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Kapitel: | 54 | |
Sätze: | 9.540 | |
Wörter: | 114.776 | |
Zeichen: | 685.302 |
Die warme Frühlingssonne senkte sich auf die Mauern, Türme und Zinnen Hogwarts hinab, fuhr mit ihren leuchtenden Fingern um die Erker, Türen und Fensterbögen und ließ ihre Wärme durch Mauerritzen und Glasfronten sickern. Harry blinzelte im staubgetränkten Sonnenlicht, das durch die alten Schlossfenster fiel. Der Raum war leer. Nur hier und da miaute eines der viel zu niedlichen Kätzchen auf den viel zu pinken Porzellantellern an der Wand. Das Krachen, Zischen und Gejohle auf den Gängen drang nur noch als gedämpfter Schall ins Zimmer. Harry musste sich beeilen. Fred und George hatten ihm ein Ablenkungsmanöver für gerade einmal zwanzig Minuten versprochen. Viel zu wenig Zeit für so vieles, was ihm durch den Kopf ging.„Dummköpfe, die stolz das Herz auf der Zunge tragen, die ihre Gefühle nicht beherrschen können, die in traurigen Erinnerungen schwelgen und sich damit leicht provozieren lassen – Schwächlinge mit anderen Worten – sie haben keine Chance gegen seine Kräfte!“
(Severus Snape in J.K. Rowling, Harry Potter und der Orden des Phönix, S. 630 )
„Hey, du Schlafmütze, aufwachen!“
Es war Freds Stimme, die Harry zwei Biegungen von Umbridges Tür entfernt aus seinen Gedanken riss. Für einen Augenblick kam es ihm so vor, als wäre er aus der Ruhe einer Kapelle direkt hinaus in den Trubel eines Jahrmarkts getreten. Denn plötzlich schlug Lärm von Krachern und Knallern entgegen. Harry schaute sich um, blickte den Flur hinab, konnte aber nur einen Aufruhr an nicht-rothaarigen Schülern erkennen, der von einem wildgewordenen rosa Rhinozeros angeführt wurde.
„Okay, wer war das! Ich verlange eine Erklärung. Inquisitionskommando!“, schnaubte das Rhinozeros, während es direkt auf Harry zu trampelte.
Ein „Nicht dort, hier drüben!“ in einer anderen Stimme mischte sich hinzu. Und ehe Harry sich versah, packte ihn eine Hand und zog ihn blitzschnell hinter einen Wandvorhang.
Als ein Lichtstrahl durch den Schlitz fiel, erkannte er die Gesichter der Zwillinge und Ginnys, die sich neben einer verborgenen Statue eng an die Mauer drückten. Benommen blinzelte Harry sie an, so schnell war alles gegangen.
„Wie…?“, fragte er leise, doch hielt inne.
George hatte gerade den Finger an seine Lippen gelegt.
„Psst… du verpasst sonst noch das Beste!“
Er und Fred grinsten, während sie durch den Schlitz den Flur hinab spähten. Eine Sekunde später wusste Harry warum. Umbridge rauschte, wutschnaubend und völlig durchnässt an ihnen vorüber. Ihr Kleid bekleckert von glibbrigem Schleim, der ihr von den Haaren tropfte. Ihr auf den Füßen: halb Hogwarts – Ravenclaws, Hufflepuffs, Gryffindors, die johlten und brüllten, schallend lachten. Und über ihrem Kopf: Peeves, der einen Salz- und einen Pfefferstreuer schüttelte und dabei fröhlich ein Liedchen anstimmte:
„Krötenomelette gibt es heut‘
Die Umbridge kocht für alle Leut‘
Ihr Kopf, der glüht - bald ist er gar
Mit Salz und Pfeffer wunderbar
Doch ach wie schade, keiner frisst
Weil Umbridge ungenießbar ist“
Harry, die Zwillinge, Ginny – sie alle hielten mucksmäuschenstill und drückten sich noch enger an die Wand, bis der seltsame Zug sie passiert hatte und nur von Ferne noch ein „Krötenomelette gibt es heut‘‘“ zu hören war. Dann brachen die Zwillinge lachend zusammen.
„Hast du ihr Gesicht gesehen, George?“
„Aber klar doch, Bruderherz“
„Und, was meinst du?“
„Unverkennbar Grindeloh“
„Ganz genau!... He, was ist denn mit dir los?“
Fred hatte den Kopf gewandt und schaute nun zu Harry hoch, der noch immer ernst und stumm an die Wand gelehnt stand. „Du siehst ja aus wie drei Tage Regenwetter. Hat’s dir nicht gefallen?“
„Du weißt, dass wir das alles natürlich nur für dich gemacht haben. Da schuldest du uns schon ein Lachen“, ergänzte George, der dem Blick seines Bruders gefolgt war.
„Nein, das war echt gut“, antwortete Harry zögerlich. Was sollte er nur sagen? Seine Gedanken waren noch immer in Umbridges Büro. „Ich bin nur etwas… etwas müde. Erster Schultag nach den Ferien…“
„Klar Mann, verstehen wir voll“, feixte Fred und reckte seinen Kopf wieder zum Schlitz.
„Die Abhilfe ist schon in Entwicklung.“, erklärte George, „Hallo-Wach-Drops. Genieß den Schlaf im Unterricht, doch wach auf, wenn‘s brenzlich ist. Für dich als unseren Sponsor natürlich zum Sonder-“
George verstummte. Fred hatte ihn plötzlich in Seite geknufft. Harry lauschte. Auf dem Gang war wieder Stimmengewirr zu hören, doch es hörte sich anders an als gerade eben. Die Schaulustigen kehrten offenbar zurück. Über Georges Lippen zog sich ein breites Grinsen.
„Du entschuldigst, Harry, ich fürchte die Geschäfte rufen“
Und mit einem Satz sprang er Fred hinterher, der bereits verschwunden war.
„Ladies and Gentleman. Wir präsentierten Ihnen Weasleys wunderschöne Wasserschleimbomben. Jetzt zum Einführungspreis von nur einem Knut“
Harry konnte sie auf dem Flur skandieren hören, bis ihre Stimmen schwächer wurden.
Dann wandte er sich Ginny zu, die bis jetzt keinen Ton gesagt hatte.
„Wie ist es gelaufen?“
„Ganz gut würde ich sagen“
„Keine Slytherins?“
„Nicht als es losging. Ein paar sind uns auf dem Hinweg entgegenkommen, aber rechtzeitig abgebogen.“
„Und Umbridge, hat sie sie denn nicht erwischt?“
„Nein“, Ginny machte eine Gedankenpause, „Naja, es war sehr knapp. Sie haben sich die ganze Zeit versteckt. Aber einmal hätte sie fast was gemerkt. Zum Glück tauchte da gerade Peeves auf, der sich eine der Schleimbomben gemopst hatte und Umbridge hat sofort gedacht, er stecke dahinter. Und naja, du hast es ja gesehen.“
Harry nickte stumm.
„Ich muss los, Luna wartet auf mich“, verabschiedete sich Ginny
Ehe Harry sich zum Gryffindorturm aufmachte, blieb er noch einmal stehen und schaute sich um. Er war alleine. Der Schülerzug war verschwunden und der Flur lag in stummer Menschenleere vor ihm. Rüstungen und Statuen warfen Schatten auf die Dielen und ein leichtes Frösteln trieb Harry die Gänsehaut den Rücken hinab. Die Begegnung mit Snape stand ihm jetzt ohne Ablenkung vor Augen und er musste zurückdenken an den letzten Blick, den ihm der Tränkemeister hinterhergeschickt hatte. Eine dumpfe, schauderhafte Ahnung sagte Harry, dass er diesen Blick nicht zum letzten Mal gesehen hatte…
Er sollte Recht behalten.
Auf den Korridoren der Schule begegneten sie Harry in den nächsten Tagen immer und immer wieder – die schwarzen Augen Severus Snapes, die ihn seit der Sache in Umbridges Büro unablässig zu mustern schienen, wenn Harry und der Tränkemeister sich wieder einmal über den Weg liefen. Kein einziges Wort über die Vorkommnisse verließ Snapes Lippen. Es schien, als läge der Mantel eines unsicheren Schweigens zwischen ihnen. Nur seine Blicke folgten Harry durch die Gänge wie er es vorausgesehen hatte. Prüfende, skeptische, ungläubige Blicke. Blicke wie in Umbridges Büro.
Auch seinen Freunden fiel bald auf, dass etwas Merkwürdiges vor sich ging, obwohl Harry mit ihnen noch kaum über das Gespräch mit Sirius und Remus gesprochen hatte.
„Was ist los, warum schaut dir Snape so hinterher?“, flüsterte Hermine ihm am Mittwochabend auf dem Weg zur Großen Halle zu, als der Tränkemeister sie gerade passiert hatte.
Doch Harry wich aus. Er wollte seinen Freunden nichts von der Begegnung in Umbridges Büro erzählen. Zu oft hatte er Snapes Geheimnisse nicht für sich behalten und es hatte nie ein gutes Ende genommen.
Es war in dieser Nacht, als sich Harry wie schon so oft unruhig im Schlaf hin und her warf. Wieder und wieder hatte er denselben, alten Traum, den er inzwischen so gut kannte. Der dunkle Korridor, die Türe. Eine endlose Wiederholung, quälend. Als am frühen Morgen die Augen aufschlug fühlte er sich, als hätte er wochenlang nicht geschlafen und seine Narbe schmerzte. Doch er konnte nichts dagegen tun. Ihm fehlte die Okklumentik, auch wenn er noch immer nicht verstand, was an seinen Visionen so schlimm war. Außer den Schmerzen, die ihn aus dem Schlaf rissen. Doch das war das kleinere Übel im Vergleich zu Arthur Weasleys Tod. In dieser Nacht allerdings waren es nicht nur seine Träume, die stärker zu werden schienen, die Harry den Schlaf raubten. Als Harry die Augen schloss, fand er keine Ruhe. Snape ging ihm durch den Kopf, Snape.
Heute stand der Zaubertrankunterricht auf Harrys Stundenplan. Und das bedeutete, er würde ihm in wenigen Stunden wieder gegenüberstehen. Nicht, dass Harry die Zaubertrankstunden jemals gemocht hätte. Doch die Ereignisse der letzten Tage warfen so viele Fragen auf. Noch immer konnte Harry den Tränkemeister nicht einschätzen, noch immer wusste er nicht, was dieser über das Gespräch dachte, das Harry belauscht hatte. Und diese Ungewissheit ließ Harry dem Unterricht in den Kerkern noch weniger glücklich entgegensehen als sonst.
Eigentlich war es lächerlich, sich Sorgen zu machen, dachte Harry und warf die Decke beiseite, nachdem er wohl eine Stunde wachgelegen war. Hatte er Snape nicht vor Sirius und Lupin in Schutz genommen? Hatte er nicht gesagt, dass er sich für seinen Vater schämte? Dass er verstehen konnte, wie Snape sich fühlen musste? Eigentlich musste sein Lehrer doch gehört haben, auf welcher Seite Harry stand, wenn er das Gespräch belauscht hatte. Und doch – Harry hatte Angst vor dieser Begegnung. Die Tatsache, dass er abermals sein Wort gebrochen hatte, wog vielleicht schwerer als alles andere.
Harry musste an den Tag zurückdenken, an dem er seinen Kopf ins Denkarium gesteckt hatte. Ja, er hatte einen Fehler gemacht. Aber Snape hatte ihm nicht einmal die Chance gelassen, zu erklären, dass er keineswegs begeistert vom Verhalten seines Vaters gewesen war. Woher sollte Harry wissen, ob Snape die Situation in Umbridges Büro nicht ebenso falsch einschätzen würde? Er wusste ja noch nicht einmal, wie viel ihres Gesprächs Snape belauscht hatte. Vielleicht hatte er gerade einmal so viel mitbekommen, um zu wissen, dass Harry sein Geheimnis ausgeplaudert hatte? Und wenn er wirklich alles mitbekommen haben sollte – könnte es vielleicht sein, dass… dass es ihm völlig egal war? dass für ihn nur zählte, dass Harry Sirius und Lupin von der Sache erzählt hatte? Immerhin, seine Mutter, die Snape damals auch in Schutz genommen hatte, die hatte er als Schlammblut beschimpft! Was, wenn es Harry genauso ergehen würde? Wenn Snapes Antwort auf sein Mitleid Wut sein würde? Das Schweigen des Tränkemeisters, die prüfenden Blicke, die Harry seit Tagen verfolgten, machten die Sache nicht besser. Noch immer hatte Harry keine Ahnung, was Snape im Schilde führte. Vielleicht wartete er ja nur auf eine günstige Gelegenheit.
Harry stieg aus dem Bett und begann sich fertig zu machen. Zu gerne wäre er in die Kerker hinabgestiegen und hätte sich bei Snape entschuldigt, doch seine Angst vor seinem Lehrer war inzwischen zu groß, um auch nur einen Schritt auf ihn zuzugehen. Mit einem unguten Gefühl im Magen folgte Harry Stunden später Ron, Hermine und Neville die Treppen zum Zaubertrankklassenzimmer hinab.
Die Unterrichtsstunde ging ohne größere Zwischenfälle vorüber. Snape schien Harry nicht mehr und nicht weniger zu beachten als sonst. Nur die schwarzen Augen blickten ihn heute ein wenig häufiger und eindringlicher an als gewöhnlich. Harry bemühte sich unter dieser scharfen Beobachtung, Snape keine Gelegenheiten zu bieten, seine Gemeinheiten an ihm auszulassen. Er arbeitete hochkonzentriert und schaffte es tatsächlich, einen einwandfreien Zaubertrank zu brauen.
Am Ende der Stunde schritt der Tränkemeister nur wortlos an Harrys Kessel vorüber, anstatt ihn wie üblich vor der gesamten Klasse vorzuführen. Doch was Harry eigentlich hätte beruhigen sollen, verunsicherte ihn noch viel mehr. Böse Worte, zynische Sprüche, ein hämisches Grinsen – daran war er bei Snape gewöhnt und damit konnte er umgehen. Doch sein Schweigen, sein undurchsichtiges Schweigen, machte Harry nervös. Er hatte diese Ignoranz schon einmal kennengelernt und damals, kurz nach der Sache mit dem Denkarium, hatte sie nichts Gutes bedeutet.
Und doch gab es diesmal einen entscheidenden Unterschied: Snape schien Harry heute ganz genau zu beobachten. Als er und seine Freunde in die Kerker hinausströmten, hatte Harry noch immer das Gefühl, dass Snapes Augen auf ihm ruhten. Und dieses Gefühl sollte ihn auch in den nächsten Tagen nicht loslassen.
„Ah, Miss Granger, wie ich sehe, versuchen Sie, Ihren kleinen Freunden die Grundlagen des Zaubertrankbrauens näher zu bringen“
Die kühle Stimme erklang und direkt hinter Hermines Rücken, als diese über ein Lexikon gebeugt Rons Hausaufgaben korrigierte. Über den Stapel Bücher auf dem Tisch hinweg konnte Harry das Gesicht des Tränkemeisters direkt neben ihr im trüben Lampenlicht auftauchen sehen. Neville zu ihrer Rechten lief kreidebleich an.
„Geben Sie sich bloß nicht zu viel Mühe“, fuhr Snape fort, „Bei diesen drei Herren dürfte das pure Zeitverschwendung sein. Außerdem wäre es mir lieber, wenn Mr. Weasley sich bemüßigt fühlen würde, für seine Hausaufgaben selbst mal seine Nase in ein Buch zu stecken.“
Mit einem strengen Seitenblick auf Ron zog Snape an den Vieren vorüber bis zur nächsten Regalreihe. Dort wandte er sich noch einmal um.
„Achja und was Verteidigung gegen die dunklen Künste betrifft, Miss Granger, rate ich Ihnen dringend, ein anderes Buch zu lesen, als das, welches sie vor einer Viertelstunde aus dem Regal gezogen haben. Lightfold war ein ebenso ekelhafter Dilettant wie Lockhart. Es hieß, er sei an Herzstillstand gestorben, weil er sich von einem Irrwicht zu Tode hat erschrecken lassen. Eigentlich sollte man ja meinen, bei Ihrer Vorliebe, Bücher auswendig zu lernen, würden Sie sich ein wenig besser auskennen. Versuchen Sie es mit Treehouse, falls Ihnen Ihr Leben lieb ist. Einen schönen Tag.“
Verärgert schlug Hermine das Lexikon zu und warf es mit einem strengen Blick, den sie dem Tränkemeister hinterherschickte, auf den Bücherstapel in der Mitte des Tisches.
„Muss Snape eigentlich überall auftauchen, wo wir sind ?“, raunte sie Ron zu. „Das ist doch gruselig!“
„Er hat uns doch früher auch schon verfolgt, Hermine“, antwortete Ron ungerührt.
„Aber nicht so“, flüstere Hermine und ließ die schwarze, hagere Gestalt nicht aus den Augen, bis diese hinter einem der Bücherregale verschwunden war.
„Sie hat Recht“, sagte Harry, ohne aufzublicken.
Seit der Sache in Umbridges Büro schien Snape ihn und seine Freunde mehr zu verfolgen als jemals zuvor. Hatte Harry seinen Zaubertranklehrer schon immer gehasst, so war er ihm nun richtig unheimlich geworden. Kaum einen Schritt konnten sie in der letzten Woche in Hogwarts gehen, ohne dass die fledermausartige Gestalt vor ihnen, hinter ihnen oder irgendwo zu ihrer Seite hin auftauchgetaucht war. Egal ob in der Bibliothek, vor dem Gryffindor-Turm, auf dem Weg zu den Gewächshäusern oder zu Hagrid: Snape war immer in der Nähe. Selbst jetzt, am späten Samstagabend, als sie nichts anderes taten, als zu lernen und ihre Hausaufgaben zu machen, konnte er sich sie nicht in Ruhe lassen. Manches Mal kam er Harry wie ein schwarzes Tier vor, das in einer dunklen Ecke auf seine Beute lauerte, auf ihn. Fast schien es so, als würde Snape seine gesamte freie Zeit darauf verwenden, sie zu observieren.
Harry wusste nicht, was er davon halten sollte. So wenig er Snapes Miene an jenem Tag in Umbridges Büro zu deuten wusste, so undurchsichtig erschien ihm auch jetzt sein Verhalten. Nur eines konnte er mit Gewissheit sagen: Snapes kalte schwarze Augen durchdrangen ihn jedes Mal, wenn der Tränkemeister in seiner Nähe auftauchte. Sie schienen seinen Geist zu durchforsten und Harry wagte es nicht, Ron und Hermine auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen.
„Komisch, dass Snape das vergessen hat“, sagte Neville plötzlich.
„Was meinst du?“, fragte Ron leise.
„Na das mit den Punkten. Er hat euch keine Punkte abgezogen wegen der Hausaufgaben“
Am Tisch wurde es augenblicklich still. Nur in der Ferne fiel die Bibliothekstüre mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss.
„Ein Versehen“, sagte Hermine leise, doch in ihrer Stimme lag ein Hauch von Verwunderung.
Es war am Montag, als Ron, Hermine, Harry und Neville vor der Klassenzimmertüre in den Kerkern auf ihren Lehrer warteten. Die Slytherins schienen an diesem Tag wie so oft auf Ärger aus zu sein. Noch auf Treppe konnten die Vier den Chor, bestehend aus Crabbe, Golye, Draco Malfoy und Pansy Parkinson, hören, der sie mit einem lauten „Weasley ist unser King“ begrüßte. Am Vorabend hatte Gryffindor fürs Quidditch trainiert und die Vier waren natürlich als ungebetene Gäste im Stadion erschienen. Ron begann schon auf der letzten Treppenstufe nervös zu werden.
„Hör einfach nicht hin“, flüsterte Hermine ihm zu. Doch das war leichter gesagt als getan. Das Gegröle der Slytherins konnte niemand überhören.
„Hey Weasley, haste nen Irrwicht gesehen… sieht bei dir bestimmt aus wie ein Quaffel… uh ich hab ja solche Angst“, höhnte Draco Malfoy unter dem Gelächter seiner Freunde, als Ron, Hermine, Neville und Harry endlich die Klassenzimmertüre erreichten. Rons Gesicht nahm einen blassen Rotton an. An sein Lampenfieber beim Spiel erinnert zu werden, musste für ihn fast so schlimm sein, wie es gerade zu erleben.
„Uh, seht euch den mal an, sieht aus wie `ne Tomate. Zu spielen wie ein kleines Mädchen reicht dir wohl nicht, was Weasley. Musst auch noch wie eines aussehen.“
„Das reicht!“, rief Harry, „Lass ihn sofort in Ruhe.“
„Uh… jetzt hab ich aber Angst. Der berühmte Potter droht mir…uhhh. Dabei hat der ja noch nicht mal einen Besen, den hat Umbridge weggesperrt. Kannst dir ja `nen Neuen von dem Weasley schenken lassen, Potter. Ach ne, ich vergaß, die Weasley leben ja in nem Müllhaufen, da gibt’s keine Besen, sondern nur Stöcke mit ein bisschen Stroh dran.“
„Wenigstens muss er niemanden mit Geld bestechen, sein Freund zu sein“, keifte Harry und trat zwei Schritte vor. Draco und zog seinen Zauberstab.
„Ich warn dich Potter, ich kann Flüche, von denen du nicht mal träumst!“
„Oh das glaub ich dir aufs Wort, bei den Leuten, für die dein Vater arbeitet!“
Und Harry zückte ebenfalls den Zauberstab.
Ron stand augenblicklich neben ihm.
„Jungs, hört sofort auf, ihr macht alles nur noch schlimmer!“, rief Hermine.
„Halt dich da raus, Schlammblut!“, blaffte Draco sie an.
„Wie hast du mich gerade genannt?“, keifte Hermine zurück und ging schnurstracks auf Draco zu.
„Schlammblut! Kleines dreckiges Schlammblut!“, spie Draco sie an.
Hermine wollte gerade noch etwas sagen, doch in diesem Moment sprang bereits die Klassenzimmertüre auf.
„Es tut mir ja sehr leid, Ihre kleine Unterhaltung stören zu müssen, aber wir haben Unterricht. Weasley, Potter, Granger, packen Sie Ihre Zauberstäbe weg. Zehn Punkte Abzug für jeden von Ihnen. Sie auch, Malfoy. Ich schätze es gar nicht, wenn Kinder vor meiner Türe Flüche aufeinander jagen. Tun Sie das vor Professor McGonagalls Büro, dann muss ich mich nicht drum kümmern. Rein jetzt!“, rief Snape.
Wortlos ließen sich Ron, Hermine, Harry und Neville an ihren Tischen möglichst weit von den Slytherins entfernt nieder. Der Kerkerraum war bald von Rauchschwaden erfüllt. Überall brodelten die Kessel mit dem Stärkungstrank, der heute fertig werden sollte. Harry und seine Freunde versuchten die Slytherin so gut es ging zu ignorieren. Und doch ließen Draco und seine Clique ihnen keine Ruhe. In einem Augenblick, als Snape ihnen den Rücken zudrehte, ließen sie Papierkugeln auf die andere Seite des Klassenraums fliegen, die Nevilles Kessel gerade um ein Haar verfehlten. Und das blieb nicht die einzige Attacke an diesem Tag.
Harry wusste nicht, wie er es unter diesen Umständen geschafft hatte, doch am Ende der Stunde hatte der Sud in seinem Kessel in etwa die Farbe und den Geruch angenommen, die er laut Snape haben sollte. In der feuchtwarmen Luft zog Harry den Korken von einem Glasfläschchen und füllte eine Schöpfkelle des rotschimmernden Suds für Snape ab. Ein ungutes Gefühl überkam ihn, als er an den Tischen vorbei in den Gang trat. Snape saß mit Seamus‘ Trank beschäftigt über seinem Schreibtisch gebeugt und konnte Harry nicht sehen. Draco Malfoy hingegen ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Auf seinen Lippen lag ein merkwürdiges Lächeln und Pansy Parkinson, Vincent Crabbe und Gregory Goyle tuschelten leise.
Zu spät erkannte Harry, dass alle vier ihre Zauberstäbe unter dem Tisch versteckt hatten. Er hörte gerade noch eine Mädchenstimme einen Spruch flüstern, da fielen Harry auch schon die Scherben seines Zaubertrankfläschchens klirrend aus der Hand. Der rote Sud verteilte sich über den gesamten Boden. Nur in der größten Scherbe sammelten sich noch einige Tropfen, so viel wie auf einen Teelöffel passte. Die Slytherins brachen sofort in Gegröle aus und Harry spürte, wie sein Magen sich zusammenzog.
„Lassen Sie den Unsinn, Malfoy“, zerschnitt eine kühle Stimme plötzlich Dracos höhnisches Lachen.
Ohne Aufzusehen richtete Snape seinen Zauberstab auf die Pfütze am Boden und murmelte teilnahmslos „Reparo“. Der kleine Flakon fügte sich wieder zusammen mit dem Rest des schimmernden Zaubertranks darin. Harry tauschte mit Ron einen verwunderten Blick aus. Noch nie hatte er es erlebt, dass Snape eine Gelegenheit ausließ, die Stichelleien der Slytherins wohlwissend zu ignorieren oder sie mit einem hämischen Grinsen zu ermuntern. Dass er nun tatsächlich ihre Untaten rückgängig machte, ließ Harry an dessen Gesundheit zweifeln.
„Bringen Sie sie her!“, rief Snape knapp.
Schnell schnappte sich Harry das Fläschchen und trat durch die Reihen der völlig ungläubig blickenden Slytherins vor das Pult. Snapes Miene war unentschlüsselbar, als er die Flüssigkeit einer kränkelnden Ratte einflößte, die sofort auf die Beine kam und schnell über den Tisch huschte.
„Ich sage es nur ungern, Potter“, durchbrach Snapes Stimme die angespannte Stille, „Doch dieses Mal scheinen Sie großes Glück gehabt zu haben. A nach ZAG-Standard. Ich hoffe nur, Ihre kleine Freundin Miss Granger hatte nicht Ihre Finger im Spiel, sonst werde ich Ihnen Punkte für unkorrektes Arbeiten abziehen müssen. Und nun raus hier, ich habe nicht ewig Zeit!“
Für einen Moment starrte Harry Snape an, der das Tier wieder einfing, ehe es sich in seinem Vorratsschrank gemütlich machte, dann wandte er sich um, raffte seine Sachen zusammen und ging. Als er durch die Türe schritt, hatte er wieder einmal das Gefühl, dass ihm Snapes Blicke folgten.
„Was war denn heute mit dem los?“, fragte Ron erstaunt, als er, Harry und Hermine sich auf den Weg zur großen Halle machten, „Seit wann ist Snape fair zu dir?“.
„Keine Ahnung“, sagte Harry.
„Das hat nichts mit Fairness zu tun“, mischte sich Hermine ein, „würdet ihr beide mal etwas mehr für den Unterricht lernen, würdet ihr auch bei Snape besser abschneiden“.
„Machst du Witze, Hermine?“, unterbrach sie Ron, „Der hasst Harry doch. Mich hät’s nicht gewundert, wenn der Slytherin noch Punkte wegen der Parkinson gegeben hätte.“
Hermine öffnete die Lippen, um etwas zu sagen, schloss sie aber wieder wortlos.
„Ron hat Recht. Das war schon merkwürdig“, murmelte Harry leise, während der Lärm um sie herum ihr Gespräch untergehen ließ. Gedankenverloren folgte er seinen Freunden durch die Gänge.
Es war eine Lüge! Es war eine einzige Lüge! Harry hätte es wissen müssen. Snape war ein Ekel und er würde sich nie ändern. Das hatte er auf dem Flur mit Luna bewiesen. Was immer in den Wochen zuvor auch geschehen sein mochte, war nicht mehr gewesen als ein kurzes Aufflackern von Frieden. Vielleicht wirklich nur ein halbherziger Versuch, sich für Harrys Mitleid zu revanchieren, um ihn weiterhin ungestört hassen zu können.
Wie hatte Harry nur so blind sein können? Dumbledore hatte ihm doch erzählt, was Snape getan hatte, nachdem sein Vater Snape davor bewahrt hatte, Lupin zur Heulenden Hütte zu folgen. Und er hatte in den Erinnerungen selbst gesehen, wie Snape seine Mutter behandelt hatte, die ihm nur helfen wollte. Wie konnte Harry so dumm sein zu glauben, Snape könne ihm, nach dem, was er gehört hatte, verzeihen, ins Denkarium geschaut zu haben?
Gedankenverloren blickte Harry auf die vollgeschriebene Tafel vor sich, dann gähnte er. Jetzt war der Unterricht bei Umbridge so unerträglich langweilig geworden, dass er sogar schon über Snape nachdachte. Snape, den er gerade eine weitere Zaubertrankstunde lang hatte ertragen müssen, auch wenn nichts Schlimmes vorgefallen war. Aber gestrige Vorfall saß Harry noch immer im Nacken. Oh, es wurde Zeit, dass endlich wieder etwas Aufregendes passierte, das ihn von Snape ablenken würde.
Am Freitag schlug Harry vor, zumindest einmal wieder hinab zu Hagrids Hütte zu laufen. So viel Stunden hatten Ron, Hermine und er in den mit dem Lernen für ihre ZAG-Prüfungen verbracht, dass ihnen scheinbar gar nicht aufgefallen war, dass sie ihren alten Freund schon lange nicht mehr besucht hatten.
„Ich fürchte, du musst ohne uns gehen“, antwortete Hermine, als Harry seine Idee im Gemeinschaftsraum kundtat. „Du willst nicht mitkommen?“, frage er verwundert.
„Wollen schon“, antwortete Hermine enttäuscht, „Aber es geht nicht. Ron und ich müssen leider zu einer Vertrauensschülerkonferenz und das kann dauern.“
Inzwischen hatten Ginny und Neville den Gemeinschaftsraum betreten und boten sich beide als Begleitung an.
„Gut, dann gehen wir eben später“, erklärte Harry, doch Hermine sah ihn nur kopfschüttelnd an.
„Nein, ihr müsst nicht auf uns warten. Bis wir fertig sind ist es sicher dunkel draußen und ich hab heute gerade mal keine Lust auf Filch oder das Inquisitionskommando. Geht schon“.
Zögerlich stimmte Harry zu, stieg dann aber doch zusammen mit Ginny und Neville die Schlossgründe hinab. Es war schon später Nachmittag und die Ländereien ins graue Licht eines wechselhaften Frühlingstags getaucht, als Harry anklopfte.
„Komme schon, Professor!“, rief Hagrid ihnen aus der Hütte zu und riss die Türe auf, „Ach, ihr seid es…“
Irritiert blickte Harry auf in das bärtige Gesicht des Wildhüters. Es war das erste Mal, dass ihn irgendwer mit Professor ansprach.
„Ja, hast du jemand anderen erwartet, Hagrid?“
„Och, nun ja“, sagte Hagrid, während einer ein rotgepunktetes Tischtuch in seinen Händen knetete, „Manchmal kommt Minerva noch zum Tee herab geschlichen, bevor sie… ach was red‘ ich da. Kommt doch rein, ihr drei!“
Hagrid strahlte sie an. Und Harry vergaß die Frage, die ihm auf den Lippen lag. Er erwiderte sein Lachen und folgte ihm in die Hütte.
Zwischen Tee mit steinharten Keksen, einen Ausflug zu den Thestralen und Spielen mit Fang flossen die Nachmittagsstunden nur so dahin. Für Harry war es eine willkommene Abwechslung zu den Bücherstapeln, die er sonst den ganzen Tag lang sah und auch Neville und Ginny schienen den Ausflug zu genießen. Die Abenddämmerung verdunkelte bereits den Horizont, als sie drei sich wieder auf den Heimweg machten.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, rief Harry und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen, als er, Neville und Ginny den Schlosshof betraten.
Vor ihren Augen hatte sich in einiger Entfernung eine Gruppe älterer Gryffindor zusammengeschart und alles deutete auf den Beginn einer wilden Rangelei hin. Harry kannte die Jungen vom Sehen aus dem Gemeinschaftsraum, sie waren wie Fred und George im siebten Schuljahr. Er hatte jedoch nie ein Wort mit ihnen gewechselt, da ihm das Trio immer wie eine Gruppe Aufschneider erschienen war, die er nie leiden konnte. Was er jedoch jetzt sah, schürte seine Abneigung zu echter Verachtung.
Vor den Jungen kauerte auf dem Boden ein schmächtiger Erstklässler, offensichtlich aus Slytherin, der Zauberstab lag meterweit von seinen Füßen entfernt, ringsumher verteilten sich Bücher quer über den Rasen.
„Das dürft ihr nicht tun. Ich werde das Professor Snape sagen. Bitte Bitte lasst mich“, wimmerte der Erstklässler.
„Erst, wenn du zurücknimmst, was du gesagt hast“, schrie ihn einer der Siebtklässler an und richtete seinen Zauberstab auf ihn, „Tarantallegra!“.
Der Junge begann sofort zu tanzen, in sein Gesicht stand Schmerz geschrieben. Seine Peiniger jedoch lachten ihn aus, bis einer von ihnen den Fluch beendete. Erschöpft fiel der Erstklässler zu Boden.
„Und was ist mit deinem Versprechen?“, fragte ein weiterer Siebtklässler gehässig.
„Bitte lasst mich gehen!“, flehte der Junge.
„Nichts da!“, rief der Dritte, „Erst wenn du die Wahrheit sagst. Rictusempra!“
Augenblicklich begann der Junge zu lachen, unterbrochen nur von dem einen oder anderen Schrei der Qual.
Harry hörte seine Rufe lauter werden, als er der Gruppe immer näher kam. Schon beim ersten Fluch hatte er genug gesehen, um zu begreifen. Nur zu gut erinnerte er sich an Malfoys Gehässigkeiten und an das, was er im Denkarium während der Okklumentikstunde gesehen hatte. Wütend war er auf die Gruppe losgerannt, so fixiert auf sein Ziel, dass er nicht einmal mehr die schwarze Gestalt wahrnahm, die soeben hinter einem Baum aufgetaucht war. Einer der Jungen hob seinen Zauberstab und rief laut „Levicorp…“. Da geschah es.
„EXPELLiARMUS“, donnerte Harrys Stimme über den Hof, als die Gruppe endlich in Reichweite war.
Augenblicklich flog ein Zauberstab zur Seite. Die Stimmen Nevilles und Ginnys schlossen sich an und drei entwaffnete Siebtklässler lagen am Boden und sahen sich verwundert um. Noch ehe einer der Jungen sich aufrappeln konnte, hatten sich Neville und Ginny bereits ihre Zauberstäbe gegriffen. Als die drei Gryffindors aufstanden, baute sich Harry wie eine Wand vor ihrem Opfer auf.
„Wenn ihr ihm was tun wollt, müsst ihr erst mal an mir vorbei.“, rief er ihnen zu, den Blick bedrohlich auf ihre Augen gerichtet, den Zauberstab erhoben. Die Jungen tauschten verwunderte Blicke.
„Hey, was ist denn mit dir los, Mann?“, schrie der Schwarzhaarige Harry an.
„Was mit mir los ist? Was mit mir los ist?!? Ihr greift einen wehrlosen Erstklässler an und fragt ernsthaft, was mit mir los ist?“, schnaubte Harry wutschäumend.
„Du Dumkopf!“, keifte der Blonde, „Der hat behauptet, dass Cedric gar nicht von du weißt schon wem getötet wurde und du nur Unsinn erzählst. Da mussten wir doch was tun“
„Achja und das gibt euch etwa das Recht, ihn fertig zu machen? Ihr widert mich an!“
„Junge, bist du blöd oder was? Wir verteidigen dich hier gerade. Außerdem ist der ein Slytherin, der gehört bestimmt schon zu Umbridges Inquisitionskommando“
Das war der Braunhaarige gewesen. Harry platzte der Kragen.
„Es ist mir scheißegal, was er über mich sagt. Drei gegen Einen, der ohne Zauberstab am Boden liegt, in unfair. Und wenn es das ist, was ihr unter verteidigen versteht, dann bin ich lieber auf der Seite eines Slytherins als mit euch Feiglingen in Gryffindor. Und jetzt verschwindet, ehe ich vergesse, dass auch ihr unbewaffnet seid.“
Ohne den Dreien auch nur noch einen weiteren Blick zuzuwerfen, kehrte Harry ihnen den Rücken und beugte sich hinunter zu dem Erstklässler. Ängstlich hatte der Junge seinen Umhang mit dem grünen Slytherinabzeichen um die Beine geschlungen, die lockigen, braunen Haare wirbelten wild um sein Gesicht, aus dem Harry zwei tränennasse Augen anblickten.
„Geht’s dir gut, Kleiner, bist du verletzt? Wie ist dein Name?“
„Ben Benjamin Drawfeather. Ich glaub‘ es geht schon, mein Bein tut weh, Da Danke“, sagte der Junge schüchtern.
Harry schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du solltest in den Krankenflügel gehen. Ginny und Neville können dich hinbringen.“
„Lass uns verschwinden, der Typ hat sie offensichtlich wirklich nicht mehr alle“, hörte Harry einem Jungen hinter sich murren. Doch es kümmerte ihn nicht.
„NICHT SO SCHNELL!“, ertönte plötzlich eine kühle Stimme ganz in der Nähe. Das Gesicht des Erstklässlers hellte sich plötzlich auf.
„Professor Snape!“, rief er freudig.
Harry wurde schlagartig eiskalt. Nur langsam wagte er es, sich umzudrehen. Snape stand hinter ihm und hatte zwei der drei Gryffindors am Kragen gepackt.
„Sie wollen doch nicht etwa ohne eine Belohnung für ihre Heldentat gehen, oder? 60 Punkte Abzug für Gryffindor. Danken Sie Ihren Freunden, dass es nicht 100 sind. Professor McGonagoll wird sicher sehr erfreut sein, davon zu hören. Zu schade, dass sie gerade verhindert ist und Sie persönlich bestrafen kann. Abmarsch!“, rief er eisig und schubste die Jungen in Richtung Schloss.
„Sir?“, rief Harry ihm hinterher und spürte noch immer den kalten Schweiß auf der Stirne.
Snape wandte sich um, in seinen kalten, dunklen Augen lag ein Blick, den Harry noch nie gesehen hatte. War es Nachdenklichkeit, Skepsis oder etwas völlig anderes? Harry konnte das Gefühl nicht fassen, da senkte Snape den Blick.
„Sie wollten Mr. Drawfeather in den Krankenflügel bringen. Tun Sie das, Potter!“, sprach er ruhig und zog von dannen.
...
„Harry, was ist passiert?“, stürmte Ron aufgeregt auf ihn zu, als er und Hermine ihnen auf dem Rückweg vom Krankenflügel entgegengelaufen kamen.
„Wir sind gerade aus dem Konferenzzimmer gekommen, da haben wir auf dem Flur eine Gruppe Mädchen tuscheln gehört, dass ihr einen Slytherin auf den Krankenflügel gebracht habt. Ist das wahr?“, fragte Hermine.
„Ja, das stimmt“, erklärte Ginny ehe Harry den Mund aufmachen konnte, „War ein Erstklässler. Ein paar Jungs ham‘ ihn fertig gemacht wegen der Sache mit dem Tagespropheten.“
„Nicht wahr!“, rief Ron.
„Aber Harry ist dazwischen“, setzte Ginny fort.
„War nicht der Rede wert“, erklärte Harry.
„Doch, war es!“, empörte sich Ginny, „Naja und dann kam Snape“.
Ron schluckte. „Deshalb also die Punkte?“, rief er bleich, „weil ihr einen aus seinem Haus verteidigt habt?!?“
Ron schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wir haben es in der Eingangshalle gesehen“, erklärte Hermine hastig, „Der Stand hat sich gerade geändert, als wir dran vorbei sind. Oh Harry, sag nicht, dass er das wirklich gemacht hat.“
„Nein“, erklärte nun Neville, „Nicht wegen uns. Die Angreifer.“
„Ein paar Jungs aus der Siebten, auch Gryffindor“, fiel ihm Harry ins Wort, „Du kennst sie, Hermine, dieses Trio, die Aufschneider!“
„Was, die waren das?“, fragte Ron nun wieder und schüttelte abermals den Kopf, „Die gehören doch eh nach Hufflepuff“.
„RON“, rief Hermine ärgerlich.
„Was ist?“, antwortete der Angesprochene.
„Ich glaube, Snape hätte Gryffindor sogar 100 Punkte abgezogen“, erklärte Ginny leise, „Aber er hat es nicht getan, wegen… wegen uns.“
In der Runde herrschte augenblicklich Stille.
„Weißt du, Snape verhält sich in letzter Zeit schon ein wenig sehr merkwürdig, findet ihr nicht?“, flüsterte Hermine Ron und Harry zu, „nicht, dass ich das schlecht finde, aber…“
„Ich weiß, was du meinst“, ergänzte Harry, „Das ist einfach nicht Snape.“
„Habt ihr eine Ahnung, was mit ihm los ist?“, fragte Ron schließlich.
Harry nickte fast unmerklich. „Ja“, flüsterte er, „aber eigentlich kann ich mir das nicht wirklich vorstellen.“
Der Samstagabend kam schneller als erhofft. Widerwillig stieg Harry die Treppe zu den Kerkern hinab. Eigentlich wollte er an diesem Abend lernen, nachdem er den ganzen vorherigen Nachmittag bei Hagrid verbracht hatte. Aber leider hatte er sich nun einmal diese verfluchte Stunde Nachsitzen bei Snape eingehandelt. Und so hoffte er, es nur schnell hinter sich bringen zu können.
Der feuchtkalte Kerkerraum, an dessen Wänden sich Gläser mit allerlei schleimigen Kreaturen deckenhoch auftürmten, war in fahles Kerzenlicht getaucht, als Harry eintrat. Snape saß im Halbschatten hinter seinem Pult und das trübe Licht ließ sein blasses, hakennasiges Gesicht noch unheimlicher erscheinen als sonst. Ein seltsamer Glanz lag in den schwarzen Augen.
„Ah, Mister Potter“, flüsterte Snape Harrys Namen ebenso langsam und leise, wie er ihn einst in Umbridges Büro ausgesprochen hatte.
Harry begann sich augenblicklich sehr unbehaglich zu fühlen. Seine Intuition sagte ihm, dass Snape irgendetwas im Schilde führte. Doch was, was? Nur zögerlich wagte es sich Harry, näher zu treten.
„Ich habe heute eine besondere Aufgabe für Sie, Potter“, begann Severus Snape bedeutungsvoll zu erklären. „Mr. Filch bewahrt, wie Sie sicherlich aus eigener Erfahrung bestens wissen dürften, die Akten mit den Untaten der Schüler dieser Schule auf. Einige ältere Dokumente müssten dringend sortiert und teilweise erneut abgeschrieben werden. Für den heutigen Tag habe ich Ihnen die Akten zweier sehr… besonderer… Schüler herausgesucht. Sie sehen den Karteikasten, Potter?“,
Harry nickte wortlos.
„Gut“, antwortete Snape, „Dann setzen Sie sich und fangen Sie gefälligst an!“
Schnell hatte sich Harry auf dem klapprigen Stuhl vor Snapes Schreibtisch niedergelassen. Doch gerade, als er seine Hand nach dem Karteikasten ausstrecken wollte, trat der Zaubertranklehrer plötzlich sehr nahe an ihn heran.
„Ich denke, dass Ihnen diese Aufgabe sehr gefallen wird, Potter“, flüsterte Snape ihm schon nahezu ins Ohr, „Es dürfte Ihre ausgeprägte Neugierde sicher sehr befriedigen. Und vielleicht werden Sie sich in manchem ja selbst wiedererkennen.“
Mit einem hämischen Grinsen und einem bittersüßen Glanz von Triumpf in den Augen trat Snape zurück und sah abschätzig auf ihn herab.
Harry musste den Karteikasten nicht öffnen, um zu wissen, wessen Untaten auf den kleinen Papieren verewigt waren: James Potter und Sirius Black. Das also war Snapes Rache an ihm. Rache an jemanden, der ihn bemitleidet und in Schutz genommen hatte. Je länger Harry in das grinsende, höhnische, dreckige Gesicht Snapes hinauf sah, umso mehr fühlte er, wie die Wut in seinem Bauch sich zusammenballte, wie Hass, abgrundtiefer Hass in ihm aufstieg.
„Sie wissen ganz genau, dass mir das KEINEN Spaß macht“, rief Harry giftig.
„So, weiß ich das?“, antwortete Snape ironisch grinsend, „Offensichtlich scheint es Ihnen genug Spaß zu machen, um ihre Freunde daran teilhaben zu lassen. Auch wenn ich Black nur ungerne zustimme, aber Sie gleichen ihrem werten Herrn Vater bis ins Mark.“
Harrys spürte, wie der Zorn in ihm aufwallte, wie sein Gesicht zu glühen begann. Auf einmal schien es ihm, als hätte sich irgendwo in seinem Magen ein Band um etwas gelöst, das seit Jahren dort verborgen lag. Er hatte das Gefühl, eine Bombe in sich ticken zu spüren, die kurz vor der Explosion stand. Plötzlich fühlte er den Hass, die Wut und den Schmerz aller Demütigungen, Kränkungen und Erniedrigungen durch Severus Snape in fünf langen Schuljahren erneut in sich aufwallen. Es war ein Ozean aus Zorn, der in einer Sturmflut allmählich auf das Ufer seiner Hände und seines Mundes zurollte.
„Ich bin nicht wie…“, zischte Harry Snape mitten ins Gesicht.
Snape und beugte sich wieder zu ihm hinunter, in seinen Augen lag ein berechnender Blick.
„Wenn das so ist, möchten Sie mir vielleicht endlich etwas sagen, Potter? Einen Satz mit vier Wörtern, zumindest mit einem? Oder war Ihre ach so rührende Aussage, was Sie an der Stelle ihres Vaters getan hätten nicht mehr als eine sentimentale Lüge? Ihre heldenhafte Rettung Mr. Drawfeathers nicht mehr als ein Versuch, den gleichen Ruhm wie er zu finden?“
Snape Tonfall war schneidend scharf. Doch was er sagte, darauf achtete Harry nicht mehr. Die Wut schloss seine Ohren. Plötzlich hatte er keinen Stuhl mehr unter sich. Er stand aufrecht vor dem Mann, den er in fünf Jahren gleich nach Voldemort am meisten zu hassen gelernt hatte und der Zorn all dieser Jahre glühte feurig in seinem Gesicht.
„ICH BIN NICHT MEIN VATER!“ schrie Harry aus Leibeskräften.
Seine Stimme tönte durch den Raum, tönte durch die Kerkergänge, tönte durch ganz Hogwarts so laut, dass das Schloss in seinen Grundfesten erzittern und sein Schrei selbst auf der Spitze des Astronomieturms noch zu hören sein musste. Mit voller Wucht schmiss er den Karteikasten vor die Füße seines Lehrers, wo er in tausend Stücke zersprang. Snape, der mit dieser Reaktion offensichtlich nicht gerechnet hatte, wich für einen Moment zurück – und zog dann den Zauberstab. Harry ließ sich davon nicht einschüchtern, seine Wut hatte sich endlich Bahn gebrochen.
„Ich habe es so satt!“, keifte er Snape an, „So satt. Die ganzen Jahre, seit der ersten Schulstunde, hassen Sie mich. Hassen mich für Dinge, an denen ich nicht Schuld bin! War ich es, der Sie zur peitschenden Weide schickte? Nein! War ich es, der Sie aus Spaß in der Luft baumeln ließ? Nein! Und doch tun Sie so, als hätte ich Ihnen all das angetan. Sie hassen mich, weil ich berühmt bin? Oh, Sie haben doch keine Ahnung, wie das ist, wenn alle hinter Ihrem Rücken über Sie reden. Wie gerne würde ich mit ihrem tollen Draco Malfoy tauschen, der keine Narbe auf der Stirne hat“
„Ich warne Sie, Potter, noch ein Wort und…“, Snape giftete ihn an, während beide bedrohliche Blicke aufeinander richtend das Pult umkreisten,
„Und was?“, fauchte Harry übermütig, „Mich umbringen? Wie Lord Voldemort? Na los, nur zu! Worauf warten Sie denn? Zaubern Sie schon Avada Kedavra. Das ist es doch, was Sie wollen. Oder vielleicht noch etwas Crucio vorweg, damit es auch so richtig Spaß macht?“
„STUPOR!“, schrie Snape,
„PROTEGO!“, rief Harry und Lichtfunken zerbarsten an der Wand, zersplitterten Gläser, deren schleimiger Inhalt sich über den Boden ergoss.
„Luna hat Recht. Sie sind kalt wie Eis. Sie haben keine Ahnung, was Freundschaft oder Liebe ist. Sie kennen nur Hass und Vergeltung. Sie haben meinen Vater gehasst und Sie hassen mich. Und meine Mutter… die haben Sie auch gehasst. Dieses unwürdige kleine Schlammblut, nicht wahr? Und dabei wollte sie Ihnen nur helfen.“
Snapes Augen begannen plötzlich zu glühen, glühen von einer Wut, die Harry an seinem Lehrer nie gekannt hatte.
„R A U S“, fauchte er, „R A U S! oder Sie werden sich wünschen, diesen Raum nie betreten zu haben.“
Rasend stürzte er auf Harry zu, gleich eines Tieres, dem ein Dolch ins Fleisch gestoßen wurde. Harry wich zurück, stolperte, fiel zu Boden. Angstschweiß rann über ihn. Nie hatte er Snape so außer sich gesehen, so unmenschlich, so wahnsinnig. Die dunkle Gestalt kam näher, beugte sich über ihn, den Zauberstab fest umklammert, während sein eigener durch Sturz in eine dunkle Ecke rollte. Schreckensbleich blickte Harry in das wutverzerrte Gesicht empor. Blanker Hass, Mordlust, spiegelte sich darin. Harry tastete sich rückwärts, plötzlich er bekam seinen Zauberstab zu fassen, ehe Snape ihn erreichte. Dann war die Tür in seinem Rücken. Eilig zog sich Harry hoch, riss sie auf und rauschte aus dem Büro, ohne sich umzudrehen. Er hörte gerade noch, wie etwas Schweres hinter ihm donnernd ins Schloss fiel, als er im Schatten der Kerkergänge atemlos zum Stehen kam.
Kein Geräusch war zu hören, nur das Pochen in seinem Kopf und das Beben seines Herzschlags. Für einen Augenblick fürchtete er, Snape käme hinter ihm aus dem Zimmer hervor geprescht. Doch nichts geschah. Zu gerne wäre Harry ohne Halt die Treppe zum Gyffindorturm hinauf gerannt. Doch es war unmöglich, sich zu bewegen, jeder Schritt stach ihm in die Brust. Mit der Angst noch im Nacken, ließ sich Harry auf den Boden sinken, versuchte zu Atem zu kommen, versuchte, Ruhe zu finden. Tränen der Erschöpfung rannen über sein Gesicht.
„3…2…1..Legilimens!“ Harry versuchte den schwarzen Augen standzuhalten. Bilder tauchten wieder vor ihm auf.
Der sprechende Hut rief „Gryffindor“… Auf Hermines Gesicht wuchs Katzenfell…Voldemort richtete den Zauberstab auf ihn.
„Neeeiiin!“, schrie Harry, seine Augen fielen zu.
„POTTER!“, rief Snape, doch zu spät. Harry stürzte zu Boden.
Ein starker Arm packte ihn, hievte ihn hoch, warf ihn noch halb benommen auf den nächstbesten Stuhl. Er fühlte sich ausgelaugt. Blinzelnd blickte er in das fahle Gesicht, das sich über ihn gebeugt hatte. Sie übten nun schon seit einer geschlagenen Stunde und Harry hatte nicht den Eindruck, dass es irgendetwas brachte.
„Sie müssen sich aller Gefühle entledigen, Potter, wie oft noch. Versuchen Sie nichts zu fühlen, an nichts zu denken. Bieten Sie mir keinen Stoff!“, sprach Snape auf ihn ein.
Harry hörte nur mit halbem Ohr zu. „Ich…ich…brauche…eine…Pause“, ächzte er.
„Potter, Sie begreifen wohl den Ernst der Lage nicht“, setzte Snape eindringlich fort, „Wenn der Dunkle Lord das nächste Mal in Ihren Kopf eindringt, werden Sie vielleicht nicht das Glück haben, nur aus ihren Träumen gerissen zu werden!“
„Bitte Sir, ich… kann nicht…mehr“, flehte Harry nun.
Für einen Moment blickten ihn die dunklen Augen reglos an. „Fünf Minuten!“, sagte Snape knapp und wandte sich ab.
Harry atmete tief durch.
„Warum ausgerechnet meine schlimmsten Erinnerungen“ stöhne er leise, gequält.
Snape stand noch immer mit dem Rücken zu ihm, doch schien er ihn gehört zu haben.
„Glauben Sie etwa, der Dunkle Lord wird sich Ihrer Quidditch-Siege bedienen? Er wird dort zugreifen, wo Sie am verwundbarsten sind“, antwortete er kühl.
Natürlich, wie konnte er das nur vergessen, wo Voldemort doch so ein Menschenfreund war.
„Die Zeit ist um“, rief Snape, „Sind Sie bereit, Potter?“.
Blitzschnell wirbelte ein schwarzer Umhang durch die Luft und die Spitze eines Zauberstabs deutete direkt auf Harrys Augen. Harry sprang vom Stuhl. Jede Faser seines Körpers war gespannt, sein Puls schoss hoch, aufgepeitscht durch Snapes plötzliche Reaktion. Die Hand schloss sich fester um den Zauberstab. Er war wieder voll da und zu allem entschlossen.
„Ja, das bin ich“, rief er Snape zu.
Diesmal würde er ihm keine Chance geben, diesmal nicht.
„3…2…1…Legilimens“
Bilder fluteten Harrys Kopf. Halb abwesend riss er den Stab hoch.
„Imperturbatio“. Nichts geschah. „IMPERTURBATIO“
„Potter, Sie sind keine Türe!“, rief irgendwo Snapes Stimme.
„Ca..“
Ein jäher Kopfschmerz ließ Harry auf den Stuhl zurücksinken, noch ehe er den Zauber sprechen konnte. Für eine Sekunde schloss er die Lider. Als er sie wieder öffnete, blickte er in zwei finstere Pupillen.
„Potter…“, sprach Snape kühl, „Sie sollten Ihren Geist verschließen, nicht sinnlose Zauber auf mich abfeuern.“
Harry hielt dem bohrenden Blick stand. Es war nicht leicht, doch vor Snape wollte er sich keine Blöße geben.
„Ich halte sie nicht für sinnlos“, flüsterte er.
„Sieh an, Sie glauben also wirklich, dass Ihre Zauber irgendeine Wirkung hätten?“, fuhr Snape ihn im scharfen Tonfall an, „Sie denken wirklich, Sie kämen damit gegen mich an?“
Für einen Augenblick herrschte Stille im Raum. Noch immer wichen die schwarzen und die grünen Augen keinen Millimeter voneinander ab. Ein rebellisches Gefühl keimte plötzlich in Harrys Magengrube, von dem er nicht ganz sagen konnte, was es war. Er wusste nur, dass er vor Snape niemals klein beigeben würde.
„Ja, das denke ich, Sir“, sprach er zielgerichtet in das bleiche Gesicht.
Snape musterte ihn. Plötzlich trat ein merkwürdiger Glanz seine Augen, fast so als ob er auf diese Worte nur gewartet hätte. Mit einem Ruck richtete er sich auf und schritt um Harrys Stuhl herum.
„Nun, Potter“, sprach er süffisant, „wenn das so ist, warum sehe ich dann keinerlei Beweis von Ihnen?!?“
Harry riss den Kopf herum und blickte in ein breites, bitterböses Grinsen auf Snapes länglichem Gesicht. Eine Woge aus Energie rauschte durch seinen Körper. Mit einem Mal hatte Harry verstanden. Ein gezielter Tritt reichte, um den Stuhl beiseite zu stoßen. Snape eilte in Position und zog den Zauberstab.
„3..2..1…Legili“
„Cave Inicicum“
„So, Sie halten mich also für Ihren Feind, Potter?“
„Vielleicht“
„Nur vielleicht?!? Haben Sie in fünf Jahren nichts gelernt?“
Beide begannen das Pult zu umkreisen. Snape mit einem leuchtenden Glitzern in den Augen, Harry mit einem vor Aufregung donnernden Herzschlag.
„Pertif...“
„abgewehrt!“
„Lum..“
„Nox! Etwas mehr Anstrengung, Potter!“
„Silen...“
„Um mich zum Schweigen zu bringen, müssen Sie noch viel lernen!“ Der Tränkemeister lachte.
„Expell…“
plötzlich loderte in Snapes Augen ein wahres Feuer auf, „Oh, einen Entwaffnungszauber. Wie überaus abwechslungsreich, Potter. Sie scheinen ihn ja wirklich zu lieben, so oft wie Sie ihn benutzten“.
„Jaha“, rief Harry ihm zu, „Er ist sehr praktisch zum Beispiel gegen - Voldemort“.
„Etwas für Drittklässler“, höhnte Snape und tat gelangweilt, doch seine Augen glühten noch immer.
„Also ich konnte ihn schon in der zweiten“, rief Harry.
„Sooo“, antwortete Snape und in seinem Tonfall lag etwas von Triumph, „Wo haben Sie ihn noch gleich gelernt, Potter?“
„Im Duellierclub!“, rief Harry provozierend und schoss einen weiteren Zauber auf Snape ab.
Plötzlich taumelte der Tränkemeister rückwärts, griff sich an die Stirn. Harry erschrak. Was hatte er getan? Was würde Snape tun? Eine quälende Sekunde verstrich, dann entspannten sich die Züge auf dem bleichen Gesicht, nur um sich augenblicklich wieder zu verhärten.
„POTTER“, rief Snape ihm rau zu, „WAS sollte DAS werden? Wollten Sie etwa einen Obliviate auf mich zaubern?“ Harry blickte stumm in die finsteren Augen. Das war tatsächlich seine Absicht gewesen.
„Das ist…“, sagte Snape kühl, ihn mit Blicken fixierend „…gar keine SO schlechte Idee. Ich hätte Ihnen Dümmeres zugetraut.“
Verdutzt starrte Harry ihn an. In Snapes Gesicht war keine Spur von Lüge zu lesen. Doch das hatte bei ihm nicht viel zu bedeuten. Im Gegensatz zu Harry beherrschte er Okklumentik perfekt.
„Natürlich war die Ausführung lächerlich“, setzte Snape höhnisch fort und stand wieder aufrecht vor ihm, „Ihnen fehlt das Zeug für Erinnerungszauber. Sie sollten sich an das halten, was sie können, auch wenn man da nicht viel erwarten darf. Besser wäre es natürlich, Sie leeren endlich Ihren Geist!“
Einen Zauber, den er beherrschte? Das konnte Snape haben! Harry dachte nicht daran, seine Gedanken wegzuschließen. Im Gegenteil, er würde Snape die besten entgegensetzen, die er hatte. Die dunkle Zauberstabspitze war wieder auf Harrys Augen gerichtet.
„3..2..1..“
„Expecto Patronum!“
Ein silberner Hirsch sprang auf den Tränkemeister zu, streifte den schwarzen Umhang und floh durch die Türe in den Kerkergang. Langsam, ganz langsam ließ Snape den Zauberstab sinken und hob eine Augenbraue. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, als hätte er gerade den Weihnachtsmann Ostereier verstecken sehen.
„Einen Patronus, Potter“, sprach er ölig, „sehe ich etwa aus wie ein Dementor?“
Harry musterte für einen Augenblick das bleiche, hakennasige Gesicht, die vorhangartigen Haare, den langen, schwarzen Umhang. Er wagte es nicht, Snape eine Antwort zu geben. Möglicherweise könnte sie ihm nicht gefallen. Snape kam auf ihn zu und packte ihn hart am Arm.
„Sie finden das wohl lustig, Potter, was“, sprach er eisig.
Harry blickte ihm direkt in die Augen. „Nicht im Geringsten ….Sir“, antwortete er ernst, sich schwörend, sich von Snape nicht einschüchtern zu lassen.
„Oh doch, Potter, oh doch!“, sprach Snape und seine Augen begannen zu funkeln, als Harrys Gesicht zu einem Marmorbild erstarrte. Natürlich war es eine Lüge. Doch wie konnte Snape…
„Sagte ich nicht, Sie sollten besser Ihren Geist verschließen anstatt zu zaubern“, setzte der Tränkemeister fort und bedachte Harry hämisch grinsend mit einem äußerst bedrohlichen Blick. Für einen Moment fürchtete Harry, dass Snape ihn bestrafen würde. Doch der Anblick seiner Angst schien ihm wohl Genugtuung zu bieten.
„Ich denke, das war es. Quod erat demonstrandum, Potter“, sprach er langsam und ließ mit einem triumphierenden Grinsen Harrys Handgelenk wieder los.
„Und jetzt – verschließen Sie endlich Ihren Geist vor mir! 3..2..1 Legli -“
„EXPELLIARMUS“
Der Zauber traf Snape schneller als er in Harrys Kopf eindringen konnte. Mit rauschendem Umhang wurde der Tränkemeister gegen den Tisch geworfen. Harry sah gerade noch, wie der Zauberstab in eine Ecke flog und sich Snapes Gesicht zu einer säuerlichen Miene verzog. Ein Gefühl von Triumph breitete sich in seiner Brust aus. Nicht dass Snape zu Boden ging, erfreute ihn, sondern dass es ihm gelungen war, schneller als er zu reagieren. Harry genoss das Gefühl seines Sieges – eine Sekunde zu lang. Eine kurze Unaufmerksamkeit reichte aus, um das Tasten nach dem Zauberstab und die leichte Welle auf Snapes Lippen zu übersehen. Plötzlich spürte Harry, wie seine Beine steif wurden, nachgaben und einknickten. Mit einem äußerst uneleganten Stolpern landete er direkt vor Snapes Füßen, völlig verdutzt. Der Gesichtsausdruck des Zaubertranklehrers änderte sich schlagartig, als er auf Harry herabblickte. Seine Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln und seine Augen blitzten siegestrunken.
„Feinheiten, Potter“, flüsterte Snape sichtlich amüsiert, „Sie waren noch nie Ihre Stärke! - WAS?“
Soeben hatte es an der Türe geklopft. In Snapes Augen erlosch aller Glanz, seine Miene war wieder ernst. Zeitgleich blickten er und Harry auf und standen augenblicklich wieder auf den Füßen. Eilig setzte sich Harry auf seinen Stuhl zurück. Snape fuhr herum und drückte die Klinke herunter. Der Hausmeister erschien im Türrahmen.
„Filch?“, fragte Snape verwundert.
„Ja, Professor. Sie wollten doch, dass ich die Sauereien dieses Schmutzfinken Peeves beseitige“.
Für einen Augenblick sah Snape den Hausmeister so an, als wisse er nicht, worüber jener sprach. Doch dann schien er sich wieder an etwas zu erinnern.
„Ah, das hatte ich vergessen.“, sagte er schließlich.
„Kommen Sie rein, es ist gleich dort drüben.“
Mit einem argwöhnischen Seitenblick auf Harry folgte Filch dem Zaubertrankprofessor zu einer Ecke am anderen Ende des Raumes, wo auf dem Boden vor einem Glas eingelegter Krötenaugen ein schleimiger, fluoreszierender Fleck giftgrün in die Düsternis leuchtete.
„Wenn Sie sich damit dann bitte beeilen könnten, Filch. Wie Sie sehen, habe ich hier einem Schüler noch etwas Nachhilfe zu erteilen“, sagte Snape kalt.
„Gewiss, gewiss“, versicherte ihm der Hausmeister zu und stellte einen Zinneimer voll heißem Putzwasser unsanft auf dem Boden.
„Gut“, antwortete Snape und wandte sich wieder Harry zu.
An dem dunklen Umhang des Tränkemeisters vorbei konnte Harry gerade noch sehen, wie Filch ihm abermals einen merkwürdigen Blick zuwarf. Schnell wandte Harry seine Augen auf Snape, der nun vor einem seiner Regale stehen geblieben war und ein Glas mit einer schwarzen, öligen Masse auffällig musterte, so als wäre er im Begriff, Harry etwas darüber zu erzählen.
„Nun, Potter“, begann Snape mit einer seltsam belegten Stimme zu sprechen.
Doch Harry hörte nicht zu. Ein Klackern im Hintergrund hatte erneut seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Verwundert sah er nun, wie Argus Filch eine Unzahl kleiner Töpfchen und Fläschchen neben den Eimer auf den Boden stellte, die Verschlusskappen öffnete und mit einem Esslöffel von jeder Substanz, ob flüssig oder fest, etwas abzumessen schien. Auch Snape hatte sich wieder umgewandt und beobachtete die Szene einen Augenblick lang argwöhnisch.
„Filch“, fragte er schließlich, „Was um alles in der Welt tun Sie da?“
„Pulver abmessen, Professor“, antwortete Filch mit einem Esslöffel weißen Staub in der Hand, den er augenblicklich in den Eimer rieseln ließ. Mrs Norris strich gelangweilt um seine Beine.
„Das sehe ich auch“, antwortete Snape wenig begeistert, „ich wollte wissen, was das werden soll“.
„Puztmittel, Professor, altes Rezept“, antwortete Filch und rührte mit dem Löffel im Wasser herum, bis weißer Schaum auf der Oberfläche große Blasen schlug.
„Und dafür müssen Sie all diese…Zutaten…. abmessen?“, fragte Snape ungläubig, während er zusah, wie Filch einen Tropfen des Spülwassers in den Fingern rieb.
„Oh, man muss sehr genau dosieren, sehr genau dosieren“, entgegnete der Hausmeister und warf nun den Putzlappen in den Eimer.
Für einen Moment beobachtete ihn Snape mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck.
„Dann sehen Sie zu, dass Sie fertig werden, Filch“, sagte er schließlich und wandte sich wieder dem Glas zu, um Harry Näheres über dessen Inhalt und seine Anwendungsmöglichkeiten zu erzählen.
Zehn Minuten später fiel die Türe zum Kerkerraum wieder ins Schloss und Harry und Snape waren alleine im Raum. Hochkonzentriert blickte Harry seinem Lehrer ins Gesicht. Für eine Sekunde schien ein Funken Erwartung in den schwarzen Augen aufzuglimmen.
„Bereit, Potter?“, fragte Snape gespannt.
„Ja“, antwortete Harry bestimmt und ein Gefühl von Aufregung ergriff ihn.
„Dann verschließen Sie Ihre Gefühle, geben Sie mir keine Chance!“, rief Snape und hob den Zauberstab „3…2..1…Legilimens!“
„Harry, ist alles in Ordnung mit dir?“
Harry öffnete blinzelnd die Augen und sah verschwommen ein Gesicht und braunes Haar über sich, das vom Schein des Kandelabers auf dem Tisch hinter ihr umrahmt wurde. Dann wurde das Bild klarer und er erkannte Hermine.
„Ja, bin nur etwas erledigt“, antwortete er und richtete sich auf dem Sessel wieder auf, auf den er sich vor wenigen Minuten hatte fallen lassen.
„Snape… er macht dich echt fertig“ sagte Ron im Sessel neben ihm mitleidsvoll.
„Aber es ist wichtig, dass er Okklumentik lernt, Ron“, unterbrach Hermine ihn scharf. Die beiden schienen eine Diskussion beginnen zu wollen. Doch noch ehe sie ein Wort sagen konnten…
„Es war gar gut!“, mischte Harry sich ein.
Sofort waren die entgeisterten Blick seiner besten Freunde auf ihn gerichtet.
„Du machst Witze, oder Harry?“, fragte Ron fassungslos.
„Nein“, antwortete Harry ruhig und mit einem Unterton von Nachdenklichkeit, den er eigentlich hatte unterdrücken wollen.
„Du…du meinst Du hattest Spaß… bei Snape?!?“
Ron klang, als hätte man ihm erzählt, dass der Ghul im Dachstuhl des Fuchsbaus Dolores Umbridges Zwillingsbruder sei. Hermine schwieg.
„Naja, es war natürlich kein Quidditch“, fuhr Harry fort, stand auf und ging vor Rons Sessel auf und ab.
„Aber für Unterricht bei Snape… ich weiß das klingt verrückt aber es… es war wirklich gut. Wir haben uns duelliert, dann hat uns Filch unterbrochen. Später haben wir dann ernsthaft weitergemacht. Hermine, ich hab’s geschafft! Hörst du, ich hab’s endlich geschafft!“
„Harry!“, antwortete sie strahlend und fiel ihm in die Arme, „Das sind ja tolle Neuigkeiten!“.
Aus den Augenwinkeln konnte Harry sehen, wie Ron seinen roten Haarschopf schüttelte.
„Du musst wirklich kaputt sein, Mann“, rief er ihm zu, „Hat dich Snape nicht fertig gemacht?“
Harry ließ seine beste Freundin wieder los.
„Nein, hat er nicht. Naja, zumindest nicht so sehr wie sonst. Das ist ja das Merkwürdige“, antwortete er nachdenklich.
„Es schien ihm fast Spaß zu machen“, fügte er flüsternd hinzu.
„Harry, ist zwischen dir und Snape-“, sagte Hermine vorsichtig.
Doch sie kam nicht weit. Im selben Augenblick war ein Rumpeln auf der Treppe zum Gemeinschaftsraum zu hören. Sofort wandten sich drei Köpfe in diese Richtung um. Sekunden später tauchte eine kränklich wirkende fangzähnige Geranie im Durchgang auf. Dahinter erschien Nevilles strahlendes, mit zahlreichen kleinen Bisswunden übersätes Gesicht.
„Hallo Leute!“, rief er fröhlich, „Ist sie nicht großartig? AUA!“
Soeben grub die Pflanze abermals ihre Zähnchen in Nevilles Haut.
„Naja“, fuhr er etwas leiser fort, „sie ist ein wenig aggressiv. Aber sonst ist sie doch toll, oder?“.
Ron, Harry und Hermine tauschten vielsagende Blicke.
„Hi Neville“, rief Harry ihm zu, während dieser die Pflanze zum Tisch trug.
„Madame Sprout hat mir Ende der letzten Stunde erlaubt, dass ich sie gesund pflegen darf. Jetzt war ich bei ihr, um sie abzuholen“, erklärte Neville begeistert, während er den Blumentopf absetzte.
„Warum benutzt du keinen Locomotor?“, fragte Hermine und kam auf ihn zu, um ihm zu helfen, seine Wunden zu versorgen.
„Das hab ich ja versucht“, erzählte Neville kleinlaut, „aber dann ist mir der Blumentopf gegen eine Wand gekracht und ich musste ihn wieder reparieren und da dachte ich mir, ich trag ihn besser. Hmm, ich glaube ich sollte ihn dann mal nach oben bringen.“
Mit dem Topf auf den Armen und zwei weiteren Aus verschwand Neville auf der Treppe zum Jungenschlafzimmer.
„Wo waren wir stehengeblieben?“, fragte Hermine.
„Keine Ahnung“, antwortete Harry, „ aber ich bin müde. Ich glaube, ich sollte auch hochgehen. Gute Nacht, Leute“
„Gute Nacht“, antwortete Ron und winkte Harry zum Abschied.
Die Woche verlief relativ ereignislos. Zwischen zahllosen Bücherstapeln hatten die Freunde das Gefühl, dass die Zeit sich zäh wie ein Gummiband dahinzog. Doch wo Prüfungen anstanden, musste eben gelernt werden. Erst am Donnerstag in den Kerkern, benebelt von den zahlreichen Dunstwolken, die über den Zaubertrankkesseln aufstiegen, wurde Harry mit einem Mal bewusst, dass er in dieser Woche kaum etwas anderes gesehen hatte als altes Papier in ledernen Einbänden, Tintengläser, Pergament und Schreibfedern. Links und rechts neben ihm raschelten Messer auf Schneidebrettchen und gluckerten Kessel. Ein leises „verdammt!“ drang in sein Ohr, gefolgt von einem geflüsterten „Gib drei Tropfen Schlangenblut rein, damit kannst du es ausgleichen“.
Er, Ron, Hermine und Neville hatten sich abermals den Platz ausgesucht, der am weitesten von Draco Malfoy und seiner Clique entfernt war. Unglücklicherweise saßen sie damit direkt von Snapes Pult. Besonders zu Nevilles Beruhigung trug dies nicht gerade bei. Hermine war so beschäftigt damit, seine Fehler auszugleichen, dass selbst ihr der Trank dieses Mal nicht perfekt gelang. Es war gegen Ende der Stunde, als Snape fledermausgleich durch die Reihen huschte. Hinter sich hörten die Vier immer wieder Kellen in Kessel gleiten.
„Was soll das bitte für ein Gebräu sein“, zischte die ölige Stimme oder „Damit können Sie vielleicht Ihre Großmutter vergiften, Finnigan“.
Langsam aber sicher kam Snape immer näher und mit jedem Schritt schien Neville nervöser zu werden. Schweißperlen glänzten im Feuerschein auf seinem geröteten Gesicht, als er nach einem Flakon mit Alraunensaft griff, der letzten Zutat für den Trank.
„Hermine, ich krieg sie nicht auf“, stöhnte Neville verzweifelt, mit glitschigen, zittrigen Fingern an der Verschlusskappe zerrend.
Harry wandte seinen Kopf. Snape war nur noch eine Reihe von ihnen entfernt und warf ihm einen finsteren Blick zu.
„Oh nein!“, schoss plötzlich Nevilles Stimme an Harry vorbei.
Ruckartig drehte Harry sich in dessen Richtung. Drei Esslöffel Alraunensaft hätten in den Trank gesollt. Doch Neville stand mit einem Gesichtsausdruck größten Erschreckens über seinem Kessel. Der Flakon in seiner Hand war – leer.
