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Kapitel: | 11 | |
Sätze: | 494 | |
Wörter: | 9.103 | |
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Die Ureinwohner Australiens, das Volk der Aborigines, verwenden das Wort Traumzeit für die Vorzeit. Die Zeit also, von der sie nur durch die, von den Vorfahren weitergegeben Sagen und Erzählungen, Kenntnis erhalten haben.
So wie alle Völker ihre eigene Traumzeit haben, hat auch jeder einzelne von uns seine eigene Traumzeit. Meine persönliche Traumzeit beginnt zu einer Zeit, als sich die Völker unseres Planeten in dem wohl furchtbarsten Krieg der langen Geschichte von Kriegen befanden. Am Ende dieses Krieges setzen meine Erinnerungen ein. Die folgenden Erzählungen sind meine Erinnerungen an die Kindheit. Sie beginnen am Ende der Traumzeit.
Noch frühere Erinnerungen schlummern in mir. Aber diese Ereignisse sind zu verschwommen, ich kann sie nicht in eigene Worte fassen. Es sind eben nur Fetzen, die sich in mir festgesetzt haben. Der Aufenthalt im Luftschutzkeller; der Soldat, der Mutter beim Spülen half; der Küchentisch in Donrath; eine Kolonne von marschierenden Soldaten auf einer Landstraße; eine Holzbaracke, in der es bei einem Luftangriff so krachte, dass Deckenplatten herab fielen; der Mann, der mich auf sein Fahrrad hob; der Soldat, der mich aus sein Pferd setzte; unsere Möbel vor einem ausgebrannten Haus, auf dem Bürgersteig stehend.
Viele Erinnerungsfetzen, die in Worte gefasst nicht einmal komplette Sätze ergeben. Sie sind meine Traumzeit. Der Anfang meines eigenen Bewusstseins.
Ich habe deshalb die Erzählung Der Augenblick des Friedens an den Anfang meiner Erzählungen gestellt. Sie berichtet von dem ersten Ereignis meines Lebens, an das ich eine verlässliche Erinnerung habe. Ob all das, was ich in dieser Erzählung beschrieben habe, genauso stattgefunden hat, weiß ich nicht mit letzter Sicherheit. Aber so wie beschrieben, haben sich die Ereignisse in mein Gedächtnis eingebrannt.
Düsseldorf, im Juli 2013
Dies ist eine ganz persönliche Geschichte. Die Geschichte beschreibt, wie ich als kleiner Junge das Ende des 2. Weltkrieges erlebte. Es gibt keine Ereignisse vorher, an das ich mich mit solcher Deutlichkeit erinnern kann; und auch für lange Zeit danach hat sich keine der kleinen Episoden, die das Leben eines Menschen prägen, so in mein Gedächtnis eingebrannt. Durch Recherchen im Internet kenne ich sogar das Datum der Ereignisse. Das alles geschah am 15. April 1945 und den darauf folgenden Tagen.
Meine Mutter und ich lebten zu dieser Zeit in einer kleinen Stadt in Thüringen. Der Name der Stadt spielt keine Rolle; es gibt hunderte ähnliche Städte in Deutschland. Wir wohnten in einer Seitenstraße, die zum historischen Stadtzentrum führt. Das mit dem historischen Zentrum war mir damals natürlich nicht bewusst, es ist die Erkenntnis aus einem Besuch der Stadt im Rentenalter. An der Ecke zur Hauptstraße waren Geschäft und Werkstatt des Uhrmachers, im roten Haus, vielleicht mit Klinkern verkleidet. Das Haus erschien mir groß, wahrscheinlich, weil ich so klein war. Einige Stufen führten hinauf in den Laden. Hinter der Tür eine Welt der Wunder für uns Kinder. Der Uhrmacher muss wohl ein freundlicher Mann gewesen sein, denn wir Kinder hielten uns häufiger in seinem Geschäft auf, nur anfassen durften wir nichts.
Dann der Tag, als alles anders war: Im Geschäft Soldaten, fremd die Farbe der Uniformen, khakifarben, wie man mich später lehrte. Die Soldaten waren freundlich und fröhlich. Sie sprachen uns an, jedoch in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Aber was sie taten, war ungeheuerlich, sie spielten mit den Uhren, die sich in Geschäft und Werkstatt befanden. Ein Sakrileg, berühren und anfassen streng verboten! Wir verstanden nicht, wieso der Uhrmacher das erlaubte.
Über sechzig Jahre später, ich bin mit dem Auto auf einer Bundesstraße unterwegs. Ein Ortsschild am Eingang einer kleineren Stadt. Ich lese den Namen, er sagt mir nichts. Ich fahre weiter in die Stadt und plötzlich weiß ich, ich bin schon einmal hier gewesen. Ja, dort rechts, der kleiner Weiher, ich erinnere mich. Am gegenüberliegendem Ufer ein niedriges Gebäude, dort war die Bäckerei. Die Fenster, hinter denen die Backstube lag, sind noch vorhanden. Ich erinnere mich an den Duft der Backwaren, der aus diesen Fenstern drang. Der Weiher ruft frühkindliche Erinnerungen in mir wach. Auf dem Weiher fuhren Ruderboote und eines Tages schaukelten einige junge, weiß gekleidete Frauen in ihrem Übermut so heftig in einem der Boote, dass dieses kenterte. Ich sehe sie klar vor mir; wie die sprichwörtlichen, begossenen Pudel steigen sie aus dem Wasser.
Ich fahre weiter. Das rote Haus an der Ecke, das muss es sein, das Haus mit dem Geschäft des Uhrmachers. Der Laden verschwunden, umgebaut zu einer Wohnung, die Stufen zum Laden verschwunden. Alles andere stimmt. Die Seitenstraße führt in einer leichten Rechtskurve etwas bergab. Auf der linken Seite, direkt hinter dem roten Haus ein kleineres, etwas verwahrlostes Haus, die Haustür direkt am roten Haus. Ja, hier haben wir gewohnt. Ich erinnere mich an den Tag, der für mich symbolhaft für das Ende von Krieg und Nazi-Herrschaft steht.
Bis zu den denkwürdigen Ereignissen wird der Tag wohl verlaufen sein, wie viele andere Tage. Ich erinnere mich nicht, es gab wohl nichts von Bedeutung. Vielleicht haben wir ihn im Keller verbracht und die Sirenen hatten zur Entwarnung geheult. Wir traten vor die Haustür und auf der Straße befanden sich Panzer und andere Militärfahrzeuge. Der Anblick von Panzern war mir nicht neu, aber die Farbe von Fahrzeugen und Uniformen fremd, bedrohlich wurden die Panzertürme hin und her geschwenkt. Es geschah aber weiter nichts oder ich kann nicht beschreiben, was noch geschah, es ist im Nebel des Vergessens verschollen. Ich sehe nur den bewaffneten Aufmarsch auf der Straße. Ich weiß auch nicht wie viel Zeit zwischen dem Auftauchen der fremden Panzer und dem Vorfall im Laden des Uhrmachers vergangen ist, keine Erinnerung, kein Gefühl für Zeit.
Viele Jahre später wurde es mir bewusst; an diesem Tag war für uns der Krieg zu Ende, ich hatte den Augenblick des Friedens erlebt. Aber das Morden war nicht zu Ende, der Krieg ging weiter, wenn er auch über uns hinweg gezogen war – noch drei lange Wochen in Europa, im pazifischen Raum noch fürchterliche vier Monate.
Meine liebe Frau hatte in der Innenstadt einen Termin und weil es mir allein zu Hause langweilig war, fuhren wir zusammen mit dem Bus in die Innenstadt. Ich begleitete sie noch ein Stück zu Fuß und dann trennten wir uns. Sie eilte ihrem Termin entgegen und da es ein schöner Sommertag war, ich machte es mir derweil im Park der Ballwerferin bequem. Die Ballwerferin ist eine Bronzefigur in einem kleinen Park Ecke Königsallee und Graf-Adolf-Straße. Vornehm ausgedrückt, lautet der Name der Figur Die Kugelspielerin. Aber ich habe noch nie jemand getroffen, der diesen Namen benutzt und gibt man Ballwerferin als Treffpunkt an, weiß jeder einheimische wo das Treffen stattfinden soll. Auf der gemauerten Umrandung des Weges sitzend, der die kleine Rasenfläche inmitten des Parks umrahmt, hing ich meinen Gedanken nach. Hier direkt vor diesem Park kamen wir im Sommer nach dem Ende des großen Krieges in Düsseldorf an.
