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Die Tränen eines Todessers

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20.10.18 23:21
12 Ab 12 Jahren
Abgebrochen

2 Charaktere

Albus Dumbledore

Severus Snape

Es war ein nebliger Morgen im frühen November 1981, als ein Mann in einem schwarzen Cape schnellen Schrittes ein Tor mit geflügelten Eberstatuen passierte und eilig auf das Schloss in der Ferne zulief. Der Weg vor seinen Augen verschwamm. Durch die Brille seines tränenverschleierten Blicks, durch das Rasen seines Pulses, wurde alles zu wirren Schemen wie in einem irrealen Traum. Einem Alptraum, ja nichts anderes war es. Nichts anderes konnte es sein. Ein Alptraum ausgelöst durch den Cocktail an Gefühlen, die in ihm tobten. Wut küsste Trauer, Entsetzen umarmte Ungläubigkeit. Und alles ging unter in unwirklichen, wild durcheinander wirbelnden Farben nach dem Schlucken dieser Droge, dieser bitteren Pille, der Kunde von Lilys Tod. Severus wusste nichts… nicht mehr… die Wirklichkeit war mit ihr gestorben.

Wie er hier her gekommen war, wie er es geschafft hatte, zu apparieren ohne zersplintert zu werden, es war ein Rätsel. Eine fremde Macht musste ihn gelenkt haben. Er war nicht da, nicht real. Er träumte, kein Wissen. Außer einem: Er musste zu IHM. Er musste. Albus Dumbledore war sein einziges Ziel. Wenn er ihn kriegen würde, alles würde sich ändern. Sie würde zurückkehren, am Leben sein. Gleichgültig wie wahnwitzig dieser Gedanke war. Es war die einzige Hoffnung. Ihn zur Rechenschaft zu ziehen, ehe das Gift sein Gehirn lähmte, ehe die Wahrheit Fuß fassen konnte. Ehe er würde anerkennen müssen, dass er selbst es war, der all dies angerichtet hatte.

Bäume und Sträucher, der See, Hagrids Hütte, die Schlossmauern und Fenster flohen vorbei wie papierenen Kulissen in einem abstrakten Theater. Der Irrsinn war ein Motor, beschleunigte seine Schritte auf Lichtgeschwindigkeit. Dann die Wasserspeier. Die Wut brandete, drohte zu überschäumen. Er kannte das Passwort. Er kannte es seit drei Tagen. Die steinernen Wächter öffneten den Weg. Nur noch ein paar Sekunden, nur noch einen Augenblick und er würde vor ihm stehen. Der Zauberstab in Snapes Hand erzitterte unter dem festen, schweißnassen Griff. Sein Atem hastete. Und plötzlich war der Moment gekommen.

Da stand in er in seiner weißen Robe, wie ein Engel aus falscher Unschuld, ihm den Rücken zugekehrt. Der Zorn schlug wilde Flammen in der getriebenen Seele empor. Noch nie hatte Severus so glühende, so brennende Wut empfunden. Der Wahnsinn stand nur Zentimeter von ihm entfernte, legte ihm bereites seine Hand auf die Schultern. Langsam wandte Dumbledore sich um. Ein Hauch von Überraschung stand in diesem alten, grässlichen Gesicht geschrieben. Nur ein Hauch in einem Meer aus kaltblütiger, scheinheiliger Ruhe. Snape hob den Zauberstab, umklammerte ihn noch fester als jemals zuvor.