Unter ihm begann der Kessel plötzlich wie wild zu brodeln. Der Sud, der eigentlich golden hätten sein sollen, färbte sich smaragdgrün. In Panik versuchte Neville das Feuer unter dem Kessel zu löschen und fachte es nur noch mehr an. Er, Ron, Hermine und die Schüler in der Reihe hinter ihnen wichen reflexartig zurück. Dann ging alles furchtbar schnell. Harry hatte keine Zeit mehr, sich umzusehen, als der schwarze Umhang auch schon an ihm vorbeifloh. Die dunklen Augen über der blassen Hakennase glühten vor Zorn.
„Longbottom?!?“, erschallte die eisige Stimme.
Neville, bleich wie ein Gespenst, wich noch mit dem Flakon in der Hand zurück. Gerade beugte Snape sein fahles, von fettigem Haar umrahmtes Gesicht über ihn. Da passierte es! Die ganze Kesselladung smaragdgrünen Suds explodierte. Schreiend stoben die Schüler auseinander, über Bänke und Stühle hinweg. Hier und da ging ein Kessel zu Boden. Doch keiner konnte den heißen Spritzern, die sich über den ganzen Raum verteilten entgehen. Am wenigsten Snape selbst.
„RUHE!!!“, schrie er in die aufgebrachte Menge, das Haar triefend von Nevilles Trank, smaragdgrüne Spitzer im blassen Gesicht.
Neville stand wie angewurzelt vor der Wand, rührte sich keinen Zentimeter, als der Tränkemeister seinen Zauberstab von einer Ecke des Zimmers in die andere wandern ließ, „Evanesco“ und „Reparo“ schrie.
„Jeder, der einen Spritzer abbekommen hat, sollte innerhalb der nächsten Stunde eiskalt duschen und jetzt packen Sie Ihre Sachen und raus hier“.
Das ließ sich die Klasse nicht zwei Mal sagen. Der Kerkerraum leerte sich so schnell wie noch nie. Nur Hermine, Ron und Harry zögerten. Wie eine Furie fuhr Snape vor ihren Augen zu Neville um, packte ihn am Kragen seines Umhangs und stieß ihn gegen die Wand. Aus dem Augenwinkel musste Snape gesehen haben, dass sie ihre Sachen nicht packten.
„RAUS HIER, SAGTE ICH“, giftete er die drei an.
Schnell verließen die Freunde den Raum. Im Gehen konnte Harry gerade noch sehen, wie Snape Neville anschrie „WAS HABEN SIE GETAN, LONGBOTTOM?!?“.
Spucke netzte Nevilles angststarres Gesicht. Dann sah Harry nur noch die Türe und ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, als er sie passierte.
In der großen Halle herrschte eine eigenartige Stille, als sich Harry eine halbe Stunde später frisch geduscht zum Mittagessen dort einfand. Schweigend trottete Harry auf den Gryffindortisch zu. Irgendwo in der Ferne am Lehrertisch konnte er Snape sehen, dessen Haare ungewöhnlich gewaschen aussahen. Doch Harry beachtete ihn nicht weiter. Sein Ziel waren seine Freunde. Leise ließ er sich neben sie nieder. Niemand sagte ein Wort. Er, Ron, Hermine, Ginny – sie alle warteten nur auf Neville, als dieser endlich mit hängenden Schultern und leerem Blick durch die Reihen geschlurft kam.
„Oh Neville!“, rief Hermine, „Was hat er mit dir gemacht?“.
Schwerfällig ließ Neville sich auf einen leeren Platz zwischen seinen Freunden sinken.
„Es war…war gar nicht so schlimm“, stammelte Neville und schnäuzte in ein Taschentuch.
„Er will nur, dass ich für Filch das Labor und die Schultoiletten putze. Heute Abend. Und jeden Tag bis zu den Prüfungen. Ohne Zaubern.“
Plötzlich blickte Neville auf und Verzweiflung sprach aus seinen ausdruckslosen Augen.
„Warum ist Snape so gemein zu mir, warum? Ich hab doch nicht absichtlich den ganzen Alraunensaft in den Kessel gekippt.“
Harry verstummte und schaute betroffen zu Neville hinüber. Er konnte nur zu gut nachempfinden, wie sein Freund sich gerade fühlte.
„Er ist gemein zu uns allen“, erklärte Ron.
Doch das schien Neville nicht wirklich zu trösten.
„Ich hab eine Idee“, sprach Hermine beruhigend auf ihn ein, „wir werden dir helfen.“
„Das würdet ihr wirklich tun?“, fragte Neville verwundert. „Aber wenn er euch erwischt, dann seid ihr mit dran!“
„Wir werden schon aufpassen“, entgegnete Hermine lächelnd.
„Danke, ihr seid echte Freunde“, antwortete Neville und auf einmal erschien er schon viel beruhigter.
Eine halbe Stunde später hatten sie alle ihr Mittagessen beendet.
Es war am Samstagmorgen, als Harry, Ron und Hermine ihrem Versprechen im Jungenklo nachkamen.
„Filch hat mir so ein komisches Rezept gegeben“, rief Neville Hermine zu, „Man muss höllisch aufpassen beim Dosieren, am Donnerstag hatte ich nur Schaum im Eimer. Aber jetzt geht es ganz gut, glaube ich“.
Harry lauschte dem Gespräch mit einem Stirnrunzeln. Es war ihm, als hätte er diese Worte schon einmal in Snapes Büro gehört. Zur gleichen Zeit warf Hermine neben ihm einen Blick auf den vergilbten Zettel vor ihren Füßen. Die Zutatenliste und Anweisungen lasen sich wie ein Rezept zur Herstellung eines Putzmittels aus einer Zeit lang bevor es Badreiniger und Kalklöser in Supermärkten zu kaufen gab.
„Selbstgemachte Seifenlauge“ bemerkte sie knapp.
Währenddessen schraubte Ron bereits den Verschluss von einem der vielen Fläschchen: „Himmel, das ist ja fast so schlimm wie im Unterricht“
„Pass auf mit dem heißen Wasser!“, rief Harry Neville zu, der gerade im Begriff war, einen Lappen in den Eimer zu tauchen. Schnell eilte er zu ihm hinüber und griff den Schrubber, der am Waschbecken lehnte.
Plötzlich horchte Ron auf. „Habt ihr das gehört?“, fragte er beunruhigt, „ich glaube, da kommt jemand“.
Auf dem Flur waren mit einem Mal Schritte zu hören.
„Schnell!“, rief Hermine und warf den Tarnumhang über sich und Ron. Sofort ließ Harry den Schrubber wieder fallen.
Doch zu spät. Genau in diesem Moment sprang die Türe des Jungenklos auf und eine fledermausartige Gestalt betrat den Raum. Snapes kalte Augen trafen seinen Blick.
„Ah, sieh an, wen haben wir denn da“, sprach er kühl, „Mr. Potter. Eigentlich dachte ich, ich hätte diese Strafarbeit Mr. Longbottom und nicht Ihnen aufgetragen.“
„Sie werden mich nicht davon abhalten, einem Freund zu helfen“, entgegnete Harry, Snapes eisigen Blicken trotzend. „Nun, wenn das so ist, werden wir für Sie sicherlich auch die passende Aufgabe finden. Ich hege ja schon länger den Verdacht, dass Ihr Freund seine Arbeit nicht alleine erledigt. Doch darüber reden wir später, Potter. Fürs Erste habe ich etwas mit Mr. Longbottom zu klären. Stehen Sie auf!“.
Verschüchtert legte Neville seinen Putzlappen beiseite und trat Snape stumm entgegen.
„Sie sind von Ihrer Strafarbeit ab sofort freigestellt. Das heißt, nachdem Sie hier aufgeräumt haben. Sie werden die restlichen Stunden nicht nachholen müssen.“
„Danke, Sir“, antwortete Neville verwirrt.
„Danken Sie nicht mir, danken Sie Ihrer Hauslehrerin, die es nach einer aufgebrachten Eule einer gewissen Mrs. Longbottom für nötig hielt, mich in meiner Freizeit zu stören, damit Sie Zeit haben für Ihre Prüfungen zu lernen. Ich frage mich, woher Ihre werte Frau Großmutter nur von dieser Strafarbeit wusste…“
Neville lief puterrot an, während Snapes Blicke ihn durchbohrten.
„Wie auch immer: Ich hoffe, dass Sie diese Gnade wenigstens mit einem halbwegs guten ZAG zu würdigen wissen, auch wenn ich daran zweifle“. Ein süffisantes Lächeln kräuselte seine Lippen.
„Und Sie, Potter, erwarte ich um 18:00 in meinem Büro – heute Abend!“.
Nach einem skeptischen Blick in die Richtung, wo Ron und Hermine unter dem Tarnumhang kauerten, wandte sich Snape mit hochgezogenen Augenbrauen um und verließ das Jungenklo.
„Das war knapp!“, rief Hermine tief ausatmend und warf augenblicklich den Tarnumhang ab.
„Das hat er jetzt nicht wirklich getan, oder?“, sagte Ron, „der will dich nicht wirklich dafür nachsitzen lassen?“.
„Ich fürchte schon“, antwortete Harry.
„Es ist meine Schuld“, mischte sich Neville ein und klang betrübt. „Ich hätte euch da nie mit reinziehen dürfen.“
„Unsinn!“, riefen Ron und Harry entschieden im Chor.
„Ich denke, wir sollten dir noch beim Aufräumen helfen“, sprach Hermine, richtete den Zauberstab auf den Eimer und ließ ihn zum Waschbecken schweben.
Zehn Minuten später war das Jungenklo menschenleer.
Die Stunden bis zum Abend vergingen viel zu schnell.
„Kommen Sie herein, Potter“, rief Snape Harry vor einem Bücherregal stehend zu.
Langsam trat Harry ins grüne Licht des Raumes und nahm auf dem Stuhl vor dem Pult Platz. Snape zog eine alte Ledermatte zwischen den Wälzern hervor und warf sie so heftig auf den Tisch, dass der Staub ringsumher aufwirbelte.
„Mr. Longbottoms letzter Versuch zu beweisen, dass er in meinem Unterricht nichts verloren hat, hat mir leider einige sehr wertvolle Dokumente völlig ruiniert.“, erklärte er kühl, „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das, was noch zu retten ist, in Reinschrift bringen und zwar so, dass ich es lesen kann.“
Harry nickte stumm.
Schnell schlug Snape die Mappe auf und setzte ihm ein schmutziges Bündel beschriebener Blätter vor.
„Hier ist Tinte, dort Pergament, fangen Sie an!“, rief er, ließ sich auf seinem Stuhl nieder und verschwand hinter einer Ausgabe des „Zaubertränkespiegels“.
Als Harry die Papiere betrachtete, sank sein Herz. Wellig und mit Flecken jener smaragdgrünen Flüssigkeit übersät, die Nevilles Kessel bei der Explosion ausgespuckt hatte, waren die Dokumente so gut wie unlesbar. Nur mit viel Mühe konnte Harry einzelne Buchstaben identifizieren und sie zu Worten verbinden. Doch dann staunte er nicht schlecht. Unter den Dokumenten, die Snape ihm zur Abschrift gegeben hatte, waren neben recht einfachen Tränken auch die Rezepte einiger sehr außergewöhnlicher Zaubertränke. Ein Trank, „Elixier der Schmerzfreiheit“, erregte Harrys Aufmerksamkeit besonders.
Dieses Elixier, las er, setzt das Schmerzempfinden für die Dauer von drei Stunden außer Kraft. Obwohl es kein Heiltrank ist, kann es kleinere Schnittwunden schnell verschließen.
Vielleicht konnte ihm das Elixier der Schmerzfreiheit bei seinen Stunden bei Umbridge helfen? Schnell zog Harry ein zusätzliches Pergament vom Stapel, schrieb das Rezept ab und verbarg es heimlich unter den Strafarbeiten.
Der Rest der Arbeit erwies sich als sehr mühselig und Harry kam nur langsam voran. Ab und an blickte Snape von seiner Zeitung auf und warf ihm aus seinen schwarzen Augen einen tiefen, prüfenden Blick zu. Als Harry bereits die Hälfte des Stapels durchgearbeitet hatte, stieß er wieder auf ein Rezept, dass seine Neugierde weckte. „Inferi Immunum“ lautete sein Name. Interessiert begann Harry zu lesen.
Mittel gegen Inferi Angriffe. Inferi reagieren auf Licht… bringt die Haut zum Leuchten…verändert Erscheinung… totenähnlich…. Friedhofskraut… Schweifhaar eines Thestrahls… Mortem Mineralum Staub … muss den Zyklus zwischen zwei Neumonden durchlaufen… sechs rechte Umdrehungen, drei linke… leichenweißer, milchiger Sud… fertig, wenn leuchtender Rauch aufsteigt, der nach Verwesung riecht.
Harry schüttelte sich. Die Vorstellung eines totenbleichen Gebräues, von dem Nebelschwaden mit Verwesungsgeruch aufstiegen, gruselte ihn. Doch die Signatur zog seine Aufmerksamkeit auf sich. In der Ecke fand Harry ein Datum aus dem Jahr 1979. Offensichtlich musste dies ein Originalrezept sein und zudem eines der kompliziertesten, die Harry je gelesen hatte. Von Mortem Mineralum Staub und anderen Zutaten hatte er noch nie gehört. Verwundert suchte Harry nach einem Hinweis auf den Erfinder. Doch wer immer es auch gewesen sein mochte, er hatte das Rezept nicht signiert. Schnell schrieb Harry das Dokument für Snape ab und blätterte eilig weiter. Plötzlich fiel ihm ein Rezept namens „Okkluserum“ in die Hände. Überrascht las Harry die Beschreibung.
Willensstrank. Gegenmittel zu Veratiserum und anderen willensverändernden Tränken. Kann unterstützend bei Widerstandsversuchen gegen Gedächtniszauber, Legilimentik und den Imperiusfluch eingesetzt werden.
Vielleicht konnte auch dieses Rezept ihm hilfreich sein? Abermals zog Harry ein Pergament für sich selbst vom Stapel. Gerade als er seine Feder zum zweiten Mal in die Tinte tauchte, blickte Snape von seiner Zeitung auf. In der letzten Sekunde noch gelang es Harry das Blatt unter die Abschriften zu schieben. Für einen Moment war er sich sicher, dass Snape etwas bemerkt haben musste. Doch dann versenkte dieser seinen Blick wieder schweigend in seine Lektüre. Harry atmete tief aus. Eine halbe Stunde später hatte er mit der Abschrift des Wolfs-Bann-Suds seine Arbeit beendet.
„Sind Sie fertig, Potter?“, fragte Snape kühl, während das flackernde Feuer Schatten an die Wände warf.
„Ja, Professor“, antwortete Harry emotionslos und ließ seine eigenen Abschriften heimlich unter den Umhang gleiten. „Gut“, bemerkte Snape und legte die Zeitung beiseite, „Dann geben Sie ihre Abschriften her, zur Kontrolle!“.
Mit einem unguten Gefühl reichte Harry die Dokumente an ihn weiter. Snapes kritischer Blick überflog Seite um Seite „Es heißt Wolfsbann-Trank, nicht Wolfsbann-Sud“, bemerkte er trocken. „Sonst scheint alles in Ordnung zu sein. Aber den Wolfsbann-Trank und das hier“, Snape hielt Harry das Rezept des Inferi Immunum unter die Nase, „werden Sie erneut abschreiben. Und zwar Neun Mal“.
„Neun Mal?!?“, fragte Harry, „Warum das denn?!?“.
Snape setzte sich aufrecht hin und blickte Harry direkt in die Augen.
„Wie viele Messlöffel Mortemmineralums Staub müssen Sie dem Sud in der Vollmondnacht hinzufügen?“, fragte er streng.
„Keine Ahnung“, antwortete Harry, „ich glaube, drei“.
„Sehen Sie, Potter, genau deswegen. Es sind 3 ½. Und nun fangen Sie an!“.
Widerwillig zog Harry ein Pergament vom Stapel, tauchte seine Feder in die Tinte und begann mit der Arbeit. Erst den Wolfsbann-Trank, dann das andere Rezept. Eins, zwei, drei Blätter waren schnell vollgeschrieben … und nach der neunten „Inferi Immunum“-Abschrift hatte Harry das Gefühl, dass sein Kopf von den Worten „Mortemmineralus, Schweifhaar eines Testrals und leichenweißer, milchiger Sud“ nur so dröhnte. Snape warf ihm ein zufriedenes, triumphierendes Lächeln zu, als Harry die Feder erschöpft beiseitelegte.
„Das war es für heute. Ich erwarte Sie Morgen wieder, Potter“, sprach er knapp und entließ seinen Schüler endlich in die Freiheit. Auf der Türschwelle stehend, konnte Harry gerade noch sehen, wie Snape hinter ihm alle „Inferi Immunum“-Abschriften und sogar das Original ins Kaminfeuer warf.
Verärgert stapfte Harry in Richtung Gryffindorturm davon.
Warum ließ Snape ihn seine Zaubertränke abschreiben, wenn er die Abschriften eh nur verbrennen wollte? Warum machte es Snape nur so viel Spaß, ihn zu ärgern?
Inzwischen war es sehr spät geworden und die fette Dame vor dem Poträtloch schlief bereits, als Harry ihr das Passwort zuraunte. „Das nächste Mal etwas früher, ich brauche meinen Schönheitsschlaf“, murrte sie schlaftrunken. Doch Harry hörte nicht zu. Zum Glück warteten im Gemeinschaftsraum noch seine Freunde auf ihn, als er sich missmutig in den Sessel vor dem Kamin warf.
„Mann Harry, du siehst echt nicht gut aus“, bemerkte Ron und stopfte sich einen Schokofrosch in den Mund.
„Ja, du brauchst dringend etwas Lach-dich-schlapp-Fruchtgummi“, rief Fred.
„Oder Grinse-Marzipan“, fügte George hinzu.
„Oder Wein-vor-Freude-Zuckerwatte“.
„Wir haben da was erfunden.“
„Ich hab euch verboten, euer Zeug an Schüler zu verteilen!“, donnerte plötzlich Hermines Stimme vom Tisch her durch den Raum, ehe sie sich wieder über ihre Bücher für die ZAG-Prüfungen beugte.
„Ist ja schon gut“, antwortete Fred und wandte sich dann flüsternd an Harry: „Also wenn du was brauchst, komm einfach zu uns.“
„Danke“, antwortete Harry, doch die Zwillinge waren bereits verschwunden. „
Was ist denn passiert?“, nuschelte Ron, den Mund voller Schokolade. „Ach, nur Snape mal wieder. Der liebt es, mich zu quälen. Lässt mich wegen eines kleinen Fehlers in so einem Inferi-Schutztrank das ganze Rezept zig Mal abschreiben.“
Hermine blickte plötzlich auf und wandte den Jungen den Kopf zu. „Sagtest du gerade, einen Trank, der vor Inferi schützt?“
„Ja und dann hat er alle Abschriften davon verbrannt“, erklärte Harry. „
Aber Harry!“, rief Hermine plötzlich entzückt, „Verstehst du denn nicht, was Snape tut?“.
Harry blickte sie verwundert an.
„Ich vermute mal, mich nachsitzen lassen, weil er mich hasst.“,
„Nein, Harry“, fuhr Hermine fort, „er unterrichtet dich!“.
Alle Augen waren plötzlich auf sie gerichtet. Eilig schlug Hermine ihre Bücher zu und zog unter dem Stapel ein Stück Papier hervor, das wie eine Zeitung aussah.
„Ich war heute in der Bibliothek, um nachzusehen, ob sich irgendetwas finden lässt, was uns helfen könnte, die DA wieder aufzubauen. Und naja, dabei hab ich zufällig die hier entdeckt“, erklärte sie, trat vor den Kamin und breitete auf dem Boden eine alte Ausgabe des Tagespropheten aus.
„Vermutlich hat Voldemort beim Letzten Mal Inferi benutzt“.
„Was sind denn Inferi?“, unterbrach sie Ron und beugte sich über den Artikel. „Mit schwarzer Magie zum Leben erweckte Leichen“, antwortete Hermine, „Naja, sie sind eigentlich nicht wirklich lebendig, es sind nur Körper, die…“
„Ihh, das ist ja widerlich!“ schrie Ron als er den Bericht dazu las.
„Jedenfalls“, setzte Hermine fort, „Wenn er es beim letzten Mal getan hat, wird er es vielleicht wieder tun. Kann sein, dass Snape davon weiß. Immerhin ist er ja als Spion für den Orden des Phönix unterwegs. Wie oft hat er dich die Rezepte abschreiben lassen, Harry?“
„Zehn Mal“
„So oft, dass du sie auswendig kannst?“
„Ich denke schon…“,
Harry stocke.
„Aber das ergibt doch keinen Sinn! Wenn Snape gewollt hätte, dass ich sie lerne, warum hat er sie mir dann nicht gleich direkt beigebracht?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Hermine nachdenklich, „Vielleicht wegen Umbridge. Ich hab gehört, dass Snape jetzt auch auf Bewährung sein soll. Wenn sie spitz kriegt, dass er dir sowas beibringt, ist er vielleicht dran. Naja, es wird sicher einen Grund dafür geben. Wir sollten die Zutaten sammeln gehen. Vielleicht werden wir den Trank noch brauchen.“
Ron räusperte sich.
„Und du glaubst echt, dass damit alles in Ordnung ist, Hermine? Nicht, dass es am Ende noch Gift ist. Ich meine, das sind Rezepte von Snape. Du weißt schon, der war mal…“
„Dumbledore vertraut ihm“, unterbrach ihn Hermine harsch, „also sollten wir das auch tun. Und mal echt, Ron, wie oft hast du Snape schon zu Unrecht verdächtigt?“
Ron schwieg. Sein Gesicht nahm einen leichten Rotton an.
„Ich meinte ja nur“, flüsterte er so leise, dass weder Harry noch Hermine ihn hören konnten.
„Gut“, sprach Harry, „Dann sollten wir wohl keine Zeit verlieren“.
Damit war die Sache beschlossen. Schon am nächsten Morgen wollten die drei sich aufmachen, um alle Zutaten für „Inferi Immunum“ und auch für das „Okkluserum“ und das „Elixier der Schmerzfreiheit“ zu besorgen.
Verärgert stapfte Harry in Richtung Gryffindorturm davon.
Warum ließ Snape ihn seine Zaubertränke abschreiben, wenn er die Abschriften eh nur verbrennen wollte? Warum machte es Snape nur so viel Spaß, ihn zu ärgern?
Inzwischen war es sehr spät geworden und die fette Dame vor dem Poträtloch schlief bereits, als Harry ihr das Passwort zuraunte. „Das nächste Mal etwas früher, ich brauche meinen Schönheitsschlaf“, murrte sie schlaftrunken. Doch Harry hörte nicht zu. Zum Glück warteten im Gemeinschaftsraum noch seine Freunde auf ihn, als er sich missmutig in den Sessel vor dem Kamin warf.
„Mann Harry, du siehst echt nicht gut aus“, bemerkte Ron und stopfte sich einen Schokofrosch in den Mund.
„Ja, du brauchst dringend etwas Lach-dich-schlapp-Fruchtgummi“, rief Fred.
„Oder Grinse-Marzipan“, fügte George hinzu.
„Oder Wein-vor-Freude-Zuckerwatte“.
„Wir haben da was erfunden.“
„Ich hab euch verboten, euer Zeug an Schüler zu verteilen!“, donnerte plötzlich Hermines Stimme vom Tisch her durch den Raum, ehe sie sich wieder über ihre Bücher für die ZAG-Prüfungen beugte.
„Ist ja schon gut“, antwortete Fred und wandte sich dann flüsternd an Harry: „Also wenn du was brauchst, komm einfach zu uns.“
„Danke“, antwortete Harry, doch die Zwillinge waren bereits verschwunden. „
Was ist denn passiert?“, nuschelte Ron, den Mund voller Schokolade. „Ach, nur Snape mal wieder. Der liebt es, mich zu quälen. Lässt mich wegen eines kleinen Fehlers in so einem Inferi-Schutztrank das ganze Rezept zig Mal abschreiben.“
Hermine blickte plötzlich auf und wandte den Jungen den Kopf zu. „Sagtest du gerade, einen Trank, der vor Inferi schützt?“
„Ja und dann hat er alle Abschriften davon verbrannt“, erklärte Harry. „
Aber Harry!“, rief Hermine plötzlich entzückt, „Verstehst du denn nicht, was Snape tut?“.
Harry blickte sie verwundert an.
„Ich vermute mal, mich nachsitzen lassen, weil er mich hasst.“,
„Nein, Harry“, fuhr Hermine fort, „er unterrichtet dich!“.
Alle Augen waren plötzlich auf sie gerichtet. Eilig schlug Hermine ihre Bücher zu und zog unter dem Stapel ein Stück Papier hervor, das wie eine Zeitung aussah.
„Ich war heute in der Bibliothek, um nachzusehen, ob sich irgendetwas finden lässt, was uns helfen könnte, die DA wieder aufzubauen. Und naja, dabei hab ich zufällig die hier entdeckt“, erklärte sie, trat vor den Kamin und breitete auf dem Boden eine alte Ausgabe des Tagespropheten aus.
„Vermutlich hat Voldemort beim Letzten Mal Inferi benutzt“.
„Was sind denn Inferi?“, unterbrach sie Ron und beugte sich über den Artikel. „Mit schwarzer Magie zum Leben erweckte Leichen“, antwortete Hermine, „Naja, sie sind eigentlich nicht wirklich lebendig, es sind nur Körper, die…“
„Ihh, das ist ja widerlich!“ schrie Ron als er den Bericht dazu las.
„Jedenfalls“, setzte Hermine fort, „Wenn er es beim letzten Mal getan hat, wird er es vielleicht wieder tun. Kann sein, dass Snape davon weiß. Immerhin ist er ja als Spion für den Orden des Phönix unterwegs. Wie oft hat er dich die Rezepte abschreiben lassen, Harry?“
„Zehn Mal“
„So oft, dass du sie auswendig kannst?“
„Ich denke schon…“,
Harry stocke.
„Aber das ergibt doch keinen Sinn! Wenn Snape gewollt hätte, dass ich sie lerne, warum hat er sie mir dann nicht gleich direkt beigebracht?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Hermine nachdenklich, „Vielleicht wegen Umbridge. Ich hab gehört, dass Snape jetzt auch auf Bewährung sein soll. Wenn sie spitz kriegt, dass er dir sowas beibringt, ist er vielleicht dran. Naja, es wird sicher einen Grund dafür geben. Wir sollten die Zutaten sammeln gehen. Vielleicht werden wir den Trank noch brauchen.“
Ron räusperte sich.
„Und du glaubst echt, dass damit alles in Ordnung ist, Hermine? Nicht, dass es am Ende noch Gift ist. Ich meine, das sind Rezepte von Snape. Du weißt schon, der war mal…“
„Dumbledore vertraut ihm“, unterbrach ihn Hermine harsch, „also sollten wir das auch tun. Und mal echt, Ron, wie oft hast du Snape schon zu Unrecht verdächtigt?“
Ron schwieg. Sein Gesicht nahm einen leichten Rotton an.
„Ich meinte ja nur“, flüsterte er so leise, dass weder Harry noch Hermine ihn hören konnten.
„Gut“, sprach Harry, „Dann sollten wir wohl keine Zeit verlieren“.
Damit war die Sache beschlossen. Schon am nächsten Morgen wollten die drei sich aufmachen, um alle Zutaten für „Inferi Immunum“ und auch für das „Okkluserum“ und das „Elixier der Schmerzfreiheit“ zu besorgen.
„Chrm Chrm“
Harry saß stocksteif auf seinem Stuhl und blickte stur geradeaus. Das schneeweiße Kätzchen auf dem Porzellanteller über dem Kamin blinzelte ihn mit verwundert großen Augen an, ehe es leise miaute, sich umdrehte und aus dem Bild lief.
„Nun, wie mir scheint leiden wir heute ein wenig an Schwerhörigkeit?“, drang die sanfte Stimme an Harrys Ohr. Sie war so zuckersüß, dass es einem Zahnschmerzen bereitete, sie auch nur zu hören. In einer anderen Ecke des Raumes erklang plötzlich ein Räuspern.
„Ähm… wir… könnten… dürften …wegen…Potter“
Das war Goyle. Harry konnte nicht sagen, dass er sich jemals über seine Anwesenheit gefreut hätte. Doch in diesem Moment war ihm jede Störung nur allzu willkommen, die Umbridge davon abhalten könnte, ihn ins Verhör zu nehmen.
Dank Malfoys Ganzkörperklammer hatte es dessen Leibgarde tatsächlich geschafft, Harry hinauf in ihr Büro zu bringen und ihr zu erzählen, wo sie ihn aufgegriffen hatten. Harry wusste, was ihm blühen würde. Sein Handrücken schmerzte schon, wenn er nur daran dachte. Doch er schwor sich, sich von Umbridge nicht ausquetschen zu lassen. Crabbe und Goyle hatten ihr nicht von Ron und Hermine im Gewächshaus berichtet, nur davon, dass sie ihn am Rande des Verbotenen Waldes gestellt hatten. Und Harry würde seine Freunde gewiss nicht verraten, nicht mit in diese Sache hineinzerren. Er würde schweigen, koste es, was es wolle. Wie es den beiden wohl ergangen war? Hoffentlich, hoffentlich ging es wenigsten ihnen gut, dachte Harry besorgt. Was er am Gewächshaus gesehen hatte, ließ ihm noch immer keine Ruhe.
Langsam wandte sich der pinkfarbene Schatten in seinem Augenwinkel von ihm ab und der Richtung zu, in der Crabbe und Goyle standen. Unmerklich atmete Harry aus. Für ein paar Sekunden zumindest würde er noch seine Ruhe vor Umbridge haben.
„Oh ja, ja ja, aber selbstverständlich sollen Sie Ihre Belohnung haben“, konnte er die Kleinmädchenstimme aus der Ferne hören. Harry wusste nicht ob er lachen oder brechen sollte. Wie kam es, dass das Leben immer die Falschen begünstigte?
„Wie dumm von mir, das zu vergessen. Brave Kinder sollen natürlich bekommen, was sie verdienen. Wir sind doch Freunde, nicht wahr? Nun, ich denke, zwanzig Punkte für Ihr Haus dürften angemessen sein, für jeden von Ihnen.“
„Und Draco?“
„Bitte?“ Umbridge schien ihm nicht folgen zu können.
„Draco…war…auch…dabei“, erklärte Crabbe so langsam, als hätte er selbst nicht ganz verstanden, was er da sagte.
„Nun, dann auch Malfoy“, antwortete Umbridge lächelnd.
Harry seufzte leise und angelte sich derweilen schon einmal ein Blatt Pergament vom nahegelegenen Stapel. Wenn er sich schon selbst verletzen musste, dann wollte er es wenigstens schnell hinter sich bringen. Ohne viel Reden ließ sich das Nachsitzen bei Umbridge meist besser ertragen. Wenn er doch nur schon das Elexier der Schmerzfreiheit hätte. Doch die Zutaten dafür hatte er im Gewächshaus zurücklassen müssen, genau wie seinen Tarnumhang am Rande des Verbotenen Waldes, den nun Malfoy hatte. Gerade noch konnte Harry seinen Gedanken zu Ende denken, als Umbridge Crabbe und Goyle auch schon zur Tür brachte und wieder auf ihn zukam.
„Was soll ich diesmal schreiben?“, fragte er kalt, als die Großinquisitorin von Hogwarts auf der anderen Seite des Pults Platz nahm. Auf dem krötenartigen Gesicht lag noch immer ein Lächeln. Ein verdächtiges Lächeln.
„Schreiben?!? Aber nicht doch, nicht. Ich will mich nur ein wenig mit Ihnen unterhalten, Potter. Alle Kinder sind doch froh, wenn sie jemanden haben, dem sie ihre ganzen Geheimnisse anvertrauen können, nicht wahr? Mögen sie Tee?“
Mit ihrem Zauberstab ließ Umbridge zwei Tassen und eine Kanne kochendes Wasser auf das Pult schweben. Dann wandte sie zum Eingießen Harry den Rücken zu, so dass er nicht sehen konnte, was sie tat. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Etwas Ähnliches hatte er in diesem Zimmer schon einmal erlebt.
„Danke, ich verzichte“, sagte er scharf. Wie viel lieber wäre er jetzt bei Ron und Hermine, wo immer sie auch sein mochten. Seine Gedanken hörten einfach nicht auf um die beiden zu kreisen.
„Aber, Aber. Kinder in Ihrem Alter sollten viel trinken. Nehmen Sie schon“, säuselte Umbridge und schob ihm die Tasse mit einem falschen Lächeln unter die Nase. „So ist es doch schon gleich viel gemütlicher, nicht wahr?“
„Sie können sich die Mühe sparen. Ich werde nichts sagen“, entgegnete Harry glatt. Allmählich ging ihm die Scheinheiligkeit dieser menschgewordenen Kröte auf die Nerven. Es war doch sonnenklar, worauf sie hinaus wollte.
„Bekümmert es Sie denn gar nicht, dass ihre lieben Mitschüler wegen Ihnen gerade hundert Hauspunkte verloren haben?“
„Und wenn Sie Gryffindor zweihundert abziehen, ich schweige.“
Es war die Wahrheit. Lieber würde Harry Gryffindors ganzen Punktestand riskieren, als Umbridge vom Schatten, vom Gewächshaus, von Ron und Hermine und von Snapes Rezepten zu erzählen. Eigenartig – irgendwie hatte er sogar wegen Snape Bedenken, fiel ihm gerade auf.
„Nun, wenn das so ist“, fuhr Umbridge fort und riss Harry aus seinen Gedanken, „Vielleicht fällt es Ihnen ja wirklich leichter, sich erst einmal alles von der Seele zu schreiben. Und falls sie dann doch noch mit mir reden möchten, ich habe den ganzen Nachmittag Zeit, Ihnen zuzuhören.“
Harry schluckte. Aus ihrem Schreibtischfach zog die Großinqiusitorin die altbekannte Schreibfeder hervor, die ihm schon so viele schmerzvolle Stunden bereitet hatte. Noch vor einer Sekunde hatte Harry gedacht, dass er seiner Strafe ganz lässig ins Auge blicken würde. Doch jetzt, wo es tatsächlich soweit gekommen kam, war Harry es im Angesicht der bevorstehenden Qualen unerträglich, sein Folterinstrument noch weiter anzusehen. Nervös schaute er sich im Raum um, als sein Blick auf eine Uhr zwischen den pinken Porzellantellern fiel. Die Zeiger standen auf fünf vor zwei.
Plötzlich fiel Harry etwas ein. Etwas, das er unter anderen Umständen liebend gerne verdrängt hätte, doch ihm genau in diesem Moment wie eine glückliche Fügung des Schicksals, die Rettung aus seiner Misere erschien.
„Sie können mich nicht hier behalten, Professor“, sagte er rasch, „Ich habe in fünf Minuten Nachsitzen bei Professor Snape.“
Dolores Umbridge schaute auf. Für einen Moment wirkte sie irritiert, ehe ihr Krötengesicht wieder den gewohnten Ausdruck falscher Freundlichkeit annahm.
„Nun, ich denke, dann wird Professor Snape heute wohl auf Sie verzichten müssen“, sprach sie in ihrer süßlichsten Stimme und griff zu einer großen, goldenen Glocke, die auf ihrem Schreibtisch stand.
Harry spürte, wie sein Herz sank. Sein Versuch, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, war gescheitert. Eigentlich hätte er ja damit rechnen müssen. Wie konnte er auch glauben, dass Umbridge ihn Snape überlassen würde? Dennoch, einen Versuch war es wert. Vor Kurzem noch wäre Harry froh darüber gewesen, der Strafarbeit bei Snape zu entgehen. Doch mit Aussicht auf einige Stunden in Umbridges Büro war dies eher ein zweifelhaftes Vergnügen. Ja, einen Nachmittag im Labor würde er wikrlich vorziehen. Immerhin verlangte Snape nicht von ihm, sich selbst zu verletzen. Dass er Harry ausgerechnet für dieses Wochenende zwei Tage Nachsitzen aufgebrummt hatte – es war schon merkwürdig, wie die Dinge sich manchmal trafen. Nützen würde es ihm leider wohl nicht. Umbridge war zurzeit stellvertretende Direktorin und ihr Wort galt mehr als das irgendwelcher Lehrer. Betrübt starrte Harry ins Leere.
Kaum hatte Umbridge die Glocke wieder auf den Schreibtisch gestellt, da stürmte auch schon der Hausmeister ins Zimmer.
„Bitte, Filch“, sagte Umbridge, „Gehen Sie doch hinab in die Kerker und holen mir Professor Snape. Ich habe eine Kleinigkeit mit ihm zu besprechen.“
„Sehr wohl, Frau Großinquisitorin“
Er wandte sich um und war verschwunden.
Harry wartete und starrte gebannt auf die Türe. Es dauerte gar nicht so lang wie er erwartet hatte, bis Snapes fledermausartige Gestalt im Rahmen erschien.
„Sie wünschten, mich zu sehen?“, fragte er kühl.
„Sehr richtig“, antwortete Umbridge und deutete auf Harry, „Es geht um den jungen Mann hier drüben.“
Snape warf ihm einen kurzen Blick zu, der trotz seiner Flüchtigkeit ungewöhnlich scharf war. Fast fühlte Harry sich durchbohrt.
„Er wurde gerade aufgegriffen, als er im Begriff stand, das Schlossgebäude zu verlassen. Ich wollte ihn für den Nachmittag hier behalten, doch da erklärte er mir, dass er heute bereits bei Ihnen eine Strafe abzusitzen hätte. Ist dies richtig?“
„Ja, das entspricht den Tatsachen“, antwortete Snape kühl, „Wie sie sicherlich wissen, hält Potter nicht viel von den Schulregeln.“
„Nun, Sie werden sicher einsehen“, unterbrach ihn Umbridge ohne den Eindruck zu erwecken, Snape wirklich zugehört zu haben, „dass eine Bestrafung seiner jüngsten Taten in diesem Fall vorgeht. Das unerlaubte Entfernen vom Schulgelände ist nach der neusten Ergänzungsklausel 87c des Ministeriums als schwerwiegendes Vergehen zu werten, das sofort geahndet werden muss.“
„Aber natürlich“, entgegnete Snape, die Hände auf dem Rücken verschränkt und Umbridge einen ebenso bohrenden Blick zuwerfend wie Sekunden zuvor Harry, „Wenn sie für die Sicherheit der Schüler garantieren können…“
Die Großinquisitorin schaute Snape irritiert an. Harry tat es ihr gleich.
„Wovon sprechen Sie denn nun wieder, Professor Snape? Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen“
Zum ersten Mal in diesem Schuljahr konnte Harry ihr zustimmen. Etwas, dass er bis dahin für unmöglich gehalten hatte.
„Ach, hat Ihnen Mr. Potter das nicht erzählt?“, erklärte Snape süffisant, „Er sollte mir beim jährlichen Ausmisten der Giftschränke vor dem Ende der Schuljahres zur Hand gehen. Ich dachte mir, dass es nicht Sinne des Ministeriums wäre, wenn Schüler durch den Einsatz abgelaufener Substanzen zu Schaden kämen. Oder sehe ich das falsch, Frau Großinqiusitorin?“
Harry schaute ihn irritiert an. Davon hatte Snape nie etwas erwähnt, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern. Schnell warf er einen Blick zum pinken Umhang hinüber. Für den Bruchteil einer Sekunde schienen Umbridge die Gesichtszüge zu entgleiten, ehe ein Lächeln, das ebenso breit wie falsch war, auf ihren Lippen erschien.
„Sicher, damit haben Sie absolut Recht“, erklärte sie süßlich, „Doch ich denke wohl, sie werden mit dieser Aufgabe auch alleine zurechtkommen und nicht die wertvolle Zeit ihrer Schüler dafür vergeuden müssen, nicht wahr?“
„Oh, ich wäre froh, wenn ich dies behaupten könnte“, antwortete Snape kühl, „Leider ist meine Zeit durch das Brauen großer Mengen an Veritaserum momentan sehr eingeschränkt. Natürlich kann ich die Herstellung sofort einstellen, wenn dies Ihr Wunsch ist.“
Mit einem hämischen Grinsen trat er einen Schritt näher an sie heran. Umbridge knirschte mit den Zähnen.
„Nun…“, setzte sie in falschem Tonfall fort, „Für diesen Nachmittag kann es wohl nicht schaden, wenn der Junge Ihnen hilft. Ich habe ohnehin noch anderes zu erledigen.“
„Vielen Dank“, entgegnete Snape mit blitzenden Augen und verneigte sich zum Abschied, „Kommen Sie, Potter, wir gehen!“.
„Nicht so schnell!“, rief Umbridge ihm hinterher, „Sie haben doch sicher meine Benachrichtigung über die Inspektion heute Abend erhalten, oder? Siebzehn Uhr?“
„selbstverständlich“, antwortete Snape geheimnisvoll und rauschte aus der Türe.
Harry folgte ihm auf dem Fuß, eilte dem schwarzen Umhang hinterher, der sich schnellen Schrittes seinen Weg in Richtung Kerker suchte. So ganz hatte er noch immer nicht realisiert, was gerade geschehen war. Snape hatte ihn vor dem Nachsitzen bei Umbridge bewahrt! Zwar nur, um ihn selbst nachsitzen zu lassen, aber dennoch: Snape hatte ihn gerettet, gerettet vor Stunden grausamer Bestrafungen. Endlich hatte Harry seinen Lehrer eingeholt. Er wollte etwas sagen, doch der Tränkemeister warf ihm einen so finsteren Blick zu, dass Harry sofort verstummte. Die meiste Zeit auf dem Weg zu den Kerkern sprach Snape kein Wort. Die schwarzen Augen in seinem grimmigen Gesicht schienen nur die Gänge nach unerwünschten Beobachtern abzusuchen und Harry folgte ihm missmutig. Vor dem Aufgang zum Gryffindorturm hielt Snape plötzlich inne.
„Ich erwarte Sie in zehn Minuten im Kerker und bringen Sie Miss Granger mit!“
„Hermine? Warum denn sie?“. Harry war verwirrt. Noch immer stand Snape mit dem Rücken zu ihm. Was führte er nur im Schilde?
„Stellen Sie nicht so viele Fragen, Potter! Und-“
„Ja?“
„Passen Sie in Zukunft gefälligst besser auf Ihren Tarnumhang auf! Ich konnte Mr. Malfoy gerade noch davon überzeugen, ihn mir anstatt Umbridge auszuhändigen. Und ich habe keine Lust, nochmal hinter Ihnen aufräumen zu müssen!“
Harry blickte überrascht auf. Dann war der schwarze Schatten, den sie in der Nähe des Gewächshauses gesehen hatten also Snape gewesen?
„Der Tarnumhang-“, stammelte Harry.
„-Ist bis auf Weiteres konfisziert“, fiel ihm Snape ins Wort.
Und jetzt wandte er sich um und ein hämisches Grinsen lag auf seinen Lippen.
„Bis gleich, Potter“, sagte er leise und zog davon.
Harry warf dem Tränkemeister einen Blick hinterher, beobachtete wie der schwarze Umhang um die nächste Ecke bog. Was um alles in der Welt ging hier vor, dachte er. Dann aber schüttelte er den Kopf. Ron und Hermine waren im Gryffindorturm und sie warteten auf ihn.
„Klausel 34“, murmelte er der fetten Dame zu.
„Fünfundreißig inzwischen, mein Lieber“
Harry schaute sie mit großen Augen an.
„Was?!? Wann hat sich denn das Passwort geändert?“
„Heute Mittag um 12:00“
Noch immer starrte Harry auf das Gemälde.
„Darf ich trotzdem rein?“
Für eine Sekunde schien die fette Dame ihn kritisch zu beäugen, dann seufzte sie.
„Na gut, ausnahmsweise“ und das Porträt schwang zur Seite.
„Und richten Sie Ihren Freunden aus, dass sie sich das Passwort das nächste Mal früher besorgen sollen. Auch noch Vertrauensschüler…“
Die Stimme verklang.
Ihre letzten Worte bekam Harry nicht mehr mit. Kaum hatte er die Treppe betreten, kam ihm auch schon jemand entgegen.
„Harry, Harry, ist alles in Ordnung mit dir?“.
Es war Hermine, die vom Tisch aufgestanden war und auf ihn zueilte.
„Mir geht es gut. Aber…“, er schaute ihr mitten ins Gesicht, „was ist hier eigentlich los?“
„Snape hat uns erwischt“, antwortete Ron, der inzwischen zu ihnen gestoßen war.
„Als du weggerannt bist und Malfoy, Crabbe und Goyle nicht mehr da waren, sind wir wieder aus dem Schrank raus. Ich hab schnell unsere Sachen zusammengerafft und Ron ist raus, um dir zu helfen und ich wollte hinterher, doch dann-“
„- ist Snape vom Schloss runter gekommen und Malfoy aus der anderen Richtung. Ich konnte gerade noch rein, Hermine warnen. Da waren die beiden auch schon vor dem Gewächshaus.“
„Snape hat Malfoy gefragt was los ist und sich von ihm den Tarnumhang geben lassen“
„Er hat ihn doch ziemlich rangenommen, von wegen Diebstahl von Schülern seines eigenen Hauses und so. Hätt‘ ich nicht gedacht. Punkte hat er ihm aber keine abgezogen.“
„Wir haben durch die Fenster gesehen, wie Crabbe und Goyle dich vorbeigeschleppt haben. Ich wusste sofort, dass sie dich zu Umbridge bringen. Snape hat’s nicht bemerkt, er stand mit dem Rücken zu ihnen. Wir wollten wieder in den Schrank, uns verstecken, doch in dem Moment-“
„- kommt Snape rein. Das war ein Donnerwetter, kann ich dir sagen.“
„Was hat er mit euch gemacht“, Harry blickte zuerst Ron, dann Hermine an, „Hat er euch die Zutaten abgenommen? Hat er euch bestraft?“
„Nein“, antwortete Hermine und blickte zu Ron, „Die Zutaten hatte ich schon weggepackt. Er hat uns nur eine Standpauke gehalten und Hauspunkte abgezogen und gesagt, dass das noch ein Nachspiel haben wird, sonntags ins Gewächshaus einzubrechen.“
„Der hat uns ziemlich zur Schnecke gemacht, kannst du uns glauben, war nicht schön.“
„Naja und dann hat er uns hoch zum Schloss gebracht, bis zum Gryffindorturm und meinte, wir sollen rein und uns bloß nicht nochmal in die Schlossgründe wagen.“
„Und dann ist er weg, sagte er müsse nur noch eine Kleinigkeit erledigen und ist in Richtung Umbridges Büro davon. Und dann bist du gekommen.“
„Harry, ich glaube, Snape war uns wohl schon eine ganze Zeit lang auf den Fersen.“
Harry hatte die ganze Zeit still zugehört und atmete tief aus. Jetzt war ihm klar, warum Snape so schnell in Umbridges Büro aufgetaucht war. Er musste Filch wohl direkt in die Arme gelaufen sein, weil er ohnehin schon auf dem Weg zu ihr war. Und wenn Hermine Recht hatte und Snape sie die ganze Zeit beobachtet hatte, warum war er nicht früher ins Gewächshaus gekommen? Doch Harry hatte keine Zeit darüber nachzudenken.
„Hört mal“, begann er zu erklären, „Snape wartet unten im Kerker auf mich wegen der Sache mit Neville. Ich soll in zehn Minuten bei ihm sein und er will, dass du mitkommst, Hermine.“
„Ich?“, sie schaute ihn verwundert an, „Harry, meinst du nicht, dass er sagte, er will uns alle drei sehen? Ich meine, er weiß doch, dass wir alle im Gewächs-“
„Nein, Hermine, er sagte ‚und bringen Sie Miss Granger mit‘“.
Harry klang schroffer als er beabsichtigt hatte. Hermine hob die Augenbrauen.
„Aber was könnte er ausgerechnet von mir wollen, Harry?“
„Ich habe keine Ahnung“
Für eine Sekunde blickten die beiden Freunde sich an. Fragezeichen standen in Rons und Hermines Gesichtern.
„Gut, ich komme“, sagte Hermine schließlich und unter Rons Blicken, der ihnen skeptisch hinterher schaute, kletterten sie durchs Porträtloch.
„Ah, Mr. Potter und Miss Granger und beide nur eine Minute zu spät“, sprach der Tränkemeister süffisant, als die Jugendlichen eintraten.
Snapes Kerkerbüro war am frühen Nachmittag fast so finster wie am Abend. Schwebende Kerzen tauchten das Gewölbezimmer in spärliches Licht, das sich in den vielen Einmachgläsern zu einem grünlichen Schein brach. Und nur ein winziges Fenster ganz am Ende des Raumes stach grau aus der Dunkelheit hervor als einziger Beweis dafür, dass die Nacht noch nicht hereingebrochen war. Weder Harry noch Hermine sprachen ein Wort, als sie vor das Pult traten, wo Snapes dunkle Augen sie scharf beäugten. In einer Ecke des Raumes konnte Harry seinen Tarnumhang auf einem Schemel liegen sehen und es wurmte ihn, dass dieser erst in Malfoys, nun in Snapes, aber nicht in seiner Hand war.
„Wie ich Mr. Potter bereits im Büro unserer allseits beliebten Großinquisitorin erklärt habe“, begann Snape zu sprechen und trat vor den Jugendlichen auf und ab, „besteht Ihre heutige Aufgabe darin, die Vorräte, die sie in diesem Raum sehen von abgelaufenen Substanzen zu befreien. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass die Entsorgung schlecht gewordener Zaubertrankzutaten den strengen Richtlinien der ‚Abteilung für magischen Umweltschutz‘ unterliegt. Tierische und pflanzliche Abfälle müssen zunächst getrennt werden, ehe der Evanesco-Zauber auf sie angewendet werden darf. Sie haben hierfür zwei Zinneimer zur Verfügung. Extrakte, Essenzen und Elexiere bedürfen einer Filterung. Benutzen Sie hierfür den Trichterkasten, den Sie auf meinem Schreibtisch sehen“.
Snape deute auf ein merkwürdig aussehendes hölzernes Gerät auf dem Pult.
„Als abgelaufen können Sie alle Zutaten betrachten, deren notiertes Haltbarkeitsdatum bis zum Ende des Schuljahres erreicht ist. Eine Zutat, die erst in zwei Tagen abläuft gilt demnach als ebenso abgelaufen wie eine Zutat, deren Haltbarkeitsdatum bereits überschritten ist. Leere Flakons, Säckchen, Dosen und Einmachgläser stellen Sie auf dem Leiterwagen ab, den Sie hier in der Ecke sehen. Da dies eine Strafarbeit ist, ist Ihnen der Gebrauch von Magie untersagt. Ich werde Ihre Arbeit überwachen. Sollte ich bloß ein einziges Mal sehen, wie einer von Ihnen auch nur andeutungsweise nach seinem Zauberstab greift, wird dies Konsequenzen für Sie haben. Haben Sie mich verstanden, Granger, Potter?“
Harry nickte stumm. Hermine tat es ihm gleich, doch dann öffnete sie den Mund.
„Dürfte ich Sie etwas fragen, Sir?“
„Was?“, antwortete Snape schroff.
„Sie haben diese Arbeit Harry aufgetragen, warum sollte ich-“
Snape verrollte die Augen.
„Betrachten Sie es als eine Lehrstunde, wohin Sie die unverbesserliche Neugierde führen kann, die Sie heute wieder so glänzend an den Tag gelegt haben, Miss Granger.“
Hermine verstummte.
„Nun, wenn keine weiteren Fragen sind, beginnen Sie mit dem Schrank gleich hinter mir.“
Snape deutete hinter das Pult und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Ohne ein weiteres Wort griff Hermine den Trichterkasten und ging hinüber zum Schrank. Harry folgte ihr. Aus dem Augenwinkel konnte er einen kurzen Blick auf die Pergamente erhaschen, die auf Snapes Schreibtisch lagen. Es war eine ihrer letzten Zaubertrankhausaufgaben und der oberste Aufsatz gehörte Goyle. Ein dickes, rotes S, eindeutig Snapes Handschrift, war darunter gekritzelt. Harry hob die Augenbraue.
„Hast du gesehen, was der Goyle für eine Note gegeben hat?“, flüsterte er Hermine zu, als er den Schrank erreicht hatte.
„Ja, schon merkwürdig, nicht? Ich hätte nicht gedacht, dass Snape jemals einen Slytherin schlechter als A bewertet.“
Plötzlich kicherte sie.
„Was ist denn Hermine?“
„Ach, weißt du, Harry, jemand, der schreibt, dass Mondsteinpulver eine prima Backzutat für Schokomuffins ist, hätte eigentlich ein Troll verdient. Wahrscheinlich meint es Snape wirklich gut mit ihm, indem er beide Augen zudrückt und ihm noch ein S gibt. Ich freu mich schon auf Goyles Gesicht morgen. Aber los jetzt, ehe Snape noch was merkt“.
Bald schon waren Harry und Hermine vollauf beschäftigt mit ihrer Arbeit. Immer mehr leere Flakons landeten auf dem Leiterwagen und in den Blecheimern türmten sich zwei übelriechende Haufen. Ab und an wandte Snape sich um und warf ihnen einen strengen Blick zu. Sonst war das Rascheln seiner Feder auf dem Pergament, seines Umhangs auf der Stuhllehne und ein „miserabel“ oder „grauenvoll“ alles, was die beiden von ihrem Lehrer mitbekamen. Es mochte etwa eine halbe Stunde vergangen sein, als Hermine plötzlich innehielt.
„Wart mal, Harry“, sagte sie leise, als er gerade eine stinkende, torfschwarze Brühe in den Trichterkasten goss, „Ich glaube, ich habe gerade etwas entdeckt.“
Harry blickte auf. Hermine saß auf dem Boden und studierte aufmerksam die Aufschrift einer kleinen Phiole mit einer glasblauen Substanz.
„Hier, das hier, so wie es aussieht, ist das Timogotserum. Genau was wir brauchen!“, strahlte sie.
Harry starrte seine beste Freundin verwundert an.
„Timogotserum?!? Was ist denn Timogotserum? Ich kann mich nicht erinnern, dass davon etwas in den Rezepten stand.“
Hermine quittierte seine Frage mit einem finsteren Blick.
„Harry“, flüsterte sie ernst, „Hast du dir denn niemals aus Neugierde ein Zaubertrankbuch der UTZ-Stufe angesehen?“
Ein verdächtiges Rascheln von Snapes Umhang auf dem Stuhl übertönte ihr Gespräch. Harry warf ihm rasch einen prüfenden Blick zu. Zum Glück schien die Luft rein zu sein. Schnell beugte er sich zu Hermine hinunter.
„Nein“‘, gestand er.
Hermine schüttelte den Kopf, als ob es ihr unbegreiflich wäre, wie man solches Desinteresse an Büchern hegen konnte.
„Timogotserum brauchst du für Kartoffelbauchpilze. Du kannst Kartoffelbauchpilze nicht ohne Weiteres entkernen. Die Gefahr, dass die Blüten aufspringen, ist viel zu groß. Deswegen legt man sie in eine Lösung aus 1 Liter Wasser und 3 Tropfen Timogotserum ein. Timogot verhärtet die Schale, so dass die Pflanze sich im Wasserbad gefahrlos aufschneiden lässt. Außerdem versiegelt Timogot die Kerne, so geben sie ihre Wirkstoffe erst bei großer Hitze frei, die andernfalls einfach verdunsten würden. Das ist Stoff der 7. Klasse.“
Gerade hatte Hermine ausgesprochen, als sich Snape plötzlich zu ihnen umdrehte, um nach dem Rechten zu sehen. Harry blickte auf und er hätte schwören können, dass ein leichter Anflug von einem Lächeln Snapes Lippen kräuselte, ehe dieser sich wieder seinen Korrekturen zuwandte. Dann wurden Harrys Gedanken abermals von einem Rascheln unterbrochen. Schnell blickte er zurück auf den Boden und konnte gerade noch sehen, wie das Fläschchen mit dem Timogotserum in einem kleinen Beutel verschwand, den Hermine aus ihrer Manteltasche zog.
„Was tust du da?“, flüsterte Harry.
„Das Serum läuft erst in drei Tagen ab. Wenn wir die Kartoffelbauchpilze heute noch einlegen, können wir sie übermorgen entkernen.“
„Was, wenn Snape dich erwischt? Hermine, ich hab in letzter Zeit wirklich genug nachgesessen.“
„Willst du den Inferi Immunum brauen oder nicht?“
Harry schwieg. Für eine Sekunde schauten er und Hermine sich noch an, dann griff er stumm ein Glas mit Krötenaugen, die inzwischen eher einer gräulichen Masse glichen und kippte den Inhalt auf den stinkenden Kadaverhaufen im Blecheimer zu seiner Linken. Etwa zwanzig Minuten später hatten sie den Schrank ausgemistet.
„Schön“, bemerkte Snape trocken, „Hier drüben geht es weiter“.
Harry hatte das Gefühl, als wolle die Arbeit einfach nicht enden. Es war ein Glück, dass Hermine bei ihm war und das in gleich doppelter Hinsicht. Denn wie Harry bald feststellen musste, war ihre Gesellschaft nicht nur eine angenehme Ablenkung vom mühseligen Ausmisten, sondern auch überaus nützlich. Tatsächlich entdeckte sie in Snapes Vorräten vielerlei Zaubertrankzutaten und notwendige Hilfsmittel, die Harry glatt übersehen hätte und von denen er nicht einmal die Hälfte kannte. So wäre ihm das Glas mit den Jobberknollfedern gewiss nicht aufgefallen, geschweige denn der Mortem Mineralum Staub. Doch noch viel erstaunlicher war, dass alle diese Zutaten in jenem winzigen Beutel Platz fanden, den sie mit sich herumtrug. Irgendwann hielt es Harry nicht mehr aus.
„Hermine, was hast du eigentlich mit diesem Ding gemacht?“
„Unaufspürbarer Ausdehnungszauber. Ziemlich praktisch, oder?“
„Ist das auch Stoff der siebten Klasse?“
„Hmm, ich glaube nic-“
Plötzlich zuckte Harry zusammen. Eine helle Stichflamme hatte den Kerker in gleißendes Licht getaucht. Reflexartig drehten sich er und Hermine um. Vor ihren Augen glitt ein schwanengroßer, feuerfarbener Vogel über den Boden auf Snapes Schreibtisch zu.
„Fawkes?“, flüsterte Harry erstaunt, „was will denn Dumbledores -“
Doch in diesem Moment ließ der Phönix einen Brief direkt vor Snapes Nase fallen und landete auf dem Pult, den Kopf an Snapes Arm schmiegend.
„Lass das!“, zischte Snape, brach das Siegel und schien den Brief sehr konzentriert zu lesen.
Auf einmal warf er einen Blick in Harrys und Hermines Richtung.
Schlagartig wandten sich die beiden dem Regal zu, nur um Sekunden später wieder zu Snapes Schreibtisch hinüber zu schielen.
Hastig schrieb der Tränkemeister etwas die Rückseite des Pergaments, stopfte es zurück in den Umschlag und steckte den Brief dem Phönix in den Schnabel.
„Bring ihn zu Dumbledore zurück!“, sagte er leise.
Eine erneute Stichflamme und Fawkes war verschwunden.
Harry und Hermine tauschten einen tiefen Blick, doch schwiegen.
Wenig später standen auch sie an Snapes Tür zum Abflug bereit. Fast drei Stunden hatte die Arbeit in Anspruch genommen, ehe der Tränkemeister die beiden entließ. Inzwischen war es fast fünf. Harry war gerade im Begriff die Schwelle zu übertreten, als Snape ihn zurückrief.
„Potter!“, sprach er süffisant.
Entnervt wandte sich Harry um und blickte in das fahle, hakennasige Gesicht seines Lehrers. Ein Grinsen lag Snape auf den Lippen.
„Ich erwarte Sie und Mr. Weasley Morgen nach dem Abendessen in diesem Büro – zum Nachsitzen für Ihren kleinen Ausflug ins Gewächshaus. Ihre Sonderstunden werden ein wenig später stattfinden müssen. Ein rechtzeitiges Erscheinen könnte sich günstig auf meine Bereitschaft auswirken, gewisse magische Gegenstände ihrem Besitzer zurückzugeben. Miss Granger indessen, Sie sind mit dem Absitzen ihrer Strafe heute Abend entlassen. Einen schönen Abend.“
Harry wandte sich um und verließ mit Hermine wortlos den Raum.
Das Fackellicht auf der Wendeltreppe fiel warm in Hermines Gesicht, als die Tür zu Snapes Büro sich hinter ihnen schloss. Mit leuchtenden Fingern fuhr es ihre konzentrierten Züge entlang, während sie ihre Blicke in einen kleinen Zettel vertiefte. Harry jedoch beachtete seine beste Freundin kaum.
„Na das wird ein schöner Spaß morgen!“, grollte er, als die beiden die Treppe zur Eingangshalle empor stapften, „Erst eine Doppelstunde Zaubertränke, dann schon wieder Nachsitzen und hinterher auch noch Okklumentik.“
Er warf Hermine, die von ihrem Zettel aufschaute, einen gequälten Blick zu.
„Warum“, sagte er verärgert, „Warum macht es Snape nur so viel Spaß, mich zu ärgern? Das ist jetzt schon der dritte Tag in nur einer Woche, an dem er mich nachsitzen lässt. Keinem Anderen drückt er so viele Strafarbeiten auf wie mir und dabei hätte gerade Malfoy das so verdient. Sag mir Hermine, warum macht Snape das, warum?“
Hermine schaute nachdenklich in die Luft.
„Ja, das ist schon merkwürdig“, bemerkte sie leise, „Wenn ich es nicht besser wüsste, dann-“
„Dann was?“, fragte Harry ungeduldig. Seine schlechte Laune konnte und wollte er nicht verbergen.
„Naja“, fuhr Hermine fort und atmete tief durch, „So oft wie er dich sehen will, Harry. Also wenn das nicht Snape und du wären, könnte man fast glauben, dass er dich gern bei sich hat.“
Harry lachte. „Das ist wirklich ab-“
Doch plötzlich hielt er inne. Gegen seinen Willen hatte sich schlagartig ein Satz, den er vor einigen Wochen auf dem Flur vor Dumbledores Büro gehört hatte, aus seinem Hinterkopf wieder in sein Bewusstsein gedrängt.
„Alle denken, dass Eis kalt ist. Aber wenn man es lange genug berührt, spürt man, dass es glüht“.
Auf einmal fühlte Harry sich sehr sonderbar, fast so als wäre er gerade durch einen kalten Nebel gelaufen oder der Fast Kopflose Nick hätte seine Hand getätschelt. Was war geschehen? Harry konnte nicht sagen, was dieses Gefühl genau war, er konnte nicht sagen, was er gerade dachte. Alles war eigenartig, merkwürdig. Und doch sagte sein Gespür ihm, dass er gerade im Begriff war, auf etwas zu stoßen, das irgendwo vor ihm im Nebel verborgen lag.
Hermine bemerkte, dass er stehen geblieben war und wandte sich zu ihm um.
„Harry, ist alles in Ordnung mit dir?“, frage sie besorgt.
Harry schüttelte den Kopf, als wollte er jeden Verdacht von sich ablenken.
„Jaja, alles okay“, log er. In Wahrheit ließ ihn Lunas Satz nicht los.
Unter den skeptischen Blicken seiner besten Freundin kam er die Treppenstufen zu ihr hinauf.
Wahrscheinlich war er einfach nur müde auch wenn es erst kurz vor fünf war.
Doch warum sonst sollte er auf die sonderbare Idee kommen, über Lunas Weisheiten ernsthaft nachzudenken?
„Warum strahlst du eigentlich so, Hermine?“, fragte er nach einer Weile im Versuch sich abzulenken. Bisher war er zu sehr in Gedanken vertieft gewesen, als dass er es bemerkt hätte. Doch nun war ihm aufgefallen, dass Hermine die ganze Zeit über lächelte.
„Wir haben alle Zutaten“, antwortete sie fröhlich, „das heißt, wir können noch heute Abend mit dem Brauen beginnen.“
„Nicht wahr!“
„Ja, nicht? Snapes Vorräte waren eine echte Schatzkiste. Schade, dass alles bald abläuft. Das heißt, wir werden uns beeilen müssen. Aber zum Glück wird Snape das diesmal nicht nachkontrollieren und er hat nicht einmal bemerkt, dass wir was eingesteckt haben.“
„Ja“, antwortete Harry und hob die Augenbraue. Wie kam es, dass er gerade jetzt an das merkwürdige Kräuseln auf Snapes Lippen denken musste? Himmel, allmählich gehörte er wohl doch ins Bett. Er begann ja schon zu fantasieren. Wie im Traum schob sich im nächsten Moment ein anderes Bild vor sein inneres Auge. Eines von einem schwanengroßen, feuerfarbenen Vogel.
„Ich frage mich, was Fawkes wohl wollte“, bemerkte Harry nachdenklich. Dann fiel ihm ein, dass Hermine Fawkes ja gar nicht kannte.
„Ich meine Dumbledores Phönix, der vorhin-“
„Ich weiß, wer Fawkes ist“, unterbrach sie Harry.
Er warf ihr einen erstaunten Blick zu. „Woher?“
„Hast du vergessen, Harry, Dumbledore hat uns vor den Sommerferien das Versprechen abgenommen, dass wir dir nichts erzählen. Was glaubst du wohl, wo?“
Harry verstand.
„Ich glaube nicht, dass Fawkes etwas Besonderes wollte“, fuhr sie fort, „Naja, sieh mal. Snape ist im Orden des Phönix, nicht wahr? Und er ist der Einzige, der noch in Hogwarts ist. Wahrscheinlich wird er Dumbledore regelmäßig Bericht erstatten, was hier vor sich geht. Reine Routine. Den Kamin wird er ja wohl schlecht verwenden können, jetzt wo OH!-“
Hermine brach abrupt ab. Die Frage, die Harry auf den Lippen lag, beantwortete sich von selbst. Auf dem Boden des weitläufigen Flurs war plötzlich das Gestöckel von Damenschuhen zu hören. Sekunden später huschte ein pinkfarbener Schatten um die Ecke.
„Schnell“, flüsterte Hermine und zog Harry hinter eine Säule.
Ohne die beiden zu bemerken, stapfte Umbridge an ihnen vorüber in Richtung der Treppe.
„Was will die denn im Kerker?“, hauchte Hermine Harry zu.
„Ach, das hab ich ganz vergessen“, erklärte er, „Snape hat heute eine Inspektion, das hat sie oben im Büro zu ihm gesagt.“
„Das heißt, Snape ist tatsächlich auf Bewährung?“
„Sieht wohl so aus. Komm, lass uns gehen Hermine! Die Luft ist rein“.
Wenige Minuten später standen beide im Gemeinschaftsraum der Gryffindors. Am Tisch hatte sich Neville zusammen mit Ron hinter einem Stapel Bücher für die ZAG-Prüfungen vergraben.
„Die Koboldaufstände waren“, murmelte Neville, fuhr mit dem Finger über eine Buchseite und schrieb etwas auf ein Blatt Pergament nieder.
„Hallo Harry! Hi Harry!“, ertönten zwei Jungenstimmen im Chor, deren Besitzer sich sofort vor Harry aufbauten.
„Willst du unsere neuen Migräne- Marshmellows probieren?“
„Oder die Bauchweh-Bonbons?“
„Vielleicht darf es auch eine Zahnweh-Zuckerstange sein“
„FRED! GEORGE!“, empörte sich Hermine, ehe sie ihren Beutel lehrte.
„Hübsches Arsenal, Hermine“, lachten die Zwillinge und hüpften davon.
„Die lernen es wohl nie!“, stöhnte sie mit einem Blick auf ihr Vertrauensschülerabzeichen, als Ron endlich von seinen Büchern aufblickte.
„Harry! Hermine!“, rief er verwundert. Scheinbar hatte er seine Freunde erst jetzt bemerkt.
„Wie ist es gelaufen?“ Er stand auf und kam auf sie zu.
„Wunderbar“, sagte Harry bitter und ließ sich auf einen Sessel fallen, „Du darfst dich freuen Ron, Snape lässt uns morgen beide nach dem Abendessen nachsitzen.“
„Das sind ja wirklich tolle Neuigkeiten“, antwortete Ron und sank wie ein Sack auf den zweiten Sessel nieder.
„Jetzt nehmt es nicht so schwer, Jungs“, sprach Hermine ihnen gut zu, „zumindest haben wir endlich alle Zutaten. Nun, ich glaube, ich geh dann mal die Kartoffelbuchpilze einlegen. Je früher wir beginnen, desto eher sind wir fertig“
Und mit diesen Worten stand Hermine auf.
„Ist das wirklich wahr, Harry?“, fragte Ron, „ihr habt alles, was wir brauchen? Auch die außergewöhnlichen Sachen?“
Harry nickte.
„Zum Glück war Hermine dabei. Ehrlich Ron, ohne sie hätte ich die Sachen niemals in Snapes Vorräten gefunden.“
Und plötzlich wurde er still. Abermals drängte sich Harry ein Satz in Harrys Bewusstsein.
„Und bringen Sie Miss Granger mit“. Miss Granger – Hermine.
‚Was ist nur los? ‘, dachte Harry. ‚Was ist nur mit mir los? ‘
Auf der Suche nach einer Antwort blickte er seinem besten Freund hinüber. Doch Rons Gesicht sah aus wie eh und je.
„Erbärmlich, Weasley!“
Die Stimme des Tränkemeisters hallte von den kargen Kerkerwänden wider, als er Ron auf der anderen Seite des Pults das Blatt auf den Tisch knallte.
„Wenn Sie in Ihrer Prüfung die gleiche Leistung zeigen, fürchte ich, taugen Sie der Prüfungskommission allenfalls als schlechter Witz. Eigentlich müsste ich sie nach morgen früh in meine erste Stunde versetzen. Dann haben die Erstklässler Unterricht. Nichts desto trotz, Sie sind für heute entlassen.“
Ohne ein Wort zu Snape stand Ron auf.
„Bis später“, flüsterte er Harry zu, der seinem Freund wehmütig hinterhersah.
Jetzt war er mit Snape alleine und er wusste, dass dies kein Zuckerschlecken werden würde. Vor allem heute nicht. Denn Harry war alles andere als konzentriert und bereit seinen Geist zu leeren.
Kaum ein Auge hatte er in der Nacht zugemacht. Bereits beim Abendessen war Hermine aufgefallen, dass etwas nicht stimmte, als er geistesabwesend in seinem Essen rumgestochert hatte und in der Nacht war es Ron, der einmal aufwachte, Harry schlaflos in seinem Bett vorfand und ihn verwundert fragte, warum er noch wach sei. Doch weder dem einen noch dem anderen seiner beiden besten Freunde hatte Harry wirklich erklären können, was mit ihm los war. Was sollte er ihnen auch sagen? Er verstand es ja selbst nicht. Alles, was er wusste, war, dass Hermines Bemerkung und das, was Luna einst vor Dumbledores Büro gesagt hatte, ihn nicht mehr loslassen wollten. Und obwohl die Idee, dass Snape hinter seinem Hass ein sehr bizarres Interesse an ihm hegen könnte, vollkommen absurd war – irgendetwas an dieser Theorie hatte Harry schwer ins Grübeln gebracht. Unablässig wälzte er Gedanken hin und her und kam einfach nicht zur Ruhe. Er hatte an sein erstes Schuljahr denken müssen, daran, dass es Snape war, der verhindert hatte, dass Quirell ihn beim Quidditchspiel vom Besen gestoßen hatte. Dumbledore hatte ihm damals erklärt, dass Snape es getan habe, weil er glaubte, es James schuldig gewesen zu sein. Aber es war auch Snape gewesen, der Harry zwei Jahre später eine Standpauke gehalten hatte, warum er sich in Hogsmead herumtreibe, wo außerhalb von Hogwarts doch eine so große Gefahr auf ihn lauere. Und das passte irgendwie nicht zusammen.
„Ihre Leistung ist auch nicht viel besser als die Ihres Freundes, Potter“, riss eine kalte Stimme Harry aus seinen Gedanken. Da er scheinbar nach einem ganzen Wochenende Nachsitzen keine anderen Strafarbeiten für sie gefunden hatte, hatte Snape Ron und ihn einen Aufsatz über die Destillierverfahren verschiedener Extrakte schreiben lassen.
„Ich rate ihnen dringend, ‚Kurt Kolbenglas‘ Großes Handbuch des Extrahierens in der Zaubertrankkunst‘ zu studieren. Jetzt allerdings haben wir anderes zu tun. Stehen sie auf!“
Snape legte wortlos den Aufsatz beiseite, den Harry eilig wegpackte, erhob sich vom Schreibtisch und holte Dumbledores Denkarium aus seinem Regal. Aus der Ferne konnte Harry sehen, wie der Tränkemeister eine Erinnerung nach der anderen in das Becken ablegte und am Ende seinen Zauberstab darauf richtete. Eine silbrige Kuppel gleich einer Käseglocke erstreckte sich über das Denkarium. Das Ritual war für Harry nicht neu. Schob beim letzten Mal, als sie ihren Okklumentikunterricht wieder aufgenommen hatte, hatte Snape seine Erinnerungen auf diese Weise versiegelt. Dass er seinem Schüler misstraute, war offensichtlich. Manchmal fragte Harry sich, was wohl geschehen würde, würde er versuchen, die magische Käseglocke zu durchdringen oder beiseite zu heben. Doch irgendetwas sagte ihm, dass es keine gute Idee wäre, dies auszuprobieren.
Snape hatte sich gerade umgewandt, als Harry auch schon die dunkle Zauberstabspitze vor Augen sah. Er versuchte, sich zu konzentrieren, er versuchte nichts zu fühlen, als er Snapes Stimme „Legilimens“ rufen hörte. Doch wie Harry befürchtet hatte, wollte es ihm heute einfach nicht gelingen, Snape aus seinem Kopf fern zu halten. Weder in der einen noch der anderen Hinsicht. „Sie sind nicht bei der Sache Potter! … Verschließen sie Ihren Geist. Bieten Sie mir keinen Stoff! ... Anstrengung, mehr Anstrengung!“. Die Worte tanzten nur so an Harrys Ohren vorüber. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, sank er erschöpft auf einem der Holzstühle vor Snapes Pult nieder. Zeit für eine Pause! Zum Glück gestattete ihm Snape inzwischen welche, wenn auch nur kurze.