Ich war noch zu klein, um mich an Einzelheiten erinnern. Auf jeden Fall war es ein warmer, sonniger Tag und wir stiegen genau hier, mitten in der Innenstadt von einem offenen Lastwagen (die Kinder sind wohl nicht gestiegen, sondern wurden heruntergereicht). Über die Königsallee ratterte eine Straßenbahn, was mich in großes Erstaunen versetzte, da ich ein solches Fahrzeug noch nie zuvor bewusst gesehen hatte.
Wir, das waren Onkel, Tante, meine älteste Cousine und ein jüngerer Cousin, meine Mutter und ich, gingen von dort aus zu Fuß zu Oma und Opa, die in einem Vorort lebten. Die dorthin fahrende Straßenbahn war kriegsbedingt noch außer Betrieb, sodass uns gar keine andere Wahl blieb. Mein Onkel hatte beim Hauptpostamt einen der damals gebräuchlichen Speiskarren aufgetrieben, in dem unser reichlich vorhandenes Gepäck befördert wurde. An die Ankunft bei den Großeltern kann ich mich kaum noch erinnern, aber von diesem Tag an lebten wir in, mit und von dem Tante-Emma-Laden, den meine Oma betrieb.
Hinter dem Laden lag die Wohnküche; und so drehte sich das ganze Familienleben um diesen Laden. Wenn Kundschaft den Laden betrat, wurde in der Küche eine Schelle ausgelöst und irgendeines, der anwesenden Familienmitglieder ging in den Laden, um die Kundschaft zu bedienen. So ungefähr mit sechs oder sieben Jahren wurde ich angelernt an Wasch- und Putztagen den Laden allein zu bewachen. Ich musste also in der Küche spielen und auf das Klingeln der Schelle achten, beim Klingelzeichen in den Laden gehen, die Kundschaft freundlich begrüßen und nach ihren Wünschen fragen. Danach entschied sich, ob eine der Frauen rufen musste oder ob ich das Geschäft allein abwickeln konnte. Die Kriterien, was ich allein verkaufen durfte, waren einfach. Der Preis der Ware musste mir bekannt sein und die Ware durfte nicht zum Auswiegen bestimmt sein. Ich trieb also mit Streichhölzern, Sprudelwasser, Zigaretten, Bonbons und ähnlichem einen schwunghaften Handel. Ausgewogen wurden damals Waren wie Mehl, Zucker oder Salz, diese Waren wurden in großen Säcken hinter der Theke gelagert, voran die älteren Leser sicher noch erinnern können. Der Verkauf all diese Waren erforderten auf jeden Fall das Rufen nach kompetenter Hilfe. Und es gab ein ehernes Gesetz, ich durfte nur gegen Bargeld verkaufen. Alle Kunden, die anschreiben ließen, durften nur von Oma oder Mutter bedient werden. Anschreiben war zu damaligen Zeit eine beliebte Form des Einkaufs. Man konnte mehr einzukaufen, als man an Geld zur Verfügung hatte. Ein zinsloses Darlehen, das der Kundenbindung diente. Gezahlt wurde einmal in der Woche, am Lohntag. Oft reichte der Lohn dann nicht für den ganzen offenen Betrag. So wurde der größere oder kleinere Restbetrag auf die neue Woche übertragen.
Besonders die Waschtage zogen sich für mich bis in die Unendlichkeit. Ich hatte immer den Eindruck, mir bliebe nichts erspart. Da wir Kinder damals mangels verfügbarem Schulraum noch in Schichten unterrichtet wurden, gab es für mich zwei Varianten der Ladenwache, die Morgen- und die Nachmittagsvariante. War nachmittags Schule, wurde ich früher als gewöhnlich geweckt. Opa fuhr mit dem Rad zur Arbeit, die Frauen gingen in die, im Keller beheimatete Waschküche. Ich machte am Küchentisch meine Hausaufgaben und hörte dabei aus das Klingeln. Hausaufgaben waren lästig, ich war nicht der fleißigste Schüler. So kam es mir gerade gelegen, wenn es klingelte, um einen guten Grund zu haben, die Hausaufgaben zu unterbrechen. Anderseits zogen sich dadurch oft die Hausaufgaben so lange hin, bis es Zeit war, zur Schule zu gehen. Mir fehlte also die Zeit, mich interessanteren Dingen zu widmen. Die Nachmittagsvariante war es, die ich dann gar nicht mochte. Hausaufgaben zu erledigen, war gleich der Morgenvariante. Aber es war gleichgültig, ob ich nun die Aufgaben zügig oder langsam erledigte, ich konnte nicht mit meinen Freunden zum Spielen losziehen. Dabei lockte dort draußen das Abenteuer. Es gab Ruinen, ganze Straßenzüge lagen in Schutt und Asche. Gegen die Ruinen wirkt jeder noch so moderne Abenteuerspielplatz, wie ein Ruheraum für gestresste Großstadtgören. Der Aufenthalt in den Ruinen war uns allen streng verboten. Sogar in der Schule wurden wir darüber belehrt, welche Gefahren in den Ruinenlandschaften lauerten. Wer aber sollte die Einhaltung dieses Verbot schon überwachen? Einmal in den Trümmerbergen waren wir vor Beobachtungen ziemlich sicher. Ein paar Straßenzüge weiter standen noch lange nach dem Krieg einige zerstörte Straßenbahnwaggons auf den Schienen. Dort fühlten wir uns wie routinierte Straßenbahnfahrer. All das, war an Waschtagen nicht möglich.
Mein Leben im Tante-Emma-Laden endete irgendwann 1952 abrupt, als meine Mutter eine Wohnung für uns gefunden hatte. Wir zogen in einen, hinter einem großen Chemiewerk versteckt liegendem, damals noch ländlichen Stadtteil. Weite Getreidefelder und Rübenäcker, ein verwunschener Schlosspark, die Eisenbahnstrecke nach Süden, sowie ein direkt an das Chemiewerk grenzendes Sumpfgebiet, das den Namen Heidchen trug, boten Abenteuer und Freiheit. Meine Mutter arbeitete weiter im Laden, meist zwei oder drei Tage in der Woche. Solange ich noch zur Schule ging, kam ich immer wieder einmal als Hüter des Ladens zu Einsatz. Das endete erst, als ich in die Lehre kam. Oma stand noch hinter der Ladentheke bis kurz vor ihrem Tod, sie starb 1960. So richtig gelohnt hat sich zu dieser Zeit das Geschäft nicht mehr. Sie tat es wohl aus reiner Gewohnheit.
Es muss wohl zu einer Zeit gewesen sein, als ich anfangs zur Schule ging, das war dann 1948. Ich vermute es deshalb, weil ich mich erinnere, dass ich zu Fuß zur Autoreparaturwerkstatt des Opas unterwegs war. Als ich etwas größer war, benutzte ich für diesen Weg stets das Fahrrad, das mir zur Verfügung gestellt wurde, damit ich die mir zugeteilten Aufträge, schneller und effektiver erledigen konnte.