„Oh, Guten Tag, Severus. Ich hätte Sie nicht so früh am Morgen hier erwartet“, rief Dumbledore ihm zu, die durchdringenden blauen Augen auf Snapes rotglühendes Gesicht gerichtet.
„Sagen Sie, was geschehen ist! Sagen Sie es!“, schrie Snape ihm von der Türe aus zu.
„Das würde ich ja tun. Doch ich fürchte, meine Antwort kommt zu spät. Wenn Ich Ihr Erscheinen richtig deute, wissen Sie es bereits“, antwortete Dumbledore.
„Ich will es von Ihnen hören!“, fauchte Severus Snape „Sagen Sie es! SAGEN SIE ES!“
„Nun, wenn dies Ihr Wunsch ist“, fuhr Dumbledore fort, „Die Potters sind tot. Sie wurden in der Halloweennacht ermordet.“
Langsam schritt er auf Snape zu.
Ruckartig riss Severus seinen Zauberstab in die Höhe, richtete ihn auf Dumbledores Brust.
„Kommen Sie mir nicht näher, oder ich werde-“, schrie er mit aufgerissenen Augen, das Gesicht verzerrt zu einer Maske aus rasender Wut. Der Mann in der weisen Robe bewegte sich keinen Schritt weiter. Doch eine Welle aus Macht strömte von ihm aus zur Türe hinüber.
„Oh, ich kenne Ihre Absicht. Der Warnung hätte es nicht bedurft. Ich bin mir ihrer Ernsthaftigkeit durchaus bewusst“, sagte er mit ruhiger Stimme, doch einer Miene kalt wie seine eisigen, blauen Augen, „allein würde ich mir diesen Schritt an Ihrer Stelle noch einmal überlegen. Sie würden mich damit dazu zwingen, Ihr Vorhaben zu vereiteln und dies könnte sehr schmerzhaft für Sie werden. Zudem zweifele ich daran, dass diese Tat Ihnen dauerhafte Genugtuung verschaffen würde. Möchten Sie sich tatsächlich noch unglücklicher machen, als Sie es bereits sind?“

Severus‘ Atem stockte. Er konnte nicht sagen, was es war. Doch irgendetwas in Dumbledores Worten traf ihn, ließ ihn ein paar Schritte rückwärts taumeln, als sei er mit voller Wucht gegen eine Wand gerannt. Dann, in einem Bruchteil einer unaufmerksamen Sekunde flog mit einer einzigen, knappen Handbewegung Dumbledores sein Zauberstab in die nächste Ecke. Krachend donnerte er gegen die Wand, fiel zu Boden. Für eine Sekunde starrte Snape den alten Mann fassungslos an, hinter dessen verschlossenen Lippen noch immer das stumme Wort „Expelliarmus“ auf seiner Zunge zu liegen schien. Dann, plötzlich packte Severus die Lehne eines Stuhls, riss ihn zu sich her und stürzte darauf nieder. Die bleichen Hände schlugen vor die dunklen Augen, versuchten den Sturz der Tränen aufzuhalten. Drei Schritte genügten für den Mann in der weißen Robe, ihn zu erreichen. Ein Geräusch wie der Schrei eines verletzten Tieres hallte durchs Zimmer…

Er saß vor ihm, zusammengesackt, in Tränen aufgelöst wie ein Häufchen schwarzen Elends. Die blauen Augen des alten Mannes blickten eisig auf ihn herab, das Gesicht grimmig in Falten gelegt, als würde sein Schluchzen und Heulen ihn zutiefst beschämen.

Oh wie verabscheute Albus Voldemort und die, die ihm dienten. Wie widerte ihn der Todesser an, der gerade einmal zwei Wochen zuvor um seine Hilfe flehte, Lily zu beschützen, gleichgültig was mit ihrem Mann und Kind geschehen würde. Und doch… und doch war es ein eigenartiges Gefühl, diesen jungen Mann nun so aufgelöst vor sich zu sehen. Es war Albus, als rührte dieses Bild an etwas, das tief in ihm selbst vergraben lag, das seit so vielen Jahren nicht mehr aus jener verstaubten, mottenzerfressenden Kiste seiner Erinnerungen entwichen war, die er über sieben Jahrzehnte hinweg fest verschlossen hielt. Wie ein lebendiger Spiegel, der die Jahre überwunden hatte, wie ein trübes Abbild seiner selbst, eine Mahnung an längst vergangene Tage erschien ihm das Bild, mischte einen Tropfen eigenartiger Befangenheit in das Brodeln seines Grolls. Der junge Mann blickte auf. So bleich er sonst auch war, so rot hatte der Schmerz sein Gesicht nun gefärbt. Und von der Hakennase, die seiner eigenen ähnelte, tropften Tränen.

„Ich dachte… Sie würden… auf sie… aufpassen…“ keuchte die Stimme schwer.

