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Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 108 | |
Wörter: | 2.066 | |
Zeichen: | 13.254 |
Im Département Landes (Südwestfrankreich) gab es nach dem 2. Weltkrieg einige Dutzend kleinere Kriegsgefangenenlager. Alle Lager sind im Laufe der Jahrzehnte spurlos verschwunden und haben sich nicht in das Gedächtnis der Anwohner eingegraben. Es ist leicht zu recherchieren, es gab unter anderem Lager in Castets, Dax, Hossegor, Tartas – um nur Orte zu nennen, die mir aus eigenem Erleben bekannt sind. Bei keinem dieser Standorte ist die genaue Lage dokumentiert. Nach dem Auflösen der Lager, davon ist auszugehen, haben die Anwohner das Holz der Baracken für eigene Bauvorhaben oder als Heizmaterial genutzt. Eine der wenigen Ausnahmen ist das Camp de Buglose. Ein kleineres Lager im unendlichen Küstenwald der Region Aquitaine (diese alte Region ist inzwischen Teil der erweiterten Region Nouvelle-Aquitaine). Die Geschichte des Lagers ist durch ehrenamtliche Arbeit gut dokumentiert. Das ist im Ursprung dem, für die Region katastrophalen, Sturmtief Klaus im Jahr 2009 zu verdanken.
Das Sturmtief Klaus fegte Ende Januar 2009 über die Region, verwüstete den Küstenwald und zerstörte die Infrastruktur, einschließlich der Telefon- und Elektrizitätsnetze. Allein im Département Landes waren drei Tote zu beklagen. Die Aufräumarbeiten zogen sich über Monate hin und bei diesen Arbeiten stieß man auf die Fundamente des Camp de Buglose. Buglose, ein kleines Dorf und ein bekannter Wallfahrtsort, ist ein Ortsteil der Kleinstadt Saint-Vincent-de-Paul und liegt abseits der bekannten Touristenorte im Hinterland, im wenig (gar nicht) touristisch relevanten Bereich des Départements Landes.
Quelle: MCPB – Mémoire du Camp de Prisonniers de Buglose
Von mir frei und sinngemäß übersetzt.
Nach der Niederlage Frankreichs und dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 wurden die gefangengenommen französischen Soldaten in das Deutsche Reich verbracht. Durch dieses Millionenheer sollten die, durch den Kriegseinsatz fehlenden deutschen Arbeitskräfte ersetzt werden. Die gemeinsam mit den Franzosen deportierten Kolonialsoldaten aus aller Welt waren für die ideologischen Rassentheoretiker der Nationalsozialisten ein Problem. Sie waren, da von angeblich minderer Rasse als Arbeitskräfte, ineffizient und außerdem befürchtete man, durch Kontakte mit der weiblichen deutschen Bevölkerung, könnten diese minderwertigen Menschen die arische Rasse verunreinigen. So wurden die Kolonialsoldaten schließlich nach Frankreich repatriiert. Über das Arbeitslager Polo-Beyris in der Nähe von Bayonne wurden erste Gefangene in eine Notunterkunft am Bahnhof von Basta südlich von Buglose verbracht. Diese aus Baracken bestehende Notunterkunft war für Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs errichtet worden und wurde schnellstens geräumt. Die Unterkunft erwies sich als zu klein für die Anzahl der erwarteten Gefangenen. So konfiszierte die Besatzungsmacht ein Gelände westlich der Landstraße von Buglose nach Laluque.
Im Juli 1940 wurden 140.000 Gefangene auf zweiundzwanzig Arbeitslager verteilt. Allein fünf dieser Lager befanden sich in Aquitanien. Die Häftlinge wurden beim Bau des Atlantikwalls, bei Forstarbeiten und beim Bau des Luftwaffenstützpunktes Mont de Marsan eingesetzt. Sie wurden auf Anfrage an etwa dreißig Arbeitskommandos im Südwesten verteilt. Das Arbeitslager 222 in Buglose unterstand der Kommandantur in Bayonne. Bei Inspektionen der französischen Rotkreuzorganisation wurden zwischen Juli und November 1941 insgesamt 598 Gefangene gezählt. Diese Männer stammten aus Marokko, Algerien, Senegal, Madagaskar, der Elfenbeinküste, Guinea, Sudan, Benin und Indonesien.