Auf dem Weg zur Autowerkstatt lag ein Fahrradgeschäft. Eigentlich war es mehr der Laden eines Trödlers, der in Ermanglung neuer Fahrräder gebrauchte Räder etwas aufmöbelte und dann versuchte diese an den Mann zu bringen. An diesem Tag aber – es muss wohl kurz nach der Währungsreform gewesen sein – stand mitten im Schaufenster ein Tretroller. Ein Traum von einem Roller! Die Rohre des soliden Gestells aus Eisenrohren in leuchtendem Rot lackiert, unterbrochen von einem feinen Streifen weißer Farbe, der längs an den Rohren entlang verlief. Der Lenker hochglanzverchromt und mit einer glänzenden Klingel versehen. So stand er da auf Rädern mit dicken, prallen Ballonreifen. Über dem Hinterrad ein keiner silbern lackierter Gepäckträger und zu allem Überfluss, das Hinterrad war mit einer Bremse versehen. Ich war hin- und hergerissen und konnte mich kaum von dem Anblick losreißen. Opa war ein bisschen böse, als ich endlich bei ihm ankam; er schalt mich getrödelt zu haben.
Der Roller spukte weiter in meinem Kopf herum und ab und an, da fand sich offensichtlich sogar ein Käufer. Ich schloss das daraus, dass eines Tages ein andersfarbiger Roller das Fenster zierte. Eigentlich gab es nur zwei Farben, Rot und Blau. Mir hatte es aber der rote Tretroller angetan und ich stellte mir vor, wie beeindruckt die Kinder auf unserer Straße wären, wenn ich mit solch einem Wunder der Technik an ihnen vorüberfahren würde. Es verging nicht allzu viel Zeit, da fuhren die ersten Freunde auf der Straße mit solch herrlichen Rollern spazieren und wurden allgemein bewundert. Ich aber konnte weder Mutter, noch Oma oder Opa erweichen, mir diesen Traum zu erfüllen. Reine Verschwendung, meinten sie. Du lernst Fahrrad fahren und dann bekommst du für deine Besorgungen ein gebrauchtes Fahrrad, basta!
Für mich war das nur schwer zu verstehen. Wohnten wir doch in einem Viertel, in dem unsere Nachbarn fast ausschließlich einfache Arbeiterfamilien waren; nur im Nachbarhaus, da wohnte ein Rechtsanwalt. Und so zählte ich uns, dank Tante-Emma-Laden und Autoreparaturwerkstatt, zusammen mit diesem Rechtsanwalt zur Oberschicht (das Wort war mir natürlich unbekannt, trifft aber genau das, was ich meinte). Weshalb aber gerade ich keinen Roller haben sollte, das habe ich einfach nicht begriffen; und so versuchte ich Mittel und Wege zu finden doch noch zu einem Roller zu kommen. Die kleinen Nebenverdienste, wenn ich trotz Verbots etwas Geld von Kundinnen annahm, denen ich beim Tragen half; die reichten gerade mal für die damals beliebten Tütchen mit Autobildern. Selbst wenn ich dieses Geld in der Spardose gesammelt hätte; für einen Roller hätte es nie gereicht.
Als es langsam auf Weihnachten zuging, fasste ich mir jedoch ein Herz. Obwohl schon nicht mehr so richtig an das Christkind glaubend, verfasste ich einen Wunschzettel und schrieb dem Christkind: Ich wünsche mir einen roten Tretroller mit Ballonreifen. Ich malte noch ein Bild darauf und legte den Wunschzettel am Abend auf die Fensterbank. Am nächsten Morgen war er verschwunden, was ich als günstiges Zeichen deutete.
Am Abend der Bescherung war ich schon sehr gespannt, ob das Christkind mir zu dem begehrten Roller verhelfen würde. Ich wartete also ungeduldig darauf, dass endlich das Glöckchen erklingen würde. Als das Glöckchen läutete, ich lief zur Küche. Die letzten Meter legte ich dann betont langsam zurück, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich sei besonders aufgeregt. Ich öffnete die Küchentür, auf dem großen Esstisch stand der geschmückte Weihnachtsbaum, die Kerzen brannten und verbreiteten im Raum ein festliches Licht. Um den Baum herum war für jedes Familienmitglied ein Teller mit Süßigkeiten platziert. Mir fuhr der Schreck in alle Glieder, an den Tisch gelehnt stand ein roter Tretroller…
Was für eine Enttäuschung; ein Roller, komplett aus Holz! Sogar die Räder waren aus Holz gefertigt und statt der Ballonreifen waren sie mit eisernen Reifen beschlagen, ähnlich wie bei unserem Leiterwagen, der hinter dem Haus stand. Dieses Gefährt, das sah ich sofort, konnte niemals vom Christkind kommen; so etwas, da war ich mir ganz sicher, kommt aus der Autowerkstatt.
Der Glaube an das Christkind war an diesem Abend für immer zerstört und mit dem Roller, mit dem habe ich mich schnell angefreundet; kam er doch aus Opas Werkstatt. Ich fuhr damit genauso stolz herum, wie meine Freunde mit ihren Rollern, ausgestattet mit Ballonreifen. Nur die Nachbarn beschwerten sich ab und zu über den Lärm, den die Eisenreifen auf dem Bürgersteig erzeugten.
Es war wohl am Anfang der fünfziger Jahre, zu der Zeit etwa, als die Lebensmittelkarten abgeschafft wurden. In Folge des beginnenden wirtschaftlichen Aufschwungs stiegen damals die Preise für Altmetalle und Altpapier in, bis dahin, unbekannte Höhen. Der Markt für diese Materialien zeigte Überhitzungserscheinungen, ganz so, wie wir es heutzutage von den Aktienmärkten und den Rohstoffbörsen gewohnt sind. Ein Boom im Sammeln, besonders von Altmetallen, brach aus. Auf den endlosen Ruinenfeldern, in die der Krieg die Großstädte verwandelt hatte, wurde alles an Metall gesammelt, um nicht zu sagen gestohlen, was irgendwie auffindbar war. Altmetalle hatten wir nicht zu bieten, aber Kartons.
Wenn auch die große Verpackungswahn damals noch nicht ausgebrochen war, in Omas Laden fielen reichlich Kartons an, in denen Waren angeliefert wurden. Diese hatten wir, sparsam wie Oma nun einmal war, bis dahin im Küchenherd verbrannt, um Kohle zu sparen. Jetzt aber wurden die Kartons im Keller gesammelt, ebenso die Tageszeitungen. Immer wenn der kleine Verschlag im Keller mit Kartons gefüllt war, holte meine Mutter den alten Fahrradanhänger vom Hof, auf den luden wir gemeinsam die zusammengelegten Kartons und die gebündelten Zeitungen. Mutter zog den Anhänger dann an der Deichsel zum Altwarenhändler, während ich hinterherging und aufpasste, dass die Ladung nicht verrutschte. Im Allgemeinen hatten wir immer zwei bis drei solcher Fuhren, bis der Verschlag geräumt war. Jede der Fuhren wurde beim Trödler sorgfältig auf einer altertümlichen Waage gewogen und wenn wir die letzte Ladung abgeliefert hatten, wurde das Gesamtgewicht ermittelt und es wurde zu tagesaktuellen Preisen abgerechnet. Wir bekamen dafür dann zwischen sechs bis acht Mark, was zu dieser Zeit eine Menge Geld war. Der Betrag wurde unverzüglich der Haushaltskasse zugeführt und ich bekam einen kleinen Anteil von zwanzig oder dreißig Pfennig davon ab.
Nach einiger Zeit sanken die Preise für Altpapier dann wieder und die Erwachsenen meinten, dass sich der Aufwand nicht mehr lohne. Inzwischen war aber Kohle nicht mehr rationiert und vom Preis her so günstig, dass sich auch das Verfeuern von Kartons nicht mehr lohnte, aber loswerden mussten wir das Zeug. Also beschoss der Familienrat, ich sei groß genug mich mit dem Abtransport der Pappberge alleine zu beschäftigen und das Geld, das ich vom Altwarenhändler erhielt, dürfe ich behalten. Ich hatte Glück, denn zu dieser Zeit siedelte sich auf einem von Trümmern geräumten Grundstück direkt gegenüber von unserem Laden ein neuer Altwarenhändler an. So brauchte ich die Kartons nur noch über die Straße zu transportieren. Viel Geld gab es wirklich nicht mehr dafür, aber so etwa eine Mark kam jedes Mal, wenn ich den Verschlag räumte, schon zusammen. Für einen fast Zehnjährigen war das so etwas, wie ein kleines Vermögen.