Die Worte trafen Albus wie die Spitze eines Pfeils, bohrten sich langsam in seine Gedanken, dann in sein Herz. So ungern er es auch zugab, doch er hatte Recht. Severus Snape hatte Recht. Er hätte ihr Geheimniswahrer sein sollen. Er hätte sich niemals James Tarnumhang leihen dürfen. Wäre er seiner Pflicht nur nachgekommen, hätte er nur seine Gier gezügelt, dann… dann könnten beide noch leben. Schuldgefühle brachen in Albus auf, er wandte sich von dem erzürnten Gesicht des jungen Mannes ab, beschämt. Und doch - trug nicht eben gerade dieser junge Mann die gleiche Schuld? War nicht er es gewesen, der die Prophezeiung übermittelt, der Voldemort um Lilys Leben im Austausch gegen Vater und Sohn gebeten hatte? Welches Recht hatte er ihm Vorwürfe zu machen? Ein seltsames Gemisch, teils Scham, teils Verachtung bestimmten Albus‘ Gefühle. Im Angesicht des Spiegelbildes der Schuld, brachte er die Worte der Wahrheit nicht über seine Lippen. Er konnte es nicht… er konnte sich selbst nicht anblicken ebenso wenig wie ihn - Severus Snape.

„Lily und James haben ihr Vertrauen in die falsche Person gesetzt“, sagte Albus. Er war das einzige Schuldeingeständnis, zu dem er fähig war. „Ganz ähnlich wie Sie, Severus.“  setzte er fort und verspürte den plötzlichen Wunsch, den Pfeil der Vorwürfe zurückzuschießen. Den jungen Todesser, der sich ebenso versündigt hatte, zu verachten war leichter, als der eigenen Schande ins Gesicht zu sehen. Oh ja, er wollte ihm gehörig den Kopf waschen, ihn mit aller Macht von Voldemort abbringen, ja ihm einen Fußtritt dafür verpassen, dass er sich ihm überhaupt angeschlossen hatte – so wie er sich selbst in Gedanken noch allzu oft dafür schlagen konnte, sich jemals auf Grindelwald eingelassen zu haben. „Hatten Sie nicht die Hoffnung, dass Lord Voldemort sie verschonen würde?“

Etwas hinter Albus Rücken sank auf den Stuhl zurück - flach, sehr flach atmend. Langsam wandte der alte Mann in der blauen Robe sich um und blickte hinab auf den bleichgesichtigen Mann, dessen Tränen den Boden benetzten. Wieder ergriff ihn ein Gefühl von Befangenheit, als er auf das dunkle Haar hinabblickte, erkennend dass das Ziel seiner Tritte sich bereits am Boden krümmte. Snapes Schwäche rüttelte an seiner Wut, stimmte ihn milder. Eine Spur von Mitleid keimte unter der Verachtung. So groß seine Abscheu vor jedem Todesser auch war, er wollte diesen viel zu jungen Menschen doch nicht völlig brechen. Saß er im gleichen Alter nicht selbst ebenso in sich zusammengesunken in Godric’s Hollow? Fühlte sich Aberforth damals vielleicht genauso wie er jetzt? Dieses seltsame Gemisch aus Ekel und Mitleid, Groll und Befangenheit?

Kurz schüttelte Albus seinen Kopf, die Gedanken verscheuchend, Platz für neue schaffend. Was konnte er tun, um diesen schwarzen Wasserfall aus Tränen versiegen zu lassen?

„Ihr Junge hat überlebt“, rief er dem Häufchen Elend schließlich mit fester Stimme zu, so als wollte er eine letzte Fackel von Hoffnung in eine Höhle tragen, die dunkel vor Verzweiflung war. Eine Fackel, die er vor so vielen Jahrzehnten in seiner eigenen Finsternis gebraucht hätte. Es war ein eigenartiges Spiel des Schicksals, dass ihm nun die Verantwortung für einen kleinen Waisenjungen oblag, auf den der größte schwarze Zauberer aller Zeiten es abgesehen hatte. Einen Jungen, den er sofort in sein Herz geschlossen hatte, sich schwörend, einen alten Fehler nicht noch einmal zu widerholen. Ihn besser zu behüten als er Ariana behütet hatte. Vielleicht würde sein Vorhaben zwei Jungen Menschen eine Zukunft geben, wenn es ihm gelänge, zu Severus durchzudringen. Er wusste, dass er die Hilfe des jungen Mannes gut brauchen konnte und vielleicht würde Albus damit auch ihm selbst helfen, selbst wenn er den Todesser noch immer mit gemischten Gefühlen betrachtete.

