich mir wünschen würde, dass sie in Zukunft mit der Wahl ihrer Haustiere etwas vorsichtiger wäre. Ich frage mich, was in diese Cindarella Scamander gefahren ist so stolze und gefährliche Tiere wie Hippogreife zu züchten und sie dann an gutgläubige, alte Hexen zu verkaufen, für die ein Wesen mit perlmuttglänzendem Fell nur ein zahmes Engelchen sein kann. Aber es ist wohl wahr, was Mutter immer sagte. Die Aussicht auf ein schnell gemachtes Pfund oder auch schnell gemachte Galleonen verdirbt jeden Charakter. Arme Thelma. Und dann noch nicht einmal ein Fläschchen Diptam im Haus. Alles für die Pflanzen, aber nichts für sie. Gibt es eigentlich etwas Neues aus dem Institut?“

…550…
Albus blinzelte. Doch die Zahl veränderte sich nicht. Da stand tatsächlich 550. Aber wie konnte das sein? Kein Mensch, den er je kennengelernt hatte, war jemals so alt geworden. Nicht einmal die Hexen und Zauberer seiner Verwandtschaft, von denen es manche immerhin auf stolze 150 Jahre gebracht haben mussten, wenn man der Ahnengalerie trauen durfte. Neugierig las Albus den Artikel zu Ende, stopfte sich abwesend Kohl und Cumberland Pie in den Mund. Die Lesung würde in wenigen Wochen im Sommer in der Winkelgasse stattfinden. Ob er seinen Vater wohl überreden könnte, mit ihm dort hinzugehen?

„Ja, allerdings“, antwortete Percival, „Es könnte sein, dass ich bald wieder auf eine Expedition gehen darf. India Johnson ist in Afrika auf eine Höhle gestoßen, deren Malereien scheinbar von Animagi berichten. Ihre Eule erreichte uns heute Morgen. Das arme Tier war völlig am Ende. Aber für die Wissenschaft müssen wohl alle Opfer bringen, auch Posteulen. Es wäre der älteste Beleg für Animagi, den wir bisher in Afrika entdeckt haben. Noch sind es vage Vermutungen. Aber das Museum ist bereits sehr interessiert. Hyroglyphia Tafelschief, unsere Expertin für alte Runen, hat bereits begonnen, die Tontafeln aus der Höhle auszuwerten, die India mitgeschickt hat. Hm – vielleicht war Gummiflügel ja auch deshalb so erschöpft? Nun, wie auch immer. Vorerst haben sie die Höhle mit sämtlichen Muggleabwehrzaubern belegt. Es sind einfach zu viele Großwildjäger dort unten unterwegs.“

„Vater“, platze Albus heraus, „Wie schafft man es eigentlich, 550 Jahre alt zu werden?“
Aberforth verschluckte sie beinahe an einem Kohlblatt: „550 Jahre?!?“
„Sprich nicht mit vollem Mund, Aberforth“
„‘Zeihung, Mutter“
Percival blinzelte seinen Ältesten an.
„Wovon sprichst du denn da, Albus?“
Er antwortete nicht, sondern reichte seinem Vater den Tagespropheten.
„Ah, natürlich, Nicolas Flamel, der wohl herausragendste Alchemist der Geschichte. Wusste gar nicht, dass er im Frühling Geburtstag hat.“
„Alchemie?“, fragte Albus mit glänzenden Augen. Mit jedem Wort seines Vaters hatte er mehr Feuer gefangen.
„Ja, eines der spannendsten und kompliziertesten Teilgebiete der Verwandlung. Und Flamel ist eine, nein, DIE Koryphäe. Ich durfte ihm einmal kurz die Hand schütteln zur Eröffnung einer Ausstellung. Bei Merlin, diesen Tag werde ich nie vergessen. Fragte mich doch glatt, ob es stimme, dass zur Feier des Tages ‚die Zauberkröte‘ aufgeführt würde. Man suche noch etwas Unterhaltung für den Abend. Er und seine Frau Perenelle sind die Einzigen bekannten Hersteller des Steins der Weisen musst du wissen.“
„Des Stein der Weisen?“, fragte Albus und erinnerte sich auf einmal an etwas, „Ich glaube, ich habe ein Buch, das so heißt.“
„Ja“, antwortete Percival verschmitzt, „Ich hatte auch mal eines in meiner Bibliothek. Aber es ist mir auf wundersame Weise abhanden gekommen. Manchmal habe ich das Gefühl, hier im Haus gehen Bücherdiebe um.“
Albus lief von einer Sekunde auf die andere puterrot an und senkte den Blick.
„Wie auch immer“, fuhr sein Vater fort, „Ich denke, ein Besuch bei Flourish&Blotts kann nie schaden. Und Flamel bei einem Vortrag zu hören, ist immer ein Erlebnis. Außerdem bleiben mir vermutlich keine 550 Jahre mehr, um auf den nächsten zu warten, zu dem ich meine Kinder mitnehmen kann.“
Albus blickte wieder auf und strahlte nun selbst wie die Abendsonne, die bereits hinter den Kornfeldern unterging. Mit seinem noch immer schamroten Gesicht sah er ihr tatsächlich ein wenig ähnlich. Er murmelte ein paar Worte, doch brachte vor Überwältigung kaum mehr als ein Danke zustande, worauf Percival ihm einen liebevollen Klaps auf den Hinterkopf gab.  
Alle am Tisch lachten.

Alle – bis auf einen.

Aberforth saß still auf seinem Stuhl und blickte finster von seinem leeren Teller auf. Wortlos schien er alles aufzunehmen, was um ihn vor sich ging: Das laute Lachen Percivals, der sich Albus zugewandt hatte und das leise Lächeln Kendras, die sich den Mund abtupfte; Arianas Zahnlückengrinsen und die ungläubige Begeisterung im Gesicht seines Bruders. Es war schwer, zu erraten, was er genau dachte und fühlte, doch leicht zu erkennen, wem diese Gedanken und Gefühle galten. Nach einem kurzen Rundblick hatte er seine Augen unablässig auf Albus gerichtet. Und die Finsternis darin schwand erst, als Ariana im Überschwang seine Hand griff und sich an seine Schulter lehnte.

Lokomotor Geschirr“
Kendra schnippte mit dem Zauberstab und die leeren Teller schwebten hinaus in die Küche, gesellten sich zu Besteck und Schneidebrettern im Waschtrog. Die Läden waren inzwischen geschlossen worden und der Kronleuchter tauchte den Esstisch in schummriges Kerzenlicht. Die Abendwärme drängte sich zu einer Decke aus schwüler Luft im Zimmer zusammen, die Bastus auf Albus‘ Nebenstuhl bereits in den Schlummer gewiegt hatte und auch den Rest der Tischgesellschaft einzuschläfern drohte. Doch dann riss ein Wort zumindest die Kinderschar wieder aus ihrem dösigen Halbschlaf: „Nachtisch!“

„Oh, für mich nicht. Du weißt, ich mag diese süßen Sachen nicht sonderlich“, sagte Percival, während Kendra vor drei blitzenden Augenpaaren und gierigen Leckermäulern begann die Torte aufzuschneiden.
„So, wie darf ich dann den Spitznamen verstehen, den du mir gegeben hast, Perc?“, entgegnete sie schmunzelnd, „Als den Ausdruck deiner tiefen Abneigung, eine Beleidigung?“
Percival, der sich in seiner beigen Robe auf dem Stuhl zurückgelehnt hatte, lachte auf.
„Du, Candy, bist eine Ausnahme. Dich mag ich schon allein aufgrund deines Humors“.
Er stand auf und drückte seiner Frau einen zärtlichen Kuss auf die Wange, wobei sie unter dem Kitzeln seines Schnurrbarts kurz erschauerte. Ariana verzog das Gesicht und schlug sich die Hände davor, als hätte sie etwas ganz Ekliges gesehen. So wie Haferschleim mit Grütze oder faulige Würmer. Doch zwischen den Fingern lugte sie noch immer neugierig hindurch und strafte damit ihrem Ekel Lügen.
„Wart’s nur ab, Prinzessin“, wandte Pericval sich schmunzelnd seinem Töchterchen zu, „In zehn Jahren wirst du froh sein, wenn auch dir ein hübscher junger Zauberer den Hof macht. Accio Pfeife“
Er beschwor Feuer herauf, ließ sich rauchend wieder auf seinem Stuhl nieder und lächelte zufrieden. Die Standuhr in der Ecke zählte leise tickend die Minuten, doch niemand achtete auf sie. Es war, als hätte die Zeit in diesen Zimmer, das von Lachen und Gemütlichkeit erfüllt war, ihre ganze Macht verloren.