Am 6. Juni 1944 erfolgte in der Normandie die Landung der alliierten Streitkräfte. Nach heftigen Kämpfen gewannen die Alliierten die Oberhand und konnten Teile des nördlichen Frankreichs befreien. Die im Südwesten Frankreichs stationierten Besetzungskräfte zogen sich überhastet zurück, da sie in Gefahr gerieten von Hauptkontingent der deutschen Truppen abgeschnitten zu werden. In der Nacht des 24. August 1944 gaben die Wachposten das Lager Buglose auf. Die Gefangenen des Lagers erwachten am Morgen als freie Menschen.
Einige Monate später, im Jahr 1945, wurden in dem Lager deutsche Gefangene aus dem Sammellager Rennes interniert. Nach einer anstrengenden achttägigen Fahrt in offenen Güterwaggons hielt der Zug mit Ziel Bayonne im Bahnhof von Basta. Einige hundert ausgelaugte Männer wurden zu Fuß in das sechs Kilometer entfernte Buglose getrieben. Mehrere Dutzend der müden und zum Teil erkrankten Männer sterben auf diesem Weg. So gehört es zu den ersten Aufgaben des Wachpersonals, einen Friedhof und ein Lazarett einzurichten. Die arbeitsfähigen Gefangenen wurden in der Forstwirtschaft, zur Minenräumung an der Atlantikküste und zum Straßenbau eingesetzt. In den Jahren 1947 – 1948 wurden die Gefangenen in die Heimat entlassen.
Am 23. Januar zog der Orkan Klaus über Südfrankreich und löst sich schließlich in der Meerenge zwischen Korsika und Sardinien auf. Auf seinem Weg verwüstet der Sturm die Region Aquitanien. Auch Buglose, zwei Autostunden vom Bordeaux entfernt, war betroffen. Durch den Orkan wurden große Teile des Gemeindewaldes entwurzelt. Wie rasiert lagen die Pinien am Boden – es kamen Fundamente zum Vorschein, die bisher unter der Vegetation verborgen waren. Die Fundamente entpuppten sich als die Reste des Gefangenenlagers, an das sich nur noch wenige der Alten erinnern. Die Eltern hatten den Kindern jener Zeit verboten, sich diesem Ort zu nähern. So wurde durch den Sturm das Lager aus der Vergessenheit geholt und ist nur Teil des historischen Erbes der Gemeinde.
Die Jahre 2011 und 2012 gelten als die Geburtsstunde des Vereins Mémoire du Camp de Prisonniers de Buglose. Nach den schweren Verwüstungen mussten die Schäden beseitigt werden. Der normale Weg wäre es gewesen, mit Baumaschinen die Betonfundamente zu beseitigen und das Gelände neu zu bewalden. Das scheiterte an den Kosten. Ein weiterer Plan war, die Reste zu konservieren und als einen Ort der Erinnerung zu erhalten. Dieser Plan wurde schließlich vom Stadtrat beschlossen und der Verein wurde gegründet. Seit dieser Zeit macht sich eine Gruppe von Enthusiasten mit Schubkarren, Schaufeln und Hacken daran, das ehemalige Lager von Resten des Waldes und von Unrat zu befreien. Zeitgleich wurde in den verschiedensten Archiven über die Geschichte des Lagers geforscht. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, das lokale Kulturerbe durch die Gestaltung dieser Gedenkstätte zu bereichern und für zukünftige Generationen die Erinnerung an eine Zeit wachzuhalten, von der zu hoffen ist, dass diese Generationen niemals ähnliches erleben müssen.
