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Im Regal der Erinnerung befindet sich eine alte Holzplatte, deren Zweck nur den Eingeweihten bekannt sein dürfte. Ich habe Glück, dank meiner Großmutter gehöre ich zu den Eingeweihten. Es ist ein schön gestaltetes Stück Holz, mit eingefrästen Bildern. Ob eingefräst das richtige Wort ist, weiß ich nicht, aber im Moment fällt mir kein besseres Wort ein und handgeschnitzt ist das Werk nicht. Es sind vier unterschiedliche Bilder darauf. Eine Kirche, ein Vogel, eine Pflanze und ein Pilz, jeweils durch gefräste Linien eingerahmt. Die Platte war lange im Besitz meiner Mutter und lagerte dort in einer Schublade. Wie die Platte den Weg zu ihr gefunden hat, weiß ich nicht. Wo sie herstammt, ist mir aber bekannt. Die Platte stammt aus den Hinterlassenschaften der Mutter meines Vaters. Sie starb 1959 und ich hatte seitdem nie mehr etwas mit Platten dieser Art zu tun. Meine Großmutter war das, was ich heute meine schwäbischen Wurzeln nenne; stammte sie doch aus der Gegend von Ulm und genau das macht mich zu den Eingeweihten.
In das Regal der Erinnerung ist das Stück Holz vor etwa 30 Jahren gewandert. Damals verstarb meine Mutter und mir blieb die undankbare Aufgabe, ihre Wohnung aufzulösen. Seit dieser Zeit befinden sich einige der von ihr zusammengetragenen Gegenstände im Regal der Erinnerung. Kannen, Vasen, eine Kaffeemühle und natürlich der Fleischwolf.
Das Stück Holz kenne ich seit meiner Kindheit, da wurde es benutzt. Einmal im Jahr kam es zum Einsatz. Immer in der Adventszeit, an den Tagen, die der Weihnachtsbäckerei dienten. Es ist die Form für eine schwäbische Art der Weihnachtsplätzchen, und man nennt es Model. Das Model wird zur Herstellung der Springerle verwendet, einem quadratischen Anis-Gebäck mit einigen Besonderheiten. Der Name dieses aus Ahornholz gefertigten Küchenutensils wird eher mit Menschen in Verbindung gebracht, die uns mit kunstvollen, unnatürlich wirkenden Schritten die angeblich angesagten Modetrends der kommenden Saison auf einem Laufsteg präsentieren. Eine zufällige Namensgleichheit. Das Model hieß bereits Model, als Models noch Mannequins genannt wurden und auch bevor der Begriff Mannequin geläufig war, wurde dieses Ahornbrett so genannt.
Es wurden damals viele Weihnachtsplätzchen gebacken, denn meine Großmutter verfügte über eine große Schar Enkelinnen und Enkel. Ich zählte in dieser Schar zu den Großen, wenn man mich auch gerne den kleinen Bernd nannte. Ich empfand das als entwürdigend und legte mir zum Schutz einen Spruch zurecht: lieber heimlich schlau als unheimlich doof. Vielleicht stimmt das nicht so ganz, und ich habe diese Einstellung mir erst später zu eigen gemacht. Er ist und bleibt aber das Symbol beim Umgang mit einigen Personen meiner Herkunftsfamilie.
Aber zurück zum Thema! Die Enkelschar wuchs heran, die Oma wurde älter und die Zeiten hatten sich gebessert. Es gab ausreichend andere Süßigkeiten zu kaufen, die Tradition der Weihnachtsbäckerei wurde auf ein Minimum zurückgefahren. Einmal lebte sie noch auf, das war, als meine Tochter klein war. Die schwäbische Art des Weihnachtsgebäcks kam nicht mehr zum Zuge. Mir fehlte das Wissen, was dabei zu einem Teig vermengt wurde; und auch ein Model.