„Der Kuchen schmeckt vorzüglich, Percival“, sagte Kendra nach einer Weile, als auf den Tellern ringsumher fast nur noch Sahnespuren übrig geblieben waren. „Warst du etwa noch bei Madam Fortescue?“
„Oh nein“, antworte Percival und zog gemütlich an seiner Pfeife, „Sie ist auf der Institutsfeier übrig geblieben. Magret und die anderen Damen sagten auch, sie sei wunderbar und doch wollte keiner ein zweites Stück. Wahrscheinlich meinten sie wunderbar für einen Evanesco.“
„Die Institutsfeier?“, fragte Kendra, während sie sich Sahne von den Lippen tippte, „Aber ich dachte, die wäre erst übermorgen?“
„Sie wurde vorgelegt, weil Chame und seine Frau die Reise zu ihrem fünfzigsten Hochzeitstag schon morgen antreten wollen. Daher schied er bereits heute aus dem Amt. Für Slughorn war das natürlich eine Überraschung. Traf ihn ziemlich unvorbereitet.“
Albus hörte seinem Vater zu, doch verstand er kein Wort. Wie selbstverständlich schienen die Erwachsenen über etwas zu sprechen, in das die Kinder nicht eingeweihten waren. Er warf Ariana und Aberforth einen Blick zu. In den Augen seiner Geschwister spiegelte sich das gleiche Unverständnis.
„Wie macht er sich denn als neuer Repräsentant des Institutes und des Museums? Ich hoffe, er ist sich der großen Ehre bewusst?“
„Ich denke, er ist der richtige Zauberer für diese Aufgabe. War bei der Antrittsrede natürlich furchtbar aufgeregt. Kein Wunder unter diesen Umständen. Ich bin gespannt, was der Tagesprophet morgen über ihn berichten wird. In der Abendausgabe stand noch nichts dazu. Er nannte es einen Meilenstein seiner Arbeit, zum Direktor ernannt worden zu sein – und vermied es dabei, mich anzusehen. Wirklich komisch, dass er mich jetzt noch immer als Konkurrent betrachtet. Wobei, ganz verdenken kann man es ihm nicht. Chame drückte mir heute noch einmal sein Bedauern über meinen Entschluss aus und sogar der Tagesprophet wollte mich dazu interviewen. Ich habe den Reporter natürlich stehen gelassen, diese Presseleute sind furchtbar aufdringlich. Noch Tee, Kendy?“

Die Worte verklangen unter dem Geräusch von Wasser, das aus einer Kanne gegossen wurde. Und Albus war auf einmal ein Licht aufgegangen. Das heißt, ein Kandaleber an Lichtern. Ein Kronleuchter, der den ganzen Raum erstrahlen ließ.

Sein Vater, Percival Dumbledore, arbeitete in einem Forschungsinstitut, das sich „Institut für Verwandlungshistorie und -Archäologie“ nannte. Es war angegliedert an ein Museum im London, in dem angeschlagene Zauberschachfiguren aus dem alten China sich müde über ihre Schachbretter schleppten; ein mittelalterliches Spinnrad eines kleinen, mürrischen, deutschen Zauberers (der sogar in einem Mugglemärchen verewigt worden sein soll) Stroh zu Gold spann und zig Tafeln dem interessiertem Besucher erzählten, wann und wo und von wem der erste Desillusionierungszauber ausgeführt worden war. Der Direktor dieses Museums und zugleich der Leiter des Institutes war Leon Chame: ein alter, kleiner Zauberer mit wässrigen Augen und schütterem Haar. Albus hatte ihm schon drei Mal die Hand geschüttelt. Zwei Mal bei einem Besuch im Museum, ein Mal hier zuhause beim Tee. Doch noch häufiger hatte er ihn gesehen. Im Tagespropheten, abgelichtet von zig Kameras. Wann immer es eine Sonderausstellung im Museum gab, das Institut einen sagenhaften Fund gemacht hatte oder berühmte Zauberer und Hexen dort Vorträge hielten, war sein Bild in der Zeitung zu sehen. Man konnte sagen, dass Leon Chame berühmt war. Wahrscheinlich nicht ganz so berühmt wie Nicolas Flamel. Denn Albus hatte seinen Namen niemals in einem Buch gelesen. Doch immerhin dürfte er wohl berühmt genug sein, um all diese Berühmtheiten persönlich zu kennen. Und wenn Albus das, was sein Vater gerade seiner Mutter erzählt hatte, richtig verstanden hatte, dann bedeutete das, dass… dass…

Albus‘ Puls schoss in die Höhe. Aufgeregt über seine plötzliche Erkenntnis lugte er ein zweites Mal zu seinen Geschwistern hinüber. Offensichtlich war er nicht der einzige, dem etwas aufgefallen war.

„Was ist denn mit Mister Chame?“, meldete Aberforth sich zu Wort, der dem Gespräch ebenso neugierig gefolgt war, doch es scheinbar nicht verstanden hatte.
„Er geht in den Ruhestand“, antwortete Percival ruhig, während er die Teekanne wieder auf dem Untersetzer abstellte, „Das heißt, er ist nicht mehr länger der Museumsdirektor. Sein Nachfolger ist Gordon Slughorn. Ihr habt ihn schon einmal kennengelernt. Ein recht wohlbeleibter Mann, trägt gerne lindgrüne Roben.“
„Aber sie wollten dich, Vater. Sie wollten, dass du Direktor wirst!“, platzte Albus heraus.
Percival wandte sich um, sah ihn an, völlig ruhig.
„Ja, das stimmt, Albus“, sagte er blinzelnd „Chame hatte zuerst mich gefragt, ob ich in seine Fußstapfen treten wolle. Aber ich habe abgelehnt.“
„Warum?!?“, keuchte Albus kopfschüttelnd, „Du hättest doch berühmt werden können!“

Vor seinem inneren Auge sah er unzählige schwarzweiße Fotos auf Zeitungspapier. Percival Dumbledore, der das Band zu einer Ausstellung über Zauberer aus deutschen Mugglemärchen durchschneidet. Percival Dumbledore, der in einer afrikanischen Höhle stolz Malereien von Animagi präsentiert. Percival Dumbledore, der einen Vortrag von Nicolas Flamel ankündigt, zusammen mit seiner Familie, die fröhlich in die Kamera lächelt. Zusammen mit ihm, Albus. Doch dann knüllten sich all diese Bilder auf dem Zeitungspapier zusammen und eine Hand warf sie in den Kamin. Und niemand wusste, wer Percival Dumbledore war oder dessen ältester Sohn.

„Ruhm ist nicht alles, Albus“, antwortete Percival ernst, während er seinen Blick hielt, „Wenn ich das Angebot angenommen hätte, dann wäre ich ab heute wohl ein vielbeschäftigter Mann. Viel Verantwortung würde auf meinen Schultern lasten, im Guten wie im Schlechten. Und ich hätte wohl kaum eine freie Minute mehr. Weder für meine Forschungen und Expeditionen noch für euch. Und das wäre wohl nicht unser aller Sinne.“
Albus hatte jedes Wort gehört. Doch starrte er seinen Vater noch immer ungläubig an. Seine Rede flog an ihm vorüber wie ein Schmetterling durch die Frühlingsluft. Er konnte nicht begreifen, wie jemand Ruhm nur so ablehnen konnte, am allerwenigsten bei seinem Vater. War vielbeschäftigt sein nicht das, wonach sich alle Erwachsenen sehnten? War berühmt zu werden nicht jedermanns Traum? So viele Menschen, die zu einem aufblicken würden, die einen bewundern und beneiden würden!