Severus Snape hörte die Worte, schnickte sie davon wie lästiges Ungeziefer und versank wieder in seinem Schluchzen.

Ein Anflug von neu entflammter Verachtung rötete Albus‘ Gesicht. Er blickte auf Snape hinab, der wie erstarrt in seinem Kummer auf dem Stuhl kauerte, gleich einer Mauer, die nichts durchdrang. Nicht einmal, dass Harry Potter überlebt hatte! Ein Gefühl von Ärger breitet sich in seiner Magengrube aus. Wie konnte Severus Snape dieses Kind noch immer egal sein? Wie konnte sein Überleben bei ihm nur auf taube Ohren stoßen? Das Kind der Frau, die er angeblich liebte? Der Junge, der durch seine Mitschuld zum Waisen geworden war?

„Ihr Sohn lebt“  sagte Albus - eindringlicher, fester, lauter als zuvor. Er wollte Snape packen, aus der Lethargie seiner Trauer reißen, ihn zwingen, Harry Potter wahrzunehmen, das Kind, das er ignorierte, dessen Eltern durch seine Mitschuld gestorben waren.  „Er hat ihre Augen, genau ihre Augen“ , setzte Albus mit festem Druck dort an, wo er den jungen Mann vielleicht noch zu fassen bekäme, ihn wachrütteln könnte. „Sie erinnern sich doch gewiss an die Form und die Farbe von Lily Evans‘ Augen?“

Es war ein weiterer Tritt in das trauerblutende Herz, geboren aus Zorn. Ein weiterer Schlag gegen die allzu dünne Fassade der Schuld. Doch sie zeigten Wirkung, brachten endlich Leben in das totenstarre, schmerzzerfressene Etwas.

„NICHT! Fort…tot…“ , erfüllte ein Schrei das Zimmer.  

Für einen Moment hielt Albus inne vor dem jungen Mann, dessen Stimme in seinen Ohren widerklang. Endlich hatte er ihn dort, wo er ihn haben wollte. Endlich war er aus seinem Schmerz erwacht, aufmerksam. Endlich zeigte er ein Gefühl, das mehr war als Tränen, Schluchzen, Kopfschütteln. Ein düsterer Abglanz von etwas, das Albus in dunklen Erinnerungen noch allzu vertraut war. Etwas, an dem er seine Hand ansetzen konnte – nicht ohne jene seltsame Befangenheit loszuwerden, die das dunkelhaarige, fahle Spiegelbild in ihm heraufbeschwor, seitdem der junge Mann auf seinen Stuhl niedergesunken war. Albus beugte sich ein Stück tiefer zu ihm herab, sein Gesicht hart in Augenschein nehmend.

„Ist das Reue, Severus?“

„Ich wünschte… ich wünscht, ich wäre tot“,
drang die gequälte Stimme aus dem schmalen Mund hervor.