Das Geld sollte ich eigentlich sparen. Da der Trödler mir das Geld bar auf die Hand ausbezahlte, fand ich aber immer wieder einen Weg, einen Teil des Geldes für meine Bedürfnisse abzuzweigen. So trug ich diesen abgezweigten Teil des Lohns dann schnellstmöglich zum Zeitungskiosk, bei uns das Büdchen genannt. Begeistert von Autos, wie alle Jungen auf unserer Straße, kaufte ich dort für mein Geld ein oder zwei Tütchen Sammelbilder, auf denen die damals aktuellen in- und ausländischen Autos abgebildet waren. Das Sammeln dieser Bilder war unter uns Jungs eine echte Leidenschaft. Wir verbrachten auf der Bordsteinkante sitzend ganze Nachmittage damit, uns gegenseitig unsere Schätze zu zeigen und doppelt vorhandene Bilder zu tauschen.
Diese Einnahmequelle nutzte ich so lange, wie es mir möglich war, aber die Preise verfielen weiter. Und so kam es, wie es kommen musste, der Altwarenhändler wollte nichts mehr für das Altpapier bezahlen. Auf Omas Nachfrage, zuckte er mit den Schultern und erklärte ihr, er würde sie auch weiter von den Papiermassen befreien, aber er hätte davon keinerlei Vorteil. Er würde das Altpapier weiterhin zu Ballen pressen und so lange einlagern, bis er wieder einen akzeptablen Preis dafür erzielen könne. Aber sie sähe ja selbst, wie sich die Ballen schon entlang der Mauer stapelten und sie müsse ihm dankbar sein, dass er von ihr weiterhin Pappe und Papier annehmen würde. Für mich blieb alles gleich, ich transportierte weiterhin Papier und Pappe auf die andere Straßenseite, nur dass ich kein Geld mehr mit dem Papiertransport verdienen konnte.
Ich stand also ohne eigenes Einkommen da und musste auf Unterstützung hoffen. Opa war bei all seinen Enkeln für seine Großzügigkeit bekannt. Er maß mir ein auskömmliches sonntägliches Taschengeld von einer Mark zu. Unsere gesamte Familie war in der Nachbarschaft für ihre sprichwörtliche Sparsamkeit bekannt und so half mir das Geld auch nicht weiter. Obwohl es nicht ganz in Opas Sinn war, wurde streng darauf geachtet, dass die Mark sofort in die Spardose kam. Ich hatte Geld, aber keinen Zugriff darauf. Ab und zu ließ sich meine Mutter erweichen, sie öffnete die Spardose und gab mir eine Mark daraus. Das kam aber nur sehr, sehr selten vor. So blieb mir als einzige Möglichkeit, gegen ein striktes Gebot zu verstoßen, um an Geld für meine geliebten Autobilder zu gelangen. Ich hatte das Gebot immer eingehalten und mich immer erfolgreich dagegen wehren können, wenn mir eine Kundin einen Groschen für die Hilfe beim Tragen Ihrer Einkäufe zustecken wollte. Meine neue Taktik zur Geldbeschaffung war einfach und effektiv, ich leistete keinen Widerstand mehr, wenn mir ein Groschen für die Hilfe in die Hand gedrückt wurde.
Als kleiner Junge hatte ich eine besondere Vorliebe für Lastwagen entwickelt, ich glaube, ich war sogar ein ziemlicher Experte auf diesem Gebiet. Ich stellte mir immer vor, wie aufregend es sei, eins dieser Ungetüme durch die Straßen zu steuern. Ich glaube, damals hielt ich Lastwagenfahrer für den wichtigsten Beruf überhaupt; bis ich zu einem späteren Zeitpunkt erkannte, dass Eismann noch viel wichtiger war.
Meine Wahrnehmung der Dinge war durch den Mangel in der Nachkriegszeit geprägt. Ich hatte eine genaue Vorstellung, welche Typen von Lastwagen es gab. Hochinteressant fand ich Möbelwagen, allein schon wegen der mächtigen Aufbauten. Aber auch Kipplaster erregten mein Interesse, da diese in der Trümmerlandschaft häufig zu sehen waren. Auch über die verschiedenen Antriebsarten war ich informiert. Den klassischen Dieselantrieb kannte ich genauso wie den Antrieb mit Flüssiggas. Der Antrieb mit Flüssiggas war beeindrucken durch die großen Gasflaschen, die seitlich unterhalb der Ladefläche angebracht war. Übertroffen wurden aber diese Antriebe durch den Holzvergaser. Ich hielt ganz einfach diese Fahrzeuge für den Gipfel menschlichen Schöpfergeistes. Als Beweis für die Richtigkeit meiner Einschätzung diente meine Zählung, der durch unser Stadtviertel fahrenden Lastwagen. Die Mehrheit der kühnen Chauffeure hatte sich unwiderlegbar für einen Wagen mit Holzvergaser entschieden. Auf der Ladefläche dieser Fahrzeuge stand ein schwarzer Kessel, von dem aus eine mächtige Rohrleitung bis vor den Motor verlegt war, die in einen schwarzen Zylinder mündete.
Für mich war der Vorteil dieser Konstruktion unübersehbar. Brauchte doch ein solches Fahrzeug niemals zur Tankstelle gefahren werden, denn Holz gab es doch überall. Und wenn ich dann noch sehen konnte, wie der Fahrer, auf der Ladefläche stehend, die Schrauben am Deckel des Kessels löste, um frisches Holz nachzufüllen, dann war für mich klar – es gibt nur einen Beruf für mich: Lastwagenfahrer auf einem Wagen mit Holzvergaser.
In Omas Laden links, wenn man von der Küche aus den Laden betrat, stand ein Ungetüm von Schrank, Bauart Gelsenkirchener Barock. Es war der Eisschrank, der aussah, als hätte er schon dort gestanden, als Oma in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts den Laden übernahm. Alle zwei Tage wurde das Ungetüm neu mit Stangeneis befüllt und das Schmelzwasser, das sich in einer Blechwanne gesammelt hatte, im Hinterhof ausgegossen. Dann, so etwa 1951, wurde dieses Ungetüm durch einen neuen Eisschrank ersetzt, den Opa in seiner Autowerkstatt gebaut hatte. Wo das alte Ungetüm geblieben ist, ich weiß es nicht, da fehlt mir die Erinnerung. Wahrscheinlich, da aus Holz, wurde der Schrank zu Brennholz zerlegt. Übrig blieb die Blechwanne zum Auffangen des Schmelzwassers, diese stand dann lange Zeit nutzlos auf dem Hinterhof herum.
Das geschah zu einer Zeit, zu der sich die männliche Kinderschar des Stadtteils ein Vergnügen daraus machte, in der nahen Düssel Stichlinge (Strachelditze in Düsseldorfer Mundart, wir nannten sie Stachelditzges) zu fangen. Die gefangenen Fische kamen in ein mit Wasser gefülltes Marmeladen- oder Einweckglas, worin die armen Tiere dann schon nach wenigen Stunden mit dem Bauch nach oben trieben, es sei denn sie wurden rechtzeitig wieder freigelassen. Es wurden die verschiedenartigsten Fanggeräte zum Fang der Stachelditzges genutzt. Geschickte Jungs fingen die kleinen Fische mit bloßen Händen. Wenige Glückliche hatten irgendwoher ein altes Teesieb ergattert und ganz Glückliche waren im Besitz eines feinmaschigen Küchensiebs. Dann gab es noch Freunde, die ein Stück eines zerrissenen Damenstrumpfs besaßen, das konnte man zwischen eine Astgabel oder einen gebogenen Draht spannen. All diese Gerätschaften erleichterten das Fangen ungemein, wobei vor allem das feinmaschige Küchensieb den Fangerfolg sicherte. Da ich weder zu den Geschickten, noch zu den glücklichen Gerätebesitzern zählte, arbeitete ich mit zwei Marmeladengläsern – eins zum Fang der Stachelditzges und eins zum Sammeln des Fangs. Der Fang mit einem Glas war nicht sehr effektiv, aber mit etwas Geduld gelang es mir doch jeden Tag einige Stachelditzges zu ergattern. Aber ob geschickt oder ungeschickt, wir hatten alle das gleiche Problem, in den kleinen Marmeladen- und Einweckgläsern verendeten die Fische. In dieser Situation entsann ich mich der Blechwanne im Hinterhof – diese, so glaubte ich, wäre groß genug, um den Fischen das Überleben zu ermöglichen. Ich zweckentfremdete also die alte Blechwanne als Aquarium (umwidmen, wie es auf Neudeutsch heißt). Ich füllte etwas Sand auf den Boden und schleppte mehrere Eimer voll Wasser heran, das ich in die Wanne goss. Dann setzte ich stolz meine frisch gefangenen Stachelditzges ein. Die Fische schwammen in dem etwas schlammigen Wasser munter umher und ich glaubte, ich könnte Karriere in der Fischzucht machen.