Tief durchatmend warf Harry einen Blick zum schwarzen Umhang seines Lehrers hinüber, der die Unterbrechung nutzte, um seine Gedanken im Denkarium zu kontrollieren. Harry hatte keine Ahnung, was Snape damit bezwecken wollte. Er wusste doch, dass Harry nicht mal in die Nähe von Dumbledores Gerätschaft gekommen war. Aber ist auch egal. Harrys Kopf schmerzte viel zu sehr, als dass er ihn noch mit weiteren Gedanken belasten wollte und vor seinem inneren Auge flirrten nachwievor die Bilder, die er während der Übung gesehen hatte. Ganz langsam begannen sie in Erinnerungen überzugehen. Erinnerungen an fünf lange Schuljahre. Erinnerungen an Zaubertrankstunden, Quidditchspiele, den Duellierclub, an Strafarbeiten, die Heulende Hütte und an Okklumentikübungen. Nach einer Weile, als er sich etwas erholt hatte, blickte Harry auf. Noch immer hatte Snape seinen übergroßen, bleichen Zinken über das Denkarium gebeugt, als wäre es ein Zaubertrankkessel, während das Schwarz seines Umhangs und seiner Haare mit der Kerkerdunkelheit verschmolz. Wer bist du eigentlich, dachte Harry plötzlich, als ihm bewusst wurde, dass er kaum etwas über Snape wusste. Du hast meinen Vater gehasst, weil er dich tyrannisiert hat. Jetzt tyrannisierst du mich und trotzdem hast du mich vor Quirell gerettet? Auf deinem linken Unterarm ist das Dunkle Mal eingebrannt und trotzdem vertraut Dumbledore dir. Warum? Was hat ihn von dir überzeugt? Was weiß er über dich, was ich nicht weiß, Severus Snape?
Fast als hätte Snape Harrys Gedanken gehört, wandte er sich stumm zu ihm um. Seine schwarzen Augen bildeten einen krassen Kontrast zu der Blässe seines Gesichts, dem Einzigen, das von ihm in der Dunkelheit zu sehen war und etwas Maskenhaftes an sich hatte. So finster, so kühl waren die schwarzen Augen in diesem fahlen Gesicht, dass Harry keine einzige Gefühlsregung dahinter erkennen konnte. Fast erinnerten sie an Onyx – glatt, kalt und undurchdringlich. Harry hätte sich von Snape abwenden und darauf warten können, dass die kühle Stimme zu ihm sagte „Ihre Pause ist um, stehen Sie auf“. Doch mit einem Mal ergriff Harry ein Mut, den er nie zuvor gespürt hatte, der Mut, eine Frage zu stellen, die ihm seit fast fünf Jahren auf den Lippen lag. Eine Frage, die er Dumbledore und Ron, auch Hermine gestellt hatte. Doch nie dem Einzigen, der allein sie wirklich beantworten konnte. Mit pochendem Herzen hielt Harry Snapes Blick, schaute ihm direkt in Augen. Dann, ganz langsam öffnete er den Mund. Und was er nie geglaubt hätte, jemals auszusprechen, kam leise über seine Lippen.
„Warum, Professor, hassen Sie mich?“
Snapes Augen, die ihn zuvor noch eindringlich gemustert hatten, wurden plötzlich klein und ein giftiges Funkeln trat in sie.
„Ich hätte eigentlich gedacht, Potter“, höhnte er, „dass Sie sich diese Frage inzwischen selbst beantworten könnten. Doch offenbar ist es um Ihre Intelligenz noch schlimmer bestellt als selbst ich befürchtet hatte.“
Harry hatte die Beleidigung gehört, doch er wischte sie beiseite. Irgendein merkwürdiges Gefühl sagte ihm, dass Snape log, dass er nicht die ganze Wahrheit sagte. Und die Fragen auf Harrys Zunge brannten zu sehr, um zu schweigen.
„Sie denken noch immer, ich bin wie mein Vater? Obwohl Sie wissen, was ich vor dem Kamin zu Sirius gesagt habe? Obwohl Sie wissen, dass ich Drawfeather verteidigt habe? Ich habe mich dafür entschuldigt, dass ich ins Denkarium geschaut habe. Ich habe Ihnen gesagt, was ich davon halte. Und doch denken Sie das noch immer? Warum? Nur weil ich gut in Quidditch bin? Weil jeder mich kennt, obwohl es mir anders lieber wäre?“
„Genug“, sagte Snape und wandte sich von ihm ab, den Blick wieder ins Denkarium gesenkt. Harry spürte, dass Snape jede Sekunde davor war, ihm zu sagen, dass er sich wieder bereit machen solle. Doch Harry wollte nicht locker lassen. Er wollte Antworten, endlich Antworten von Snape haben.
„Warum haben Sie mich dieses Wochenende drei Mal hintereinander nachsitzen lassen?“, fragte er.
Und jetzt schaute ihn Snape wieder an, direkt ins Gesicht und seine schwarzen Augen blitzten gefährlich auf.
„Weil Sie es verdient haben, Potter“, zischte er kalt, „Sie haben weder Longbottom zu helfen noch ins Schulgewächshaus einzubrechen. Und wenn ich es mir recht überlege, für diese freche Frage sollte ich Sie glatt noch einmal nachsitzen lassen. Zwei Punkte Abzug für Gryffindor“
Harry spürte, wie Schweißperlen seinen Nacken herabrannen. Doch er hielt Snapes Blicken stand. Eisern schaute er in diese schwarzen Augen, die so finster und undurchdringlich waren.
„Und jetzt, Potter-“, sprach Snape langsam.
Doch…
„Quidditch!“ Harrys Stimme überschlug sich, so hastig fiel er Snape ins Wort, „Sie haben verhindert, dass Voldemort mich vom Besen schmeißt. Sie haben mein Leben gerettet“
Harrys Puls raste. Snapes schwarze Augen starrten jetzt so tief in seine grünen wie nie zuvor, völlig ausdruckslos.
„Quirrell hat mir das erzählt. Vor ERISED. Er sagte…er sagte, Sie wollten nie, dass ich sterbe.“
Für eine Sekunde schien es, als hätte die Welt aufgehört sich zu drehen. Noch immer blickten sie sich an. Dann geschah es. Snapes Züge, so hart und kalt wie sie gewesen waren, weichten plötzlich auf. Etwas Anderes als Hass und Hohn trat in seine Mimik, etwas … etwas Schmerzvolles. Harry konnte nicht sagen, was es war, doch die Überraschung traf ihn wie ein Blitz. Schlagartig wandte Snape sein Gesicht von ihm ab, fast so, als könne er es plötzlich nicht mehr ertragen, ihm in die Augen zu sehen. Atemlos starrte Harry ihn an, sah zu wie sein Lehrer die Hände aufs Regalbrett presste, steif und völlig verkrampft wie jemand, der mit seiner Selbstbeherrschung kämpfte.
„Ihr Unterricht ist beendet, Potter“, flüsterte Snape gepresst und ohne Harry auch nur eines Blickes zu würdigen, „Nehmen Sie Ihren Tarnumhang und verschwinden Sie. Sofort!“.
Harry dachte nicht nach. Wie in Trance drehte er sich um, nahm den Umhang vom Schemel und schlich aus Snapes Büro. Erst als er die Wendeltreppe zum Kerker hinter sich gelassen hatte, kamen seine Gedanken wieder zum Atmen. Und eine große Frage hämmerte nur so in seinem Kopf.
Was war geschehen?
Die Flure von Hogwarts waren leer um diese Uhrzeit. Nur der Schatten einer Katze huschte im Fackelschein die Stufen zum Eingangsportal hinunter, als Harry langsam die Treppe zum Gryffindorturm hinaufschlich. Doch eigentlich war es nicht er, der da einen Fuß vor den anderen setzte. Dieser Junge mit den schwarzen Haaren, der Blitznarbe und den grünen Augen, der an seiner Stelle durchs nächtliche Schloss lief, war eine leere Hülle, ein Inferi vielleicht, ein ferngesteuerter Körper. Harry Potter indessen war noch immer im Kerker und sah die Augen vor sich - die schwarzen Augen, die ihn an dunkle Tunnel erinnerten, in denen plötzlich ein Lichtschein aufgeblitzt war. Diese Augen, die Harry fünf Schuljahre lang so reglos und kalt und allenfalls hasserfüllt angeblickt hatten. Er hatte Snape eine Frage gestellt, um seine Verwirrung zu klären. Doch statt Antworten hatte er nur mehr Rätsel gefunden.
Mit jeder Stufe, die Harry nahm, versuchte er eine neue Erklärung dafür zu finden, was in den Tiefen von Hogwarts vorgefallen war. Vielleicht war ja alles nur Einbildung gewesen. Vielleicht hatte ja nur das Kerzenlicht Snapes Augen ungünstig gestreift. Oder war es Müdigkeit, die er fälschlicherweise für Schmerz gehalten hatte? Doch als Harry das Ende der Treppe erreicht hatte, musste er sich eingestehen, dass es aussichtslos war, sich etwas einzureden. Die Beweise lagen klar auf der Hand. Snapes plötzlichen Abwenden und sein Rauswurf sprachen eine deutliche Sprache. Der Tränkemeister hatte die Kontrolle über sich verloren und Harry mehr gesehen, als er sollte. Doch wie konnte das sein - Snape, der große Okklumentiker?
Ein Frösteln wie von einem kalten Luftzug packte Harry, als ihm mit einem Mal eine Erinnerung zu Bewusstsein kam. Es war nicht das erste Mal, dass er unfreiwillig hinter Snapes Fassade geschaut hatte. Unwillkürlich musste Harry zurückdenken an den Abend ihres furchtbaren Streits, an dessen Ende die Wiederaufnahme des Okklumentikunterrichts gestanden hatte. An die Tränen, die in den schwarzen Augen geglitzert hatten, an das Foto, das von langfingrigen Händen blitzschnell weggepackt worden war und an seine eigene Verwirrung. Ein Gefühl, das Harry in Anbetracht des Chaos, das jetzt in seinem Kopf herrschte, fast schon blass erschien. Damals hatte er sich alles mit den Hänseleien seines Vaters erklärt, um die Sache für sich abhaken zu können. Doch war das wirklich die Wahrheit? Hatte er sich nicht etwas zu einfach gemacht? Woher kam dieses Foto, das Snape beweint hatte? James Potter zeigte es ja wohl gewiss nicht. Aber was war dann darauf zu sehen? Und warum um Himmels willen spiegelte sich in Snapes Augen plötzlich Schmerz, als es um Harry Leben ging. Schmerz, so stark, dass der Tränkemeister mit der Fassung rang? Und das, wo er Harry doch hasste wie niemanden sonst auf der Welt. Oder?
„Ich glaube, Sie mögen Harry sehr, wenn Sie hier auf ihn warten“, sprach auf einmal eine verträumte Stimme zu Harry wie aus weiter Ferne und wischte alle Gedanken beiseite. Plötzlich fühlte Harry sich ganz leicht und die Welt vor seinen Augen verlor an Kontur. Ein Geschmack wie nach einem Schluck Vielsafttrank erfüllte seinen Mund. Er blieb stehen, stützte sich an der Wand ab, um etwas Festes zu greifen. Wie sonderbar er sich fühlte. Fast wie unfreiwillig der Wirklichkeit entrissen und in einen von Lunas Träumen versetzt, in die er nicht gehörte. Er wusste nicht, was genau geschehen war. Doch er hatte das untrügliche Gefühl, durchs Schlüsselloch einer geheimnisvollen Tür geblickt zu haben, hinter die er nie sehen wollte noch sollte. Eine Tür, die..
„Passwort!“
Harry zuckte zusammen, fuhr aus seinen Gedanken auf und zur Wand herum. Die fette Dame saß gelangweilt in ihrem Goldrahmen und blickte ihn ungeduldig an. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er das Porträtloch bereits erreicht hatte.
„Klausel 35“ murmelte Harry.
Goldwarmes Licht empfing ihn, als er im Gemeinschaftsraum ankam. Ein vielstimmiges Gemurmel lag in der Luft und von einem Tisch in der Ecke stieg Dampf auf. Hermines brauner Haarschopf saß davor, regte sich langsam und wandte sich schließlich zu ihm um.
„Harry“, sagte sie und ein Lächeln trat in ihr Gesicht. Als sie zur Seite rückte, um ihm Platz zu machen, erhaschte Harry einen Blick auf den Tisch. Mörser, Schneidebretter und zahlreiche Leinensäckchen, Flakons und Tiegel scharten sich um einen Zaubertrankkessel, der brodelnd Dunstwolken ausspie. Neben ihm konnte Harry einen merkwürdigen Aufbau aus Kolbengläsern erkennen. Und direkt darüber stand, Ron den Blick vertieft in die korrigierte Strafarbeit bei Snape, die er nun in der Hand hielt.
„Ihr habt die Tränke?“, fragte Harry neugierig geworden. Wenigstens würde er hier etwas Ablenkung von seinen Gedanken finden.
„So gut wie“, antwortete Hermine, als er zum Tisch lief, „Naja, das heißt soweit es wie es jetzt geht. Der Inferi Immunum braucht ja noch einige Zeit. Zum Glück ist mir Ron ein wenig zur Hand gegangen, auch wenn er besser ein bisschen mehr über Extraktion gelernt hätte.“
Schweigend senke Ron den Kopf noch ein Stück tiefer.
„Ihr habt die Sachen destilliert?“, fragte Harry und wieder fühlte er sich merkwürdig, als er an die Strafarbeit dachte.
„Ja. Für den Inferi Immunum muss man doch viel destillieren, wenn du dich an das Rezept erinnerst. Ein Glück nur, dass wir Snapes Schränke ausgemistet haben. Die waren eine echte Goldgrube. So vieles hätten wir sonst wohl niemals bekommen und an Brauen wäre nicht zu denken gewesen. Wie gut, dass er nichts gemerkt hat. Magst du dich nicht zu uns setzen, Harry. Du stehst ja da wie eine Säule.“
„Was?“,
Harry starrte Hermine einen Augenblick lang an, wie sie auf einen freien Platz neben sich wies. Dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, ich...Ich bin etwas müde vom Okklumentikunterricht. Ich glaube, ich gehe besser nach oben“.
Und ohne ein weiteres Wort zu Hermine oder Ron wandte Harry sich um.
Auf der Treppe zum Jungenschlafsaal konnte er noch hören, wie Hermine ihm ein besorgtes
„Harry?“ hinterherrief. Doch er wandte sich nicht um. Vor seinen Augen sah er wieder Snape vor sich. Snape, dessen Lippen ein leichtes Lächeln kräuselte, als Hermine auf das Timogot Serum gestoßen war und seine Anwendung erklärte. Ein Bild, das nicht unbedingt dazu beitrug, Harrys Verwirrung zu klären. Der Tisch im Gemeinschaftsraum war auch kein Ort, an dem er Ablenkung finden konnte.
Fast leer war der Jungenschlafsaal. Nur Neville lag mit auf seinem Bett, studierte einige Verwandlungsbücher und blickte kurz auf, als er bemerkte, dass jemand hereingekommen war.
„Oh, Hi Harry. Ich hab dich gar nicht gesehen. Was ist denn…“
Harry hatte ihn nicht weiter beachtet. Schnurstraks war er an Neville vorbei gegangen. Nun riss er die Vorhänge seines Betts beiseite, warf sich auf seine Matratze und zog sie wieder hinter sich zu. Auf dem Kissen liegend, endlich an seinem Ziel angekommen und wieder mit sich allein, hatte Harry das Gefühl, die Welt um ihn herum hätte sich in die Kulisse für ein riesiges Schauspiel verwandelt. Tausend Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er wusste, dass zumindest Hermine ihm morgen Vorwürfe machen würde, warum er so schnell abgehauen war. Doch er konnte mit ihr nicht über diese Sache reden noch mit sonst irgendwem. Wie sollte er seinen Freunden auch erklären, was in ihm vorging, wenn er selbst keine Worte dafür fand? Alles, was in der letzten Zeit geschehen war, war so merkwürdig gewesen, dass Harry nur schwer einen Reim darauf machen konnte. Und doch beschäftigte es ihn schwer. Denn wie er seit heute wusste, musste es irgendetwas mit ihm zu tun haben. Snape war vor ihm zurückgewichen. Ihm, den Snape hasste und den er doch beschützt hatte, damals im ersten Schuljahr. Für einen Moment wünschte Harry sich, Dumbledore wäre hier. Er hätte gewiss eine Antwort gehabt, ein weises Wort, das Harry weiterhelfen würde. Doch war es auch gerade Dumbledore, der ihm verschwieg, warum er Snape vertraute und ihm seit Schuljahresbeginn aus dem Weg ging. Betrübt und mit schwerem Kopf drehte Harry sich zur Seite. Er fühlte sich einsam und schrecklich im Stich gelassen. Von Dumbledore, von der Welt und irgendwo auch von Snape, auf dessen Hass kein Verlass mehr zu sein schien. Geistesabwesend zog Harry seinen Umhang aus, streifte das Nachthemd über und schloss die Augen.
Die Woche zog sich dahin, ohne dass sich viel an Harrys Zustand änderte. Immer war er in Gedanken, wälzte die Geschehnisse aus dem Kerker hin und her. Ron und Hermine hatten in diesen Tagen wenig von ihm. Die freien Stunden verbrachte Harry alleine und auch während des Unterrichts und in der Mittagspause war er mehr mit Grübeln beschäftigt als sich um seine Freunde zu kümmern.
Am Freitag aber sollte der Knoten platzen.
„So geht es nicht weiter“, rief Hermine und warf ihre Bücher so heftig auf den Tisch, dass die Suppe im Teller vor ihr überschwappte und einen hässlichen Fleck auf der Tischdecle hinterließ, „Harry, was ist eigentlich los mit dir?“
Entgeistert blickte Harry von seinem Teller auf, als wäre er wie aus dem Dämmerschlaf gerissen worden.
„Nichts“, sagte er hastig, „Was soll schon mit mir sein. Alles in Ordnung“
„Ach, lüg doch nicht. Du hast seit Tagen kein richtiges Wort mit uns gewechselt, Harry. Du hast nicht einmal mitbekommen, dass Ron und ich mit dem Elexier der Schmerzfreiheit fertig sind.“
Harry horchte auf. Davon hörte er tatsächlich zum ersten Mal. War er in den letzten Tagen wirklich so abwesend gewesen, dass er nicht mal mitbekommen hatte, dass die beiden so viel gebraut hatten?
„Ich musste lernen, Hermine. Wie du weißt, sind bald Prüfungen.“
„Und deswegen hast du weniger Zeit uns zu helfen als selbst Neville? Das kannst du vielleicht Collin Creevey erzählen, aber nicht uns. Nein Harry, irgendetwas stimmt mit dir nicht. Warum sagst du uns nicht, was dich bedrückt? Ich dachte, wir wären deine Freunde.“
Harry atmete tief durch, während Ron ungestört seine Suppe löffelte. Er hatte keine Ahnung, dass seine Freunde sich solche Sorgen um ihn machten, noch dass er sie so vernachlässigt hatte.
„Das ist alles nicht so einfach, Hermine“, stammelte er schließlich.
„Und? Was von all den Dingen in den letzten Jahren war jemals einfach gewesen?“
Harry senkte den Blick. Schweigen folgte. Dann legte Ron hörbar den Löffel beiseite.
„Sie hat Recht, Harry. Du gehst uns seit Montag aus dem Weg. Man könnte meinen, wir wären Fremde oder noch schlimmer, Slytherins“
Harry seufzte.
„Es tut mir leid, ich wollte euch nicht verletzten.“
„Dann sag uns endlich, was los ist“, bestand Hermine.
Harry überlegte für einen Moment. Vielleicht hatte sie wirklich Recht. Es war dumm, alles mit sich selbst ausmachen zu wollen und seine Freunde nicht ins Vertrauen zu ziehen.
„In Ordnung“, sagte er und blickte sich um, „Aber nicht hier. Hier sind zu viele Leute.“
Am Tisch der Slytherins grölten Crabbe und Goyle als Malfoy sein Vertrauensschülerabzeichen blinken ließ und wild gestikulierte. Offensichtlich erzählte er seinen Leibwächtern gerade, wie er jemanden bei Umbridge angeschwärzt hatte.
„Lasst uns nachher unten am See treffen, da sollten wir ungestört sein.“
„Ich glaube, das klärst du besser mit Hermine alleine“, meldete sich Ron zu Wort, „ich denke nicht, dass ich dir helfen kann. Ich habe nämlich das Gefühlsleben eines Teelöffels.“
Er warf Hermine einen finsteren Blick zu, den diese ebenso finster erwiderte, ehe sie aufstand.
„Gut, dann sehen wir uns später“, sagte sie und machte sich auf den Weg zur nächsten Unterrichtsstunde.
Die Nachmittagssonne stand schon tief und ließ das Wasser grell leuchten, als Harry am verabredeten Treffpunkt wartete. Direkt bei der Buche, dem Ort, an dem sein Vater Snape in der Luft hatte baumeln lassen, während seine Mutter Snape verteidigte, dachte Harry und blickte ins grüne Geäst.
„Also, da bin ich“, riss eine Stimme ihn aus den Gedanken. Noch mit Büchern unterm Arm stand Hermine vor ihm und schaute ihn erwartungsvoll an. Harry atmete tief durch.
„Hi“
Sie liefen langsam am Seeufer entlang, während die Sonne sich von gelb zu golden färbte. Harry erzählte alles, was am Montag im Kerker vorgefallen war, auch von dem leichten Lächeln auf Snapes Lippen und von Lunas Lebensweisheiten, die ihn seit Tagen beschäftigten. Hermine sprach kein Wort, doch schien sie seinen aufmerksam zu lauschen. Am Ende waren sie wieder dort angekommen, wo sie losgelaufen waren.
„Verstehst du jetzt, dass ich nicht mehr weiß, was ich denken soll?“, fragte Harry.
„Ja, das ist schon merkwürdig“, antwortete Hermine, doch sie schaute dabei in die Luft, als wäre sie nicht wirklich bei der Sache. Harry starrte sie finster an. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, wandte sie ihm ihren Blick zu.
„Naja, irgendwo habe ich schon gewusst“, fuhr sie zu seinem Erstaunen fort.
„Du hast es gewusst?!?“
„Ja, irgendwie schon. Sieh mal, Harry, erst lässt Snape dich diese Rezepte so oft abschreiben, dass du sie auswendig kannst. Dann verdonnert er uns dazu, seine Schränke auszumisten. Auszumisten, verstehst du, Zutaten wegzunehmen. Und dann kommt Ron auch noch gerade mit einer Strafarbeit zur Destillation, wo Snape euch auch Flubberwürmer hätte aussortieren lassen können. Oder seine Kessel putzen. Und das alles soll Zufall gewesen sein? Nein, Harry, ich denke, er wollte, dass wir die Tränke brauen, zumindest den Inferi Immunum.“
Harry blieb stehen. Hinter ihnen raschelte leise der Wind im Blattwerk der Buche, als er nachdachte. Nicht, dass ihm nicht auch schon in den Sinn gekommen wäre, was Hermine mutmaßte. Harry hatte diese Möglichkeit nur von sich geschoben, für Flausen erklärt, weil es nicht zu seinem Bild von Snape passen wollte. Snape, der sie dazu anstiften wollte, heimlich hochpotente und wohlmöglich verbotene Tränke brauten anstatt sie deswegen bis zu ihrem Lebensende nachsitzen zu lassen? Was für ein merkwürdiger Gedanke. Doch nüchtern betrachtet, sprachen die Indizien für sich.
„Aber ich verstehe es nicht“, fuhr Harry fort und blinzelte im grellgoldenen Licht der Abendsonne, „Wenn Snape wirklich will, dass wir Zaubertränke zubereiten, warum lässt er sie uns dann nicht einfach in seinem Büro brauen, wo er uns unter Kontrolle hat. Und warum verdonnert er uns zum Nachsitzen und zieht uns Hauspunkte ab, wenn wir uns die Zutaten aus dem Gewächshaus besorgen wollen?“
„Warum sagt er dir, du sollst sagen, dass du Nachhilfe nimmst, während er dir Okklumentik beibringt?“, fragte Hermine statt zu antworten und blickte ihm scharf in die Augen, „Manchmal ist es besser, nicht alles offen zu sagen oder zu tun, besonders wenn man vielleicht beobachtet wird.“
Sie warf einen Blick hinauf zum Schloss, zu jener Mauer, hinter der Umbridges Büro lag und Harry fiel wieder siedend heiß ein, dass Snape ja erst vor knapp einer Woche eine Inspektion hatte.
„Und was würdest du als Lehrer tun, wenn du Schüler dabei erwischst, wie sie ins Gewächshaus einbrechen?“, drang Hermines Stimme an sein Ohr.
„Sie nachsitzen lassen und Hauspunkte abziehen“, schoss es aus Harry heraus, ohne dass er wirklich darüber nachgedacht hatte.
„Eben“, sagte Hermine, wissend und geheimnisvoll lächelnd. Doch Harry konnte ihr noch immer nicht ganz folgen. Selbstverloren drehte er sich um und schaute hinaus aufs Wasser.
„Und was ist mit der anderen Sache?“, fuhr er nach einer Gedankenpause fort, „Am Montag im Kerker. Warum ist Snape da vor mir zurückgewichen?“
Plötzlich wurde es um Harry sehr still. Er warf Hermine einen Blick zu und sah, dass Hermine den Kopf gesenkt hatte. Zwischen den Stellen in ihrem Gesicht, die im Sonnenlicht hell glänzten, warf die Buche Striemen aus Schatten, die ihre Augen verschleierten.
„Ich weiß es nicht, Harry“ antwortete sie leise und für einen Augenblick herrschte Stille zwischen ihnen, während sie beide auf den See hinausblickten.
„Snape benimmt sich schon seit einer ganzen Weile ziemlich eigenartig, nicht wahr?“
Harry antwortete nicht. Er nickte nur leicht und wusste, dass Hermine ihn verstanden hatte.
„Und wir wissen nicht einmal, warum Dumbledore ihm vertraut. Nun, vielleicht ist es Zeit, endlich anzugehen, was wir schon längst hätten tun sollen!“ Überrascht drehte Harry sich um. Der energische Tonfall der letzten Worte brach mit stürmischer Gewalt in sein vom Grübel betäubtes Gehirn.
„Was meinst du damit?“, fragte er ein wenig überrumpelt.
Hermine strahlte.
„Natürlich versuchen, mehr über Snape herauszufinden. Ich werde gleich in der Bibliothek anfangen. Die haben dort einige alte Jahrbücher. Vielleicht steht dort etwas drin, was uns weiterhelfen könnte. Wir sehen uns nachher im Gemeinschaftsraum. Bis später“
Und diesen Worten wandte sie sich ab und ging davon. Harry stand unter der Buche und sah ihr nach. Sah, wie ihre Gestalt kleiner wurde. Im Abendsonnenlicht, das ihren brauen Wellen einen leicht rötlichen Schimmer verlieh, erinnerte Hermine ihn fast ein bisschen an seine Mutter, die aus dem Wasser gestiegen war, um Snape zu helfen, der an genau dieser Stelle von James Potter gequält worden war. Ein eigenartig mulmiges Gefühl wie von einer kalten Brise packte Harry auf einmal. Und er konnte nicht einmal sagen, warum.
„Meinst du, sie hat etwas gefunden?“, fragte Ron leise.
Seine Stimme glich einem Boot, das von den Wellen des Lärms der anderen Gryffindors zu Harry herüber getragen wurde. Er las den Satz zu Ende und blickte auf. Rons Gesicht wurde von der Öllampe zwischen ihnen in warmes Licht getaucht, doch die Bücherstapel ringsumher warfen Schatten auf seine Arme und Hände. Vom Kaminsims drang ein stetes Ticken zu ihnen herab.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Harry, „ Aber es ist schon ziemlich spät, oder?“
Flüchtig warf er einen Blick hinauf zur Uhr. Die Zeiger standen fast auf neun. Wo Hermine wohl nur steckte? Wenn sie nicht bald heraufkäme, würde sie Gefahr laufen, von Filch oder Mrs Norris ertappt zu werden und das würde eine saftige Strafe bedeuten. Nervös nestelte Harry an seinem Umhang und fühlte sich zunehmend schlechter. Wenn Hermine Ärger bekäme, wäre es seine Schuld. Denn er hatte sie dazu angestiftet, noch einmal die Bibliothek aufzusuchen. Beim Abendessen, als sie ihm erzählt hatte, dass sie am Nachmittag eine Stunde lang die Regale durchsucht hatte, doch nichts wirklich Interessantes über Snape gefunden hatte.
„Warum hast du nicht weitergesucht?“, hatte Harry sie angefahren, „Hermine, ich dachte, du wolltest mir helfen.“
Harry erinnert sich noch gut an ihr Gesicht, das sich schlagartig verfinstert hatte und den eisigen Tonfall, den sie anschlug, als sie ihm antwortete.
„Falls du es vergessen hast, Harry, du bist nicht der Einzige, der demnächst ZAG-Prüfungen hat. Warum gehst du nicht selbst in die Bibliothek und lässt mich lernen? Vielleicht hast du ja mehr Glück.“
Verärgert hatte sie ihre Nase wieder in das Buch von Treehouse gesteckt, das aufgeschlagen vor ihr auf dem Tisch lag. Harry war verstummt. Wann war er so egoistisch geworden? Hermine hatte ihm einen Gefallen getan und er hatte sich nicht einmal bedankt, dass sie ihre Zeit für ihn geopfert hatte. Nein, er hatte ihr Vorwürfe gemacht und nur an sich gedacht. Und das, wo auch sie nicht begeistert zu sein schien, dass ihre Suche erfolglos gewesen war.
„Tut mir leid“, hatte Harry sich sofort bei ihr entschuldigt, „Es ist nur so… niemand kennt sich in der Bibliothek besser aus als du. Ron und ich, wir wüssten nicht einmal, wo wir anfangen sollten.“
„Vielleicht kann ich nach dem Abendessen nochmal schauen“, hatte Hermine gemurmelt, ohne aufzusehen. Und so war es dann auch gekommen. Vor der Große Halle waren Harry und Ron zum Gryffindorturm aufgebrochen und Hermine zur Bibliothek. Seitdem waren Stunden vergangen und sie hatte sich nicht wieder blicken lassen …
Rons Gesicht verdüsterte sich. Er warf einen Blick zu einem der Bogenfenster hinüber, starrte für einen Moment den schwarzen Horizont an und versenkte dann seine Augen wieder in den Büchern. Harry wollte es ihm gleichtun. Doch gerade als er das Buch griff, ließ ein Geräusch vom Porträtloch sie beide auffahren.
„Hermine, endlich!“, rief Ron sofort.
Da stand sie, direkt vor dem Eingang, mit müdem Gesicht und hängenden Schultern.
„Hast du noch etwas gefunden?“, fragte Ron sie. Doch Harry blickte auf ihren rechten Arm, in dem sie eine einzige, in Leder gebundene Broschüre trug und er wusste die Antwort, noch ehe Hermine sie aussprach.
„Nichts“, sagte sie betrübt und Ron sank wieder auf den Stuhl, „Das heißt so gut wie nichts. Ich hab das Jahrbuch mitgebracht.“
„Das, von dem du beim Abendessen erzählt hast?“, fragte Harry.
„Ja und noch ein paar Zeitungsartikel. Aber die sind auch nicht sehr vielsagend. Zumindest nicht für das, was wir suchen“.
Sie kam zum Tisch und begann ihre Sachen abzulegen. „Es gibt Dutzende über Todesserprozesse, zum Beispiel über Barthy Crouch oder Sirius. Aber kein Wort über Snape. Er scheint damals wohl nicht sehr aufgefallen zu sein.“
„Ja“, sagte Harry geistesabwesend. Er musste an Karkaroffs Anhörung zurückdenken, die er vor einem Jahr im Denkarium gesehen hatte und an Dumbledore, der sich für Snape verbürgte. Warum, fragte Harry sich, warum?
„Und für die paar Sachen hast du so lange gebraucht?“, fragte Ron ungläugig, als Hermine die Sachen ausbreitete. Ihre Wangen sahen plötzlich eine Spur rötlicher aus als sonst.
„Ähm nun ja… also… schön, okay ich habe auch noch ein wenig von Treehouse gelesen und dabei die Zeit vergessen. Snape hatte Recht, der ist wirklich viel besser als Lightfold. Schreibt viel über Inferi und die Unverzeihlichen und so. Aber ist ja jetzt auch egal. Dieser Artikel ist übrigens noch das Spannendste.“
Sie deutete auf ein altes Zeitungspapier. Doch Harry folgte ihrem Fingerzeig nicht. Er griff nach der Lederbroschüre. Dem Jahrbuch, von dem Hermine schon beim Abendessen erzählt hatte, dass es aus Snapes Abschlussjahr stammte. Auch wenn Hermine meinte, es wäre nicht aufschlussreich: Ein paar Dinge sollten über Snape doch darin stehen, oder? Schnell schlug Harry es auf und fand unter den Slytherins gleich seinen Steckbrief. Als schwarzhaariger, hakennasiger Junge von achtzehn Jahren warf er Harry selbst von seinem Foto aus einen finsteren Blick zu und lächelte bedrohlich. Wie gut Harry diesen Blick kannte. Offensichtlich liebte es Snape schon immer, andere einzuschüchtern. Harry spürte die alte Abneigung in sich keimen und las daher schnell weiter. Doch im Steckbrief stand kaum etwas, das er nicht schon wusste oder sich hätte denken können.
Haus Slytherin. Lieblingsfächer: Zaubertränke und Verteidigung gegen die Dunklen Künste, Lesen als Hobby. Schülervereine: Mitglied des Slugclubs (was immer das auch sein sollte). Dann noch sein Geburtstag und eine Adresse.
Harry seufzte. Das war wirklich nicht sonderlich aufschlussreich. Einzig dieser Slugclub gab ihm Rätsel auf. Aber ein offizieller Schülerverein würde wohl kaum Todesser ausbilden. Gerade wollte Harry das Buch schon zuschlagen, als auf einmal ein Gedanke in seinem Kopf aufblitze. Wenn dies Snapes Jahrgang war und sein Steckbrief dort drin stand, dann bedeutete das ja, dass auch…
Schnell überschlug Harry und die Seiten der Ravenclaws und Hufflepuffs. Snape war für den Augenblick vergessen. Etwas anderes interessierte Harry weit mehr. Fast hätte er auch noch eine Seite einem kleinen rot-goldenen Wappen in der Ecke überblättert. Doch dann lächelte Harry. Er hatte sie gefunden – die Steckbriefe seiner Eltern.
Weil er das Jahrbuch von hinten aufgeschlagen hatte, war es zuerst sein Vater, auf den Harry stieß. Übermütig, mit verwuschelten Haaren und vor Selbstbewusstsein strotzend grinste James Potter ihn vom vergilbtem Pergament aus an. Für einen Augenblick hatte Harry das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken, so sehr ähnelten sie sich - bis auf die Augen. Sein Herz macht vor Freude einen kleinen Sprung. Doch dann musste Harry an Snapes schlimmste Erinnerung zurückdenken und sein Lächeln erstarb. Plötzlich fühlte Harry sich beim Anblick dieses Fotos gar nicht mehr so glücklich. Sein Mund war wie ausgetrocknet und ihm wurde flau. Schnell schlug er die Seite um und beschloss, sich den Steckbrief später durchzulesen.
Die nächsten Seiten glitten durch seine Finger und immer wieder las Harry Namen, von denen Mad-Eye Moody ihm im Sommer erzählt hatte. Gerade als Harry das Gefühl hatte, fast ans Ende gelangt zu sein, geschah es. In seinen zitternden Fingern hielt er die Seite, nach der er gesucht hatte. Die Seite, auf der in feinen Lettern „Lily Evans “ stand. Wieder machte sein Herz einen Sprung. Doch diesmal wich die Freude keiner peinlichen Berührung. Fast andächtig ließ Harry das Blatt sinken. Die Welt um ihn war vergessen. Vom Steckbrieffoto aus winkte ihm ein rothaariges Mädchen freundlich zu und lächelte fröhlich. Und da in ihrem Gesicht waren sie: Die Augen, die James Potter fehlten. Die grünen, mandelförmigen Augen. Harrys Augen, ihre Augen. Die Augen seiner Mutter. Er lächelte, als er Lily Evans in diese Augen blickte und sich selbst darin erkannte. Neugierig fuhr Harry mit dem Finger über das Foto und dann weiter zum Steckbrief. Was er über seine Mutter wohl noch erfahren würde?
Haus Gryffindor, Lieblingsfächer Zaubertränke und Verwandlung, Hobbys Lesen, Zeichnen, Zauberschach.
Tief atmete Harry aus. Es gab ja so vieles, das er nicht über seine Mutter wusste. Seine Mutter, die gestorben war, um ihn zu retten. Wehmütig verharrten seine Blicke für auf der Seite. Er spürte einen Druck hinter seinen Augen und in seiner Brust schwellen. Dann auf einmal schlug Harry die Seite um. Er wollte sich nicht in traurigen Gedanken verlieren, nicht vor Hermine und Ron. Doch genau das würde passieren, wenn er seine Mutter, die er nie kennenlernen durfte, weiter ansah. Und darum war es besser, ihren Steckbrief nicht weiterzulesen. Vorerst zumindest. Später im Bett würde er sich beide Steckbriefe noch einmal ansehen, schwor sich Harry. Ganz in Ruhe und allein.
Mit dem Jahrbuch war Harry nun fast durch und was an Seiten noch kam, erschien ihm recht belanglos. Etwas über die Quidditchteams, verschiedene Schülerclubs und am ganz vorne eine Seite, die mit „Die Besten der Besten“ betitelt war. Weil Harry sich darunter nichts vorstellen konnte, las er ein Stückchen weiter und stellte bald fest, dass es um das beste Abschneiden bei den UTZ-Prüfungen ging. Gelangweilt wollte er das Buch schon zuschlagen, als er aus dem Augenwinkel plötzlich etwas sah, das ihn innehalten ließ: den Namen seiner Mutter. Seiner Mutter, die er doch gerade weggeblättert hatte. Verwundert begann Harry zu lesen.
Die Besten in Zaubertränke:
Lily Evans (Gryffindor): Ohnegleichen
Stephan Huller (Ravenclaw): Ohnegleichen
Severus Snape (Slytherin): Ohnegleichen
Harry runzelte die Stirn. Dass Snape ein Ohnegleichen in Zaubertränke geschafft hatte, wunderte ihn nicht. Aber seine Mutter? Gewiss, er hatte gerade gelesen, dass Zaubertränke eines ihrer Lieblingsfächer war. Doch Harry hatte sich darüber kaum Gedanken gemacht. Überhaupt hatte er nie darüber nachgedacht, ob sie wohl eine gute Schülerin gewesen war. Jetzt auf einmal erschien sie ihm noch fremder als sonst. Ausgerechnet dieses Fach, in dem er so schlecht war.
„Hermine?“, rief Harry, den Blick noch immer auf das Jahrbuch gerichtet. „Wusstest du eigentlich, dass meine Mutter ein Ohnegleichen in den UTZs hatte? In Zaubertränke?“
Hermine, die gerade Ron etwas über die Zeitungsartikel erzählte, verstummte für eine Sekunde.
„Ähm, ja Harry. Hat Dumbledore dir das denn nie erzählt?“
„Nein“, antwortete Harry und blickte irritiert auf, „Er hat mir nie etwas davon gesagt, wie meine Mutter in der Schule war.“ Für einen Moment überlegte Harry, ob das stimmte. Doch er konnte sich an nichts Gegenteiliges erinnern. „Dir etwa?“
Hermine lachte.
„Nein, Harry. Aber das war doch der Grund, weswegen sie im Slugclub war. Sie war hervorragend in Zaubertränke.“
„Slugclub?!?“
Jetzt war Harry noch verwirrter. Er hatte etwas von diesem merkwürdigen Slugclub bei Snape gelesen und sich gefragt, was das wohl sein mochte. Aber was hatte Lily Evans damit zu tun?
„Slugclub“, erklärte Hermine so langsam als versuche sie einem Erstklässler etwas zu erklären, „Du weißt schon, der Club von Horace Slughorn. Du hast doch den Artikel im Jahrbuch gelesen, oder?“
„Nein“, flüsterte Harry und senkte schuldbewusst den Kopf. Das nächste Mal würde er ein Buch komplett durchlesen, ehe er Hermine nach etwas fragte. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie sie den Kopf schüttelte.
„Naja, wie auch immer. Die schreiben da zwei Seiten lang über den Club und die Mitglieder. Professor Slughorn war damals wohl Hauslehrer von Slytherin und Tränkemeister wie Snape. Und er hatte wohl eine Schwäche für besonders begabte Schüler. Im Bericht steht, dass er oft Teekränzchen mit ihnen hielt und später vielen gute Stellen besorgte, zum Beispiel im Ministerium. Deine Mutter mochte er wohl, weil sie so gut in seinem Fach war. Aber wenn du die UTZs schon interessant findest, dann bin ich gespannt, was du erst hierzu sagen wirst“.
Unter Harrys Nase tauchte ein altes Zeitungspapier auf: Ein Artikel aus dem Tagespropheten mit einem großen Foto, das im Kerkerklassenzimmer aufgenommen worden sein musste. Überall standen Kessel und von den drei Personen auf dem Bild, erkannte Harry zwei sofort: Seine Mutter und - Snape.
Harrys Puls schoss in die Höhe. Er blickte auf in Hermines Gesicht.
„Was ist das?“
„Lies es einfach, Harry“, antwortete sie und ging zurück an ihren Platz. Harry blieb nichts anderes übrig, als zu tun, was sie gesagt hatte.
Drittklässler gewinnen Forschungswettbewerb
Hogwarts. Drei Drittklässler der alteingesessenen Schule für Zauberei und Hexerei haben den 20. landesweiten Forschungswettbewerb „Jugend braut“ gewonnen. Mit ihrem erinnerungsförderndem „Vergissnicht-Bräu“ schafften es die mugglestämmige Lily Evans und ihre Schulkameraden Stephan Huller und Severus Snape sich gegen die Konkurrenz aus den höheren Klassen und der Privatausbildung durchzusetzen. Sie sind damit die jüngsten Gewinner von „Jugend braut“ seit knapp hundert Jahren. „Natürlich bin ich stolz darauf, dass unser Ausbildungsinstitut solch engagierte junge Forscher hervorzubringen vermag. Doch am meisten freut mich, dass dieser Sieg zeigt, dass Talent und Engagement keine Frage des Blutes sind und Zusammenhalt über Häusergrenzen hinweg nur förderlich ist. Etwas, das in diesen Zeiten vielerorts vergessen wird. Du meine Güte, Sie sehen ja ganz grün im Gesicht aus. Ist Ihnen nicht wohl? Möchten Sie vielleicht ein Brausedrop?“, erklärte der Schulleiter, Albus Dumbledore, unserer Reporterin auf der Verkostung. Teilnehmen am Zaubertrankwettbewerb des Zaubereiministeriums konnten Gruppen von Hexen und Zauberern zwischen elf und achtzehn Jahren. In Hogwarts erfolgte die Gruppenzuteilung nach Jahrgangsstufe. Auf die Frage, welchen Zaubertrank sie als nächstes planen würden, antwortete Lily Evans „Etwas, das vor Todesflüchen schützt. Aber ich glaube, das ist unmöglich, oder?“ und Severus Snape „Ein Elexier gegen Werwölfe. Vor Werwölfen ist man nirgendwo sicher, nirgendwo.“ Nur Stephan Huller verweigerte uns die Antwort. „Uarks Wermut örks“, keuchte er und rannte mit den Händen vor dem Mund davon. Den Gewinnern winkt nun ein Sommerferienkurs an der Fachakademie für Zaubertrankbrauerei.
Harry musste den Artikel zwei Mal lesen, bis er begriff, dass seine Mutter tatsächlich einen Zaubertrankwettbewerb gewonnen hatte. Einen Wettbewerb, der sogar vom Ministerium ausgeschrieben worden war. Was er davon halten sollte, wusste Harry aber auch beim dritten Mal Lesen noch nicht. Er war einfach nur überwältigt. So gut wie nichts hatte er über Lily Evans gewusst und nun hatte er auf einem Schlag so viel über sie erfahren. Ganz andere Interessen hatte sie, als Harry geglaubt hatte, auch wenn er sich darüber nie Gedanken gemacht hatte, zumindest nicht bewusst. Und doch war es beeindruckend. Anders, ja, aber beeindruckend.
„Das ist unglaublich“, kam es unwillkürlich über seine Lippen.
„Ja“, antwortete Hermine, „Aber leider hilft es uns nicht viel.“
Ihre Worte holten Harry zurück auf den Boden. Sie hatte Recht. Hier ging es gerade nicht um seine Mutter, sondern um Snape. Und dass dieser zusammen mit Lily Evans und einem Jungen aus Ravenclaw einen Forschungswettbewerb gewonnen hatte, erklärte weder, warum Dumbledore ihm vertraute, noch warum er im Keller vor Harry zurückgewichen war. Und je mehr Harry darüber nachdachte, dass beide an diesem Trank gearbeitet hatten, umso mulmiger wurde ihm zumute.
Engagement und Talent sind keine Frage des Blutes, hatte Dumbledore in diesem Interview gesagt. Aber es war nicht er, der den Wettbewerb gewonnen hatte, sondern Severus Snape. Severus Snape, der Lily Evans Schlammblut genannt hatte, als sie ihm helfen wollte. Severus Snape, der Todesser geworden war und Mugglestämmige für Abschaum hielt. Auf dem Pressefoto lächelte Lily, während sie etwas von dem Zaubertrank abfüllte. Snape stand neben ihr, reichte ihr den Flakon und starrte sie dabei andauernd an. Wahrscheinlich störte es ihn, dass sie auch in dieser Gruppe war, unwürdig in seinen Augen war. Oh, Harry mochte sich gar nicht vorstellen, wie Snape sie in dieser Zwangsgemeinschaft gestriezt haben musste. „Geh zur Seite, dreckiges Schlammblut. Zaubertränke sind was für echte Zauberer… wer hat sowas wie dich eigentlich an den Kessel gelassen… putz die Schneidebretter, wie Hauselfen, denn was Besseres bist du nicht“. Sie musste sehr tapfer gewesen sein, um das auszuhalten, dachte Harry verbittert. Wie konnte Dumbledore nur zulassen, dass sie gemeinsam an diesem Projekt arbeiteten? Und dann auch noch der Slugclub. Warum war sie dort, wenn Snape auch dort war? Warum ging sie überhaupt dort hin, zu einem Lehrer aus Slytherin?
„Auch wenn wir deine Mutter jetzt wohl ganz gut gebrauchen könnten“, brach Hermines Stimme unvermittelt in Harrys Gedanken. Überrascht fuhr er auf.
„Was meinst du denn damit?“
Hermine saß nicht mehr auf ihrem Stuhl. Sie war aufgestanden, ließ von einem nahen Regal ein paar Bücher herabschweben und setzte einen Teil davon Ron vor die Nase.
„Hast du mal aus dem Fernster gesehen, Harry? Heute ist Neumond!“
Und mit einem strahlenden Lächeln wandte sie sich um und lief die Treppe zum Jungenschlafsaal hinauf.
Verdutzt schaut Harry ihr hinterher.
„Was macht sie denn da oben?“
„Wir haben den Kessel in die hinterste Kabine gebracht“, antwortete Ron, „Hermine meinte, wir bräuchten einen geschützten Ort, um geheime Verbindungen zu brauen. Da hab ich ihr das vorgeschlagen. Jetzt wo Umbridge sicher auch Myrthes Klo kontrolliert, wir den Raum der Wünsche für die DA brauchen und im Gemeinschaftsraum dauernd was los ist, dachte ich, das wäre das Beste.“
Harry ging auf einmal ein Licht auf. Jedes Mal, wenn er in der vergangenen Woche ins Jungenbadezimmer kam, war die hinterste Toilette verschlossen gewesen. Und zwei Mal war ihm Neville entgegengekommen, der den beiden offensichtlich seiner statt geholfen hatte.
„Und was ist mit den Zeitungsberichten?“
„Nicht wirklich wichtig. Eine Heiratsanzeige von einem Tobias Snape und eine zu seinem Tod. Wir sollten wohl langsam auch mal hochgehen“, Ron senkte den Blick und die Stimme, „Ich glaube echt, Hermine hält mich für einen Troll. Denkt sie wirklich, dass ich das alles lesen muss, um ein paar Kartoffelbauchpilzkerne in heißes Wasser zu schmeißen?!?“
Noch während Ron verzweifelt den Bücherstapel vor sich beäugte, machte Harry auf sich auf den Weg zur Treppe. Als er eintrat, hing die Kabine im Jungenklo voller Dunst, der sich am schwarzen, mondlosen Fenster niederschlug. Die engen Wände waren tapeziert mit Abschriften der Rezepte und Hermine starrte konzentriert in den Kessel. Mit einem Flakon in der rechten Hand zählte sie leise die Sekunden. Ohne auf ein Wort von ihr oder Rons Erscheinen zu warten, griff Harry sich ein Schneidebrettchen und begann ein paar Wurzeln zu schälen. Bald schon hatte die feuchtwarme, stickige Luft um ihn seine Sinne einghüllt. Wieder musste Harry an seine Mutter denken, als er Hermine über dem Kessel stehen saß. Der Schein des Feuers malte einen rötlichen Schimmer in ihr Haar und in ihren Augen reflektierte sich grünlich der Zaubertrank. Und da zur Türe kam Stephan Huller herein oder war es nur Ron? Harry wusste es nicht, ihm war so heiß, so heiß. Schweiß trat auf seine Stirn. Aber wenn das wirklich Huller war und Lily über dem Kessel stand, dann musste er Severus Snape sein. Wie eigenartig, wo er sich doch hasste. Ob sie das Vergissnicht-Bräu wohl noch einmal so hinbekämen, dass sie in Slugclub dürften? Und wie konnte er jetzt mit Hermine so gut zusammenarbeiten, dass ihr Zaubertrank einen Wettbewerb gewinnen würde, wenn er dieses Schlammblut doch verachtete? Harry fand keine Antwort. Jeder Gedanke in seinem Kopf löste sich auf wie ein Wermutstropfen im Sud. Heiße Luft schlug ihm ins Gesicht. Die Welt vor seinen Augen verschwamm, wurde dunkler und dunkler. Seine Finger entspannten sich. Das Schneidebrett glitt ihm aus der Hand und fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Alles um Harry war schwarz.
Zum Glück währte die Dunkelheit nicht lange. Als sich der schwarze Nebel lichtete, fand Harry sich in einem Farbenwirbel wieder, der sich langsam zu einem Kellergewölbe verdichtete. Er konnte sich nicht erklären, wie er hier her gekommen sein mochte, aber er wusste, wo er war. Es war in Snapes Klassenzimmer in den Kerkern. Und doch war irgendetwas anders als sonst. Stimmengewirr drang wie aus weiter Ferne zu Harry hinüber und alles war eigenartig hell und verschwommen. Von seinem Kopf fiel ihm eine rote Haarsträhne ins Gesicht. Für einen Moment wunderte Harry sich, waren seine Haare denn nicht schwarz? Doch schon in der nächsten Sekunde kam ihm diese helle Farbe ganz natürlich vor, so als wäre es nie anders gewesen.
„Verschließe deinen Geist, Schlammblut“, zischte ihn plötzlich eine Stimme an. Er zuckte zusammen. Es war Snape. Vorsichtig wandte Harry sich um und sah den Tränkemeister als hakennasigen Jugendlichen mit gezogenem Zauberstab vor sich stehen. „Expecto Patroum“ rief Harry und ein silberner Hirsch sprang auf Snape zu, verschwand jedoch augenblicklich im Nichts.
„Zu viel Wermut, viel zu viel Wermut!“, ertönte zeitgleich eine Stimme irgendwo neben ihm. Aus den verschwommen Konturen des Zaubertrankklassenzimmers trat ein blonder Junge: Stephan Huller. Und irgendwo im Hintergrund stand eine dunkle Gestalt, von der Harry instinktiv wusste, dass es Slughorn war. Auch wenn diesen eine sonderbar unheimliche Aura umgab.
„Ja, man muss gut dosieren“, sagte Snape, „Du solltest heimliche Nachhilfe nehmen, ehe Umbridge dich erwischt. Such die Zutaten für das Vergissnicht-Bräu in meinen Schränken und wirf sie in den Sud“
Und dann auf einmal riss etwas Harry vom Boden hoch. Es passierte so plötzlich, dass er nicht wusste wie ihm geschah. Für den Bruchteil einer Sekunde schwebte er in der Luft, dann schlug ihm Wasser ins Gesicht. Harry fragte sich noch, wie das passieren konnte, da spürte er unter sich ein Brodeln. Er tauchte aus dem Wasser und erkannte plötzlich wo er war. Er saß in einem Kessel! Der gleiche Kessel, in den Wurmschwanz vor einem Jahr den Babykörper geworfen hatte. Und da vor Harry stand er, in einem Mantel aus Finsternis getaucht, doch mit rotglühenden Augen im Gesicht – Voldemort. Voldemort, den Harry vor einer Sekunde noch für Slughorn gehalten hatte. Und er hob den Zauberstaub. Die Worte „Avada Kedavra“ schienen ihm schon auf den Lippen zu liegen.
Harry riss den Kopf herum und suchte - er wusste nicht wieso – Snapes Gesicht im Dunst des kochenden Wassers als wäre es seine letzte Rettung.
„Sie wollen doch nicht, dass ich sterbe!“, schrie er den Tränkemeister an so laut wie er konnte.
„RAUS!“ rief Snape zeitgleich, völlig außer sich, „sofort RAUS!“.
Dann trafen sich ihre Blicke und plötzlich wich Snape vor ihm zurück, wie von einem Schockzauber getroffen. Er zog ein Zauberfoto aus seinem Umgang, starrte es an und blieb wie versteinert stehen.
„Sie mögen sie wohl sehr“, säuselte wie zum Hohn Luna Lovegood, in die sich Huller verwandelt hatte.
„Nein!“, rief Harry verzweifelt, „Professor!“. Doch Snape rührte sich nicht. Panisch warf Harry sich herum, suchte nach etwas, womit er sich aus dem Kessel befreien konnte. Im heißen Wasserdampf musste er blinzeln. Dabei fiel sein Blick auf ein weißes Regal, auf dem ein Einmachglas mit kupferfarbener Flüssigkeit stand. Und das Regal - rief seinen Namen?
„Harry? Harry! Komm zu dir! Harry!“
Langsam öffnete er die Augen. Das Regal, das er eben noch gesehen hatte, verwandelte sich allmählich in Rons Gesicht. Er hielt Harry am Umhang gepackt gegen die Trennwand gedrückt.
„Ein Glück!“, sagte Hermine und atmete tief aus.
Verdutzt ließ Harry seinen Blick durch die Kabine schweifen.
„Was… was ist passiert?“
Jemand hatte das Fenster aufgerissen.
„Du bist in Ohnmacht gefallen“, erklärte Hermine, „War wohl doch etwas zu heiß hier drin. Zum Glück war Ron gleich da. Geht’s dir wieder gut?“
Mit der Hand fuhr Harry sich über die Stirn. Seine Haut und seine Haare waren klatschnass. Hatte er so viel geschwitzt?
„Ja“, murmelte er, während er langsam wieder zu sich kam, „Danke“
„Kein Problem“, sagte Ron und ließ ihn wieder los, „Hauptsache, du bist okay“
Harry schwieg. Erst jetzt fiel sein Blick auf einen feuchten Lappen am Boden. Offensichtlich hatten seine Freunde versucht, ihn mit kaltem Wasser aufzuwecken.
„Ich glaube, ihr geht besser nach oben. Ich schaff das hier auch alleine.“, mischte Hermine sich ein.
„Bist du dir sicher?“, wandte sich Ron ihr zu.
„Ganz sicher. Und du könntest die Zeit nutzen und nochmal ein paar Seiten in Kurt Kolbenglas lesen. Wir haben nur noch ein paar Wochen.“
Ron senkte den Kopf und warf ihr einen finsteren Blick zu, als sie sich umdrehte.
Mit einem Mal war Harry wieder hellwach und begriff sofort.
„Gut, dann bis Morgen“, rief er Hermine ein wenig zu laut zu und schob Ron zügig aus der Kabine.
„Manchmal ist sie wirklich eine ganz schöne Streberin“, flüsterte dieser ihm auf dem Weg zum Jungenschlafsaal zu, „Sie kann doch nicht erwarten, dass wir alle Bücher auswendig können.“
In der Stille des einsamen Flurs klangen selbst seine Worte noch laut.
„Ich weiß“, sagte Harry knapp und beobachtete die flackernden Schatten, die das Fackellicht auf die Wände warf.
„Glaubst du, dass wir unsere ZAGs schaffen, Harry? Ich werde wohl niemals so viel wissen wie sie.“
Doch Harry schwieg. Jetzt, wo er wieder bei Kräften war, kreisten seine Gedanken um den merkwürdigen Traum während seiner Ohnmacht. War er wirklich seine eigene Mutter gewesen? Im Schlafsaal hatten sich Seamus und Dean in eine Diskussion über Quidditch vertieft, als Ron und Harry die Tür erreichten. Ihre Stimmen drangen heraus auf den Flur und irgendwann fiel auch das Wort Ginny. Harry zuckte für einen kurzen Moment zusammen und wusste nicht, wieso. Beherzt griff Ron die Klinke. Doch er selbst verharrte im Türrahmen.
„Was ist los?“, fragte Ron und sah ihn verwundert an.
„Warte einen Moment, ich muss noch etwas erledigen“, antwortete Harry, wandte sich um und ging die Treppe wieder hinab zum Gemeinschaftsraum.
Dort auf dem Tisch lag sie, als wäre keine Zeit vergangen: Die Lederbroschüre, das Jahrbuch. Und daneben der Artikel aus dem Tagespropheten. Schnell ging Harry darauf zu und schlug den Steckbrief von Lily Evans auf. Freundlich strahlten die grünen, mandelförmigen Augen ihn an. Mit dem Finger fuhr Harry abermals über das Foto. Ja, es war wahr. Er war Lily Evans gewesen. Was für ein absurder Traum. Erst war er Snape, dann seine eigene Mutter. Verrückt, wie sein Gehirn so vieles, das er in der letzten Zeit erlebt hatte, miteinander verschmelzen ließ. Und doch war es Harry sonderbar zumute, wenn er an seine Ohnmacht dachte. Fast so, als wollte dieser Traum ihm irgendetwas sagen. Doch es war eine Botschaft, die er nicht entschlüsseln konnte.
Geistesabwesend warf Harry den Zeitungsartikeln einen Blick zu und fühlte Enttäuschung in sich aufwallen. Sie waren keinen Schritt weitergekommen, das Rätsel um Snape zu lösen, trotz Hermines Recherchen. Aber es konnte doch nicht sein. Es konnte doch nicht sein, dass das alles gar keinen Sinn ergab und nichts, wirklich nichts über Snape herauszufinden war. Für eine Sekunde hatte Harry das Gefühl, vor einem großen Haufen Puzzleteile zu stehen und bloß nicht zu wissen, wie sie zusammengehörten. Vor seinen inneren Augen blitze plötzlich wieder auf, wie Snape in seinem Traum reagiert hatte, als er ihn um Hilfe gerufen hatte. Ein kurzes Schaudern packte Harry und er schob das Bild schnell beiseite. Dann schlug er das Jahrbuch zu, klemmte es sich unter den Arm und stieg die Treppe zum Jungenschlafsaal wieder hinauf.
Eine Frage, die er sich schon kurz vor dem Zusammenbruch gestellt hatte, wollte ihn dabei auf dem ganzen Weg nicht loslassen. Wie hatte es dieses kleine Grüppchen von Drittklässlern geschafft, unter diesen Bedingungen einen Wettbewerb zu gewinnen? Selbst als Harry in seinem Bett lag und alles, wovon Hermine ihm erzählt hatte, nachgelesen hatte, hämmerte diese Frage noch in seinem Kopf. Harry konnte sich nicht vorstellen, dass Hermine jemals mit Malfoy so gut zusammenarbeiten könnte. Völlig egal, dass sie Zaubertränke beherrschte, Malfoy würde sie fertigmachen ohne Ende, weil sie… weil sie ein Schlammblut war, wie seine Mutter. Wie Lily. Wie also konnte Lily Evans mit Severus Snape zusammenarbeiten, der Mugglestämmige doch genauso verachtete wie Malfoy?
„Ron?“, sprach Harry in die Dunkelheit des Jungenschlafzimmers und erntete ein undeutliches Murmeln als Antwort, „Was glaubst du, wie meine Mutter es geschafft hat, mit Snape auszukommen bei diesem Wettbewerb?“
„Keine Ahnung“, nuschelte Ron und gähnte, „Vielleicht hat sie ihn in eine Kröte verwandelt und als Versuchskaninchen benutzt. Ich hät’s jedenfalls getan.“
Harry lachte. Das Bild von Snape als Kröte hatte etwas, fast wie Nevilles Irrwicht. Auch wenn er wusste, dass dies nicht die Antwort war. Egal. Es würde wohl noch etwas dauern, bis dieses Rätsel gelöst war und alle Puzzleteile zueinanderfanden. Sich die Nacht um die Ohren zu schlagen, nur um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, würde ihm jedenfalls nicht weiterhelfen. Und darum löschte Harry das Licht und schlief zum zweiten Mal ein.
Als Harry am nächsten Morgen aufwachte, war der Jungenschlafsaal leer. Grelles Licht durchflutete den Raum und auf Nevilles Nachttisch räkelten sich die Fangzähnige Geranie und die Mimbulus Mimbeltonia mit weit ausgefächerten Blättern in der Morgensonne. Harry rieb sich die Stirn. Wie lang hatte er geschlafen? Bestimmt musste es schon auf Mittag zugehen. Gähnend schlurfte er ins Badezimmer. Die hinterste Duschkabine war nun wieder verschlossen und nur ein süßlich-herber Geruch in der Luft zeugte noch vom Zaubertrankbrauen des Vorabends. Harry stellte den Wasserhahn an und tauchte seine Hände in den Strahl. Seine Lebensgeister kehrten zurück, als er sein Gesicht benetze. Doch dann fiel sein Blick in seine Augen im beschlagenen Spiegel und er wandte sich schnell vom Wachbecken ab.
Im Gemeinschaftsraum war kaum mehr los als im Jungenschlafsaal. Nur Hermine saß über einen Stapel Pergamentrollen gebeugt und kraulte abwesend Krummbein, der es sich auf einem Stuhl neben ihr bequem gemacht hatte. Sonst herrschte absolute Stille, die dem weiten Raum etwas Unheimliches verlieh. Wortlos setzte sich Harry mit an den Tisch. Er überflog die beiden Zeitungsartikel, die er gestern nicht mit nach oben genommen hatte und stockte kurz, als er den Ort las, an dem Tobias Snape beigesetzt worden war. Irgendwo hatte er diesen Ortsnamen schon einmal gelesen. War es in Snapes Steckbrief? Das würde zumindest Sinn ergeben. Harry dachte nicht weiter darüber nach. Sein Magen knurrte vor Hunger. Weil er das Frühstück verschlafen hatte und es hier nichts anderes gab, griff er in eine Schachtel Pfefferminzblättchen, die offen auf dem Tisch stand. Ein schwerer Fehler. Kaum hatte Harry den ersten Bissen gegessen, wurde ihm plötzlich heiß. Sehr heiß, fiebrig heiß.
Hermine schreckte auf.
„Oh nein! Die sind von Fred und George, oder? Wenn ich die beiden erwische!“
Doch die Weasley-Zwillinge waren Harry gerade herzlich egal. Ihm wurde schummrig und er konnte nur noch keuchen: „Hermine“
„Halt durch, Harry. Mir fällt schon etwas ein.“, rief sie.
Dann sprang sie auf und lief nervös auf und ab, als würde sie angestrengt überlegen.
Doch noch ehe sie zu einer Lösung kam, schwebte durch die Wand eine durchsichtige Gestalt mit Halskrause ins Zimmer – der Fast Kopflose Nick.
„Bowling. Und wieder wollen sie mich nicht dabei haben. Von wegen eine kurzweilige Veranstaltung für alle Geister“, schnaubte er und ohne nach links und rechts zu sehen, hielt er auf die Decke zu den Schlafsälen zu.
„Sir Nicholoas!“, rief Hermine ihm nach.
Endlich drehte er den Kopf um.
„Oh, Miss Grang-, Du meine Güte, was ist denn mit Ihnen passiert, Junge?“
Sein Blick war auf Harry gefallen, der sich schwindelig am Tisch festklammerte.
„Verzauberte Pfefferminzblättchen“, erklärte Hermine.
Für einen Moment beäugte der Hausgeist Harry skeptisch.
„Sie sollten ein Glas Wasser trinken. Diese jungen Leute und ihre Vergnügungen. Bowling!“
Und kopfschüttelnd verschwand der Fast Kopflose Nick durch die Zimmerdecke.
Hermine zögerte nicht. Sie griff ein Wasserglas, das ebenfalls auf dem Tisch stand, füllte es mit einem Aguamenti und schob es Harry hin. Schnell trank er es aus und spürte, wie die Glut aus seinem Gesicht wich. Ein „Geht’s wieder?“ drang an sein Ohr.
„Ja, Danke“, murmelte Harry und blickte auf, „Hallo, Hermine“
„Hallo Harry“, antwortete sie ernst, „ich glaub, die lassen wir besser verschwinden. Evanesco.“
Dann sank sie wieder auf ihren Stuhl.
„Wo sind eigentlich all die anderen?“, fragte Harry und blickte sich um in der gähnenden Leere.
„Aber hast du das denn vergessen? Heute ist Training für das letzte Saisonspiel. Ganz Gryffindor ist auf dem Quidditchfeld.“
Harry schaute sie an. Das war ihm tatsächlich entfallen. Nicht das Spiel, aber das Training. Seitdem er wegen Umbridge nicht mehr selbst auf den Besen durfte, schien er Quidditch ein wenig zu verdrängen.
„Und du nicht?“, fragte er verwundert.
„Nein“, seufzte sie, „Ron meinte, wenn ich dabei wäre, wäre er noch nervöser und du hast ja noch geschlafen.“
Harry senkte den Blick. Für eine Weile schwiegen sie sich an. In diesen Minuten erwachten in ihm wieder die Erinnerungen an den gestrigen Abend. Und all die Gedanken, die ihn seit der Ohnmacht beschäftigt hatten, gingen ihm wieder durch den Kopf.
„Der Inferi Immunum“, sagte er leise, „glaubst du eigentlich, dass Snape…“
„ihn erfunden hat? Kann schon sein, Harry. Wenn der das schon als Drittklässler getan hat.“
Harry überlegte, ob er ihr von seinem Traum erzählen sollte. Doch er kam nicht mehr dazu. Vom Porträtloch war plötzlich Lärm zu hören.
„Ich werd das nie schaffen. Nein, sag gar nichts. Ich weiß, ich bin ein Versager. Wir werden verlieren, haushoch verlieren und alles wegen mir.“
„Nur, wenn du nicht aufhörst, dich fertigzumachen“
„Du hast leicht reden, du bist ja auch keine schlechte Sucherin.“
“Und du spielst auch gut. Hi Harry, hi Hermine“.
Ginny und Ron hatten den Raum betreten. Ein ganzer Haufen quasselnder Gryffindors folgte ihnen auf den Fuß. Wie ein begossener Pudel stand Ron im Gemeinschaftsraum in seinem schlammverdreckten Trikot. Auf seinem schweißnassen Gesicht prangte eine Schnittwunde.
„Nicht so gut gelaufen?“, fragte Harry fürsorglich.
„Nicht so gut? Eine Katastrophe. Harry, ich kann das nicht, ich bin einfach nicht für Quidditch gemacht. Die Slytherins haben Recht, ihr bin ihr King.“
„Ach was, so schlecht kannst du gar nicht gespielt haben, Ron“, versuchte Hermine ihn zu trösten, „Wie viele Quaffel hast du denn gehalten?“
Sein Blick verfinsterte sich.
„Keinen einzigen“, antwortete er bitter.
„Aber nur, weil du so nervös bist“, sprach Ginny ihm gut zu.
„Damit hat sie absolut Recht.“
Das war Angelina Johnson, die ihr Gespräch belauscht hatte und zu ihnen herübergekommen war.
„Du bist eigentlich kein schlechter Hüter, Ron. Aber du lässt dich zu leicht provozieren. Als Mannschaftskapitänin erwarte ich von allen Spielern volle Konzentration. Nervenflattern können wir nicht gebrauchen, wenn wir gegen Ravenclaw antreten. Also tu etwas dagegen, sonst sehe ich leider wirklich schwarz für Gryffindor.“
„Ich werd‘s versuchen“, entgegnete Ron kleinlaut, doch Angelina hatte sich schon wieder Katie Bell und den Anderen zugewandt.
„Die Slytherins waren wieder da, müsst ihr wissen“, erklärte Ginny, während Ron zu einem Regal hinüber stapfte und eine kleine Phiole mit einer zartrosa Flüssigkeit hinter einem Stapel Bücher hervorzog.
„Und sie haben dieses Lied gesungen“
Ohne dass Ginny oder Hermine ihn beachteten, nahm Ron einen kräftigen Schluck und die Wunde in seinem Gesicht verschloss sich augenblicklich.
„Das Beste an Slytherin ist noch Snape“, sagte er unüberhörbar sarkastisch als er die Phiole wieder wegstellte, „genauso fies, aber immerhin noch nützlich“.
„Ja“, antwortete Harry nachdenklich. Er musste an all die Dinge denken, die er von Snape gelernt hatte: Zaubertränke, Expelliarmus, Okklumentik. Und ein Satz blitze in seinem Kopf auf, der ihn reichlich sonderbar fühlen ließ: Was wären sie nur ohne Snape?
Der Rest des Wochenendes verstrich, ohne dass Harry viel davon bemerkte. Er und seine Freunde hatten sich wieder zwischen Mauern aus Bücherstapeln verschanzt. Und während Harry und Ron für sich selbst lernten, versuchte Hermine verzweifelt, Neville Nachhilfe in Verwandlung zu geben. So wurde es Abend, Morgen und wieder Abend. Bald hatte Harry das Gefühl, dass Tinte, Pergament, altes Leder und Buchseiten die einzigen Dinge auf der Welt waren.
Die Doppelstunde Zaubertränke am Montag verstrich, ohne dass Snape viel Notiz von Harry nahm. Das hieß, er nahm noch weniger Notiz von ihm als sonst. Bald hatte Harry den Eindruck, dass Snape ihn bewusst mied. Ja, es aus irgendeinem Grund nicht einmal wagte, ihn anzusehen.
„Das bildest du dir ein“, sagte Hermine, als sie die Kerkertreppen wieder hinaufstiegen. Doch Harry war davon nicht überzeugt. Und irgendwie klang auch Hermine nicht wirklich danach.
Die untergehende Sonne tauchte die Fensterscheiben in glühendes Rot, als sie am späten Nachmittag im Gemeinschaftsraum beisammensaßen. Hermine mit Neville am Tisch, Fred und George tuschelnd in einer Ecke außerhalb ihres Blickfeldes und Harry bei Ron und Ginny vor dem Kamin, wo die beiden Geschwister sich eine heiße Partie Zauberschach lieferten.
„Oh nein!“, rief Ginny.
Und ihr Turm, eine der letzten schwarzen Figuren auf dem Feld, zerfiel zu Staub. Während der weiße König mit der Dame ein Freudentänzchen aufführte und ihre Bauern klatschen, warf Harry einen ungeduldigen Blick zur Uhr hinauf. Der Zeiger war seit dem letzten Mal nur einen Strich weitergewandert. Eigentlich hatte es keinen Sinn, die Uhr andauernd anzustarren. Doch Harry konnte nicht anders. Er war furchtbar nervös an diesem Abend. Heute stand ihm die erste Okklumentikstunde seit dem Vorfall vor einer Woche bevor. Und mit jedem Strich auf dem Ziffernblatt rückte sie näher und näher. Harry spürte, wie seine Aufregung wuchs.
„Ich glaube, ich muss los“, sagte er und warf einen Blick zu Ron hinüber, der ihn nicht anschaute.
„Viel Glück, Harry. Bauer vor auf die 7“, verabschiedete er ihn beiläufig.
Die Stufen der Turmtreppe waren gepflastert mit Gedanken. Jeder Schritt wirbelte die letzte Woche in Harry auf wie den Staub unter seinen Füßen. Was würde heute wohl geschehen? Wie würde Snape auf ihn reagieren? Harry konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihn erwarten würde. Und darum wusste er auch nicht, wie er dieser Okklumentikstunde entgegensehen sollte. Würde Snape in seinen Erinnerungen sehen, dass er und seine Freunde in seiner Vergangenheit geforscht hatten? Dieser Gedanke bereitete Harry zugegeben die größte Sorge. Snape würde nicht gerade gnädig mit ihm umgehen, wenn er davon wüsste. Doch irgendwie wollte Harry auch zu Snape. Ja, so unglaublich das auch klang – er wollte wirklich zu ihm. Wenn es eine Antwort auf all seine Fragen gäbe, dann doch nur bei ihm, oder? Wo sonst sollte Harry herausfinden, warum plötzlich ein Funke von Schmerz in den schwarzen Augen aufgeglommen war, als es um sein Leben ging? Ein Funke von Schmerz – um ihn? Nachdenklich hielt Harry inne und blickte in die Leere des dunklen Treppenhauses. Es war schon merkwürdig, dass er sich so viele Gedanken über Snape machte. Dass er zu ihm wollte, wo er doch früher nur froh gewesen war, ihm nicht zu begegnen. Doch in den letzten Wochen war alles anders. So viel war geschehen. Und Harry kam es inzwischen fast so vor als gäbe es hinter dem zynischen Lehrer, den er kannte, noch einen ganz anderen Severus Snape. Er musste zurückdenken an die erste Okklumentikstunde seit der Aussprache. Irgendwie hatte sie ihm sogar ein wenig Spaß gemacht. Nicht so wie Quidditch natürlich, nicht einmal wie Verteidigung gegen die Dunklen Künste, als Lupin es noch unterrichtete. Doch es war anders als sonst mit Snape gewesen. Die Erinnerung daran fühlte sich an wie… ja wie eigentlich? Harry wusste es nicht. Vielleicht wie eine leuchtende Glühwürmchenschlinge in einer finsteren Ecke des Gewächshauses zu entdecken? Doch das Bild passte nicht ganz. Sein Kopf war leer und seine Augen sahen nur die Dunkelheit des Treppenhauses. Er war in der perfekten Stimmung für Okklumentik. Er musste sich seiner Gefühle nicht entledigen. Er hatte keine und sein Geist war so leer wie ein weißes Blatt Papier. Einmal noch atmete Harry tief durch, dann schritt er zielstrebig die letzen Stufen hinab. Dem bang ersehnten Wiedersehen mit Snape entgegen.