„Gordon Slughorn“, mischte Kendra sich ein, „Hat er nicht auch Familie? Ich meine mich an einen Jungen und ein Mädchen zu erinnern, die schon einmal zum Tee hier waren.“
„Ja“, antwortete Percival zwischen zwei Zügen aus seiner Pfeife, „Josephine, seine Älteste, dürfte inzwischen zwölf oder dreizehn sein. Sein Sohn, Horace, ist etwa in Albus‘ Alter und teilt wohl auch seine Vorliebe für Süßes. Dann hat er noch eine kleine Tochter, Penelope, gerade einmal ein halbes Jahr alt das Mädchen. Ich weiß nicht, ob ein Vater in so hoher Position der Familie gut tut. Seine Frau Tulouse scheint seit der Geburt der jüngsten Tochter von schwächlicher Gesundheit und auf Unterstützung angewiesen zu sein. Und auch der Junge bräuchte wohl etwas ganz anderes als eine Schar von Reportern des Tagespropheten, die Tag und Nacht das Haus belagern. Von dem Baby einmal ganz zu schweigen. Aber Gordon wird in Zukunft wohl nicht dazu kommen, sich um seine Familie zu kümmern. Nun ja, zumindest will er mit dem Verdienst seiner Frau einen Hauselfen anschaffen.“
„Ich wünschte, wir hätten auch einen“, jammerte Aberforth, „Dann müsste ich nie mehr den Garten entgnomen.“
„Dazu haben wir kein Geld“, sagte Percival ruhig.
„Aber wir hätten es, wenn Vater die Stelle angenommen hätte“, platze Albus heraus, „Wir hätten mehr Ruhm und mehr Geld, nicht wahr, Vater?-“
„Das reicht!“, fiel Kendra ihm streng ins Wort „Ich dulde nicht, dass du so mit deinem Vater sprichst, Albus.“
„Verzeihung“, sagte Albus hastig und rang sich ein Lächeln ab, „Ich wollte nicht unartig sein. Ich- ich meinte ja nur.“
Percival seufzte, schwieg für einen Moment.
„War heute etwas Wichtiges in der Post, Kendra?“, fragte er schließlich.
„Oscar hat einen Brief geschickt. Der Postbote hat ihn heute Morgen gebracht.“
„Der Postbote?!? Du meine Güte, Oscar hat wirklich Sinn für Humor.“
„Ich finde das keineswegs amüsant, Percival. Was ist, wenn die Muggel hier im Dorf einmal mehr mitbekommen, als sie sollten? Unser Haus ist nicht durch Abwehrzauber geschützt und ich möchte keinen Ärger mit dem Ministerium riskieren. Warum kann dein Bruder nicht wie jeder normale Zauberer eine Eule schicken?“
„Ach, lass ihm doch den Spaß, Kendy. Du weißt doch, wie sehr er diese Mugglesachen liebt. Was schreibt er denn?“
„Er hat sich für Sonntag zum Tee angekündigt.“
Arianas Augen begannen auf einmal zu glänzen.
„Onkel Oscar kommt uns besuchen?“, fragte sie ganz aufgeregt.
„Ja, Liebes, ich schätze er dürfte um halb fünf hier sein.“
„Und bringt er wieder Geschenke für uns mit?“
Sie erhielt keine Antwort. Denn noch ehe Kendra etwas sagen konnte, kam ihr Percival zuvor.
„Erstaunlich“, bemerkte er und legte seine Pfeife beiseite, „Ich hätte nicht gedacht, dass er von seiner Nordeuropareise so schnell zurückkehrt.“
„Er hat von einem Postamt in Helsinki aus geschrieben. Meinte, sein Besen sei schon abflugbereit in Richtung Heimat. Die Muggle dort haben ihn wohl für einen Straßenkehrer gehalten. Du kannst es selbst nachlesen. Sein Brief steht dort hinten.“
Kendra deutete auf einen zerknitterten, unscheinbaren Umschlag, der auf einem Spitzendeckchen auf dem Sideboard lag. Dann stand sie auf und begann auf Hexenmanier das Kuchengeschirr abzuräumen. Auch Percival erhob sich und schritt hinüber zum Sideboard, wo er im Kerzenlicht und unter den noch immer kritischen Blicken seiner Frau den Brief entfaltete.

„Zumindest“, sagte er und beugte seine Hakennase über das Papier, „Ist es doch ein fröhlicherer Anlass zu dem uns unsere Verwandtschaft schreibt als vor zwei Wochen, nicht wahr?“

Plötzlich herrschte Stille, Totenstille. Percivals Worte gingen durchs Zimmer wie eine kühle Abendbrise. Ein Lufthauch von jener Sorte, der einem die Härchen auf der frühlingswarmen Haut aufrichteten konnte, ganz sanft. Keine Antwort folgte. Albus, Aberforth und Ariana sahen sich an. Reglose Augen. Niemand sprach ein Wort. Genau wie die Erwachsenen schwiegen sie, während das Kerzenlicht flackerte.
„Ich glaube, wir gehen besser“, flüsterte Albus schließlich seinen Geschwistern zu.
Und in einer stummen Prozession verließen sie das Esszimmer.

„Glaubst du, William geht es besser, da wo er jetzt ist?“

Arianas Stimme glich einem zaghaften Flüstern, als Albus versuchte im Halbdunkel des einfallenden Mondlichts die Portraits an der Wand schräg gegenüber auszumachen. Sie hatten sich dicht auf dem Kanapee seitlich zum Kamin zusammengedrängt, Albus und seine Geschwister. Und Ariana lehnte ihren Kopf an seine Schulter, als suche sie seinen Schutz.  

„Ich weiß es nicht“, antworte er leise und wandte den Blick durch das Fenster hinaus auf die Kastanie, hinter der an einem samtschwarzen Himmel nun blankgeputzte Sterne glänzten wie Zauberstablichter auf einer weit entfernten Insel in einem dunklen Ozean. Aberforth neben ihm hatte traurig den Kopf gesenkt und betrachtete seine Füße, während er träge mit seinen Beinen baumelte. Sein Blick war abwesend, in sich gekehrt. Ob er wohl das gleiche vor sich sah wie Albus? Weite Felder mit goldenen Weizen. Einen großen Stall, in dem es blökte und grunzte, einen morschen Lattenzaun, einen krumm gewachsenen Baum mitten auf der Weide, der zum Hinaufklettern geradezu einlud. Und das blasse Gesicht eines Jungen, der ein Jahr jünger als Albus und ein Jahr älter als Aberforth war. Irgendwo in der Dunkelheit des Wohnzimmers schuhute leise Sova, das Habichtskauzweibchen der Familie.  Langsam schloss Albus die Augen und lauschte.

Es war dieser Laut, den er auch an jenem kalten Januarabend als erstes hörte, als die Hiobsbotschaft sie erreicht hatte. Wie heute hatte er beim Abendessen gesessen, als durch die Türe zum Wohnzimmer auf einmal ein graubrauner Schatten ins Wohnzimmer geschwebt war. Ein graubrauner Schatten mit auffallend großen, hellen Augen und spitzen, nach hinten gezogenen Ohren: Eine Zwergohreule. Albus kannte sie gut. Soweit er sich zurück erinnern konnte, hatte sie schon immer viele Briefe ins Haus gebracht. Briefe von Gwendolyn und Edward Meadoway, Albus‘ Tante und Onkel. Edward war der Mugglebruder seiner Mutter und Gwendolyn ihre beste Freundin aus Schulzeiten. Sie mussten sich wohl ineinander verliebt haben, als Gwendolyn einmal über die Sommerferien zu Gast auf dem Gutshof der Meadoways geblieben war. Ein Jahr später waren sie verheiratet. Und als Albus‘ Großeltern mütterlicherseits starben, erbte Edward als ältester Sohn das Anwesen, wo er und Tante Gwenny bis vor Kurzem noch das Experiment einer magischen Farm gewagt hatten.

„Was schreiben sie? Wie geht es ihm?“, hatte Kendra an jenem Januarabend gefragt, als Percival den Brief vom Bein der Eule gelöst, das Siegel gebrochen und zu lesen begonnen hatte. Albus erinnerte sich noch gut an die Stimme seiner Mutter. „Ist etwas passiert?“, hatte sie gerufen, als Albus‘ Vater nicht sofort antwortete und hatte dabei so aufgeregt geklungen. Und ihr Gesicht war gerötet gewesen, so ganz anders als das von Percival. Percival, der mit jeder neuen Zeile blasser geworden war, dann langsam den Brief hatte sinken lassen und schwieg. Lange schwieg, ehe er tonlos sagte: „Er ist von uns gegangen, Kendra“. Und dann waren da nur noch Tränen gewesen. Tränen in den Augen von Albus‘ Mutter, die anders als seine und Aberforths groß, matt und von dunkler Farbe waren. Und sein Vater hatte sie alle drei aus dem Esszimmer geschickt, während er Kendra liebevoll die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Doch Albus war nicht weit gegangen. Er hatte am Schlüsselloch gelauscht und einige Gesprächsfetzen aufschnappen können, die ihm wie Teile eines Puzzles vorkamen, das er bis heute nicht gelöst hatte. Nicht, weil er nicht verstanden hätte, was passiert war. Sondern weil das, was passiert war, selbst unbegreiflich erschien.

