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Der Gascogner

206
21.03.22 14:43
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Der alte Gascogner saß auf der Bank vor dem Haus und genoss die wärmenden Strahlen der untergehenden Sonne. Ein heißer, ungemein trockener Sommer neigte sich dem Ende zu und der Großteil der Sommergäste hatte den stillen Landstrich am Atlantik bereits verlassen. Er fürchtete sich vor dem Winter, wenn das Haus mehr und mehr auskühlte und der offene Kamin nicht mehr genug Wärme abgab, um es sich am Fenster gemütlich zu machen. Während der Wintermonate war das, außer Holz hacken, um das Feuer am Leben zu erhalten, seine Hauptbeschäftigung. Er zähle dann die wenigen Autos, die auf der schmalen Straße, die zum Nachbardorf führte, vorbeifuhren. Die letzten seiner noch lebenden Freunde und Bekannten, hupten beim Vorbeifahren kurz, um zu grüßen. Wenn das Wetter trocken war, fuhr er morgens mit seinem Moped zum Bureau de Tabac. Dort kaufte es sich eine Zeitung und setzte sich in die nebenan liegende Bar, um einen Kaffee zu trinken. Fast immer traf er dort den einen oder andern alten Dörfler, der Zeit für ein Schwätzchen hatte. Wenn er allein in der Bar war, unterhielt er sich gerne mit dem Wirt über Rugby.

Früher hatte er im Haus zusammen mit Frau und Tochter gelebt. Nachdem seine Mutter gestorben war, waren sie in dieses Haus gezogen. Wenn er an diese Jahre zurückdachte, war es ihm, als würden die Strahlen der sinkenden Sonne, sein Innerstes erwärmen. Es waren gute Jahre gewesen, in denen sie das Glück hatten, trotz der allgemeinen Armut, ein gutes Auskommen zu haben. Anfangs hatten sie sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und oft nur von dem gelebt, was der Garten hergab. Aber irgendwann hatte er das Glück, eine feste Anstellung in einem der vielen Sägewerke zu ergattern und war dort schnell zum Maschinenmeister aufgestiegen. Nach seiner Pensionierung hatte er sich seine Zeit mit Angeln im Atlantik und zusammen mit seiner Frau, beim Bestellen des Gartens vertrieben. Das war alles schon lange her. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben. Die Tochter hatte kurz darauf einen Deutschen geheiratet und war nach Deutschland gegangen. Seitdem bereiteten ihm weder das Angeln noch die Gartenarbeit Vergnügen. Die Angeln verstaubten im Schuppen und der Garten war verwildert. Nein, er haderte nicht mit dem Schicksal, nur es war einfach immer einsamer um ihn herum geworden.

Er dachte an seine Tochter. Sie telefonierten ein paarmal im Monat und einmal im Jahr kamen sie und ihr Mann für ein paar Tage bei ihm vorbei. Seinen Schwiegersohn mochte er sehr, wenn er auch für die Deutschen keine besondere Sympathie empfand, unsympathisch fand er sie aber auch nicht. Sie waren ihm einfach gleichgültig. Bei seinem Schwiegersohn war das anders. So wie er sich gab und das gebrochenes Französisch, das er sprach; ein Lächeln glitt bei diesen Gedanken über sein Gesicht. Alle anderen Deutschen, das waren für ihn komische Menschen. Und das war schon so, seit er während des Krieges die ersten Kontakte zu ihnen hatte.

Bevor der Krieg ausbrach, war er ein kleiner Junge und lebte mit seiner Mutter auf einem Bauernhof in der Normandie. Der Hof gehörte den Eltern seines Vaters und seine Mutter fühlte sich fremd in dieser Umgebung. Sein Vater war bereits zur Armee eingezogen und überall war die Unruhe der Erwachsenen zu spüren; Sorge um die Zukunft breitete sich im Land aus. Als die deutsche Invasion dann kam und die Front näher rückte, beschloss seine Mutter, mit ihm zu ihren Eltern in die Gascogne zu ziehen. Sie war fest davon überzeugt, dass die Invasoren aufgehalten würden, bevor sie Südfrankreich erreichten.

Da wegen der schnell vorrückenden Front Eile geboten war, machten sie sich schon bald, mit nur wenig Gepäck, auf den Weg. Wie die Reise im Einzelnen verlaufen war, war ihm entfallen. Er hatte nur wenige Erinnerungen an Busse, Lastwagen, Fuhrwerke und an die Fahrt mit der Eisenbahn von Tours nach Dax. Die Eisenbahn hatte sich bei ihm eingeprägt, da es seine erste Eisenbahnfahrt gewesen war und er respektvoll die riesigen Räder der schnaufenden, Dampf ausstoßenden Lokomotive bewundert hatte. Wie sie von Dax aus an den Atlantik gekommen waren, auch das war ihm entfallen. Mit dem Bus, vermutete er.