Am Tag darauf, als ich aus der Schule kam, wunderte ich mich, aus meinem Aquarium waren alle Fische verschwunden. Der Bach war nicht weit entfernt, also wurden neue Stachelditzges für das Aquarium gefangen. So ging es einige Tage weiter, ich konnte das Geheimnis der verschwindenden Fische nicht lüften. Irgendwann, Monate später, mein Interesse an Fischen war zu dieser Zeit lange erlahmt, erzählte mir meine Mutter, eine der vielen Katzen, die damals in der Trümmerwüste hausten, hatte großes Geschick darin entwickelt, die Fische aus der Wanne zu angeln. Später dann, als wir in einem ländlichen Vorort der Stadt wohnten, erwachte mein Interesse an der Fischerei für kurze Zeit erneut. Das lag wohl daran, dass in diesem Stadtteil die Jagd nach den Stachelditzges gerade groß in Mode war und drei kleine Bachläufe in unserem direkten Umfeld verliefen. Es gab den Oerschbach und den Eselsbach; und wen wird es wundern, die Düssel. Die Düssel gibt es in unserer Stadt überall. Aber sich darüber zu wundern, wäre in Düsseldorf nun wirklich unangebracht.
Noch oft, wenn ich an einem, der zahlreichen kleine Wasserläufe meiner Heimatstadt vorbeikomme, denke ich an das Jagdfieber, das wir damals entwickelt hatten. Nach der Jagd wurde das Jagdglück eines jeden Fischers anhand der Menge und der Größe der gefangenen Stachelditzges bewertet. Heute scheint all das zu einer längst vergangenen Zeit zu gehören. Obwohl wir in der Nähe eines kleinen Bachlaufs wohnen, der den Namen Hoxbach trägt und der einige hundert Meter weiter dann Oerschbach – siehe oben – genannt wird, habe ich in den vergangenen Jahren keine Kinder beim Fang von Stachelditzges erleben können. Sogar das Wort Stachelditz ist den Düsseldorfer Kindern heute unbekannt. Aber, immerhin ein Düsseldorfer Karnevalsverein trägt den Namen K.G. Stachelditzges.
In den ganz frühen fünfziger Jahren wurden wir jährlich, klassenweise ein- oder zweimal dem Schularzt vorgestellt. Dieser befand mich einmal besonders schmächtig und erholungsbedürftig. So machte er meiner Mutter das Angebot, mich für sechs Wochen zur Kindererholung nach Sylt zu schicken. Meine Mutter fand das ganz normal und sagte sofort zu.
Eines Abends im Januar brachte sie mich zum Hauptbahnhof, wo ich mit anderen Mädchen und Jungen – alle im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren – unter der Betreuung von zwei erwachsenen Begleitern in den Nachtzug nach Hamburg-Altona verfrachtet wurde. Mir war das Ganze ziemlich unheimlich. Obwohl im Reisen geübt, jetzt aber befand ich mich inmitten einer Gruppe fremder Menschen, die ich noch nie vorher gesehen hatte und wir steuerten einem Ziel zu, das mir völlig unbekannt war und das in unheimlicher Ferne lag.
So kamen wir im Morgengrauen in Hamburg an, wo wir einige Zeit fröstelnd und übermüdet auf dem Bahnsteig warteten, bis der Anschlusszug einfuhr. Der Zug brachte uns nach einer mehrstündigen Reise nach Westerland und von dort aus ging es weiter mit der Inselbahn. Diese bestand aus einigen altertümlichen Waggons, die von einer noch altertümlicheren, altertümlichen Dampflokomotive gezogen wurden. Unsere Fahrt endete in der Ödnis, einer Landschaft, deren Aussehen mir bis dahin völlig unbekannt war. Umgeben von mit Strandhafer bewachsenen Sanddünen, hielt das Bähnchen an einem Haltepunkt, der aus einem sandigen Bahnsteig und einem hölzernen Unterstand bestand. Am Dach des Unterstands ein Schild, das ich mit meinen, damals noch geringen Lesekenntnissen mühsam entzifferte: Klappholttal. Gerade wir kleineren Kinder der Gruppe konnten uns kaum noch auf den Beinen halten, schließlich war es inzwischen Nachmittag. So ist mir vom weiteren Ablauf des Tages nur noch in Erinnerung, dass Mädchen und Jungen sorgfältig getrennt wurden. Ich vermute, man hat uns danach schleunigst in die Betten verfrachtet. Das Kinderheim Klappholttal entpuppte sich als ein, in den Dünen liegendes, Barackenlager. Irgendwo im Nirgendwo. Geschlafen wurde in Schlafsälen, die um den sogenannten Gruppenraum herumgelegen waren. Nach einer Eingewöhnungsphase, die uns den Trennungsschmerz von den Eltern überwinden ließ, fühlten wir uns in dieser abenteuerlichen Umgebung ausgesprochen wohl. Nur etwas gab es, das war schockierend.
Das Schockierende waren die Geschehnisse am Morgen nach unserer Ankunft, kamen wir Jungs doch aus dem damals noch stockkatholischen Rheinland und jedem von uns war eingebläut worden, seine Blöße (ein blöderer Ausdruck für den menschlichen Unterleib, war den Moralaposteln wohl nicht eingefallen) bedeckt zu halten. Zumindest unserer Vorstellung nach führte das Zeigen der Blöße direkt in die ewige Verdammnis.
Wir wurden also früh am Morgen geweckt und aus dem Schlafsaal direkt in die Waschkaue beordert. In der Waschkaue gab es zwei gegenüberliegende, lange rötliche schimmernde Terrazzo-Waschbecken, jedes der Becken war mehreren Wasserhähnen ausgestattet. Dort wurden wir von zwei Tanten, heute würden sie wohl Erzieherinnen genannt, aufgefordert uns der Nachthemden oder Schlafanzüge zu entledigen, um uns zu waschen. Uns schoss der Schreck in die Glieder, fürchteten wir doch, ob dieses Frevels würde sich sofort der Schlund der Hölle auftun und uns alle verschlingen. Aber es half nicht, die Tanten waren in diesem Punkt unerbittlich. Wir zogen uns also aus – der Höllenschlund tat sich zu unserem Erstaunen nicht auf – und stellten uns an die Waschbecken. Unsere Blicke wurden unsicher, wir konnten einer weiteren schweren Untat nicht ausweichen; der schweren Sünde nackte Menschen zu betrachten. Wir standen uns gegenüber und eng beieinander. So konnten wir nicht das tun, das man uns gelehrt hatte. Sollte man einmal (ungewollt) in diese Situation kommen, hat man den Blick abzuwenden, lautete der Lehrsatz. Wohin man auch blickte, immer sah man die Blöße der Anderen.
Die Tanten fanden, wir wären falsch erzogen. Sie erklärten uns freimütig, im Sommer würden sie hier alle nackt am Strand herumlaufen und das wäre gesund, basta.