Albus erhob sich wieder, musterte den Todesser, der erneut in sich zusammensank. Der alte Mann legte die Stirn in Falten, blickte mit kalten Augen auf ihn herab. Es war Trauer, berechtigte Trauer vielleicht. Doch für ihn erschien es wie Selbstmitleid. Ein Selbstmitleid, das er sich schon lange nicht mehr gestattete. Der Anblick und die Worte des jungen Mannes beschämten ihn, erinnerten ihn an etwas, dass er sich nicht erlaubte. Ein zorniger Wunsch erwachte plötzlich in Albus. Er hatte das Bedürfnis, dieses jammernde Etwas hart anzupacken, ihn hochzureißen, mit Gewalt wieder auf die Beine zu stellen. Er selbst hatte sich vor so vielen Jahrzehnten nicht umgebracht, er hatte sich nicht aufgegeben. Er hatte den Preis seiner Schuld geschultert, sein Kreuz getragen. Er hatte sich von Aberforth die Hakennase zertrümmern lassen, er hatte sich mit Grindelwald duelliert, er war zum Kopf des Widerstands gegen Voldemort geworden. Und er konnte es nicht ertragen, diesen jungen Menschen so aufgelöst zu sehen, in das Spiegelbild einer Schwäche zu blicken, die er an sich selbst nie zugelassen hatte. Nein, er wollte diesen jungen Menschen auf dem gleichen Weg sehen, den er gegangen ist – durch Schuld geläutert zum glühenden Bekämpfer Voldemorts, zum Ritter des Guten, zu jemanden, der sich um das Kind der Frau, die er liebte, sorgt, der Verantwortung trägt und büßt, nicht seinem Leben ein Ende setzt, nicht sinnlos in Askaban verschmort. Nein, der den Weg der Reue geht. Einen Weg, auf den Albus ihn bringen und führen würde, bis seine Seele gerettet war, wenn es sein musste mit Druck, mit der gleichen festen Hand, mit der er auch sich selbst geführt hatte. Etwas anderes konnte er nicht ertragen. Nicht ertragen, dass jemand, der ihn so sehr an sich selbst erinnerte, einen anderen Weg einschlug als den eigenen.

„Und was würde das irgendwem nützen?“, antwortete Albus kalt, „Wenn Sie Lily Evans geliebt haben, wenn Sie sie wahrhaftig geliebt haben, dann ist ihr weiterer Weg offensichtlich.“

Es dauerte noch eine Weile, bis Albus zu dem jungen Mann durchgedrungen war, bis er sich beruhigt hatte. Doch dann – dann stimmte Severus Snape zu.

„Nun gut, nun gut. Aber verraten Sie es niemals – niemals, Dumbledore! Das muss unter uns bleiben! Schwören Sie! Ich kann es nicht ertragen… vor allem Potters Sohn… ich will Ihr Wort haben!“ ,sprach der Todesser, der nun keiner mehr war, mit gequälter Stimme auf ihn ein.

Die Mauer aus Kälte, aus Härte, gebaut auf einem Fundament aus Befangenheit und Abscheu, brach mit einem Schlag in Albus zusammen. Nun saß er nicht mehr in Gedanken in Godric’s Hollow, in das ihn das Gesicht und die tränennassen Augen Severus Snapes abgleiten ließen - er saß wahrhaftig hier in Hogwarts, auf einem Stuhl vor sich selbst, jünger, dunkelhaarig, schwarzgekleidet, doch mit der gleichen Hakennase im Gesicht. Schwer beladen mit zu viel Scham, zu viel Schuld, zu viel Reue, um zu seinem Geheimnis zu stehen.


„Mein Wort, Severus, dass ich niemals das Beste an Ihnen offenbaren werde?“, , fragte Albus sanft, hoffend, dass der junge Mann nicht den Fehler des alten wiederholen würde. Doch die schwarzen, tränenverschleierten Augen sagten Albus, dass Severus Snape fest entschlossen war, ihm zu folgen. Albus seufzte und sein Herz wurde schwer. „Wenn Sie darauf bestehen“, sagte er leise und es schien, als ob das bleiche Gesicht vor ihm ein wenig zufriedener wirkte...
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Kursivtext: J.K. Rowling: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, S.686

Er blickte auf. Irgendwo hinter dem Schleier aus Tränen starrte das verschwommene Gesicht mit dem weißen Bart und Haar grimmig auf ihn herab. Ein Schmerz, er wusste nicht, was es war – Hass, Wut, Schuld, unendliche Trauer – schien seine Brust zu zerreißen. Es gab keine Gedanken mehr in seinem Kopf. Es durfte alles nicht wahr sein! Es konnte nicht wahr sein! Lily – tot?!? T O T. Und es war alles seine Schuld, seine eigene verfluchte Schuld. nein, NEIN! Er konnte es nicht ertragen. Der Gedanke schmerzte zu sehr. ER, der vor ihm stand, war schuld - Verflucht. Er hatte es versprochen. VERSPROCHEN. Und er hat es nicht getan!