In der Gascogne angekommen, fühle er sich in eine fremde Welt versetzt. Ging in der Normandie vom Hof aus der Blick weit über hügeliges Weideland bis auf das Meer, so lag das Haus der Eltern seiner Mutter einsam an einer sandigen Landstraße, inmitten von endlosen Pinienwäldern. Auch gab es hier nicht die gewohnten Herden der Milchkühe, deren Muhen ihn daheim in der Normandie morgens geweckt hatte. An das Haus grenzte lediglich ein kleiner Gemüsegarten und es gab einen Schuppen, in dem zwei Schweine gehalten wurden. Neben Schweinen gab es einige Enten und Hühner. Die Sprache seiner Großeltern verstand er nicht. Sie sprachen fast ausschließlich Gascognisch; und auch ihr Französisch hatte einen ungewohnten Klang für ihn. Seine Mutter hatte dafür gesorgt, dass es ausreichend Französisch sprach, obwohl er mit ihr am liebsten Normannisch sprach. Sie war aber der Meinung, Französisch sei wichtig für die Schule und so sprach sie fast immer Französisch mit ihm. Ihm missfiel das, aber nach seinem Dafürhalten war jemand, der wie seine Mutter aus der Gascogne stammte, sowieso ungeeignet für die normannische Sprache. Eigentlich hielt er es fast für ein Wunder, dass eine “Auswärtige“ überhaupt Normannisch sprechen konnte.

Am Sonntag holte Opa sein Angelzeug aus dem Schuppen und befestigte dieses am Fahrrad. Danach hatte er sich etwas mühsam in den Sattel gesetzt und ihn zu sich herangewinkt. Leicht wie er damals war, setzte Opa ihn mit Schwung vor sich auf die Stange und radelte los. Weit kamen sie nicht, denn schon nach kurzer Strecke wand sich die Straße steil und kurvenreich hinauf in die Dünen. Das Rad musste also geschoben werden; und er fragte sich, wozu in diesem Bergland die Angeln gut sein sollten. Nachdem es mehrmals auf und ab gegangen war, öffnete sich plötzlich, für ihn völlig unerwartet, der Blick auf den Atlantik. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie nah am Meer wohnten. Gab es doch, im, für ihn unendlich erscheinenden Wald, keinerlei Hinweise auf die Nähe zum Meer. Dieses Erlebnis hatte ihn mit der neuen Heimat versöhnt.

Kurz nach der Ankunft wurde er eingeschult. Der Weg zur Dorfschule war weit und so war er froh, wenn Opa im Dorf zu tun hatte und ihn auf dem Fahrrad mitnahm. In der Schule war es leicht für ihn, dort war Gascognisch verpönt und daher verboten. Außerhalb der Schule sprachen die anderen Kinder aber ungeniert Gascognisch, was ihn von der Gemeinschaft ausschloss. Das gab sich mit der Zeit, da er außerhalb der Schule fast nur Gascognisch zu hören bekam. So ersetzte er nach und nach das gewohnte Normannisch durch Gascognisch.

Unerwartet schnell waren die Invasoren nach Südfrankreich vorgedrungen. Bewusst war ihm das erst geworden, als eines Morgens deutsche Panzer auf der sandigen Straße am Haus vorbeiratterten. Es änderte sich groß nichts am gewohnten Tagesablauf. Nur die letzten arbeitsfähigen Männer verschwanden aus dem Straßenbild der Dörfer. Zwangsverpflichtet zum Bunkerbau am Atlantik. Wenn irgend möglich, ging man den Deutschen aus dem Weg.

Nach Schulschluss machten seine Freunde und er sich einen Spaß daraus, sich verbotenerweise, heimlich in die Dünen zu schleichen und das Tagesgeschehen rund um die Militärlager zu beobachten. Einfach zu lustig, wenn die Soldaten genau dort im Atlantik badeten, wo die gefährlichsten Strömungen herrschten. Während die zwangsverpflichteten Männer mit düsteren Blicken das Geschehen verfolgten und hofften, die Deutschen würden allesamt ersaufen, wetteten die Jungs, welcher der Badenden in die Strömung geraten würde und ob er es schaffen würde, wieder an den Strand zu zurückzukommen.