Die aktiven Mitglieder des Vereins arbeiten jeden Dienstag am Vormittag auf dem Gelände des Lagers. Einige Mitglieder kommen ab und an zu einer Extraschicht auf das Gelände. Nach und nach hat das Lager zumindest in seinen Eckpunkten sein ursprüngliches Aussehen wiedererlangt. So kann man sich das Lager in seiner ursprünglichen Struktur heute wieder vorstellen. Im ehemaligen Eingangsbereich befindet sich das nach historischen Dokumenten rekonstruierte Lagertor mit Wachturm. Einige Hinweistafeln weisen darauf hin, dass es sich um einen Ort der Versöhnung und Brüderlichkeit zwischen den Völkern handelt. Mehrere Historiker, die den Ort besuchten, bestätigten, der Erhaltungszustand ist interessant und sei als einzigartig auf französischem Boden einzustufen. Die Gedenkstätte wird ganzjährig von einzelnen Besuchern und Besuchergruppen besucht. Kostenlose Führungen werden auf Anfrage vom Verein angeboten und organisiert.
Wir hielten uns jahrelang oft und gerne im weiteren Umland von Buglose auf, schließlich haben wir enge familiäre Verbindungen nach Aquitanien und einige Jahre hatten wir dort auch einen zweiten Wohnsitz. Von unserem Wohnsitz, nahe der Küste, war es gerade einmal dreißig Kilometer nach Buglose, aber wie ich bereits in meinen Eingangsbemerkungen schrieb, der Ort liegt im touristisch nicht erschlossenen Hinterland und uns zog es meist an den Strand oder, bei Ausflügen, bis ins nahe Baskenland diesseits und jenseits der Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Bayonne wurde so etwas, wie unsere Lieblingsstadt. Dass wir das Camp de Buglose entdeckt haben, hatte mit einem Krankheitsfall zu tun.
Im Frühjahr 2018 erkrankte unser Schwiegersohn. Vom Krankenhaus aus wurde er in eine Rehaklinik in Buglose überwiesen. So kam es, dass unsere Tochter fast täglich zum Besuch nach Buglose fuhr. Eines Tages, kurz vor Ende der Reha, nahm unsere Tochter ihren Liebsten mit auf eine kleine Rundfahrt in der näheren Umgebung. Dabei befuhren sie die Landstraße nach Laluque. Links der Straße entdeckten sie eine Trikolore, an einem Mast im Nirgendwo wehend. Die Nationalfahne weist in Frankreich im Allgemeinen auf einen besonderen Ort hin. Auf der Rückfahrt hielten sie an und machten einen ersten Rundgang über das Lagergelände. Die beiden waren tief beeindruckt und bei der nächsten Videokonferenz hat uns unsere Tochter umgehend von der Entdeckung berichtet.
Auch wir waren sehr interessiert an diesem Ort, schließlich gehören wir einer Generation an, die unter dem Kriegsgeschehen gelitten hat. Da wir kurz vor unserer nächsten Reise nach Aquitanien standen, war es klar, wir besuchen bald-möglichst diese Gedenkstätte. Über das Internet fanden wir heraus, dass die gesamte Arbeit der Wiederherstellung des Lagers und die Pflege der Anlage vom Verein Mémoire du Camp de Prisonniers de Buglose auf ehrenamtlicher Basis geleistet werden.