„Ich dachte… Sie würden… auf sie… aufpassen“

Seinen Schmerz rausschreien, ihm Vorwürfe machen, nach ihm treten - es tat gut, so gut. Ja, es war das einzige, was half. Obwohl es die Wunde aus Schmerz nicht schließen konnte, aber ihn zumindest fließen lassen. Oh wie sehr hasste er diesen Mann, der sein Versprechen gebrochen hatte. Ja, es war SEINE Schuld. Vergessen, vergessen, was man selbst getan hat. Nicht drüber nachdenken. Den Anderen zu Staub treten, bis… bis es vielleicht aufhört, weh zu tun.

„Lily und James haben ihr Vertrauen in die falsche Person gesetzt. Ganz ähnlich wie sie, Severus. Hatten Sie nicht die Hoffnung, dass Lord Voldemort sie verschonen würde?“

NEIN!!!… nicht erinnern. Nicht die Wahrheit aussprechen. Der Pfeil kam zurück, traf ihn, Seelenblut spritze, Blut aus Gedanken, psychischer Qual. Der junge Mann sackte getroffen auf den Stuhl zurück, sackte in sich zusammen. Nur noch flach atmend. Was hatte er nur getan? Was hatte er für einen grässlichen Fehler begangen? Es war doch seine Schuld… seine eigene! Oh hätte er doch nicht… oh hätte er doch niemals… Verdammte Zeit, warum WARUM gab es keinen Weg zurück? Oh könnte er doch nur. … Doch es ging nicht. Es gab keine Hoffnung mehr und Alles, Alles seine Schuld. Oh Lily… Es tat so weh… SO WEH… Nur noch Schwere in seiner Brust, nur noch Schwärze vor seinen Augen. Keine Hoffnung mehr…

„Ihr Junge hat überlebt“

Worte… leere Worte … bedeutungslos… ein schwaches Echo in der Höhle seiner Finsternis, das vorüberzieht, einen nur streift. Der Junge hat überlebt? Na und? Er wollte nicht mehr darüber hören, schnickte die Worte weg. Was kümmerte ihn das Schicksal dieses Babys? SIE war tot. Verdammt – Lily war tot!

„Ihr Sohn lebt. Er hat ihre Augen, genau ihre Augen. Sie erinnern sich doch gewiss an die Form und die Farbe von Lily Evans‘ Augen?“

Nein… NEIN… nicht… nicht Lilys Augen. Das Bild plötzlich in seinem Kopf. Die grünen Augen, die ihn anschauen, der Schuldspruch, der in ihnen glänzt… „DU HAST MICH UMGEBRACHT“ Zu viel… das ist zu viel! WEG… WEG mit dem Bild. Nicht Lilys Augen! Nicht diese grünen Augen, die nie wieder das Licht sehen werden.

„NICHT! Fort…tot…“

Hör auf, HÖR AUF mich zu quälen!

„Ist das Reue, Severus?“

ICH habe sie umgebracht. ICH habe Lily umgebracht! Sie wird nie mehr zurückkommen. Ihr Blut klebt an meinen Händen. Das Blut des liebsten, tollsten, wundervollsten Menschen der Welt! Oh Lily… Lily. Was hab ich nur getan! Verdammt, es sollte mein Blut sein. Ich hab nicht mehr verdient, zu leben. Oh könnte ich unsere Plätze nur tauschen! Könntest du nur leben und ich an deiner Stelle kalt auf der Erde liegen.

„ich wünschte… ich wünschte, ich wäre tot…“  

Lass mich aus diesem Zimmer gehen, Dumbledore. Jag mich aus diesem Zimmer, aus diesem Schloss, damit ich tun kann, was ich verdient habe. Es hat alles keinen Sinn mehr. Lass mich los, damit ich mich richten kann.

„Und was würde das irgendwem nützen? Wenn Sie Lily Evans geliebt haben, wenn Sie sie wirklich geliebt haben, dann ist Ihr weiterer Weg offensichtlich.“

NEIN… du lässt mich nicht gehen, oder? Warum lässt du mich nicht los? Weißt du nicht, wie sehr du mich quälst? Weißt du nicht, welche Bürde es ist, zu leben, wenn sie nicht mehr da ist? Zwing mich nicht dazu. Es ist zu viel. Ich bin in tausend Stücke zerbrochen… Moment, wovon redest du eigentlich? Mein weiterer Weg? Für mich gibt es doch keine Zukunft - ohne sie.