„Es war nicht deine Schuld, Kendy“, hatte Vater mit sanfter Stimme gesagt, „William war schon immer ein zerbrechliches, kränkliches Kind. Du weißt, wie schwach er nach der Geburt war, zwei Monate zu früh. Und diese Drachenpocken waren hartnäckig. Niemand hätte das verhindern können. Nicht einmal im St. Mungo“
„Er war mein Neffe“, hatte Albus‘ Mutter gekeucht, „Mein Neffe!“
„Ich weiß, ich weiß, meiner doch auch. Es tragisch und bitter. Wir haben doch alle gehofft, dass William es noch schaffen wird. Aber mach dir um Himmels Willen keine Vorwürfe deswegen, Kendy. Gwendolyn tut es auch nicht. Sie bedankt sich für deine aufopfernde Pflege des Jungen.“
„Und was hat sie genützt? Nichts! Gar nichts!“
Und dann war nur noch Schluchzen zu hören gewesen. Und Albus hatte schweigend seine Geschwister nach oben gebracht, mit Bauchschmerzen, die die ganze Nacht angehalten hatten. Niemand hatte etwas gesagt.

Die nächsten Tage waren sonderbar gewesen. Seit Albus sich zurückerinnern konnte, war sein Elternhaus immer mit Lachen und guter Laune erfüllt gewesen. Doch in diesen Tagen hatte kein Einziger gelacht und sie alle hatten sich angeschwiegen, beim Frühstück, am Mittagstisch, beim Abendessen, beim Zu-Bett-Gehen. Beklommenheit hatte sich wie eine steinerne Mauer zwischen sie geschoben gehabt. Albus wusste nicht, ob er um seinen Cousin getrauert hatte oder nicht. Er wusste es nicht, weil er nicht wusste, was diese Trauer war, von der so viele Erwachsene sprachen. Es war das erste Mal gewesen, dass er dem Tod begegnet war. Das hieß, nicht ganz. Doch als Wulfric Dumbledore gestorben war, war er noch viel zu klein gewesen, um überhaupt zu wissen, dass es so etwas wie den Tod gab. Knapp zwei Jahre war er damals alt gewesen. Acht Jahre waren seitdem vergangen. Und obwohl er jetzt so viel mehr wusste als zu dieser Zeit, in der er gerade erst das Sprechen gelernt hatte, konnte er noch nicht sagen, ob er verstanden hatte, was der Tod war. Niemand würde jemals von den Toten zurückkehren, hieß es. Albus wusste das. Und doch konnte er es nicht glauben, nicht begreifen.

Endgültig.

Der Tod sollte endgültig sein. Albus ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. End-gül-tig. Drei Silben. Aber was bedeuteten sie? Vieles konnte Albus sich vorstellen. Er konnte sich ein Haus vorstellen, das so groß war wie ganz Mould-on-the-Wold. Er konnte sich lila Senftorte vorstellen, die Funken sprühte, wenn man hineinbiss. Sogar einen Animagus, der sich in einen Knuddelmuff verwandelte und dafür eine Tafel im „Museum für Verwandlungsgeschichte“ erhielt konnte Albus sich vorstellen. Aber nicht, dass ein Mensch von dieser Welt einfach so verschwinden konnte – unwiderruflich, endgültig. Es kam ihm mehr so vor, als wäre Cousin William nur auf einer sehr, sehr langen Reise und würde ihnen irgendwann, in zwei, drei Jahren wieder aus dem Kamin des alten Bauernhauses in Cornwall helfen und sie mit einem schüchternen Lächeln in die Stube bitten.

Ob Albus traurig gewesen war in diesen Tagen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er hatte William, diesen stillen, wortkargen Jungen, schon irgendwie gemocht. Aber sonderlich nahegestanden hatten sie sich nie. Auch wenn Albus ihn beim letzten Treffen merkwürdig liebgewonnen hatte. Damals, noch bevor William an den Drachenpocken erkrankt war. Doch sie sahen sich zu selten, um wirklich Freundschaft zu schließen. Zwei oder drei Mal im Jahr vielleicht. Und William hatte nie viel von Büchern gehalten. Wahrscheinlich hatte er in seinem ganzen, kurzen Leben kein einziges gelesen und darin waren Albus und sein Vetter grundverschieden gewesen.

Aberforth hatte sich in den Wochen nach diesem Brief unausstehlich benommen. Nie hatte Albus seinen kleinen Bruder ruppiger und patziger erlebt als nach Williams Todesnachricht. Tagsüber zog er Stunden um Stunden durchs Dorf und die Wälder ringsumher, kam erst zum Abendessen nachhause. Grau und durchnässt vom Schnee. Braun vor Schlamm und Dreck. Und nicht selten auch grün und blau, weil er sich mit den Bauernjungen aus dem Dorf geschlagen hatte. Nachts weinte er – und log am nächsten Morgen, dass er keine einzige Träne vergossen hätte. Aber Albus, der sein Zimmer mit ihm teilte, konnte ihn nachts in seinem Bett wimmern hören. Einmal war er aufgestanden und hatte nach ihm sehen, ihn trösten wollen. Doch Aberforth hatte ihm nur „Hau ab!“ entgegen gezischt und ein Kissen nach ihm geschleudert. Die Beleidigungen saßen ihm locker. Irgendwann hatte es Albus nicht mehr ausgehalten und seine Eltern gebeten, zu Ariana ziehen zu dürfen. Doch sie hatten nur an seine Geduld appelliert, gemeint, dass es sein Bruder gerade sehr schwer hätte und eine Trennwand im Zimmer aufgestellt.

Aberforth hatte William näher gestanden als Albus. Ja, näher noch als ihm selbst, seinem großen Bruder. Die beiden waren wie die Hudson-Zwillingsbrüder gewesen, die zwei Straßen weiter wohnten. Ein unzertrennliches Gespann, das gemeinsam durch die goldenen Weizenfelder streifte, zu zweit auf den knorrigen alten Baum kletterte, zusammen im Stroh zwischen Schafen und Schweinen herum tollte und von der Tenne sprang, wann immer die Dumbledores die Meadoways besuchten. Und Aberforth besuchte sie sogar noch häufiger als der Rest der Familie, denn Gwendolyn lud den jüngeren ihrer beiden Neffen sehr oft für ein paar Tage auf den Gutshof ein. Den Gutshof, den Albus und Ariana, Kendra und Percival und auch Aberforth niemals wieder betreten würden.

In den Wochen nach jenem schicksalshaften Januarabend flog die Zwegohreule noch sehr oft ins Esszimmer der Dumbledores und brachte viele traurige Briefe. Ein letzter Besuch in Cornwall stand an, wo auf einem Friedhof ein viel zu kleiner Sarg in den eisigen, verkrusteten Bauch der gefrorenen Erde herabgelassen wurde. Und dann, nach vier Monaten, kam der letzte Brief. Albus hatte ihn aus der Kommode stibitzt, heimlich gelesen.

„Meine liebe Schwester, ein letztes Mal schreibe ich dir noch. Der Hof ist verkauft, vom Flohnetzwerk getrennt und ich habe euren Erbteil gutschreiben lassen. Uns hält nichts mehr hier auf diesem Stück Land, das für uns nur noch traurige Erinnerungen birgt. Wir sind auf dem Weg in die Staaten, nach Mississippi, zu Gwendolyns Bruder. Sie bereitet gerade den Portschlüssel vor. Wir werden wohl heute Nacht noch abreisen. Ich wollte dir auch in ihrem Namen noch einmal unseren Dank für eure Hilfe, deine aufopfernde Pflege und eure Anteilnahme aussprechen. Grüßt Aberforth von uns. Wir wissen, wie sehr er William geliebt hat und unter seinem frühen Tod leidet. Und natürlich auch Percival und Albus und die kleine Ariana. Wir werden euch schreiben, sobald wir in Amerika sind. Alles Liebe und passt gut auf euch auf,
dein Bruder Edward“



Das war zwei Wochen her…

Albus atmete aus und blinzelte. Noch immer schuhute Sova, als wäre keine Zeit vergangen. Vielleicht war auch wirklich keine Zeit vergangen. Immerhin hatte Albus nur kurz die Augen geschlossen und doch war es ihm viel länger vorgekommen. Aberforth blickte nach wie vor betrübt auf seine Füße, Arianas Kopf lag noch immer schwer auf seiner Schulter. Dunkelheit umhüllte sie und am Himmel vor dem Fenster blitzten die Sterne. Ob William wohl da oben war? Zwischen all den Planeten und Monden und der Sonne, von denen Albus Zeichnungen in „Mercin Merkurius Grundlexikon der Astronomie“ gesehen hatte? Irgendwie war das eine merkwürdige Vorstellung, aber vielleicht war es ja wirklich so.