Gerade hatte Harry das Porträtloch hinter sich gelassen, als er bemerkte, dass er nicht alleine war. Im Schatten neben dem Eingang kauerte eine kleine Gestalt am Boden, nicht größer als ein Erstklässler. Er schien Harry gesehen zu haben, denn er sprang auf und kam sofort auf ihn zu. Harry fragte sich noch, wer das sein könnte, da streifte das Abendlicht das Gesicht und den Umhang des Schülers. Ein silbern-grünes Abzeichen blitze auf und dunkelbraune Locken fielen auf die Schultern eines schmächtigen Jungen.
„Drawfeather!“, rief Harry überrascht, als er den Slytherin wiedererkannte, den er einst verteidigt hatte.
„Ja“, polterte der Junge aufgeregt los, „Ich hab hier auf dich, Sie-“
„Sag einfach Harry zu mir“
„- also auf dich hier gewartet. Ich soll eine Nachricht von Professor Snape überbringen. Er sagt, du brauchst heute nicht zur Nachhilfe zu kommen, denn er ist krank. “
Ungläubig starrte Harry den Jungen an und spürte, wie es ihm einen kurzen Stich versetzte.
„Er ist krank?!?“
Snape war an diesem Morgen zynisch, schlecht gelaunt und wer weiß noch was gewesen, doch keineswegs hatte er irgendwie kränklich gewirkt.
„Ja, also, zumindest sagt er das“, antwortete Drawfeather.
Harry starrte Löcher in die Luft.
„In Ordnung“, sprach er schließlich mehr zu sich selbst. Doch aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Drawfeather ihn noch immer erwartungsvoll anschaute.
„Ist denn sonst noch irgendwas?“
„Ich… ich wollte nur sagen, dass ich nicht mehr glaube, dass du lügst. Und Danke für naja du weißt schon was.“
Ein blasses Rot erschien auf den Wangen des Jungen. Doch dann wandte er sich ruckartig ab. Und ehe Harry sich bedanken konnte, war er im nächsten Quergang verschwunden.
Für eine Weile sah Harry ihm noch nach, dann murmelte er mit einem dumpfen Gefühl im Magen „Klausel 35“
„Na, das war aber ne kurze Okklumentik-Stunde“, begrüßte ihn Ron, während sein Turm Stellung bezog und eine weitere schwarze Figur vom Feld zog.
„Snape hat abgesagt“, entgegnete Harry knapp und ließ sich wieder neben Ginny auf einen Hocker fallen.
„Was?!?“, ertönte es vom Tisch und ehe Harry sich versah, stand Hermine neben ihm, „Warum das denn?“
„Er ist krank – sagt zumindest sein Schüler, den er geschickt hat.“
„Krank? Aber was hat er denn? Ist er auf der Krankenstation?“
Harry starrte wortlos zu ihr hoch. Warum fielen Hermine eigentlich immer all die Dinge ein, die er vergaß? Er hätte Drawfeather diese Fragen stellen sollen. Doch er war zu überrascht gewesen, um daran zu denken.
„Hast du denn nicht nachgefragt?“, hakte sie nach und ließ sich, seinen Blick haltend, auf dem zweiten Hocker nieder.
Harry schüttelte den Kopf.
„Aber wegen einem Schnupfen würde er ja wohl kaum absagen, oder?“, fügte er nach einer Denkpause hinzu.
„Heute Morgen ging’s ihm noch blendend“, kommentierte Ron ohne vom Schachbrett aufzusehen.
„Aber wenn er krank ist“, mischte sich Ginny plötzlich ein, „Warum nimmt er keinen Zaubertrank? Er ist doch Tränkemeister. Auf der ganzen Krankenstation haben sie nichts, was er nicht gebraut hätte. Und bewusstlos kann er ja kaum sein, wenn er noch Slytherins schickt.“
„Ja, das ist wirklich sehr merkwürdig“, bemerkte Hermine. Auf einmal war sie sehr still geworden. Fast, als ob sie schwer am Grübeln wäre.
„Harry“, fuhr sie schließlich mit einer samtweichen Stimme fort, die Harry ganz und gar nicht gefiel, „Zwischen dir und Snape, ist da vielleicht noch was-“
„-Nein, verdammt!“, fiel Harry ihr ins Wort. Aus irgendeinem Grund war er plötzlich stinksauer, „Ich hab dir alles erzählt, was am Montag passiert ist. Keine Ahnung, was in Snape gefahren ist. Wenn du mir nicht glaubst, frag ihn doch selbst!“
Wütend sprang er auf und rauschte die Treppe zum Jungenschlafsaal hinauf. Dort knallte er die Türe hinter sich zu und schmiss sich auf sein Bett.
Er wusste nicht, warum er Hermine so angefahren hatte. Er wusste nicht, warum er abgehauen war. Ihm war nur elend zumute. Harry fühlte sich wie ein Koffer, der am ersten September in King’s Cross zurückgeblieben war. Von seinen Freunden verlassen, von Dumbledore vergessen, von Snape aufs Abstellgleis gestellt - mal wieder. Was hatte er ihm eigentlich diesmal getan? Hatte er ins Denkarium geschaut? Nein! Hatte er Hermine und Ron von seinen Tränen erzählt? Nein! Und doch bestrafte ihn Snape mit der gleichen Ignoranz wie vor den Osterferien. Oh, es war unfair. Mit einer so fadenscheinigen Ausrede abgespeist zu werden, tat weh. Es tat weh, obwohl Harry nach fünf Schuljahren wusste, dass er von Snape kaum etwas Anderes zu erwarten hatte. Fast war ihm so, als wäre eine junge Pflanze mit brutaler Gewalt in den Boden getrampelt worden. Und dabei konnte sich Harry nicht einmal erklären, warum ihn das überhaupt kümmerte. Denn eigentlich – eigentlich hasste er Snape doch.
Warum? Das war die große Frage. In letzter Zeit schienen sich die Warums zu häufen, so dass man in Gedanken ganze Fragentürme aus ihnen bauen konnte. Harry hatte gehofft, dass sich mit Hermines Hilfe alle Rätsel klären würden. Doch der Wald der Fragezeichen war um ihn nur noch dichter und verworrener gewachsen. Warum hatte Snape geweint? Warum war er zurückgewichen? Warum hatte er die Okklumentikstunde abgesagt? Und warum machte Harry sich über all diese Dinge überhaupt Gedanken? Langsam hatte er das Gefühl, nichts mehr zu verstehen. Am wenigsten sich selbst. Als Snape ihn vor den Osterferien aus seinem Büro geworfen hatte, da hatte er sich für seinen Vater geschämt. Da hatte Snape ihm leid getan. Und doch war er irgendwo froh darüber gewesen, ihn los zu sein, ihm nicht mehr unter die Augen treten zu müssen. Wie konnte es sein, dass er nun enttäuscht darüber war, dass Snape ihn nicht sehen wollte? Jetzt, wo sich seine Gefühle nicht mehr mit Mitleid und schlechtem Gewissen erklären ließen, wo ihn kein verbotenes Wissen mehr belastete, das ihn zu einer Aussprache drängte? Oder war er eigentlich nur wütend auf Hermine, weil diese ihm unterstellt hatte, nicht die volle Wahrheit gesagt zu haben? Wütend, weil sie glaubte, er wisse mehr als sie? Harry war ratlos. Sie alle waren ratlos, was Snape anging. Doch schien es Harrys Freunde weitaus weniger zu kümmern als ihn selbst. Den ganzen Dienstag verloren sie kein Wort darüber bis Harry es tat.
„Also ich wäre froh an deiner Stelle“, sprach Ron ihm gut zu, als sie am Abend vor dem Gemälde von Barnabas dem Bekloppten innehielten, „Gibt Schöneres als Unterricht bei Snape.“
Kaum hatte er es ausgesprochen, erntete er einen strengen Blick von Hermine.
„Er muss aber Okklumentik können, Ron. Wie ich dir schon mal sagte: Beim nächsten Mal wird er damit vielleicht nicht deinen Vater retten. Snape hat ihm in der ersten Stunde doch ausdrücklich gesagt, dass Voldemort ihn benutzen könnte.“
Harry horchte verwundert auf. Hatten sie das Thema etwa hinter seinem Rücken besprochen? Aber warum hatten sie dann nicht mit ihm geredet? Doch als Harry sich an den gestrigen Abend erinnerte, wusste er die Antwort. Vermutlich hatte Hermine es bewusst nicht angeschnitten, um ihn nicht wieder zu verärgern. Derweil verfinsterten sich Rons Züge.
„Oh, du bist ja so schlau, Hermine. Schon mal dran gedacht, dass Harry Okklumentik längst kann? Beim vorletzten Mal kam Snape nicht in seinen Kopf, wenn du dich erinnerst. Also braucht er nicht noch mehr Okklumentikstunden. So war’s doch, oder Harry?“
Er schwieg. Die Erinnerung an die Nacht vom Angriff auf Arthur Weasley ließ einen Stein in seinen Magen fallen. Und dabei fühlten sich seine Glieder eh schon schwer an. Er war erschöpft vom Training. Es war das erste Treffen von Dumbledores Armee gewesen, seitdem Snape ihn und Luna auf dem Gang erwischt und zur Rede gestellt hatte. Danach hatte Harry entgegen seiner ursprünglichen Pläne seine Freunde nicht mehr in den Raum der Wünsche einberufen. Doch wie er von Ron erfahren hatte, hatten sie letzte Woche ohne ihn trainiert. Heute war es noch früher am Abend als sonst. In Anbetracht der nahen Prüfungen hatte Hermine darauf bestanden, dass sie jeden Tag noch eine Stunde zum Lernen freihalten sollten. Und weil sie die Einzige war, die die verzauberten Münzen beherrschte, hatten sich Ron und Harry in ihr Schicksal gefügt. Sie hatten sich alle direkt nach dem Abendessen mit Neville vor dem Raum der Wünsche getroffen. Ginny und Luna aber waren nicht gekommen. Auf ihrem Stundenplan stand zur gleichen Zeit noch eine Stunde Astronomie.
„Einmal reicht doch nicht aus. Genauso wenig wie einmal das Lehrbuch lesen für die ZAGs ausreicht!“
stöhnte Hermine entnervt und übertönte damit Ron, der ihr widersprechen wollte.
„Aber momentan können wir eh nicht viel tun“, fuhr sie in milderer Stimme fort, „Wer weiß, was mit Snape los war. Vielleicht war er wirklich krank. Es gibt doch einige Zauberseuchen, die-“
„-Das glaubst du doch selbst nicht“, fiel Ron ihr ins Wort, „Der wollte Harry einfach nur los sein“
Hermine seufzte.
„Nein, da hast du Recht, Ron. Eigentlich glaube ich das auch nicht. Harry, wenn Snape nächsten Montag wieder absagt, versprich mir, dass du mit ihm redest, ja?“
Harry, der gerade noch müde den Kontrast zwischen dunklem Trollpelz und pinken Tütüs beäugt hatte, fuhr aus seinen Gedanken auf.
„Ja, mach ich“, sagte er zögerlich und fragte sich, wie er dieses Versprechen nur halten sollte. Snape um etwas zu bitten war sicher kein Zuckerschlecken. Zudem wusste Harry nicht einmal, womit er die Absage diesmal verdient hatte und das beschäftigte ihn schon seit gestern Abend.
„Gut, dann sehen wir uns im Gryffindorturm. Ich muss noch in die Bibliothek, das Jahrbuch und die Artikel zurückbringen“, sagte Hermine. Mit der Lederbroschüre und den Tagespropheten unter dem Arm folgte sie Neville, der vorausgegangen war, damit sie keine Gruppe von mehr als drei Schülern bildeten.
Harry schaute ihr hinterher bis ihre Schritte verklungen waren. Dann wandte er sich zu Ron um.
„Ich glaube, ich gehe nochmal nach draußen. Irgendwie ist mir nicht ganz wohl“
Ron sah ihn durchdringend an.
„Okay. Soll ich mitkommen?“
„Nein, es geht schon. Bis später“
Und noch bevor Ron sich von ihm verabschiedet hatte, warf sich Harry seinen Tarnumhang über und stahl sich in Richtung der Geheimgänge davon.
Es war eine laue, sternenklare Frühlingsnacht, die ihn begrüßte, nachdem er der Enge des Tunnels entkommen war. Eine warme Brise wehte ihm um die Nase, als er endlich tief durchatmete. Harry war froh und traurig zugleich, hier draußen mit sich allein zu sein. Froh, weil er so weder Hermine noch Ron eine Antwort schuldig war. Traurig, weil er selbst keine fand. Alle Bilder aus den letzten Wochen strömten noch einmal auf ihn ein als er den Weg zum See hinab lief. Wie sonderbar er sich fühlte, wenn er an den Ohnmachtstraum zurückdachte, in dem er seine Mutter gewesen war. Oder an den Stich in seiner Brust als ihm Drawfeather am gestrigen Abend erzählt hatte, dass die Okklumentikstunde ausfallen würde. Ein buntes Tohuwabohu tobte in Harry, gegen das die Frühlingsbrise Windstille glich. Längst ging es nicht mehr nur um Snape allein. Um dessen sonderbares Verhalten seit Wochen, das sich noch immer keiner seiner Freunde ganz erklären konnte. Harry war sich selbst fremd geworden. Warum fühlte er sich von Snapes Absage verletzt? Denn das tat er, auch wenn er sich einzureden versuchte, dass alles nur an Hermines Misstrauen lag. Aber was hatte er denn erwartet? Was hatte er sich erhofft? Konnte es sein? Konnte es sein, dass er begonnen hatte, Snape zu mögen? Snape, der ihn seit Jahren tyrannisierte? Der ungerechtfertigt schlechte Noten gab und willkürlich Punkte abzog? Nein, mögen war es nicht. Mögen war das falsche Wort. Aber was war dann das richtige? Als Harry gesehen hatte, wie Snape als kleiner Junge weinend in der Ecke gekauert hatte, da konnte er sein Gefühl Mitleid nennen. Als James Potter ihn als Schüler halbnackt in der Luft baumeln ließ, Scham. Doch das, was Harry jetzt fühlte, hatte keinen Namen. Wie sollte man auch Gefühle nennen, die einem Menschen galten, der einen hasste und schikanierte, aber einem zugleich das Leben rettete? Der einen Schritt auf einen zuging und im nächsten Augenblick wieder einen zurück? Der in einem Mitleid und Hass zugleich auslöste? Der nichts anderes war als einziges Rätsel? Ein Rätsel so groß, dass man selbst über Luna Lovegoods Worte ernsthaft nachdachte und merkwürdige Träume träumte?
So viele Fragen schwirrten durch Harrys Kopf wie die Grillen, die rundum im Gras zirpten. Und auf keine fand er eine Antwort. Er wusste nur, dass er sich von Snape irgendwas gewünscht und dieser ihn bitter enttäuscht hatte. Doch was dieses irgendwas gewesen war, das wusste Harry nicht.
Die Abendluft wurde langsam kühler und die Brise stärker, als er sich dem Seeufer näherte. Für eine ganze Weile stand Harry auf der Wiese und blickte müde hinaus aufs Wasser. Seine Augen wollten ihm fast zufallen. Doch dann mit einem Schlag riss Harry sie wieder auf. Dort unten am See hatte sich etwas bewegt. Begann er etwa schon zu träumen? Nein, jetzt sah er es ganz deutlich. Ein kleines Licht huschte durchs Schilfgras. Harry blieb wie angewurzelt stehen. Für eine Sekunde dachte er daran, sich umzudrehen und zum Schloss zurückzukehren. Doch seine Neugierde war geweckt und stärker als alle Vernunft. Langsam pirschte sich Harry unter dem Tarnumhang verborgen dem Ufer entgegen. Das ungewöhnliche Licht erwies sich beim Näherkommen als erleuchteter Zauberstab. Harrys Herzschlag nahm an Fahrt auf. Wer konnte um diese Uhrzeit noch hier draußen unterwegs sein? Und was um alles in der Welt suchte er am See? War es ein Lehrer oder ein Schüler? Harry hatte das Ufer fast erreicht, da tauchte direkt vor ihm plötzlich ein Kopf aus dem Schilf. Ein Kopf mit wirren, blonden Haaren, großen silberblauen Augen und Ohrläppchen, an denen Radieschen baumelten.
„Hi, Harry!“
Harry geriet ins Taumeln. So sehr hatte er sich erschrocken, dass er in der Dunkelheit auf der schlammigen Böschung ausrutscht war und zu Boden fiel. Schnell zog er den Tarnumhang von sich und blickte hinauf in das Gesicht, das sich über ihn gebeugt hatte.
„Luna! Was…woher…wie hast du mich kommen sehen?“
„Die Spur“, sagte Luna verträumt und deutete auf Harrys Fußabdrücke im Schlamm, „Sie sieht eigentlich ganz anders aus.“
Dann schaute sie ihm wieder mitleidsvoll ins Gesicht.
„Bist du schwer verletzt? Tut es sehr weh? Brauchst du einen Heiler? Soll ich dich auf die Krankenstation bringen oder dich mit Diptam einreiben?“
„Nein, es geht schon, Danke“, antwortete Harry und rappelte sich langsam wieder auf. Er war noch immer etwas benommen, doch mehr vor Überraschung als vom Sturz.
„Was machst du hier?“, fragte er, als er sich endlich wieder in aufrechte Position gebracht hatte.
„Ich suche Streeler“
Luna sah ihn nicht an, ihr Blick wanderte die schlammige Böschung entlang.
„Streeler?“
„Ja, ich hab vorhin einen vom Astronomieturm aus gesehen. Vielleicht gibt es hier irgendwo ein Nest“
„Was sind Streeler?“
Jetzt erst blickte Luna wieder vom Boden auf. In ihren Augen spiegelte sich tiefes Unverständnis wie wenn Hermine über Bücher sprach, die Harry und Ron nicht kannten.
„Aber weißt du das denn nicht?“
„Nein“, gestand Harry.
Luna wandte sich wieder dem Boden zu.
„Streeler sind bunte, durchsichtige Riesenschnecken. Sie sind wunderschön. Sie haben Schwimmhäute und schwarze, spitze Häuser wie Kirchtürme, musst du wissen. Ein bisschen sehen sie aus wie eine Kröte. Meist leben sie im Wasser. Aber wenn sie an Land kommen, dann ziehen sie eine Schleimspur hinter sich her, die alles vergiftet. Deswegen haben viele Angst vor ihnen. Aber wenn man der Spur nachgeht und sie findet, dann leuchten sie von innen heraus. Und manchmal ändern sie auch ihre Farbe. Der vorhin war weiß. Vielleicht ist er jetzt rosa. Rosa ist eine gute Farbe gegen Nargel“
Kröte, Schleimspur, rosa - Harry hörte nur mit halbem Ohr zu. Doch er hatte das ungute Gefühl, dass der Streeler schon im Herbst ins Schloss gekrochen war.
Während Luna ihre Nase tiefer in das Ufergras steckte, blickte Harry zum sternenklaren Himmel auf. Nachtstille umgab ihn, durchbrochen nur vom leisen Schilfrascheln und dem warmen Wind, der ihm um die Ohren blies. Seine Gedanken begannen wieder in die Ferne zu schweifen. Doch dann fiel ihm etwas ein. Er war ja mit Luna Lovegood hier! Luna, deren Lebensweisheiten seine ganze Verwirrung erst ins Rollen gebracht hatten. Konnte sie ihm vielleicht helfen? Sollte er sie -
„Denkst du, dass ich verrückt bin?“
Die Stimme fuhr in Harrys Kopf wie eine Spritze mit einem betäubenden Gift. Seine Gedanken waren plötzlich wie weggewischt. Perplex starrte er auf Luna herab, die seelenruhig noch immer nach Streelerspuren im Schlamm suchte. Mit einer solchen Frage hatte er wahrlich nicht gerechnet. Aber es war Luna. Luna, die ein untrügliches Gespür dafür hatte, alles Unangenehme offen auszusprechen. Was sollte er nur antworten? Dass sie schon ein wenig sonderbar war, änderte doch nichts daran, dass er sie mochte und nicht verletzen wollte.
„Nein, natürlich nicht“, sagte Harry ein bisschen zu erschrocken, „Hat das jemand zu dir gesagt?“
„Nein“, antwortete Luna gleichgültig und sah ihn noch immer nicht an.
„Edith Hakons hat mich früher immer Loony genannt. Aber jetzt sagt sie gar nichts mehr.“
Tief ausatmend richtete Luna sich auf. Harry starrte sie an. Irrte er sich oder konnte es wirklich sein, dass gerade eine Spur von Enttäuschung aus ihr gesprochen hatte?
„Du bist traurig, dass sie dich nicht mehr Loony nennt?!?“, fragte er zögerlich.
Luna wandte sich um und schaute ihn mit großen Augen an.
„Ja, wärst du das nicht auch?“
„Ähm, nein“, entgegnete Harry irritiert, „ich wäre froh, wenn jemand mich einfach nur in Ruhe lässt anstatt sowas Gemeines über mich zu denken.“
Wieder spiegelte sich in Lunas Augen Unverständnis.
„Aber wenn Edith gar nichts mehr zu dir sagt, dann weißt du doch gar nicht, was sie denkt und du kannst ihr auch nicht sagen, dass es falsch ist, oder?“
Sie hatte es ganz langsam ausgesprochen und nun hingen ihre Worte unsichtbar zwischen ihnen wie die schwüle Luft, die vom See aufstieg. Harry wusste nichts zu erwidern. Ihm war, als ob Luna gerade eine Tür ganz tief in ihm aufgeschlossen hatte, für die er selbst keinen Schlüssel besaß. Ja von deren Existenz er bis zu diesem Augenklick nicht einmal wusste. Und doch war der Raum dahinter schwarz, ahnte Harry nicht, wohin die Türe führte. Alles was er sah, war, dass Luna Recht hatte, so seltsam das auch klang.
„Magst du vielleicht ein wenig zu mir setzen?“, fragte Luna, nachdem Harry sie wohl eine halbe Minute lang angeschwiegen hatte. Sie deutete mit dem leuchtenden Zauberstab die Böschung hinauf, so dass der Lichtkegel auf einen Stoffbeutel fiel, der dort im Gras lag.
„Vater hat mir heute eine ganze Kiste mit Spulenwurzelkeksen geschickt“.
„Gerne“, antwortete Harry noch in Gedanken versunken und folgte ihr.
Bald saßen sie im weichen Gras und schauten auf den See hinaus, in dem das Mondlicht sich silbern spiegelte. Der warme Wind strich durch die Halme und absolute Stille erfüllte die Schlossgründe.
„Ich mag die Nacht“, sagte Luna, während Harry den ersten Spulenwurzelkeks seines Lebens langsam zum Mund führte, „Man muss nur aufpassen, sich keinen Schlickschlupf einzufangen“.
Harry hörte dösig zu, biss abwesend in den Keks und – ein Schütteln ging ihm durch den ganzen Körper. Sein Mund zog sich zusammen. Er kniff die Augen zu. Der Geschmack auf seiner Zunge war widerlich. Sofort spuckte Harry den Bissen aus. Pfui Teufel! Dieses Zeug war ungenießbar, schlimmer als Fred und Georges Erfindungen.
„Oh“, sagte Luna und schaute ihn erschrocken an, „Hat er dir nicht geschmeckt?“
Harry wischte sich den Mund ab. „Naja-“
„- Du musst ihn nochmal probieren. Der erste Bissen ist immer bitter. Aber wenn man ein zweites Mal hineinbeißt und gut durchkaut, dann schmeckt er ganz anders“.
Harry seufzte. Eigentlich hatte er nicht die geringste Lust, von diesem abscheulichen Keks auch nur noch einen Krümel in den Mund zu bekommen. Doch er wollte Luna nicht enttäuschen. Also schloss er die Augen und nahm einen zweiten Bissen. Erstaunlicherweise schmeckte dieses Stück tatsächlich süß und als Harry ausgiebig kaute, erinnerte ihn der Geschmack sogar ein bisschen an Siruptorte. Irgendein Zauber musste auf diesem Gebäck liegen.
Gerade hatte Harry den letzten Bissen hinuntergeschluckt, als ihm wieder einfiel, was er Luna eigentlich fragen wollte. Verstohlen warf er einen Blick zu ihr hinüber. Sie hatte eine Ausgabe des Klitterers vor sich zum Schweben gebracht und wiegte den Kopf leicht hin und her, während sie las.
„Luna“, sprach Harry sie leise an, „Erinnerst du dich eigentlich noch an den Mittwoch nach dem letzten Treffen von Dumbledores Armee, als ich dabei war?“
Sie nickte wortlos.
„Weißt du noch, was du da gesagt hast?“
„Ja, ich meinte, dass du zu Madam Sprout gehen solltest, weil sie ganz tolle Pflanzen hat. Aber du wolltest lieber in Verwandlung.“
„Nein, das meine ich nicht. Ich meine, was du über Snape gesagt hast. Das mit dem Warten und dem Eis.“
„Snape? Eis?“, fragte Luna verwundert, als könnte sie sich nicht erinnern, „Habt ihr etwa Schneefluchkäfer in die Zaubertränke getan? Dafür wird euch Snape aber lange nachsitzen lassen. Schneefluchkäfer sind sehr hartnäckig. Vater hat darüber einen Bericht geschrieben. Man kriegt sie nur mit sauer eingelegter Drachenmilz wieder los. Also ich hätte das nicht getan.“
„Nein, ich meine“, er stockte, „Ach, ist auch egal“.
Betrübt blickte Harry in die Ferne. Es hatte keinen Sinn. Luna erinnerte sich scheinbar nicht daran, was sie gesagt hatte und er würde nur verrückte Geschichten zu hören bekommen. Verlassener hatte sich Harry nie gefühlt. Wenn nicht einmal sie ihm etwas zu all dem sagen konnte, wer dann? Jetzt war er ganz alleine mit seiner Verwirrung ohne Aussicht auf Rat. Gerade stand Harry kurz davor, in Trübsal zu versinken, als ein nahes Rascheln irgendwo im Gebüsch ihn aufschreckte. Zuerst glaubte Harry irgendein Nachttier jage dort nach seinem Abendessen. Doch dann plötzlich konnte er Schritte hören. Schritte, die sich auf einem der Kieswege rasch näherten. Sein Puls schnellte in die Höhe.
Hellwach griff er den Tarnumhang, warf ihn über sich und die verdutzte Luna. Sie öffnete die Lippen. „Schscht“, rief Harry, legte ihr sofort den Finger auf den Mund. Ein paar Sekunden kauerten sie aneinandergedrückt auf dem Boden. Warteten. Da - ein Zauberstablicht streifte die Blätter des Baumes über ihnen. Harry blickte auf. Ein dunkler, sich bauschender Umhang schwebte den Weg heran. Darüber ein blasses, markantes Gesicht. Schwarze Augen schweiften kritisch von nach links und rechts. Eine langfingrige Hand krampfte sich wie von Schmerzen gerührt in den linken Robenarm. Die Luft schien rein, der Mann hastete weiter. Immer weiter in Richtung der Tore mit den Eberstatuen davon. Atemlos beobachte Harry, wie er an ihnen vorüber rauschte. Sie nicht bemerkte. Dann warf er Luna einen ratlosen Blick zu. Das eben war Severus Snape gewesen.
„Snape? In den Schlossgründen?“
Im Gemeinschaftsraum war es so ruhig, dass selbst Hermines gedämpfte Worte fast laut klangen. Die Feder in ihrer Hand sank zurück ins Tintenglas. An den verwunderten Gesichtern von Neville und Ginny vorbei schaute sie zu Harry auf. Skepsis spiegelte sich in ihren Augen.
„Bist du dir sicher?“
„Ja, wenn ich es doch sage“, keuchte Harry. Er war die Treppen zum Gryffindorturm hinaufgerannt, so dass er noch immer außer Puste war. Endlich gab es einen Anhaltspunkt. Endlich eine Spur, die Licht ins Dunkel bringen konnte.
„Es war Snape. Kein Zweifel. Er ist direkt an uns vorbeigerannt und weiter zu den Toren. Ich konnte sein Gesicht sehen. Er hat sich an den linken Arm gegriffen als ob er Schmerzen hätte.“
„Das Dunkle Mal“, flüsterte Ginny, während Hermine augenblicklich aufsprang um sich die Nase an den nachtschwarzen Turmfenstern plattzudrücken.
„Ja. Wenn wir ihm nur hätten folgen können. Luna und ich sind ihm bis zu den Toren nachgelaufen. Aber gerade als wir dort ankamen, ist er draußen disappariert.“
„Aber warum?“, fragte Neville.
Es war Ron, der ihm kopfschüttelnd antwortete: „Na, weil ER ihn gerufen hat, warum sonst?“
„Nein, ich meine warum hat er ihn gerufen?“
„Keine Ahnung“, entgegnete Harry.
„Und wir werden es heute auch nicht mehr herausfinden. Dort draußen ist keine Spur mehr von Snape zu sehen.“
Mit einem Seufzen trat Hermine vom Fenster fort und kehrte langsam zum Tisch zurück. Der Schein der Öllampe zwischen den Büchern tauchte die fragenden Gesichter ringsumher in warmes Licht. Alle Augen waren auf Hermine gerichtet und für einen Augenblick rührte sich keiner und sprach niemand ein Wort. Dann nahm Hermine wieder Platz, schenkte sich gleichgültig ein Glas Kürbissaft ein und griff nach ihrer Feder. Neville war der Erste, der seinen Blick von ihr abwandte und ihn stattdessen auf eines der Bücher richtete. Ginny drehte sich um zum Kamin, von wo aus Dean Thomas ihr auffordernd zunickte und begann ihre Sachen zusammenzuraffen. Ron ordnete seine Pergamentrollen und zog die Lampe näher an sich heran.
Vor dem Tisch stand Harry zur Salzsäule erstarrt. Ungläubig beobachtete er, wie seine Neuigkeiten, seine wahnsinnigen Neuigkeiten, versickerten als wären sie Wassertropfen im Sand. Ja, er selbst fühlte sich wie übergossen. Gewiss, als er gerade in den Gemeinschaftsraum gestürmt war, waren alle in stille Arbeiten vertieft gewesen. Sie hatten nicht erlebt, was er erlebt hatte. Sie hatten nicht mit eigenen Augen gesehen, wie Snape zu den Toren gelaufen war. Und doch hatte Harry geglaubt, dass seine Nachricht einschlagen würde wie ein Bombarda. Dass seine Freunde sofort aufspringen und ihm helfen würden, herauszufinden, warum Snape das Schloss so eilig verlassen hatte. Aber nichts dergleichen war geschehen. Wie konnte es sein, dass sie so wenig Notiz davon nahmen?
„Habt ihr mir überhaupt zugehört?“, rief Harry ohne sich die Mühe zu machen, seinen Ärger zu verstecken.
Hermine blickte auf, während Ginny an ihr vorbeischlich.
„Ja, Harry, wir sind nicht taub. Snapes Mal hat gebrannt. Er hat sich auf dem Weg zu Voldemort gemacht und hätte dich dabei fast erwischt, weil du noch einen Abendspaziergang mit Luna gemacht hast.“
„Und weiter?“, rief Harry und stemmte seine Hände auf den Tisch, „Begreift ihr denn nicht? Voldemort will irgendwas. Und er hat Snape gerade zu sich gerufen. Vielleicht ist das Antwort auf alle Fragen. Vielleicht wüssten wir, warum er so komisch ist, wenn wir rauskriegen würden, was er bei Voldemort macht. Aber ihr sitzt hier tatenlos rum, als wäre nichts geschehen!“
Hermine atmete heftig aus und legte die Feder ein zweites Mal beiseite.
„Harry“, sagte sie energisch, „Ich kann dir sagen, was Snape tut: Er spioniert für Dumbledore. Und Voldemort wird seine Todesser wohl öfter einberufen, auch wenn wir es bisher nicht mitbekommen haben. Du nimmst das ein wenig zu wichtig.“
„Sag nicht, dass es unwichtig ist, wenn Voldemort irgendwas plant“
„Natürlich ist es das nicht. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, herauszufinden-“
„- Nicht unsere Aufgabe?!?“, Harrys Stimme fegte über den Tisch, „War es unsere Aufgabe, den Stein der Weisen zu retten? War es unsere Aufgabe, Voldemorts Tagebuchs zu zerstören oder Wurmschwanz zu finden? Dumbledore ist nicht hier. Kein Mensch weiß, wo er steckt. Und unten wartet Luna.“
„Dann muss jemand runtergehen und ihr sagen, dass wir nicht kommen werden“, erklärte Hermine nüchtern.
„Das kann ich machen“, meldete sich Neville und stand sofort auf, als wolle er vor einem aufziehenden Sturm fliehen.
„Schön“, schnaubte Harry und ließ sich auf den frei gewordenen Stuhl fallen. Seine Wut verrauchte und wich einem Gefühl der Hilfslosigkeit. Hermine glich einem schweren Stein, der sich nicht ins Rollen bringen lassen wollte. Und dabei hatte er gehofft, dass wenigstens sie verstehen würde, warum ihm diese Sache so wichtig war. Warum diese ungeahnte Begegnung einem rettenden Grashalm in einem Meer aus Unverständnis glich.
„Harry“, sagte sie sanft und schaute ihm direkt ins Gesicht, während er ihren Blick mied, „ich verstehe ja, dass dich das beschäftigt und dass du dich fragst, was mit Snape los ist. Aber wir können nichts tun.“
„Du hast selbst gesagt, dass ich zu ihm gehen soll. Und jetzt willst du nicht, dass ich versuche, herauszufinden, was er macht.“
„Ja, weil es wichtig ist, dass du Okklumentik lernst. Aber das hier, Harry, ist eine ganz andere Sache.“
Wieder stellte sich Schweigen am Tisch ein. Jetzt nur noch zwischen ihnen dreien. Harry wollte es nicht, doch er musste sich eingestehen, dass Hermine Recht hatte. Sicherlich war das, was er heute beobachtet hatte, für Snape längst Routine. Und was sollte er von hier aus schon tun können? Snape würde wohl kaum einen Zettel mit „Voldemort will, dass ich seine Schlange ausführe. Bin gleich wieder da“ in seinem Büro hinterlegt haben. Und wann er zurückkehren würde – wer wusste das schon? Sie würden sich vielleicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen, um auf ihn zu warten. Und doch war Harry mulmig zumute. Die letzten Male war Rons Vater fast getötet worden und hatte Voldemort einen Großausbruch aus Askaban bewirkt. Jetzt wieder mit gebundenen Händen hier sitzen zu müssen, wurmte Harry. Und irgendwo tief in sich, fragte er sich auch, was Snape wohl gerade erlebte. Harry hatte Einblick in etwas gewonnen, von dem er wusste, doch über das er nie wirklich nachgedacht hatte.
„Was glaubt ihr eigentlich, was das für eine Waffe ist, hinter der Du-weißt-schon-wer her ist?“, fragte auf einmal Ron, der bisher kein einziges Wort gesprochen hatte.
Hermine blickte auf und schaute ihm grübelnd ins Gesicht. Harry beobachtete sie genau.
„Eine gute Frage“, sagte sie schließlich, „Ich hab auch schon drüber nachgedacht. Aber ich habe keine Idee.“
„Aber es muss etwas sehr Gefährliches sein, wenn sie es im Zaubereiministerium verstecken, oder? Und wenn der Orden des Phönix sie rund um die Uhr überwacht.“
„Ja“, flüsterte Hermine seltsam in sich gekehrt, als ob sie nur die Hälfte von dem, was sie dachte, ausgesprochen hätte.
„Aber auch das werden wir nicht mehr heute Abend erfahren.“
Harry musste unwillkürlich gähnen. Jetzt, wo seine Aufregung abgekühlt war, spürte er erst wieder, wie erschöpft er eigentlich war. Für einen Moment hatte er noch überlegt, ebenfalls seine Schulsachen zu holen. Doch seine Augen wollten ihm zufallen. Zum Glück kam Neville gerade wieder die Treppe hinauf und verabschiedete sich für die Nacht. Harry schloss sich an. Kaum hatte sein Kopf das Kissen berührt, war er auch schon eingeschlafen.
In seinen Träumen wandelte Harry mit Luna nachts über eine Wiese. Der Duft von Lilien stach ihm in die Nase und vermischte sich mit einem süßen Verwesungsgeruch, der von einem riesigen Kessel herüberwehte, der mitten auf dem See brodelte. Im Gras waren Spuren zu sehen. „Vorsicht, die sind giftig“, rief Luna. Und als Harry aufblickte, kroch eine riesige, haushohe, leuchtende Schnecke mit dem Gesicht von Umbridge auf ihn zu. Ron und Hermine saßen in Satteln auf ihrem Haus wie auf dem Rücken eines Thestrals. Und an ihrem Geschirr zog die Schnecke einen Block aus Eis hinter sich her. Harry starrte ihn wie hypnotisiert an, während Luna ihm einen Spulenwurzelkeks in die Hand drückte. Er biss hinein, spie die Krümel auf den Boden und aß ein zweites Stück. Ein leichtes Ziehen ging durch seine Schläfen. Da begann das Eis zu schmelzen und Snape tauchte aus ihm auf. Er sah Harry an, direkt in die Augen und wich zurück. Als ihre Blicke sich trafen, durchzuckte wieder ein Schmerz Harrys Stirn. Diesmal heftiger und stechend.
Und dann plötzlich verwandelte sich das Bild…
Noch immer sah Harry Snapes schwarze Augen vor sich. Doch die Umgebung war eine völlig andere. Harry befand sich nun in einem düsteren, alten Haus mit einem gebrochenen Spiegel an der Wand. Neben ihm stand ein leichenblasser, älterer Mannes mit ausdruckslosem Gesicht und leblosen Augen. Irgendwo her kannte Harry ihn. Mit einem kurzen Zucken seines Zauberstabs folgte der Mann ihm gleich einer willenlosen Marionette und trat dicht an Snape heran. Harry spürte Ungeduld und Ärger in sich wachsen, als er in dessen kalte, schwarze Augen sah. Irgendwo am Ende des großen Raumes fiel eine Tür ins Schloss und seine Stirn pochte vor Schmerzen.
„Herr, Ihr wolltet mich noch unter vier Augen sprechen?“, fragte Snape.
„Ja, Severus“, erklang eine hohe, klare Stimme. Erst im zweiten Moment begriff Harry, dass er selbst es war, der sprach, „Es gibt da in letzter Zeit ein paar Dinge, über die ich mich wundere. Ein paar Ungereimtheiten.“
„Herr?“
Snape blickte ihn mit ausdrucksloser Miene an, während der gesprungene Spiegel sein Profil reflektierte.
„Ich frage mich, warum der Geist des Jungen sich mir noch immer verschließt. Wenn ich mich recht erinnere, hattest du nicht die Aufgabe, ihn für mich zu öffnen?“
Noch immer zeigte Snapes Gesicht keine Regung. Doch er atmete etwas schneller.
„Ich bitte um Vergebung für diese Verzögerung, Herr. Wie Barthy Crouch Euch vor einem Jahr berichtete, ist Potter sehr zäh. Er widersetzte sich dem Imperiusfluch und er erweist sich auch der Legilimentik gegenüber als hartnäckig. Es ist mir leider noch nicht gelungen, seine Abwehr gänzlich zu brechen.“
„Seine Abwehr, so so. Du willst mir also sagen, Severus, dass du unfähig bist, dass ich besser einen anderen meiner Todesser damit beauftragen sollte statt deiner?“
„Nein, Herr. Alles, worum ich Euch bitte, ist noch etwas Geduld. Wie Ihr wisst, gab mir Dumbledore den ursprünglichen Befehl. Er würde unsere Tarnung gefährden, ihn misstrauisch stimmen, wenn ich den Jungen zu hart anginge. Gift muss man dosiert einsetzen.“
„Dumbledore, natürlich. Wie konnte ich ihn vergessen. Wie konnte ich vergessen, dass meine Auroren unter dem Imperiusfluch mich belogen haben, als sie mir schon vor Wochen berichteten, dass Dumbledore spurlos verschwunden sei. Erstaunlich nur, dass dir das entfallen ist, Severus, wo du doch tagtäglich an seiner Seite warst.“
„Dumbledore mag ins Exil geflohen sein, doch unterhält er noch immer regen Kontakt zu den Mitgliedern des Phönixordens. Minerva McGonagall sowie Rubeus Hagrid sind noch immer in Hogwarts. Dumbledore ist über alles informiert. Zudem hegt Potter eine große Antipathie gegen mich, was es erschwert, an ihn heranzukommen.“
„Ach, tatsächlich?“ Harry spürte flammende Wut wie eine stechende Flamme in sich lodern. Sein ganzer Kopf dröhnte inzwischen vor Schmerzen, „Weißt du, was ich glaube, Severus? Ich glaube, du bist ein Feigling. Ein Feigling, der sich nicht traut, etwas anzurühren, das unter Dumbledores Schutz steht. Der vielleicht sogar Mitleid mit dem Jungen hat.
„Nein, so ist es nicht!“, protestierte Snape.
„Schweig! Ich will hoffen, dass du die Wahrheit sprichst. Sonst wirst du den Preis deiner Untreue zahlen müssen. Für erste sollte eine kleine Lehrstunde ausreichen, um dir klar zu machen, wem du deine Loyalität schuldig bist.“
Harry hatte noch nicht begriffen, was eigentlich vor sich ging, da zuckte plötzlich ein Zauberstab auf. Er hielt ihn fest in seiner Hand und ehe er sich versah…
„CRUCIO!“
Snapes Augen quollen förmlich über. Seine Hände verkrampften. Er schrie.
„NEEEIN“, rief Harry, „NEEIN“ und riss die Augen auf.
Sein Herz trommelte, seine Stirn pochte vor Schmerz, Schweiß rann seinen Rücken herab. Dann blendete ihn ein Zauberstablicht.
„Harry, ist alles in Ordnung?“
Er blickte auf. Ron stand im Schlafanzug über ihm gebeugt und blickte sorgenvoll zu ihm herab. Erst jetzt erkannte Harry, dass er im Bett lag, dass er geträumt hatte. Atemlos rieb er seine stechende Blitznarbe.
„Snape“, keuchte er, „Voldemort. Er hat ihn gefoltert mit dem Cruciatus“
Ron starrte ihn für einen Augenblick an.
„Du meinst, das war kein Traum?“
„Nein“, keuchte Harry und drückte seine Hände fester auf die Stirn.
„Verflucht!“, rief Ron, „Warte ich hol Hermine. Sie weiß sicher, was zu tun ist. Nein, das geht ja gar nicht, die Mädchenschlafsäle sind geschützt. Merlin, Harry, ich fürchte, wir müssen runter zu - zu McGonagall! Ja, die kann uns helfen. Komm, ich stütz dich.“
Ron wollte Harry gerade aus dem Bett helfen, als plötzlich ein leises Miauen durch den Jungenschlafsaal ging. Schnell schwenkte er den Zauberstab umher und traf mit dem Lichtkegel eine orangerote Katze, die durch die angelehnte Türe hereinschlich.
„Krummbein! Ein Glück! Schnell rüber in den Mädchenschlafsaal, weck Hermine, bring sie her.“
Der Kater stahl sich aus dem Zimmer.
„Geht’s dir wieder besser, Harry?“, fragte Ron
Harry nickte stumm. Doch es war eine Lüge. Die Bilder aus dem alten Haus tanzen noch immer in einem Kopf. Snapes schmerzversetze Fratze stand ihm wie eingebrannt vor Augen. Und der Grund, warum Voldemort ihm einen Folterfluch auf den Hals gejagt hatte, trieb sich wie ein Stachel in Harrys Bewusstsein. Er war gefoltert worden, weil er sich geweigert hatte, seinen Geist zu brechen. Snape war gefoltert worden - wegen ihm.
Der Schrecken saß Harry noch immer im Nacken, als Hermine im Türrahmen erschien. Sie machte auf dem Absatz kehrt, nachdem Ron ihr zugerufen hatte, was geschehen war, nur um wenige Sekunden später wieder aufzutauchen. Wie durch einen dunstigen Schleier sah Harry sie auf sich zukommen und neben ihm auf der Matratze Platz nehmen. Ron, der wie angewurzelt davor stand, sprach kein Wort. Er und Hermine tauschten nur stumme, vielsagende Blicke, als ob sie ein Geheimnis teilten, in das Harry nicht eingeweiht war. Doch es war ihm gleichgültig. Viel zu sehr war er noch mit dem beschäftigt, was soeben irgendwo in einem dunklen, alten Haus geschehen war. Aus ihrer Nachthemdtasche zog Hermine eine kleine Phiole mit einer eisblauen Flüssigkeit, die sie ihm ohne Zögern in die Hand drückte.
„Was ist das?“, fragte Harry, als sich seine Finger um den unerwartet kalten Gegenstand schlossen.
„Okkluserum“, erklärte sie, „Trink es besser bevor es nochmal passiert. Hast du Schmerzen?“
„Nein“, flüsterte Harry und strich sich die Haare über seine schweißnasse Blitznarbe.
Es war die Wahrheit. Er hatte keine Schmerzen. Sein beschleunigter Puls und die Bilder in seinem Kopf konnten wohl kaum als solche gelten. Und doch fühlte Harry sich wie von einem Fluch getroffen und war froh, dass seine Freunde bei ihm waren.
“Danke“, sagte er leise und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Fläschchen. Der Zaubertrank war so kalt, wie er sich anfühlte. Ein eisiger Strom rann Harrys Kehle herab, während Schnarchen und Deckenrascheln an seinen Ohren vorüberzogen. Neville, Seamus und Dean lagen in ahnungslosem Schlaf. Lautlos sprang, als wollte er sie nicht wecken, Krummbein aufs Bett und drückte sich eng an Harrys schweißdurchnässtes Nachthemd. Harry musste sich vor Kälte schütteln. Nur langsam kehrten seine Gedanken nach Hogwarts zurück, gelang es ihm die Eindrücke seiner Vision abzustreifen. Hermine hielt seine Hand und beobachtete ihn mit dem kritischen Blick eines Heilers. Dann wandte sie sich plötzlich von ihm ab und sprang vom Bett auf.
„Siehst du, Ron, eine erfolgreiche Stunde reicht eben doch nicht aus! Voldemort hätte wer weiß was mit ihm anstellen können!“
„Ich hab‘s ja begriffen“, entgegnete Ron kleinlaut.
„Wir hatten großes Glück, verdammt großes Glück. Ich hab das Okkluserum erst fertig bekommen als wir den Inferi Imunum gebraut haben.“
Harry blickte im fahlen Licht der Zauberstäbe auf und sah seine beiden besten Freunde wieder kurz vor einem Streit stehen.
„Hört auf! Das ist doch alles nur-“
Snapes Schuld, wollte er sagen. Doch die Worte blieben ihm im Halse stecken, als er die hervorquellenden, schwarzen Augen wieder vor sich sah. Was sollte er nur fühlen? Was denken? Ihm war übel von dem, was er beobachtet hatte und vor allem, weswegen es geschehen war.
„Alles nur…?“, wiederholte Hermine seine Worte.
„Nur ein böser Traum“
Sie starrte ihn an. Er wich ihrem Blick aus als schämte er sich für diese Notlüge.
„Harry, du weißt genau, dass das nicht so war. Du hast wieder eine Vision gehabt, weil Snape die Stunde abgesagt hat.“
„Nein, verdammt“, rief Harry, „Ich meine ja. Ja, es war kein Traum. Mensch, Hermine, ich weiß doch auch nicht.“
Er stütze den Kopf in die Hände und sah mit verzweifelten Blicken zu ihr auf. Begriff denn keiner von beiden, welchen Kampf er gerade mit sich ausfocht?
Für eine Sekunde stand Hermine reglos vor ihm, sah ihn mitleidsvoll an. Dann beugte sie sich zu ihm herab und nahm mit gefalteten Händen wieder neben ihm Platz.
„Tut mir leid, Harry. Wir sind wohl alle etwas durch den Wind. Magst du uns nicht erzählen, was du gesehen hast?“
„Voldemort hat Snape gefoltert“, antwortete Harry so nüchtern wie er konnte. Dann sprang er einem inneren Drang folgend auf und rauschte vor dem Bett hin und her, „Er hat ihn gefoltert, weil er nicht in meinen Kopf reinkommt. Weil ich Okklumentik lerne. Verstehst du Hermine, er hat ihn gefoltert wegen mir!“
Schlagartig drehte Harry sich um und schaute ihr mitten ins Gesicht. Ihre Züge waren wie versteinert. Sie hatte merklich an Farbe verloren und auch Ron sah ein ganzes Stück blasser aus. Die Nachtschwüle im Zimmer glich der warmen, gepressten Luft kurz vor einem Gewitter. Seamus warf sich verdächtig oft in seinem Bett herum.
„Harry“, flüsterte Hermine betroffen, „Das… das hab ich nicht gewusst“
„Da war dieser Mann, der eigentlich längst tot ist“, fuhr Harry fort, „Der Muggle vom letzten Sommer. Und Snape sagte Voldemort, dass er meinen Geist bisher nicht brechen konnte. Er meinte, Voldemort solle sich noch etwas gedulden und dann hat der ihm einen Cruciatus auf den Hals gehetzt. Und ihr wolltet nicht, dass wir herausfinden, was Snape macht!“
„Ja, Mann, weil wir nichts tun können“, rief Ron, „Oder hast du auch gesehen, wo Du-weißt-schon-wer ist, damit wir hinapparieren können, was wir nicht gelernt haben oder durchs Flohnetzwerk hinreisen, damit Umbridge uns erwischt?“
Harry riss den Kopf herum. Für einen Augenblick sah er Ron finster an, bis Hermines Stimme sich in seine Gedanken bohrte.
„Er hat Recht, Harry, uns sind die Hände gebunden.“
„Was ist mit Hagrid, mit McGonagall? Sie sind auch im Orden des Phönix, oder? Wir hätten sie warnen können. Wer weiß, was Voldemort noch mit ihm macht! Cedric hat er umgebracht, nur weil der im Weg stand.“
Ron setzte eine schuldbewusste Miene auf.
„Daran haben wir gar nicht gedacht“, gestand er leise.
„Wir können noch immer zu ihr“, mischte Hermine sich ein, „Wir sollten es sogar. Jemand muss Dumbledore berichten, dass du wieder Träume hattest. Kommt, Jungs, ich fürchte, wenn wir noch lange hier rumstehen, wird Seamus bald aufwachen.“
Sie ließ einen kritischen Blick hinüber zu dem Bett schweifen, von dem immer lauteres Kissenrascheln zu hören war und schob Ron und Harry hastig auf den Flur.
Harry hatte den Gemeinschaftsraum und das Treppenhaus schon lange nicht mehr so ruhig erlebt. Es war tiefste Nacht und eine fast geisterhafte Stille herrschte überall. Vermutlich waren die Geister im Schloss auch tatsächlich die Einzigen, die noch durch die Flure schwebten. Schon auf den letzten Treppenstufen hatte Harry das mulmige Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Doch er schob es auf seinen Alptraum, der leider keiner gewesen war. Sie hatten Professor McGonaglls Türe bald erreicht und versuchten, anzuklopfen, ohne das ganze Schloss zu wecken. Doch nichts rührte sich. Nicht beim ersten Mal, nicht beim zweiten und auch nicht beim dritten.
„Merkwürdig“, sprach Hermine, als sie ihre Hand zurückzog, „Professor McGonagall ist doch nicht taub und laut genug war das jetzt wirklich.“
Doch noch während sie verwundert die Tür beäugte, erschien eine durchsichtige Halskrause im Holz, gefolgt vom müden Gesicht des Fast Kopflosen Nick.
„Ach, ihr seid es“
„Ja, wir müssen dringend zu Professor McGonagall“, erklärte Hermine, „Es ist wirklich wichtig“
„Oh, ich fürchte, das wird nicht gehen. Sie ist nämlich nicht hier. Ist außer Haus, in anderer Gestalt, wenn ihr versteht. Alles streng geheim.“
Und ohne sie nur noch eines Blickes zu würdigen, schwebte er den Gryffindorturm hinauf.
„Streng geheim?!?“, rief Ron ihm hinterher, „Haben denn alle Lehrer neuerdings nichts Besseres zu tun als nachts heimlich aus dem Schloss zu laufen?“
Doch Harry senkte den Blick. Er musste wieder an Snape denken.
„Hoffentlich geht es ihr besser als ihm“, sagte er leise.
„Ja“, antwortete Hermine flüsternd und verfiel für ein paar Sekunden in Schweigen.
„Harry“, sprach sie schließlich auf ihn ein, als wollte sie sich selbst beruhigen „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Was mit Snape passiert ist, war nicht… nicht schön. Aber Voldemort wird ihn nicht umbringen. Er braucht ihn doch. Und vielleicht war das alles ja auch der Grund, warum er den Okklumentikunterricht abgesagt hat. Weil es gerade zu gefährlich wäre für dich - und für ihn.“
„Vielleicht“, antwortete Harry und schaute ein letztes Mal auf Professor McGonagalls verschlossene Türe. Dann wandte er sich um und ging mit Ron und Hermine langsam die Treppe des Gryffindorturms wieder hinauf. Sie hielten ihre Blicke gesenkt, den ganzen langen Weg bis zu den Schlafsälen. Keiner von ihnen sprach ein Wort.
Noch am Frühstückstisch gaben sich Harry, Ron und Hermine ungewohnt still. Es war, als ob die letzte Nacht einen unsichtbaren Schleier des Schweigens zwischen ihnen gesponnen hätte. Auch Ginny ließ nichts von sich hören. Sie hatte sich bald Fred und George zugewandt und Neville war ohnehin nicht der Gesprächigste. Über die silbernen Kelche und Teller hinweg warf Harry immer wieder einen verstohlenen Blick hinauf zum Lehrerpult, wo Dumbledores Thronstuhl schon seit Wochen leer stand. Aber es war nicht er, nach dem Harry heute Ausschau hielt. Er suchte nach der großen Hakennase und dem schwarzen, fettigen Haar des Tränkemeisters. So sehr er Snape auch hasste - nach dem, was er in der Nacht geschehen war, konnte Harry nicht anders als sich Sorgen zu machen. Snape war doch immer noch ein Mitglied des Phönixordens bei allem Hohn und aller Gemeinheiten.
Doch nirgendwo war eine Spur von ihm zu sehen. Nicht an seinem Platz, nicht bei den Slytherins, nicht im Gespräch mit den anderen Lehrern. Selbst als das Essen längst aufgetragen worden war, fehlte sein markantes, schmales Gesicht noch immer genauso wie Dumbledores Halbmondbrille. Für einen Moment befürchtete Harry das Schlimmste. Befürchtete, dass Voldemort doch noch weiter gegangen sein könnte und Snape nie wieder an dieser Tafel erscheinen würde. Doch im nächsten Augenblick entdeckte er an der Eingangstüre einen dunklen Umhang, der sich schnell näherte und atmete erleichtert aus.
Es hielt nur für Sekunden.
Snape zog sogleich an ihnen vorüber und Harry erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht. Ein leises Grauen trieb ihm die Gänsehaut auf den Rücken, als er in die schwarzen Augen blickte. Die gleichen Augen, die ihn vor wenigen Stunden erst aus einer schmerzverzerrten Grimasse angestarrt hatten. Und sie starrten Harry noch immer an, zunächst mit einem Glanz von Verwunderung, dann kalt und finster. Wortlos wandte Snape sich ab und zog zum Lehrertisch weiter. Harry senkte beschämt den Blick, ehe er ihm verstohlen hinterher schaute. Tiefe Ringen hatten unter Snapes geröteten Augen gehangen, sein Gesicht war noch blasser als sonst gewesen. Und wenn man ganz genau hinsah, hatte sein Gang etwas Zittriges, zumindest für den, der darauf achtete. Doch am Lehrertisch nahm niemand groß von Notiz von Snape. Alle gingen dem mürrischen Tränkemeister wie jedem Morgen aus dem Weg. Nur Professor McGonagall schenkte ihm einen flüchtigen Blick.
Und Harry - fühlte sich schuldig. Noch schuldiger als damals, als er ins Denkarium geschaut hatte. Denn damals war er nur Zeuge von etwas gewesen, das lange zurück lag. Doch jetzt? Jetzt war er der Grund und niemand außer ihm nahm wahr, was Snape durchgemacht hatte, als alle anderen schliefen. Wie viele solcher Nächte hatte er wohl schon erlebt? Wie oft war er wohl morgens schon so in die Große Halle gekommen, ohne dass sich jemand über ihn Gedanken machte? Er, Ron, Hermine - sie hatten es ja auch niemals getan. Bedrückt wandte Harry seinen Blick wieder seinen Freunden zu. Ron schaufelte sich gerade genüsslich Eier und Speck auf den Teller. Doch Harrys Mund war trocken und seine Kehle wie zugeschnürt. Auf keinen Bissen verspürte er mehr Appetit. Er legte sein Messer beiseite und schob seinen Teller weit von sich weg.
Der Mittwoch verstrich, ohne dass sich viel an Harrys Stimmung änderte. Er lief durch Hogwarts wie durch einen zähen Novembernebel und Ron und Hermine waren ebenso unscheinbare Schatten wie er selbst. Schatten, die wie mechanisch die Feder über die Pergamente gleiten ließen, ohne den Blick zu heben, ohne ein Wort zu reden. Fast hätte man meinen können, die Dementoren aus Askaban hätten wieder um Hogwarts Stellung bezogen, so niedergeschlagen wirkten sie. Oder kam es ihm nur so vor?
„Harry?“, sprach Hermine ihn leise an, als sie am Abend vor dem Kamin im Gemeinschaftsraum saßen, „Das mit Snape, das geht dir noch immer nahe, oder?“
Harry blickte von Zaubertränke und Zauberbräue auf und fragte sich, was er antworten sollte. Er kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, sie anzulügen und nickte knapp.
„Dir etwa nicht?“
„Doch, natürlich, nur… ich glaube, dass es weder Snape noch uns etwas nützt, wenn wir hier sitzen und uns anschweigen.“
Harry legte sein Buch beiseite, während Hermine aufstand und ihre Sachen packte.
„Was meinst du damit?“, fragte er. Doch er glaubte, ihre Antwort bereits zu kennen.
„Du musst mit ihm reden, Harry. Am besten gleich morgen nach der Stunde. Du musst ihm sagen, was du gesehen hast.“
„Hermine-“
„-Nein, Harry, versuch dich gar nicht erst rauszureden. Siehst du nicht, dass dieses Schweigen alles nur noch schlimmer macht? So geht es nicht weiter. Wenn ich jetzt hochgehe, will ich, dass du dir Gedanken darüber machst, was du Snape morgen sagen wirst. Und keine Ausreden. Gute Nacht.“
„Hermine!“, rief Harry noch, doch zu spät. Sie hatte die Treppe zum Mädchenschlafsaal bereits betreten und drehte sich nicht noch einmal zu ihm um.
Gedankenschwer starrte Harry auf die Treppe. Mit Snape reden? Wie sollte er das denn hinbekommen? Der Tränkemeister war nicht unbedingt jemand, mit dem man gern bei einem Tässchen Tee über alle seine Probleme sprach. Verzweifelt warf Harry einen Blick zu Ron hinüber. Doch der versenkte seine Nase nur noch tiefer in sein Buch, als wollte er Harry bewusst nicht anschauen.
Der Morgen kam und mit ihm der Unterricht bei Snape. Harry konnte sich an keine Stunde Zaubertränke erinnern, in dem ihm Hermines Blicke unangenehmer gewesen waren als die des Tränkemeisters. Doch in dieser war es so. Während Snape Harry nahezu ignorierte, blickten ihre Augen ihn durch die aufsteigenden Dunstwolken andauernd an und brannten sich bohrend in seine. Fast kam es Harry so vor als beherrsche Hermine neuerdings Legilimentik. Selbst Malfoys Clique, die mit „Weasley ist unser King“-Buttons Ron so nervös machten, dass sein Kessel fast übergelaufen wäre, kümmerte Harry weniger als sie. Er wusste, dass er mit Snape nicht würde sprechen können und die Zeit lief ab. Gerade war der schwarze Umhang durch die Reihen geschwebt und Ron hatte Gryffindor durch seinen verdorbenen Tranks ein paar saftige Minuspunkte eingehandelt, da rückten die Zeiger auf der Wanduhr auch schon auf das Stundenende. Snape gab das Zeichen zum Zusammenpacken und wandte sich ohne einen weiteren Blick auf die Klasse den Versuchstieren auf dem Pult zu. Das bisher stille Kerkerzimmer war von einer Sekunde auf die andere vom Scheppern der Kessel und Getuschel in allen Ecken erfüllt. Harry schlug sein Buch zu und wollte nach seiner Tasche greifen, als Hermine ihn anstieß und in Snapes Richtung nickte. Für eine Sekunde hielt er ihren Blick. Dann bückte er sich, verstaute seine Sachen in seiner Tasche und stand auf, um Ron zu folgen, der sich bereits auf den Weg zur Türe gemacht hatte – als drittletzter der Klasse. Aus den Augenwinkeln konnte Harry gerade noch sehen, dass Hermine ihn entgeistert anstarrte.
Dann, er war keine drei Schritte gegangen, stand sie plötzlich auf, die Augen Snape gerichtet. Harry begriff sofort.
„Nein, Hermine, nicht“, flüsterte er ihr zu und griff ihre Hand, um sie wegzuziehen. Doch sie schüttelte ihn ab und blickte weiter stur nach vorne.
„Professor Snape?“
Harry hatte das Gefühl, dass sein Herzschlag für eine Sekunde aussetzte. Ron drehte sich um. Sie schauten alle drei zum Pult, wo Snape die Tür eines Mäusekäfigs verschloss und mit säuerlicher Miene aufblickte.
„Der Unterricht ist beendet, Miss Granger.“
Und mit einem scharfen Seitenblick zu Harry und Ron wandte er sich wieder den Käfigen zu als wäre nichts geschehen. Für einen Augenblick glaubte Harry noch an eine Chance, abzuhauen und lief weiter, immer auf die Türe zu. Doch im selben Moment setzte sich auch Hermine in Bewegung.
„Bitte, Sir, es ist wirklich wichtig“, rief sie und stürzte an ihm vorbei auf das Pult zu.
Als sie vor Snape zum Stehen kam, warf sie Harry über die Schulter einen drohenden Blick zu. Dann atmete sie tief ein.
„Wir wissen, was vorgestern Nacht passiert ist, Professor“
Harry spürte, wie ihm gleichzeitig siedend heiß und eiskalt wurde. Sein Atem ging schneller. Langsam, ganz langsam hob Snape wieder den Blick.
„Wir wissen es, weil Harry wieder einen Traum hatte. Er hat alles gesehen.“
Für eine atemlose Sekunde schien die Welt still zu stehen. Insgeheim verfluchte Harry Hermine dafür, dass sie all das ausplaudern musste. Doch er konnte nichts tun.
Snape blickte vollends auf. Doch diesmal sah er nicht säuerlich aus. Er war erbleicht und seine Augen geweitet wie von einem tiefen Erschrecken. Wieder ließ er seinen Blick über Ron und Harry schweifen. Dann zog er plötzlich seinen Zauberstab und die Klassenzimmertüre hinter ihnen fiel mit einem anhaltenden Summen ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich unter dem Dröhnen von selber um und Harry musste schlucken. Wieso fühlte er sich gerade so als ob er ohne Zauberstab in einer Drachenhöhle gefangen war?
„Was sagen Sie da?“, fragte Snape, kaum mehr als flüsternd, doch schneidend scharf. Er schaute nicht Hermine an. Sein Blick war auf Harry gerichtet und brannte sich tief in seine Augen, „Was haben Sie gesehen?“
Harry brachte kein Wort heraus. Seine Lippen waren wie versiegelt.
„Er hat gesehen, was Sie über sie Okklumentikstunden erzählt haben“, polterte Hermine gleich los, „Er hat gesehen, wie Voldemort Sie-“
„- Nennen Sie nicht seinen Namen!“, fuhr Snape sie mit zornglühenden Augen so heftig an, dass sie zusammenzuckte und einen Schritt rückwärtsging.
Dann trat er langsam auf Harry zu, der wie erstarrt in der Mitte des Raumes stand.
„Potter“, sagte er drohend, leise, doch Harry hatte das Gefühl, irgendwo hinter seiner düsteren Fassade für eine Sekunde Angst in den schwarzen Augen aufglimmen zu sehen, ehe sie hinter einer Maske aus Gefühllosigkeit verschwand.
„Sagte ich Ihnen nicht, dass Sie vor dem Einschlafen Ihren Geist leeren müssen? Sagte ich Ihnen nicht, dass Sie Okklumentik lernen müssen?“
„Und wie soll Harry das bitte können, wenn Sie ihn nicht mehr unterrichten?“
Das war Ron gewesen.
„Ruhe!“, rief Snape. Und für einen Augenblick war das Kerkerzimmer von Totenstille erfüllt. Snape nahm Harry mit den Augen noch immer in die Mangel, als bereite er sich auf ein intensives Verhör vor. Doch es war Hermine, die schließlich das Schweigen brach.
„Professor“, sagte sie weich, „Das mit dem Inferi Immunum und dem Ausmisten, das war doch kein Zufall gewesen. Sie wollten doch, dass wir den Trank brauen, oder?“
Snape schwieg und darum wohl fuhr sie nur noch entschiedener fort.
„Warum sind Sie nicht offen zu uns? Wissen Sie eigentlich, dass Harry sich Vorwürfe für das macht, was geschehen ist. Dass wir uns alle um sie Sie gesorgt haben?“
„Halten Sie den Mund, Granger!“, schnauzte Snape sie an in einem Tonfall, der Harry seltsamerweise an den Schmerzschrei eines Tieres erinnerte, an den verletzten Schimmer in Snapes Augen, als dieser vor ihm zurückgewichen war, „Was mit mir geschieht, geht Sie rein gar nichts an“.
Ron starrte ihn verständnislos an. „Sie wollen, dass es uns egal ist, wenn Du-weißt-schon-wer Sie foltert?!?“.
Snape erwiderte nichts, doch er warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Er hat Recht“, mischte Hermine sich ein, „Warum wehren Sie sich so dagegen, dass wir uns Sorgen um Sie machen?“
Snape atmete tief aus und kniff für einen Moment die Augen zusammen, wie jemand, der mit seiner Geduld rang.
„Schön“, sagte er, als er sie wieder aufschlug, „Wirklich schön. Wie ich sehe, lassen Sie mir keine andere Wahl. Es mag in Ihren bücherverseuchten Schädel vielleicht nicht hineingehen, Miss Granger. Aber außerhalb der Schulmauern gibt es Gefahren, die Ihren Horizont bei weitem übersteigen. Seien Sie froh, dass Sie bisher so gut wie keine Bekanntschaft mit Ihnen gemacht haben und beten Sie, dass Sie es niemals werden. Sollte ich noch ein weiteres Wort von Ihnen oder Ihren Freunden dazu hören, wird Gryffindors Konto ganz schnell um 100 Punkte leichter sein. Haben Sie mich verstanden?“
Hermine nickte stumm, Ron und Harry schlossen sich an.
„Schön“, sagte Snape, „Dann packen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie. Und kein Wort zu niemandem. Ich werde es herausfinden, wenn Sie Ihre Klappe nicht gehalten haben“
Nach einem prüfenden Blick in ihre Gesichter zog er den Zauberstab und löste die Zauber von der Türe. Hermine zögerte nicht, ihre Sachen zusammenzuraffen und folgte Harry und Ron eilig zur Türe.
Währenddessen kehrte Snape zum Pult zurück, räumte die letzten Käfige beiseite und tauchte rasch seine Feder in sein Tintenglas.
„Und noch etwas“, rief er ihnen hinterher, als sie fast schon über die Schwelle des Klassenzimmers getreten waren, „Nehmen Sie heute Abend vor dem Einschlafen von Ihrem Trank, Potter. Sie wissen, welchen ich meine. Und wenn nicht Sie, dann Miss Granger. Was Ihre Nachhilfe betrifft, werden Sie im Lauf des Tages von mir hören.“
Harry nickte stumm und öffnete die Türe. Er hätte schwören können, noch flüchtig gesehen und gehört zu haben, wie Snape hinter ihm die Hände im Haar vergrub, die Augen schloss und leise stöhnte. Doch da hatten sie die Schwelle bereits passiert.
„Mann, der Typ hat doch echt Probleme“, meinte Ron, als sie langsam die Kerkertreppen hinaufstiegen, „Wenn mir jemand einen Cruciatus auf den Hals hetzen würde, wäre ich froh, wenn sich jemand Sorgen um mich macht und nicht sauer“
„Er wusste, dass wir das Okkluserum gebraut haben“, sagte Harry und konnte es selbst noch immer nicht glauben, „Er wusste, dass ich das Rezept heimlich abgeschrieben habe“
„Und auf seinem Schreibtisch lag ein Brief von Dumbledore. Ich hab‘s gesehen, als ich vorne war. Seine Unterschrift schaute unter einem Stapel Hausaufgaben hervor“, regte sich Hermine.
Sie alle drei tauschten verwunderte Blicke. Doch noch ehe auch nur einer von ihnen etwas sagen konnte, hatte der Lärm der Eingangshalle sie wieder. Und die nächste Schulstunde wartete.
Snapes Nachricht erreichte Harry am späten Abend als er schon auf dem Weg ins Bett war. Nach Stunden vergeblichen Wartens hatte er es aufgegeben, noch etwas von seinem Lehrer zu hören. Doch dann apparierte just in dem Moment als Harry unter der Dusche stand ein alter Hauself im Jungenbad. Pitschnass nahm Harry, als er aus der Kabine kam, den Umschlag mit der kantigen Unterschrift entgegen und öffnete ihn - halb neugierig, halb ängstlich – schon auf dem Weg in den Schlafsaal.
Doch was immer Harry sich auch erhofft hatte: Der Brief war eine einzige Ernüchterung. Mit keinem Wort erwähnte Snape, dass er gedenke den Okklumentikunterricht fortzusetzen. Noch gab es eine Erklärung für seine Absage. Ohnehin verlor er nicht sonderlich viele Worte. Nicht, dass Harry etwas Anderes erwartet hätte. Aber es hätte ihm nach all dem Rätseln gut getan, wenigstens etwas Klarheit zu haben. Doch davon konnte keine Rede sein. Im Gegenteil. Snapes Brief war sonderbarer denn je. Nicht, weil er Harry mahnte, vor dem Schlafengehen seinen Geist zu lehren. Und auch nicht, weil er ihn noch einmal daran erinnerte, das Okkluserum einzunehmen. Nein, das Erstaunliche an diesem Brief war die Aufgabe, die Snape Harry stellte. Sobald er seinen Geist gelehrt und den Zaubertrank getrunken hätte, sollte Harry sich intensiv vorstellen, dass er nachts durch die Gänge von Hogwarts irren würde mit dem brennenden Wunsch, das Schloss zu verlassen. Aber an jeder Türe und jedem Ausgang würde er auf unüberwindbare magische Barrieren stoßen, die ihn zur Verzweiflung brächten. Dabei solle Harry sich verschiedene solcher Irrläufe durch Hogwarts ausmalen, aber bloß nicht auf die Idee kommen, auch nur in einem davon den Geheimgang zur Peitschenden Weide zu nehmen. „Nur offizielle Ausgänge“ hatte Snape fett unterstrichen und Harry konnte sich sein zynisches Grinsen dabei gut vorstellen. Erst wenn diese Vorstellungen ihn ganz eingenommen hätten, sollte Harry es wagen die Augen zu schließen und zu schlafen. Nach dem Wochenende würde er, Snape, überprüfen, ob Harry diese Aufgabe gewissenhaft erledigt hätte. Dazu sollte Harry „zur üblichen Zeit“ in seinem Büro erscheinen.
Verwundert legte Harry den Brief beiseite. Was wollte Snape mit dieser merkwürdigen Aufgabe nur bezwecken? Harry konnte sich keinen Reim darauf machen. Ihm erschien das alles doch reichlich albern. Aber weil er sich nicht schon wieder Ärger mit Snape einhandeln wollte und noch mehr, weil er eine solche Nacht wie die vorgestrige nicht noch einmal erleben wollte, tat er was Snape von ihm verlangte.
Zum Glück fiel es Harry sehr leicht, sich vorzustellen, so durch Hogwarts zu irren. Es hatte große Ähnlichkeit mit den Träumen, die ihn schon seit Monaten quälten. Die von den dunklen Korridoren der Mysteriumsabteilung. Auch wenn diese Vorstellung auf ihre Art doch wieder ganz anders war. Harry schlief ein mit dem Bild vor Augen, wie er von der Türe zu den Gewächshäusern zurückgestoßen wurde als wäre sie von einem Schildzauber geschützt. Und obwohl Harry nach dieser Nacht mit leichten Narbenschmerzen erwachte, waren ihm weitere Alpträume von Voldemort erspart geblieben.
