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Ich habe oft darüber nachgedacht, welche Art Ehe meine Eltern wohl geführt haben. Mein Vater leistete bis 1939 seinen Wehrdienst ab und stand kurz vor dem Ende seiner Dienstzeit, als der Angriff auf Polen erfolgte. Der Angriff begann 1. September und statt aus dem Dienst entlassen zu werden, nahm mein Vater am Polenfeldzug teil. Nach dem Ende des Feldzugs heirateten meine Eltern im November des gleichen Jahres. Mein Vater wurde danach einer Einheit in Munsterlager in der Lüneburger Heide zugewiesen, die im Zuge der Vorbereitung auf den Feldzug im Westen zusammengestellt wurde. Im Mai 1940 erfolgte der Angriff im Westen. Die Einheit, in der mein Vater diente, zog kämpfend von der Eifel aus über Belgien nach Nordfrankreich. Der Angriff endete für meinen Vater in der Normandie. Zum Jahreswechsel 1940/1941 muss mein Vater Urlaub gehabt haben, sonst wäre ich weder in der Lage diese Zeilen zu schreiben, noch wäre ich im Oktober 1941 auf die Welt gekommen.
Im März 1941 wurde die Einheit meines Vaters in den Trappener Forst bei Memel verlegt und von dort aus nahm mein Vater ab 22. Juni 1941 am Angriff auf die Sowjetunion teil. Seine Einheit kam bis Strelizy im Kessel von Demjansk, einem verlassenen Kaff in der Nähe des Ilmensees, südöstlich von Staraja Russa – so klein, dass die Suche bei Google Maps nur eine schier unendlich erscheinende Waldfläche zeigt (eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass verschiedene Schreibweisen für den Ort in Umlauf sind. So wird nicht immer der richtige Ort angezeigt). Er kam von dort nur noch einmal nach Hause – im August 1942.
Das Einzig für mich greifbare, ist ein Brief von ihm, den er schrieb, einige Tage nachdem er wieder in den Wäldern südöstlich von Staraja Russa angekommen war. Er beschreibt darin recht detailliert den Verlauf des letzten Teils seiner Reise und so bin ich in der Lage, mit eigenen Worten darzustellen, wie dieser Teil Reise verlief. Er bezieht sich in dem Brief auf die Briefe, die er an den vorhergehenden Tagen der Reise abgesendet hatte. Da diese Briefe aber nicht mehr vorhanden sind, weiß ich nicht, wie die Reise insgesamt verlief. Ich habe einmal versucht, über den mir bekannten Teil der Reise eine Kurzgeschichte zu schreiben. Deshalb versehe ich den letzten Teil der Geschichte mit einer eigenen Überschrift.
Die letzte Reise des Johannes M.
Für seine letzte Reise benötigte Johannes M. etwa fünf Tage. Er fuhr mit der Eisenbahn und er legte dabei ca. zweitausend Kilometer zurück. Er fuhr von Düsseldorf bis in die Gegend von Staraja Russa. Viel weiß ich nicht über diese Reise, außer den wenigen Einzelheiten, die ich einem Brief vom 5. September 1942, drei Tage nach dem Ende der Reise geschrieben, entnehmen kann.
Es sind Banalitäten, die Johannes M. schrieb, ihm aber wichtig genug waren, darüber zu berichten. So schrieb er, wie gerne er sich daran erinnere, dass seine Frau ihn von Düsseldorf bis nach Duisburg begleitet hatte. Die Reise ging über Pleskow (russisch Pskow), wo er übernachten musste und abends ein Kino besuchte. Es war von dort nicht mehr weit bis Staraja Russa (ich habe es nachgemessen, Luftlinie ca. 190 km), da er weiter schrieb: Am anderen Tag fuhren wir dann mit einem recht bummeligen Zug bis vor Staraja Russa. Wie es von dort weiterging, ist mir nicht klar. Die Redewendung ‚bis vor Staraja Russa‘ leuchtet mir ein, die Stadt wurde beim Einmarsch der Deutschen ein Raub der Flammen. Weiter ist er an diesem Tag nicht mehr gekommen, denn er schrieb, dass eine weitere Übernachtung erforderlich war. Am darauffolgenden Tag ist er mittags mit einer Feldbahn weiter in den Kessel von Demjansk gefahren, auf der letzten Wegstrecke hat ihn ein Wagen mitgenommen. Der Kessel war zu dieser Zeit nicht vollständig eingeschlossen, es gab einen schmalen Korridor, den die Wehrmacht, unterstützt von der Waffen-SS freigekämpft hatte. Über die Feldbahn habe ich bei meinen Recherchen etwas herausbekommen. Sie wurde wohl von russischen Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen gebaut. Der Autor eines nach dem Krieg veröffentlichten Buches, über das Geschehen und die Kämpfe rund um Demjansk, diffamiert diese Männer als Hilfswillige.
Viel mehr ist mir über das Zusammenleben meiner Eltern ist nicht bekannt, es gab wohl auch nur wenig zu berichten. In der ehelichen Wohnung kann sich mein Vater wohl nur an wenigen Tagen der dreijährigen Ehe aufgehalten. Wenn sich meine Mutter zu ihrer Ehe äußerte, erzählte sie eher von Besuchen in Munsterlager. Ein paar Aufschlüsse geben mir Briefe, die ich in noch verschlossenen Kuverts nach dem Tod meiner Mutter fand. Es sind Briefe meiner Mutter an meinen Vater, die nicht mehr zustellbar waren.
Ein Gutachten des Suchdienstes des Roten Kreuzes endet mit dem Satz: Die festgestellten Fakten führten zu dem Schluss, dass Johannes M. mit hoher Wahrscheinlichkeit am 30.11.1942 in den Kämpfen um Strelizy im Kessel von Demjansk gefallen ist.
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