Im Laufe der nächsten Tage gewöhnten wir uns an die Nacktheit, aber es kam schlimmer…
Ziemlich zu Anfang des Aufenthalts wurden wir nach dem Frühstück in geordneter Gruppe zur Eingangsuntersuchung geführt. Also wieder nackt ausziehen und sich hintereinander in einer Reihe aufstellen. Wir wurden gewogen, vermessen und vom Arzt untersucht. Der Arzt verschrieb uns allen eine Bestrahlungskur unter der Höhensonne. Also gingen wir ab sofort zweimal in der Woche zur Bestrahlung.
Die Bestrahlung fand in einem größeren Raum statt, in dem einige Liegen aufgestellt waren. Über jeder Liege befand sich eine Lichtbogenlampe, die Höhensonne. Der Ablauf der Kur ist schnell erzählt; nackt ausziehen, grüne Schutzbrille in Empfang nehmen, den Bestrahlungsraum in Zweierreihen geordnet betreten und die Schutzbrille aufsetzten. Immer zwei von uns wurden in entgegengesetzter Richtung auf den Liegen platziert. Man lag also auf dem Rücken und hatte immer die Füße des Anderen neben seinem Kopf. Nach drei Minuten Bestrahlung mussten wir uns auf den Bauch drehen, weitere drei Minuten Bestrahlung – fertig. Das ging ganz gemütlich zu, aber nach jeder zweiten Bestrahlung wurde die Bestrahlungszeit erhöht und so wurden wir am Ende der Kur fünfzehn Minuten von jeder Seite gegrillt.
Da offensichtlich allen Kindern des Heims die gleiche Kur verordnet worden war, musste ein genauer Zeitplan eingehalten werden, um alle Gruppen jede Woche zweimal durch die Bestrahlung zu schleusen. Mit der Verlängerung der Bestrahlungszeit wurde der Zeitplan enger und enger. In der dritten Woche reichte die Tageskapazität der Höhensonnen und Liegen nicht mehr aus und wir wurden zu viert auf die Liegen gepackt. Die Belegung der Liegen steigerte sich dann kontinuierlich und es war wohl in der letzten Woche, als alle Dämme brachen.
Als wir in dieser Woche zum Bestrahlen kamen, herrschte schon in der Umkleide fürchterliches Gedränge. Obwohl Mädchen und Jungen in streng getrennten Gruppen gehalten wurden, standen wir plötzlich allesamt unbekleidet, dichtgedrängt und beiderlei Geschlechts in der Umkleide. Im Bestrahlungsraum waren alle Liegen zu einer großen Liegefläche zusammengeschoben und die Höhensonnen außen herum aufgestellt. Um ein Chaos und eine Beschädigung der Sonnen zu vermeiden wurden wir nur einzeln eingelassen und sofort auf die Liegefläche befördert. Jede Lücke auf der Liegefläche wurde mit Körpern ausgefüllt, ich lag in engstem Körperkontakt zwischen zwei Mädchen und war mir nun gewiss, ich tat unschamhaftes, was immer dieses Wort bedeuten möge. Mit dem Kopf lag ich erhöht auf den Beinen eines Leidensgenossen. Das führte dazu, dass ich das Feld nackter Leiber überblickte. Mir gefror das Blut in den Adern, um die Mädchen nicht ansehen zu müssen guckte ich auf meine Füße. Dort blickte ich auf die Blöße eines bereits pubertierenden Jungen, dem erste Schamhaare sprossen – ich schloss die Augen, um nicht weiter zu sündigen. Das misslang, ich war zu neugierig – eine weitere Missetat. Die Hölle kam näher. Das Wenden zur Halbzeit der Bestrahlung geriet zum Fiasko, in der Enge berührte der Po eines der Mädchen meine Brust, ich war für immer gebrandmarkt und konnte der Hölle nicht mehr entgehen. In meiner Panik versuchte ich auszuweichen und drückte dabei das andere Mädchen so weit über den Rand der Liegefläche, dass es gegen den Ständer einer Höhensonne stieß. Dieser schwankte bedenklich und drohte samt Lichtbogenlampe umzustürzen. Eine der Tanten rettete uns und die Lampe durch einen gewagten Sprung. Danach schalt sie uns ungeschickte Tölpel und gab mir einen Klaps.
Wieder lag mein Kopf auf den Beinen eines Leidensgenossen und ich starrte auf seine Pobacken. Ich war völlig entgeistert ob meiner Verruchtheit und versuchte es mit Beten. Das ging aber nicht, da ich mir einbildete, während ich sündigte, durfte ich nicht beten.
Ich nahm mir vor, die Schande durch ein besonders tugendhaftes und frommes Leben wieder gutzumachen. Das funktionierte nicht, ich war wohl schon zu sehr verdorben und mir wurde klar, ich war zur Hölle verdammt und nichts mehr konnte mich retten.
Als ich wieder zu Hause war, habe ich die drohenden Höllenqualen dann bald vergessen. Ich war ein kleiner Junge und beschäftigte mich zu Hause lieber mit anderen Sünden wie Naschen (an der Wurst, wenn ich den Laden hütete) und Fluchen. Und so fand ich mein seelisches Gleichgewicht bereits nach kurzer Zeit wieder.
Nach dem Krieg wohnten die Eltern meiner Mutter in Donrath, da ihre Wohnung in Düsseldorf während eines Luftangriffs ausgebrannt war. Donrath ist ein Ortsteil von Lohmar im heutigen Rhein-Sieg-Kreis. Damals war Donrath ein unbedeutendes Straßendorf im Aggertal und bestand aus einigen an der Dorfstraße gelegenen Häusern, kleinen Bauernhöfen, zwei Gasthöfen, einem Sägewerk, einer Krautfabrik, einem Bahnhof und immerhin einem Hotel. Das Hotel führte den schönen Namen Aggerburg. Da es keine Kirche gab, ging man am Sonntag in die Kirche von Lohmar. Für Kinder, die aus einer von Bomben zerstörten Großstadt kamen, war Donrath eine unwirkliche Welt. Die einzigen Kriegsspuren waren die gesprengte Straßenbrücke über die Agger und ein paar Einschusslöcher in einem Kleiderschrank. Einige Male im Jahr fuhr meine Mutter mit mir zum Besuch der Großeltern dorthin und in den ersten Nachkriegsjahren war die Fahrt ein Abenteuer.
Von Düsseldorf aus fuhr ab und zu ein Zug nach Köln. Im glücklichen Fall nach Köln-Deutz, weil von dort ein Postbus in Richtung Donrath fuhr. Bei weniger Glück über Neuss und Dormagen nach Köln Hauptbahnhof. Einige Male sind wir die Strecke im offenen Güterwagen gefahren. Das war für mich als kleines Kind alles andere als schön, sah ich doch nur den Himmel über mir, die Beine der Mitreisenden und die Seitenwände des Waggons. Meist ging die Fahrt aber in völlig überfüllten Personenwagen, da sah ich dann auch nicht viel mehr. Ich war einfach zu klein, um stehend aus dem Fenster sehen zu können. Wenn der Zug nach Köln Hauptbahnhof fuhr, mussten wir den Rhein überqueren, um nach Köln-Deutz zu gelangen, denn da gab es ja den Bus. Da die Brücken gesprengt waren, hieß das, vom Bahnhof hinunter zum Rhein und auf das Fährbötchen warten, das nach uns nach Deutz übersetzen sollte. Das war eigentlich kein Problem, es war sogar ganz lustig. Nur einmal im Winter, als Eisschollen auf dem Rhein trieben, da habe ich mich furchtbar geängstigt und mich heulend an meine Mutter geklammert. Das Geräusch, das die Eisschollen verursachten, wenn sie gegen die Bordwand stießen, war unheimlich. Noch heute kann ich mich an das donnernde Krachen erinnern.
Der Rest der Reise ist schnell erzählt. Vom Boot oder Bahnhof Deutz zu Fuß zum Bus und dann im Bus hatte ich endlich genug Platz, dass ich aus dem Fenster gucken konnte. In Donrath noch 20 Minuten Fußmarsch und schon waren wir angekommen.