Dann, von einer Sekunde auf die andere trat noch ein weiteres Licht zum Sternenschein hinzu. Ein irdisches Licht, das von der Seite her kam. Schnell wandten sich drei Köpfe um. Die Türe zum Esszimmer hatte sich geöffnet und im Rahmen stand, umgeben vom warmen Schein des Kronleuchters, Kendra in ihrem Gewand aus Fliederspitze. Sie lugte ins Zimmer, entdeckte am Rande des Lichtkegels die Augen ihrer Kinder und lächelte.

„Hier habt ihr drei euch also versteckt“, sagte sie sanft, trat ins Wohnzimmer, ließ sich auf einem der Sessel der Sitzgruppe nieder und entzündete mit einem Schnippen ihres Zauberstabs die Öllampe auf dem Wohnzimmertisch. „Ich dachte mir, heute wäre mal wieder ein schöner Abend für eine Märchenstunde vor dem Einschlafen. Oder wie seht ihr das?“

Und mit einem wissenden Blick und die Zauberstabhand auf die Bücherwand gerichtet, lehnte sie sich zurück und begann es sich im Sessel bequem zu machen.

Die Ruhe flatterte durch die Gartentüre davon wie eine Schar aufgeschreckter Fledermäuse. Albus, dessen Gedanken Sekunden zuvor am sternglänzenden Firmament gehaftet hatten wie eine weite Schleierwolke, war plötzlich wieder mit beiden Beinen auf dem Boden des Wohnzimmers angekommen. War ganz im Jetzt und Hier, zurückgeworfen aus den zeitlosen Welten der Erinnerung. Zusammen mit seinen Geschwistern, die ebenso wieder zum Leben erwacht waren, drängte er sich nach vorne, blitzende, gierige Augen wie sie. Und obwohl jeder von ihnen dreien etwas anderes sagte, war der Chor ihrer Stimmen eindeutig.
„Oh ja, bitte Mutter lies uns etwas vor!“, lechzten sie.  

„Mutter, darf ich Candyfloss holen?“, säuselte Ariana, während Aberforth es sich zu Kendras Füßen auf dem Schafsfell am Kamin bequem machte – sein Lieblingsplatz, wann immer es ihm gestattet war, dort zu sitzen. Im Schatten an der Porträtwand bedachte ihn das Bild von Wulfric Dumbledore mit einem vernichtenden Blick. Doch verlor Großvater in Mutters Anwesenheit kein Wort der Kritik über seinen Enkel, schnaubte nur kopfschüttelnd und zog sich zurück.

„Nun, welche Geschichte soll es heute Abend denn sein?“, fragte Kendra, während im Esszimmer das metallische Geräusch eines Käfigs erklang, der gerade aufgeschlossen wurde.

„Zicke, die zottelige Ziege!“ – „Das Märchen von den drei Brüdern!“, riefen Aberforth und Albus gleichzeitig – und starrten sich finster an. Aberforth mit zusammengekniffen Augen, Albus mit aufgerissenen.
„Die drei Brüder haben wir doch schon so oft gehört!“
„Zicke auch“
„Aber nicht soo oft!“
„Falls wir nicht alles ordentlich wiederkauen, gewähren uns die Bücher keine Kraft und keine Nahrung“*, erklärte Albus im Ton eines Schulmeisters.
„Sagt wer?“, fragte Aberforth patzig.
„John Locke“
„Wer ist das?“
„Ein Philosoph“
„Steht das auch in einem deiner schlauen Bücher?“
„Ja“
„Und du meinst, die sind besser als ‚Zicke, die zottelige Ziege‘?!?“
„Genug!“, rief Kendra.

Doch ihr Machtwort sollte seine Wirkung verfehlen. Genau diesem Moment kroch eine lange, dünne Zunge über den Boden und bohrte sich direkt in ihr linkes Nasenloch. Aberforth und Albus, beide verdutzt von dieser unerwarteten Wendung, vergaßen ihren Streit. Eine Sekunde lang starrten sie ihre Mutter an, dann verfielen sie jeder für sich in ein kurzes, leises Glucksen über den urkomischen Anblick. Im Türrahmen stand, feuerrot wie eine Tomate, Ariana und zog nahezu panisch die vanillefarbene Fellkugel in ihrer Hand zur Seite, drängte sich mit ihr in die dunkle Wohnzimmerecke, als wollte sie für immer darin verschwinden.

Kendra verlor kein weiteres Wort. Souverän, als sei nichts geschehen, wischte sie sachte die Zunge von ihrer Nase, winke mit einer sanften Handbewegung Ariana zu sich und schaute wieder ihre Söhne an.
„Wer hat beim letzten Mal entschieden, welches Märchen wir hören?“, fragte sie bestimmt.
„Ariana war das… glaub ich“, antwortete Aberforth.
„Ja, stimmt, das war Ariana gewesen“, bestätigte Albus.
Ihre Schwester selbst sagte kein Wort dazu. Noch immer stand sie in der Ecke, wie ein Streichholz mit glühendem Kopf. Doch schlich sie Schrittchen um Schrittchen näher heran, bis sie den Sessel ihrer Mutter erreicht hatte.  
„Dann ist Albus heute an der Reihe“, sagte Kendra, während sie sich ihre Tochter auf den Schoß hob.
Aberforth schaute finster zu ihr auf, Albus lächelte strahlend. Von der Bücherwand schwebte ein stockfleckiges, altes Buch hinab in Kendras Hand.  

Das warme Licht der Öllampe ließ Schatten über die Wände des Wohnzimmers tanzen, verwandelte sie zu den Scherenschnittfiguren eines Schattentheaters, malte einen goldenen Glanz in die runden, dunklen Augen, deren Blicke sich in das vergilbte Papier vergruben. Die Sterne am Horizont vor dem Fenster bildeten Kuppel und Plane eines Zirkuszelts. Und in der ersten Reihe der Manege blickten mit leuchtenden Augen gebannt Albus und seine Geschwister auf zur Märchenerzählerin, jeder an seinem Platz.

„Es waren einmal drei Brüder“, begann Kendra vorzulesen - langsam, getragen, so dass ihre Stimme den ganzen Raum erfüllte, „Die wanderten auf einer einsamen, gewundenen Straße in der Abenddämmerung dahin.“

Albus streifte sich die Schuhe ab, legte sich längs aufs Kanapee, wobei seine Füße über die Armlehne baumelten, schloss die Augen und lauschte. Lauschte der Stimme seiner Mutter, lauschte jedem einzelnen Wort seines Lieblingsmärchens, das zu hören der reinste Genuss für ihn war.  

„Nach einiger Zeit kamen die drei Brüder zu einem Fluss, der war so tief, dass sie nicht hindurch waten konnten und so gefährlich, dass sie nicht ans andere Ufer schwimmen konnten. Doch die Brüder waren der magischen Künste kundig, und so schwangen sie einfach ihre Zauberstäbe und ließen eine Brücke über dem tückischen Wasser erscheinen.“  

Bald schon sah Albus alles vor sich, als wäre er selbst mitten im Märchen. Ganz klar erhob sich vor ihm die Brücke. Die alte Steinbrücke von Mould-on-the-Wold, dessen plätscherndes Bächlein von einer Sekunde auf die andere zu einem reißenden Fluß anschwoll. Er sah die Brüder vor sich. Er war einer von ihnen, nein, alle drei auf einmal. Er sah, wie sich die finstere Kapuzengestalt des Todes vor ihm aufbaute, spürte einen eisigen Schauer im Nacken, als ihre Grabestimme ertönte. Sah den mächtigen Elderbaum im Mondlicht erstrahlen. Oder war es nur die Kastanie draußen im Garten? Wer wusste das schon so genau.

Dann hielt Albus ihn in der Hand. Den mächtigen, unbesiegbaren Zauberstab. Elderholz, vom Tod geformt. Ob es ihm selbst wohl auch gelänge aus einem Ast des Familienbaums einen Zauberstab zu machen, wenn Aberforth Recht hätte? Kastanienholz, von Hand gedrechselt. Schon griff der Tod den Stein vom Ufer und schenkte ihn dem zweiten Bruder. Ob dieser Stein wohl auch so braun und groß und kantig war wie die Steine, die am Ufer des Mouldbachs lagen? Oder war er klein, glatt und glänzend wie die Tigeraugen und Rosenquarze und Jadesteinchen in den Fassungen der Gold- und Silberringe seiner Mutter? Albus fand keine Antwort, da hielt er schon den Umhang in der Hand. Den Umhang, den der Tod grimmig von seiner eigenen Schulter nahm und ihm reichte. Der Umhang, der unsichtbar machte. Vater hatte einmal gesagt, dass es keine echten Unsichtbarkeitsumhänge gäbe. Jeder Tarnumhang würde einen nur gut verstecken. Aber vielleicht besaß der Tod magisches Wissen, das weiter reichte als das Wissen eines promovierten Verwandlungsarchäologen. Was immer promoviert auch heißen mochte.

