Der Zauberstab sucht sich den Zauberer – so lautete der Haussegen, der seit Generationen über der Werkbank prangte. Wie ein Relikt aus uralter Zeit hielt er Wache über die vielen geschickten Handwerkerhände, die hier schon ihre Arbeiten angefertigt hatten mit und ohne Magie. Im Morgenlicht, das durch die weite Fensterfront zum Hinterhof herein sickerte, glänzten die eingeschnitzten Buchstaben dunkelbraun und edel im Holz. Zwei verträume, nebelgraue Augen musterten sie, fuhren Fingern gleich die eingeritzten Konturen auf der Tafel nach, als wollten sie jedes Wort einzeln entziffern. Vor der Werkbank stand ein Schemel und auf dem Schemel ein kleiner Junge: das aschblonde Haar wild zerzaust, den schmächtigen Körper in ein schlichtes Nachthemd aus grobem Leinen gehüllt. Die neugierigen Augen gehörten ihm.
Ganz versunken betrachtete der Junge das Schild. Blinzelte im staubgetränkten Licht, das die Werkstatt immer erfüllte. Dann seufzte er wohlig und lehnte sich hinab auf die Werkbank. Wie sehr er es liebte, hier zu sein. Hier, im geheimen Herzen des Hauses. Den Duft von Zedern, Zypressen und Tannen in der Nase. Das Knistern der Holzspäne unter den nackten Füßen. Das Schleifen und Rascheln der Drechsel in den Ohren. Es war ein Ort, an dem die Zeit stillstand. Ein kleines Paradies auf Erden. Und mit staunend weiten Augen beobachtete der Junge Tag für Tag, welche Wunderwerke der Schöpfer dieses kleinen Garten Edens hier vollbrachte. Die geübten Hände des Altmeisters der Zauberstabkunst entlockten noch dem noch so gröbsten Ast auf märchenhafte Weise Kugeln, Bögen und Wellen. Ob harte Buche oder weiche Linde, jedem Stab vermochte der Vater des Jungen sein eigenes Zeichen einzuritzen. Und edel erst wie Maserungen, die Fingerabdrücke der Bäume, zutage traten, wenn die Schleifzauber die Oberfläche zum glänzen brachten! Helle Esche, rote Kirsche, Dunkles Mahagoni. Ein einziges Farbenmeer. Die Holzkörnchen, die dabei aufwirbelten, waren für den Jungen wie Feenstaub, dem Urstoff, aus dem tausend Geschichten und Legenden entstanden. Und wie verzaubert hörte der Junge zu, wenn der Märchenerzähler von sagenumwobenen Dingen wie Biegsamkeit und Härte, Zolllängen und Dicke und der eigenen Seele jedes Baumes, jedes Zauberstabs sprach.
Viel schon hatte der Junge von der Kunst seines Vaters gelernt. Doch auf eines der größten Rätsel seiner Zunft hatte er noch keine Antwort gefunden. Der Zauberstab sucht sich den Zauberer . Noch immer betrachteten die Augen die Buchstaben im Holz, die tausend unsichtbare Fragezeichen in die Luft malten. So tief ins Grübeln war der Junge eingetaucht, dass er das leise Quietschen der Türe hinter sich gar nicht hörte. Erst als er die schwere Hand auf seiner Schulter spürte, schreckte er aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah in das lächelnde Gesicht seines Vaters.
„Na Garrick? Schon so früh auf den Beinen?“, schmunzelte dieser und folgte dem Blick seines Sohns auf die Holztafel, „Der Spruch beschäftigt dich wohl, was?“
Die grauen Augenlichter des Jungen begannen zu schimmern und dann platze es aus ihm heraus: „Was bedeutet es denn, Vater? Der Zauberstab sucht sich den Zauberer?“
Der Meister der magischen Schnitzkunst zuckte mit den Achseln: „Nun, was soll es schon bedeuten? Dass nicht alle Zauberstabhölzer und Zauberer wahllos zueinander passen, will ich wohl meinen.“
„Nein“, fiel ihm der Junge verzweifelt ins Wort, „Ich meine, warum ist das so?“
Für einen Augenblick betrachtete der Zauberstabmacher unschlüssig seinen Sohn. Doch dann, statt eine Antwort zu geben, lächelte er nur und sagte vergnügt: „Zeit, an die Arbeit zu gehen.“
Enttäuscht sah der Junge seinem Vater nach, beobachtete, wie dieser ohne ein weiteres Wort einen Weidenast aus dem Vorratskorb nahm. Dann senkte er den Blick auf die Werkbank, wo noch ein ungeschliffener und kernloser Zauberstab in seinem Blickfeld lag. Zögerlich griff der Junge das Holz und schwenkte ihn sachte durch die Luft. Eines Tages, wenn er den Kinderschuhen entwachsen war, würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten. Und dann, alt genug, um in die alten Geheimnisse dieser Handwerkskunst eingeweiht zu werden, dann würde er seine Antwort finden.
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