An einem Tag, an dem es uns nicht unbedingt an den Strand oder auf eine unserer beliebten Fahrten ins Baskenland trieb, machten wir uns auf den Weg. Die Fahrt über die engen Landstraßen und kleinen Dörfer zieht sich hin, bis man Buglose erreicht. Wir orientierten uns auf unserer Suche nach der Gedenkstätte an der Wegbeschreibung unserer Tochter und hielten dann Ausschau nach der Flagge, die einsam im Nirgendwo wehen sollte. Wir übersahen den angeblich deutlichen Hinweis trotzdem und waren vorbei, bevor wir ihn bemerkt hatten. Nein, wir waren nicht mit Blindheit geschlagen, sondern kamen aus Richtung Laluque. Kommt man aus dieser Richtung, sind die Flagge und das Lagergelände hinter einem Waldstück verborgen. Wir wendeten in Buglose und fuhren zurück. Diesmal war es ganz leicht, wir durchquerten einen vom Sturm verschonten Pinienwald und sobald wir den Wald verließen, sahen wir die Trikolore, die im leichten Wind wehte, mitten in einem vom Sturm hinweg gefegten ehemaligen Waldgebiet.
Wir waren die einzigen Besucher, die sich auf dem Gelände befanden. An der Straße wies ein kleines Schild auf die Bedeutung des Ortes hin (ich bin darüber informiert, dass inzwischen eine nicht zu übersehende Tafel an der Straße auf die Gedenkstätte hinweist). Mein Französisch ist rudimentär, aber die Aussage des Schildes verstand ich auf Anhieb. Am Ende der ehemaligen Lagerstraße war in einiger Entfernung das rekonstruierte Lagertor zu erkennen. Direkt am Tor weitere Hinweisschilder. Zwei davon weisen in französischer und deutscher Sprache auf die historische Begegnung der Familien von Mohamad Ben Elhossine und von Friedrich Heumann am 28. Juli 2017 hin. Beide Familien gedachten gemeinsam der Menschen, die im Lager zu verschiedenen Zeiten inhaftiert waren. Welche Qualen mögen diese Menschen und ihre Kameraden damals durchlebt haben, eingesperrt in einem Lager, bei klarem Wetter, mit Blick auf die nahen Pyrenäen, hinter denen es Freiheit in einem neutralen Land gegeben hätte? So nah und doch unerreichbar.
Wir gingen durch das Tor und besichtigten das Gelände. Die Ruinen waren für den Laien nicht sehr aussagefähig, es ließ sich nicht erahnen, welchem Zweck die Reste der Bauwerke gedient hatten. Anders war es bei den Fundamenten der Baracken. Diese waren komplett freigelegt, die Eckpunkte durch weiße Pfähle gekennzeichnet und die Areale, innerhalb der Fundamente, waren mit weißem Schotter aufgefüllt. Spontan beschlossen wir, den Verein finanziell zu unterstützen.
Unsere Tochter wurde beauftragt, das Finanzielle in die Wege zu leiten. Wir reisten derweil zurück nach Deutschland. Kaum wieder in Frankreich, erhielten wir die Einladung zu einer Führung durch die Gedenkstätte. Zum Glück hatte unsere Tochter kurzfristig Zeit, denn wir brauchten sie als Dolmetscherin. Wir fuhren an einem sonnigen Dienstagmorgen im Oktober 2018 zur Gedenkstätte und wurden dort fachkundig durch das ehemalige Lager geführt. Das ermöglichte es uns, unsere Fotografien mit erklärenden Texten zu versehen und so gibt es seit dieser Zeitauf unserer Homepage ein Album zur Geschichte des Lagers.
Unsere zweite Heimat in Aquitanien haben wir inzwischen aufgegeben, kehrten aber ein Jahr später noch einmal zurück. Es war uns bewusst, es war unsere letzte Reise dorthin. Wir besuchten alle Orte, die uns am Herzen lagen. Auch das Camp de Buglose besuchten wir noch einmal. Wir wählten dazu bewusst einen Tag, an dem wir davon ausgehen konnten, allein über das Gelände zu gehen. Der Tag war klar, die Kette der Pyrenäen erschien uns zum Greifen nahe, ein Zug Kraniche zog über uns hinweg. Wir verließen danach Aquitanien für immer, etwas Abschiedsschmerz blieb, der Rest sind unvergängliche Erinnerungen an eine Phase unseres Lebens, die uns noch immer mit tiefer Dankbarkeit erfüllt.
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