Längst schon lief Albus neben dem ersten Bruder her, stellte sich auf den Dorfplatz, sah seinem Gegner in die Augen, zuckte zusammen, als dieser tot zu Boden fiel; fühlte sich mächtig, aber auch ein wenig schlecht, als er in der Dorfschenke prahlte; hielt den Atem an, zitterte, als der andere Zauberer ihm die Kehle durchschnitt und starb.

Dann folgte Albus dem zweiten Bruder in sein Haus, spürte die Gänsehaut des Grusels, als er dem stummen, kalten Geist des Mädchens begegnete, das der zweite Bruder geliebt hatte und starb erneut. Und schließlich war Albus der dritte Bruder und sah den Tod, wie er nach ihm suchte und suchte, genau wie sich Aberforth und Ariana suchten, wenn sie Verstecken spielten. Und wie der Tod ihn doch nicht fand, weil er sich unter dem Tarnumhang immer vor ihm davonschlich. Und Albus spürte, wie er älter wurde und älter. Seine Haar ergraute, seine Haut verschrumpelte. Und dann zog er den Tarnumhang von sich und gab ihm seinen Sohn. Und gerade, als er die Hand dem Tod entgegenstreckte, um ein drittes Mal zu sterben -

Bumms - Das Buch wurde zugeschlagen.
„Ende“, sagte Kendra.

Albus riss die Augen auf, war wieder im vertrauten Wohnzimmer in  Mould-on-the-Wold. Mutter hob sich Ariana vom Schoß, ließ das Buch zurück an seinen Platz schweben und ging herum, um jedem einen Nachtkuss zu geben. „Höchste Zeit fürs Bett“ sprach sie leise, löschte die Öllampe und verließ mit Ariana an der Hand das Zimmer. Schläfrig blinzelnd erhob Albus sich vom Kanapee und schlurfte auf das Esszimmer zu, wo hinter einer Türe der schmale Gang mit der Treppe lag, die hinauf zum ersten Stock führte. Hinter ihm blieb auf dem Schafsfell Abertforth zurück. Zusammengekauert, die Arme verkrampft um seine Beine geschlungen. Aus dem Augenwinkel konnte Albus gerade noch sehen, wie er sich zittrig und langsam aus seiner Starre löste.

„He, warte, ich weiß, was du vor hast!“, hörte er endlich seine Stimme hinter sich, als er schon die Hälfte der knarzenden Holztreppe erklommen hatte. Verwundert drehte er sich um und sah wie sein Bruder die Stufen zu ihm heraufschoss. Abgehetzt kam er direkt vor ihm zum Stehen.  
„Was vorhabe?“, fragte Albus ahnungslos. Ihm war nicht bewusst, dass er gerade irgendwelche Pläne geschmiedet hatte außer denen, sich zu waschen und zu Bett zu gehen. Aber Aberforth schien da besser Bescheid zu wissen als er.
„Du willst doch nur wieder als Erster oben sein, damit du oben schlafen kannst“, schnaubte er mit dem Tonfall einer brüderlichen Kriegserklärung.
Albus starrte ihn an. Tatsächlich stritten sie sich fast jeden Abend darum, wer in ihrem Doppelhochbett näher an der Zimmerdecke schlafen durfte. Doch an diesem Abend hatte Albus wirklich nichts Böses im Schilde geführt. Dann von einer Sekunde auf die andere aber lächelte er. Warum eigentlich nicht? Warum die Herausforderung zu einem kleinen Gefecht nicht annehmen?
„Natürlich“, sagte er großmütig und grinste Aberforth ins Gesicht, „Steht mir ja auch zu.“
„Achja?!?“- Aberforth hob die Augenbraue.
„Ja, klar!“, feixte Albus, „Oder hast du vergessen, wer der Erstgeborene ist?“

Und dann ging alles furchtbar schnell.

Albus fuhr herum und stürmte die Treppe hinauf, die unter seinen Füßen erzitterte. „Wart nur, ich krieg dich noch!“, ertönten hinter ihm die Schlachtrufe. Die feindliche Armee gab den Pferden die Sporen, rückte auf. Die Badzimmertüre wurde zur ersten Front. Aberforth überfiel ihn aus dem Hinterhalt, drängte sich grob an ihm vorbei, riss sich die Kleidung vom Leib, stülpte sich das Nachthemd über und besetzte das Areal vor dem Spiegel. Doch Albus holte zum Gegenschlag aus, zog sich in Windeseile um, stieß ihn zur Seite, riss die Zahnbürste aus dem Becher, tauchte das Gesicht ins Wasser. Die Waschschüssel wurde zur heiß umkämpften Zone. Das Gefecht hinterließ wilde Kleiderhaufen und glitschige, durchsichtige Lachen auf dem Fließenboden, als die Front sich zur Schlafzimmertür verschob. Beide Brüder warfen sich einen Blick zu, erhitze Gesichter, blitzende Augen. Der Feind, eine Spur flinker, erreichte das Ziel ihres Begehrens zuerst. Doch als er einen Fuß auf die Leiter setze, bekam Albus ihn zu fassen, packte ihn und warf ihn aufs untere Bett. Er hatte den Stützpunkt fast erklommen, als ihn von unten ein Kissengeschoss erfasste und von der Leiter schleuderte. Nicht lange fackelnd ließ Albus mit reiner Gedankenkraft ein weiteres Geschoss vom oberen Lager herab fliegen und gab Feuer auf das untere Bett. Ein heißer Schlagabtausch folgte. Das Bombadement zog sich von den Betten bis zur Mitte des Zimmers und wieder zurück bis sie beide zwischen Kissenhaufen und fliegenden Federn lachend und außer Puste Boden gingen.

„Puh!“, keuchte Albus, als er wieder Luft bekam und rückte sich die Brille zurecht, die dank eines Zaubers aus Percivals Stab niemals zerbrach, „Hör mal zu, ich hab ‚ne Idee. Ich stell dir ein Rätsel und wenn du die richtige Antwort weißt, darfst du oben schlafen. Wenn nicht, gehört das Hochbett mir. Abgemacht?“
Aberforths Gesicht erschien über ihm. Seine Augen hatten sich verdüstert.
„Deine Rätsel kenn ich. Die sind sauschwer.“
„Nein, wirklich“, rief Albus hastig und setzt sich auf, „Ich mach es lösbar. Ehrlich.“
Aberforth starrte ihn einen Moment lang an, dann sagte er leise: „Na gut“
Für einen Augenblick überlegte Albus, dann fiel ihm ein gutes Rätsel ein.
„Zwei Mütter, zwei Töchter, eine Großmutter und eine Enkelin gehen in ein Cafe. Wie viele Stühle brauchen sie?“
„Was ist denn das für eine Frage“, sagte Aberforth, „Sechs natürlich“.
„Falsch“, juxte Albus, „Es sind drei. Denn die Großmutter ist auch die Mutter der Mutter und die Enkelin auch die Tochter der Mutter und das Bett ist mir!“
Und noch während er sprach begann er die Leiter zu erklimmen. Aberforth blieb neben ihm stehen und starrte finster zu ihm herauf.  
„Das ist so gemein“, rief er und verschränkte die Arme, „Das ist alles so gemein. Deine Rätsel kann gar niemand lösen. Du weißt doch eh alles besser. Kann ja gar keiner so klug sein wie du.“
Enttäuscht und wutschnaubend wandte er sich ab, warf sich grollend aufs untere Bett und rollte sich unter der Decke zusammen.  
Mit einem Mal tat er Albus leid. Er hielt auf der Sprosse inne und beugte sich zum ihm herab.
„Hör mal“, sprach er sanft auf seinen kleinen Bruder ein, „Was hältst du davon: Heute schlafe ich oben und morgen dann du“
„Versprochen?“, fragte Aberforth und lugte unter seiner Bettdecke hervor.
„Ich schwör auf meinen Zauberstab!“
„Du hast gar keinen“
„Aber in einem Jahr hab ich einen“
„Vom Kastanienbaum?“
„Vielleicht“
„Machst du mir dann auch einen?“
„Mal sehen“
Sie lächelten sich an. Und Albus kletterte ins Bett. Die Öllampe auf dem Nachttisch verlosch von selbst. Ruhe kehrte ins Zimmer ein und  vor dem Fenster glitzerte das Sternenmeer am Himmel

Albus ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, als ihm auf einmal etwas einfiel.
„Abber?“
„Hmhmm“, drang es von unten herauf.
„Warum willst du nie, dass Mama das Märchen von den drei Brüdern erzählt?“
„Weil‘s doof ist.“
„Nein, du hast Angst.“
„Quatsch!“
„Lüg nicht. Ich hab gesehen, wie du am Boden gesessen hast.“
Lange Zeit war nichts als Stille zu hören.  
„Naja, vielleicht. Aber nur ein ganz kleines Bissen“, flüsterte Aberforth schließlich.
„Aber warum?“, fragte Albus und schüttelte auf seinem Kissen den Kopf.
„Ich weiß nicht. Ich find das einfach schaurig. Stell dir mal vor, du findest wirklich so einen Stein oder sowas, das Tote lebendig macht und denkst nichts Böses und schwubbs kommt der Tod und holt dich. Kriegst du da keine Angst?“
„Nein“, sagte Albus.
Ein verwundertes Räuspern. Dann wieder Schweigen… langes Schweigen.  
„Ach Abber, ist doch nur ein Märchen“, lachte Albus, während er den Mond zwischen den leuchtenden Punkten suchte.