Mit dem Freitag schienen die Dinge wieder ihren gewohnten Gang zu nehmen. Ron bangte vor dem Spiel gegen Ravenclaw, das wieder um eine Woche näher gerückt war, Harry vor dem Treffen mit Snape und Hermine vor den ZAGs. Zumindest glaubte Harry das. Denn sie verbrachte wieder einmal viel mehr Zeit in der Bibliothek als notwendig und machte sich selbst in den Abendstunden rar. Ab und an jedoch stiegen vor Harrys geistigem Auge noch immer die Szenen seines Alptraums auf und hüllten ihn ein wie eine dunkle Wolke. Er konnte nicht verleugnen, dass diese Nacht sein Bild von Snape verändert hatte. Wenn er früher darüber nachdachte, dass der Tränkemeister für den Orden des Phönix spionierte, war Harry immer nur mit der Frage beschäftigt gewesen, ob Snape auch wirklich zu trauen sei und was Dumbledore wohl von ihm überzeugt hatte. Jetzt gesellten sich noch andere Fragen hinzu: Was musste Snape wohl tagtäglich durchstehen, wenn er bei Voldemort war? Warum wollte er nicht, dass Hermine, Ron und er sich um ihn sorgten? Und warum sprach er auch sonst mit keinem Menschen darüber? Von den Lehrern schien niemand von seinem Schicksal zu wissen. Professor McGonagall vielleicht. Aber auch da war Harry sich nicht sicher.
Gedankenverloren ließ er das Pergament mit den Unterschriftinitialen S.S. durch seine Finger gleiten und blickte auf zur Fensterscheibe, hinter der die Morgensonne ihm grell ins Auge stach. Dann von einer Sekunde auf die andere musste er lächeln. Zügig faltete Harry das Blatt zusammen und sprang mit einem Satz von der Fensterbank.
„Hast du alles, was du brauchst?“, fragte Hermine.
„Ich denke schon. Morgen, Harry“, antwortete Ron.
Sie waren beide gerade die Treppe zum Gemeinschaftsraum heruntergekommen, mit gepackten Taschen und Reisemänteln um die Schultern. Ein kribbeliges Gefühl von Vorfreude und Aufregung packte Harry. Heute war Sonntag. Aber kein gewöhnlicher. Heute stand etwas auf dem Programm, auf das sich Harry schon seit Wochen freute: Ein Ausflug nach Hogsmeade. Schnell raffte er seine Sachen zusammen und folgte seinen Freunden die Treppe hinab, wo Lavender, Neville und Dean schon warteten.
„Als Erstes müssen wir in den Honigtopf. Ich hab gehört, sie haben jetzt hüpfende Marshmellows, die man erst kriegt, wenn man ihre Kalorienzahl verbrannt hat. Und selbstumrührende Schokokessel, die Himbeer- und Waldmeistersirup brauen“
„Man Ron, du bist echt verfressen!“, schäkerte Hermine, knuffte ihn in die Seite und sprang laut lachend die letzen Treppenstufen hinunter, „Der Tag wird wunderbar.“
„Hoffentlich“, meinte Harry skeptisch, „Glaubt ihr, dass das Inquisitionskommando uns Ärger machen wird?“ Umbridge hatte in der letzten Stunde eine Rede darüber gehalten, dass sie es der Sicherheit wegen keineswegs zulassen könne, dass sie sich ganz alleine in Hogsmeade bewegten. Und da ihr Blick auf Harry verharrt hatte, konnte er sich schon ausmalen, was das bedeuten würde. Doch noch ehe Ron oder Hermine ihm antworten konnten…
„Mr. Potter, dürfte ich Sie für einen Augenblick in mein Büro bitten?“
Harry blickte auf. Sie hatten das Porträtloch passiert und waren geradewegs Professor McGonagall in die Arme gelaufen. Mit ernster Miene deute sie auf die Türe, an die Hermine vor ein paar Nächten vergebens angeklopft hatte. Schlagartig wurde es still um Harry und er fühlte, wie das Herz ihm augenblicklich sank. Was immer seine Hauslehrerin mit ihm auch besprechen wollte: Dies war kein gutes Zeichen. In Rons und Hermines Gesichtern stand die gleiche Verwunderung geschrieben. Flüchtig tauschte Harry einen letzten Blick mit ihnen. Dann trat er ohne ein Wort zu sagen vor und folgte Professor McGonagall schweigend.
„Setzen Sie sich und nehmen Sie sich einen Ingwerkeks“, sagte sie, als die Türe sich hinter ihnen schloss. Harry kam der Aufforderung nach mit dem unguten Gefühl ein Beruhigungsmittel geschluckt zu haben. Wie sich wenig später herausstellte, zu Recht.
„Ich weiß, Sie haben sich sehr auf diesen Ausflug gefreut“, fuhr McGonagall besänftigend fort, während sie sich selbst setzte, „Leider kann ich Ihnen die Teilnahme daran nicht gestatten.“
„Was?!?“
Harry fuhr auf und verschluckte sich fast an einem Stückchen kandiertem Ingwer.
„Warum das denn?“
Professor Mc Gonagall seufzte ganz leise.
„Nennen wir es den Einfluss einer höheren Macht, Mister Potter. Dies dürfte einiges erklären.“
Und sie zog ein Pergament aus ihrer Schreibtischschublade, dass sie Harry vor die Nase legte. Er erkannte das rosafarbene Briefpapier und die geschwungene Handschrift sofort. Und Gift und Galle stiegen in ihm auf, noch ehe er überhaupt zu lesen begann.
Sehr geehrte Professor Meg Gonnergale (Hauslehrerin von Gryffindor)
Leider muss ich Ihnen in diesem amtlichen Schreiben mitteilen, dass Ihrem Schüler Mr. Harry James Potter wegen Verstoßes gegen Ergänzungsklausel 87c (unerlaubt weites Entfernen vom Schulgelände) mit sofortiger Wirkung die Teilnahme an Schulausflügen jeglicher Art offiziell untersagt ist. Zuwiderhandeln Ihrerseits wird disziplinarische Maßnahmen gegen Sie nach sich ziehen.
Mit freundlichen Grüßen,
Dolores Jane Umbrigde, Erste Untersekretärin des Ministers, Großinquisitorin und provisorische Schulleiterin von Hogwarts
Samstag, 25. Mai 1996
Harry hatte das Bedürfnis, das Papier sofort zu zerknüllen, so wütend war er. Nicht nur wegen des Ausflugs nach Hogsmeade, sondern wegen allem, was Umbridge aus Hogwarts gemacht hatte. Für einen Moment überlegte er, ob er Professor McGonagall nicht brühwarm von ihren Züchtigungsmethoden erzählen sollte, wozu ihn Hermine schon seit Monaten drängte. Doch dann fiel ihm ein, dass in der gegenwärtigen Situation vermutlich auch ihr die Hände gebunden waren und es sinnlos war, sie zu beunruhigen.
„Sie hat nicht mal Ihren Namen richtig geschrieben, Professor“, bemerkte er bitter, als er das Schreiben McGonagall zurückgab.
„Dolores Jane Umbridge zollt weder der Lehrer – noch der Schülerschaft großen Respekt.“
„Kann Sie das überhaupt verbieten? Ich meine, ich habe doch Sirius‘ Erlaubnis.“
„Als provisorische Schulleiterin kann sie leider alles tun, was ihr beliebt.“
Professor McGonagall atmete tief aus. Ihre Augen verschleierten sich und wandten sich von Harry ab, fast so als ob sie über etwas nachdenken, sich innerlich sammeln würde. Verwundert beobachte Harry ihr Gesicht.
„Das ist allerdings noch nicht alles“, fuhr sie nach einer Gesprächspause fort und atmete tief ein, „So leid es mir für Sie tut und so aufrichtig ich bedauere, Ihnen diese Freude zu verderben, so muss ich Dolores Umbridge in dieser Sache doch zustimmen.“
Harry starrte sie entgeistert an. Was sollte das nun? Er musste sich verhört haben!
„Aber Professor..“
„Glauben Sie mir, ich bereue es zutiefst, mit ihr einer Meinung zu sein und verfluche diesen Tag. Doch denke auch ich, dass dies unter den gegebenen Umständen das Beste für Sie ist.“
Harry hatte das Gefühl, jemand hätte seinen Kopf als Klatscher missbraucht, so matschig fühlte sich sein Gehirn gerade an.
„Umstände? Welche Umstände denn?“
„Bitte, Mr. Potter, fragen Sie mich keine Dinge, zu denen ich Ihnen nichts sagen darf. Professor Dumbledore wünscht ausdrücklich, dass Sie nur das Nötigste erfahren. Ihr Pate teilt im Übrigen meine Ansicht.“
„Sirius will nicht, dass ich nach Hogsmeade darf?!?“
Der Klatscher flog mit voller Wucht gegen einen Pfosten. Harry hatte das Gefühl, seinen Verstand völlig eingebüßt zu haben.
„Ja, Mister Potter“, antwortete Professor McGonagall nüchtern, „Der gesamte Orden des Phönix einschließlich Ihres Paten und Dumbledore teilen diese Überzeugung. In Absprache mit Professor Snape -“
„- Snape? Was hat der damit zu tun?!?“
„Wenn Sie mich bitte ausreden lassen würden“
„Verzeihung“
„In Absprache mit Professor Snape also sind wird einstimmig zur der Übereinkunft gelangt, dass es derzeit unverantwortlich wäre, Ihnen die Teilnahme an diesem Ausflug zu gestatten.“
Mit einem abschließenden Tonfall schlug sie eine Mappe zu, die auf ihrem Tisch lag. Und Harry schaute sie an, doch eigentlich viel mehr durch sie hindurch. Er stellte keine Fragen mehr. Er wusste, dass er keine Antwort erhalten würde. Wie konnte es sein? Wie konnte es sein, dass ausgerechnet Sirius ihm diesen Spaß verderben wollte? Sirius, der von allen Erwachsenen doch seine Abenteuerlust am besten verstand. Der ihn immer unterstützt hatte und im Sommer der Einzige gewesen war, der ihn in alles einweihen wollte? Welche verdammte Gefahr lauerte denn bitteschön da draußen, dass selbst er Harry jetzt lieber einsperren wollte als ihm den Spaß in Hogsmeade zu gönnen?
„Es tut mir ausgesprochen leid für Sie, Harry“, sagte Professor McGonagall mitleidvoll, als sie ihn verabschiedete, „Aber vielleicht können Sie Ihre Freunde ja bitten, Ihnen etwas mitzubringen.“
„Ist schon in Ordnung, Professor“, antwortete Harry und trat mit gesenktem Kopf durch die Türe.
Ron und Hermine sprangen ihm gleich entgegen.
„Was ist passiert, Harry?“
„Was wollte sie von dir?“
„Ich darf nicht mit“, sagte er nüchtern.
„Was?“
„Warum das denn?“
„Weil Umbridge es verboten hat wegen der Sache mit dem Gewächshaus. Und weil Snape es nicht will. Und Dumbledore. Und Sirius auch nicht.“
Ron starrte ihn ungläubig an.
„Sirius will das nicht?!? Sirius wäre doch der Letze, der dir irgendwas verbieten würde!“
„Ja, ich versteh’s ja auch nicht. Aber Professor McGonagall hat uns auch noch nie belogen, oder?“
„Weißt du was, Harry, irgendwas ist hier doch mächtig faul.“
„Was immer es auch ist“, mischte Hermine sich ein, „Wir werden es nicht mehr hier auf dem Gang herausfinden. Dort hinten kommt McGonagall.“
Harry wandte sich um und sah ein schottenkariertes Schultertuch durch die Türe schweben.
„Bleibst du hier?“, flüsterte Ron.
„Nein“, antwortete Harry ebenso leise, „Wir sehen uns in einer Stunde vor der Heulenden Hütte. Ich muss noch was erledigen Bis dann.“
„Harry-“, rief Hermine. Doch er antwortete nicht mehr. Schon hatte er der Fetten Dame das Passwort zugerufen und kroch durchs Porträtloch zurück. Bald eilte er die Treppen zum Gryffindorturm wieder hinauf. Sein Ziel: Der Jungenschlafsaal - und ein Koffer mit einem verzauberten Spiegel, der Harry gerade jetzt wieder eingefallen war.
Lange musste Harry nach dem Zweiwegespiegel suchen. Zauberumhänge, Pergament und von Dobby handgestrickte Socken türmten sich vor seinem Bett, ehe er ihn endlich auf dem Boden seines Koffers entdeckte. Obwohl oder vielleicht gerade weil der Spiegel ein Geschenk seines Paten gewesen war, hatte Harry ihn nie benutzt. Ja, wenn er ehrlich zu sich war, traute er dem Gegenstand nicht ganz. Denn Sirius liebte die Gefahr. Zumindest hatte Harry das bis heute geglaubt. Aber gefährlicher als ein überwachter Kamin oder ein weiterer Einbruch in die Höhle einen rosafarbenen Drachen konnte auch der Zweiwegespiegel nicht sein.
Ein Gefühl von Aufregung ließ Harrys Fingerspitzen kribbeln, als er in das blitzende Silberglas sah.
Doch das Bild im Spiegel war schwarz.
„Sirius?“, rief Harry
Nichts geschah.
„Sirius?... Sirius! SI-RI-US!“
Stille.
Enttäuscht wollte Harry den Spiegel schon wieder beiseitelegen, als endlich...
„Harry bist du das?“
Harry schaute auf den Spiegel. Es waren nicht die Augen seines Paten in die er blickte, es war…
„Remus!“
„Ja, ich bin‘s. Tut mir leid. Ich hab mich gewundert, woher die Stimme kam, bis mir dann der Spiegel eingefallen ist. Sirius hatte mir davon erzählt. Wie geht es dir? Was ist los? Ist alles in Ordnung bei dir?“
„Wie man‘s nimmt. Wo ist er?“
„Auf dem Dachboden. Seidenschnabel füttern. Und naja… es gab ein paar Probleme mit Kreacher. Aber was hast du denn auf dem Herzen? Vielleicht kann ich dir ja auch weiterhelfen? Oder möchtest du warten, bis er zurückkommt?“
Harry musste nicht lange nachdenken. Im Grunde war es egal, ob ihm Remus oder Sirius Rede und Antwort stand. Er wollte nur wissen, was los war.
„Nein, es geht um den Ausflug nach Hodsmeade“, sagte er knapp.
Remus atmete tief ein und nickte: „Das habe ich mir fast schon gedacht.“
„Professor McGonagall hat mich vorhin abgefangen und mir verboten mitzukommen. Sie meinte, der ganze Orden des Phönix hätte das einstimmig beschlossen.“
„Das ist richtig. Naja, sagen wir fast richtig. Letztendlich war es Dumbledores Entscheidung. Aber es wurde gestern auf der Wochensitzung besprochen.“
„Aber warum?“, Harry schüttelte den Kopf und spürte, wie Ärger in ihm aufwallte, Hitze in sein Gesicht trieb. Warum mussten eigentlich alle Erwachsenen andauernd über seinen Kopf hinweg entscheiden?
„Severus“, sagte Remus leise, „Es war sein Vorschlag. Er berichtete, dass du wieder Träume hattest und meinte, du seist in großer Gefahr. Dumbledore teilte seine Ansicht. Nachdem ihr Severus am Donnerstag davon erzählt hattet, hat er Dumbledore sofort benachrichtigt. Und der war in großer Sorge. Nach Einsicht in die Sachlage pflichtete der Rest des Ordens Severus bei. Darum entschied Dumbledore, dass es besser wäre, du bliebst vorerst in Hogwarts.“
Harry musste schlucken. Also war es wahr, dass Snape ihm das eingebrockt hatte! Aber warum? Er hatte ihm doch nichts getan. Im Gegenteil. Oder war das die Rache dafür, dass er Okklumentik noch immer nicht beherrschte?
„Aber ich verstehe das nicht. Was haben meine Träume denn mit dem Ausflug nach Hogsmeade zu tun?“
„Weißt du denn nicht mehr, warum Dumbledore diesen Unterricht angeordnet hat?“
„Weil Voldemort mich benutzen könnte“, wiederholte Harry mechanisch, was Snape ihm in der ersten Okklumentikstunde eingetrichtert hatte. Lange Zeit hatte er den Sinn dahinter nicht verstanden. Doch Voldemorts Worte in seiner letzten Vision hatten diese Gefahr für ihn nur allzu wirklich, allzu greifbar werden lassen, so dass ihm nun ein Kloß in seinem Hals anschwoll. Anschwoll bei dem Gedanken daran, vielleicht nicht stark genug zu sein, um Voldemort Widerstand zu bieten, vielleicht als sein Werkzeug zu enden.
„Genau“, fuhr Lupin fort, „Und er wird nichts unversucht lassen, um an dich heranzukommen. Hogwarts ist durch viele alte Zauber geschützt. Was da draußen lauert wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass du hinter den Mauern der Schule sicherer bist.“
Wortlos senkte Harry den Blick. Das war nicht das, was er hören wollte, auch wenn eine innere Stimme ihm sagte, dass ein Funken Wahrheit in Remus‘ Worten lag.
„Du brauchst nichts sagen, Harry“, drang die Stimme aus dem Spiegel besänftigend auf ihn ein, „Eingesperrt zu sein ist nicht schön. Aber auch wenn es auf den ersten Blick anders aussehen mag, wollen wir alle nur dein Bestes.“
„Snape wollte noch nie mein Bestes. Er hasst mich“, trotze Harry.
„Ich weiß, dass es dir schwerfällt, das zu glauben. An deiner Stelle würde es mir wohl genauso gehen. In der Vergangenheit ist einfach zu viel schiefgelaufen, das noch immer nachwirkt. Aber auch wenn ich Severus nicht sonderlich mag und er dich, steht er doch auf unserer Seite. Dumbledore vertraut ihm voll und ganz.“
„Dumbledore“, knirschte Harry ärgerlich.
Er musste daran denken, dass Dumbledore ihm das ganze Schuljahr über aus dem Weg gegangen war. Aus dem Weg gegangen, ohne ein Wort darüber, was eigentlich los war. Und nun wollte er ihn auch noch in Hogwarts einsperren wieder ohne auch nur den Hauch einer Erklärung. Nie hatte Harry sich von ihm so im Stich gelassen gefühlt. Obwohl er und seine Freunde selbst daran schuld waren, dass Dumbledore aus Hogwarts fliehen musste und Harry deswegen noch immer das schlechte Gewissen quälte.
„Wisst ihr eigentlich, wo er jetzt ist?“, fragte er nachdenklich.
„Ab und an ist er im Grimmauldplatz und schläft zuweilen auch hier. Wo er sich aber den Rest der Zeit über aufhält, weiß niemand“
Harry schwieg für einen Moment. Und auch Remus sagte kein Wort.
„Hat das alles eigentlich etwas mit der Waffe zu tun, die Voldemort haben will?“, fragte Harry schließlich.
„Dazu darf ich dir nichts sagen“
Wieder Schweigen.
„Und Sirius… hat er Snape wirklich zugestimmt?“
Remus schien zu zögern.
„Nun ja, sagen wir so: Er hat sich widerwillig der Vernunft gebeugt.“
Harry nickte wortlos. Er musste an die Weihnachtsferien zurückdenken und konnte sich in etwa vorstellen, wie diese Abstimmung abgelaufen war.
„Versprich mir bitte, Harry, dass du keine Dummheiten machst“, brach Lupins Stimme in seine Gedanken.
„Ja, Ich pass schon auf mich auf“, würgte Harry ihn ab, „Mach’s gut“
„Auf Wiedersehen, Harry“
Und der Spiegel war wieder leer.
Harry packte ihn zurück in den Koffer und schaufelte die Berge seiner Kleidung darüber. Dann nahm er sich den Tarnumhang und schlich die Treppe zum Gemeinschaftsraum hinab. So in Gedanken war er, dass er den Bücherstapel neben dem Kamin übersah und darüber stolperte. Dicke Wälzer und schmale Heftchen flogen in alle Ecken. Schnell raffte Harry die Bücher wieder zusammen, stopfte ein Flugblatt, der aussah wie eine Infobroschüre, zurück in ein dünnes Buch mit blauem Einband und schichtete alles wieder aufeinander. Dann lief er zum Porträtloch und weiter in den Schlosshof bis hin zur Peitschenden Weide und in den Geheimgang zur Heulenden Hütte.
Seine Gedanken kamen die ganze Zeit über nicht zur Ruhe und sein Magen knurrte vor Zorn. Warum sagte ihm eigentlich kein Mensch endlich mal die Wahrheit? Warum wollten sie ihn ständig aus allem heraushalten und jetzt auch noch einsperren wie ein Hund in den Zwinger? Harry hatte diese Geheimniskrämerei schon seit dem Sommer so satt. Glaubten sie etwa, was Voldemort plane, ginge nur sie etwas an? Glaubten sie etwa, er würde tatenlos zusehen, wenn der versuchte, eine Geheimwaffe zu beschaffen. Ja, vielleicht hatte Remus Recht damit, dass Voldemort ihn liebend gerne zu seinem Werkzeug machen wollte, dass besondere Vorsicht geboten war, aber… Verdammt nochmal, er war doch kein kleines Kind mehr! Er hatte öfter gegen Voldemort gekämpft als der halbe Orden des Phönix! Welche Gefahr sollte hier in Hogsmeade auf ihn lauern, der er nicht schon längst ins Auge gesehen hatte?!?
Wenn es überhaupt irgendeine Gefahr gab. Immerhin ging das alles von Snape aus. Was, wenn der nur mal wieder ein mieses kleines Spiel spielte, um Harry zu tyrannisieren, weil, weil… ach weiß der Geier warum. Snape brauchte keine Gründe. Er hasste Harry. So einfach war das, oder?
Oder?
Für einen Moment hielt Harry vor den alten Kisten inne, die den Eingang zur Heulenden Hütte versperrten. Er musste zurückdenken an den Schmerz, der in den schwarzen Augen aufgeflammt war als er Snape auf Quirrells Worte angesprochen hatte. Konnte es sein, dass es einen Funken Wahrheit an dem gab, was Remus erzählt hatte? Der Gedanke, dass vielleicht Sorge der Grund für Snapes Verhalten gewesen sein könnte schmeckte so fremdartig wie ein Spulenwurzelkeks und doch konnte Harry den Bissen nicht wieder ausspucken. Die Erinnerung an ein anderes Ereignis drängte sich ihm auf.
Heute war nicht das erste Mal, dass Harry ohne Erlaubnis nach Hogsmeade aufgebrochen war. Nicht das erste Mal, dass es hieß, eine Gefahr lauere auf ihn außerhalb der Mauern der Schule. Zweieinhalb Jahre war es nun her, dass er sich ebenso heimlich wie jetzt aus der Schule gestohlen hatte. Damals, als alle Sirius noch für einen Mörder hielten. Und es war Snape gewesen, der ihn erwischt und zur Rede gestellt hatte. Der ihm vorgeworfen hatte, dass sich die ganze Welt vom Zaubereiminister abwärts um seine Sicherheit sorgte, nur ihm alles egal sei. Damals hatte Harry auch geglaubt, dass Snape ihm nur eins reinwürgen wollte. Aber was wenn er wirklich besorgt gewesen war, wie jetzt der Orden des Phönix? Wie die Menschen, von denen Harry ganz sicher wusste, dass sie ihn mochten, wie Sirius oder Remus? Denn das taten sie, auch wenn sie Harry offensichtlich für ein Kleinkind hielten, das ohne die Hand eines Erwachsenen keinen Schritt gehen konnte.
Geistesabwesend zog Harry seinen Zauberstab und ließ die Kisten vor dem Ausgang beiseite schweben. Trancegleich kletterte er durch das Loch hinauf in das heruntergekommene Zimmer im düsteren Haus. Wie so oft in den letzten Wochen klangen ihm wieder Lunas Worte in den Ohren wie ein fernes Geräusch, wie ein Ton aus der wirklichen Welt, der einem im Traum erreichte. Harry musste zurückdenken an ihre letzte Begegnung. Daran was Luna über Edith Hakons gesagt hatte. Sie hatte Recht. Wie sollte man denn bitteschön wissen, woran man war, wenn der Andere nichts sagte?
Snape war so verschlossen wie ein Buch mit sieben Siegeln. All die Jahre hatte Harry ihn für einen gemeinen, zynischen Widerling gehalten. Aber Snape war ein fabelhafter Okklumentiker. Jemand, der es verstand, seine Gedanken und Gefühle zu verbergen. Konnte man sich da denn sicher sein, dass er wirklich so war, wie er sich gab? Ein leichtes Schaudern packte Harry als er zurückdachte an die Okklumentikstunde, in der er den Schildzauber verwendet hatte. An den kleinen, schwarzhaarigen Jungen, der weinend in der Ecke gekauert hatte. Ein Bild, das Harry das Herz gebrochen hatte, als er diesen Jungen als erwachsenen Mann mit Augen voller Hass vor sich stehen sah. Und dann die Erinnerung, in der Snape vom James Potter gequält worden war und die Nacht, in der Harry ihn weinend in seinem Büro vorgefunden hatte. So viele Gefühle, die er Snape nie zugetraut hatte. Und schließlich der Alptraum, von dem Harry wünschte, dass er nur ein Traum gewesen wäre. Wie konnte es Snape eigentlich so auf die leichte Schulter nehmen, was Voldemort ihm angetan hatte? Wie konnte er dagegen protestieren, dass Harry und seine Freunde sich um ihn sorgten? Wie konnte er sich selbst nur so egal sein?
Harry fröstelte, als er sich neben einer staubigen Truhe auf den Dielen niederließ. Ihm war zumute als hätte er in einen tiefen, dunklen Abgrund geblickt, in dem Furchtbares lauerte, dem er nie begegnen wollte. Fast wie damals in der Kammer des Schreckens. Was mochte Snape wohl noch alles verbergen, von dem Harry nichts wusste? Hatte Dumbledore ihm damals im ersten Schuljahr die ganze Wahrheit erzählt? Zum ersten Mal zweifelte Harry daran. Dumbledore wusste mehr über Snape als er. Harry hatte ihn letztes Jahr gefragt, was ihn von Snapes Umkehr überzeugt hätte. Und Dumbledore hatte nur geantwortet, dass dies eine Sache zwischen ihnen beiden wäre. Gehörte zu diesem Rätsel vielleicht auch, dass Snape sich um Harry sorgte? Aber warum sollte er dann ein Geheimnis daraus machen?
Harry kniff die Augen zusammen und dachte für eine Sekunde nach.
Nein, was für ein ausgemachter Blödsinn! Die einzige Gefahr, um die Snape sich vielleicht sorgte, war, dass Harry selbst zur Gefahr werden könnte. Weil die Verbindung zu Voldemort in ihm wuchs und wucherte und Snape aus irgendeinem Grund auf Dumbledores Seite stand. Dessen war sich Harry seit der letzten Vision sicher. Und welchen Grund sollte Snape auch haben, sich um ihn zu sorgen? Er war James Potters Sohn. Der Nachkomme seines Erzfeindes und Snape hatte ihn doch all die Jahre spüren lassen, dass er ihn genauso hasste wie seinen Vater. Auch wenn es in der letzten Zeit etwas nachgelassen hatte. Er war noch immer nicht sonderlich nett zu Harry und er hofierte Malf-
Plötzlich schrecke Harry aus seinen Gedanken auf. Ein Geräusch wie ein Murmeln ging durchs Zimmer. Waren das etwa Stimmen? Harry lauschte. Ja, tatsächlich! Da führte wer ein Gespräch. Noch konnte Harry kein Wort verstehen, aber die Stimmen kamen näher. Flüchtig warf er einen Blick hinüber zur alten Standuhr, die erstaunlicherweise noch immer lief – und runzelte die Stirn. Also wenn das Ron und Hermine waren, dann waren sie aber sehr früh da.
„- Nachhilfe brauche, um meinen ZAG zu kriegen“, drang es im nächsten Augenblick durchs offene Fenster.
Und Harry sprang wie von der Tarantel gestochen vom Boden auf.
Das waren nicht Ron und Hermine – das war Goyle gewesen! Harry hastete zum Fenster und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Dort unten standen sie, direkt vor dem Zaun – Draco, den man auf hundert Meter noch erspähen würde und neben ihm seine beiden pfundigen Leibwachen.
„Mein Dad meint es sei völlig schnuppe, wie ich in den ZAGs abschneide. Er würde mir jeden Job im Ministerium besorgen, den ich haben will, ob meine Noten stimmen oder nicht. Er meint, mit den richtigen Beziehungen lässt sich alles hinbiegen. Aber Lernen soll ich trotzdem, um den guten Ruf zu wahren“
Das war Draco gewesen.
„Aber du bist gut in Zaubertränke“, antwortete ihm Goyle. Harry wurde hellhörig. Er erinnerte sich an Goyles Aufsatz, auf den er beim letzten Nachsitzen bei Snape einen Seitenblick erhaschen konnte. Sollte es wirklich wahr sein, dass Goyle Schwierigkeiten in diesem Fach hatte? Als Slytherin bei Snape?
„Du wärst es auch“, fuhr Draco fort, „Wenn Snape in letzter Zeit nicht so spinnen würde. Würde mich nicht wundern, wenn der Gryffindor sogar noch Punkte geben würde für das Gebräu von diesem Granger-Schlammblut“
„Schüler werden nach Leistungen bewertet“, äffte Draco scheinbar Snape wild gestikulierend nach, „Man, ist ja fast schon so schlimm wie die Mc-“
Draco wollte offensichtlich noch etwas sagen. Doch in diesem Moment trat Crabbe ihm auf den Fuß und nickte in Richtung des Dorfs. Harry folgte seinem Blick und sah den bekannten schwarzen Umhang den Weg herauf schweben.
„Ah, die Herren Malfoy, Crabbe und Goyle. Wenn ich mich mein Gedächtnis nicht täuscht, habe ich Sie noch in Hogwarts darauf hingewiesen, dass der Besuch dieses Gebäudes zum heutigen Ausflug strengstens untersagt ist?“
„Ja, haben Sie, Professor“, patzte Draco.
„Schön, dann darf ich wohl erwarten, dass Sie dieses Grundstück schleunigst verlassen werden. Denn ich glaube nicht, dass Sie Interesse daran hegen, Ärger mit mir zu riskieren, nicht wahr?“
„Nein, Sir. Kommt, Jungs, wir gehen.“
Und die drei traten an Snape vorüber. Er warf ihnen noch einen bedrohlichen Blick zu, dann wandte er sich um und lief an der Heulenden Hütte vorbei und einen zweiten Weg wieder hinab, den Harry noch nie gegangen war und der aus dem Dorf heraus zu führen schien.
Ein paar Meter vor dem Zaun verharrten die Slytherins und starrten ihm finster hinterher. „Er ist eifersüchtig auf Dad“, sagte Draco, „Denkt wohl, er könne sich ganz oben einschleimen und seinen Platz einnehmen. Aber da hat er sich geschnitten. Noch hat Dad das halbe Ministerium unter sich und Snape keine Chance“. Und mit diesen Worten machten sich auch die Slytherins davon.
Nur Harry stand noch unter seinem Tarnumhang hinter dem Fenster und blickte wie zur Salzsäule erstarrt hinunter auf den Vorgarten. Noch immer konnte er seinen Ohren nicht ganz trauen. Was um alles in der Welt musste mit Snape geschehen sein, wenn selbst Draco ihn nicht mehr leiden konnte? Und was noch wichtiger war: Wovon bei Merlins Bart hatte Malfoy da eigentlich gesprochen?
„Das hättest du nicht tun sollen, Harry“, schimpfte Hermine, als sie ihre Tasche absetzte und den Umhang über die Stuhllehne warf. Den gesamten Weg hinauf zum Schloss hatte sie kein Wort darüber verloren, doch Harry durch ihre scharfen Blicke deutlich spüren lassen, dass sie nicht begeistert darüber war, dass er sich kurzerhand über McGonagalls Verbot hinweggesetzt hatte.
„Wer weiß, was dort draußen im Gange ist. Dumbledore wird nicht ohne Grund angeordnet haben, dass du nicht mitkommen sollst“.
Ron, der sich gerade auf Sessel hingelümmelt hatte, blickte müde zu ihr hoch.
„Ach, Hermine“, gähnte er herzhaft, „Erzähl uns ruhig was von Gefahren und Verboten. Hast ja auch nie Snapes Vorräte beklaut oder verbotene Gruppen gegründet“.
Sie fuhr zu ihm um.
„Das ist etwas ganz anderes, Ron. Notwendige Verteidigungszauber zu üben, die uns Umbridge nicht beibringen will, ist etwas ganz anderes als sich mir nichts dir nichts rauszuschleichen. Mensch Harry, denk doch mal nach. Wenn selbst Sirius glaubt, dass du besser in Hogwarts bleiben solltest-“
„-Naja, eigentlich haben ihn die anderen überstimmt“, fiel ihr Harry ins Wort. Er hatte keine Lust, sich mit Hermine zu streiten.
„Trotzdem, du hättest erst mal versuchen sollen, herauszufinden, was eigentlich los ist anstatt dich einfach davon zu machen. Das war leichtsinnig.“
„Tut mir leid“, sagte Harry kleinlaut und ließ sich auf dem zweiten Sessel nieder. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war er wirklich schon so draufgängerisch geworden wie Sirius. Aber wie sollte man etwas herausfinden, wenn man die ganze Zeit nur in der Schule rumhockte, während alles Entscheidende draußen stattfand?
„Hat er doch“, entgegnete Ron wie zum Beweis und räkelte sich, ehe er sich wieder aufsetzte, „weil er mitgekommen ist, Hermine und offensichtlich geht es ihm ganz gut."
Sie starrte Ron einen Augenblick lang an, dann beugte sie sich herab um wortlos ein paar Bücher vom Boden zu klauben, die sie zum Tisch brachte. Während Harry ihr nachschaute, fühlte er sich an den dunklen Schatten erinnert, der über ihre Augen gezogen war, als er vor der Heulenden Hütte den Tarnumhang abgelegt und seinen Freunden alles erzählt hatte. Die ganze Unterhaltung stand ihm wieder vor Augen. Sie war abrupt unterbrochen und nicht mehr aufgenommen worden, nachdem Professor McGonagall ihren Weg vor dem Eberkopf gekreuzt hatte. Es schien, als würde sich nun fortsetzen, wozu sie drei in Hogsmeade wegen zu vieler lauschender Ohren nicht mehr gekommen waren.
"Er hat vom Ministerium gesprochen", rief Harry ihr zu, "Verstehst du, Hermine? Malfoy hat vom Ministerium gesprochen und von Snape. Das kann dir doch nicht egal sein!“
„Das ist es mir auch nicht“, wandte sie sich zu ihm um, „Das weißt du doch, Harry“
„Und wo ist dann das Problem?“, regte sich Ron, „Snape ist seit Wochen schon richtig merkwürdig. Irgendwas ist hier mächtig faul. Und keiner von uns weiß, warum Dumbledore nicht wollte, dass Harry mitkommt. Keiner von uns weiß, was es mit dem Ministerium auf sich hat.“
„Eben“, erklärte Hermine, „Wir dürfen uns nicht blindlinks in die Gefahr stürzen. Wir müssen erst herausfinden, womit wir es zu tun haben.“
„Schön. Und wie willst du das hier vom Gemeinschaftsraum aus anstellen?“
Hermine antwortete nicht. Stattdessen lief sie zu Harrys Verwunderung zartrosa an, wandte sich von Ron ab und drückte ihre Bücher eng an ihre Brust. Da keiner von den anderen beiden etwas sagte, ergriff Harry das Wort.
„Malfoy meinte, Snape sei neidisch auf seinen Vater, als er das mit dem Ministerium sagte. Ich glaube, er sprach von Voldemort. Und es war Snapes Vorschlag, dass ich hier bleibe. Wer weiß, was das alles zu bedeuten hat. Was es mit Snape noch auf sich hat!“
Für eine Sekunde schien die Luft im Raum zu stehen. Hermine blickte zu ihm herüber.
„Harry“, sagte sie langsam und ernst, „Du glaubst doch nicht etwa noch immer, dass Snape auf Voldmorts Seite steht, oder?“
Harry hielt ihren Blick, dachte für einen Augenblick nach. Vor einem Jahr, ja auch nur vor einer Woche, wäre er sich seiner Antwort noch nicht sicher gewesen. Doch die Nacht von Dienstag auf Mittwoch hatte jeden seiner Zweifel sterben lassen. Die schmerzverzerrte Fratze! Die Schreie, die er gehört hatte! Niemand, wirklich niemand, riskierte es leichtfertig, einen Cruiatusfluch auf sich zu ziehen. Niemand würde diese Folter über sich ergehen lassen, wenn sie nicht der Preis für ein höheres Ziel war. Zumindest nicht solange er ihr noch irgendwie entgehen konnte. Doch das wäre für Snape es ein Leichtes gewesen, indem er Harry verriet. Indem er in den Okklumentikstunden genau das mit ihm anstellte, was Voldemort verlangte: Seinen Geist mürbe machen. Aber gerade das hatte Snape nicht getan. Im Gegenteil. Er hatte Voldemorts Befehle nicht nur missachtet, er hatte sie sogar noch unterwandert. Ihm jedenfalls war Snape nicht zu diensten. Aber bedeutete das auch, dass er Dumbledore gegenüber loyal war? Bevor Draco diese Anspielung gemacht hatte, war Harry davon ausgegangen. Doch nun zweifelte er wieder. Immerhin gab es da noch eine dritte Möglichkeit. Die Möglichkeit, dass Snape vielleicht sein ganz eigenes Süppchen kochte. Dass er sich weder dem einem noch dem anderen Herrn verpflichtet fühlte und nur versuchte sie beide zu seinem eigenen Vorteil gegeneinander auszuspielen. Aber was war dann sein Ziel? Was hatte es mit dem Ministerium zu tun? Und was mit ihm?
„Nein“, flüsterte Harry, in sich gekehrt, während er Hermines Blick hielt, „Aber das Ganze ist doch ziemlich merkwürdig, oder? Snapes Verhalten all die Wochen, McGonagall, Hogsmeade, Draco. Hast du für all das eine Erklärung?“
„Nein“, antwortete Hermine und verstummte.
Es waren die letzten gewichtigen Worte, die sie, Ron und Harry an diesem Abend wechselten. Sie tauschten noch ein paar bedeutungsschwere Blicke und verfielen in Schweigen. Hinter den Bogenfenstern senkte sich glutrot die Abendsonne herab und Dämmerung zog herauf.
Bald schon hatte sich das Grüppchen zerstreut. Ginny kam, um Ron zu einer Teambesprechung für das näher rückende Spiel gegen Ravenclaw abzuholen und Hermine zog sich mit ihrem Bücherstapel in den Mädchenschlafsaal zurück. Im Gemeinschaftsraum blieb nur Harry und starrte die gegenüberliegende Wand an, das Schwarze Brett, als ob dort die Antwort auf seine Frage zu finden wäre. Doch zwischen der Ankündigung des Ausflugs nach Hogmeade; einem rosa Aushang, der etwas von Prüfungen und Vorbesprechungen erzählte; einem Werbeplakat der Weasley-Zwillinge (Hermine musste es übersehen haben), zwei neuen Erlässen von Umbridge und der Einladung zum Quidditchspiel fand Harry nicht den geringsten Hinweis, der ihm irgendwie weitergeholfen hätte. Nichtigkeiten – nichts als Nichtigkeiten!
Sein Kopf rauchte. Wo war nur die heiße Spur, die er suchte? Während die Welt vor den Fenstern sich verdunkelte wälzte Harry seine Gedanken – hin und her, her und hin. Alle Ereignisse der letzten Tage, all diese merkwürdigen Geschehnisse gingen ihm noch einmal durch den Kopf. Der Hauself mit Snapes sonderbarer Anweisung; das plötzliche Verbot, nach Hogsmeade mitzukommen; das belauschte Gespräch vor der Heulenden Hütte. Geheimnisse über Geheimnisse, die wie Mauern vor Harry aufragten. Er wusste, dass sie irgendwo einen geheimen Sinn ergeben mussten, dass irgendein unsichtbarer Faden sie alle miteinander verband. Wie der Prinz vor Dornröschens Turm suchte Harry einen Weg durch dieses Gestrüpp, rief sich jedes Bild, jedes Wort noch einmal in Erinnerung, richtete seinen Fokus darauf wie Collin Creevey seine Kameralinse und fand doch keine Antwort. Die Lösung dieses Rätsels schien sich Harry ebenso zu verschließen wie jemanden, der kein Parsel sprach, die Kammer des Schreckens. Müde von der vergeblichen Suche nach einer heißen Spur schweiften seine Gedanken bald ab. Dracos Gesicht sah er zwar noch immer vor sich. Doch es waren andere Worte, die seine Lippen nun formten. Andere Worte, die in Harrys Ohren nachklangen: „Wenn Snape in letzter Zeit nicht so spinnen würde.“
Hatte Harry etwa etwas Entscheidendes verpasst? Solange er sich zurückerinnern konnte, war Draco Malfoy doch immer Snapes Lieblingsschüler gewesen, genossen die Slytherins bei ihm stets eine Sonderbehandlung. Wie kam Draco nun dazu, so über Snape zu denken? Wann war ihr Verhältnis gekippt? Und was mochte wohl der Grund dafür gewesen sein? Hatte es etwas mit Dracos mysteriöser Anspielung auf das Ministerium zu tun? Ging es um Umbridge oder die Geheinwaffe, die der Orden des Phönix bewachte? War es gar das, hinter dem Snape her war?
Nachdenklich starrte Harry Löcher in die Luft, ließ alles, was in den letzten Wochen geschehen war, Revue passieren. Ein Streit, bei dem Snape auch Draco gemaßregelt hatte; Eine reparierte Zaubertrankphiole; das ausdruckslose Gesicht in Umbridges Büro; Ron und Hermine, die Harry von einer Standpauke berichteten; Ein „S“ auf Goyles Aufsatz. Ein leichtes Schütteln packte Harry, eine sanfte Gänsehaut lief seinen Rücken herab. Konnte es sein, konnte es wirklich sein, dass Snape fair geworden war? Dass er zumindest aufgegeben hatte, sein Haus zu bevorteilen? Tatsächlich konnte sich Harry nicht erinnern, dass der Tränkemeister die Slytherins in den letzten Wochen besonders bevorzugt hätte. Doch vielleicht war Harry in der letzten Zeit auch nur zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um es zu bemerken. Er hatte manchmal ganze Stunden im Kerker zugebracht ohne auf etwas anderes als auf sich und seine eigene Verwirrung zu achten. Und wenn er dabei einen Seitenblick auf Snape geworfen hatte, dann nur, um herauszufinden, ob dieser ihn beachtete. Ein leises Gähnen entwich Harry, als er halb unbewusst, halb absichtlich „Zaubertränke und Zauberbräue“ ergriff. Er suchte Ablenkung, er suchte Zerstreuung zwischen Schneidemethoden, Mengenangaben und Gradzahlen. Bald schon war sein Kopf benebelt von den Rezepten als blicke er gerade wirklich hinab in das Wasser eines Zaubertrankkessels. Seine letzten Gedanken über Snape verliefen im Sande wie eine Welle, die sanft ans Ufer glitt.
Viel später, als Harry längst im Bett lag und sie ihm geradewegs zufallen wollten, beschloss er, die Augen offenzuhalten. Morgen in der Zaubertrankstunde und am Abend, wenn der Tränkemeister ihn in seinem Büro sprechen wollte. Er war wohl ohnehin ihr einziger Schlüssel, um etwas herauszufinden. Und vielleicht würde Snape sich ja selbst verraten. Verraten, was es mit ihm und Hogsmeade und dem Ministerium auf sich hatte. Was Harry morgen Abend wohl erwarten würde? Würden sie die Okklumentikstunden fortsetzen? Ein wenig schauderte ihm vor diesem Vieraugengespräch. Davor, dass Snape vielleicht in die Erinnerung an seinen kleinen, verbotenen Ausflug eindringen könnte. Doch was konnte er schon tun außer abwarten und hoffen? Schlaftrunken nahm Harry seinen allabendlichen Schluck Okkluserum und konzentrierte sich auf eine Fantasie, in der er verzweifelt Flohpulver in den Gryffindorkamin warf, aber einfach kein Feuer entflammte. Dann, als dieses sonderbare Bild ihn völlig eingenommen hatte, senkte er den Kopf aufs Kissen und schloss die Augen.
„Ich hab ein A. Und du?“
„Ha! Ich wusste es, E. Zumindest darauf ist noch Verlass“
„Wieder M? Aber… aber ich hab doch gelernt, Professor“
Harry lugte durch den aufsteigenden Dunst der Kessel vorsichtig hinüber zu den Slytherins, deren Gemurmel leise zu seinem und Nevilles Tisch getragen wurde. Snape war damit beschäftigt, die letzten Hausaufgaben zurückzugeben. Und während Blaise und Draco begannen ihre Pergamentrollen wegzupacken, verharrte Goyles Blick auf dem Gesicht des Tränkemeisters, der diesen dunkel erwiderte.
„Nun, offensichtlich noch nicht genug, Gregory“, sagte Snape, „Sie müssen Ihre Leistungen steigern. Sie müssen noch intensiver lernen. Ich sagte Ihnen bereits in der Berufsberatungsstunde, dass ich keine Ausnahme machen kann. Das Ministerium beobachtet uns. Versuchen Sie es mit Gwendolyn Greymore. Eine begabte Tränkeexpertin, die in einer Sprache schreibt, die selbst Sie verstehen dürften.“
Er wandte sich ab und hielt dann Crabbe dessen Hausaufgaben mit ebenso spitzen Fingern vor die Nase wie er es Sekunden zuvor bei Goyle getan hatte. Als Snape einen Seitenblick zu den Gryffindors warf, starrte Harry blitzschnell in den Kessel. Doch er hatte genug gehört und gesehen von dem, wonach er suchte. Die Stunde verlief ruhig und Harry beobachtete und belauschte Snape weiterhin, um unauffällig Beweise zu sammeln. Als die Uhr sie vom Zaubertrankunterricht erlöste, war er Zeuge einiger interessanter Szenen geworden. So hatte Snape, als er durch die Reihen gegangen war, die Kessel der Slytherins ebenso wenig gewürdigt wie die der Gryffindors. Und als der Versuchsvogel nach einem Tropfen von Crabbes Trank einen Erstickungsanfall erlitt, hatte Harry aus dem Augenwinkel erhaschen können, wie Snape eine Null in seinem Notizbuch vermerkte.
Harry ordnete noch immer seine Gedanken als sie aus dem Klassenzimmer strömten. Eines musste er zugeben: Snape hatte sich in dieser Stunde zwar nicht sonderlich nett verhalten – aber er war unparteiisch gewesen. Und das war so außergewöhnlich wie ein Dursley, der zaubern kann. Hatte das alles nur etwas mit Umbridge zu tun, wie Snape angedeutet hatte oder hatte sich der Tränkemeister tatsächlich geändert?
„He, Harry, alles klar mit dir? Man hätt fast meinen können, dir hät‘ jemand nen Schweigezauber verpasst“, ertönte Rons Stimme neben ihm als sie die Wendelttreppe betraten.
Doch Harry schüttelte nur den Kopf: „Alles in Ordnung“.
Er mochte mit seinen Freunden nicht über seine Gedanken reden – noch nicht.
Die Zeiger der Kaminsimsuhr schritten einmal mehr grauenvoll langsam voran, als Harry im Gryffindorturm darauf wartete, dass es sechs wurde. Er warf einen Blick zu Hermine herüber, die leise vor sich hin murmelnd ein Buch nach dem anderen hastig durchblätterte und es dann auf einen Stapel warf. Für einen Moment kam es Harry so vor als würde er in einen Spiegel blicken. Denn genauso nervös und ungeduldig wie sie zwischen den Büchern herumfuhr, fühlte auch er sich. Gerade als ihm ein leises „Accio“ ans Ohr drang, auf dessen Folgewort er nicht mehr hörte, rückte der große Zeiger auf die zehn.
„Ich bin dann mal weg“, rief Harry Hermine zu, die sich gerade tief ausatmend gesetzt hatte und verständnislos den Bücherstapel betrachtete. Er lief die Treppe hinab, wo ihm Ron entgegenkam, passierte das Porträtloch und trat in den Flur. Dann, noch während die Fette Dame zurückklappte, hielt Harry inne. Vor einer Woche hatte Drawfeather ihn genau an dieser Stelle abgepasst, um ihm Snapes Absage zu überbringen. Wartete er vielleicht auch heute wieder irgendwo im Schatten auf ihn? Vorsichtig spähte Harry den Korridor hinab. Doch er konnte nirgendwo etwas von dem schmächtigen Erstklässler sehen und auch von keinem anderen Slytherin. Nur der Schatten einer Katze huschte die Wände entlang. Also meinte Snape es diesmal ernst, dachte Harry und setzte nachdenklich einen Fuß vor den anderen. Die Frage, was ihn erwarten würde, schwebte über ihm wie die zahllosen Porträts an den Wänden, die einen in Hogwarts ständig beobachteten.
Doch was immer Harry auch erwartet oder befürchtet hatte: Es blieb aus. Das Treffen mit Snape war fast so schnell vorüber, wie es angefangen hatte. Er stellte Harry nur ein paar Fragen zu eventuellen Visionen in den letzten Tagen, die Harry verneinte; hakte auf einer Liste, die Harry nicht sehen konnte ein paar Dinge ab; mahnte ihn der Einnahme des Okkluserums und zum Fortfahren der nächtlichen Übungen und entließ Harry mit der Ankündigung, dass sie nach Sichtung der Sachlache den Okklumentikunterricht nächste Woche wohl fortsetzen könnten, wenn alles so bliebe wie bisher. Falls Harry jedoch wieder eine Vision hätte, solle er sich umgehend bei ihm melden und gewarnt sein, dass er herausfinden würde, falls er dies unterlasse. Harry hatte kaum Zeit, sich irgendwelche Gedanken über Snapes Verbot bezüglich Hogsmeade und der Dinge, die er dort beobachtet hatte, zu machen, da fand er sich auch schon vor der Bürotüre auf halber Höhe der Kerkerwendeltreppe wieder. Und alles, was an diesem Abend noch passierte, war, dass ihm genau dort Draco Malfoy entgegenkam, ihn zuerst verwundert musterte, dann mit einem gehässigen Grinsen anrempelte und Gryffindor 10 Hauspukte abzog, während er die Treppe zu den Räumen der Slytherins hinab lief.
So wie die Woche begonnen hatte, sollte sie sich auch fortsetzen. Es verging ein ruhiger Dienstag, an dem kaum etwas Ungewöhnliches passierte, außer dass Hermine einen merkwürdig rabiaten Umgang mit ihren Büchern pflegte, Lee Jordan sich aus irgendwelchen Gründen ein Verbot eingehandelt hatte, die Quidditch-Matches weiterhin zu kommentieren und Ron dem Spiel am Wochenende gelassener entgegen zu sehen schien als Harry vermutet hätte. Doch als sie am Mittwochmorgen auf die erste Schulstunde warteten, geschah etwas, das nicht so ganz in die Alltäglichkeiten von Hogwarts passen wollte…
„Sag mal, hast du das gerade auch gehört?“
Harry stand im Rundgang des Nordturms und reckte seinen Kopf hinauf zur altbekannten Falltür in der Decke. Seit März war er nicht mehr hier gewesen. Doch da Firenze übers Wochenende erkrankt war, hatte Umbridge in Ermangelung eines besseren Kandidaten Trelawney unter strengen Auflagen erlaubt, die Vertretungsstunde zu übernehmen. Müde scharten sich die Wahrsageschüler unter ihrem Klassenzimmer, tuschelten, drehten Däumchen und kritzelten letzte Worte auf ihre Pergamentrollen, in der Hoffnung, eine gute Note zu erhalten. Doch Trelawney schien an diesem Morgen bei Weitem nicht nur mit der Vorbereitung ihrer Schulstunde beschäftigt zu sein. Neben den schweren Düften, die durch die Ritzen zu ihnen herab drangen, nahm Harry noch etwas anderes wahr, das hinter dieser Türe vor sich ging. Etwas sehr Verdächtiges.
„Was meinst du?“, gähnte Ron und blickte ihn schlaftrunken an.
„Ich glaube, da ist wer bei Trelawney. Ich hab Stimmen gehört. Da, schon wieder… Nein!“
Harry wandte sich ärgerlich zu Lavender und Parvati um, die hinter ihm geschwätzt hatten und nun in lautes Kichern ausgebrochen waren. Es herrschte viel zu viel Lärm auf dem Flur, um auch nur ein Wort zu verstehen.
„Vielleicht Umbridge?“, fragte Ron.
„Möglich, aber es klang nicht danach.“
Schnell griff Harry in seine Tasche, zog ein gefaltetes Pergament heraus und tippte es mit dem Zauberstab an.
„Ich schwöre feierlich, ich bin ein Tunichtgut“
Ron blickte ihm über die Schulter, während die vielen, kleinen schwarzen Namen wie Ameisen auf dem Papier erschienen.
„Hä?! Wer ist denn bitteschön Larvatus McPire?“
„Kein Ahnung“, antwortete Harry und starrte den Punkt verwundert an, „Missetat begangen“
„Wart mal“, meinte Ron und wandte sich kurz von ihm ab, „Du bist nicht der Einzige, der was Nützliches von meinen Brüdern dabei hat. Hier, die haben sie mir geliehen, damit ich die Ravenclaws ausspionieren kann. Hab sie natürlich nicht benutzt. Ähm, also noch nicht.“
Harry kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen, da hielt er schon ein Langziehohr in den Händen und musterte es skeptisch.
„Meinst du wirklich das geht gut? Hier vor der ganzen Klasse?“
Er warf den Mädchen einen flüchtigen Seitenblick zu.
„Wir müssen sie natürlich verstecken“, sagte Ron.
Sie blickten einander an und eine Sekunde später schwebten mit einem Wingardium Leviosa die Langziehohren unter dem Tarnumhang zur Falltüre hinauf.
Gespannt begann Harry zu lauschen.
Im ersten Moment erinnerte ihn das Gespräch an einen lockeren Kaffeeklatsch. Trelawney lachte und Harry erkannte das Geräusch von Wasser, das in Tassen gegossen wurde. Doch irgendetwas, Harry konnte nicht sagen, was, trübte dieses Bild heiterer Stimmung.
„Schön, sehr schön“, sagte eine männliche Stimme, die ihm gänzlich unbekannt war, „Dann darf ich annehmen, dass bei Ihrer exzellenten Abstammung auch die eine oder andere bekannte Prophezeiung von Ihnen existiert?“
„Oh, aber gewiss, gewiss“, antwortete Trelawney und Harry wusste, dass der Unbekannte damit offene Türen einrannte.
„Wirklich?“, lachte dieser und klang ein wenig überdreht, „Nun, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn Sie - Verzeihen Sie, Ich bin so furchtbar neugierig – also wenn Sie mir vielleicht mehr darüber berichten könnten? Man hat doch selten die Gelegenheit, mit einer wahrhaft begabten Seherin zu sprechen.“
Harry wunderte es kein bisschen, dass im nächsten Augenblick die Stimme der Wahrsagelehrerin voller Entzücken klang. McPires Worte hatten etwas von süßem, klebrigem Honig und Harry konnte sich Trelawneys Gesicht lebhaft vorstellen.
„Oh, aber nicht doch, Mister Lackbuyer. Es gibt zu wenige, die meine Fähigkeiten wirklich zu schätzen wissen. Wir Seher sind seit jeher verkannt. Zum Unglück, ja, großem Unglück.“
Mit den letzten Worten brach Trelawneys Stimme und ein Hauch von Schwermut klang hindurch.
„So?“, fragte McPire leise, doch neugierig. Dann begann Trelawney zu erzählen.
„Sie müssen wissen, vor ein paar Jahren sah ich bei einem Schüler den Grimm. Ein schreckliches, böses, furchtbares Todesomen. Ich warnte den Schulleiter, ich warnte die Kollegen. Nicht, dass ich drauf gehofft hätte, dass man mir glauben würde. Ich hatte es ja vorausgesehen, dass man mich ignorierte. Und so kam es auch. Und nun stellen Sie sich vor, der arme Junge – er starb letztes Jahr, hier auf dem Schulgelände!“
„Nein, wie tragisch!“, rief McPire.
Und Harry runzelte die Stirn. Der Tonfall des Mannes hatte es völlig an der Betroffenheit missen lassen, die seine Worte vorgaukelten. Was ging hier eigentlich vor sich?
„Und… und gibt es noch weitere berühmte Prophezeiung von Ihnen? Welche, die vielleicht erhört worden sind?“
McPire fragte ganz vorsichtig, doch mit einem Unterton unverkennbarer Gier. Trelawney schwieg für einen Augenblick.
„Nun.. nun ja“, antwortete sie dann ein wenig irritiert, „Man hat mich einmal auf etwas angesprochen, das ich vorausgesagt haben soll. Aber ich kann mich nicht erinnern.“
„Ach, schade!“, rief McPire fast ärgerlich um dann für einen Moment zu verstummen, „Nun ja, wie dem auch sei. Das ist ja eigentlich auch nicht der Grund, weswegen wir hier sind, nicht wahr? Also kommen wir zur nächsten Frage. Gibt es unter ihren Schülern denn besondere Talente? Sagen wir zum Beispiel… nun ja wen nehmen wir denn… vielleicht den berühmten Harry Potter. Zeigt er oder vielleicht ein anderer Schüler besondere Begabung für dieses Fach?“
Harry war kurz zusammengezuckt, als sein Name gefallen war. Doch ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Ron stupste ihn plötzlich von der Seite an: „Du, ich glaub, ich weiß, wer das ist.“
Verblüfft wandte Harry sich um und starrte ihn an, während Tralewney etwas von rar gesätem Talent faselte.
„Ich glaube, der ist von der Prüfungskommission“, erklärte Ron, „Die gehen wohl diese Woche zu allen Lehrern und besprechen die ZAGs und UTZs. Am Schwarzen Brett hing ein Aushang dazu. Aber Mann, ich hätte echt nicht gedacht, dass die so viel wissen wollen.“
Harry blickte schweigend wieder nach oben. Er erinnerte sich dunkel an das unscheinbare Plakat, das er nur überflogen hatte. Also gab es eine ganz einfache Erklärung für diesen Besucher. Doch warum fühlte sich Harry dann so seltsam? Der Mann hatte etwas äußerst Unsympathisches an sich. Harry musste plötzlich an unschuldige Kleinmädchenstimmen und niedliche Kätzchen auf rosa Porzellantellern denken.
„Wie verhält es sich denn mit Ihren Kollegen?“, fuhr McPire fort, „Tauschen Sie sich über die Leistungen Ihrer Schüler aus? Gibt es fächerübergreifenden Unterricht? Kooperieren Sie miteinander, gestalten Sie gemeinsame Stunden? Ich denke da beispielsweise an Ihren Kollegen für Zaubertränke. Wie hieß er noch gleich? Ah, Mr. Severus Snape. Zwischen Teilgebieten des Wahrsagens und Teilgebieten der Zaubertrankkunde bestehen ja doch einige Schnittstellen, ich denke da an nun sagen wir bewusstseinserweiternde Tränke. Hat Professor Snape Sie deswegen schon einmal aufgesucht oder über andere Themen ihres Fachs gesprochen oder Ihrer Begabung oder Ihre Schüler?“
Die letzten Worte hatten einen unverkennbaren Unterton von Ironie. Doch Trelawney klang absolut ernst, als sie antwortete.
„Oh nein, Professor Snape und ich, wir meiden einander. Und falls wir uns einmal über den Weg laufen - das heißt wenn ich es zulasse, denn natürlich weiß ich, wann dies geschehen wird -
so ist er äußerst unfreundlich. Ja, ich darf sagen, er beneidet mich. Denn in gewisser Weise sind wir Konkurrenten.“
Harry und Ron tauschten irritierte Blicke.
„Als ich mich um diese Stelle bewarb, war auch Professor Snape ganz scharf auf sie. Versuchte sogar mein Vorstellungsgespräch zu torpedieren. Aber der Schulleiter erkannte selbstverständlich das wahre Talent, als es vor ihm saß und so geschah, was gar nicht anders geschehen konnte, dass ich diese Stelle bekam.“
„Ach, was Sie nicht sagen“, sprach McPire, doch er klang sonderbarerweise kein bisschen überrascht dabei, „Nun, dann darf man Sie wohl beglückwünschen.“
Er lachte und Trelawney stimmte mit ein.
„Alter Kesseldieb“, meinte Ron und zog sich den Stöpsel aus dem Ohr, „Ich wusste ja, dass Trelawney nicht alle Tassen im Schrank hat. Aber ich glaube, allmählich hat sie wirklich ein wenig zu viel von ihren Düften abgekommen. Snape und Wahrsagen.“
Harry vernahm mit halbem Ohr noch etwas von Verteidigung gegen die Dunklen Künste und Ausgang, dann waren plötzlich Schritte zu hören.
„Achtung, sie kommen!“, rief er Ron zu.
In Windeseile holten sie die Langziehohren ein und wichen von der Türe zurück, da wurde diese auch schon hochgezogen. Über die silberne Leiter kam ein hagerer Zauberer mit einem auffallend rubinroten Dreispitz herabgeklettert. Als er seinen Fuß auf den Erdboden setzte und sich zum Gehen umwandte, blickte Harry in ein eingefallenes Gesicht mit trüben, grünen Augen und einem großen, goldblonden Schnauzbart unter einer adlerhaften Hakennase.
„Ah, guten Morgen, die Herren“, sagte der Mann und lächelte. Es war eiskalt. Reflexartig griff sich Harry an die Stirn und strich sich sein Haar ins Gesicht.
„Nun denn, viel Erfolg für Ihre Prüfungen“, sagte McPire und zuckte plötzlich mit dem Kopf wie ein Hund, der mit seinem Halsband kämpft.
Die Klasse schwieg, nachdem der Mann zum Gruß seinen Hut gezogen hatte und nun steif wie eine Ritterrüstung an ihnen vorüberschritt.
„Merkwürdiger Typ, dieser Larvatus McPire“, meinte Ron und starrte ihm hinterher, „Komm, lass uns gehen, Harry“
Und schweigend folgte Harry seinem besten Freund die Strickleiter zu Trelawneys Turmzimmer hinauf. Er konnte Ron bei all dem Lärm nicht sagen, dass er für einen Augenblick ein Gefühl gehabt hatte, das ihn frösteln lies. Das Gefühl, dass dieser Mann direkt und sehr bewusst auf seine Blitznarbe gestarrt hatte.
Die schwüle, stickige, von indischen Düften getränkte Luft; das weiche Licht, das hier und da von Bodentischen aufstieg und das leise Murmeln und Flüstern, das ihn überall umgab hatten Harrys bald völlig eingelullt. Dösig wie er war, stand er immer wieder kurz davor, sanft in die Traumwelt abzugleiten. Und er wäre wohl auch eingeschlafen, wenn er sich nicht jedes Mal wieder am Riemen gerissen und gezwungen hätte, die Augen offen zu halten.
Trelawney, die hin und wieder von ihrem Tee aufstand und in ihren bunten Gewändern zwischen den Sitzkissen und Tischen hin und her schwebte, erinnerte Harry bald an einen bunten Schmetterling, der durch ein sonderbares Paradies flatterte. In seinem Kopf mischten sich all die Eindrücke, die an diesem Morgen auf ihn eingeströmt waren zu sonderbaren Traumbildern. Er sah Snape, der Trelawney in diesem Zimmer prophezeite, dass Harry bei ihr kein Wahrsagen lernen würde, weil er auch Okklumentik nicht beherrsche. Und Trelawney weinte, weil sie fürchtete, dass Dumbledore sie nicht einstellen würde. Und dann kam plötzlich McPire die Strickleiter herauf, denn er hatte wie Harry und Ron unten im Flur das Gespräch belauscht. Und er starrte Harrys Blitznarbe an und Harry rannte zu den Ausgängen der Schule. Doch er kam nicht hinaus, weil Umbridge sie alle mit Zaubern belegt hatte. Und nur Ron stand vor dem großen Eichenportal mit einem Langziehohr und meinte: „Der ist von der Prüfungskommission, Harry, vom Ministerium“.
Vom Ministerium – dieser Gedanke wollte Harry nicht loslassen, selbst als die Stunde schon weit vorangeschritten war und er unter dem wabernden, nebligen Licht der Wahrsagekugel gegen das Einschlafen kämpfte. Müde rieb Harry sich die Augen und verscheuchte seinen Tagtraum. Dann blickte er hinab auf das Set ausgebreiteter Spielkarten und versuchte aus Pik-As und Herzdame irgendetwas über seine Zukunft herauszulesen - ihre Aufgabe für heute.
„Glaubst du, es klingt zu verrückt, Ron, wenn ich schreibe, dass die Anordnung der Karten bedeutet, dass Snape gegen meine Mutter kämpfen wird?“, flüsterte Harry träge.
Doch auf seine Frage folgte keine Antwort.
Verwundert blickte Harry auf und erspähte durch den gebrochenen, bläulichen Dunst der Wahrsagekugel, dass Ron mit etwas ganz anderem beschäftigt war als mit irgendwelchen verrückten Vorhersagen. Auf der Satindecke vor ihm lag ein aufgeschlagenes Buch und es schien keine Schullektüre zur Wahrsagerei zu sein.
„Was hast du denn da?“, fragte Harry neugierig.
Noch immer ohne ein Wort zu sagen hob Ron das Buch an, so dass Harry den Titel auf dem blauen Einband lesen konnte.
DIE MAGIE DER GELASSENHEIT - RATGEBER FÜR LAMPENFIEBERGEPLAGTE HEXEN UND ZAUBERER
„Hat mir Hermine aus Bibliothek mitgebracht. Wegen naja du weißt schon dem -“ plötzlich hielt Ron inne und starrte hinunter auf das Buch, „Was ist denn das?“
Verwundert lugte Harry über die Kugel zwischen ihnen zu Ron hinüber. Durch das Hochheben des Buches war ihm ein Flugblatt in den Schoß gefallen. Und Harry fiel es wie Schuppen den Augen. Er erkannte es wieder. Dies war das Buch, über das er am Sonntag gestolpert war. Dies war das Flugblatt, das er hastig dort hinein gelegt hatte.
Irritiert nahm Ron es in Augenschein und begann laut vorzulesen:
„Zaubereiministerium. Infobroschüre für Besucher. Zaubereiministeriumszentrale – Abteilung für magische Strafverfolgung – Abteilung für magische Unfälle und Katastrophen – Abteilung zur Führung und Aufsicht magischer Geschöpfe – Abteilung für Internationale Magische Zusammenarbeit – Abteilung für Magisches Transportwesen – Abteilung für magische Spiele und Sportarten – Atrium – Mysteriumsabteilung – Gerichtssäle. Unterabteilungen teilweise aufgeführt. Oh, sieh mal, da ist sogar eine Karte, die sich verändert, wenn man mit dem Zauberstab aufs Stockwerk tippt. Ich frage mich, wie das in mein Buch kommt.“
„Ich glaube, ich weiß es“, gestand Harry kleinlaut und erzählte Ron die ganze Geschichte.
„Ach, darum“, entgegnete dieser, während Harry zu ihm herüberrückte. Eigentlich hatte er die Broschüre näher in Augenschein nehmen wollen. Doch stattdessen blickte er nun Ron fragend an.
„Vorgestern, als du bei Snape warst“, begann dieser zu erklären, „Da ist Hermine wie verrückt im Gemeinschaftsraum rumgewuselt, hat zig Aufrufezauber ausgeführt, ihre ganze Tasche auf dem Tisch verteilt und etwas von ‚wo ist es nur?‘ gemurmelt. Ich hab sie gefragt, ob sie irgendwas suche, aber sie hat nein gesagt, obwohl es offensichtlich war. Wahrscheinlich war’s das hier. Kein Wunder, dass sie’s nicht finden konnte. Ich hat das Buch in der Umkleide vergessen und hab’s erst gestern vorm Frühstück geholt. Zum Glück hatte es das Inquisitionskommando noch nicht gefunden…. Hmm, was glaubst du, was sie damit wohl wollte?“
„Keine Ahnung“, antwortete Harry. Doch dann hielt er plötzlich inne. „Moment, wart‘ mal!“
Sein Blick war auf die Karte gefallen, die die Etagenpläne des Ministeriums zeigte und der Schriftzug „Mysteriumsabteilung“ leuchtete grünlich auf wie die Stockwerksanzeige eines Fahrstuhls. Und da erinnerte Harry sich. Erinnerte sich an eine Okklumentikstunde vor langer Zeit. Die Stunde, in der ihm bewusst geworden war, dass er von der Mysteriumsabteilung geträumt hatte. Dass Arthur Weasley dort angegriffen worden war. Dass dies die Tür war, die der Orden des Phönix bewachte.
Ein Schatten von Trelawneys Silhouette, die gerade am Fenster vorbeischritt, glitt über Harrys Augen als ihm wieder die Frage auf den Lippen lag, die er Snape gestellt hatte – ohne eine Antwort zu erhalten:
„Was befindet sich in der Mysteriumsabteilung?“
„In der Mysteriumsabteilung?“, wiederholte Ron, während Harry mit seinem Zauberstab den grün leuchtenden Schriftzug antippte. Er hoffte, dass er Einsicht in die Unterabteilungen bekommen würde. Doch nichts geschah.
„Keinen blassen Schimmer“, schloss Ron.
Überrascht blickte Harry auf.
„Hat dir dein Vater denn nie was über die Mysteriumsabteilung erzählt?“
„Naja“, sagte Ron, „Was in der Mysteriumsabteilung vor sich geht, ist alles streng geheim. Keiner weiß, was die dort wirklich machen. Nicht mal Dad. Harry, denkst du etwa, dass Hermine deswegen… also ich meine, weil ich neulich nach der Waffe gefragt hab, die die bewachen?“
„Ich denke schon. Sie war in den letzten Wochen dauernd in der Bibliothek. Aber Bücher hat sie keine mitgebracht, oder?“
Ron machte eine Gedankenpause und lächelte versonnen.
„Hermine ist schon echt ne Nummer, nicht wahr? Uns sagt sie, wir sollen uns nicht in die Gefahr stürzen und dann recherchiert sie hinter unserem Rücken heimlich übers Ministerium. Auch wenn sie wenig Glück gehabt haben dürfte. Die Leute, die da arbeiten stehen unter Schweigepflicht. Wie gesagt alles streng geheim. Was glaubst du, warum sie nichts gesagt hat, Harry?“
„Keine Ahnung“
Für eine Weile schwiegen sie sich an. In dieser Zeit dachte Harry angestrengt darüber nach, was man wohl für eine Waffe in einer so geheimen Abteilung verstecken konnte. Doch weder die Wahrsagekugel noch die Spielkarten wollten Harry eine Antwort darauf geben. Schließlich gab er auf, darüber nachzudenken.
„Hilft das Buch denn wenigstens?“.
Ron betrachtete noch immer die Broschüre und strich zärtlich über das Papier.
„Ich denke schon. Stehen jedenfalls ein paar gute Tipps drin“, flüsterte er abwesend, „Eigentlich müsste man ihr böse drum sein, nicht wahr?“
Doch Ron klang nicht so, als ob er Hermine böse wäre. Seine Stimme hatte viel mehr etwas Schwärmerisches und in seinen Augen lag ein verräterisches Glitzern.
Verträumt wandte Harry den Blick zu den Turmfenstern, wo dicke Puderwolken an einem leuchtenden Sommerhimmel vorüberzogen.
Quidditch, dachte er wehmütig – wie gerne würde er sich selbst wieder auf einem Besen in die Lüfte schwingen…
„Und da kommt Cho Chang. Sie ist eine gute Spielerin für unser Haus. Aber ich mag sie nicht besonders, denn sie ist mit Verrät-“
„Es reicht, Miss Lovegood!“
Wütend drängte Professor McGonagall die Schüler vor sich beiseite, stapfte sich ihren Weg bahnend über die Tribüne und riss Luna den magischen Lautsprecher aus der Hand. Unter den Rufen der Ravenclaws, dem Gröhlen der Gryffindors, dem Händeklatschen der Hufflepuffs und dem Spottliedern der Slytherins verkündete sie laut, dass Miss Lovedood leider unpässlich sei und sie das Spiel daher selbst kommentieren würde.
„Und nun ist Ravenclaw im Quaffelbesitz, welch ein spannendes Match“, erschallte ihre Stimme bis ein hauchzartes „chrm chrm“ sie unterbrach.
Im nächsten Augenblick war im gesamten Stadion eine Kleinmädchstimme zu hören, die säuselnd erklärte, dass es gegen Klausel 65c verstoße, wenn eine Lehrkraft das Quidditch-Match kommentiere und dies das Amt eines erwiesenermaßen unparteiischen Schülers sei. Sie ernannte Pansy Parkinson zur Stadionsprecherin. Und Harry seufzte.
Wie schwer es ihm fiel, bei diesem Match nur zuzuschauen. Wie schwer es ihm fiel, Ginny das Feld zu überlassen, die seiner statt nach dem Goldenen Schnatz suchte und ihm gerade zuwinkte. Trübsal hing wie eine schwere, dunkle Novemberwolke über Harry. Alles hier erinnerte ihn daran, was Umbridge ihm auferlegt hatte. Lebenslanges Spielverbot. Lebenslang. So sehr verdüsterte dieser Gedanke Harrys Stimmung, dass nicht einmal Pansy Parkinsons Lästereien ihn kümmerten. Er hatte zum ersten Mal eine leise Ahnung davon, wie es Ron wohl ergehen musste, im Schatten des berühmten Jungen zu stehen, der lebt. Am liebsten wollte Harry sich das Drama gar nicht ansehen, einfach vergessen, dass es so etwas wie Quidditch überhaupt gab. Doch das konnte er Ron nicht antun. Ron, der Hermines schlauem Büchlein zum Trotz ein Nervenbündel war, das seinesgleichen suchte. Ron, der zitternd auf seinem Besen saß, während der Chor der Slytherins lauthals „Weasley ist unser King“ gröhlte.