Aus Jahren wurden Jahrzehnte. Die Tochter wuchs heran und auch sie hatte das Interesse an Weihnachtsgebäck lange verloren, da kam es zu dem, was am Ende einer lebenslangen Liebe immer geschieht. Einer der Partner begibt sich auf den Weg in die Unendlichkeit. Bei mir war es die Liebe meines Lebens, die sich zu diesem Weg aufmachte. Ihr Herz stellte seinen Dienst ein und ich stand allein im Leben. Bei aller Erschütterung, das Leben geht weiter. Das klingt abgedroschen, es ist aber trotzdem so. Einige Tage versank ich in Trauer, dann wurde ich tätig. Ich belebte die Kontakte zur Nachbarschaft, wurde in einem Verein aktiv und reiste. Aber wie es gehen kann, spielte der Zufall mit und ich verliebte mich. Auch das soll vorkommen, gehörte aber nicht in meine Lebensplanung. Eine neue Liebe zu einer Frau im engeren Umfeld, das mag noch angehen, aber mich alten Mann ereilte die Liebe im hohen Norden Deutschlands. Schon bei den ersten Worten, die wir wechselten, war mir klar, aus dem Norden stammt diese Frau nicht. Genau, wie ich meinen rheinischen Tonfall weder verbergen noch ablegen kann und will, ist auch ihr Tonfall und auch manche Wortwahl nicht zu verkennen. Sie ist eingeborene Schwäbin.
Unser Leben normalisierte sich nach der Zeit des Kennenlernens. Und wir näherten uns bereits unserem zweiten Weihnachtsfest, als mich die Frage ereilte, ob wir nicht Weihnachtsplätzchen backen sollten. Ich stellte mich zuerst einmal taub, was mir schwerhörigem Träger von Hörgeräten nicht schwerfällt. Die Frage blieb aber nicht unbeantwortet, da meine Liebe zwar sehr sanftmütig, aber auch sehr hartnäckig ist. Also reagierte ich zuerst einmal zögerlich, mit einigen nichtssagenden Redewendungen. Meinst du? Was sollen wir mit all den Plätzchen? Oder auch: „Ich bin nicht für Süßes.“ Geholfen hat das alles nichts, sie ist eben hartnäckig. So saßen wir wieder einmal erzählend zusammen und wie üblich fiel mir wieder einmal die schwäbische Mundart auf. Da erinnerte ich mich an die Springerle und platzte ich mit der Frage heraus, „sollen wir vielleicht Springerle backen?“ Sie reagierte zuerst verdutzt, dann schlagfertig und antwortete, „wir haben kein Model.“ Diese Antwort konnte ich parieren. „Hast du denn noch nie einen Blick in mein Regal geworfen? Darin liegt ein Model“, gab ich zurück. Das Ergebnis unserer Diskussion war, ich setzte mich an den Computer und suchte ein Rezept für Springerle. Das war kein Problem, die Zutaten sind einfach aufzuzählen und bis auf das mir unbekannte Hirschhornsalz, allgemein gebräuchliche Backartikel. Was mir neu war, die Herstellung des Gebäcks benötigt mehr Zeit als die Arten von Plätzchen, die ich gebacken hatte.
Nachdem wir uns entschlossen hatten, dieses Gebäck herzustellen, stand aber zuerst einmal unser periodischer Standortwechsel an. Standortwechsel bedeutet, wir wechseln zwischen unseren Wohnungen. In diesem Fall, von mir zu ihr. Wir fuhren also morgens mit dem Auto gen Norden und waren guter Dinge. Nach der Hälfte unserer Reise fielen wohl meiner Liebe die Springerle ein.
„Hast Du an das Model gedacht?“ Fragte sie plötzlich und unerwartet.
Die Frage traf mich hart und meine Antwort war, „nein, ich habe sie vergessen.“
„Und was wird jetzt aus den Weihnachtsplätzchen?“
„Darüber denken wir nach, wenn wir angekommen sind. Wir können ein Model kaufen, wir können ein anderes Gebäck herstellen. Es wird uns schon etwas einfallen.“
„Gut, wir machen uns schlau und kaufen ein Model.“
Am nächsten Werktag machte ich mich an die erforderlichen Einkäufe. Mehl und Eier hatten wir vorrätig, Puderzucker, Anis und das geheimnisvolle Hirschhornsalz erstand ich im Supermarkt. Das Model war und blieb ein Problem, fast zwanzig Euro teuer, das wollte meine Liebe nicht einsehen. Da half auch nicht, dass etwas von Handwerkskunst erzählte. Genaugenommen, ich gebe es zu, sie war im Recht. Ich hatte aber trotzdem eine Idee für unseren ersten Versuch. Wo steht denn geschrieben, dass dieses Gebäck nur in der traditionellen Form gebacken werden kann? So suchte und fand ich in ihrem Keller Ausstecher für Weihnachtsplätzchen. Ich wählte einen Ausstecher in Herzform und fand danach, damit seien wir gut ausgerüstet.