Aber schön wäre es doch, dachte er heimlich. William tauchte wieder vor seinem geistigen Auge  auf. Und auch wenn sie nie so eng miteinander befreundet gewesen waren, spürte Albus jetzt, wo er sich an ihn erinnerte, doch, dass er seinen Cousin vermisste. Sehr sogar. Dass letzte Mal, als er William gesund gesehen hatte, da hatten sie schon viel Spaß miteinander gehabt. Mehr vielleicht als in all den Jahren zuvor. Und als William ihm auf dem Heuboden aus seinen großen, hellbraunen Augen angesehen hatte, da hatte Albus auf einmal so ein schönes, warmes Gefühl bekommen. Fast ein bisschen wie Fieber mit Schüttelfrost.

Müde schloss er die Augen und nahm das Gefühl mit in den Schlaf. Morgen würde bestimmt ein schöner Tag werden.
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------
* Zitat von John Locke
restlicher Kursivtext: J.K. Rowling, Die Märchen von Beedle dem Barden, S. 87

„Eins, zwei, drei… vier-fünf… Stein … sieben-acht… neun.
Sieben-acht… Stein… vier-fünf… drei… zwei… eins“

Albus gähnte. Die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen zu einem schwarzen Brei, während Arianas Stimme ihn wie eine Mücke umschwirrte. Seine Lider senkten sich. Die Nachmittagssonne brannte ihm auf die Schädeldecke, schmorte sein Gehirn. Keinen einzigen Satz konnte er aus dem Kopf übersetzen. Selbst die frühgelernten Vokabeln erschienen ihm plötzlich fremd. Es war vier Uhr vorbei und sengende Hitze hatte Mould-on-the-Wold in einen Backofen verwandelt. Vom Bach stieg feuchtwarmer Dunst auf, vom Pfad trockener Staub. Die porösen Steine unter Albus‘ Po waren knochenhart. Drei Schulranzen lehnten an der Brückenmauer.

Von eins Uhr bis drei waren er, Ariana und Aberforth in der Schule gewesen. Das hieß, wenn man denn die kleine Kammer der Sakristei als solche bezeichnen konnte. Üblicherweise wurden Kinder aus Zaubererfamilien zuhause unterrichtet, bis sie alt genug waren, Hogwarts zu besuchen.  In Mould-on-the-Wold aber tickten die Uhren ein wenig anders. John Suffergreen, ein hagerer alter Mann mit spitzen langen Fingern und ebensolcher Nase, grauem Kraushaar und einem Monokel im linken Auge, war der Küster des Dorfes - und ein Squib. Wie viele andere Sprösslinge aus Zaubererfamilien, die das magische Talent nicht geerbt hatten, hatte er eine Muggleschule besucht. Danach war er in die Dienste des Pastors getreten. Nach einigen Jahren aber schien es ihm nicht mehr zu reichen, jeden Sonntag die Glocke zu läuten und so gründete er eine Schulklasse für den Zauberernachwuchs des Dorfes. Böse Zungen behaupteten, er hoffe heimlich darauf, sich von seinen Schülern selbst noch das Zaubern abschauen zu können. Doch schickten sie ihre Kinder gerne zu ihm. Warum, wusste Albus nicht so genau. Aber vielleicht war ihnen die Aufgabe lästig, so ähnlich wie den Garten zu entgnomen. Stören tat es Albus nicht. So war er ein bisschen unter Gleichaltrigen. Und da ihr Lehrer in beiden Welten aufgewachsen war, wusste er, worauf es ankam. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen standen vor allem Fremdsprachen auf dem Stundenplan. Und es war wohl kein Zufall, dass Suffergreen ausrechnet Latein und Griechisch lehrte: die Sprachen der Zaubersprüche.

Die Schulstube war ein kleiner Raum mit kargen Holzbänken, einem schiefen Dach in dessen Gebälk Fledermäuse hausten und einer alten, zerkratzen Tafel, von der das Grün bereits abblätterte. In einem Schrank seitlich zum Pult stapelten sich Lehrbücher, den Tisch daneben teilten sich ein Globus und ein Abakus. An der Wand hing eine zerschlissene, vergilbte Karte von England, an der Tafel ein Zirkel. Ganz hinten im Raum stand ein Regal voller Bibeln. Von neun bis eins kamen Mugglekinder hier her, um ihre Griffel über Schiefertafeln zu ziehen. Von eins bis drei gehörte der Raum den Zaubererkindern. Die Klasse bestand aus elf Schülern. Drei davon hießen Dumbledore, abermals drei Crabbe, zwei Brown, zwei weitere Greengrass und einer Goyle. Und alle waren irgendwo über hundert Ecken miteinander verwandt. So wie die Greengrass-Cousinen. Zwei sieben- und achtjährige Mädchen, die trotz ihres zarten Alters schon genauso große Klatschbasen waren wie ihre Mütter. Ihre Lieblingsbeschäftigung war es, in der Ecke zu sitzen, zu tuscheln und zu kichern, während sie mit dem Finger auf Mister Suffergreen zeigten – oder wer auch immer gerade in ihr Blickfeld kam. Sie lästerten ausschließlich auf Englisch, denn bisher hatten sie kein einziges Wort Latein oder Griechisch gelernt. Auch Ruby Brown, ein stilles Mädchen von sechs Jahren, beherrschte die Fremdsprachen bisher nur leidlich. Doch lag es bei ihr daran, dass sie lieber aus dem Fenster schaute als zur Tafel und von Wolkenschlössern ohnehin viel mehr verstand als von den kryptischen Zeichen, die Suffergreen an die Tafel kritzelte. Sie war Arianas beste Freundin und zugleich Albus‘ Cousine 2. Grades. Ihr Bruder Rudolph dagegen schrieb Wort für Wort mit wie ein Sekretär, hing regelrecht an Suffergreens Lippen und hatte bei jeder Frage sofort die Hand oben. Albus hatte einst versucht, sich mit seinem Cousin näher anzufreunden. Sie schienen nicht nur verwand zu sein, sondern auch dieselbe Leidenschaft zu teilen. Doch dann stellte sich heraus, dass Rudolph sich außerhalb der Schulstube keinen Pfifferling für Bücher interessierte und nur darauf bedacht war, sein Taschengeld durch gute Schulleistungen um ein paar Knuts aufzustocken. Albus‘ Enttäuschung hatte keine Worte gefunden. Er vermisste Emily. Emily Brown, ebenfalls eine Cousine 2. Grades. Mit ihr konnte man wunderbar Bücher wälzen. Aber Emily war inzwischen zwölf Jahre alt und das hieß, sie war schon lange fort an Hogwarts.

Am unauffälligsten waren die Crabbe – Geschwister, die spiegelbildlich zu den Dumbledores aus zwei Mädchen und einem Jungen bestanden. Sie waren in der Schule weder besonders gut noch besonders schlecht, weder besonders laut noch besonders leise, weder besonders frech noch besonders nett. Mit anderen Worten, sie waren so durchschnittlich, dass man vergessen konnte, dass es sie gab. Marc und Calvin spielten gerne Koboltstein, Eldora zeichnete Zauberpflanzen. Und dann gab es noch Gunnar. Gunnar Goyle, Sohn des Wirts der einzigen magischen Schenke in  Mould-on-the-Wold. Ein einfältiger Neunjähriger, der nur keine Lust auf Lesen, Schreiben und Rechnen zeigte, aber sich umso besser darauf verstand, anderen unbemerkt Flubberwürmer aufs Pausenbrot zu legen. Seine einzige nennenswerte Großtat hatte darin bestanden, seinen Kinderbesen an der Kirchhofsmauer zu Brennholz zerbrochen zu haben, als er Ariana und Ruby über den Haufen fliegen wollte.  Das war im letzten Sommer gewesen, als die beiden noch fünf gewesen waren.