Die Ravenclaws schossen über das Feld, der Quaffel sauste auf die Ringe zu.
„Los, du packst das, Ron!“, schrie Harry.
Doch der Ball ging durch.
Finster warf Harry Hermine einen Seitenblick zu. Sie hatte die Lippen aufeinander gepresst und setzte sich stocksteif wieder auf die Bank. Keiner von beiden sagte ein Wort. Es war der zweite Ball, den Ron nicht aufgehalten hatte. Die Attacke der Ravenclaws war hart und Harry zweifelte daran, dass sein bester Freund in seiner Nervosität eine Chance hatte. Auch wenn er Ron etwas anderes vorgaukelte. Bald schon versank Harry in Erinnerungen, um sich von dieser düsteren Stimmung abzulenken.
Er ließ die Woche Revue passieren. Hermine hatte schon am Mittwochabend zugegeben, tatsächlich über die Mysteriumsabteilung recherchiert zu haben. Und wie Ron vermutet hatte, hatte sie darin keinen Erfolg gehabt. „Das hätte doch nichts gebracht, was hätte ich euch denn erzählen sollen“ war ihre Antwort auf die Frage gewesen, warum sie sie nicht eingeweiht hatte. Doch Harry vermutete insgeheim, dass sie sich dafür schämte, nichts herausgefunden zu haben. Die Stunde bei Snape am Donnerstag war wieder recht ruhig verlaufen. Der Tränkemeister hatte die Slytherins nachwievor mit derselben Gleichgültigkeit behandelt wie die Gryffindors und Harry sogar wieder ein „annehmbar“ auf seinen Zaubertrank gegeben. Ja, es schien tatsächlich so, als habe Snape sich eine mürrische Form von Fairness angewöhnt. Ob das wohl auch gerade in diesem Moment galt? Verstohlen warf Harry einen Blick über das Feld. Snape saß zwischen den gröhlenden Slytherins, ungewohnt in Grün und machte keine Anstalten, ihrem Spott Einhalt zu gebieten. Doch er sang auch nicht mit, noch lächelte er hämisch. Es schien mehr, als hätte er beschlossen, vom ganzen Spiel keine Notiz zu nehmen. Ganz ähnlich wie Harry selbst. Harry seufzte und ließ seine Gedanken weiter gleiten zu Trelawney, zu McPire, zu Umbridge, deren Unterricht schlimmer gewesen war als der von Professor Binns, zu Draco, der am Freitag mit seinem Chor direkt vor dem Gryffindorturm Stellung bezogen hatte und zu Peeves, wegen dem sie heute Morgen fast zu spät ins Stadion gekommen wären.
So saß Harry noch immer in seine Gedanken vertieft, als ihn plötzlich jemand von hinten ansprach.
„He, ihr beiden, hab ich euch doch noch gefunden!“
Harry horchte auf, lächelte und sprang von der Bank.
„Hagrid!“, rief er, fuhr herum - und erschrak. Das bärtige Gesicht war mit Wunden übersät, auf die sein Besitzer ein großes Stück Drachenfleisch drückte.
„Ja, der bin ich“, sagte Hagrid, bevor Harry dazu kam, sein Entsetzen in Worte zu fassen, „Hab schon befürchtet, ihr kennt mich gar nicht mehr. So selten wie man euch zu Gesicht bekommt!“
„Tut uns leid“, meinte Hermine hastig, „Aber die ZAGs…“
Hagrid versuchte zu lächeln, hatte aber sichtlich Schmerzen dabei.
„Na kommt her, lasst euch drücken! Aber passt auf, das ich euch nicht volltropfe.“
„Was ist mit dir passiert?“, fragte Harry, nachdem Hagrid ihn wieder aus seiner Umarmung freigegeben hatte. Doch dieser legte nur seinen Finger an die Lippen.
„Schschsch… später, Harry. Ich würde euch gerne etwas zeigen. Kann sein, dass ich nicht mehr viel Zeit dafür haben werde“.
„Hagrid“, seufzte Hermine und schnickte mit dem Kopf hinauf zu den Ringen, wo Ron vor dem nächsten Quaffel zitterte.
„ja, ja, ich weiß. Aber Ist wirklich dringend, echt. Muss nämlich alles heimlich geschehen. Und jetzt, wo alle abgelenkt sind… Würd euch sonst nicht hier wegholen wenn’s anders ginge. Ron packt das schon. Ganz sicher.“
„Na gut“, sagte Harry nach langem Überlegen und spürte doch, wie ihn sein Gewissen drückte. So sehr er sich auch hier wegwünschte, war er Ron die Unterstützung doch schuldig.
Hagrid aber lächelte.
„Dank dir, Harry. Na, dann kommt mal mit“
Und schwerfällig duckte Hagrid sich zwischen die Bänke, um ebenso unbemerkt zu verschwinden, wie er erschienen war. Hermine folgte ihm. Harry warf noch einen letzten Blick zu den Ringen hinauf.
„Viel Glück, Ron!“, flüsterte er ohne beachtet zu werden. Dann wandte er sich um und schlich mit dem beiden aus dem Stadion...
„Oh Mann, Hagrid hat ja wirklich eine sympathische Familie“, keuchte Hermine schwer, als sie in der späten Nachmittagssonne aus dem Verbotenen Wald zurückkehrten, „Allmählich geht das echt zu weit.“
„Er ist sein Bruder“, flüsterte Harry, „Er kann ihn doch nicht einfach im Stich lassen“
„Ja, aber… Harry, wir können uns nicht um ihn kümmern. Grawp versteht kaum ein Wort und hast du vergessen, wie Hagrid ausgesehen hat? Ich meine, wenn selbst der nicht mit ihm zurechtkommt – wie sollen wir das dann?“
Harry schwieg, denn auch er wusste keine Antwort auf diese Frage.
Sie kamen am Quidditchfeld vorbei und warfen einen kurzen Blick hinein. Doch kein Jubelgeschrei, kein Anfeuern oder Ausbuhen drang ihnen entgegen. Das Spiel war vorbei, das Stadion wie leergefegt. Nur Argus Filch schleppte sich grummelnd über das Feld und sammelte mit einem Müllpiker glitzernde Bonbonpapiere, leere Schokofroschpackungen, vergessene Banner und Wimpel und ein paar ausgebrannte Knallkörper auf.
„Was glaubst du, wer gewonnen hat?“ fragte Harry.
Doch diesmal war es Hermine, die schwieg.
Und so machten sie sich auf den Weg zum Schloss zurück, bedrückt und ohne viele Worte gewechselt zu haben.
Sie hatten das Eichenportal fast erreicht als Hermine plötzlich aufhorchte.
„Oh nein“, sagte sie.
Und dann hörte Harry es auch. Von irgendwoher drang ihnen ein lauthals gegröltes „Weasley ist unser King“ entgegen. Harry spürte, wie es seinem Herz einen Stich versetzte. Doch dann..
„Wart mal, Hermine… das… das sind nicht die Slytherins. Das sind wir!“
Ganz klar konnte Harry jetzt hören, dass der Chor „…Hütet nämlich jeden Ring. Und wir Gryffindors nun sing‘…“ gröhlte. Sein Herz machte einen Sprung vor Freude und er strahlte wie die Sonne. Sie rannten los und nach der nächsten Biegung hatten sie ihre Hauskameraden eingeholt. Bald waren sie umgeben von einem Meer aus rot-goldenen Schals, Plakaten und Konfetti, aus Jubelgeschrei und erhobenen Händen. Und die höchste Welle trug Ron wie einen Surfer aufs Schloss zu. Mit einem seligen Lächeln hielt er den Pokal fest umklammert und lachte von den vielen Händen getragen: „Passt auf, das kitzelt“.
Für einen Moment verharrten Harry und Hermine und sahen, wie Ron sich böse den Kopf stieß, als das Meer durchs Eichenportal brandete.
„Wir behalten unsere Neuigkeiten bis morgen für uns, oder?“, sagte Harry.
„Ja, von mir aus“, sagte Hermine matt. „Ich hab‘ s nicht eilig.“
Und sie folgten den Gryffindors zum Turm hinauf. Die Siegerparty sollte bis in die Nacht hinein dauern.
„Was meinst du wohl, wie Ron das geschafft hat?“, fragte Hermine leise, als die Gryffindors ihren vom Spiel erschöpften Helden zu Bett getragen hatten. Doch es war nicht Harry, der antwortete.
„Na…naja, als ihr weg wart, da hat Angelina ihm geholfen“.
Erschrocken fuhren Harry und Hermine auf. Sie hatten sich extra weit abseits der Feiernden auf Sitzkissen vor der Bücherwand niedergelassen, um nicht belauscht zu werden und dabei gar nicht bemerkt, dass jemand ganz in der Nähe stand.
„Neville!“, rief Hermine entsetzt, „Du hast uns gesehen?!? Gesehen, wo wir hingegangen sind?“
„Ja. Das heißt, also, ich hab nur gesehen, dass ihr da wart und dann auf einmal weg. Mehr nicht.“
Hermine atmete tief auf und Harry musterte das gerötete Gesicht seines Mitschülers.
„Neville“, sprach er schließlich, „Sag mal, kannst du uns vielleicht alles erzählen, was wir verpasst haben?“
Und so saß Neville bald zwischen ihnen und berichtete vom Match.
„…Und dann als alle abgelenkt waren ist Angelina zu ihm hoch und hat einen Zauber auf ihn gesprochen. Einen Taubheitsfluch oder sowas. Jedenfalls ist er dann nicht mehr zusammengezuckt, wenn die Slytherins gesungen haben.“
„Hat das denn niemand von den Lehrern gesehen?“, fragte Hermine verwundert.
„McGonagall und Snape – glaub ich.“
„Und die haben nichts getan?“
„McGonagall hat so getan, als hät sie nichts gesehen, hat sich ganz schnell weggedreht. Und Snape hat die Augen aufgerissen und die Stirn gerunzelt. Aber getan hat er auch nichts. Das war echt komisch.“
Harry und Hermine tauschten verwunderte Blicke.
„Naja, dann kam schon der nächste Quaffel und den hat Ron gehalten und so ging’s dann weiter…“
Harry lauschte Neville aufmerksam, bis dieser aufgehört hatte, zu berichten. Dann fiel ihm auf einmal etwas ein.
„Was ist eigentlich mit den Ravenclaws geschehen?“
Als er den Gryffindors ins Schloss gefolgt war, hatte Harry hier und da noch ganze Scharen von Slytherins und Hufflepuffs gesehen, die zu den Kellern hinab geströmt waren. Aber nirgendwo auch nur einen einzigen Banner in Blau und Bronze. Und das erschien Harry reichlich sonderbar.
„Was meinst du?“, fragte Neville und starrte ihn verdutzt an.
„Sie waren nicht im Schloss vorhin.“
„Ach so das. Ja, Flitwick hat die glaube ich alle zu irgendwas eingeladen als Trost. Weiß nicht genau, was die gemacht haben. Luna hat’s mir nur kurz erzählt, als der bei Umbridge war, um sich eine Genehmigung zu holen. Das gab wohl nen ganz schönen Streit auf der Tribüne zwischen den Lehrern. Und naja, dann sind die Ravenclaws in Richtung See raus und die Hauslehrer auch, nachdem Umbridge weg -“
Plötzlich gähnte Neville schwer.
„‘tschuldigung, weg war.“
Als Neville sprach, spürte auch Harry, dass auch ihm die Lider allmählich schwer wurden. Er half seinem Freund hoch, wünschte Hermine eine gute Nacht und machte sich auf in den Jungenschlafsaal, wo Ron bereits in tiefem Schlaf lag. Während Nevilles Schnarchen sich zu dessen gesellte, stürzte Harry sein Okkluserum hinunter, ging seine Übungen durch und sank aufs Kissen. Es sollte nur ein kurzer Schlaf werden…
Stechen… Stechen…Stechen...
Ein Stechen in seiner Stirn riss Harry aus seinen Träumen. Keine Vision hatte ihn in dieser Nacht gequält. Doch seine Narbe brannte. Er riss die Vorhänge seines Betts beiseite und stolperte durch das Zimmer hinaus in den Flur, wo sich irgendwo ein Tier kratzend an der Wand zu schaffen machte. Im Jungenbad erhoffte Harry sich vom Wasserhahn eine Abkühlung, die den Schmerz vielleicht lindern würde. Während er durch das kurze Stück dunklen Flurs taperte, warf er mit schlaftrunkenen Augen einen Blick hinüber zum Fenster. Es war eine wolkenlose Nacht. Ein klarer, voller Mond schien auf die Welt hinab und Sterne funkelten Harry vom blanken Himmel verschwommen entgegen. Glitzernd weiß, leuchtend gelb, strahlend – blau? Mit einem Mal war Harry hellwach. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass die blauen Punkte hinter den Scheiben keine Sterne waren. Sondern Zauberstablichter. Sehr nahe Zauberstablichter.
Harry eilte zum Fenster. Da kamen sie, wohl vom See her. Er konnte weder ihre Gesichter noch sonst etwas Genaueres erkennen, nur die erleuchteten Zauberstäbe und dunkle Umhänge. Doch sie hielten direkt auf den nächtlichen Schlosshof zu. Eine Gruppe von etwa zehn Personen. Und zwei davon schienen gestützt zu werden. Harry drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Dann endlich streifte eines der Zauberstablichter die Umhänge. Und Harry erstarrte. Er hatte ein schottenkariertes Schultertuch gesehen, einen flickenbesetzten Hexenhut, eine blaue Fahne mit einem bronzefarbenen Adler – und Blut. Viel Blut. Der Schreck durchzuckte Harry wie ein Blitz vom Scheitel bis zu den Zehen. Und dann rannte er los. Er rannte zurück ins Zimmer, riss den Tarnumhang aus seiner Tasche und den Zauberstab. Sein Stechen in der Stirn kümmerte ihn nicht mehr und auch nicht, wen er aufwecken würde. Er hatte nur noch ein Ziel: Runter in den Schlosshof.
Kaum hatte er sich unbemerkt durch das Eichenportal gedrückt, da kam die Gruppe auch schon die Treppe herauf. Und nun sah Harry, was geschehen war. Zwei Ravenclawschüler, ein Junge und ein Mädchen, schwer verwundet und ächzend, wurden von Professor McGonagall, Madam Sprout und zwei anderen, kräftig wirkenden, Jungen die Stufen hinauf gehievt. Blutende Schrunden und tiefe Schnitte entstellten ihre Gesichter, auf den Umhängen waren Flecken roter Krusten zu sehen, hinter ihnen auf dem Weg versickerten Blutstropfen im Kies. Harry wurde schlecht und eiskalt. Der Junge von den beiden verletzten Ravenclaws sah auf die Ferne und im Mondlicht Ron erschreckend ähnlich. Dann erkannte Harry Professor Flitwick, der stumm und totenbleich hinter einer Gruppe Ravenclaws hervortrat, die ebenfalls keinen Ton sagten. Welchen Kontrast zu diesen blassen Statuen bildete Snape, dessen Nase Harry erst unter den Anwesenden entdeckte, als die Gruppe die letzte Stufe erreicht hatte. Sein Gesicht war zorngerötet und verhärmt und er beugte sich mit einem Ausdruck unterdrückten Ekels über die Verwundeten, begann Zaubersprüche zu murmeln.
„Schnell, auf die Krankenstation, Madame Pomfrey“, rief Professor McGonagall derweil einem der umher stehenden Mädchen zu. Dann wandte sie sich an die beiden Jungen, die geholfen hatten, die Verwundeten zu tragen: „Und sie halten Wache, falls Profressor Umbridge erscheinen haben sollte. Der Rest auf die Zimmer!“
Die Verletzten stöhnten und jammerten vor Schmerzen, während der Tross der Ravenclaws sich in Bewegung setzte. Zwischen den stummen Gesichtern sah Harry plötzlich einen blonden Haarschopf aufglänzen und zwei silberblaue Augen, die gar nicht mehr so verträumt leuchteten wie üblich. Niemand schien von dem blonden Mädchen mit dem Adlerhut Notiz zu nehmen. Doch als sie Harry passierte, schnappte er ihr ihre Hand und zog sie blitzschnell unter den Tarnumhang.
„Harry!“, rief Luna überrascht.
“Schschscht“, flüsterte Harry nur.
Es dauerte nicht lange, bis eine schwankende Laterne im Eichenportal erschien und eine völlig aufgebrachte Madame Pomfrey im Nachthemd auf den Hof hastete. Die Ravenclaw-Schülerin ihr auf den Füßen. McGonagall schickte das Mädchen wieder fort, um mit den Wachposten den Platz zu tauschen und diese mit zwei Tragen aus dem Krankenzimmer zurückzuschicken. Derweil kümmerten die Hauslehrer und die Heilerin sich um die Verletzen. Snape murmelte noch immer Zaubersprüche, Madame Pomfrey begutachtete die Verletzungen, der Rest tupfte Wunden und träufelte Diptam. Als die Ravenclaw-Jungen zurückgekehrt waren, trieb Professor Flitwick die Tragen der Verletzten mit einem Locomotor aufs Eichenportal zu. Madame Sprout, Madame Pomfrey und die beiden Jungen begleiteten sie auf den Weg zur Krankenstation. Als der Zug an Harry vorbeikam, konnte er noch einen letzten Blick auf die Verletzten werfen. Die Wunden der beiden Ravenclaws wirkten fast als hätten sie sich gerade noch den Klauen eines mächtigen, hungrigen Tieres entwunden.
Wenig später war der Schlosshof wieder dunkel und fast totenstill. Von den Professoren waren nur noch die Hauslehrer von Gryffindor und Slytherin verblieben.
„Ein Glück“, keuchte McGonagall, „Auch, dass es nicht sie waren“
Dann tauschte sie mit Snape einen ernsten, vielsagenden Blick.
„Severus?“
Ihre Stimme klang streng und bedeutungsschwer. Ebenso wie die Snapes, als er knapp nickte und dann sagte: „Ohne Aufschub!“
Und mit diesen kryptischen Worten zogen auch sie davon.
Nun war Harry mit Luna allein. Schnell warf er den Tarnumhang ab und atmete tief aus. Dann blickte er auf, blickte in die getrübten silberblauen Augen und brachte nur drei Worte über die Lippen.
„Was ist passiert?“
Luna starrte ihn einen Moment lang an. Dann begann sie mit zittriger Stimme zu sprechen.
„Oh, es war schrecklich, Harry. Erst haben wir nur ein Picknick am See gemacht. Professor Flitwick hat alle eingeladen, als Trost für das Spiel. Dann als es spät wurde, wollte er in Hogsmeade noch was Trinken gehen und die Siebtklässler, die Volljährigen, durften mit. Und einige sind später auch mit. Vorher wollte Flitwick aber noch einen Lehrer als Begleitung dazu holen. Und die Vertrauensschüler sollten die jüngeren ins Haus bringen. Ich hab mich aber wieder raus geschlichen, weil ich doch noch nachsehen wollte, ob heute Nacht der Streeler wieder da ist. Und dann irgendwann hab ich auch was leuchten sehen. Aber das war nicht der Streeler. Das waren Zauberstäbe. Und dann hab ich gesehen, wie sie zwei von uns den Weg herauf geschleppt haben. Und alles war voller Blut. Ich bin hinterher geschlichen und hab gelauscht. Und da hab ich gehört, dass Juliett und Daniel sich wohl aus dem ‚Drei Besen‘ geschlichen haben, obwohl das verboten gewesen war und einen Abendspaziergang durchs Dorf gemacht haben und von irgendwas angegriffen worden sind. Und dass dann wohl alles furchtbar schnell gegangen war. Dass McGonagall plötzlich dagewesen wäre und Flitwick aufgesprungen und davon gerauscht ist und auch irgendwas mit Snape. Harry, ich glaube, das waren Grabschoger. Die verstecken sich nämlich gern hinter alten Häusern – hinter der Heulenden Hütte.“
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Kursovtext: J.K. Rowling - Harry Potter und der Orden des Phömix. S. 825
Harry wandte sich um, schlich langsam durch die sonderbar helle Nacht auf das Eichenportal zu. Die Zahl der Pflastersteine schmolz unter seinen Füßen nur so dahin. Doch er hatte nicht das Gefühl, auch nur einen davon zu berühren. Er wurde getragen wie in einem Traum, gezogen wie von einer fremden Macht, ferngesteuert. Erst als er die Schwelle des Schlosses passiert hatte, kam er wieder zu sich und blickte sich um. Blickte sich um, wie eine Katze, die nach Beute spähte. Nichts war zu sehen. Die Flure waren menschenleer und nur die richtungswechselnden Treppen knarzten leise im Halbdunkel der Fackeln. Luna stand noch immer im Schlosshof. Er hatte sie stehen lassen ohne eine Erklärung. Nichts wollte über seine Lippen kommen von den Gedanken, die in seinem Kopf durcheinander stürzten. Die Treppen, die Stufen trugen Harry schnell zum Gryffindorturm empor. Das Brennen in seiner Schläfe war erloschen. Doch dafür zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen.
„Die Heulende Hütte – die Heulende Hütte“, hämmerte seine eigene Stimme in seinem Kopf.
Endlich hatte Harry den siebten Stock erreicht, lief den Flur entlang, rief der Fetten Dame das Passwort zu, lief weiter die Treppe zum Jungenschlafsaal hinauf, wollte ins Zimmer um zu Ron wecken und – hielt inne. Wieder war das Kratzen zu hören, das Harry vorhin für eine Maus oder Ratte gehalten hatte. Es klang ziemlich dumpf, eher ein Malmen. Und dann wurde Harry wortwörtlich mit der Nase auf etwas gestoßen, das ihm vor einer halben Stunde wohl entgangen war: Ein widerlich süßlicher Geruch in der Luft – nur ein Hauch, nicht mehr. Merkwürdig. Harry schnupperte, ging immer der Nase nach und stand nach ein paar Schritten vor der Türe zum Jungenbad. Vorsichtig drückte er die Klinke nach unten. Schon waberte ihm eine warme Wolke des Gestanks entgegen. Und das Malmen war auch lauter geworden. Verwundert schob Harry sich ins Bad. Am anderen Ende des Raumes, vor der letzten Duschkabine, flackerte Licht über den Boden und Dunstschwaden stoben dem Fenster entgegen. Lautlos schlich Harry durch den Raum, bis vor die Kabinentür. Er packte sie, riss sie auf und – starrte auf einen Mörser, eine Hand in Nachthemdsärmeln, auf buschiges, braunes Haar und ein erschrockenes Gesicht, das er kannte. Sehr gut kannte.
„Harry!“, rief sie und stieß im Auffahren einen Flakon um, dessen Flüssigkeit sich über ihr Nachthemd ergoss.
„Hermine! Was machst du denn-“
Doch dann fiel es Harry plötzlich wie Schuppen von den Augen. Heute war ja Vollmond!
„Brauen“, antworte sie tonlos und richtete den Zauberstab auf den Boden, „Ratzeputz. Und du?“
„Ich wollt sehen, was los ist, war vorhin kurz draußen“. Der Wasserdampf beschlug allmählich Harrys Brille.
„Ach, du warst das. Ich hab mich schon gewundert, wer nachts bei euch durch den Flur rennt. Aber als ich nachgeschaut habe, war niemand mehr da. Hast du schlecht geschlafen?“
„Nein... das heißt, ja, auch. Hermine, es… es ist etwas passiert.“
Und Harry begann alles zu erzählen und beobachtete, wie ihr Gesicht sich mehr und mehr verfinsterte. Als er geendet hatte, sagte sie mit belegter Stimme:
„Wir müssen Ron holen“.
Und so geschah es auch.
„Der sah aus wie – ich?“,
Rons Gesicht war käseweiß geworden, während das flackernde Licht die Armaturen der Dusche zu unheimlichen Instrumenten verwandelte, zwischen denen Hermine wieder um den Kessel strich.
„Nur auf die Ferne und im Dunkeln“, versuchte Harry ihn zu beruhigen, obwohl es wenig erfolgsversprechend war.
„Das macht‘s echt nicht besser, Harry“, sagte Ron und zögerte weiterzusprechen. Harry erhaschte einen Blick auf Hermine. In ihrem fleckigen Nachthemd sah sie aus wie der Blutige Baron oder das Versuchskaninchen eines grausamen Menschenexperiments.
„Und was haben sie dann mit denen gemacht?“, fuhr Ron fort, „Hat Umbridge die…“
„Nein, hat nichts mitbekommen“, antwortete Harry hastig, „Sie haben sie auf die Krankenstation gebracht, nachdem Snape Bannsprüche gesprochen hat… Das war echt merkwürdig. Er und McGonagall blieben noch im Hof. Haben kaum ein Wort gesprochen. Sie meinte nur, dass es ein Glück sei, dass irgendwer nicht dabei war und Snape dann, dass sie ohne Aufschub etwas tun müssten.“
„Der Orden des Phönix“, murmelte Hermine hinter ihnen leise. Doch weder Harry noch Ron nahmen groß Notiz von ihr.
„Und was heißt das jetzt?“, fragte Ron.
„Keine Ahnung“, antwortete Harry.
„Zumindest, dass Dumbledore Recht damit hatte, den Ausflug zu verbieten“, mischte Hermine sich ein, schraubte das Glas mit dem Mortemmineralums Staub auf und warf Harry einen strengen Blick zu. Er schnaufte tief, schaute zum dunstbeschlagenen Fenster. Fragezeichen schienen wie Nebel in der Luft zu hängen, die Sicht auf das Licht der Sterne zu verschleiern. Für eine Weile sprach niemand ein Wort.
„Was glaubt ihr eigentlich, was die angefallen hat?“, ertönte dann leise Rons Stimme.
Harry dachte nach, ohne seinen Freund anzusehen. Sein Blick war noch immer auf die Fensterscheiben gerichtet.
„Naja, es ist Vollmond und die beiden sahen so aus als hätten sie mit einer Bestie gekämpft.“
„Du meinst, das war ein-“
„Wär doch möglich, oder?“
Kurz warf Harry einen Seitenblick zu Hermine hinüber, die noch immer um den Kessel schlich. Dann schaute er in Rons Gesicht, das von den flackernden Flammen in Halbschatten getaucht wurde.
„Aber der einzige Werwolf, den wir kennen, der je in der Heulenden Hütte war, ist meilenweit weg von Hogsmeade. Außerdem hat der den Wolfsbann-Trank - hoffe ich doch“
„Hodsmeade“, wiederholte Hermine leise, nachdenklich.
„ich meinte ja auch nicht Lupin. Gibt doch noch mehr Werwölfe“
„Aber nicht in-“
„- Entschuldigt mich für einen Augenblick, Jungs“, wurde Ron plötzlich unterbrochen. Hermine drückte Harry den Mortemmineralums Staub in die Hand, rief „Lumos“ und drängte sich an ihnen vorbei aus dem Jungenbad.
„Was hat sie vor?“, fragte Ron verwundert. Wenige Minuten später sollte er seine Antwort erhalten.
„Der stand unten zwischen einigen Bildbänden“, sprach Hermine und wedelte mit einem dünnen Reiseführer, „hab ihn schon vor einer Weile durch Zufall dort entdeckt.“
„Zauberhafte Zauberdörfer. Eine magische Reise durch Schottland“, las Ron den Titel vor und gab die Broschüre mit einem skeptischen Blick zurück an Hermine.
„Wie soll uns das weiterhelfen?“, fragte Harry.
„Es ist auch eine Karte von Hogmeade drin“, erklärte sie, „Vielleicht wissen wir mehr, wenn wir uns die Umgebung mal anschauen.“
Und schon begann sie die Karte auf dem Boden vor der Duschkabine zu entfalten. Bald saßen sie alle drei auf den Badfliesen aneinandergedrängt und beugten ihre Köpfe über das Pergament, auf dem sich ihre Welt in schwarze Quadrate, graue Kreise und grüne Dreiecke verwandelt hatte.
„Da, ich hab sie!“, rief Ron als das blaue Licht seines Zauberstabs innehielt und deutete auf einen Fleck am Rande des Dorfes. Harry folgte seinem Blick.
„Und da sind noch zwei Wege“, sagte Hermine und runzelte die Stirn, „Merkwürdig! Ich dachte immer, das wäre nur ein Rundweg um die Hütte. Aber hier geht es noch weiter, seht ihr?“
Ihr Finger lag auf einem schmalen Pfad, der vom Rundgang um die Heulende Hütte abzweigte, dann durch ein Stück offensichtlich dichten Waldes führte und auf einem braunen Viereck mit einem merkwürdigen Symbol endete.
„Das ist der Weg, den Snape am Sonntag genommen hat“, flüsterte Harry und spürte, wie sein Gesicht kalt wurde. Doch die anderen schienen ihn nicht zu beachten.
„Was ist das?“, fragte Ron sofort und deutete auf das Zeichen.
„Eine alte keltische Rune. Heißt so viel wie ‚die Toten‘. Hmm, könnte ein Friedhof sein.“
„Ein Friedhof…“, wiederholte Harry leise.
„Ein Friedhof?“, rief Ron, „Aber der Friedhof von Hogsmeade liegt doch ganz woanders!“
„Hogsmeade existiert seit Jahrhunderten“, erklärte Hermine, „Gut möglich, dass sie einmal einen alten Friedhof aufgegeben und dann einen neuen angelegt haben.“
„Snape ist diesen Weg gegangen“, sagte Harry nun so laut, dass seine Freunde aufblickten, „als ich auf euch in der Heulenden Hütte gewartet habe. Als er die Slytherins weggeschickt hat.“
„Ja“, sagte Hermine, „Die Hauslehrer haben uns noch in der Eingangshalle eingeschärft, dass es strengstens verboten sei, die Heulende Hütte und deren nähere Umgebung zu besuchen. Aber die meisten dachten wohl, dass das nur wieder einer von Umbridges Scherzen war. Schätze, die Ravenclaws heute waren auch dort.“
„Und das bedeutet – was?“, fragte Ron, „Was greift einen nachts auf einem alten Friedhof an, wenn kein Werwolf?“
Niemand antwortete. Wieder hatte sich Totenstille über sie gelegt. Doch wandten sie alle drei wie im Reflex ihre Köpfe zum Kessel in der Duschkabine um. Der Kessel, in dem der Inferi Immunum brodelte und gluckerte wie aus einer Grabeshöhle.
„Oh nein“, sagte Ron leichenblass, „Das... das glaubt ihr doch nicht wirklich?“
Harry sagte nichts, schaute ihn nur an. Schaute in das bleiche Spiegelbild seines Erschauerns. Ihm war flau.
„Na… naja, aber das würde doch Sinn ergeben“, sagte Hermine, sprang auf und faltete hastig die Karte zusammen, „Der Inferi Immunum; das Verbot, die Heulende Hütte zu besuchen; überhaupt, dass Harry nicht mitkommen darf; der Angriff heute Nacht! Und das Gespräch am Mittwoch zwischen-“
„Welches Gespräch?“, rief Ron.
„Snape und McGonagall. Als ich von Arithmantik zurückkam, da hab ich sie gesehen. Sie standen an einer Ecke im Flur, flüsterten. Und naja, ich hab sie ein bisschen belauscht. Konnte aber nicht genau hören, worüber sie sprachen. Irgendwas vom Ministerium, von einem Mann und Dumbledore, von Gefahr und Überwachung. Ich dachte, sie sprächen von der Mysteriumsabteilung. Aber vielleicht sprachen sie ja auch von Hogsmeade“
„Möglich“, sagte Ron, „Aber was hat das miteinander zu tun? Was hat der Orden des Phönix damit zu schaffen, wenn irgendein Inferius in Hogsmeade sein Unwesen treibt?“
„Inferi sind nicht so wie Werwölfe, nicht mal wie Dementoren“, erklärte Hermine, während sie sich daran machte, das Friedhofskraut aus dem Mörser in den Zaubertrank zu geben, „Sie sind keine Geschöpfe mit eigenem Willen. Sie sind Marionetten eines schwarzen Magiers: geistlose Körper, nur durch Zauber bewegt. Ich denke, es war kein Zufall, dass dieser Ravenclaw Ron ähnlich sah. Wer immer dahintersteckt, wollte uns.“
„Voldemort“, sagte Harry ganz leise.
„Aber woher wusste der, wer wir sind?“, fragte Ron, „Harry erkennt man an seiner Blitznarbe. Aber mich? Woher wusste der, wie ich aussehe?“
„Keine Ahnung“, entgegnete Harry.
„Das wissen wir nicht“, antworte Hermine und begann den Inferi Immunum nach dem Takt des Rezepts umzurühren.
„Weißt du“, sagte Ron an Harry gewandt, „Langsam wird das echt gruselig. Snape benimmt sich schon seit Wochen total komisch. Bringt uns heimlich diese Zaubertränke bei; ist auf einmal fast fair zu dir; will dich wieder in Okklumentik unterrichten und sagt dann plötzlich doch ab“
„Ja“, sagte Harry und fügte im Geiste der Liste noch ‚weint über ein Foto‘ und ‚weicht vor meinem Blick zurück‘ hinzu.
„McGonagall ist nachts weg, du darfst nicht nach Hogsmeade; die Ravenclaws werden angriffen; kein Mensch weiß, was der Phönixorden im Ministerium bewacht oder wo Dumbledore steckt“
„Oder warum er Snape vertraut..“
Während Ron und Harry so miteinander über die Rätsel der letzten Zeit redeten, wurde Hermine hinter ihnen immer ruhiger, bis das Geräusch von umgerührtem Wasser schließlich verstummte.
„Jungs“, drängte sie sich plötzlich sehr entschieden in ihr Gespräch, „ich glaube, wir haben lange genug gewartet, lange genug zugesehen. Es wird Zeit, dass wir der Sache endlich auf den Grund gehen. Wir müssen etwas unternehmen anstatt uns den Kopf zu zebrechen.“
Ron blickte sie an, als hätte er sich verhört.
„Es gibt nur einen Ort, an dem wir eine Chance haben, eine Antwort auf all das zu finden“, fuhr Hermine fort.
„Die Bibliothek?“, fragte Harry irritiert. Er hatte keinen blassen Schimmer, wovon sie sprach.
„Nein, ein Lehrerbüro. Das einzige, zu dem Umbridge keinen Zutritt hat, obwohl es ihr der Ordnung nach zustünde – nachdem sie ihren Vorgänger rausgeschmissen hat.“
Die Worte schienen für einen Augenblick im Raum zu schweben wie eine Seifenblase kurz vor dem Zerplatzen. Wieder Totenstille. Wieder angespanntes Schweigen. Ron verschluckte sich und Harry starrte Hermine an. Ihm war zumute, als hätte ihn jemand mit eiskaltem Wasser übergossen.
„Das meinst du nicht ernst!“, rief er hastig.
Doch ihr Blick und ihr Gesichtsausdruck verrieten, dass sie es todernst meinte. Harry sprang auf.
„Hermine, das… das können wir nicht tun. Das, das wäre Einbruch. Das wäre so, als würden wir sein Tagebuch lesen.“
„Wir sind schon bei Lehrern eingebrochen. Wir haben schon Tagebücher gelesen“
„Ja“, rief Harry, „Aber… trotzdem!“
Als er in Voldemorts Tagebuch schrieb, hatte Harry keine Ahnung gehabt, mit was er zu tun hatte und bei Snape waren sie nur eingebrochen, weil sie dringende Zutaten für den Vielsafttrank gebraucht hatten. Aber Dumbledores Büro? Harry hatte das Gefühl, als würde er damit einen Vertrauensbruch begehen, der noch unverzeihlicher war als sein Blick ins Denkarium als Snapes schlimmste Erinnerung darin schwamm.
„Gut, wenn du noch eine andere Idee hast, wie wir etwas herausfinden können nachdem ich die halbe Bibliothek auf den Kopf gestellt habe - ich bin ganz Ohr“, sagte Hermine streng.
„Nein, hab ich nicht“, meinte Harry und senkte den Blick, um sie nicht anzusehen. Als sie fortfuhr, war ihre Stimme wieder weich.
„Ich weiß, es ist nicht schön, Harry. Mir gefällt es auch nicht. Aber manchmal muss man etwas Unschönes tun, um weiter zu kommen. Wir werden nur nach Dingen suchen, die was mit der Sache zu tun haben. Von allem anderen lassen wir die Finger“
„Und wie willst du das anstellen?“, fragte Harry noch immer zornig, „Snape und McGonagall besprechen sich gerade irgendwo. Und wer weiß was Umbridges Inquisitionskommando macht. Es wäre ein Wunder, wenn bei dem Aufruhr niemand was mitbekommen hätte. Und irgendwo schleicht auch noch Mrs. Norris rum. Vom Passwort mal ganz zu schweigen.“
„Ich sprach ja auch nicht von jetzt sofort. Natürlich müssen wir das gut planen. Sagen wir morgen Nacht um zwölf. Bis dahin habe ich sicher einige von der DA zusammen, die uns helfen können. Und das Passwort finden wir auch noch heraus.“
„Schön, dann also morgen um Mitternacht. Komm Ron, wir gehen“
Harry warf Hermine noch einen finsteren Blick zu, dann packte er seinen besten Freund und schob ihn aus dem Jungenbad.
Noch als Harry im Bett lag, war ihm äußerst unwohl bei dem Gedanke daran, ins Schulleiterbüro einzubrechen. Doch so sehr er auch darüber grübelte, fiel ihm auch nichts Besseres ein als Hermines Vorschlag. Seufzend musste Harry der Tatsache ins Auge sehen, dass sie wohl keine andere Wahl hatten. Auch wenn er Dumbledore wohl nicht ins Gesicht würde sehen können. Aber der hatte ihn in diesem Schuljahr auch kaum beachtet. In der Dämmerung seiner Müdigkeit, schwebend zwischen Schlafen und Wachen, zogen noch einmal die Ereignisse der letzten Stunden an Harry vorüber. All die Dinge und Fragen, die er sich in der Aufregung nicht gestellt hatte. Ob es den beiden Ravenclaws wohl gut ging? So einige Dinge waren in dieser Nacht geschehen, auf die sich Harry keinen Reim machen konnte – noch nicht. Doch eines hatte er verstanden. Etwas, über das er weder mit Ron noch Hermine offen sprechen konnte. Etwas, das wie eine zarte Pflanze verbogen im Schatten wuchs. Die Erkenntnis, dass Remus Lupin Recht gehabt hatte. Dass Snape wirklich nur sein Bestes wollte, als er Dumbledore dazu brachte, ihm den Ausflug nach Hogsmeade zu verbieten. Dass er Harry tatsächlich beschützte. Bewahrte davor, ein Opfer der Leichenmarionette Voldemorts zu werden. So wie er ihn auch beim Quidditch in der ersten Klasse vor Quirrells Flüchen beschützt hatte. Wie er ihn vielleicht die ganze Zeit beschützte. Doch warum, fragte sich Harry. Warum? Und mit dieser Frage fielen ihm die Augen zu.
„Ich kann nicht glauben, dass wir das wirklich tun“ sagte Hermine und schaute kopfwiegend zu den steinernen Fratzen hinauf, die kalt und leblos über ihnen schwebten wie erstarrte Höllenhunde, die das Tor zur Unterwelt bewachten.
„Nicht?“, meinte Ron, „Dabei war es doch deine Idee.“
„Schon, aber… trotzdem“
Harry sagte nichts. Ihn fröstelte, als er in die kalten Augen der Wasserspeier blickte, die im bläulich-fahlem Zauberstablicht noch unheimlicher wirkten als sonst. Fast so als hätten sie ihren Plan durchschaut und würden ihn deswegen mit giftigen Blicken strafen. Schnell drehte Harry sich weg. Er konnte diesen Blick nicht ertragen. Dieses Wissen in den grimmigen Mienen. Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren, seine Lippen zusammenzupressen. Er schaute stattdessen den Flur hinab und fand Luna. Luna, die am Ende des Korridors im silbernen Mondlicht vor den Bogenfenstern stand und auf ein Zeichen wartete, dass sie den Tarnumhang an sich nehmen und Stellung beziehen sollte. Irgendwo noch tiefer in der Dunkelheit harrten auch Ginny und Neville mit der Karte des Rumtreibers in der Hand.
Es war mutig von ihnen, mitzukommen. Nach allem, was in der vorherigen Nacht geschehen war, barg erwischt zu werden heute noch ein ungleich höheres Risiko drastischer Bestrafungen als sonst. Zwar war der Super-GAU ausgeblieben, vor dem alle gezittert hatten, doch Harry traute dem Frieden nicht. Umbridge verhielt sich unauffällig, das hieß zu unauffällig. Und es würde an ein Wunder grenzen, wenn sie gar nichts mitbekommen haben sollte. Vielleicht wartete sie nur wie ein Raubtier im Schatten auf ihren Angriff. Wartete darauf, dass die anderen Professoren sich Ravenclaw zur Brust nehmen und damit verraten würden. Wie Harry heute Mittag gesehen hatte, hatten die Saphire in den Hauspunktegläsern mächtig abgenommen. Und er konnte sich denken, wer dahintersteckte. Die Gesichter von McGonagall und Snape hatten Bände gesprochen, als sie zum Essen in die Große Halle gekommen waren. Professor Flitwick war gar nicht erst erschienen und am Ravenclawtisch hatte betretenes Schweigen geherrscht. Selbst Luna wirkte nach stundenlangen Strafarbeiten weniger gelassen als sonst. Denn obwohl ihr gestern kaum jemand Beachtung geschenkt hatte, war es den Professoren natürlich nicht entgangen, dass sie sich nachts in den Schlossgründen herumgetrieben hatte. Doch dazu, nachzufragen, was mit den verletzten Schülern geschehen war, welche Gespräche Flitwick und die Siebtklässler noch hinter der verschlossenen Turmtüre der Ravenclaws geführt hatten, dazu hatte Harry auf dem Weg zu Dumbledores Büro keine Zeit mehr gefunden. Schon hatten sie ihr Ziel erreicht gehabt.
„Was glaubst du, wie das Passwort lautet?“, streifte Hermines Stimme sein Ohr.
„Süßigkeiten“, antwortete Harry träge, während er sich wieder zurückdrehte, „Er verwendet oft Süßigkeiten als Passwörter. Das letzte Mal war es ‚Zischende Wisbies‘. Zischende Wisbies!“
Nichts geschah.
„Er wird wohl das Passwort geändert haben, damit Umbridge nicht reinkommt“, meinte Hermine.
Und dann ging es los. Sie probierten alles aus, was ihnen an Leckereien in den Sinn kam.
„Siruptorte!“
„Schokofrosch!“
„Lackritzzauberstab!“
„Bertie Botts Bohnen jeder Geschmacksrichtung!“
„Zuckerfederkiel!“
„Ingwerkeks!“
„Brausedrop!“
Nichts schien zu helfen.
„Nasenblutnugat!“, rief Ron.
Hermine kniff die Augen zusammen und wandte sich ruckartig zu ihm um.
„Nasenblutnugat?!? Mal ehrlich Ron, ich glaube kaum, dass Dumbledore die verbotenen Erfindungen seiner Schüler als Passwort nimmt. Das würde doch ein sehr schlechtes Bild auf ihn werfen.“
„Ja eben, deswegen!“, rechtfertigte sich Ron, „So ein Passwort würde Umbridge doch nie im Leben erwarten. Außerdem hat die keine Ahnung, was Fred und George da verticken. Sonst hätten die noch viel mehr Ärger am Hals. Schätze, die weiß genauso viel über Nasenblutnugat wie über selbstumrührende Schokokessel.“
Plötzlich ließ ein Knirschen Ron, Harry und Hermine zusammenzucken. Sie drehten ihre Köpfe wieder zum Eingang um. Die Wasserspeier, die eben noch hart und massiv vor dem Aufgang gekauert hatten, waren zum Leben erwacht und sprangen beiseite.
Ron zog die Augenbrauen hoch.
„Selbstumrührende Schokokessel?!? Aber die sind doch brandneu!“
„Schätze, Dumbledore ist bestens über die neusten Erfindungen auf dem magischen Süßwarenmarkt informiert“, seufzte Hermine
Harry streifte währenddessen den Tarnumhang von ihnen und winkte Luna, Ginny und Neville heran.
„Wir gehen jetzt rein“, flüsterte er ihnen zu.
Der Schein ihrer Zauberstäbe irrlichterte durch das verwaiste Treppenhaus, als die fahrende Wendeltreppe sie dem Schulleiterbüro näher und näher trug. Mit jeder Stufe, die die Plattform sich nach oben schob, fühlte sich Harry mehr wie Munduges Fletcher. Und es war kein sonderlich angenehmes Gefühl. Nein, es war eines, das ihm auf den Magen schlug. Er konnte es noch immer nicht fassen, dass er sich tatsächlich auf das hier eingelassen hatte. Ein wenig kam es ihm so vor, als würde er schlafwandeln. Endlich rastete die Treppe ein.
Das Schloss unter dem Greifenklopfer knackte verdächtig nachdem Hermine ihren Zauberstab darauf gerichtet hatte. Wie von Geisterhand sprang knarzend die Türe auf, wies ihnen den Weg hinein in das menschenleere Schulleiterbüro, das in ebenso silbriges Mondlicht getaucht war wie die Flure des Schlosses. Ein wenig war Harry enttäuscht darüber, dass man es ihnen so leicht gemacht hatte, hier einzudringen. Er hatte fest damit gerechnet, dass Dumbledore das Schulleiterbüro noch mit vielen weiteren Schutzzaubern und Schwellenbannen belegt hatte. Schutzzauber und Schwellenbanne, an denen sich sogar Hermine die Zähne ausbeißen würde, so dass Ihnen nichts anderes übrig blieb als umzukehren und ihren zweifelhaften Plan aufzugeben. Und doch packte Harry eine kribbelnde Aufregung als sie eintraten, beschleunigte sich sein Pulsschlag. War es vor Neugierde oder schlechtem Gewissen? Er konnte es nicht sagen.
„Somnus“, rauschte ein gezischtes Flüstern an seinen Ohren vorüber. Und noch einmal: „Somnus“.
Hermine hatte ihren Zauberstab erhoben und zielte scheinbar wahllos auf verschiedene Punkte an der Wand über dem Pult.
„Was tust du da?“, fragte Ron leise.
„Ich belege die Porträts mit einem Schlafzauber. Oder wollt ihr etwa, dass irgendwer von denen noch losläuft und Umbridge weckt?“
„Natürlich nicht!“, konterte Ron erschrocken.
Harry hörte nicht länger zu. Er lief weiter in das kreisrunde Zimmer hinein, blickte sich um, während Hermine hinter ihm dazu überging, eine einzelne kleine Ölfunzel auf dem Schreibtisch zu entzünden. Nie hatte Harry das Schulleiterbüro so leer erlebt wie in dieser Nacht. Es war nicht nur Dumbledores ruhige, warme Stimme, die ihm fehlte, es eigentlich schon das ganze Schuljahr lang tat. Nein, er vermisste auch das Flügelflattern, Scharren und Knabbern, das ebenfalls verklungen war. Die Vogelstange in der Ecke war leer. Und das führte Harry deutlicher als alles andere vor Augen, dass Dumbledore Hogwarts verlassen hatte. Fawkes war immer hier gewesen. Selbst dann, wenn Harry einige Minuten allein im Schulleiterbüro auf ihn warten musste.
Nur die vielen, leblosen Gerätschaften ringsumher schienen sich nicht an der Abwesenheit des Hausherrn zu stören. Sie erfüllten die Luft mit ihrem Summen und Surren, Klappern und Klacken wie eh und je. Und während Harry sie betrachtete, fiel ihm ein, dass er ja noch niemals die Gelegenheit gehabt hatte, sie so ungestört in Augenschein zu nehmen wie jetzt. Ron, der noch viel seltener hier gewesen war als er, schien Ähnliches zu denken. Mit einem verklärtem Blick trat er an eines der vielen storchbeinigen Beistelltischchen und schaute mit großen Augen hinab auf eine perfekte Nachbildung einer Galaxie. Rote und blaue Nebel waberten unter einer Glaskuppel umher. Tausend kleine Funken glitzerten dazwischen und in der Mitte drehten sich wie Klicker eine weiß-blau-grüne, eine rötliche und viele weitere, größere und kleinere Kugeln umeinander und um eine große, hellleuchtende Murmel in der Mitte.
„Wow, schau dir das an, Harry“, flüsterte Ron fasziniert und streckte seine Hände danach aus. Doch noch ehe seine Finger die Glaskuppel berührten…
„RON!“, donnerte Hermines Stimme vom Schreibtisch herüber. Sie hatte aufgeblickt und ihn aus dem Augenwinkel erhascht. Ron verzog sofort das Gesicht.
„Was denn? Ich hab nichts kaputt gemacht!“, grollte er und Harry spürte schon den nächsten Streit aufziehen.
„Darum geht es nicht“, schimpfte Hermine und schlug dabei einen schulmeisterlichen Ton an, „Wir haben uns geschworen, dass wir nur nach Dingen suchen, die etwas mit Snape zu tun haben und von allem anderen die Finger lassen. Wir sind nicht hier, um in Dumbledores Privatsachen zu wühlen!“
„Meine Güte! Das ist kein Tagebuch“, keifte Ron zurück, „Das ist nur als ein olles Planetensystem. Aber wahrscheinlich hat Dumbledore in all dem eine geheime Botschaft über sein Leben hinterlassen. Venus für alte Liebesgeschichten und Mars für seine Siege über Schwarze Magier. Und wahrscheinlich auch noch beides zusammen, weil sie unter einer Kuppel -“
„-Das ist nicht witzig, Ron!“
„War auch nicht witzig gemeint. Das ist alles hohe Wissenschaft. Und hat sehr wohl was mit Snape zu tun. Frag mal Trelawney.“
Hermine runzelte die Stirn und starrte Ron an, als hätte dieser ein bisschen zu viel von den schweren Düften im Wahrsagezimmer abbekommen. Harry musste schmunzeln. Sie hatten ihr nichts von Trelawneys Gespräch mit dem Prüfer erzählt. Doch sein Lächeln verblasste, als Hermine sich wieder umdrehte und die Porträts über dem Schreibtisch beäugte. Offensichtlich kontrollierte sie, ob ihre Schlafzauber wirkten.
„Wo willst du hier überhaupt was über Snape herausfinden?“, fragte Ron beiläufig, während er sich schon neugierig dem nächsten Beistelltischchen zuwandte.
„Gut Frage“, bemerkte Hermine, „Ich glaube, wir sollten mit den Personalakten beginnen. Accio Personalakte Severus Snape. RON!“
Während ein dicker Ordner auf den Schreibtisch zuflog, hatte sie Ron dabei erwischt, wie er im Begriff war, an einem Gegenstand herumzuspielen, der an einen goldenen Dudelsack mit zu vielen Pfeifen erinnerte.
Seufzend stand Ron auf.
„Ist ja gut. Du bist echt eine Spielverderberin, Hermine, weißt du das eigentlich?“
Harry hörte nicht mehr, was sie antwortete. Gerade als Ron aufgestanden war, waren seine Augen auf etwas gestoßen, das seine Aufmerksamkeit weit mehr auf sich zog als der Streit seiner Freunde: Eine weiße Schranktür. Eine weiße Schranktür, hinter der, wenn er sich recht erinnerte, Dumbledore das Denkarium aufbewahrte. Ob es dort wohl auch in diesem Moment stand? Ob wohl noch Erinnerungen darin schwammen? Erinnerungen wie die an Karkaroffs Anhörungen? Für einen Augenblick starrte Harry die weiße Türe an, ein Fuß in Richtung Schrank gesetzt, einer zurück in Richtung Regal. Sollte er oder sollte er nicht? Sein letzter Ausflug ins Denkarium hatte nicht gerade glücklich geendet und doch hatte ihm das Denkarium bisher mehr über Snapes Vergangenheit verraten als alles andere. Durfte er es wagen, noch einmal sein Glück zu versuchen? Durfte er es wagen, wenn sie hier waren, um etwas über Snape herauszufinden? Langsam trat Harry nach vorne, bis er die Schranktüre erreichte. Und während Hermine sich papierraschelnd in Snapes Personalakte vertiefte und Ron wohl das nächste Regal inspizierte zog er sie auf.
Tatsächlich: Da stand es, auf einem Schemel, bis auf Bauchhöhe erhoben, fast wie ein verstecktes Waschbecken. Doch der Schrank barg nicht nur das Denkarium. Im sanften, goldenen Schein einiger Deckenlichter, die sofort aufgeleuchtet waren, als Harry die Schranktür geöffnet hatte, sah er direkt vor seiner Brille ein ganzes Hängeregal voller Glasfläschchen und Flakons. Für einen Augenblick fühlte sich Harry, als hätte er seine Nase zu tief in Snapes Vorratsschrank gesteckt. Doch während sich dort Aalaugen, Schneckenschleim und allerlei Lösungen und Elixiere türmten, war jedes der Fläschchen hier gefüllt mit einer silbrigen Substanz. Halb Nebel, halb Flüssigkeit verquirlte sie sich im warmen Schimmer zu glänzenden Wirbeln: ein ganzes Regal voll gut verkorkter Erinnerungen. Vorsichtig fuhr Harry mit dem Finger durch das gläserne, silbrige Meer. Jeder Flakon war beschriftet mit einem Namen und einem Datum, die Etiketten teilweise schon vergilbt. 1937 konnte Harry hier lesen, 1990 dort. Bei einem Fläschchen hielt er plötzlich inne. Es war mit ‚Horace Slughorn‘ beschriftet. War das der gleiche Slughorn, der den Slugclub geleitet hatte? Das Datum ließ Harrys Neugierde noch wachsen: 13.5.1974. Das hieß, diese Erinnerung stammte aus der Schulzeit von James Potter, Remus Lupin und Sirius Black. Vorsichtig zog Harry das Fläschchen aus dem Regal, wog es in den Händen. Würde er seine Mutter noch einmal sehen? Oder vielleicht sogar seinen Vater? Anders als beim letzten Mal? So, wie er ihn sich immer vorgestellt hatte, wie Remus ihn gemahnt hatte, ihn in Erinnerung zu behalten? Harry atmete tief durch, überlegte eine Sekunde. Doch dann zog er den Korken, goss die Erinnerung ins Denkarium und versank im silbrigen Nebel…
Harry schien durch reines Sonnenlicht zu fallen. Es war ein herrlicher, warmer Frühlingstag und noch im Sturz erkannte er den Rasen hinab zum See. Weiches Frühlingsgras breitete sich unter seinen Händen, als er landete und schwerer Blütenduft stieg ihm in die Nase. Schon als er sich aufrappelte, mit der Hand seine Augen gegen die Sonne abschirmte, hörte er Dumbledores Stimme - laut und kräftig wie aus nächster Nähe. Harry blickte sich um und fand ihn direkt neben sich auf dem Gehweg. Er war nicht alleine. Dicht bei ihm stand ein korpulenter Mann, nicht viel jünger als Dumbledore selbst und die beiden schienen in ein ernstes Gespräch vertieft. War das etwa Slughorn? Wie zum Beweis sprach ihn Dumbledore in der nächsten Sekunde mit ‚Horace‘ an. Harry musterte den fremden Mann neugierig, dann mit zunehmender Skepsis. Slughorn machte einen angespannten Eindruck. Er nestelte nervös an einem Hut, den er nicht auf dem Kopf, sondern in den Händen trug. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, während er Dumbledore immer wieder flüchtig ins Gesicht, dann gleich wieder weg schaute. Verwundert trat Harry näher an die beiden Männer heran. Doch just in diesem Moment gingen sie dazu über, zu flüstern. Harry gelang es nur noch wenige Fetzen ihres Gesprächs zu belauschen. Etwas von Tagesprophet, Tom Riddle, einer Anspielung auf fähige Lehrer und von einem Vorstellungsgespräch konnte er aufschnappen. Er versuchte sich anzustrengen, spitzte die Ohren, konzentrierte sich. Doch vergebens. Mehr als undeutliches Gemurmel konnte er nicht heraushören.
Enttäuscht wandte sich Harry von Dumbledore und Slughorn ab und wieder dem eigentlichen Grund zu, weswegen er in diese Erinnerung getaucht war: Der Suche nach seinen Eltern, vor allem seinem Vater. Bedächtig ließ Harry seinen Blick über den Schulhof schweifen, auf dem es an diesem warmen Maitag nur so vor Schülern wimmelte, hielt Ausschau nach ihm als wäre James Potter der Goldene Schnatz. Und doch konnte Harry nirgendwo in diesem Gewusel sein Spiegelbild erspähen. Vielleicht war sein Vater gerade draußen im Stadion und trainierte fürs nächste Quidditch-Match? Wenn es so wäre, dann wäre seine Suche vergebens. Harry konnte die Schlossgründe nicht verlassen, denn die Erinnerung war an Horace Slughorn gebunden. Schon war er gewillt, seinen Ausflug abzubrechen und ins Schulleiterbüro zurückzukehren, als er plötzlich etwas entdeckte.
Ein roter Haarschopf! Dort unten an der Buche beim See. Harry musste nicht zwei Mal hinschauen, um wissen, wem diese Haare gehörten. Statt seines Vaters hatte Harry seine Mutter gefunden. Sie saß im Schneidersitz über ein Buch gebeugt, zur Linken einen Zinnkessel, zur Rechten eine Ledertasche und auf dem Schoß ein Schneidebrettchen. Offensichtlich lernte sie für Zaubertränke. Doch – sie war nicht alleine. Direkt vor ihr, unter dem Schatten der Buche lag noch jemand ausgestreckt auf dem Boden: Den Kopf am Baumstamm, das Gesicht in ein Buch vergraben, die Kapuze des Schulumhangs über den Kopf gezogen, so dass Harry auf die Ferne nur erkennen konnte, dass dieser jemand dunkle Haare hatte, die unter dem Rand der Kapuze hervorschauten.
War das etwa Sirius? Zumindest war Sirius der Erste, der Harry einfiel. Doch auf den zweiten Blick schien die Gestalt für Sirius viel zu schmächtig. Harry hatte ihn ja in Snapes Erinnerung gesehen. Und es war auch merkwürdig, dass Lily so mit ihm zusammensaß, wo sie beim letzten Mal doch keinen Zweifel daran gelassen hatte, was sie von James und seinen Freunden hielt. Und überhaupt: Wo waren James und Remus und Wurmschwanz, mit denen Sirius immer zusammen war? Und seit wann trug Harrys Pate eigentlich schwarz?
Nein, das konnte nicht Sirius sein. Doch wer war es dann, der da bei Lily im Gras lag? Gerade hatte sie sich lachend zu ihrer Tasche hin gebeugt, zwei Schokofrösche herausgeholt und einen der Gestalt im Gras zugeworfen. Es war unverkennbar ein Junge, wie Harry anhand der fehlenden Rundungen auf seinem Brustkorb erkannte. Doch mehr Details konnte er nicht sehen. Verfluchter Schatten! Wenn der Junge doch nicht nur so dicht am Baum läge oder nur einmal den Kopf heben würde, wäre alles viel leichter. Aber er schien die Sonne nicht sonderlich zu mögen. Wer würde sich sonst an einem so herrlichen Maitag die Kapuze tief übers Gesicht ziehen? Das war ja fast so als würde man seine Pause freiwillig im Kerk-
Harrys Atem stockte. Auf einmal kam ihm ein Gedanke. Ein Gedanke, der seinen Puls augenblicklich in Höhe schnellen ließ. Der ihm einen kalten Schauer über den Rücken goss. Es war ja das Schuljahr 1973/74! Lilys drittes Jahr an Hogwarts. Das Jahr, in dem sie „Jugend braut“ gewonnen hatte, zusammen mit – mit Severus Snape! Konnte es sein, dass der Junge dort im Gras, dass das…? Aber das war doch nicht möglich! Harrys Herzschlag nahm weiter an Fahrt auf. Schnell atmend trat er näher. Noch immer waren die beiden zu weit weg, als dass er mit Sicherheit sagen konnte, ob es wirklich Snape war. Nicht solange der Junge seinen Blick weiter in sein Buch gesenkt hielt. Es konnte wer weiß wer sein. Sirius, James, irgendein Junge, den Harry nicht kannte. Aber wenn es Snape war, wenn das tatsächlich Snape war, wie konnte es sein, dass Lily so unbeschwert bei ihm saß? Wie konnte es sein, dass sie sich überhaupt mit ihm traf? Harry hatte geglaubt, dass dieser Wettbewerb für sie die reinste Tortur gewesen sein musste – dank Snape. Sie war in seinen Augen doch nicht mehr als ein unwürdiges Schlammblut, oder? Oder?!? Harry hatte das Gefühl, dass tausend Lichter durch seinen Kopf rauschten, dass all seine Gewissheiten plötzlich zusammenfielen wie Kartenhäuser und er vor nichts als einem schwarzen Loch stand. Lily steckte sich genüsslich den Schokofrosch in den Mund. Da, endlich kam Bewegung in den Jungen. Er reckte die Nase, er taste nach dem Frosch auf seinem Bauch, er war im Begriff aufzublicken, als plötzlich –
Harry wusste nicht, wie ihm geschah. Etwas zog ihn mit aller Kraft rückwärts. Das Bild vor seinen Augen rauschte mit rasender Geschwindigkeit in die Ferne, fast so als würde Onkel Vernon mit seinem Wagen rückwärts durch einen Autobahntummel brettern.
„Nein!“, rief Harry.
Doch es nützte nichts. Er verlor den Jungen aus dem Blick, noch ehe er sein Gesicht wirklich gesehen hatte. Dann hob er vom Boden ab, schoss raketengleich in die Höhe und kam den Bruchteil einer Sekunde später im Schulleiterbüro über dem Denkarium zu sich. Eine Hand lag auf seiner Schulter und aus dem Augenwinkel sah er buschiges braunes Haar zu seiner Rechten. Ruckartig wandte er sich zu Hermine um. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie hinter ihr ein riesiger, silberner Schmetterling durch eines der Bogenfenster hinaus in die Nacht flatterte. Lunas Patronus! Das abgemachte Zeichen falls Gefahr in Verzug war.
Harry zögerte nicht. Hastig fischte er die Erinnerung aus dem Denkarium, stopfte sie zurück ins Fläschchen, verstaute alles im Schrank. Als er sich umwandte, ließ Hermine einen schweren Ordner zurück ins Aktenregal schweben. Das gleiche Regal, vor dem Ron stand und eine Etage tiefer an einer Art großer Schneekugel herumhantierte, in der eine silberne Eule aus massivem Metall flatterte. Harry schlug die weiße Schranktür zu und drehte sich um, als plötzlich…
„Ups“, schallte es in Rons Stimme durch den Raum. Eben noch konnte Harry aus dem Augenwinkel erhaschen, wie die Schneekugel gleich einer Seifenblase zerplatzte, da flattere die Eule auch schon empor. Einmal rund ums Zimmer, bis sie schließlich in rasender Geschwindigkeit auf eine alte Keramikdose ein Regalbrett über Ron zustieß. Harry rannte los. Doch die Eule war schneller. Mit voller Wucht rammte sie die Dose. Ron riss noch die Hände empor, um das gute Stück zu retten. Doch es zersplitterte unter seinen Fingern und ein undurchsichtiger Regen aus Scherben und kleinen, bunten Glückskeksen prasselte auf ihn nieder. Vor Schreck schlug Ron sich die Hand vor die Brust.
„Finite Incantatem! Reparo!“, erschallte Hermines Stimme. Und im nächsten Moment schon packte eine Hand Ron am Saum seines Umhangs und zog ihn wütend in Richtung Ausgang. Harry warf einen letzten Blick auf das Regal, in dem sich die Dose wieder zusammensetze und eine gläserne Kugel um die Eule schloss. Dann hastete er hinter Ron und Hermine her.
Sie stürmten hinaus zur Wendeltreppe. Sie eilten Stufen hinab. Sie stürzten auf den Flur. In der Ferne am anderen Ende des Korridors schien sich die Dunkelheit zu lichten. Sie rannten los. Harry, Hermine, Neville, Ron, Luna und Ginny. Das Licht hinter ihnen kam näher, der nächste Quergang lag vor ihnen. Der Schein kroch um die Ecke und sie – waren im Dunkel verschwunden. Liefen in ihre Sicherheit - in der letzten Sekunde.
„Puh, das war knapp!“, keuchte Ron und ließ sich auf einen der Sessel vor dem Kamin fallen, während Ginny ringsum die Gaslichter entzündete.
„Ja, allerdings!“, schnaubte Hermine und baute sich mit verschränkten Armen vor ihm auf.
„Was ist denn los?“, fragte Ron und blickte verdutzt zu ihr auf. Hermines Gesichtsfarbe glich einer Tomate und sie schnaufte stoßweise. Harry verrollte die Augen und wich einen Schritt zurück.
„Braucht… braucht ihr uns noch?“, sprach ihn Neville leise von hinten an.
„Nein. Ihr könnt gehen, wenn ihr wollt. Danke fürs Wacheschieben.“
Neville nickte, warf einen kritischen Blick zu den Sesseln hinüber und zog schweigend mit Ginny davon.
„Du fragst noch?!? Du fragst noch!“, polterte Hermine los, „Ich hab dir gesagt, du sollst nicht an Dumbledores Sachen rumfummeln!“
„Mann, es ist doch gar nichts passiert!“
„Aber nur, weil ich hinter dir aufgeräumt habe!“
„Leute“, drängte sich Harry dazwischen, „Es bringt doch nichts, wenn wir uns jetzt streiten. Lasst lieber hören, ob ihr was herausgefunden habt.“
Hermine warf ihm einen giftigen Blick zu, dann ließ sie sich auf den nächsten Sessel fallen und schaute demonstrativ zur Seite. Einige Sekunden verstrichen. Dann senkte Ron den Blick.
„Tschuldige“, murmelte er kleinlaut und kratzte sich verlegen am Nacken, „Ich wollte keinen Ärger machen, echt nicht. Die – die hat mich nur so an Errol erinnert. Wenn ich gewusst hätte, dass die gleich losfliegt…“.
Hermine atmete drei Mal kräftig durch, dann fuhr sie herum, packte ein Sofakissen und schleuderte es direkt in seine Richtung.
„Du bist echt ein Idiot, Ron!“, rief sie. Doch schon ging ihr Schnauben unter in herzlichem Lachen.
„Ich weiß. Aber du magst mich trotzdem, oder?“, entgegnete Ron nicht frei von Ironie.
„Habt ihr etwas über Snape herausgefunden?“, fragte Harry scharf und hatte das Gefühl, damit wie ein kalter Schauer durch die aufwallende Heiterkeit zu fegen.
Es war ihm egal. Seitdem er seinen Kopf aus dem Denkarium gezogen hatte, hatten seine Gedanken nicht mehr aufgehört, sich im Kreis zu drehen. Wie in einem Karussell kam sich Harry vor und ihm wurde allmählich schlecht und schwindelig von dieser Fahrt. War es wirklich Snape gewesen, der da bei Lily im Gras gelegen hatte? Oder hatte er ihn mit jemandem verwechselt? Vielleicht mit irgendeinem fremden Schüler, mit dem Lily zusammen gewesen war, lange bevor sie sich in James Potter verliebte? Aber wenn es doch Snape war… Wie konnte das dann sein? Wie konnte es sein dass er sich von Lily mit Schokofröschen füttern ließ? Snape, der Todesser! Dass passte doch alles so wenig zusammen wie Lunas Wissen über Fantastische Tiere und ein ernstzunehmendes Lexikon. Aber wenn es Snape war, musste es doch so gewesen. Er hatte es ja mit eigenen Augen gesehen. Aber es konnte nicht sein! Es konnte nicht sein! Harry griff sich an die Stirn. Die Bilder in seinem Kopf tanzten wilde Ringelrein. Hoffentlich würde es ihn ablenken, wenn seine Freunde berichteten, was sie herausgefunden hatten.
Ron kniff die Lippen aufeinander, während er sich Hermines Kissen in den Rücken stopfte und blickte zu Boden. Harry schaute auf ihn herab und Enttäuschung wallte in ihm auf. Er wusste, was diese Geste zu bedeuten hatte, noch ehe sie auch nur ein Wort gewechselt hatten.
„Nichts?“
„Gar nichts“, sagte Ron und rieb die Hände aneinander. Er blickte nicht auf.
Hermine ließ sich langsam in ihren Sessel zurücksinken, als Harry sich ihr zuwandte, sie mit seinem Blick zu löchern versuchte.
„Nun…nunja“, stammelte sie zögerlich und schaute dabei auf Ron, „Es ist nicht viel. Wenn Dumbledore irgendetwas über den Orden des Phönix im Schulleiterbüro aufbewahrt, dann hat er es mit starken Zaubern geschützt. Ich konnte nichts aufrufen außer Snapes Personalakte und da stand nicht viel Neues drin.“
Harry wollte schon seufzend den Kopf sinken lassen, als sie hinzufügte: „Aber ein paar Dinge waren doch ein wenig merkwürdig.“
„Was?“, rief er ein wenig gereizt und bereute es sofort. Seine Freunde konnten ja nichts für seine Verwirrung. Sie anzupflaumen war nicht fair. Tief atmete Harry durch und versuchte sich zu beruhigen.
Zögerlich fuhr Hermine fort: „Ich hab im ganzen Ordner keine Bewerbung von ihm gefunden, nicht für die Zaubertränke-Stelle und auch nicht für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Nicht aus dem Schuljahr jedenfalls, als er hier angefangen hat.“
Ron runzelte die Stirn: „Und das bedeutet?“
„Das heißt, dass sich Snape scheinbar gar nicht um die Stelle beworben hat, sondern Dumbledore ihn einfach so eingestellt hat.“
„Heißt das, dass er ihn darum gebeten hat so wie Moody oder Lupin?“
Harry fragte es ganz leise. Er wusste nicht wieso, doch er spürte, dass es ihn auf einmal fröstelte.
„Ja, das könnte sein“, antwortete Hermine und schaute ihn endlich an, „Aber das ist noch nicht alles“
Und nun begann sie zu Harrys Verwunderung nervös am Einband eines Buchs zu nesteln, das vor ihr auf dem Tisch lag.
„Snape hat nicht am ersten September hier angefangen. Er ist mitten im Schuljahr gekommen. Ich hab den Arbeitsvertrag gesehen. Das Datum, an dem er aufgesetzt und unterschrieben worden war. Harry, es war… es war der erste November 1981.“
Harry starrte sie an. Es war ihm als ob die Sommerwärme aus dem Zimmer wich und kalter Schnee auf ihn herab rieselte.
„Aber das ist ja-“
„-Der Tag nachdem deine Eltern starben, ja“, bestätigte Hermine bedeutungsschwer.
Harry hatte sich geirrt. Er hatte sich geirrt, wenn er geglaubt hatte, dass die Entdeckungen seiner Freunde ihn ablenken, das Karussell in seinem Kopf anhalten würden. Stattdessen drehte es sich nur noch wilder. Snape, eingestellt am Tag nach dem Tod seiner Eltern? Wie passte das denn zusammen? Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Harry zerbrach sich den Kopf und mit einem Mal wurde ihm eiskalt. Er spürte, dass er im Begriff stand, etwas zu verstehen. Doch er war sich nicht sicher, ob er überhaupt verstehen wollte. Aus allen Ecken und Enden seiner Erinnerung wollten Bilder auf ihn einströmen. Bilder von Snape und von Luna und von Dumbledore, der Harry übers Denkarium gebeugt erzählte, dass der Grund, warum er an Snapes Abkehr von Voldemort glaube ein Geheimnis zwischen ihnen beiden sei. Doch Harry wollte diese Bilder partout nicht sehen. Und war es den wenigen Okklumentikstunden oder der regelmäßigen Einnahme von Okkluserum zu verdanken, sie verschwanden tatsächlich wieder so schnell wie sie gekommen waren. Und alles was Harry blieb, war ein flaues Gefühl in seinem Magen.
„Und du, was hast du herausgefunden?“, riss ihn Hermines Stimme aus seinen Gedanken.
„Nichts“, sagte Harry ein wenig zu schnell, so dass sie ihn nun stirnrunzelnd anblickte. Aber er konnte es ihr nicht sagen. Er konnte seinen Freunden nicht anvertrauen, was ihm gerade alles durch den Kopf geschossen war. Allem voran Snapes Augen, die vor ihm zurückgewichen waren. In der Wirklichkeit blickte ihn Hermine erwartungsvoll an.
„Ich, ich hab eine Erinnerung von meiner Mutter gesehen“, gestand Harry leise.
Nun, es war die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. In die braunen Augen trat etwas Mitleidvolles, als hätte Hermine vollstes Verständnis dafür, dass er über eine schmerzvolle Erinnerung nicht sprechen wollte. Er hasste sie dafür. Dann stand sie auf und kam auf ihn zu.
„Gute Nacht, Harry“, sagte sie sanft, während sie ihm mütterlich die Hand auf die Schulter legte. Und dann wurde der Fleck auf seiner Schulter kalt und Hermine war verschwunden.
„Schätze, ist Zeit fürs Bett“, gähnte Ron.
Harry folgte ihm schweigend in den Jungenschlafsaal hinauf. Erst als sie die Türe hinter sich geschlossen hatten und sie in das wohlvertraute Konzert von Nevilles, Deans und Seamus‘ Schnarchen eintauchten, fand Harry wieder Worte.
„Schätze, Hermines Plan ist nicht ganz so gut aufgegangen, oder?“, fragte er vorsichtig, als Ron seine Nachttischlampe entzündete.
„Ja, war `ne recht magere Ausbeute“, erwiderte Ron ungerührt und irgendwie abwesend, „Aber Dumbledore ist auch für Hermine eine Nummer zu groß.“
„Sie hat sich wohl zu viel erhofft“, sagte Harry und blickte gedankenversunken in die Ferne hinter den Bogenfenstern. Schaute in den Nachthimmel mit dem nicht mehr ganz vollen Mond - bis ein geräuschvolles Räuspern ihn plötzlich aufhorchen ließ.
„Harry?“, sprach ihn Ron leise an.
Er drehte sich um. Im Halbdunkel ihrer beiden Nachtischlampen trafen sich ihre Blicke. Rons Züge waren vollkommen ernst. Dann sah Harry, dass er ein kleines Papier, eine Art geschrumpften Briefumschlag aus seinem Umhang gezogen hatte.