Tags darauf machten wir uns an die Arbeit. Ich rief das Rezept für die Springerle auf dem Computer auf, ließ meine Liebe die Zutatenliste vorlesen, wog alles sorgfältig ab und schüttete die gesamten Zutaten in eine Schüssel. Ich bin zwar ein begeisterter Koch, aber leider ein minderbegabter Bäcker, denn als meine Liebe es bemerkte, schüttelte sie den Kopf und erklärte mir, dass die Zutaten nacheinander und in der richtigen Reihenfolge in die Schüssel zu geben seien. Zu spät! Ich scherte mich nicht weiter darum und versuchte durch Rühren eine homogene Teigmasse herzustellen. Als das misslang, kam ich auf die verrückte Idee, den Teig mittels Pürierstab zu homogenisieren. Das war, ich sah es zu spät ein, absoluter Unsinn und führte nur dazu, dass ich den Pürierstab zerstörte. Er gab qualmend den Geist auf. Daraus ergab sich eine kleine Pause, die ich zum Bestellen eines neuen Pürierstabs und zum Nachdenken nutzte. Stärkeres Gerät musste her, ich warf die Teigmasse in den Thermomix, im Vertrauen darauf, dass dieses als unverwüstlich geltende Gerät dem Teig zur richtigen Konsistenz verhelfen würde. Ich will nicht lange herumschreiben. Nach wenigen Augenblicken merkte ich, dass auch dieses Gerät überfordert war. Glücklicherweise reagierte ich in diesem Fall schnell. So blieb es mir erspart, für den Ersatz dieser teuren Maschine sorgen zu müssen. Ich beendete gezwungenermaßen meine maschinellen Experimente und behandelte den Teig mit den Händen, das dauerte, war aber am Ende von Erfolg gekrönt. Es gelang mir, am Ende einen homogenen Teig herzustellen. Wir machten uns an das Ausrollen des Teiges, stachen die Herzchen aus und platzierten die Teiglinge, wie im Rezept beschrieben, auf einem Tuch. Damit war unsere Arbeit vorerst beendet, einmal abgesehen von den erforderlichen Reinigungsarbeiten.
Den Tag ließen wir mit den gewohnten Tätigkeiten ausklingen oder auch mit untätigem Sitzen auf der Couch, voller Spannung darauf, was nach Ablauf eines Tages aus den Rohlingen werden würde. Am Tag darauf eile ich in die Küche und besorgt, wie ich war, schaute ich noch vor dem Frühstück nach unserem vorgefertigten Gebäck. Genau wie im Rezept beschrieben, trocknete die Oberfläche. Das ist wichtig, aber davon später. Die Mindestruhezeit liegt laut Rezept bei einem Tag, so hatten wir also reichlich Zeit bis zum späten Nachmittag. Trotzdem schauten wir immer wieder nach den Teiglingen. Am späten Nachmittag waren wir überzeugt davon, dass die Oberflächen ausreichend trocken waren; und so machten wir uns daran, das Backen vorzubereiten. Wir waren beide etwas aufgeregt und verfuhren, gewarnt von unserer unguten Erfahrung vom Vortag, genau nach Rezept, beschlossen aber zuerst eine kleinere Menge zu backen. So legten wir Backpapier auf ein Kuchenblech, bestreuten dieses mit Anis, drückten die Teiglinge auf ein feuchtes Tuch, legten sie auf das Blech und schoben das Blech in den vorgeheizten Backofen. Gespannt erwarteten wir das Ergebnis des Backens, immer wieder schauten wir durch das Sichtfenster des Backofens. Viel zu erkennen war dabei nicht, so verließen wir uns auf das Rezept. Nach einer halben Stunde nahmen wir die Plätzchen aus dem Rohr und siehe da, die Oberfläche war leicht gebräunt und es hatten sich schöne Füßchen gebildet – das ist das Geheimnis der Springerle, sie benötigen Füßchen. An diesem Abend wurden zwei weitere Bleche mit Plätzchen fertiggestellt. Dabei wischen wir in einem Punkt vom Rezept ab. Das Bestreuen des Backpapiers mit Anis erschien uns unsinnig, die Anis-Körner hafteten hervorragend an den Teiglingen, nachdem diese auf das feuchte Tuch gedrückt worden waren. Wir sind eben sparsame Menschen und das Ergebnis des Backens gab uns recht, die Springerle waren trotz ihrer unkonventionellen Form gut gelungen. Wir hatten uns an die Mengenangaben des Rezepts gehalten. Somit hatten wir mehr Plätzchen, als es gesundheitlich zuträglich war. Ein Problem war das nicht, Freunde und Nachbarn übernahmen gerne unseren Überschuss.