Waren die Eltern unserer Generation unbesorgter oder waren es die anderen Verhältnisse, die damals herrschten? Ich bin da nicht sicher. Zumindest wenn ich daran denke, dass ich als so kleiner Junge ab dem siebenten oder achten Lebensjahr öffentliche Verkehrsmittel allein benutzte und später auch größere Strecken mit dem Fahrrad allein zurücklegen musste. Das war für mich in meiner Eigenschaft als Gehilfe des Tante-Emma-Ladens ganz normal. Da wir kein Telefon hatten, wurde ich zu mit einem Bestellzettel zu Lieferanten geschickt oder fuhr zu Opas Werkstatt, weil sich dort ein Telefon befand. So kam es, dass ich irgendwann angelernt wurde allein nach Donrath zu fahren.
Es war so Anfang 1950, da fand man, ich wäre groß genug allein nach Donrath zu fahren. Meine Mutter fuhr also noch einmal mit mir die Strecke ab, machte mich auf die Besonderheiten aufmerksam, die ich zu beachten hatte und so machte ich mich zu Anfang der Osterferien allein auf die Reise. Es war natürlich nicht mehr die umständliche Fahrerei der frühen Nachkriegsjahre; Donrath war damals mit öffentlichen Verkehrsmitteln sogar einfacher zu erreichen als heutzutage, denn damals fuhr ein Bus vom Düsseldorfer Hauptbahnhof nach Siegburg und der hatte eine Haltestelle auf einem Autobahnparkplatz in der Nähe von Donrath.
Zu Beginn der Osterferien bekam ich also einen Fahrschein für die Fahrt mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof und Geld zum Kauf der Busfahrkarte. Obwohl mit dem Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln vertraut, war ich mächtig stolz darauf, allein eine Fernreise zu anzutreten. Mutter brachte mich noch zur Straßenbahnhaltestelle der Linie 9, was ich schon als völlig überflüssig empfand. In der Straßenbahn, zu dieser Tageszeit nur wenig genutzt, setzte ich mich ans Fenster, winkte meiner Mutter noch einmal gönnerhaft zu und los ging die Reise. Alles, was ich auf der Fahrt zum Hauptbahnhof sah, prägte ich mir ein, als käme ich nie mehr zurück. Die mächtige Kirche St. Martin, den Ziegelbau des Polizeipräsidiums, den Schwanenspiegel und das dahinterliegende Ständehaus und zum Schluss die Fahrt durch die Graf-Adolph-Straße mit ihren interessanten Geschäften. Am Bahnhof musste der Bahnhofsvorplatz überquert werden und vor dem Nordeingang stand er, der hochmoderne Reisebus, hellblau lackiert und an der Windschutzscheibe das Schild: Düsseldorf – Köln – Siegburg. Darunter: Im Auftrag der Deutschen Bundesbahn.
Beim Fahrer erhielt ich für mein Geld eine Fahrkarte nach Donrath. Damals schien es niemand zu kümmern, wenn ein kleiner Junge allein reiste; und für mich war es eine Fahrt mit dem Bus, nur weiter und viel, viel interessanter, als die gewohnten Fahrten in der Stadt. Der Bus fuhr von Düsseldorf nach Köln weitgehend über Landstraßen, hielt in den damals noch recht kleinen Städten unterwegs häufig an und näherte sich Köln über Leverkusen. Er fuhr in Köln über die neu erbaute Deutzer Rheinbrücke und machte einige Zeit Pause am damaligen Busbahnhof in der Nähe des Doms, der damals noch ziemlich einsam in der Trümmerwüste stand. Von Köln aus ging es wieder über den Rhein nach Deutz und dann zügig über die Autobahn in Richtung Siegburg. Nur nicht die Haltestelle verpassen, sonst musst du noch von Lohmar aus nach Donrath laufen, war mir eingeprägt worden. Ich saß also konzentriert aus meinem Sitz und stand zeitig genug auf. Kurz vor der Haltestelle ging ich zum Fahrer und sagte ihm, ich möchte in Donrath aussteigen. Also bog er auf den Parkplatz ab und brachte das mächtige Fahrzeug zum Stehen. Die Tür musste er mir öffnen, dazu hatte ich nicht die Kraft.
Ich winkte dem Fahrer noch kurz zu, stieg den Weg zur Brücke über die Autobahn hinauf und machte mich auf eine kurze Wanderung über die Landstraße durch das Sülzbachtal, ging durch Sottenbach zur Agger hinunter und überquerte den Steg nach Donrath. Schon war ich am Hintereingang des Hauses und stieg die Treppe zur ersten Etage hinauf. Oma empfing mich mit einer Umarmung und tat überrascht, mich zu sehen.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diese Reise unternommen habe, aber es endete 1952. Da zogen die Eltern meiner Mutter zurück nach Düsseldorf. An Donrath erinnere ich mich aber immer noch gerne. Ich bin danach nur noch ein- oder zweimal dorthin gekommen. Das letzte Mal vor über 30 Jahren. Schon damals waren die Felder und Weiden, die ich von meiner Kindheit her kannte, zugebaut. Bahnhof und Eisenbahnstrecke waren verschwunden. Von dem Donrath, das ich kannte, war nur wenig geblieben. Das Haus, in dem die Wohnung der Großeltern lag, war umgebaut und modernisiert. Auf dem Gartengelände neben dem Haus war ein weiteres Haus errichtet worden. Die kleine Kate nebenan, die gleichzeitig Poststelle und Wohnhaus der Posthalterin war, war mit hässlichen grauen Platten verkleidet und sah verlassen aus. Ich fühlte mich fremd.
Heute macht Donrath leider ab und zu negative Schlagzeilen. Zugebaut wie das Tal heute ist, richten Überschwemmungen immer wieder verheerende Schäden in den Neubaugebieten an. Die kleinen Bäche, die im Tal in die Agger fließen, treten nach heftigen Regenfällen regelmäßig über die Ufer, wie zuletzt im Frühsommer des Jahres 2013 der Jahbach. Zu meiner Kinderzeit ergossen sich in solchen Fällen die Wassermassen über Weiden und Felder, wo sie bald wieder versickerten, ohne größeren Schaden anzurichten. Heutzutage laufen den Bewohnern der neuen Siedlungen bei diesen Ereignissen immer wieder die Keller voll Wasser. Schlammmassen wälzen sich durch die Straßen, zerstören Autos und Gärten. Wenn es ganz schlimm kommt, dringt der Schlamm in die Häuser und verwandelt die Inneneinrichtungen in eine Trümmerwüste.
Unaufhaltsam näherte sich das Ende der Traumzeit. Mutter und ich verließen den Tante-Emma-Laden und zogen in einen ländlichen Vorort von Düsseldorf. Auch die Großeltern zogen von Donrath aus dorthin. Wir lebten fortan, bis zu deren Tod, in enger häuslicher Gemeinschaft. Das Haus, in dem wir nun wohnten, war das Wohnhaus eines ehemaligen Gutshofs. Nach dem Krieg provisorisch in mehrere Wohnungen aufgeteilt. Hinter dem Haus befand sich ein mehrere Fußballfelder großer Obstgarten, in dem es auch eine Hühnerfarm gab. Es gab reichlich Kinder im Haus, die leider alle viel jünger waren, als ich es war. Nur und wirklich nur, die im Haus wohnenden Kinder durften im Obstgarten spielen. Auf fremde Kinder wurde der Hofhund gehetzt. Ich fühlte mich fremd in dieser Umgebung. Die Schulfreunde meiner alten Schule wohnten in räumlicher Nähe zum Tante-Emma-Laden. Ich traf sie täglich auf der Straße, ich brauchte nur vor die Tür zu gehen. Jetzt war alles anders. Wollte ich mich mit Schulfreunden treffen, musste ich mich bereits in der Schule mit ihnen für den Nachmittag verabreden. Oder mich mit den drei, vier Freunden, die einen Teil des Schulwegs mit mir teilten, auf dem Heimweg verabreden.