„Was?-“
„-Psst“, sagte Ron, den Finger an die Lippen gelegt und winkte ihn zu sich heran.
„Was ist das?“, flüsterte Harry, als er neben ihn aufs Bett gekrabbelt war.
„Ich konnt‘s dir unten nicht erzählen“, begann Ron zu erklären, „Hermine hät mir den Kopf abgerissen, wenn die wüsste, dass ich etwas aus seinem Büro hab mitgehen lassen. Aber das war im Schnabel der Eule und… Harry, ich schwör, das hat was mit all dem zu tun. Schau’s dir an!“
Harry hörte seine letzten Worte nur noch mit halbem Ohr. Er war zu verblüfft, starrte Ron nur an.
„Das war Absicht? Also das mit der Eule, meine ich.“
Rons Miene verfinsterte sich. „Ich wusst‘ ja, dass Hermine mich für nen halben Troll hält, aber du?“
„‘Tschuldigung“, murmelte Harry und griff endlich nach dem kleinen Brief, den Ron ihm hinhielt. Er blickte auf den Umschlag – und sein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus.
Dort stand sein Name geschrieben, wenn auch rückwärts. Harry blickte auf, suchte in Rons Gesicht nach irgendeiner Erklärung. Doch der nickte nur, während er sich im Nacken kratzte. Mit pochendem Herzen öffnete Harry den Brief. Ihm fiel ein dünnes Papier in einem wässrigen Lilaton in die Hände. Ein dünnes Papier, auf dem kaum etwas geschrieben stand. Doch reichten die wenigen Worte aus, um seine Finger zittrig werden zu lassen, während er die Zeilen entlangfuhr:
z.Hd. Albus Dumbledore (Zeuge)
Betreff: Trelawney
Mitteilung: Namen geändert, nun „Harry James Potter/Er, dessen Name nicht genannt werden darf“
Harry hielt sich den Brief dichter vor die Nase, wiederholte die Worte flüsternd, bis er realisiert hatte, dass sie wirklich dort standen. Seine Finger verkrampften sich unwillkürlich auf dem dünnen Papier, das er einen Moment lang anschaute. Einfach nur anschaute. Was war das nun wieder für ein rätselhafter Brief? Dass er seinen Namen neben dem Voldemorts las, überraschte Harry wenig. Der Tagesprophet hatte darin schon eine gewisse Routine. Aber Trelawney? Was bitte hatte die denn mit all dem zu tun? Und in welcher Sache war Dumbledore Zeuge? Ging es etwa um einen Prozess vor dem Zaubergamot? So wie damals bei Karkaroffs Anhörung? Aber warum wurden die Namen geändert. Und vor allem: Welche standen vorher dort? Hinter dem Text konnte Harry schwach ein silbriges Wasserzeichen auf dem Papier erkennen. Es bestand aus vielen kleinen Pünktchen, die Bahnen um eine Kugel in der Mitte zogen und so eine Rosette formten. Ein Zeichen, das Harry noch nie gesehen hatte.
„Ganz schön clever, was?“, murmelte Ron, „In `ner Schneekugel. Ich meine wer würde da schon nen Brief suchen. Hät ich nicht dran rumgefummelt, hät ich’s nie entdeckt. Und die Schrift war so klein, die konnte man kaum lesen in dem Ding.“
„Danke, Ron“, sagte Harry knapp und gab ihm den Brief zurück. Nicht ohne eine Spur von Enttäuschung. Er hatte so sehr darauf gehofft, ein wenig mehr Klarheit zu gewinnen. Und war wieder nur auf Rätsel gestoßen. Würde er sie je lösen? Würde er je die Wahrheit über Snape zu erfahren?
Mit verkniffenem Mund blickte Harry auf die Bettdecke, sah wie Rons Hände den Brief ungelesen wegpackten und aus seinem Blickfeld entschwanden. Dann auf einmal ließ ihn ein Kratzen aufhorchen. Ron saß vor ihm mit verzogener Miene. Die Hand noch immer unter dem Kragen gesteckt rieb er sich kräftig am Nacken. Harry runzelte die Stirn.
„Alles okay?“
„Ach, ich weiß nicht, das juckt einfach furchtbar“, ächzte Ron.
„Ausschlag? Allergie?“
„Keine Ahnung, vorhin war’s noch nicht da. Könnte auch was von Fred und George sein.“
„Lass mich mal nachsehen“
Schon rückte Harry zu Ron hinüber und spähte vorsichtig unter dessen Umhangskragen. Doch nach roten Pusteln suchte er dort vergebens. Stattdessen fiel ihm ein kleiner, knallgelber Gegenstand auf, den er sofort herauszog. Er hatte die Form eines Hörnchens. Harry brach sofort in gefährlich lautes Lachen aus, als er begriff, was es war.
„Was ist?“, fragte Ron verdattert.
„Ich glaube, Du hast Dumbledore einen Glückskeks gestohlen!“
„Was? Zeig her!“
Hastig drehte Ron sich um. Dann grinste er übers ganze Gesicht und ein Glitzern trat in seine Augen, „Komm schon, mach ihn auf. Ich will wissen, was Dumbledore uns zu sagen hat!“
Harry hielt Ron die eine Hälfte hin und gemeinsam brachen sie den Keks entzwei. Ein kleiner Zettel segelte auf die Bettdecke. Ron hob ihn auf, räusperte sich und begann in gespieltem Ernst vorzutragen:
„Die Wahrheit. Das ist etwas Schönes und Schreckliches und sollte daher mit großer Umsicht behandelt werden“
Ron starrte das Papier an, dann legte er es beiseite und zuckte mit den Schultern, „Daraus soll wer schlau werden. Aber zumindest wissen wir jetzt, woher er seine ganzen klugen Sprüche hat, was Harry?“
Doch Harry antwortete nicht. Schon mit den ersten Worten war er tief im Innern erstarrt. Als hätte ein Blitz aus Eis ihn getroffen. Die Worte, die Dumbledore zu ihm gesprochen hatte! Im ersten Schuljahr, an seinem Krankenbett. Wo sie auch über Snape geredet hatten. Snape, der Harry beschützt hatte. War es nur ein Zufall, dass er sie heute wieder hörte? Heute, wo er sich über Snape so sehr den Kopf zerbrach. Für einen Moment lang hatte Harry wieder das Gefühl, den Schnee um sich fallen zu spüren. Er schloss die Augen. Sein Geist wanderte zurück in eine scheinbar längst vergangene Zeit, die gar nicht mal so weit zurücklag. Zurück zu einem Abend, als er Snape so vorgefunden hatte, wie er ihn niemals vorzufinden geglaubt hatte. Traurig, schwach, mit feuchten Augen und einem Foto in der Hand, das hastig im schwarzen Umhang verschwand. War es das gewesen? Der Versuch, eine Wahrheit mit Umsicht zu behandeln? Aber welche Wahrheit?
Ganz allmählich wurde Harry flau. Eine Ahnung keimte in ihm, was auf dem Foto zu sehen war. Eine Ahnung gleich eines eisigen Hauchs, der einem die Nackenhaare aufstellte. Mit aller Macht schon Harry sie von sich weg. So energisch wie er nur konnte. Denn er wollte nicht wahrhaben, was sie bedeuten könnte.
„Keks?“, fragte Ron und reichte ihm mampfend die zweite Hälfte des Glückskeks. Doch Harry schüttelte den Kopf.
„Ist okay, kannst ihn haben“, sagte er rasch und glitt zittrig aus dem Bett.
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Kursivtext: J.K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen, Seite 324
Die Wahrheit, die Wahrheit - was war die Wahrheit? Harry grübelte den ganzen Montagmorgen über diese Frage. Während Professor Binns vor der Tafel schwebte und über irgendwelche Kriege referierte, schwebte ihm noch immer der Junge unter der Buche vor Augen. Harry versuchte sich zu konzentrieren, zu erinnern, sich das Gesicht genau einzuprägen, das er doch kaum gesehen hatte. Es läutete zum Stundenende und alles strömte hinab in die Kerker. Als Hermine vernehmlich Nevilles Mitschriften korrigierte und Malfoy ihr für ‚Besserwisserei‘ fünf Hauspunkte abzog, öffnete sich die Türe. Anstatt ein hämisches Grinsen aufzusetzen wie Harry es von Snape gewohnt war, warf der Tränkemeister nur einen grimmigen Blick in die Runde und trat zur Seite, um die Schüler ins Klassenzimmer zu lassen. Malfoy quittierte seine Ignoranz mit einem vernichtenden Blick, dann ging er schweigend hinein und Harry und seine Freunde folgten.
Am heutigen Tag dampften und brodelten im Kerker keine Kessel. Es war eine Woche vor den Prüfungen und wie Binns hatte auch Snape beschlossen den Stoff zu wiederholen, der in den ZAGs möglicherweise abgefragt werden würde. Die Klasse sollte sich noch einmal die Kapitel über Stärkungstränke durchlesen, dann ihre alten Zaubertrankproben holen, die Snape in einem Seitenregal aufbewahrt hatte und einen Aufsatz darüber schreiben, warum sie misslungen waren. Während Crabbe und Goyle Löcher in die Luft starrten und Malfoy von Blaise Zabini abschrieb, musterte Harry Snape mit Argusargusaugen. Jeden Zentimeter an ihm glich er mit seiner Erinnerung ab: die fettigen Haare, die schwarze Robe, die fahle Haut, die hagere Statur, die Hakennase. Snape war zwanzig Jahre älter als der Junge aus Slughorns Erinnerung und doch gab es gewisse Ähnlichkeiten. War er es gewesen oder nicht? Harry sollte nicht mehr viel Zeit bleiben dieser Frage nachzugehen. Ron hatte gerade mit verkniffenem Mund den letzten Federstrich auf seinen Pergamentbogen gesetzt, da ging die Glocke.
Es folgte eine Wahrsagestunde bei Firenze, in der Harry andauernd an Trelawneys Namen in der kryptischen Notiz aus Dumbledores Büro denken musste und eine Doppelstunde bei Umbridge in der er vergebens darauf wartete, dass diese endlich die Katze aus dem Sack lassen würde. Beim Abendessen schließlich gab Harry das Grübeln auf. Was brachte es schon? Firenze konnte ihm gewiss nicht sagen, was es mit Trelawney auf sich hatte und Umbridge hielt sich noch immer bedeckt. Er würde all die Rätsel doch nicht lösen, so sehr er seine Gedanken auch hin- und her wälzte. Und Snape? Harry seufzte und stach seine Gabel ins Kürbisgratin. Es war zwecklos, sich etwas vorzumachen. Alle Indizien sprachen dafür: Der Junge, den er bei seiner Mutter gesehen hatte, war Snape gewesen. Da halfen alle Ausflüchte nichts. Er war es gewesen. Punkt. DAS war die Wahrheit. Auch wenn Harry sie nicht verstand. Nicht verstand, wie der gleiche Junge, der seiner Mutter zwei Jahre später ein „Schlammblut!“ an den Kopf werfen sollte, so unbeschwert bei ihr im Gras sitzen konnte. War es die pure Dreistigkeit gewesen? Hatte Snape vielleicht mehr von Lily Evans gelernt und profitiert, als Harry sich bisher vorgestellt hatte und sie daher nett behandelt? Oder sollte es wirklich eine Zeit gegeben haben, in der Snape kein Problem mit Muggelstämmigen gehabt hatte? Zumindest, wenn es ums gemeinsame Lernen ging? Aber was war dann vorgefallen? Wie war Snape zu dem Jungen geworden, dem ‚Schlammblut‘ so locker von der Zunge ging? Für eine Sekunde blitze vor Harrys Augen wieder das wahnsinnige Gesicht des Tränkemeisters auf, als dieser ihn aus seinem Büro schmiss, nachdem Harry ihm genau das vorgeworfen hatte. Wieder einmal wurde Harry eiskalt und er verbannte das Bild ganz schnell aus seinem Gedächtnis. Tief in sich, das spürte er, war mit der gestrigen Erinnerung sein Bild von Severus Snape eingestürzt. Doch was sich einmal aus den Ruinen erheben würde, was unter den zerstörten Steinen zum Vorschein käme, das wusste Harry nicht.
Die Zeiger auf der Wanduhr waren schon weit vorangerückt, als er, Ron und Hermine von ihren Stühlen aufstanden und die leeren Teller am Tisch zurückließen. Harry hielt seinen Blick ein wenig länger auf das Ziffernblatt gerichtet. Was er brauchte, waren Antworten. Und es gab nur einen Ort, an dem er welche finden konnte - vielleicht schon heute Abend! Denn es war Montag und das hieß, Snape erwartete ihn um sechs im Kerker. Mit einem Anflug von Nervosität folgte Harry Ron und Hermine in die Eingangshalle. Die Zeit verging wie im Flug.
„Herein!“, drang Harry die ölige Stimme des Tränkemeisters durch den Türschlitz entgegen. Er beeilte sich einzutreten. Das Kerkerbüro war wie eh und je in Düsternis getaucht. Nur das Flackern vereinzelter, schwebender Kerzen streifte hier und da die schleimgefüllten Gläser in den Regalen, wo sich ihr Licht zu einem grünen Schein brach, der den Raum spärlich beleuchtete. Eine Gänsehaut breitete sich auf Harrys Armen aus, als die Türe hinter ihm ins Schloss fiel. Hier unten war es immer kühl, selbst im Hochsommer. Doch es war nicht die Kälte allein, die ihn heute frösteln ließ. Am anderen Ende des Raums, gegenüber der Tür, stach Snapes fahles Gesicht aus der Dunkelheit. Wie ein Phantom stand er hinter seinem Pult und sah Harry direkt ins Gesicht. Schweigend trat Harry näher. Es war das erste Mal seit Langem, dass sie wieder alleine waren und wie so oft gingen ihm wieder tausend Gedanken durch den Kopf, während er den Blick des Mannes hielt, den er immer weniger kannte. ‚Wer bist du eigentlich, Severus Snape‘, dachte Harry unwillkürlich, ‚Und wie bist du geworden, wie du bist?‘ Fast schien es, als schwebten unsichtbare Fragezeichen über Snapes Kopf.
Auf dem Schreibtisch zwischen ihnen stand, wie der Grundstein einer Trennmauer, das Denkarium. Wie auch beim letzten Mal hatte es Snape wieder mit einer undurchdringlichen, magischen Kuppel gesichert. Fast so als ob die größte Gefahr der Welt wäre, dass auch nur eine Erinnerung darin einsichtig werden könnte. Die Erinnerungen Snapes, des wandelnden Geheimnisses, des Buchs mit sieben Siegeln. Mit wie vielen Mugglestämmigen mochte er wohl noch im Gras gelegen und Zaubertrankbücher gewälzt haben? Harry würde es nie erfahren. Die Erinnerungen waren für ihn verschlossen. Auch Snape war jemand, der die Wahrheit mit Umsicht behandelte.
Dann auf einmal schlug Harrys Puls ein weniger schneller, als ihm plötzlich etwas einfiel. Snape war nicht der Einzige, der Gebrauch von Dumbledores Gerätschaft gemacht hatte. Was wenn er ahnte, dass Harry selbst gestern erst seine Nase dort hineingesteckt hatte? Doch bis jetzt verhielt Snape sich nicht sonderlich auffällig.
„Potter“, begrüßte er ihn kühl, als Harry das Pult erreicht hatte und sagte tonlos: „Setzen Sie sich“.
Mit seiner dünnfingrigen Hand deutete er auf den Hocker vor dem Pult. Harrys Blick aber haftete noch immer am Denkarium. Und ganz langsam rutschte ihm dabei das Herz in die Hose.
Vielleicht hatte Dumbledore Recht. Vielleicht war die Wahrheit wirklich etwas, das mit Umsicht behandelt werden sollte. Wie viele Erinnerungen in den letzten Wochen zusammengekommen waren, die Snape besser nicht zu Gesicht bekäme! All die Nachforschungen über dessen Leben: Das Jahrbuch, die Zeitungsartikel, der Einbruch in Dumbledores Büro, Hogmeade. Es gab zu viel in Harrys Kopf, das er heute vor Snape würde verbergen müssen. Würde er es schaffen? Er war kein Meister in Okklumentik. Er konnte nur hoffen. Schnell versuchte Harry, seinen Geist zu leeren, all diese Dinge tief in sich wegzuschließen. Sein Vorhaben mit Snape zu sprechen rückte in weite Ferne. Es war gefährlich genug, dass es all diese Erinnerungen in ihm gab. Doch Snape durch ein Gespräch darauf aufmerksam zu machen, das wäre der reinste Irrsinn. Wortlos nahm Harry Platz.
Auch Snape setzte sich und legte die Fingerspitzen aneinander, während er Harry genauestens musterte.
„Bevor wir zur heutigen Übung kommen, habe ich ein paar Fragen an Sie, Potter“, sagte er kühl.
Harry nickte.
„Hatten Sie seit letzter Woche irgendwelche Alpträume oder Visionen?“
„Nein, Sir“, antwortete Harry und versuchte Snapes dunklen Augen stand zu halten.
„Sie haben jeden Abend Ihr Okkluserum genommen?“
„Ja“
„Und die Aufgabe erledigt, die ich Ihnen gestellt hatte?“
„Ja“
„Sie haben nur offizielle Ausgänge benutzt?“
„Ja, Professor“
„Gut, Potter, dann stehen Sie auf.“
Harry bemühte sich, an nichts zu denken, nichts zu fühlen, einfach nur einen leeren Kopf zu haben, während Snape seinen Stuhl wegschob, in den Raum hineintrat. Sie standen sich gegenüber, Auge in Auge. Das Gesicht des Tränkemeisters glich einer Maske, die nicht die kleinste Regung verriet. Harry amtete tief ein, Snape zog den Zauberstab. Und obwohl in den letzten Wochen so viel geschehen war, hatte Harry doch das Gefühl, dass sein Geist einer sicheren Festung glich mit meterhohen Mauern, die niemand so leicht überwand.
„Bereit?“, rief ihm Snape zu.
„Bereit“, antwortete Harry.
„Drei…zwei…eins…Legilimens!“
Und der Raum vor Harrys Augen erzitterte.
„Gut! Gut, Potter!“, rief Snape als er den Zauberstab wieder sinken ließ. Wie lange sie schon trainierten wusste Harry nicht. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und in seiner Schläfe breiteten sich Kopfschmerzen aus. Und doch er hatte es geschafft! Er hatte es geschafft, Snape aus seinem Geist fern zu halten. Wenn auch mit einigen kleinen Hürden. Der grüne Schein flackerte über das Gesicht des Tränkemeisters als dieser sich umwandte und seine Vorräte im Regal inspizierte.
„Zeit für eine Pause“, rief er Harry zu ohne ihn anzusehen.
Harry ließ sich auf den Hocker fallen.
„Ich wage es kaum zu sagen, aber Sie machen Fortschritte, Potter. Wenn Sie sich noch ein wenig verbessern, können wir bald zur okklumentischen Täuschung übergehen.“
„Okklumentische Täuschung?“
Harry sah verwundert auf. Snape betrachtete ein Glas voller Schneckenschleim.
„Okklumentische Täuschung: Das, was Sie im Grunde jeden Abend tun, insofern Sie mich nicht belogen haben.“
Er schenkte Harry ein herablassendes Lächeln und wandte sich wieder dem Schneckenschleim zu. „Den Geist nicht nur reinigen, sondern ihn mit einer falschen Erinnerung zu füllen. Den Eindringling nicht nur ins Leere laufen zu lassen, sondern ihn in die Irre führen. Ich hoffe, dass Sie diese Kunst einmal auch ohne die Zuhilfenahme von Okkluserum beherrschen lernen. Doch bis dahin ist es noch weiter Weg. Ich kann nicht leugnen, Potter, dass Sie sich besser geschlagen haben, als ich Ihnen zugetraut hätte. Doch zwei Mal konnte ich in Ihren Geist eindringen und das ist noch immer zwei Mal zu viel. Wenn Sie dem Dunklen Lord gegenüberstehen, könnte schon ein Mal das Letzte sein.“
Harry spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Er wusste, wovon Snape sprach. Sein alltägliches Geschäft als Spion. Und nach der letzten Vision ahnte Harry nur zu gut, wie real diese Gefahr war. Ohne es jemals offen zuzugeben, bewunderte er Snape schon für das Risiko, das dieser auf sich nahm, auch wenn Harry ihn nicht sonderlich mochte. Aber auch jemand, der einem unsympathisch war, konnte großen Mut beweisen. Was Snape wohl alles vor Voldemort verwahrte? Welche Geheimnisse er wohl wusste und gut verborgen hielt? Einige Sekunden des Schweigens verflossen, in denen Harry den schwarzen Umhang und das blasse Profil seines Lehrers einfach nur betrachtete. Dann auf einmal waren sie wieder da. All die Dinge, die ihm durch den Kopf gegangen waren, als er auf den Stufen der Wendeltreppe stand. All die Fragen, die er Snape stellen wollte.
„Hogsmeade“, rutschte es Harry heraus.
Snape wandte sich um. Ein Ausdruck erhöhter Aufmerksamkeit huschte über sein Gesicht. Sofort bereute Harry seine Unachtsamkeit. Er konnte ahnen, woran Snape gerade dachte. Luna war Samstagnacht auch im Hof gewesen und Snape wusste, dass sie befreundet waren.
„Sie haben durchgesetzt, dass ich auf den Ausflug nicht mitdurfte“, sagte Harry hastig, „Auf der Versammlung im Grimmauldplatz. McGonagall hat mir davon erzählt. Warum?“
Snape kniff prüfend die Augen zusammen, so dass Harry in zwei finstere, kleine Schlitze sah.
„Ich sagte Ihnen bereits, dass es Gefahren außerhalb dieser Schule gibt, von denen Sie nicht einmal träumen-“
„- Gefahren, vor denen Sie mich beschützen?“, rutschte es Harry abermals heraus. Er spürte, wie sein Herz vor Aufregung klopfte, als er direkt in die schwarzen Schlitze blickte.
Wieder zog ein Aufflackern von Skepsis über Snapes Gesicht. Langsam wandte er sich dann zum Regal um und musterte eine Phiole. Doch Harry hatte Blut geleckt. Er fühlte sich an eine Okklumentikstunde erinnert, die lange zurücklag. Eine Okklumentikstunde, in der er etwas gesehen hatte, das er nie vermutet hätte: Einen kleinen, schwarzhaarigen Jungen, der weinend in einer Ecke gekauert hatte. Das Bild mischte sich mit den Erinnerungen an seinen Denkariumsausflug und überhaupt an alles, was in den letzten Wochen geschehen war. Und dann brach sich die Erkenntnis in Harrys in Harrys Kopf Bahn gleich einer lodernden Flamme. Natürlich! Severus Snape, der große Meister der Okklumentik! Er war nicht der Fiesling, für den ihn alle hielten. Er spielte bloß ein Spiel! Ein Spiel mit Harry wie er eines mit Voldemort spielte. Okklumentische Täuschung! Eine Maske! Aber warum?
„Sie sind nicht so gemein wie Sie tun!“, sagte Harry Snape direkt auf den Kopf zu, sprang von seinem Stuhl auf und trat ihm entgegen, „Sie haben Mugglestämmige nicht immer gehasst. Sie haben meine Mutter nicht immer gehasst. Sie haben mit ihr zusammen einen Zaubertrankwettbewerb gewonnen.“
Der schwarze Umhang wirbelte herum und Snapes blasses Gesicht ging wie der Mond direkt über Harry auf. Ein aufgescheuchter Mond. Snapes Schläfe pochte.
„Was sagen Sie da, Potter?“, fuhr er ihn an, „Woher wissen Sie, dass-“
„-Ein alter Artikel im Tagespropheten“, ratterte Harry herunter, „Ich hab ihn gesehen, weil…weil“
Er brauchte ganz schnell eine gute Lüge „Weil Madame Pince mir das als Strafarbeit gegeben hat. Ich musste die alten Ausgaben ordnen, weil wir in der Bibliothek gezaubert haben.“
Snape sah ihn mit einer Mischung aus Ärger und Verächtlichkeit an.
„Geschieht Ihnen ganz recht“, höhnte er schließlich und wandte sich schnaubend wieder den Einmachgläsern und Flakons zu, „Ihre Pause ist beendet, Potter, bereiten Sie sich vor.“
Doch Harry dachte nicht daran, wieder auf seine Position zurückzukehren.
„Und was ist mit den Zaubertränken?“, rief er, „Sie haben mir heimlich Zaubertränke beigebracht. Sie haben Sie mich abschreiben lassen. Sie haben uns die Zutaten zugespielt. -“
„- Seien Sie still!-“, schnauzte Snape ihn an. Irgendwo in der Ferne war ein leises Rascheln zu hören.
„- Hermine braut sie gerade im Gryffindorturm. Hochpotente, vielleicht sogar verbotene Zaubertränke. Aber sehr nützliche. Das hatte doch alles einen Grund? Warum sagen Sie uns nicht die Wahrheit, Professor?“
Harry hatte es gerade ausgesprochen, als plötzlich ein Geräusch sie beide gleichzeitig den Kopf herumreißen ließ. Von der Türe her erklang ein Klopfen.
Snape warf Harry einen vernichtenden Blick zu, dann wandte er sich zur Türe um, schwenkte seinem Zauberstab und rief: „Herein!“
Die Klinke fuhr nach unten und im Rahmen erschien ein weißblonder Haarschopf.
Malfoy!
Na, der hatte gerade noch gefehlt! Harry starrte den ungebetenen Besucher an. Und irgendetwas gefiel ihm nicht an ihm, noch weniger als sonst. Im ersten Moment konnte er nicht sagen, was. Doch als Malfoy endlich in das grüne Licht des Raums trat, wusste er es. In den Augen seines Kontrahenten lag ein merkwürdiges Glitzern. Snape schien nichts zu bemerken.
„Was gibt es, Draco?“, rief er ihm entnervt zu.
Doch Malfoy würdigte seinen Hauslehrer keines Blickes. Seine Augen waren auf Harry gerichtet.
„Noch immer Nachhilfe, Potter?“, höhnte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
„Wenigstens bin ich mir nicht zu fein, welche zu nehmen, wenn ich sie brauche“, konterte Harry blitzschnell.
„Für diese Beleidigung, Potter, kassierst du zehn Punkte Abz-“
„-Wenn hier jemand Hauspunkte abzieht, bin ich das, Malfoy“, fiel ihm Snape ungehalten ins Wort, „Also, was wollen Sie? Es sind keine offiziellen Sprechzeiten und wie Sie sehen, habe ich zu tun.“
Erst jetzt wandte sich Draco zu ihm um und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.
„Mein Vater hat Ihnen ein Angebot zu machen“, sagte er kühl, „Wegen Ihres Gesprächs heute Morgen. Sie wissen schon. Die Schweigepflicht. Er würde es sich schon was kosten lassen.“
Harry traute seinen Ohren nicht. Ein Bestechungsversuch! Von Malfoy?!? Aber: Worum?
Der Tränkemeister musterte Draco einen Moment lang. Dann beugte er sich zu ihm herunter und sagte in gedämpftem Ton: „Richten Sie Ihrem Vater aus, dass ich nicht mit Schülern verhandle, die unaufgefordert in mein Büro platzen. Nicht unter den Augen von Fudges rechter Hand. Wenn Luciusetwas mit mir zu besprechen hat, dann soll er sich selbst bei mir melden. Einen guten Abend, Draco.“
Malfoy nahm es mit stoischer Ruhe auf. Er blickte zu Harry, dann zu Snape, dann wieder zu Harry.
„Wiedersehen, Potter“, sagte er süffisant und wandte sich zum Gehen.
Snape warf ihm einen skeptischen Blick hinterher, bis er das Zimmer verlassen hatte. Er wollte die Türe gerade wieder schließen, da war von fern ein ganz leiser Glockenklang zu hören. Sieben Schläge.
Snape stöhnte leise, dann wandte er sich zu Harry um.
„Ich fürchte, Ihre Stunde ist beendet, Potter. Packen Sie ihre Sachen und verschwinden Sie“
Doch Harry verschwand nicht. Er blieb im Raum stehen und wartete. Wartete bis Malfoys Schritte nicht mehr zu hören waren. Dann blickte er Snape an. Mitten ins fahle Gesicht, in die dunklen Augen, in denen sich der kalte, grüne Schein des Zimmers spiegelte. Und dann sagte Harry etwas, das er sich vor Kurzem noch nicht einmal im Traum hätte vorstellen können.
„Sie tun mir leid, Professor“.
Im grünlichen Licht konnte er sehen, wie Snape die Kinnlade herunterklappte und seine Augen sich vor Überraschung weiteten. Doch Harry war noch lange nicht fertig.
„Sie tun mir leid, weil Sie glauben, aus all dem ein Geheimnis machen zu müssen. Sie tun mir leid, weil Sie nicht wollen, dass wir uns Sorgen um Sie machen. Sie tun mir leid, weil Sie überzeugt davon sind, dass ich wie mein Vater bin und Ihnen was Böses will. Weil Sie nicht dazu stehen können, dass Sie nicht so fies sind, wie tun und dass Sie mich beschützen. Sie tun mir leid, weil Sie kein Vertrauen in uns haben.“
Und mit diesen Worten packte Harry seinen Umhang und lief aus dem Zimmer. Aus dem Augenwinkel konnte er noch sehen, wie Snape ihm mit offenem Mund und kreidebleich im Gesicht hinterherschaute. Doch noch ehe der Tränkemeister vielleicht seinen Zauberstab ziehen und Harry irgendeinen Fluch auf den Hals jagen konnte, stand er bereits draußen auf der Treppe und zog die Türe hinter sich ins Schloss.
Jedes Wort hatte er genauso gemeint, wie er es gesagt hatte.
Bücher, Bücher und noch mehr Bücher. Die Welt schien aus Büchern gebaut zu sein. Jeder Stein in Hogwarts war ein Wälzer. Die Fenster bestanden aus Pergament und das Leben war nur noch eine Erinnerung, niedergeschrieben in tausend kleinen Zeichen aus schwarzer Tinte. Harry gähnte herzhaft, schob eine Mauer beiseite und griff in die dahinter verborgene Schatztruhe einer Pappschachtel. Jener Pappschachtel, in der seine Freunde vorletzte Woche die Lackritzzauberstäbe aus dem Honigtopf mitgebracht hatten. Doch so gerne sich Harry den Naschereien auch hingab, verschafften sie ihm kaum Ablenkung. Die Ablenkung, die er dringend gebraucht hätte, um sich ganz aufs Lernen konzentrieren zu können. Stattdessen stand ihm noch immer Snape vor Augen, mit offenem Mund und bleich, wie Harry ihm im Kerker zugerückgelassen hatte. Warum Snape sich von Voldemort abgewandt hatte, warum er Harry beschützte, war noch immer ein Rätsel. Doch hatte Harry in der letzten Okklumentikstunde mehr gelernt als in jeder anderen zuvor. Er hatte etwas Entscheidendes begriffen: Snape trug eine Maske. Seine Gemeinheiten waren nichts als Fassade. Vielleicht war das ja der Ansatz, der all die Puzzleteile zusammenführen würde? Vielleicht…
Nein! Harry schnickte heftig mit dem Kopf, um nicht der Versuchung zu erliegen, seine Gedanken noch weiter zu spinnen. Er hatte keine Zeit dafür. Seitdem er gestern aus dem Kerker zurückgekehrt war, hatte er seine Nase kaum aus den Büchern gehoben, selbst wenn er sich nicht wirklich auf den Stoff konzentrieren konnte. Es war eine Woche vor den Prüfungen und da gab es Wichtigeres zu tun als sich über Snape den Kopf zu zerbrechen. Den ganzen Dienstag über hatten er und seine Freunde nichts anderes getan als zu lernen und lernen und lernen. Selbst Dumbledores Armee hatten sie nicht noch einmal im Raum der Wünsche einberufen, um Zeit zum Pauken zu haben. Obwohl Hermine ihnen angedroht hatte, dass sie sie auch noch einmal praktisch in Verteidigung gegen die Dunklen Künste prüfen werde. Inzwischen war es spät am Abend und Harry wollten fast die Lider zufallen. Im schwachen Licht der Öllampe auf dem Tisch tanzten die Buchstaben nur so vor seinen Augen. Ron, nicht weniger erschöpft, stieß derweil einen Zuckerfederkiel in sein Tintenfass und beobachtete bedröppelt, wie dieser sich auflöste. Nur Hermine war noch voller Energie.
„Leute, dieser Treehouse ist einfach der Hammer“, ertönte ihre begeisterte Stimme hinter der höchsten Bücherwand auf dem Tisch, „Hier drin steht alles. Einfach alles. Über die Unverzeihlichen Flüche, über Kelpies und die Sphinx und Kappas, über Dementoren und ganz viel über Inferi und-“
„-Steht da auch drin, wer mich erledigen wollte?“, fragte Ron, gähnte und wickelte den Zuckerfederkiel in ein Taschentuch.
Hermine warf ihm über den Rand ihres Buches hinweg einen finsteren Blick zu. Und Harry sah ganz schnell hinab in seines.
Sie hatten seit Sonntagabend nicht mehr über den Angriff auf die Ravenclaws gesprochen. Es hatte auch keinen Anlass dazu gegeben. Umbridge hatte bisher weder Flitwick noch die Siebtklässler der Schule verwiesen. Und sie hatte auch keine neuen Aushänge und Erlässe verhängt. Zumindest keine, die auf Ravenclaw hinwiesen. (Es war Mädchen nun wohl wegen der Gefahr konspirativer Gespräche verboten, zu zweit auf Toilette zu gehen, was Lavender Brown und Parvati Patil mit dem größten Bedauern aufgenommen hatten). Allmählich zweifelte Harry an seiner Theorie, dass Umbridge noch ein Ass in der Hand bedeckt hielt. Eher schien es so, als hätte sie tatsächlich nichts vom dem Aufruhr mitbekommen. Auch wenn Harry sich nicht erklären konnte, wie die Ravenclaws und die Professoren das hinbekommen hatten. Auf den Fluren und Gängen sah man in diesen Tagen sehr viele Schüler mit blau-bronzefarbenen Abzeichen an den Umhängen, die hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Einige munkelten, dass jemand Umbridges Gedächtnis manipuliert hatte, so dass sie sich an nichts mehr erinnern könne, was in dieser Nacht geschehen war. Andere gingen davon aus, dass sie selbst hinter dem Angriff steckte, auch wenn keiner wusste, was die beiden Siebtklässler eigentlich angegriffen hatte. Lunas Erklärung war laut Ginny recht simpel: Schlickschlupfe. Ein ganzes Geschwader an Schlickschlupfen, das Umbridges Geist durcheinander gebracht hatte. Welchem Gerücht er glauben sollte, wusste Harry selbst nicht, auch wenn er die Schlickschlupfe ausschloss. Offiziell hatten die beiden Ravenclaws sich beim Üben für ihre praktischen UTZ-Prüfungen in Verteidigung gegen die Dunklen Künste gegenseitig verletzt und lagen deswegen auf der Krankenstation. Umbridge hatte gelächelt, als McGonagall dies bekanntgab. Und am Tisch der Slytherins hatte eine wohlvertraute Stimme im gehässigen Tonfall gesagt: „Typisch! Bücherwürmer haben eben keine Ahnung von der Praxis.“ Worauf Hermine wütend ihre Wälzer zugeschlagen hatte und aus der Großen Halle gestapft war.
„Nein“, sagte sie jetzt den Blick auf Ron gerichtet, „Aber etwas, das uns helfen könnte, falls es noch einmal passiert. Inferi reagieren auf Licht. Aber ein normaler Lumos ist zu schwach. Du brauchst etwas Stärkeres. Hier steht ein Zauber für Sonnenlicht drin. Ich werde ihn gleich mal rausschreiben.“
Rons müdes Gesicht wirkte plötzlich ein Stück wacher.
„Du meinst, dass es nochmal pass-“
Rons Worte gingen unter in einem Poltern, gefolgt von einem lauten: „Aua!“
Er, Harry, Hermine rissen die Köpfe herum.
Auf dem Treppenabsatz zu den Jungenschlafsälen erschien ein großer Busch grüner Blätter über einem Terrakottatopf. Und irgendwo hinter dem Gestrüpp war schwach ein Jungengesicht mit einer blutigen Nase auszumachen.
„Neville, was tust du denn da?“, rief Hermine, als ihr Klassenkamarad den Raum trat. Ächzend setzte Neville den Topf vor dem Kamin ab und blickte auf.
„Ich bring die Fangzähnige Geranie runter. Sie ist schon fast wieder gesund, seht ihr wie saftig ihre Blätter sind. AU!“
Ein paar Zähnchen bohrten sich in Nevilles Hand, während er auf das Gestrüpp deutete.
„Aber im Schlafsaal wird es allmählich zu kühl für sie. Hier unten ist es wärmer. Professor Sprout meinte heute nach der Stunde, ich soll sie nächste Woche vorbeibringen, weil Sie sie der Prüfungskommission zeigen will. Vielleicht krieg ich sogar ein Ohnegleichen. Also meint Professor Sprout. Hmm, ich glaub ich geh dann hoch und hol noch den Dünger.“
Und mit einem vergnügten Lächeln auf dem blutverschmierten Gesicht drehte Neville sich um und stapfte die Treppe wieder hoch. Im selben Augenblick sprang Krummbein Hermine auf den Schoß und drängte sich zwischen sie und Treehouse. Ron gähnte ein zweites Mal.
„Ich glaub, ich geh auch hoch. Nacht zusammen“
Er stand auf, warf den Zuckerfederkiel in den Abfalleimer und verschwand.
Harry und Hermine saßen noch eine Weile zusammen, dann löschten auch sie das Licht.
„Oh Mann“, stöhnte Ron, als sie am nächsten Morgen aus Firenzes Klassenzimmer traten. Der Lärm in den Gängen dämpfte seine Worte zwar, doch konnte er weder über das blasse Rot in Rons Gesicht noch über die Schweißperlen auf seiner Stirn hinwegtäuschen, „Wenn selbst Neville von einem Ohnegleichen träumt…Ich weiß nicht, wie das noch enden soll!“
„Aber doch nur, weil Kräuterkunde sein bestes Fach ist“, versuchte Harry ihn zu beruhigen. Die Wahrheit, dass es auch das einzige Fach war, in dem Neville wirklich gut war, beschloss er besser für sich zu behalten. Denn Neville war irgendwo dicht hinter ihnen.
„Ich weiß ja, aber. Ach Mann, Harry, ich weiß einfach nicht, wie das werden soll. Mum hält so große Stücke auf mich, seitdem Percy weg ist. Aber ich glaube ich pack das alles nicht!“
Harry schwieg, senkte den Kopf. Er war in den letzten Wochen so sehr mit Snape beschäftigt gewesen, dass er sich um die Prüfungen kaum Gedanken gemacht hatte. Doch jetzt, wo sie praktisch schon vor der Türe standen, spürte auch er das Lampenfieber. Sie waren schon ein Stück gelaufen und in der Ferne konnte Harry bereits einige Silhouetten vor Professor McGonagalls Klassenzimmertüre ausmachen, da sprach ihn plötzlich eine Stimme von der Seite an.
„Hallo, Jungs!“
Hermine, vollbepackt mit Büchern und einem Strahlen im Gesicht stieß aus einem Quergang zu ihnen. Harry erwiderte ihr Lächeln matt. Zum Glück ließen die Prüfungen noch ein paar Tage auf sich warten. Alles, was ihm in der nächsten Schulstunde drohte, war eine Wiederholung des Verwandlungsstoffs bei McGonagall. Gleichgültig schlurfte er neben seinen Freunden her, bis sie das Klassenzimmer erreicht hatten.
Es war noch nicht ganz an der Zeit, da öffnete sich hinter ihnen die Türe. Ohne viel von seiner Umgebung Notiz zu nehmen, wollte Harry schon eintreten. Doch dann wich er plötzlich zurück. Aus dem Klassenzimmer drangen Stimmen. Professor McGonagalls erkannte Harry sofort. Doch da war noch jemand. Eine tiefe, männliche Stimme. Er und McGonagall schienen sich gerade zu verabschieden. Harry überlegte noch, wer das sein könnte, da schob sich durch den Rahmen auch schon ein großer, korpulenter Mann mit einer silbernen Halbglatze, einem Doppelkinn und einem Monokel im Auge.
„Ach, da sind sie ja schon, die Schüler. Seien Sie mir gegrüßt und viel Erfolg“, sagte er freundlich, zog seinen Zylinder und lief an ihnen vorüber in Richtung Eingangshalle.
„Wer ist denn das?“, fragte Ron leise, während sie dem Zauberer verwundert hinterherschauten.
„Ach das“, erklärte Hermine tonlos, „Das ist nur Mister Rodwire von der Prüfungskommission. Der war heute Morgen auch schon bei Professor Vektor in Arithmantik.“
Harry und Ron rissen die Köpfe herum und starrten sich an. In Rons Augen stand die gleiche Überraschung geschrieben, die auch Harry gerade wie ein Faustschlag in den Magen getroffen hatte. Er war sich sicher, dass ihnen gerade dasselbe durch den Kopf schoss.
„Rodwire?… Prüfungskommission?“, stammelte Ron schnell atmend.
„Ja, habt ihr den Aushang am Schwarzen Brett nicht gelesen? Der besucht diese Woche alle Lehrer, um die ZAGs und UTZs zu besprechen. Glaube, gestern war er bei Professor Sprout.“
„Ja, schon, aber-“
Ron kam nicht dazu, auszusprechen. Im gleichen Augenblick stand Professor McGonagall im Türrahmen und winkte sie herein. Der Lärm, der sich auf dem Flur erhob, erstickte jedes Wort im Keim. Ron und Harry tauschten einen bedeutungsschweren Blick, dann folgten sie Hermine schweigend ins Klassenzimmer.
„Das kann doch gar nicht sein, Harry“, keuchte Ron, als sie nach Verwandlung am Gryffindortisch in der Großen Halle saßen und auf Hermine warteten, die noch einen Abstecher zur Bibliothek gemacht hatte.
„Ich fürchte, es ist so“, sagte Harry leise und spürte dabei, wie ihm der Schweiß den Rücken hinab lief. Kalter Schweiß, obwohl vor ihm ein warmer Eintopf dampfte. Zum Glück war es in der Halle so laut, dass niemand ihr Gespräch belauschen konnte.
„Aber wenn das heute… wer war dann dieser McPire letzte Woche?“
„Keine Ahnung“
„Harry, das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht.“
„Denkst du mir etwa?“
Einen Moment lang starrten sie sich nur an.
„Und wenn Hermine sich geirrt hat. Wenn Sie-“
„-Das glaubst du doch selbst nicht. Hermine verwechselt keine Termine oder Namen.“
„Nein, Nein, da hast du Recht“, sagte Ron und rührte geistesabwesend in seinem Teller herum.
Harry legte seinen Löffel ab, presste die Lippen aufeinander und ließ seinen Blick einmal durch den Raum schweifen. Er dachte zurück an den letzten Mittwoch. An die Begegnung mit McPire. An sein flaues Gefühl, über das er bisher geschwiegen hatte.
„Er hat meine Narbe angestarrt“, sagte er leise, während er zum Lehrertisch hinauf sah.
„Wer?“
„McPire“
„Und das bedeutet?“
Harry wandte sich wieder Ron zu, der ihn erwartungsvoll musterte.
„Ich weiß es nicht. Nichts Gutes, fürchte ich….Der Brief aus Dumbledores Büro. Da war von Voldemort die Rede und von - Trelawney.“
Ron brach in Husten aus. Er hatte sich am Eintopf verschluckt.
„Trelawney?!?“, keuchte er.
Doch Harry überging es.
„Was, wenn dieser McPire wirklich irgendetwas mit dem Ministerium zu tun hat? Wenn es da irgendeine Verbindung gibt zwischen der Geheimwaffe und Trelawney und Voldemort und - mir.“
Ron schaute auf. Ihre Blicke trafen sich und sie schwiegen sich an. Schwiegen für eine schier endlose Zeit.
„Wir müssen mit Hermine reden, oder?“, fragte Ron schließlich.
„Ja“, erwiderte Harry kopfnickend, „Aber nicht hier. Heute Abend, in Ruhe.“
Die Zeiger der Uhr standen auf Mittag und an die Decke der großen Halle glich einem strahlend blauen Himmel. Doch die Zeit färbte ihn dunkler und dunkler, bis er nachtschwarz vor den Bogenfenstern stand.
„Und ihr habt mir die ganze Zeit nichts davon gesagt?“, rief Hermine ärgerlich und ließ einen Stapel Bücher auf den Tisch fallen.
„Mensch, wir hatten doch keine Ahnung.“, rechtfertigte sich Ron, „Wir dachten doch, der wäre von der Prüfungskommission. Du hast uns ja auch nichts von Professor Vektor erzählt.“
Harry betrachtete ihr verkniffenes Gesicht, während sie Rons Blick dunkel erwiderte. Sie hatten ihr alles sofort gebeichtet, nachdem Hermine sie darauf angesprochen hatte, warum sie heute den ganzen Tag über so reserviert gewesen waren.
„Ron hat Recht“, sagte Harry schließlich, „Du hast uns auch was verschwiegen. Du hast uns nicht erzählt, dass du übers Ministerium geforscht hast.“
Hermine atmete tief durch, ihre Züge entspannten sich wieder.
„Schön, ihr habt gewonnen“, sagte sie schließlich, „Aber wie hilft uns das jetzt weiter? Wir wissen nicht, wer dieser McPire ist. Und ich glaube kaum, dass ihn irgendein Professor hier kennt.“
„Vielleicht bringt der Brief irgendwas“, sagte Harry und wandte sich Ron zu, der seine stumme Bitte sofort verstand.
„Geh schon“, murmelte er und verschwand als schwarzer Schatten in der Dunkelheit des Treppenaufgangs.
Harry lehnte sich neben Hermine gegen die Tischkante.
„Da war ein Zeichen drauf“, begann er zu erklären, „Eine Art Rosette. Ich hab keine Ahnung, was es bedeutet. Aber vielleicht ist es eine alte Rune.“ Ein Poltern ließ ihn wieder aufhorchen. Ron kam zurück und streckte Hermine gleich den Brief entgegen.
„Danke“, sagte Harry leise, während sie die Öllampe heranzog und sich auf dem nächsten Stuhl niederlies. Für eine gefühlte Ewigkeit schien Hermine das Wasserzeichen zu begutachten, während Harry sich angespannt auf der Tischplatte abstützte.
„Und?“, fragte er, als er es nicht mehr länger aushielt. Doch zu seiner Enttäuschung schüttelte sie den Kopf.
„Das ist keine alte Rune. Weder eine keltische noch eine germanische noch sonst irgendeine, die ich kenne. Es könnte etwas Astronomisches sein. Eine Darstellung eines Sonnensystems oder sowas. Wo habt ihr den Brief eigentlich her?“
Harry und Ron tauschten vielsagende Blicke, bis Ron sich schließlich räusperte.
„Aus Dumbledores Büro“, flüsterte er, fast unhörbar.
„Woher?“
„Aus… aus Dumbledores Büro“.
Und dann platze es aus ihm heraus.
„Ja, nenn mich Dieb. Nenn mich ruhig jemanden, der seine Finger nicht bei sich behalten kann!“, Schnaubend lief er vor dem Tisch auf und ab.
Hermine stand mit großen Augen auf.
„Aber Ron“, sagte sie weich, „Das ist doch jetzt völlig egal.“
„Du bist mir nicht böse?“
„Nein. Wenn es von Dumbledore ist, dann ist es zumindest nichts Schwarzmagisches. Vielleicht ist es von einer Forschungsstelle, von einem astronomischen Institut oder so.“
„Vielleicht“, sagte Harry leise, „Und was machen wir jetzt?“
Sie sahen sich einen Moment lang schweigend an. Das Licht der Öllampe beschien warm ihre Gesichter. Dann ließen Ron und Hermine die Köpfe hängen.
„Wir haben die Bibliothek durchsucht“, seufze sie.
„Wir haben Dumbledores Büro durchwühlt“, er.
„Kurzum: Wir haben jede Quelle ausgeschöpft“, schloss Harry, „Wir können nichts mehr tun.“
„Nein“, sagte Hermine betrübt und blickte zu Fenster, „außer…“
„Außer?“
„Hoffen und die Augen offen halten.“
Ron und Harry folgten ihrem Blick. Und eine tiefe, melancholische Stille legte sich über sie. Der Juninachthimmel war besprenkelt mit zahllosen Sternen und irgendwo in der Ferne glaubte Harry für eine Sekunde eine Sternschnuppe fallen zu sehen. Ob es Wahrheit war oder Illusion würde wohl erst die Zukunft zeigen.
‚Um meinen Stärkungstrank zu perfektionieren hätte ich die letzte Linksumdrehung in der zweiten Rührphase langsamer durchführen müssen, so wie es im Lehrbuch auf Seite 205, erste Zeile, dritter Absatz beschrieben ist.‘
Harry hob die Feder vom Pergament, blinzelte und gähnte. Flüchtig warf er einen Blick auf seinen leeren Zaubertrankflakon, dessen letzter Inhalt vor eineinhalb Monaten an eine Ratte verfüttert worden war. Hermine kritzelte eifrig Pergamentrolle um Pergamentrolle voll, Ron und Neville brüteten noch über ihrer ersten und von den Tischen der Slytherins drang leises Gemurmel herüber. Vorsichtig wagte Harry einen Seitenblick. Sie hatten ihre Köpfe zusammengesteckt und tuschelten wohl über ihre Zaubertrankproben. Ein paar Reihen vor ihnen schwebte Snape gleich einer Fledermaus an den Tischen vorbei und warf immer wieder einen kritischen Blick zu ihnen hinauf. Dann auf einmal trafen sich seine und Harrys Augen. Doch anstatt dass Snape ihn wie gewohnt finster anstarrte, wandte er sich blitzschnell zur Seite und Harry senkte den Blick.
Es war nicht das erste Mal. Snape hatte ihn die ganze Stunde über nicht angesehen, mied es, auch nur in die Nähe seines Tisches zu kommen. Ja, der Tränkemeister ging ihm aus dem Weg, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Insgeheim fragte Harry sich, ob Snape ihn dafür strafen wollte, am Montag einen Schritt zu weit gegangen zu sein. So wie damals beim Denkarium. Und doch war er sich keiner Schuld bewusst. Er hatte nur die Wahrheit ausgesprochen. Das war kein Verbrechen. Aber an diesem Donnerstagmorgen schienen ohnehin so einige Dinge anders zu laufen. Draco, der üblicherweise geradezu an den Lippen des Tränkemeisters hing, hatte sich zusammen mit Crabbe, Goyle, Pansy und Blaise in die hinterste Ecke des Klassenzimmers verkrümelt und beäugte Snape finster. Und der? Zahlte es mit gleicher Münze heim. Die Blicke, die stumm durch den Raum geworfen wurden, sprachen Bände. Irgendetwas musste auch zwischen ihnen vorgefallen sein.
Harry starrte auf sein Pergament und versank in Grübeleien. Die vielen kleinen Buchstaben verschwammen vor seinen müden Augen im disigen Kerzenlicht. Er hatte sich schon die ganze Nacht über McPire den Kopf zerbrochen, obwohl Ron, Hermine und er sich geschworen hatten, nicht weiter darüber nachzudenken. Zumindest solange sie keinen Anhaltspunkt hatten. Doch Harrys Gedanken wollten einfach nicht zur Ruhe kommen.
‚…Schlammblut“, drang ihm eine Mädchenstimme leise ans Ohr, während von seiner Feder ein dicker Tropfen Tinte auf die 205 klekste. Und dann –
Wumm!
Harry blickte auf, fuhr herum. Am Tisch von Pansy Parkinson und Blaise Zabini stand Snape. Die Hand auf einem Lehrbuch mitten in der tuschelnden Meute. Draco einen Tisch weiter verzog das Gesicht.
„Sie sollen lernen“, sagte Snape leise.
Da trafen sich ihre Blicke wieder. Harry wusste nicht, was er in dieser Miene lesen sollte. Ein Ausdruck huschte über das blasse Gesicht, der wenig mit schwätzenden Schülern zu tun haben konnte. Harry versuchte ihn zu fassen, zu deuten. Doch da rückten die Zeiger auf das Stundenende und Snape wandte sich ab.
„Packen Sie ihre Sachen!“, rief er mit Blick auf Draco, sammelte mit einem Accio die Aufsätze ein und ging zurück zum Pult – ohne auch nur einen weiteren Blick auf die Klasse zu werfen.
Aus dem Augenwinkel konnte Harry gerade noch sehen, wie Hermine verwundert von ihrem Pergament aufschaute.
„Oh Mann, was für eine Stunde“, gähnte Ron, als sie im Strom der Schüler die Treppe zur Großen Halle hinaufstiegen, „Hoffentlich ist’s bald vorbei. Ich kann echt keine Bücher mehr sehen.“
Hermine schwieg, bis sie die letzten Stufen erreicht hatten. Hier teilte sich der Strom und sie waren für einen Moment unter sich.
„Harry“, sagte sie bedeutungsvoll und sah ihm direkt in die Augen, „Ist zwischen dir und Snape wieder etwas passiert?“
„Nein“, flunkerte Harry und spürte, wie ihm die Wärme ins Gesicht stieg. Hermines Blicke hafteten auf ihm.
„Lüg nicht. Ich hab Augen im Kopf. So wie Snape dir heute ausgewichen ist, könnte man fast meinen, er schämt sich, dich anzusehen.“
Ron, der flüchtig zugehört hatte, runzelte auf einmal die Stirn. Und Harry starrte Hermine an.
Scham?!? War es das gewesen, das Gefühl in Snapes Gesicht? Und wenn ja, bedeutete das dann –
„Möglich“, sagte Harry und schaute unter den kritischen Blicken seiner Freunde flüchtig die Treppe hinab. Konnte es wirklich sein, dass Snapes Fassade einen Riss bekommen hatte? Dass er sich seine Worte zu Herzen genommen hatte? Noch wusste Harry die Zeichen nicht zu deuten und er war sich auch nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. McPire, Hogsmeade, Ravenclaw, Trelawney, die Mysteriumsabteilung, Snape – ihm schwirrte der Kopf von all dem. Im Moment wünschte er sich einfach nur einen ruhigen Platz am Gryffindortisch und einen Teller warme Suppe. Aber Hermines Augen starrten ihn noch immer an. Tief holte Harry Luft.
„Ja, wir hatten Streit. Aber es war echt nicht wichtig. Ging nur um die Tränke und naja, du weißt schon, der Fluch. Aber mehr war da nicht, Hermine, wirklich.“
Sie kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf.
„Oh Harry, könnt ihr nicht mal eine Stunde lang einfach nur Okklumentik üben?!?“
„Nein, wahrscheinlich nicht“, sagte Harry nüchtern, „Kommt, ich hab Hunger.“
Und er stieg die letzten Stufen in die Eingangshalle hinauf, immer dem Knurren seines Magens nach.
Das Mittagessen verlief sehr ruhig. Jeder hatte die Nase in ein Buch gesteckt und wiederholte den Stoff für die Prüfungen. Harry genoss nach all dem Trubel die Stille und den Alltag, auch wenn der nächste Schatten sich bereits am Horizont abzeichnete. Die Prüfer sollten am Sonntagabend eintreffen. Doch noch waren es vier Tage bis dahin.
„Wisst ihr eigentlich, dass die Chudley Cannons diesen Sommer ganz in der Nähe von uns ein Ligaspiel haben?“, nuschelte Ron zwischen einem Bissen Weißbrot und einem Löffel Suppe, „Vater hat heute Morgen geschrieben, dass er uns Tickets kauft, wenn ich gut abschneide.“
„Oh Ron!“, rief Hermine, „Du solltest wirklich nicht nur wegen Quidditch gute Noten schreiben wollen.“
„Lass ihn doch!“, mischte Harry sich ein, „Du hättest ihn mal gestern erleben sollen. Besser Quidditch als große Brüder, oder?“
„Allerdings. Dads Briefe sind irgendwie motivierender als die von Mum. Dad meint auch, dass ich das schon schaffe, wenn ich nur die Nerven behalte.“
Harry warf ihm einen mitleidsvollen Blick zu. Er musste an die letzten Matchs denken. Und dann – hielt er inne. Zwischen den Köpfen von Ron und Hermine hindurch hatte er einen Blick auf den Slytherintisch erhascht. Und da saß Draco Malfoy und starrte ihn an mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen. In seinen Zügen spiegelte sich die gleiche Selbstzufriedenheit wie schon am Montag, als er aus Snapes Büro gegangen war. Harry runzelte die Stirn und nahm geistesabwesend einen Schluck Kürbissaft. Er wollte sich schon wieder seinem Buch zuwenden, da sah er aus den Augenwinkeln gerade noch etwas Weißblondes aufsteigen. Keine zwei Sekunden später tauchte Draco am Gryffindortisch auf.
„Na, Potter, schmeckst?!?“, raunte er, während er sich provozierend neben ihnen aufbaute.
Unbeeindruckt blickte Harry auf.
„Was willst du, Malfoy?“
„Ich will sehen, wie du deine Henkersmahlzeit genießt“, sagte er und deutete auf Harrys Kürbissaft, „Könnte nämlich sein, dass du bald nicht mehr viel zu trinken haben wirst“.
„Das glaube ich kaum“
„Wir werden sehen, Potter“
Und mit einem höhnischen Lächeln und einem siegestrunkenem Glitzern in den Augen wandte Draco sich von ihm ab.
Ron und Hermine tauschten verwunderte Blicke.
„Was sollte das denn?“, fragte Ron.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Harry.
Und doch packte ihn ein kaltes Frösteln im Nacken, als ob Malfoys Worte mehr gewesen waren als die heiße Luft eines aufgeblasenen Schnösels.
Ein kühler Hauch zog Stunden später auch durch den Gemeinschaftsraum. Die Sonne rötete sich bereits und der Himmel begann sich mit dunklen Wolken zu bedecken. Um die stickige Luft herauszulassen, hatten die Gryffindors sämtliche Fenster aufgerissen. Ron hing dösig über einem Schachbrett und gähnte, als sein Turm Ginnys Bauer vom Brett fegte. Neben ihm auf dem Sessel lag „Tausend Kräuter und Pilze“, in das Nevilles Geranie gerade ihre Zähnchen grub. Hermine hatte ihre Nase ausnahmsweise mal nicht in ein Buch gesteckt. Sie stand mit gezogenem Zauberstab vor einem der Fenster und ließ es mit „Alohomora“ und „Colluportus“ auf- und zuschnappen. Träge blinzelnd wandte sich Harry wieder seiner Tasse zu und versuchte aus dem Kaffeesatz seine Zukunft zu entschlüsseln. Doch ihm wollte partout nichts dazu einfallen. Die Hoffnung auf einen ZAG in Wahrsagen konnte er wohl knicken. In einem Tagtraum sah er sich schon ratlos vor der Prüfungskommission stehen und musste aufpassen, dass ihm nicht tatsächlich die Augen zufielen. Im Gemeinschaftsraum war es ungewohnt leer. Bis auf die Fünft- und Siebtklässler, die für ihre Prüfungen büffelten und ein paar vereinzelten Gesichtern aus den anderen Jahrgängen, verbrachten alle den Abend irgendwo außerhalb des Gryffindorturms. Es war zum Gähnen langweilig hier drin und die Hitze schläferte einen regelrecht ein. Harry gähnte. Doch irgendetwas hielt ihn noch immer wach. Eine Art innere Unruhe, als ob er auf etwas wartete. Dösig beschloss er, Wahrsagen für heute aufzugeben und sich den Zauberkunstübungen zu widmen. Da plötzlich vibrierte der Kaffeesatz in seiner Tasse.
Im Bruchteil einer Sekunde erschallte vom Treppenaufgang ein Poltern. Fast so als ob jemand im Affenzahn die Stufen empor rannte. Blitzschnell fuhr Harry auf. Rund fünfzehn Köpfe drehten sich zeitgleich zum Aufgang herum. Da - im Rahmen erscheinen zwei abgehetzte Gestalten: Dennis und Colin Creevey. Sich ächzten, keuchten, schnappten nach Luft. Ihre schweißnassen, roten Gesichter waren von Erschrecken verzerrt.
„Harry, Harry! “, schrie Colin und raste auf ihn zu, während sein Bruder atemlos am Türrahmen zu Boden ging.
Harry sprang auf, um den Jungen aufzufangen.
„Was ist los, Colin?“, sprach er auf ihn ein.
Colin erlitt einen Hustenanfall, ehe er wieder Worte fand.
„Wir kamen vom Koboldstein. Da sind wir vorbei an ihrem Büro. Ham sie drinnen gehört.“
„Wen?“
„Die sprachen von dir. Von Snape. Und irgendwas Verbotenem.“
Die Worte trafen Harry wie ein Blitz. Schlagartig schoss sein Puls in die Höhe und Schweiß brach ihm aus. Ein fürchterlicher Verdacht nahm in seinem Kopf Gestalt an. Fast hätte er Colin fallen gelassen.
„Wer?“
„Umbridge“, keuchte der Colin, „Slytherin, Inquisitionskommando“ und er wand sich, um Harry ins Gesicht zu sehen.
„Die kommen hier her, in einer Viertelstunde. Die wollen… die wollen den Gryffindorturm durchsuchen!“
Für eine Sekunde herrschte Totenstille. Das Thermometer schien um Grade zu fallen. Niemand rührte sich. Niemand sprach, wie in einer Schockstarre. Dann plötzlich ging es los. Schüler sprangen auf, wuselten ameisengleich durcheinander. Wildes Geschrei ertönte aus allen Ecken und Enden. Collins Nachricht hatte eingeschlagen wie ein Expulso.
„Ich hab’s dir ja gesagt, Potter – Slytherins, Inquisitionskommando!“, brüllte jemand Harry ins Ohr. Er riss den Kopf herum und sah einem der ‚Aufschneider‘ ins zorngerötete Gesicht.
„Aber doch nicht-“
‚Drawfeather‘ wollte er sagen, doch da war der Junge schon abgezogen. Durch die Luft flogen Zauber. Irgendwo splitterte Glas, jemand schrie ‚Reparo!‘. Ein Anderer riss Freds und Georges Aushänge vom Schwarzen Brett. Lee Jordan ließ eine Kiste in die Jungenschlafsäle schweben. Bücher flogen aus den Regalen. ‚Accio‘-Rufe drangen aus allen Richtungen. Schüler rannten panisch umher, stürzten übereinander. Der Aufgang zum Mädchenschlafsaal war bald verstopft. Offensichtlich besaß jeder irgendetwas Verbotenes, das er vor Umbridge verstecken wollte. Und bei ihren ganzen Erlässen, wunderte Harry das wenig. Wenn eine Ausgabe des Klitterers schon ausreichte… Sein Puls war auf 180, als die bleichen Gesichter von Ron und Hermine neben ihm auftauchten.
„Und was machen wir jetzt, Harry? Was machen wir jetzt?“, rief Ron.
Harry schüttelte nur ahnungslos den Kopf, doch Hermine sah ihnen klar und entschlossen in die Augen.
„In den Raum der Wünsche, schnell!“
Sie holten Neville und Ginny zu Hilfe und stürmten die Treppe zum Jungenschlafsaal hoch, ehe die Menschentraube auch noch diesen Aufgang verstopfte.
„Accio Okkluserumphiole! Accio Snapes Brief!“, rief Harry
“Accio Reisetasche!”, Hermine.
“Accio Tarnumhang! Accio Inferi Immunum Rezept!”
In wilder Hast rafften sie alle Zaubertrankzutaten, Rezepte und Werkzeuge zusammen und verstauten sie in der Reisetasche. Hermine belegte den Kessel mit einigen Sicherungszaubern. Dann warf Harry den Tarnumhang darüber.
„Locomotor Kessel“, sagte Hermine und dirigierte ihn geräuschvoll durch die Badezimmertüre.
Ginny hinter ihnen richtete den Zauberstab auf die Duschkabine: „Ratzeputz!“
Die Vorhut bildete Ron.
„Aus dem Weg! AUS DEM WEG!“ schrie er, als sie sich durchs Gewusel drängten. Endlich hatten sie den Treppenaufgang erreicht und stürmten die Stufen hinab. Erst am Porträtloch hielten sie kurz inne. Ron reckte seine Nase auf den Flur.
„Luft rein!“, rief er und sie hetzten hinaus auf den Gang. Harrys Herz schlug ihm bis zum Hals. Während Hermine sich um den Kessel und die Tasche kümmerte, behielten er und Ron die Flure im Auge. Einen schrecklichen Moment lang dachte Harry, sie würden verfolgt. Doch ihr Verfolger erwies sich nur als verirrte Kröte, die schnell in den Schatten davon sprang. Dann endlich hatten sie das Bild von Barnabas, dem Bekloppten, erreicht. Drei Mal gingen sie auf und nieder und Harry schickte tausend Stoßgebete zum Himmel, dass der Raum ihnen gnädig sein möge. Da erschien die Tür in der Wand. Ron riss sie auf und –
Harry traute seinen Augen nicht. Der Raum der Wünsche war nicht so, wie ihn erwartet hatte. Weder Rumpelkammer noch Wandschrank. Stattdessen breitete sich vor ihnen eine Halle aus, die einem Bazar glich. Da waren verschmierte Tafeln und zerbrochene Kessel, Schülerpults, die Hühner- statt Holzbeine hatten und Stühle, die durch die Gegend liefen. Da waren alte Umhänge und Bücherstapel und Zeitungen und Tintengläser und Qudditchschläger und Koboldsteine und noch so vieles mehr, das man mit einem Blick gar alles nicht erfassen konnte.
„Wow, Hast du das schon mal gesehen?“, fragte Ron.
„Nein“, antwortete Harry und bestaunte überwältigt die Pracht.
Doch Hermine holte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Jungs!“, rief sie, trieb den Kessel hinein, unter den nächstbesten Tisch, und stellte die Tasche daneben. Harry zog den Tarnumhang hinfort. Sie wichen über die Schwelle zurück und die Türe verschwand wieder in der Wand.
Einen einzigen Blick warfen sie drei sich zu, dann rannten sie los.
„Oh nein!“, erschallte plötzlich Hermines Stimme.
Harry drehte sich um. Hinter ihnen war auf einmal Gemurmel zu hören.
„Weiter, schnell!“
Atemlos keuchten sie der fetten Dame das Passwort zu und hetzten die Treppe hinauf. Sie kamen kaum mehr dazu, durchzuatmen, als auf dem Treppenaufgang auch schon Schritte erklangen.
Im Gemeinschaftsraum, der gerade noch von Chaos und Panik erfüllt gewesen war, wurde es schlagartig still. Alle erstarrten wie von einer Ganzkörperklammer erfasst und blickten mit großen Augen zum Aufgang. Auf dem Absatz erschien Sekunden später das Gesicht der Schulsprecherin.
„Gryffindors“, seufzte sie sichtlich entnervt und warf einen mitleidigen Blick in die Runde, „Ich habe eine amtliche Mitteilung zu machen. Professor Dolores Jane Umbridge, provisorische Direktorin und Großinquisitorin von Hogwarts, kündigt sich hiermit für eine Hausdurchsuchung an. Es besteht der Verdacht, dass Einige unter Ihnen in den Besitz nicht autorisierter Zaubertrankrezepte gelangt sind und heimlich verbotene Elixiere gebraut haben. Bis die Hausdurchsuchung abgeschlossen ist, sind Sie alle aufgefordert, sich in Reih und Glied vor den Fenstern aufzustellen und ruhig zu verhalten. Zuwiderhandeln oder der Versuch, die Untersuchungen zu behindern, wird hart sanktioniert.“
Sie harrte aus, bis ihre Worte überall Gehör gefunden hatten und Bewegung in die Masse kam. Dann trat sie zur Seite und beobachtete teilnahmslos, wie die Gryffindors Position bezogen. Gerade als Lavender Brown sich in die Reihe gedrängelt hatte, war es so weit: Dolores Jane Umbridge, Hogwarts rosarote Seuche, gegen die kein Heilmittel half, schwebte als pinke Wolke in den Raum. Dicht auf den Fersen folgte ihr Argus Filch mit einer zufrieden schnurrenden Mrs. Norris auf dem Arm. Harry sah das Gespann an und Gift und Galle brodelte in seinem Magen, mischte sich mit dem kalten Schweiß in seinem Nacken. Durch die Reihen ging ein leises, ängstliches Atmen.
„Haben Sie meine Ankündigung verlesen?“, säuselte Umbridge zuckersüß, den Blick aufs Gesicht der Schulsprecherin gerichtet.
„Jawohl, Professor“, antwortete diese förmlich und erhielt ein dankendes Nicken dafür.
Den Zauberstab gegen die Innenflächen ihrer rosa Seidenhandschuhe schlagend trat Umbridge erhobenen Hauptes in den Raum hinein. Sie hielt sich nicht damit auf, den Gryffindors mehr als einen flüchtigen Seitenblick zuzuwerfen. Harry erwiderte ihn giftig, doch traute sich nicht, sich zu rühren. ‚Alte Kröte, wag es nur hier zu schnüffeln‘, dachte er, ‚Wag es nur deine Schleimspur hier zu ziehen‘. Er musste geschnaubt haben, denn ihm gleichen Augenblick trat ihm Hermine warnend auf den Fuß. Derweil hechelte Filch hinter der Großinquisitorin her wie ein räudiger Hund mit einem gierigen Glitzern in den Augen.
„Nun, was meinen Sie, wo sollten wir beginnen, Argus?“, hauchte Umbridge ohne sich zu ihm umzudrehen. Doch noch ehe Filch ihr die Füße küssen konnte –
„Das ist ein Irrtum, ein furchtbarer Irrtum!“, erschallte auf der Treppe eine Frauenstimme und einige Gesichter in den Reihen der Gryffindors hellten sich schlagartig auf. Schon rauschten Schottenkaros durch Harrys Blickfeld. Professor McGongall, die Retterin der Stunde, hielt auf die Großinquisitorin zu.
„Lassen Sie doch Vernunft walten, Dolores!“, sprach sie sie mit fester Stimme an, als sie zum Stehen kam.
Umbridge jedoch zeigte keine Regung. Demonstrativ fuhr sie mit dem Finger über das Brett eines nahen Regals, begutachtete den Staub und hauchte zart wie Seide: „Nun, ich denke hier ist ein guter Ort“ – woraufhin der Hausmeister Mrs. Norris absetzte und sich ans Werk machte.
Harry sah mit Sorge, wie die Katze in alle Ecken lief und dann, wie McGonagalls Gesicht sich rötete.
„Hören Sie mir überhaupt zu?“, protestierte sie energisch, „Ich stehe direkt neben ihnen, falls Sie es nicht bemerkt haben.“
Jetzt endlich wandte Umbridge sich zu ihr um.
„Oh natürlich habe ich Sie bemerkt“, säuselte sie selbstgefällig, „Sie stehen mir gerade wunderbar im Weg. Accio Zaubertrankrezepte.“
Rons Buch entwand sich den Zähnen der Geranie und schwebte auf die Großinquisitorin zu. Und während es sanft zu Boden sank, standen Professor McGonagall und sie sich gegenüber und taxierten sich wie zwei Raubtiere, die kurz davor standen, aufeinander loszugehen.
Die Menge der Gryffindors hielt noch immer den Atem an. Keiner rührte sich, alles schwieg wie vor dem entscheidenden Wurf in einem Quidditch-Endspiel. Und Harry ahnte nur zu gut, was ihnen allen durch den Kopf ging. Das Zittern davor, dass Umbridge vielleicht über eine verbotene Zeitung, einen Scherzartikel oder irgendetwas anderes auf der langen Liste unerlaubten Besitzes stolpern konnte, war förmlich zu spüren. Und auch seine eigene Wut wechselte sich mit dem flauen Gefühl in seinem Magen ab, dass sie vielleicht etwas übersehen haben könnten.
„Sie machen sich lächerlich, Dolores“, schnaubte Professor McGonagall schließlich, „Glauben Sie allen Ernstes, Schüler könnten in diesen Räumen unentdeckt hochpotente Zaubertränke brauen? Unter meinem Dach? Unter meiner Aufsicht?“
„Oh ja, meine Liebe, genau das denke ich“, antwortete Umbridge aalglatt, „Und für Sie noch immer Frau Großinquisitorin und Direktorin, wenn ich Sie daran erinnern, wer Ihre Vorgesetzte ist.“
Man konnte fast den Rauch aufsteigen sehen, so sehr glühte Professor McGonagalls Gesicht inzwischen vor Zorn. Harry verfolgte das Schauspiel in größter Anspannung. Ihm bangte davor, dass seine Hauslehrerin sich und sie alle durch eine unbedachte Äußerung in Schwierigkeiten bringen könnte. Da trat Filch zu den beiden.
„Nichts gefunden, Frau Direktor“, keuchte er, „Außer dem hier!“
Er hielt eine staubverdreckte Ausgabe des Klitterers hoch und Ginny wurde schlagartig kreidebleich.
„Fein, fein. Ich denke, darum kümmern wir uns später“, säuselte Umbridge mit einem drohenden Seitenblick zu ihr und wandte sich dann wieder Filch und der Hauslehrerin zu.
„Nun, wenn wir hier unten nichts finden, dann müssen wir wohl die Schlafräume durchsuchen, nicht wahr?“
Sie schaute McGonagall direkt in die Augen, deren Blick sie zu durchbohren schien wie ein Pfeil. Dann wandte sie sich um lief mit einem eiskalten Lächeln an ihrer wutroten Gegenspielerin vorbei direkt auf die Treppe zum Jungenschlafsaal zu.
Harry hielt den Atem an. Doch zu seinem Erstaunen kam Umbridge nicht weit. Kaum hatte sie die ersten fünf Stufen hinter sich gelassen, verwandelte sich die Treppe schlagartig in eine glitschige Bahn. Umbridge rutschte auf dem glatten Untergrund aus, purzelte rückwärts die Treppe hinunter und landete vor der Menge als pinker Haufen mit umgestülptem Rock, der ihre altrosa Strumpfbänder preisgab. Die Gryffindors machten große Augen. Ein leises Kichern ging durch die Reihen. Ron und Harry tauschen irritierte Blick und Hermine riss die Hand vor den Mund.