„Was-was meinen Sie damit?“
„Sie wissen, wie und warum sie gestorben ist. Sorgen Sie dafür, dass es nicht umsonst war. Helfen Sie mir, Lilys Sohn zu beschützen.“

Wieder der Junge also… gleichgültig, alles gleichgültig… Voldemort ist gegangen.

„Er braucht keinen Schutz. Der Dunkle Lord ist nicht mehr-“
„- der Dunkle Lord wird zurückkehren und Harry Potter wird in schrecklicher Gefahr sein, wenn es so weit ist“

Ruhe, einen Moment Ruhe. Lass mich nachdenken, einen Augenblick nachdenken, durchatmen, zu mir kommen. Was hast du gesagt, alter Mann? Du glaubst, dass der Dunkle Lord zurückkommen wird? Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr. Aber wenn es so ist, wenn das alles ist. Oh Lily, das Kind von James… was für eine Schmach! Aber wenn das das Einzige ist, was ich für dich tun kann…

Der junge Mann gewann seine Fassung wieder, blickte hinauf in das weißbärtige Gesicht.

„Nun gut. Nun gut. Aber verraten Sie es niemals – niemals, Dumbledore! Das muss unter uns bleiben! Schwören Sie! Ich kann es nicht ertragen… vor allem Potters Sohn… ich will Ihr Wort haben!“,  keuchte er schwer.

Der alte Mann über ihm blickte mit einem wohlmeinenden Gesichtsausdruck auf ihn herab.
„Mein Wort, Severus, dass ich niemals das Beste an Ihnen offenbaren werde?“ , fragte er sanft. Mit einem Anflug von Panik blickte der Jüngere zu ihm hinauf, Qual und tiefes Flehen stand in sein Gesicht geschrieben. „Versprich es. Versprich es!“, schienen seine stummen Lippen zu schreien. Der alte Mann seufzte.
„Wenn Sie darauf bestehen…“,  drangen endlich die erlösenden Worte aus seinem Mund.

Severus Snape atmete tief durch und ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten sinken. Letzte, stumme Tränen rannen in einem Gefühl von Schwere und tiefer Dunkelheit an seiner Hakennase herab. Doch das Tosen seines inneren Sturms hatte sich gelegt.
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Kursivtext: J.K. Rowling: Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, S.686

Autorennotiz

Die Idee für diese Fanfic ist aus den Diskussionen über die Beziehung zwischen Snape und Dumbledore nach Band sieben entstanden. Sie ist mehr oder weniger der Versuch einer schreibenden Interpretation. Manchmal lassen sich Dinge auf kreativen Weg eben besser ausdrücken als auf sachlichem. Viel Spaß damit!

Bisher online sind:

Vor den Tränen: Was passierte eigentlich, bevor Snape auf dem Stuhl zusammenbrach?
Dumbledores Sicht: Was hat Dumbledore gefühlt und gedacht, als Snape vor ihm saß?
Snapes Sicht: Was hat Snape gefühlt und gedacht, als er vor Dumbledore saß?

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Autor

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Kapitel: 3
Sätze: 297
Wörter: 3.769
Zeichen: 21.874

Kurzbeschreibung

Anfang November 1981: Severus Snape bricht nach Lilys Tod in Albus Dumbledores Büro zusammen. Wir alle kennen die Worte, die in dem Gespräch fielen, als Snape versprach Harry Potter zu beschützen. Doch was ging in den beiden Männer dabei eigentlich vor, was haben Sie gedacht und gefühlt? Und was passierte in den Minuten vor dieser Szene? Das alles erfahrt ihr in meiner Oneshot-Serie, die sich ganz und gar um diese eine, entscheidende Szene dreht.

Kategorisierung

Diese Fanfiction wurde mit OneShot-Sammlung, canon aware, Gen und Headcanon getaggt.