Was uns insgeheim wurmte, war, dass wir die Springerle nicht originalgetreu hergestellt hatten. Es sollte sich jedoch bald eine Gelegenheit ergeben. Ein wichtiger Termin in meiner Heimat zwang mich, für ein paar Tage nach Hause zu fahren. Da ich allein reiste, zog ich es vor, mit der Eisenbahn zu fahren. Gemütlich zurückgelehnt im Zug sitzend, machte ich mir einige Gedanken über das Programm der nächsten Tage. Ich kam aber nicht zu neuen Erkenntnissen, alles, was zu erledigen war, war geplant. So schweiften meine Gedanken ab und landeten bei der Weihnachtsbäckerei. Der Kummer über das vergessene Model saß wie ein Stachel in meinem Fleisch. Mir kam die kühne Idee, die Weihnachtsbäckerei noch einmal in unser Programm aufzunehmen. Bis ich zu Hause ankam, hatte ich mich richtig für die Idee begeistert und meine erste Tätigkeit nach der Ankunft war, das Model in meinem kleinen Reisekoffer zu deponieren. In den Folgetagen arbeitete ich meine Termine ab, verschenkte fleißig weitere Springerle an meine Nachbarn und genoss deren Bewunderung für unsere Backkunst.
Es war ein Wochenende Anfang Dezember, an dem ich die Rückfahrt antrat – das Model im Gepäck. Ich genoss die sonntägliche Ruhe, den Plan, Springerle zu backen, hatte ich dabei fest im Blick.
Am Montag wurden umgehend die Zutaten besorgt. Hirschhornsalz, Anis und Weizenmehl waren noch ausreichend vorhanden, es verblieben also Eier und Puderzucker auf dem Einkaufszettel. Noch am Nachmittag bereiteten wir den Teig zu, genau nach den Vorgaben des Rezepts. Zuerst die Eier schaumig schlagen, dann unter weiterem Rühren den Puderzucker hinzugeben und zum Schluss das Mehl unterrühren und den Teig für 2 Stunden in den Kühlschrank geben. Der Rest des Backens verlief wie gehabt, nur mit dem Unterschied, dass jetzt das Model auf den ausgerollten Teig gedrückt wurde. Es entstanden wie vorhergesehen fast quadratische Bilder auf dem Teig. Entlang der begrenzenden Linien schnitten wir die einzelnen Bilder zu Plätzchen zurecht, der Trockenvorgang konnte beginnen.
Tags darauf warteten wir fieberhaft auf das Ende des Trockenvorgangs. Schon vor dem Backen sahen die Teiglinge wie fertige Springerle aus. Es gab keinerlei Probleme mehr, Backblech auf Backblech wanderte in das Rohr und nach rund 30 Minuten entnahmen wir jeweils ein Blech Springerle dem Ofen. Der Berg fertiggestellter Plätzchen war wieder zu groß für unseren Eigenverbrauch. So begann das Verschenken aufs Neue. Kurz vor Weihnachten wechselten wir noch einmal die Wohnung, so kamen auch meine Nachbarn und Freunde zu originalen Springerle. Für uns blieben gerade so viele Plätzchen übrig, dass es über die Weihnachtstage reichte.
Sollte unser Schicksal es wollen, werden wir wohl auch bei der nächsten Weihnachtsbäckerei mit der Herstellung der Anisplätzchen beschäftigt sein. Sollte meine geneigte Leserschaft Interesse an den Anisplätzchen haben, kann ich versichern, dass das Gebäck einfacher herzustellen ist, als es sich anhört. Unter folgendem Link ist das Originalrezept zu finden:
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