Träge wischte sich Albus eine schweißnasse Strähne aus dem Gesicht und quälte sich weiter zur nächsten Zeile. Seit einer Stunde schon kämpfte er in der schwülen Luft vergebens gegen seine Müdigkeit an. Doch er wollte unbedingt wissen, was in diesem Kirchenbuch geschrieben stand.

„Eins…zwei…drei… vier-fünf… sechs … Stein… neun… Stein… sechs… vier-fünf… drei… zwei… eins“, hämmerte Arianas Stimme auf seine Gedanken an. Sie hatte mit einem Stöckchen ein Hickelspiel in den Staub auf dem Brückenweg gezogen und sprang nun auf einem Bein von Kästchen zu Kästchen. Vom Bach war ein Platschen und Gluckern zu hören. Aberforth hatte sich die Schuhe ausgezogen, die Hosenbeine hochgekrempelt und watete durchs Uferschilf, jagte Frösche und Schmetterlinge, vielleicht auch eine Moke oder einen Imp. „Aqua“, entzifferte Albus endlich ein Wort und überlegte, ob er Aberforth nicht folgen sollte. Eine Abkühlung konnte er gut gebrauchen. Da hörte er plötzlich Hufgeklapper. Das Getrampel von zahllosen kleinen Füßen. Dann ein Blöken und Meckern.

Albus blickte auf, sah gerade noch, wie Ariana zur Seite wich und Aberforth die Böschung heraufkletterte. Da kam sie auch schon um die Biegung: Eine ganze Herde Ziegen. Die Tiere sprangen und trotteten auf die Brücke zu, nahmen den ganzen Weg in Beschlag. Und mitten unter ihnen: ein rotgesichtiges Mädchen in einem schmutzigen, karierten Kleid. Die Füße in einfachen Sandalen, den Gurt einer Ledertasche um die Schultern, einen großen Wanderstab in der Hand, eine weiße Haube auf dem Kopf. Sie blieb stehen und lächelte verlegen.

„Hallo Aberforth“

„Sue!“, rief der Angesprochene und hastete die letzten Schritte die Böschung hinauf.
„Wie geht es dir?“, fragte sie leise und nestelte zaghaft an ihrer Haube.
„Och, ganz gut“, antwortete Aberforth und raffte zwischen dem Gewusel der Ziegen seine Sachen zusammen. Albus beobachtete die Szene schweigend von der anderen Seite der Brücke aus. Susan war ihm nicht fremd. Er kannte sie vom Sehen, von schon vielen Begegnungen dieser Art. Doch irgendetwas war heute anders an ihr. Albus musterte sie und dann wusste er es. Üblicherweise trug Susan ihr rotblondes Haar zu zwei langen, akkurat geflochten Zöpfen, die links und rechts unter ihrer Haube baumelten. Heute war es nur ein einziger Zopf hinten. Ein ziemlich schräg geflochtener Zopf, so als hätte jemand versucht das ganze Haar von links nach rechts zu kämmen. Verwundert blickte Albus sie an. Doch was immer er sich auch gefragt hatte, beantwortete sich im nächsten Augenblick von selbst. Wind kam auf. Eine Böe rauschte durch den Baum, unter dem Susan gerade stand und ein Ast streifte ihre Haube. Büschel hellroten Haaren kamen zum Vorschein. Wild, verfranzt und raspelkurz. So als hätte sich jemand ungeschickt mit einer Schere oder einem Messer daran zu schaffen gemacht.
„Was ist das?“, rief Aberforth entsetzt und starrte sie an, „Wer hat dir die Haare geschnitten?“
Susan lief purpurrot an und wandte sich sofort von ihm ab.
„Ist… ist nicht so schlimm“, stotterte sie und stopfte sich verschämt die Fransen wieder unter die Haube, „Warn nur meine Brüder. Die ham gehört, dass Hexen rote Haare haben und die sofort nachwachsen, wenn man sie abscheidet. Und da wollten sie wissen, ob das stimmt. Aber ich bin wohl keine Hexe.“
Sie schaute betrübt zu Boden, versuchte die Tränen in ihren Augen zu verbergen.
Die Dumbledore-Geschwister tauschten alarmierte Blicke. Hastig stopfte Albus sich seinen Zopf ins Hemd, verschwand hinter seinem Buch und lugte nur vorsichtig über den Rand.  
„Also wenn die das mit mir versucht hätte, ich hätte denen eine gescheuert, aber sowas von“, rief Aberforth wütend.  
Susan schaute ihn mit großen Augen an.
„Oh, ich hab auch viel geschrien und getreten. Aber ist nicht so leicht, wenn gleich drei dich festhalten.“
„Haben deine Eltern denn gar nichts gemacht?“, fragte Ariana völlig perplex.
„Die waren nicht da. Waren noch auf dem Feld. Aber hinterher haben sie mächtig Ärger gekriegt. Vater hat sie ganz schön verdroschen. Also absichtlich. Nicht wie sonst, wenn er aus der Schenke kommt. Mutter meinte nur, sie wären ganz schöne Flegel geworden, jetzt wo Ben zwölf ist. Aber Dave wird ja bald schon vierzehn und dann hört das auf, sagt Mama. Ich hoff sie wachsen schnell nach.“
Sie presste die Lippen aufeinander und schaute den Ziegen hinterher, die allmählich in Richtung Dorfrand davon sprangen. Dann plötzlich wandte sie sich um und blickte Aberforth mitten ins Gesicht
„Magst du mitkommen auf die Weide? Ich hab ganz frisches Brot dabei und Äpfel und nachher muss ich noch melken. Vielleicht bleibt was für euch übrig.“
Aberforth strahlte, seine Augen funkelten.
„Ja, klar!“ rief er. Und dann war er nicht mehr zu halten. In Windeseile raffte er seine Schuhe und seinen Schulranzen und lief barfuß mit Susan und den Ziegen den Weg hinauf.

Erst als ihre Umrisse nur noch Schatten vor der Sonne waren, ließ Albus das Buch in seiner Hand wieder sinken, schlug es zu, verstaute es in seinem Schulranzen.
„Mutter meinte heute Morgen, wir sollen nochmal bei Großtante Thelma vorbeischauen“, rief er seiner Schwester zu ohne sie anzusehen. Auch Ariana packte ihre Schultasche, schwieg. Erst als alle Bücher verstaut waren, sagte sie wieder etwas - ganz leise.
„Du, Albus?“
„Ja?“
„Glaubst du, die wissen von uns?“
„Wer?“
„Die Muggel“
Er blickte auf, sah sie einen Moment lang an. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, bestimmt nicht. Gibt doch überall Abwehrzauber. Die haben das sicher aus einem Märchen. Erinnerst du dich an das Spinnrad im Museum?“
„Ja“, sagte Ariana und lächelte sichtlich erleichtert. Sie beugte sich hinab, um ihren Schulranzen aufzuheben und sah nicht, dass Albus sich nervös umschaute. Dass er sich wie im Reflex an die langen Haare griff. Fast so,  als ob hinter dem nächsten Gebüsch jemand mit einer Schere auf ihn lauerte.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

Autor

GreenQuills Profilbild GreenQuill

Bewertung

Noch keine Bewertungen

Statistik

Kapitel: 8
Sätze: 994
Wörter: 13.899
Zeichen: 83.018

Kurzbeschreibung

Mould-on-the-Wold, Frühling 1890: Es ist ein verschlafenes Nest, in dem der fast zehnjährige Albus Dumbledore aufwächst. Geliebt, umsorgt, wohlbehütet. Doch das Glück ist trügerisch. Denn schon brauen sich über der heilen Familienwelt dunkle Wolken zusammen. Dunkle Wolken eines Sturms, der sein Leben für immer umstürzen soll. Was bedeutet es, als Kind die eigene Schwester für ihr Leben gezeichnet zu sehen? Den Vater an die Justiz zu verlieren? Was bedeutet es, eine Jugend lang ein Familiengeheimnis wahren zu müssen? Was treibt einen jungen Mann dazu Weltherrschaftspläne zu schmieden? Und was heißt es, für diese Pläne das wichtigste auf der Welt zu verlieren? Dies ist die Geschichte von Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit Familie, Drama (Genre), canon aware, in character, Headcanon, Longfiction und Betagelesen getaggt.