Das alles war kompliziert, da keiner von uns wissen konnte, ob unsere Pläne mit den Plänen der Eltern übereinstimmten. Hinzu kam, meine Mutter sah den Umgang mit den Freunden, die relativ nahe wohnten, nicht gerne und versuchte mir Freundschaften schmackhaft zu machen, deren Elternhaus ihr angemessen erschien. Ich mache mir nicht viel daraus, schließlich konnte ich den nächsten meiner Freunde relativ schnell über einen meist schlammigen Feldweg erreichen. Der Freund wohnte mit Eltern und Bruder in einer behelfsmäßig errichteten Kate, auf dem die Familie etwas Ackerbau betrieb. Von dort war es nicht weit bis zu einer Kiesgrube und einer damals völlig ungesicherten städtischen Müllkippe.
Wir verdrückten uns so oft wie möglich in die Kiesgrube, um unseren Träumen nachzuhängen, wir sammelten Frösche und suchten stundenlang nach im Kies verborgenen Achaten. Unterhalb der steilen, ungesicherten Ränder der Grube, dort wo vor uns noch niemand gesucht hatte, war die Ausbeute an Achaten besonders ergiebig. Wir schwebten dabei in Lebensgefahr, was wir nicht ahnten. Am späteren Nachmittag, nach Feierabend der Müllsammler, zogen wir zur Kippe und versuchten dort im Unrat unser Sammlerglück. Einmal fand ich eine völlig unbeschädigte Windlaterne, die ich noch lange Jahre benutzt habe.
Die Pubertät setzte ein, die unbeschwerte Kindheit ging unwiderruflich zu Ende. Von pubertären Qualen geplagt hangelten wir uns der Schulentlassung entgegen. Gerade einmal vierzehnjährig standen wir da und sollten einen Beruf erlernen. Und so kann nur noch eine Erzählung folgen, die aus der Kindheit stammt. Sozusagen als Erinnerung an eine Zeit, in der wir glaubten, einen Teil unserer Zukunft bereits verloren zu haben.
Vor einiger Zeit war ich mit dem Auto auf einer Straße unterwegs, die früher Teil meines Schulweges war. Ich war lange nicht mehr dort gewesen und erstaunt, in über fünfzig Jahren hatte sich dort kaum etwas verändert. Der alte Friedhof hat sich zwar in einen Tennisplatz verwandelt und dort wo sich früher die Zufahrt zu einer Kiesgrube und zur Müllkippe befand, befinden sich heute die Einfahrt zu einer Kleingartenanlage und eine Parkanlage. Neben diesem Park steht ein kleines Doppelhaus, das damals schon alt war und heute so aussieht, als hätte in all den Jahren keiner etwas daran geändert; nur irgendwer hat wohl vor langer Zeit einmal die Fassade mit braun beigen Fliesen versehen. Eine Hälfte dieses Doppelhauses war das Elternhaus von Hermi.
Hermi war in den letzten vier Schuljahren einer meiner Klassenkameraden, so von 1952 bis 1956. Den richtigen Namen von Hermi habe ich vergessen, aber selbst seine Mutter rief ihn so und deshalb hat sich dieser Name bei mir eingeprägt. Wir beiden waren nicht direkt befreundet, gehörten aber zur gleichen Clique. Das lag wohl daran, dass wir nach der Schule die gleiche Richtung einschlugen. Wir zogen nach der Schule als Gruppe von vier oder fünf Jungen los, die dann, je weiter wir kamen, immer kleiner wurde. Hermi kam dabei als Erster zu Hause an, während mein Freund A. und ich noch für ein ganzes Stück über unbefestigte Feldwege weitergingen. Ich hatte es am weitesten und so ging ich noch eine ganze Weile allein durch Felder und Viehweiden. Morgens ging der Weg dann umgekehrt und waren wir zuerst noch eine lärmende, lustige Truppe, so wurden wir immer leiser, je mehr wir uns der Schule näherten. In der Schule herrschten nämlich raue Sitten und jeder von uns hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
Klein und schmächtig wie ich war, war ich sehr froh zu dieser Clique zu gehören. Überragten mich die anderen um mindestens eine Kopfhöhe und stärker waren sie allemal. Das war auf dem Schulhof sehr vorteilhaft für mich, denn die Clique bot Schutz vor Nachstellungen durch andere Cliquen, die sich in der Schule gebildet hatten.
In der Schule war Hermi ein eher unauffälliger Junge, vielleicht fühlte er sich sogar unterfordert. Probleme hatte seine Eltern mit ihm – das kann ich zwar nicht aus eigener Kenntnis berichten, aber mein Freund A., der dort oft verkehrte, erzählte mir ab und zu, wie sonderbar es bei Hermi zu Hause zuging. Da sind wohl wirklich die Fetzen geflogen.
Eines Tages, es war schon fast am Ende unserer Schulzeit, sollten wir einen Aufsatz über unsere Hobbys schreiben. Viel kam dabei nicht heraus; waren wir doch eher damit beschäftigt Lehrstellen zu finden und die freie Zeit nutzten wir dazu auf den weiten Feldern und Weiden herumzustromern oder uns, ermattet vom Suchen nach Achaten, in der Kiesgrube heimlich dem Rauchen hinzugeben und dabei über die Beziehung zum anderen Geschlecht zu philosophieren. So wie vierzehnjährige Jungs nun mal sind. Nur die wenigsten betrieben ein wirkliches Hobby, die anderen dachten sich irgendetwas aus – Lesen, Wandern, Fußball oder Geige spielen und ähnliches.
Worüber Hermi schrieb, weiß ich heute nicht mehr; ich vermute, auch er hat sich irgendetwas ausgedacht. Aber dann; ich weiß nicht, ob ihn der Teufel geritten hat oder ob er einfach nur den Lehrer provozieren wollte, vielleicht hielt er es auch nur für eine gute Idee. Er fügte er dem Aufsatz einen weiteren Absatz hinzu. Noch heute kann ich die Anfangszeilen dieses Absatzes fast wörtlich wiedergeben. Diese lauteten: Ein anderes Hobby von mir ist Wüten und Wirken. Wenn die Hausaufgaben wieder einmal so richtig klappen, dann zerreiße ich die Seiten des Hefts, schmeiße den Füller gegen die Wand und zertrümmere das Tintenglas.
Was Hermi sonst noch zu diesem Thema eingefallen ist, nun das ist mir nur noch im Groben im Gedächtnis geblieben, es ging aber im gleichen Stil weiter. Mein Freund A. versicherte mir zum wiederholten Mal, es wäre eigentlich immer so bei Hermi zu Hause und das Ganze sei ein Tatsachenbericht.
Einige Tage später, nachdem der Lehrer unser Geschreibsel durchgesehen und benotet hatte, erschien dieser schon mit dem Rohrstock zum Unterricht. Wir ahnten nichts Gutes. Er knallte den Stapel Hefte auf den Tisch und ließ uns das Morgengebet sprechen. Dann zitierte er Hermi nach vorn und begann mit vor Wut sich überschlagender Stimme aus Hermis Aufsatz zu zitieren. Kaum hatte er damit geendet, zwang er Hermi sich über das Pult zu beugen und verdrosch ihn mit dem Rohrstock.
Soweit so gut, Hermi steckte das mit Gelassenheit weg und setzte sich mit etwas schmerzverzerrtem Grinsen auf seinen Platz. Der Rest der Schulstunde verlief für uns in gedrückter Stimmung, waren wir doch über das Vorgehen des Lehrers geschockt und auch empört.
Was mit dieser Erziehungsmaßnahme erreicht werden sollte, entzieht sich meiner Kenntnis, vielleicht wollte der Lehrer nur seine Macht demonstrieren. Das aber ging gründlich daneben. Hermis Ansehen stieg fast ins Unermessliche, während der Lehrer sozusagen sein Gesicht verloren hatte. Bis zu unserer Entlassung aus der Schule konnte Hermi es genießen, dass wir ihn fast wie einen Helden verehrten.
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