Als der Krieg sich dem Ende zu neigte, war es mit diesen Späßen vorbei. Mit Wissen des Opas führte er Botengänge für die Résistance aus. Klein und schmächtig wie er war, erregte er bei den Besatzern keinen Verdacht und außerdem kannte er alle geheimen Pfade, die durch den Wald zu den umliegenden Ortschaften führten. Es war nichts Aufregendes, aber er fühlte sich dabei sehr patriotisch. Opas subversive Tätigkeiten waren da weit gefährlicher, aber sie verstanden es gemeinsam, die geheimen Unternehmungen vor den Frauen verborgen zu halten. Opa hatte ein paar Gewehre im Schweinekoben vergraben und hatte dann bis zum Abzug der Deutschen, darauf bestanden, die Schweine allein zu versorgen. Oma runzelte die Stirn ob dieser Neuerung, hatte sich aber anscheinend keine weiteren Gedanken darüber gemacht.

Die Deutschen zogen genauso überraschend ab, wie sie gekommen waren. Nur leiser, denn die Panzer, die Scheiben und Geschirr bei ihrer Ankunft zum Klirren gebracht hatten, waren zu dieser Zeit längst in den Norden verlegt. So zogen über die staubige Straße vor dem Haus nicht enden wollende Konvois verstaubter Lastwagen, Kübelwagen und Fußtruppen in Richtung Norden. Ab und zu kamen auch Kolonnen deutscher Soldaten auf Fahrrädern am Haus vorbei. Er stand dabei mit Opa am Zaun und betrachtete das Schauspiel. Die ängstlichen Warnungen der Frauen, im Haus zu bleiben oder sich in den Wäldern zu verstecken, hatten sie in den Wind geschlagen. Zu spannend waren die geschichtsträchtigen Ereignisse.

Die Erinnerung brachte ihn zum Lächeln, während er weiter den scheidenden Tag genoss. Wie hatte er damals den Opa wegen der versteckten Waffen im Schweinekoben bewundert! Er war fast vor Stolz geplatzt, als der Präsident der Republik Opa nach dem Krieg die Tapferkeitsmedaille verlieh. Der Präfekt des Departements Landes steckte Opa die Tapferkeitsmedaille im Rahmen einer Feierstunde eigenhändig an das Revers. Wieder und wieder musste ihm Opa die Verleihungsurkunde zeigen, die vom Präsidenten persönlich unterschrieben war. Und das alles wegen dieser komischen Deutschen, die weit gereist, waren, um bis in die Gascogne zu gelangen. Die, die Küstenlinie mit Bunkern verunstaltet hatten und das nur, um eines Tages wieder abzureisen. Junge Kämpfer der Résistance hatten sich nach dem Sieg in Siegespose vor und auf den Bunkern ablichten lassen. Seitdem rotteten die Ungetüme vor sich hin.

Der Vater war nach dem Krieg nicht zurückgekehrt und über sein Schicksal konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Seine Mutter beschoss daher nicht wieder in die Normandie zurückzukehren und so waren sie bei Oma und Opa in der Gascogne geblieben. Seine Erinnerungen an die Normandie waren mit der Zeit verblast und er hatte sich bald wie ein echter Gascogner gefühlt.

Heute kamen die Deutschen und andere Fremde im Sommer in Scharen. Dann war der sonst so einsame Strand, angefüllt mit Sonnenanbetern. Er fand diese Menschen sonderbar. Wer konnte nur so verrückt sein, tausende Kilometer durch Europa zu reisen, nur um sich in diesem öden Landstrich mit den noch öderen Dörfern nackt ausgezogen an den Strand zu legen. Einer Gegend, deren sandige Böden allenfalls zu etwas Spargelanbau taugten und deren Waldreichtum nur wenigen Menschen Brot und Arbeit gab. Nein, so sehr er seine Heimat liebte, was andere Menschen hierhin zog, das blieb ihm rätselhaft.

Der alte Gascogner lehnte sich zurück, bis er an seinem Rücken, die von der Sonne erwärmte Hauswand spürte. Die Wärme tat seinem Rücken gut, er schloss die Augen, hörte auf das Rauschen des Windes in den Wipfeln der Pinien. Das Telefon läutete lang und anhaltend, er reagierte nicht mehr darauf. Das Läuten entfernte sich weiter und weiter, bis es kaum noch wahrnehmbar war und mit dem Rauschen des Windes verschmolz. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter, so wie seine Frau es immer getan hatte, wenn sie sich zu ihm setzte. Er wusste, sie war da. Noch einmal öffnete er seine Augen, in dem Moment, als der letzte Sonnenstrahl des Tages sein Gesicht traf. Seine Augen schlossen sich, er spürte die Wärme der Hauswand; ein letzter Atemzug füllte seine Lungen, bevor seine Frau ihn an die Hand nahm, um ihn in das Reich der Schatten zu führen.

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Kurzbeschreibung

Ein alter Mann sitzt auf der Bank vor seinem Haus und lässt sein Leben an sich vorbeiziehen.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Heimat auch in den Genres Krieg, Vermischtes und Nachdenkliches gelistet.

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