„Oh!“, entfuhr es ihr leise, „Das, das hab ich ja ganz vergessen.“
„Was?“, flüsterte Ron.
„Die Schlafsäle. Kein Direktor kann sie betreten, zumindest keine Frau. Es steht irgendwo in einer Geschichte von Hogwarts. Helena Ravenclaw hat den Zauber wohl eingerichtet wegen ihrer Mutter.“
Ihr Hauchen verklang noch in der Luft, als Umbridge sich wieder aufrappelte. Unter dem Gelächter strich sie sich die Röcke glatt als ob nichts gewesen sei. McGonagall hastete zu ihr.
„Dolores-“
„-HAUSELFEN!“, rief Umbridge säuerlich, „Ich brauch sofort einen Hauselfen!“
Das Gemurmel der Wartenden verstummte und ein eisiger Hauch schien durch die Reihen zu wehen. Dann folgte ein Knall und ein junges Mädchen von einer Elfe apparierte im Gemeinschaftsraum. Umbridge instruierte sie und schickte sie unter den ungläubigen Blicken der Gryffindors hinauf in die Schlafsäle.
Professor McGonagall verschränkte die Arme.
„Sie werden nichts finden“, sagte sie kühl.
„Wir werden sehen“, konterte Umbridge und warf den Gryffindors einen vielsagenden Blick zu.
Hermines Hand grub sich in Rons Arm und Harry spürte, wie ihm flau wurde. Wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. Flach atmend sah er zu, wie die Elfe im Schatten des Treppenaufgangs verschwand.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, kehrte das Mädchen mit leeren Händen zurück.
„Clumsy hat nichts gefunden. Außer Büchern und Rezepten und Tränken für den Unterricht“, berichtete sie unterwürfig und verbeugte sich tief.
„Was soll das heißen?“, rief Umbridge spitz und starrte sie an wie eine Katze, der eine Maus entwischt war.
„Ich denke, dies bedeutet genau das, was die Hauselfe hier sagte, Frau Direktorin“, mischte Professor McGongall sich ein, „Dass es im ganzen Gryffindorturm keinen einzigen Kessel verbotener Zaubertränke gibt. Ich vermute, Sie sind einem üblem Schülerstreich aufgesessen.“
Umbridge gab der Hauselfe das Zeichen, sich zu entfernen und warf McGonagall einen vernichtenden Blick zu. Dann ließ sie eines ihrer ChrmChrms ertönen und stapfte auf den Turmaufgang zu.
„Kommen Sie, Argus, mein Kollege und ich haben noch ein Verhör durchzuführen. Sie, Miss Jeffland“, Sie blickte die Schulsprecherin an, „Sind entlassen.“
Professor McGongall wartete, bis alle drei sich entfernt hatten. Dann fuhr sie hektisch zu den wartenden Gryffindors herum, die Stirn in strenge Falten gelegt.
„Mr Potter“, rief sie, Harry fest im Auge, „Ich weiß nicht, was hier vor sich geht und ich will es auch gar nicht wissen. Doch falls Sie und Professor Snape irgendetwas mit dieser Sache zu tun haben sollten, dann bringen Sie es so schnell wie möglich wieder in Ordnung. Haben Sie das verstanden?“
Harry sah sie reglos an. Er nickte knapp. Sie musterte ihn noch einmal kurz und folgte Umbridge, Filch und der Schulsprecherin.
Für einen Augenblick hielt die Stille im Raum noch an. Dann ging ein tiefes Ausatmen durchs Zimmer. Harry schloss die Augen und sackte zusammen mit Ron erleichtert zu Boden. Neben Ginny, die einer Salzsäule glich, blieb nur Hermine noch stehen und verschränkte die Arme.
„Was ist los?“, murmelte Ron und blickte zu ihr auf, „Es ist vorbei!“
„Nein“, stieß Hermine hervor, „Ist es nicht!“
Harry setzte sich wieder auf und blickte sie stirnrunzelnd an.
„Was meinst du damit?“
„Habt ihr nicht gehört?!?“, rief sie, nun wild gestikulierend, „Die wollen zu Snape! Die wollen ihn verhören. Die werden ihn vielleicht rausschmeißen oder gar verhaften! Wir können nicht so tun, als ginge uns das nichts an. Wir müssen zu ihm. Wir müssen ihm helfen. Wir müssen das verhindern.“
„Und wie willst du das tun?“, murmelte Ron.
„Ich weiß es nicht“, keuchte Hermine verzweifelt.
Und Harry wurde auf einmal ganz still. Zu allerersten Mal, seitdem Colin in den Gemeinschaftsraum gestürmt war, dachte er an Snape. An die schmalen Lippen, die ihn am Montag angeschnauzt hatten, dass er still sein solle. Eine leichte Gänsehaut zog sich über seine Arme. Merlin, wie hatte er nur so dumm sein können! Hermine hatte ihm doch schon vor Wochen am Seeufer erzählt, warum Snape aus diesen Zaubertränken ein Geheimnis machte. Natürlich waren sie bespitzelt worden! Und was immer Umbridge mit Snape nun anstellen würde – es war alles allein seine, Harrys, Schuld.
„Draco!“, schnaubte er geistesabwesend. Und während Ron und Hermine verstummten und ihn anstarrten, sprang er auf. Mit einer Hand schnappte er den Tarnumhang, dann wandte er sich wieder seinen Freunden zu.
„Kommt, lasst uns gehen! Zu Umbridge, zu Snape.“
„Guten Abend, Mister Potter, so schnell sieht man sich wieder, hmm?“
Eine seltsam angespannte Stille erfüllte den Raum, als Umbridges triumphierendes Säuseln verklang. Harry fühlte sich mit jedem Schritt mehr an den Tag seiner Anhörung vor dem Zaubergamot erinnert. Nur dass diesmal Albus Dumbledore nicht an seiner Seite stand, um sich für ihn zu verbürgen. Förmlich konnte Harry spüren, wie die Blicke der Anwesenden ihn durchbohrten. Filch in seinem Rücken beäugte ihn wohl in grimmiger Vorfreude. In Snapes Augen zu seiner Linken funkelte kalter Zorn, Umbridges schimmerten siegestrunken und die von McPire, der am Sideboard scheinbar Dokumente ordnete, betrachteten ihn skeptisch.
Ein kalter Schauer lief Harrys den Rücken herab. Er musste an die Vertretungsstunde bei Trelawney zurückdenken. Daran, wie diese Augen seine Narbe gemustert hatten. Keine Sekunde ließ Harry von McPire ab. Selbst als Umbridge ihn aufforderte, auf dem Stuhl vor ihrem Pult Platz zu nehmen, behielt er den Mann noch im Auge. Eingehend musterte er jeden Zentimeter. Von dem roten Dreispitz über die trüben, grünen Augen in dem eingefallenen Gesicht. Dann die Hakennase auf den breiten Schnauzer und weiter zum Hals, zur rubinroten Robe, über die Schultern, die Ärmel entlang bis hinab auf die knochige Hand mit dem schweren Goldring, die nervös in einem losen Haufen von Aktenblättern herumfuhr.
Und dann plötzlich sah Harry es.
Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Unscheinbar und doch so bedeutend, dass er das bevorstehende Verhör für einen Augenblick völlig vergas: Die Rosette, das Wasserzeichen auf dem Brief aus Dumbledores Büro! Sie zierte die linke, obere Ecke eines Dokuments, das wie eine Art Register wirkte. Harry schärfte seinen Blick, um zu lesen, was daneben geschrieben stand. Doch dann fuhr ihm Umbridges Stimme durch den Kopf.
„Sie wissen, warum Sie hier sind?“
Harry blickte auf, schaute ihr in die Augen.
„Wegen der Durchsuchung des Gryffindorturms“, antworte er knapp.
„Ja, sehr richtig“, erwiderte Umbridge süßlich, „Nun, wollen wir es uns ein wenig gemütlich machen, ehe wir ein kleines Gespräch führen werden?“
„Sie können sich ihre Freundlichkeit sparen. Ich habe nichts zu sagen“, entgegnete Harry und versuchte aus den Augenwinkeln einen Seitenblick auf das Papier mit der Rosette zu erhaschen. Doch da ließ McPire bereits einen limonengrünen Ordner zurück ins Regal schweben.
„Aber, aber“, fuhr Umbridge fort, „Wer wird denn so verschwiegen sein? Sprechen wir doch einmal über Quidditch. Ein fabelhaftes Match war das neulich gewesen und ein Segen für Gryffindors Punktestand, denn viel blieben in diesem Schuljahr ja nicht, nicht wahr? Wäre es nicht wahnsinnig schade, Potter, wenn Ihr Haus all diese Punkte wieder verlieren würde?“
Harry starrte ihr ins Gesicht und Wut begann in seiner Magengrube zu schwelen. Auf Umbridge, doch noch mehr auf sich selbst. Auf seine Dummheit, die ihn erst in diese Lage gebracht hatte.
„Ich habe nichts zu sagen, weil es nichts zu sagen gibt. Und wenn Sie Gryffindor tausend Punkte abziehen. Ich weiß nichts von verbotenen Tränken oder sonst etwas!“
„Wirklich nicht? Nun, mir sind da ganz andere Dinge zu Ohren gekommen, Potter“
Umbridge lächelte breit und die Wut in ihm brannte nun wirklich. Einige Gehässigkeiten lagen ihm auf den Lippen, die er Umbridge fast um die Ohren gehauen hätte, wenn sich nicht im gleichen Augenblick Snape hinter ihm geräuspert hätte.
„Wenn Sie erlauben, würde ich einen gerne einen Vorschlag zur Güte machen“, ertönte die ölige Stimme des Tränkemeisters. Umbridge und McPire wandten ihren Blick von Harry ab und schauten an seinem Kopf vorbei zur Türe, fixierten ihre Blicke auf einen Punkt schräg hinter ihm.
„Nun?“, fragte Umbridge.
Harry konnte Snape einatmen hören. Dann tauchte die schwarze Robe neben seinem Stuhl auf.
„Nach meiner eigenen Erfahrung erweist sich Potter Drohungen gegenüber als zäh“, sprach Snape mit Bedacht und ließ dabei seinen Blick auf McPire ruhen, „Ein Charakterzug, den er von seinem Vater geerbt hat. Sie werden sich an ihm so noch die Zähne ausbeißen. Wenn Sie wirklich wollen, dass Potter ihnen alles offenbart, und ich nehme doch an, dass dies ihrer beider Absicht ist, so müssen Sie Ihre Verhörmethoden ändern“
Zu Harrys Verwunderung war mit jedem Wort des Tränkemeisters das Gesicht unter dem Dreispitz mehr erbleicht und die trüben Augen traten hervor. Wie von einer inneren Unruhe gepackt warf Umbridges Sekretär den Kopf herum und suchte nach dem Blick seiner Chefin. Diese aber fixierte noch immer Snapes Hakennase.
„Das klingt ja fast so, als hätten Sie einen Vorschlag“, säuselte sie mit einem abfälligen Krötenlächeln auf den Lippen.
„Den habe ich in der Tat“, entgegnete Snape bestimmt.
Harry blickte zu ihm auf, doch der Tränkemeister erwiderte es nur mit einem kurzen, warnenden Blick.
„Und der wäre?“, fragte Umbridge zuckersüß.
„Veritaserum“, sagte Snape knapp.
Umbridges Kehle entrang sich ein unterdrücktes Lachen.
„Oh natürlich, Veritaserum, von Ihnen höchstpersönlich gebraut. Versuchen Sie nicht, mich zu täuschen, Mister Snape. Das ist doch eine Finte! Sie wollen Potter helfen und ihren Kopf aus der Schlinge ziehen.“
„Sie irren sich“, erwiderte Snape kalt, „Alles, wonach mir der Sinn steht, ist meine Unschuld zu beweisen. Wenn Sie mir aber nicht trauen, Frau Großinquisitorin, so würde ich vorschlagen, machen Sie doch die Probe aufs Exempel an Ihrem Sekretär, der ja wohl über jeden Zweifel erhaben sein dürfte.“
Snape warf McPire einen weiteren geheimnisvollen Blick zu, den dieser offenbar zu verstehen schien. Denn in seinen trüben Augen blitze es für eine Sekunde klar auf, ehe er sich wieder einmal wand wie ein Hund an der Kette.
Umbridge bemerkte nichts.
„Also…“, murmelte sie unsicher. Doch ehe sie weitere Fragen stellen konnte, ergriff McPire das Wort.
„Ich mache es“, sagte er hastig und fügte auf Umbridges verwunderten Blick hinzu: „Professor Snape erscheint mir glaubwürdig und was er ausführt, ist nur logisch. Wir sind doch hier, um die Wahrheit herauszufinden und wenn es diesem Zweck dient, kann mir ein Schluck Veritaserum kaum schaden, nicht wahr?“
„Nun schön“, gab Umbridge widerwillig kleinbei und holte eine Zaubertrankphiole aus ihrer Schublade.
Sekunden später nahm McPire einen Schluck daraus und zuckte dabei heftig. So wie jemand, der sich dagegen sträubt, den Zaubertrank zu trinken anstatt es freiwillig zu tun. Harry starrte den Mann verwundert an, dann trat Umbridge vor ihn.
„Was soll ich fragen?“, stammelte sie ahnungslos und schaute Snape an, „Seinen Namen?“
„Nein“, antwortete der Tränkemeister, „Selbstverständlichkeiten sind als Kontrollfrage ungeeignet. Ich würde vorschlagen, fragen Sie ihn etwas, das er ungern vor uns allen preisgibt, das Sie jedoch mit Leichtigkeit überprüfen können.“
Umbridge schien für einen Moment zu überlegen, dann riss Sie ihr Krötenmaul auf und quakte:
„Wann und zu welchem Anlass waren Sie das letzte Mal in Hogwarts?“
„Sonntag, 12. Mai, abends, um die Ergebnisse der Inspektion von Professor Snapes Büro zu protokollieren“, keuchte McPire und Harry hob die Augenbraue.
Hatte er McPire nicht letzte Woche erst bei Trelawney gesehen? Die Antwort war doch eine glatte Lüge! Aber wenn McPire log, dann bedeutete das… dann bedeutete das ja…
Harry konnte den Gedanken nicht zu Ende denken. Er hörte gerade noch ein verwundertes „korrekt“, da hielt ihm auch schon eine fette Hand mit kurzen, dicken Fingern den Zaubertrank unter die Nase und drei Augenpaare blickten erwartungsvoll auf ihn herab.
„Nun zu dir“, sagte Umbridge.
Harrys Herzschlag beschleunigte sich rasant. Ihm war noch immer mulmig zumute, als sie die Phiole an seine Lippen führte. Doch Snape blickte ihm geradezu auffordernd in die Augen. Und da sie in einem Boot saßen konnte Harry nicht anders als ihm zu vertrauen. Widerstandlos öffnete er die Lippen. Der Trank schmeckte ein wenig bitter, doch nicht übel. Harry wartete, in jeder Faser angespannt darauf, dass irgendetwas mit ihm passieren würde. Vielleicht dass sein Kopf sich vernebeln würde. Oder ein fremder Wille sich in ihm ausbreite - ein Gefühl, das er in diesem Schuljahr leider nur zu gut kannte. Doch nichts dergleichen geschah. Alles was er spürte war die Flüssigkeit, die seinen Hals hinab lief.
Umbridge und McPire beugten sich über ihn, während Snape dicht hinter ihnen stehen blieb und ihn eingehend beäugte.
„Was wurde heute im Gryffindorturm beschlagnahmt?“, rauschte Harry Umbridges Kleinmädchenstimme um die Ohren.
„Eine Ausgabe des Klitterers“, sagte er – aus völlig freien Stücken. Nichts, rein gar nichts hatte ihn zu dieser Antwort gezwungen. Er hätte auch ungehindert Fred und Georges Erfindungen oder Nevilles Mimbeltonia nennen können. Und was Harry bereits ahnte, war endlich Gewissheit: Snapes Veritaserum war ein Placebo.
Seine schwarzen Augen schwebten über Harry, während die Großinquisitorin und ihr Sekretär sich über die weiteren Fragen berieten. Tief brannten sich seine Blicke in Harrys geweitete Pupillen, als wollten sie ihn durchbohren, während seine Hand kaum merklich den Zauberstab zog. Harry wusste, was Snape tat. Und zum allerersten Mal bot er seinem Lehrer keinen Widerstand. Im Gegenteil, er versuchte seinen Geist so weit wie nur möglich aufzureißen. Bilder fluteten Harrys Kopf. Bilder einer Stunde Nachsitzen, die lange zurücklag. Zunächst konnte er sich keinen Reim darauf machen, was Snape mit dieser Erinnerung bezweckte. Doch dann sah Harry eine seiner heimlichen Abschriften vor sich. „Elexier der Schmerzfreiheit“ schrieb er gerade aufs Pergament und er begriff. Begriff Snapes ganzen Plan.
„Hat Professor Snape Sie heimlich hochpotente Zaubertränke gelehrt?“, säuselte Umbridge auch schon.
„Nein“, antwortete Harry knapp und die Großinquisitorin tauschte mit ihrem Sekretär einen kurzen, verwunderten Blick.
„Das heißt, er hat ihnen keine verbotenen Mischungen beigebracht?“
„Nein“, wiederholte Harry.
„Soll das etwa heißen, Mr. Malfoy hat Sie am Montag gar nicht belauscht, als Sie bei Professor Snape Nachhilfe nahmen?!?“
„Doch, das hat er“
„Nun, dann erklären Sie das“, forderte Umbridge ihn auf. Und so begann Harry ihr sein Lügenmärchen aufzutischen.
„Vor einiger Zeit ließ mich Professor Snape als Strafarbeit einige alte Zaubertrankrezepte erneut abschreiben, weil die Dokumente in einem sehr schlechten Zustand waren. Ich fand die Rezepte sehr interessant und darum sprach ich Professor Snape in der Nachhilfestunde am Montag darauf an, ob er sich mir nicht beibringen kann. Doch Professor Snape wollte davon nichts wissen. Er meinte nur, dass er mich nicht heimlich hochpotente Tränke lehren könne, die nicht zum Lehrplan gehören. Ich konnte das nicht verstehen und sagte zu ihm, dass er sie mich doch schon hat abschreiben lassen und daran doch nichts Verbotenes sein kann. Wir begannen uns zu streiten. Und dann kam Draco Malfoy rein. Er muss das wohl belauscht und deshalb geglaubt haben, dass Professor Snape mir verbotene Zaubertränke beibrachte. Aber das hat er nicht -“
„-Aber das kann nicht sein“, unterbrach ihn Umbridge, „Draco Malfoy bestand darauf, deutlich gehört zu haben, wie Sie sagten, dass Miss Granger Zaubertränke im Gryffindorturm braue, die sehr nützlich seien.“
„Das habe ich auch“, fuhr Harry fort, „Ich hatte bei dieser Strafarbeit heimlich die Abschrift eines Rezepts mitgehen lassen-“.
„-Sie haben was?!?“, platze Snape heraus, so glaubwürdig, dass selbst Harry für eine Sekunde vergaß, dass der Tränkemeister längst davon wusste.
„Ja“, gestand Harry, „Als Sie zum Vorratsschrank gingen, um die Zutaten für den Nachhilfetrank zu holen, hab ich Ihnen hinter gerufen, dass Hermine längst schon einen Trank für mich braut und der sehr nützlich ist. Ich war so wütend, dass mir das rausgerutscht ist. Aber Sie haben das nicht gehört“
„Allerdings“, zischte Snape, „Andernfalls hätten Sie sich noch über viele weitere Stunden Nachsitzen freuen können, Potter“
„Dafür wohl Draco Malfoy.“
„So so“, schloss Umbridge, „Und wie heißt dieser Trank?“
„Elexier der Schmerzfreiheit“
„Elexier der Schmerzfreiheit? Der Name sagt mir etwas.“
„Ein recht einfacher Trank“, erklärte Snape, „Sie haben das Rezept bei der Inspektion meines Büros selbst kontrolliert. Er setzt das Schmerzempfinden herab und heilt kleine Schnittwunden. Praktisch, aber wohl kaum als Geheimwaffe für eine magische Armee geeignet. Ich frage mich allerdings, was Potter damit wollte.“
„Ich brauchte ihn für die Strafar-“
Umbridges Augen weiteten sich mit einem Seitenblick zu McPire schlagartig.
„Chrm chrm“, räusperte sie sich, „Ich denke, die Gründe sind zweitrangig. Die Missetat ist einwandfrei belegt. Sie können sich sicher sein, Mr. Potter, dass dies noch Konsequenzen für Sie haben wird. Wo befindet sich der Trank derzeit?“
Harry dachte kurz nach. Ron hatte ihn als letztes, vor dem Match gegen Ravenclaw.
„In den Quidditch-Umkleiden, im Spint von Ronald Weasley vermute ich“, sagte er und sah wie Umbridge Filch bereits mit einer Handbewegung deutete, den Trank zu holen.
„Ich nehme an, der Beweis gilt auch für meine Unschuld?“, fragte Snape scharf, während hinter Harrys Rücken das Quietschen von Türscharnieren erklang.
„Nun, ich denke in dieser Sache schon“, entgegne Umbridge und wandte sich zu McPire um, „Sie können gehen. Doch verwahren Sie das Protokoll noch ein Weilchen für mich.“
McPire nickte, trat am Ordnerregal vorüber zum Kamin und warf das Flohpulver in die Flammen. Einmal blickte Harry noch in die trüben, grünen Augen unter dem Dreispitz. Dann war der Mann verschwunden. Filch kehrte wenig später mit dem Zaubertrankfläschchen zurück. Und was Harry als Mittel gegen ihre Bestrafungen einsetzen wollte, ließ Umbridge mit einem Evanseco für immer verschwinden.
„Sie sind entlassen“, wandte sie sich mit einem triumphierenden Grinsen Snape und Harry zu.
Der Tränkemeister zögerte keine Sekunde. Noch im Aufstehen sah Harry den schwarzen Umhang herumwirbeln. Doch bevor Snape zur Türe hinaus war, rief Umbridge ihn zurück.
„Sie werden noch von mir hören“, säuselte sie, „Wegen Ihrer mangelnden Kompetenz, Schüler während Strafarbeiten unter Kontrolle zu halten.“
Snape quittierte es mit einem bitterbösen Funkeln in den Augen. Grimmig biss er die Zähne aufeinander. Und Harry hätte schwören können, dass ein stummer Fluch über seine Lippen ging. Doch da rauschte Snape schon über die Schwelle.
Harry folgte ihm auf dem Fuß.
„Professor!“, rief er, während der Umhang sich immer weiter von ihm entfernte. Inzwischen war es wirklich dunkel geworden und Snape verlor sich zwischen den Schatten in den Korridoren. Harry konnte ihn nur dann ausmachen, wenn gerade das Licht einer Fackel ihn streifte. Er blieb nicht stehen.
„Professor Snape, Sir!“, rief Harry lauter und rannte los, „Professor SNAPE!“
Endlich, am Ende des Flurs hielt der Tränkemeister abrupt inne und wandte sich in einem Ruck um. Das Licht einer Fackel spiegelte sich blutrot auf seiner fahlen Haut. In seinem Gesicht stand die pure Wut geschrieben.
„WAS IST?!?“, fauchte er. Harry konnte gerade noch abbremsen, um nicht in ihn hineinzurennen. Außer Puste warf er sich gegen die nächste Mauer.
„Es… es tut mir leid“.
Snapes Augen blitzten zornig auf.
„Oh, es tut Ihnen leid?!? Das fällt Ihnen aber reichlich früh ein!“
„Ich weiß, es ist meine Schuld, Professor. Aber wenn ich das geahnt hätte, ich hätte Sie nie drauf angesprochen. Bitte, hören Sie mir zu!“
Harry war sich sicher, dass Snape gleich einen zynischen Spruch vom Stapel lassen, Gryffindor Hauspunkte abziehen und dann einfach davon rauschen würde. Doch nichts geschah. Zu seiner Verwunderung atmete der Tränkemeister tief aus und schloss die Augen, wie jemand der innerlich bis zehn zählt.
„Potter“, raunte er, als er die Lider wieder aufschlug und Harry finster in die Augen blickte, „Wann lernen Sie endlich Ihre Lektion? Wann begreifen Sie endlich, was hier vor sich geht? Sie haben keine Ahnung, in welche Gefahr Sie uns beide beinahe gebracht hätten!“
„Doch“, keuchte Harry „Umbridge-“
„Umbridge?!?“, wiederholte Snape und seiner Kehle entrang sich ein Laut, der fast an ein Lachen erinnerte, ehe seine Augen wieder vor Zorn aufblitzen.
„Ja, ein Schulverweis ist wahrlich die größte Gefahr dieser Tage, nicht?“
Harry wusste nicht, was er sagen sollte. Stocksteif stand er vor Snape, spürte wie sich allmählich Gänsehaut auf seinem Rücken ausbreite. Er wusste nicht, worauf der Tränkemeister anspielte, doch beschlich ihn eine leise Ahnung. Eine Ahnung, die ihn schaudern ließ. Nur noch gestammelte Worte kamen Harry über die Lippen. ‚Danke, Sir‘ waren wohl noch die verständlichsten davon.
Snape warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
„Ach, halten Sie den Schnabel, Potter“, zischte er, wirbelte herum und zog grollend davon.
Doch in dem kurzen Moment, als er sich umwandte, meinte Harry noch etwas anderes als Zorn in seinem Gesicht zu lesen: Qual. Ein Ausdruck als ob er Harry sagen wollte: ‚ich habe dich immer gewarnt. Offen zu sprechen ist gefährlich. Verschließe deinen Geist, verschließe deine Gefühle, lass dir nichts anmerken. Dummköpfe, die stolz das Herz auf der Zunge tragen, die ihre Gefühle nicht beherrschen können, die in traurigen Erinnerungen schwelgen und sich damit leicht provozieren lassen – Schwächlinge mit anderen Worten – sie haben keine Chance gegen seine Kräfte!*
Und Harry wurde bitterkalt. Mitten im Sommer. Er beobachtete, wie die schwarze Robe entfloh. Vor seinem geistigen Auge sah er den kleinen Jungen, der weinend in der Ecke kauerte. Er sah den Sechszehnjährigen, der halbnackt in der Luft baumelte. Doch er sah noch etwas. Etwas, das nicht so lange zurück zu liegen schien. Etwas, das Snape noch heute wie ein Schatten umgab. Etwas, das mit ihm, Harry, zu tun hatte. Aber was nur? Was?
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* J.K. Rowling, Harry Potter und der Orden des Phönix, S. 630
„Das ist eine Katastrophe!“, murmelte Hermine und blickte verächtlich zu den verglasten Goldrahmen auf, an denen sie gerade vorüberliefen. Seit den frühen Morgenstunden des Freitags zierte ein neuer Aushang die Mauer.
Lehrer sind ab sofort nicht mehr befugt, Strafarbeiten selbst zu erteilen. Sollte ein Schüler eine Regel übertreten, ist dies unverzüglich der Direktorin zu melden“, war der Wortlaut des neuen Erlasses 25 a, welcher den alten Erlass ersetzte, der es Umbridge gestattet hatte, die Strafen der Lehrer ‚nachzubessern‘.
Mit einem letzten Kopfschütteln wandte Hermine sich um und warf Harry einen mitleidsvollen Blick zu, während das goldene Licht der Nachmittagssonne sich in ihrem Gesicht spiegelte.
„Tut es noch weh?“, fragte sie fürsorglich. Harry schüttelte den Kopf.
„Nicht der Rede wert.“
Tatsächlich brannte seine Haut noch immer etwas von den blutigen Striemen. Doch Hermines Diptam, das sie ihm sofort auf der nächsten Jungentoilette aufgetragen hatte, ließ sie zum Glück schnell heilen. Harry wollte nur vergessen, was geschehen war. Nicht nur wegen seiner eigenen Wunden. Ihn beschäftigte, dass es seine Schuld war, dass Filch wohl vorgestern Abend noch die lang ersehnte Peitschgenehmigung in den Händen halten durfte. Und dass Ginny nun, obwohl ihr Klitterer vom letzten Schuljahr stammte, wohl bald ein verkrustetes ‚Ich soll anständige Zeitungen lesen‘ auf dem Handrücken prangen würde.
„Umbridge ist so ein Biest!“, zischte Hermine grimmig als sie die Eingangshalle durchquerten.
„Sag das nicht zu laut“, höhnte Harry, „Könnte sein, dass Malfoy dich hört.“
„Und wenn schon! Soll er doch! Ich frag mich sowieso, wie gerade der Snape verraten konnte. Ich meine Snape. Der ist doch sein Lieblingslehrer.“
„Ja, das war er wohl mal“, entgegnete Harry und warf einen nachdenklich Blick zur Kerkertreppe. Noch immer stand ihm vor Augen, wie sie vorgestern Abend auseinander gegangen waren. Was wohl Snapes Strafe gewesen war? Ihm selbst hatte Umbridge nur mitgeteilt, dass die Nachhilfe gestrichen sei. Doch auf den Fluren hatte er gestern immer wieder Tuscheleien gehört, dass sie die Zaubertrankstunden überwacht hätte. Harry versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass auch Malfoy irgendwann für seinen Verrat würde bezahlen müssen.
Endlich kamen er und Hermine an den Hausgläsern vorüber, deren Punktestand inzwischen vergessen ließ, dass Gryffindor kürzlich ein Quidditch-Match gewonnen hatte. Bald darauf betraten sie die Große Halle. Der würzige Geruch von Abendessen erfüllte die Luft und Ron saß bereits vor einem vollbeladenen Teller, als Hermine ihre Bücher auf den Tisch wuchtete.
„‘Nabend ihr beiden“, begrüßte er sie knapp, ehe er wieder Essen in sich hinein schaufelte. Harry blinzelte müde. Sie hatten bis zum frühen Nachmittag in leeren Klassenzimmern pausenlos praktische Zauber geübt. Und dann hatte Filch ihm noch den Rest gegeben. Schwer sank Harry neben Ron auf die Bank. So ausgelaugt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt und war froh, bald seinen knurrenden Magen füllen zu können.
„Un, habsch ih schon ne Iee?“, nuschelte Ron mampfend und erntete dafür einen finsteren Blick von Hermine.
„Wir kommen gerade von Harrys Strafe. Ich glaube kaum, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um-“
„-Ach, lass ihn doch“, fiel Harry ihr ins Wort. So erschöpft er auch war, war ihm alles recht, das Hermine davon abhalten würde, weiter nach seiner Befindlichkeit zu bohren. Zudem sprach Ron etwas an, das auch ihm keine Ruhe ließ. Und das nicht erst seit fünf Minuten…
Zehn und zwanzig. Auf diesen Positionen hatten die Zeiger der Kaminsimsuhr gestanden, als Harry am Donnerstagabend endlich in den Gryffindorturm zurückgekehrt war. Sofort waren Hermine und Ron von ihren Sesseln aufgesprungen. In ihren Gesichtern hatte tiefe Sorge geschrieben gestanden. Sie hatten wohl lange bange auf Harry gewartet. Und natürlich hatte er sich nicht nehmen lassen, ihnen sofort alles zu berichten.
„Also hat das alles etwas mit Umbridge zu tun, mit dem Ministerium?“, hatte Hermine ihn gefragt, als er zur Sache mit dem Dokument kam. Noch immer sah Harry ihr überraschtes Gesicht vor sich, als ob sie gerade eben erst darüber gesprochen hätten.
„Ja, hört zu. Mit diesem McPire stimmt irgendwas nicht. Snape hat da so eine Andeutung gemacht.“
„Echt? Also das hätte ich jetzt nicht erwartet, nachdem der in Hogwarts rumschnüffelt und McGonagall und Snape über ihn reden!“
Das war Ron gewesen.
„Hahaha“, hatte Hermine ihn gleich, ehe sie die alles entscheidende Frage aussprach.
„Aber wie, Harry, kommen wir da heran? Wie hast du dir das vorgestellt? Umbridge lässt ihr Büro selten alleine und wenn doch, ist es sicher gut überwacht. Und am Wochenende kommt auch noch die Prüfungskommission. Wir können dort nicht einfach rein spazieren. Wie also sollen wir an den Ordner herankommen?“
Ja, wie sollten sie das? Grübelnd stach Harry seine Gabel in die Erbsen. Zwei Tage und Nächte wälzte er nun schon Gedanken. Doch wollte ihm keine zündende Idee kommen. Selbst jetzt, beim Abendessen, war Umbridge noch in ihrem Büro, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Frustriert wollte Harry die Gabel schon wieder beiseitelegen, als plötzlich-
ZISCH…PENG…KRACH
Harry blickte auf. Grüne und rosa Funken stoben vor seiner Nase über den Gryffindortisch.
„Du meine Güte!“, rief Hermine.
Dann sah Harry es: Eine Kröte in Rosa Kleidern, ein bewegliches Lichtbild ähnlich denen auf der Quidditch-WM erhob sich in der Mitte der Halle, direkt über einer glitzernden Kiste. Fred und George kletterten auf die Sitzbank.
„Ladies and Gentleman“
„Liebe Schüler“
„Zur Feier des neuesten Erlasses“
„Und auch der aller anderen“
„Unserer charmanten Großkröte“
„Professor Umbitch“
„Präsentieren wir Ihnen-“
„Aus unserem beliebten Sortiment“
„Die neuste Erfindung“
„SCHMERZFREI-SCHOKOFRÖSCHE“
Und unter unzähligen staunenden Augen sprang die Kiste auf. Ein Jubelschrei ging durch die Halle, als eine Schar von rosa Schokofröschen kreuz und quer über die Tische hüpfte. Harry wollte auflachen. Doch da hörte er plötzlich einen dumpfen Knall, wie ein Buch, das wütend auf den Tisch geknallt wurde und ein buschiger, brauner Haarschopf rauschte an ihm vorüber.
„Oh je, das gibt Ärger!“, rief Ron und schaute Hermine hinterher, die laut schimpfend auf die Zwillinge zulief. Seitdem diese noch am Donnerstag spitz gekriegt hatten, was mit Harry geschehen war, hatten sie ihn so lange in die Mangel genommen, bis er ihnen aus dem Kopf das Rezept für das Elexier der Schmerzfreiheit diktiert hatte. Dass sie an etwas tüftelten, war offensichtlich. Und Hermine nicht gerade begeistert darüber gewesen. Inzwischen gesellten sich auch einige Gestalten vom Lehrertisch zu ihr, um Fred und George zur Rede zu stellen.
„Ich glaub, ich geh besser, ehe sie mich noch in meine Vertrauensschülerpflicht nimmt“, keuchte Ron, „Wiedersehen, Harry“
„Wiedersehen“, murmelte er zur Antwort und blickte besorgt in die Ferne, wo auch die Zwillinge jetzt ihre Siebensachen rafften. Und Harry hätte ihnen auch noch weiter zugesehen, wenn nicht ein leises Quaken ihn plötzlich aus seinen Gedanken gerissen hätte. Verwundert fuhr er herum und fand sich Auge in Auge mit einer Kröte wieder, die ihn auf seinem Teller sitzend aus ihren Schokoladenlinsen anblickte.
Einen Moment lang beäugte Harry die Haut aus Erdbeerschokolade, die im Licht rosa glänzte. Dann sprang er auf.
„He! HE! Wartet doch!“, rief er quer durch die Halle und stürmte Fred und George hinterher.
Ihm war gerade der Geistesblitz gekommen, auf den er so lange gehofft hatte…
„Und du bist dir sicher, dass das ein guter Plan ist?“, flüsterte Hermine und schaute sich über die Schulter skeptisch nach hinten um.
„Ganz sicher“, entgegnete Harry und folgte ihrem Blick mit einem Lächeln und wildem Winken. Hinter ihnen, am Aufgang zu den richtungswechselnden Treppen, lehnten die Zwillinge an der Mauer. Mit strahlenden Gesichtern erwiderten sie Harrys Gruß und begannen übermütig Krötengrimassen zu schneiden. Im leuchtend roten Schein, den die Abendsonne auf sie warf, wirkten sie wie zwei Schauspieler, die hinter dem Vorhang im gedämpften Rampenlicht auf ihren großen Auftritt warteten.
„Ich meine ja nur, Fred und George sind nicht gerade-“
„-Achtung!“, rief Ron, der den Korridor hinab gespäht hatte. In der Ferne schlug eine Uhr zur vollen Stunde. Das Abendessen in der Großen Halle begann und auf dem Flur waren auf einmal hallende Schritte zu hören.
„Sie kommt“, sagte Hermine.
„Los!“, rief Harry und gab den Zwillingen das Zeichen zum Auftakt. Dann warf er den Tarnumhang über sich und seine Freunde und lief mit ihnen in den Gang hinein – direkt auf die Schrittgeräusche zu.
Den Atem anhaltend drängten sie drei sich dicht an die Wand, als wie in einer Prozession eine Gruppe von Zauberern und Hexen an ihnen vorüberzog. Gestalten in gleichfarbigen, eleganten Umhängen und mitten unter ihnen ein rosa Gespenst: Umbridge und die Prüfungskommission. Harrys Herz klopfte wie wild in seiner Brust, als einer nach dem anderen ihr Versteck passierte. Irgendwo weit weg ertönte Knallen und Zischen: Das Theater der Zwillinge gab die Bühne frei.
Vorsichtig schlichen Ron, Hermine und Harry beim Knistern und Krachen des Weasley-Feuerwerks weiter den Flur hinab, bis sie endlich an ihrem Ziel angekommen waren.
Unter Hermines Umhang zuckte kurz ihr Zauberstab:
„Revelio“, flüsterte sie und runzelte die Stirn, „Alohomora“.
„Was hast du gezaubert?“, fragte Ron, während die Tür vor ihnen leise quietschend aufsprang.
„Ich habe überprüft, ob Umbridge ihr Büro mit besonderen Zaubern geschützt hat. Aber scheinbar hielt sie das nicht für nötig.“
Mit einem Anflug von Beklommenheit trat Harry über die Schwelle. Im Licht des Sonnenuntergangs erstrahlte der Raum in einem so saftigen Pink wie eine reife Grapefruit. Doch weder die warmen Farben noch das leise Miauen ringsum an den Wänden konnten Harry das mulmige Gefühl nehmen, das ihn in diesem Zimmer überkam. Zu viele schlechte Erinnerungen waren für ihn mit diesem Raum verbunden. Und gleich würde er auch noch erfahren, was es mit dem merkwürdigen Zeichen und mit Dumbledores Brief auf sich hatte.
Doch wollte er es überhaupt wissen? Zum ersten Mal seit Donnerstagabend zögerte Harry. Nicht jedes Geheimnis, das es zu lüften galt, war schön. Nicht jede Wahrheit schmeckte süß. Tief luftholend musste er an Dumbledores Worte denken. Wie recht er hatte. In jeder Faser spürte Harry das Lampenfieber wachsen. Und die Gefahr entdeckt zu werden schwebte über ihnen wie ein Damoklesschwert. Harry spürte sie wie einen kalten Hauch im Nacken und es schnürte ihm Kehle noch weiter zu. Eines war sicher: Wie immer diese Sache auch ausgehen würde – sie würden Umbridges Büro nicht mehr so verlassen, wie sie es betreten hatten.
„Da wären wir“, sagte Hermine und zog den Tarnumhang von ihnen, während Ron mit seinem Zauberstab die Türe schloss. Beide schienen Harrys Anspannung zu teilen, denn auch sie schwiegen und betrachteten ehrfürchtig das Ordnerregal. Sie hatten ihr Ziel erreicht, standen in Umbridges Büro wie in einer Kathedrale. Und der Ordner war ein Schrein, in dem das größte aller Heiligtümer lagerte: Die Wahrheit. Die Wahrheit, die Harry immer wie ein Buch mit sieben Siegeln vorgekommen war. Doch heute würde er die Siegel brechen. Eine andächtige Stille erfüllte das Zimmer, obwohl auf dem Flur die Zauber der Zwillinge tobten. Doch manche Stille lässt sich selbst durch den lautesten Lärm nicht stören.
Tief atmete Harry durch und zog den Zauberstab, „Accio lindgrüner Ordner“.
Schon flog die Mappe aus dem Regal auf ihn zu, während Ron sich noch einmal umwandte, um die Türe zu kontrollieren.
„Oh!“, rief Hermine, als sie einen Blick auf den Ordnerrücken erhaschte.
In Goldlettern stand dort ein einziges Wort: Fudge. Wie ein verheißungsvolles Omen schimmerten die Buchstaben im Abendlicht. Gekonnt fing Harry den Ordner auf und stellte ihn auf Umbridges Schreibtisch. Sein Lampenfieber wuchs wie ein schwelendes Feuer, als der Ordner aus seinen Händen glitt und mit einem dumpfen Geräusch auf die Tischplatte fiel.
Ron kehrte zurück.
„Nun mach schon“, drängte er, wie es schien nicht weniger aufgeregt als Harry selbst.
Zögerlich und mit klopfendem Herzen schlug Harry den Ordner auf. Irrte er sich oder schwoll ihm gerade ein Kloß im Hals an? Dutzende von Blättern glitten durch seine schwitzigen Finger, während von weit her Stimmengewirr, Krachen und Zischen das Zimmer erfüllte gleich eines fernen Donnergrollens. Blätter, die Harry niemals sehen wollte. Ihm gingen die Augen fast über, während sein Herz schneller und schneller schlug. Da waren Protokolle der Aktivitäten von Dumbledores Armee, Augenzeugenberichte des Inquisitionskommandos, unzählige Formularvordrucke und Entwürfe neuer Erlässe. Und dann, als er schon fast glaubte, McPire hätte es mitgenommen und er würde sich noch die Finger wund danach blättern, hielt er es plötzlich in den Händen: Das Blatt mit der Rosette. Das Dokument, nach dem sie suchten. Sein Herz setzte für einen Schlag aus. Oder zumindest glaubte Harry das. Alles, die ganze Welt stand still in diesem entscheidenden Moment als er las, was dort stand. Als sein Finger zitternd innehielt, während die Buchstaben langsam ihren Weg von seinen Augen zu seinem Gehirn fanden. Stück für Stück gaben sie ihre gewaltige Bedeutung preis, die sich hinter einem einfachen Wort verbarg. Wie Rauch aus der brodelnden Untiefe eines Vulkans stieg sie in Harry auf. Und ihm wurde – kalt.
„Lumos!“, rief Hermine, „Lass mich mal sehen“
Und sie drängte sich dicht an Harry heran, beugte sich tief über die Mappe.
„Das ist ja ein Register“, stellte sie im Tonfall der Überraschung fest, „Scheinbar eine Übersicht der Ministeriumsbereiche! Hier seht mal, ‚Unterabteilungen der Mysteriumsabteilung‘… ‚Poolraum, Schleierrondelle und-“
Plötzlich stockte Hermine. Ihr Finger verharrte auf dem merkwürdigen Symbol. Atemlos sah Harry zu, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, während ihr Gehirn arbeitete.
Nur langsam und geistesabwesend sprach sie es aus: „Halle der Prophezeiungen“
Dann schaute sie auf und blickte Harry direkt ins Gesicht. Ihre braunen Augen waren völlig klar, ihr Blick durchdringend. Sie hatten einander verstanden auch ohne Worte. Harry begann zu schaudern, kalter Schweiß trat auf seine Stirn.
Unsicher öffnete Hermine die Lippen: „Harry?“
Er antwortete nicht.
„Was ist los?“, fragte Ron ungerührt.
Hermine wandte sich nicht zu ihm um.
„Das- das muss alles nichts bedeuten“, stammelte sie hastig, den Blick noch immer in Harrys versenkt, „Mc.. McGonagall hält auch nicht viel von… von Wahr-“,
„-Könntet ihr mir jetzt vielleicht mal sagen, was hier los ist?“, murrte Ron.
Endlich drehte sie sich in seine Richtung um.
„Halle der Prophezeiungen, Ron“, erklärte sie, „Verstehst du, was das heißt?“
Ihre Stimme kam Harry vor wie Echolot aus weiter Ferne.
„Doch natürlich“, entgegnete Ron, „Ich bin ja nicht blöd. Forschungen zu Vorhersagen. Und weiter?“
Entnervt presste Hermine die Augen zusammen und schlug den Ordner zu. Harry verstummte und abermals blieb sein Herz fast stehen, als sie aussprach, was ihm die ganze Zeit durch den Kopf ging.
„Mensch, Ron. Wenn du nicht blöd bist, dann benutz doch nur einmal dein Gehirn. Hast du dich nie gefragt, warum Voldemort Harry töten wollte als er noch ein Baby war?“
„Dutzende Male“
„Was ist, wenn er in ihm eine Gefahr sah, weil es eine -“
„-Weil es eine Prophezeiung über mich gab“, fiel Harry ihr Wort und sank schwer auf Umbridges Schreibtischstuhl.
Die Luft im Raum erschien ihm auf einmal eiskalt. Ein Zittern rauschte wie eine Welle durch seinen Körper, als die Erkenntnis einen Schleier vor seinen Augen wegzog, der dort seit Jahren gehangen hatte. Das also war das Geheimnis! Das also war die Wahrheit. Die Lösung des Rätsels, nicht nur, was Dumbledores Brief betraf. Sondern alles, einfach alles. Ihn, seine Eltern, deren Tod, Voldemort. Eine Prophezeiung, eine Prophezeiung! Aber warum, fragte sich Harry, warum? Warum hatte Dumbledore ihm dies all die Jahre verschwiegen? Und vor allem: Was war der Inhalt dieser Prophezeiung? Er war doch nicht mehr als ein ganz gewöhnlicher Junge. Einfach nur Harry. An ihm war nichts Besonderes, rein gar nichts. Keine edle Abstammung, keine überragenden magischen Kräfte, ja noch nicht einmal herausstechende Schulnoten. Nichts was einen Helden, eine Legende aus ihm machte. Was sollte über ihn schon geweissagt werden? Verwirrt sah er sich im Raum um. Doch Umbridges Einrichtung war genauso nichtssagend wie das Vakuum in seinem Kopf.
„Ihr meint also, dass… dass das die Waffe ist, die der Orden des Phönix?!?“, stotterte Ron. Seine Augen weiteten sich erschrocken, als auch er endlich begriff.
„Ja, ja, das wäre gut möglich“, bemerkte Hermine verwundert, während sie noch weiter im Ordner blätterte und ihn dann zurück ins Regal schweben ließ, „Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber… aber, das würde Sinn machen. Voldemort ist schon vier Mal an Harry gescheitert. Vielleicht denkt er, dass er irgendeine besondere Kraft hat und will deswegen mehr über ihn herausfinden. Und wir dachten die ganze Zeit, es sei eine echte Waffe.“
„Die habe ich aber nicht“, fiel Harry ihr barsch ins Wort, „Ich habe keine besondere Kraft. Und dass ich ihn besiegt habe, war einfach nur verdammtes Glück.“
„Harry“, sagte Hermine weich, während Ron nun ebenfalls auf einen der Stühle vor dem Pult sank.
Doch Harry schenkte ihr keine Beachtung.
„Außerdem“, fuhr er mit energischer Stimme fort, als die Puzzleteile sich in seinem Kopf endlich zusammenfügten, „stammt sie von Trelawney!“
„Von Trelawney?!?“, rief Hermine überrascht.
„Ja, erinnere dich. Auf Dumbledores Brief stand ‚Betreff: Trelawney‘-“
„-Nun ja, ich denke wir sollten darauf vielleicht nicht zu viel geben. Das ist doch ein sehr schwammiges Fach. Vermutlich ist die Prophezeiung nur wichtig, weil ER glaubt, dass-“
„-Dumbledore hat mal eine Andeutung gemacht, dass Trelawney auch eine echte Prophezeiung gesprochen hätte. Vorletztes Jahr, nachdem Wurmschwanz abgehauen war. Und McPire war bei ihr, vielleicht ja deswegen!“
„Aber Harry, McPire ist doch kein Unsäglicher. Was sollte er dann bei Trelawney wollen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß auch nichts, verdammt!“
Verzweifelt schlug Harry sich die Hand an die Stirn. Das alles war gerade wirklich zu viel auf einmal.
Ron verzog das Gesicht.
„Na, da dürfte der wohl eh schlechte Karten gehabt haben. Ich meine bei Trelawney kannst du-“
Was immer Ron auch hatte sagen wollen, ging unter. Zeitgleich fuhren er und Hermine zusammen. Und Harry schreckte endlich aus seinen Gedanken. Vor der Türe waren plötzlich Geräusche zu hören. Sehr nahe Geräusche. Harry blickte auf. Und dann im Bruchteil einer Sekunde war er auf den Beinen.
„Her! Schnell!“ rief er, drängte sich in eine Ecke. Hastig warf er den Tarnumhang über seine Freunde, als sie zu ihm hechteten.
Gerade noch verschwand Rons Fuß in der Unsichtbarkeit, da bewegte sich auch schon die Klinke.
„-Kröte und der Spinner werden mir die Prüfungen nicht kaputt machen“, murmelte eine Stimme, „Zum Glück ist keiner da. Alle abgelenkt durch die Streiche dieser verdammten Blutsverräter.“
„Das ist ja Malfoy“, flüsterte Hermine während der Eindringling sich durch den Türrahmen schob, „Aber, du meine Güte, was macht der denn da?“
Ohne einen Blick zurück zur angelehnten Türe war Draco zu Umbridges Pult geschlichen, hatte die Schubladen aufgerissen und begann nun wild in den Dokumenten zu wühlen.
„Irgendwo müssen Sie doch sein, verdammt. Kann doch nicht sein, dass ein Malfoy für seine Zauberergrade lernen muss. Wenn Vater nur nicht so stur wäre…“
„Bei Merlins Bart!“, keuchte Hermine wütend, „Der sucht nach Prüfungsunterlagen!“ Und noch während Ron und Harry vielsagende Blicke tauschten, umklammerte sie ihren Zauberstab.
Blitzschnell packte Harry ihr Handgelenk.
„Lass es, das ist nicht unsere Sache“, flüsterte er.
„Nicht unsere Sache? Ich bin Vertrauensschülerin!“
Sie versuchte sich seinem Griff zu entwinden. Doch da öffnete sich ein weiteres Mal die Türe und ein Schatten fiel ins Zimmer.
Erschrocken fuhr Draco auf.
„Verflucht, McGonagall!“, entfuhr es ihm.
„Gut erkannt, Mr Malfoy“, bemerkte diese ungehalten, „Darf ich fragen, was Sie hier verloren haben? Um diese Uhrzeit sollten Sie eigentlich bei ihren Hauskameraden in der Großen Halle beim Abendessen sein!“
„Etwas fürs Inquisitionskommando“, stammelte Draco.
„Nun, wirklich?“
Ungläubig musterte McGonagall die Papiere, die Draco überhastet zurück in die Schublade stopfte.
„Ja, tatsächlich! Ich wüsste nicht, was Sie das anginge! Was wollen Sie überhaupt hier?“
„Für diese Ungezogenheiten, Mr Malfoy, ziehe ich Ihrem Haus fünf Punkte ab.“
„Für meine was?!?“
Draco sah sie fassungslos an.
„Sie haben mich schon richtig verstanden. An Ihrer Stelle würde ich meinen Tonfall gegenüber Lehrkräften überdenken. Desweiteren erwarte ich Sie morgen nach Ihren Prüfungen um 18:00 in meinem Büro, zum Nachsitzen.“
„Bitte?!?“, protestierte Draco und schaute Professor McGonagall hilflos an, „Aber warum das denn?“
„Weil Sie ohne Erlaubnis nichts im Büro der Direktorin zu suchen haben geschweige denn an Ihren Schreibtischschubladen. Selbst wenn Sie zum Inquisitionskommando gehören“, entgegnete McGonagall kühl, „Sie sollten froh sein, dass Ich Sie nicht an Ihre Auftraggeberin verrate, wozu ich eigentlich verpflichtet wäre. Wenn man den Gerüchten trauen darf, hat sie nun ja wieder Sanktionen einführt, die seit Dippets Schulleiterschaft als abgeschafft galten.“
Draco erbleichte und Hermine musste sich sichtlich die Hand vor den Mund schlagen, um nicht laut aufzulachen.
„Nun, ich denke, wir werden die passende Strafarbeit für Sie schon finden. Es gab in letzter Zeit ein paar Unfälle mit gewissen Scherzartikeln, deren Folgen noch nicht ganz beseitigt sind. Was ist das eigentlich für ein Lärm?!?“
Nervös wandte Professor McGonagall sich um zum Flur, auf dem das Zischen und Krachen, Johlen und Schreien immer lauter wurde, als ob es näher kam.
„Nun, wie dem auch sei“, fuhr sie fort und blickte Draco wieder an, „Sie wissen Bescheid. Morgen, 18:00 in meinem Büro. Und natürlich werde ich Ihren Hauslehrer informieren. Einen guten Abend und vergessen Sie nicht, hier aufzuräumen.“
Mit schnellen Schritten zog sie davon.
Malfoy schaute ihr hinterher mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er direkt auf den Boden spucken. Dann würgte es hinunter, murmelte etwas von blöder Gans und dass Hogwarts vor die Hunde ginge und stapfte grummelnd zur Türe hinaus.
Harry, Ron und Hermine warteten, bis der Lärm auf dem Flur sein Fluchen übertönte, dann warfen sie den Tarnumhang ab und stürzten prustend zu Boden.
„Oh Mann“, lachte Hermine außer Puste, „Ich fürchte, der liebe Draco wird nach heute Abend noch bis zum Schuljahresende beschäftigt sein.“
„Hat er sich auch redlich verdient“, erwiderte Harry und stellte sich genüsslich Dracos blödes Gesicht vor.
Ron aber sprang auf.
„Kommt Leute, lasst uns noch das Ende ansehen, ehe es zu spät ist!“
Schnell verwischten Harry, Ron und Hermine ihre Spuren, verschlossen sauber Umbridges Türe und rannten den Gang hinunter, immer dem Lärm entgegen. Sie fanden Fred und George eingekesselt in einer Meute aus Schülern (von denen einige so aussahen, als hätten sie in Stinksaft gebadet), Lehrern und Schergen des Inquisitionskommandos. Mitten unter ihnen stand Umbridge als wild geifernde Kröte, die etwas von einem Flur und Sumpf schrie und Filch, der voller Stolz mit einem Dokument vor ihrer Nase herum wedelte, offenbar der Peitschgenehmigung. Für einen Moment wurde Harry bang. Was, wenn die Zwillinge nun zu weit gegangen waren? Was, wenn sie unvorsichtig geworden waren und nun den Preis dafür zahlen mussten? Sie standen da wie in die Enge getrieben. Und das alles nur wegen ihm! Doch dann fiel sein Blick in ihre schelmischen Gesichter, als sie mit Umbridge sprachen und Harry wusste, dass er sich irrte.
„Wissen Sie was“, entgegnete Fred, „Das glaube ich kaum“
Er wandte sich an seinen Zwillingsbruder.
„George“, sagte Fred, „ich glaube wir sind zu alt geworden für die Ganztagsschule.“
„Ja, das Gefühl hab ich auch“, sagte George locker.
„Wird Zeit, dass wir unsere Fähigkeiten in der wirklichen Welt ausprobieren, meinst du nicht?“, fragte Fred.
„Ganz bestimmt“, sagte George.
Und ehe Umbridge ein Wort sagen konnte, erhoben sie ihre Zauberstäbe und sagten im Chor: „Accio Besen!“
Harry traute seinen Augen kaum, was dann geschah. Zwei Besen rasten an ihm, Ron und Hermine vorbei auf die Weasleyzwillinge zu. Die Brüder schnappten sie sich, schwangen sich mit der gekonnten Bewegung jahrelanger Treiber darauf und rauschten über die Köpfe der ungläubig schweigenden Schülerschar auf das Eichenportal zu.
„Wenn jemand Lust hat, einen Tragbaren Sumpf zu kaufen, wie oben vorgeführt, dann kommt doch mal in die Winkelgasse dreiundneunzig – Weasleys Zauberhafte Zauberscherze“, konnte Harry gerade noch Freds Stimme hören und „Peeves, mach ihr in unserem Namen das Leben hier zur Hölle!“
Und der Poltergeist, für den Schüler bisher allenfalls eine Zielscheibe für böse Scherze gewesen waren, salutierte – ja, er salutierte tatsächlich – vor den Zwillingen, die nun zum Eichenportal hinaus flogen und auf Nimmerwiedersehen im Sonnenuntergang verschwanden.
Mit offenen Mündern blickte ihnen ganz Hogwarts hinterher, als ob ihr furioser Abgang nur ein Traum gewesen war, aus dem sie noch immer nicht erwacht waren.
„Weißt du, Hermine“, stammelte Ron, der sich aus seinem Staunen kaum lösen konnte „Ich glaube, über Fred und George brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen.“
„Ach“, antwortete Hermine schmunzelnd, „Eigentlich sind deine Brüder doch ganz in Ordnung“.
Nur Harry wurde auf einmal wieder ernst und still. Es schien ihm, als ob sich gerade eine dunkle Wolke vor den makellosen Abendhimmel geschoben hätte.
‚Prophezeiung‘, dachte er bei sich, ‚Es liegt alles an einer Prophezeiung‘
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Kursivtext: J.K. Rowling; Harry Potter und der Orden des Phönix, s. 792 - 793
Alles liegt an einer Prophezeiung! Wenn Harry in der ersten Prüfungswoche nicht eben um seine Zauberergrade bangte, so war es dieser Gedanke, der ihn in jeder freien Minute in Atem hielt. Was sagte diese Prophezeiung aus? Warum nur war sie Voldemort so wichtig? Gab es überhaupt eine Prophezeiung oder hatten sie die Zeichen missdeutet und folgten wieder einmal der falschen Fährte?
Fast meinte Harry, dass man seinen Kopf rauchen sehen musste, von all diesen Grübeleien, denen er nachhing, wann immer er Zeit dazu fand. Allerdings ließen ihm die Prüfungen nicht viel davon und da jeder im Jahrgang schwer beschäftigt war, fiel seine nachdenkliche Stimmung nicht weiter auf. Einzig Ron und Hermine teilten seine Überlegungen. Das hieß anfänglich teilten sie sie. Am Sonntagabend hatten sie drei noch lange diskutiert, die Köpfe rauchen lassen, Vermutungen angestellt und wieder verworfen. Doch als sie nach allem Kopfzerbrechen nicht einen Schritt weiterkamen und Hermine dem Inhalt der Prophezeiung ohnehin weniger Bedeutung zumaß als der Tatsache, dass Voldemort sie wollte, hatten sie es aufgegeben, nach der Lösung zu suchen.
Seitdem hatte Harry es nicht noch einmal gewagt, seine Freunde darauf anzusprechen, während diese Bücher wälzten, Zauberstäbe wetzten und ihnen der Prüfungsstress ins Gesicht geschrieben stand. Er hatte beschlossen, dieses Rätsel mit sich selbst auszumachen. Und die Stunden zwischen den Prüfungen verbrachte er allein. Abgeschiedene, zurückgezogene Orte wie die Schlossgründe oder die Eulerei wurden in diesen Tagen zu seinen Lieblingsplätzen. Denn hier konnte er in aller Seelenruhe seinen Gedanken nachhängen, ohne dass ihn jemand dabei störte oder darauf ansprach.
So war es auch am Dienstagabend. Harry verbrachte bereits Stunden in der Bibliothek mit Lernen für Kräuterkunde als die Abenddämmerung sich über Hogsmeade und das Schloss legte. Ruhe kehrte in die weiten Hallen ein. Die Tische waren bald wie leergefegt und nur ein leises Gähnen hier und da erinnerte Harry daran, dass er nicht allein war. Vor seinen müden Augen tanzten die Buchstaben. Gaslichter entflammten zwischen den wuchtigen Bücherregalen. Ihr schummriges Licht hatte seinen Geist völlig eingelullt und seine Lektüre, staubtrocken wie Professor Binns‘ Unterricht, tat ihr Übriges. Dösig blinzelte Harry und seine Gedanken begannen wieder einmal abzugleiten.
Verschwommen sah er sich in seinem Tagtraum in Umbridges Büro, hörte Wortfetzen des Verhörs, das er belauscht hatte. McPire wühlte in den Unterlagen der Großinquisitorin, betrachtete das Dokument mit der Rosette, das Register der Ministeriumsabteilungen. Dann blitze vor Harrys geistigem Auge McPires Gesicht auf der Strickleiter zu Trelawneys Turmzimmer auf. Und obwohl sich ein paar Knoten des Rätsels gelöst hatten, konnte Harry sich auf all das doch noch immer keinen Reim machen. Was um Himmelswillen wollte denn ein einfacher Ministeriumszauberer mit einer Prophezeiung über ihn? Wenn es diese Prophezeiung überhaupt gab. Wusste Umbridge etwa, was in der Halle der Prophezeiungen lagerte? Hatte sie McPire, ihre rechte Hand, auf die Wahrsagelehrerin angesetzt, um zu verhindern, dass Harry davon erfuhr? Aber warum hatte der Mann dann vor Snape gelogen? Träge starrte Harry ins Leere, sah nichts als Fragen über Fragen vor sich.
Und Snape selbst war auch ein einziges Rätsel. Seine Andeutung, Hogsmeade - überhaupt alles, was in der letzten Zeit geschehen war. Harry musste sich eingestehen, dass er ihn noch viel schlechter kannte, als er bisher geglaubt hatte. Irgendwo unter dieser zynischen Maske aus Gemeinheiten musste es einen ganz anderen Severus Snape geben. Einen, der irgendwann in seiner dunklen Jugend kein Problem mit Mugglestämmigen gehabt hatte. Die Szene, die Harry in Slughorns Erinnerung gesehen hatte, hatte schon etwas Vertrautes gehabt. Und doch war Snape danach Todesser geworden. Und Harry wusste noch immer nicht, was Dumbledore von dessen Umkehr überzeugt hatte oder warum Snape ihn, Harry, beschützte. Er versuchte sich einzureden, dass es nur daran lag, weil er eine wichtige Rolle im Kampf gegen Voldemort spielte. Weil er der Junge war, der überlebt hatte und Voldemort einer Prophezeiung wegen hinter ihm her war. Und doch wusste Harry intuitiv, dass es nicht stimmte. Er wusste, dass mehr hinter dieser Sache steckte, wenn er an die Augen dachte, die schmerzvoll zurückgewichen waren, als es um seinen Tod ging oder an die Qual in Snapes Gesicht am Donnerstagabend. Oder den Cruciatus-Fluch, den der Tränkemeister seinetwegen auf sich genommen hatte. Nur wegen ihm. Und das, obwohl Snape ihn doch so sehr hasste, weil er James Potters Sohn war. Würde er in diesem Meer aus Fragezeichen jemals an ein Ufer kommen?
Ermüdet von zu vielen Gedanken, die sich im Kreis drehten, schloss Harry die Lider und atmete tief aus. Für einen Augenblick blitze wieder Hermine vor ihm auf, die ihm davon berichtete, dass Snape seine Lehrtätigkeit am Tag nach dem Tod seiner Eltern aufgenommen hatte und das Bild eines weinenden Tränkemeisters, der ein Foto in seinem Umhang verschwinden ließ. Ein eiskalter Schauer packte Harry, durchfuhr ihn gleich einer steifen Winterbrise. So wie vor eineinhalb Wochen nach dem Einbruch in Dumbledores Büro. Ein Hauch der Ahnung, der Erkenntnis, heftiger und heftiger. Doch Harry schlug die Läden zu und der Wind erstarb. Etwas an diesen Bildern war zu unheimlich, zu aufwühlend, als dass Harry sie noch weiter betrachten wollte. Doch redete er sich selbst ein, dass es einfach zu abwegig war, den Schlüssel dort zu suchen.
Auf einmal riss ihn ein Quietschen aus seinen Gedanken. Er öffnete die Augen und sah einen Schweif aus lockigem, schwarzem Haar zur Bibliothekstüre hinaus schweben. Soweit sich Harry erinnern konnte, war das dazugehörige Mädchen die Letzte gewesen, die noch am Nebentisch gesessen und gelernt hatten. Einen Augenblick später stand Madame Pince vor ihm und fixierte mit ihren Habichtsaugen den Bücherstapel auf dem Tisch.
„Wir schließen“, sagte sie schnippisch und krallte sich begierig den aufgeschlagenen Wälzer vor ihm. Harry seufzte, rollte die Pergamente mit seinen Notizen ein und klemmte sich den Rest der Bücher unter den Arm. Gähnend stellte er eines nach dem anderen zurück in die Regale.
Dass er gar nicht mitbekommen hatte, wie spät es geworden war! Die Lichter der Bibliothek erloschen bereits. Wenn er nicht bald zurück in den Gryffindorturm käme, wäre er eine gute Beute für Mrs. Norris. Oder noch schlimmer, für Umbridge, der Harry nach den Ereignissen der letzten Woche gewiss nicht noch einmal ins Netz gehen wollte. Ganz zu schweigen, wie er seine Prüfung morgen bestreiten sollte. Längst hatte er die Zeit überschritten, um aufzubrechen. Schon fand er sich vor der schweren Türe wieder und machte sich auf den Weg.
Die Flure waren menschenleer und still um diese Uhrzeit. Harry konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal so einsam erlebt hatte. Die Nacht, in der die Ravenclaws angegriffen worden waren, schien ihm Ewigkeiten her zu sein. Hinter den Fenstern war der Himmel bereits in ein tiefes Nachtblau getaucht und die Fackeln malten Schatten an die Wände. Harry passierte einen langen Korridor, wo sich ein Klassenzimmer an das andere reihte. Tagsüber mit Lärm und Leben erfüllt, waren sie nun dunkel und ausgestorben wie alles in Hogwarts. Nachdem Harry an der fünften Tür vorübergegangen war, hatte er sich an die ungewohnte Stille angepasst und verfiel in einen dösigen Trott. Noch immer war er schwer in seine Gedanken über die Verbindung zwischen Snape, McPire und der Prophezeiung vertieft, die er wohl nie finden würde. Deswegen stach ihm die Türe am Ende des Flurs auch nicht sofort ins Auge. Die Türe, aus der ein fahler Schein hinaus auf den Flur irrlichterte.
Harry blinzelte träge und war schon im Begriff, einfach daran vorbei zu schlurfen. Doch dann riss er die Augen auf, als sein Verstand aus dem Dämmerschlaf schreckte. Ein Klassenzimmer in dem noch Licht brannte? Um diese Uhrzeit? Verwundert hielt Harry inne. Was ging hier vor sich? War das wieder McPire? Oder etwa Malfoy? Neugierig schlich er vorwärts.
Dann, plötzlich, etwa zehn Schritt vor der Türe, blieb Harry stehen - stocksteif. Grauen durchzucke ihn wie ein Blitz. Seine Füße waren bleischwer auf den Erdboden gefesselt. Durch das schmale Sichtfenster des Türschlitzes hatte er einen Blick in den Raum erhaschen können. Und der Anblick trieb ihm das pure Entsetzen in die Glieder.
Auf dem Boden lag eine menschliche Gestalt! Doch nicht irgendwer. Harry kannte ihn diesen Menschen. Wenn auch nur aus Fotos. Doch Fotos, die ihm unendlich teuer waren. Nie würde er diese Augen, dieses Haar verwechseln können. Diese grünen Augen, dieses rote Haare. Es war – seine Mutter! Doch nicht so, wie Harry sie aus den Bildern kannte: jung, strahlend, lebendig. Nein, diese Gestalt am Boden war blass und abgemagert. Glasige Augen, leerer Blick, totenbleich. Ja, das war sie: tot – TOT. Seine tote Mutter!
Harrys stockte der Atem. Er versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Vergebens. Irgendwer, den er durch den Schlitz nicht sehen konnte, feuerte Zauber auf die Gestalt ab. Doch Harry kam nicht auf die Idee, die Tür aufzureißen und nachzusehen, wer es war. Der Schrecken saß ihm zu sehr im Nacken. Und als es ihm endlich gelang, sich vom Fleck zu lösen, da ging nur noch Ruck durch seinen Körper, eine einzige Bewegung.
Er rannte los. Immer dem Donnern seines Herzschlags nach, auf durch die leeren Flure. Weiter – weiter, dem Gryffindorturm entgegen. Er musste zu Ron, er musste zu Hermine, zum Tarnumhang, zur Karte des Rumtreibers, zu irgendeiner Erklärung für dieses entsetzliche Bild, das sich regelrecht in sein Gehirn eingebrannt hatte: Die Leiche Lily Potters – mitten in Hogwarts!
„Ah, du bist‘s, Harry, du… Du meine Güte! Ist etwas passiert?!?“
Harry stürzte zum Kamin und brach luftschnappend auf einem der Sessel zusammen. Für einen Augenblick fürchtete er, dass gleich Nevilles Geranie ihre Zähne in seine Hand graben würde. Doch er konnte nichts spüren. Vor Erschöpfung fielen ihm die Lider zu und er hörte nur das Pochen seines Herzschlags, das ihm im Kopf dröhnte.
Es war ihm als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen. So fremd fühlte er sich in diesem Zimmer, in seiner Haut. Obwohl er mitten im Gemeinschaftsraum war: in seinem zuhause, bei seinen Freunden. Der Trubel und das Lachen in allen Ecken zogen einfach an ihm vorüber. Zu sehr hatte das Bild vor seinen Augen alles Vertraute ausradiert. Ihm lief der Schweiß.
Als er die Augen wieder aufschlug, schwebte Hermines Gesicht über ihm. Ihre Stirn war von Sorgenfalten gezeichnet.
„Harry, geht’s dir gut? Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als hättest du einen Inferius gesehen!“
Hinter ihr tauchte nun auch Ron auf. Er stand direkt vor den Lampen und das warme Licht ließ das Rot seiner Haare aufleuchten. Harry wurde flau.
„Hab ich auch. Oder sowas in der Art. Ich weiß nicht was. Aber irgendwas ist im Schloss!“
Mühsam rappelte er sich wieder auf.
„Was?“, hauchte Hermine und sah ihn mit großen Augen an: „Aber Harry, was redest du-“
„-Ich kam aus der Bibliothek. Da bin ich den Flur lang an den Klassenzimmern vorbei und ganz hinten im letzten brannte Licht. Ich wollte nachschauen was los ist und da lag wer am Boden. Irgendwer hat Zauber auf ihn abgeschossen! Hermine, der am Boden…es… es war meine Mutter!“
Für einen schier endlosen Moment schaute Hermine ihn an. Schaute ihn einfach nur an. Dann tauschte sie mit Ron einen verwirrten Blick. Doch Ron zuckte nur leicht mit den Schultern. In diesem Moment wusste Harry, dass sie sie ihm kein Wort glaubten. Eigentlich glaubte er sich selbst nicht. Doch fehlte ihm gerade jeder Sinn, Verständnis für andere aufzubringen.
Ron sank auf den Sessel gegenüber und Hermine trat wieder an Harry heran, griff vorsichtig seine Hand.
„Harry“, sagte sie langsam und sehr ernst, „Vielleicht sollten wir zu Madame Pomfrey gehen. In der letzten Zeit, da, da warst du oft sehr geschafft. Und da kann man schon mal ein Bild -“
„-NEIN!“
Harry sprang auf. Zorn brodelte in seinem Magen. Wie sehr er es hasste, wenn ihn keiner ernst nahm. Verstanden sie denn nicht, was hier vor sich ging?!? Verstanden Sie nicht, dass sein Kopf zu explodieren drohte? Lily Potter lag in einem Klassenzimmer in Hogwarts! So verrückt das alles auch klang.
„Ich WEISS was ich gesehen habe, verdammt! Das war kein Porträt oder eine Statue. Das war ein Mensch! EIN MENSCH!“
Hermine schwieg für einen Augenblick und sah ihn mit verkniffenem Mund an, ehe sie fortfuhr.
„Und du bist dir sicher, dass das deine Mutter war, Harry? Ich meine-“
„Ich schwöre es“, keuchte er, „Sie sah genauso aus wie auf den Fotos. Nein, nicht genauso. Sie war bleich und mager, wie eine… wie eine Tote halt… aber ich hab sie erkannt, Hermine. Ich bin nicht verrückt!“
Für eine Sekunde schaute sie Harry mitten ins Gesicht. Dann sog sie heftig Luft ein und rief mit fester Stimme: „Los, hol den Tarnumhang. Wir müssen dort hin. Wir müssen nachsehen, was da los ist. Wer da zaubert.“
Ron sprang auf und Harry nickt Hermine zu.
Sie erwiderte es, fuhr herum und… stieß beinahe mit Dean Thomas zusammen, der plötzlich von der Seite herbeigesprungen kam.
„Hey Leute, wisst ihr schon das Neuste?“, rief er aufgeregt und sah sie mit funkelnden Augen an.
„Nein!“, wies ihn Hermine schroff zurecht, „Und wir haben jetzt auch gar keine Zeit um-“
„-Ich kann euch sagen, was übermorgen in den Prüfungen dran kommt!“, platze Dean heraus, „Ginny hat da heut beim Nachsitzen was spitz gekriegt. Hat belauscht, dass ein paar Lehrer den Prüfern helfen sollen, was Großes im Schloss zu bewachen. Haltet die Zauberstäbe fest, wir kriegen wohl nen Irrwicht!“
Und noch mit dem letzten Wort zog er weiter zu Pavarti und Lavender, die am Fenster standen und tuschelten.
Langsam wandte Hermine sich wieder zu Ron und Harry zurück.
„Ein Irrwicht?!?“, kam es ungläubig über ihre Lippen als ob sie eine Verbindung zwischen beiden Erzählungen zog.
Harry wurde heiß. Sein Atem ging schneller.
„Könnte doch sein, nicht?“, sagte er hastig, „Zumindest wäre es eine Erklärung, warum-“
Dann senkte er die Stimme, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er vor Aufregung viel zu laut gesprochen hatte, „-warum die Leiche meiner Mutter hier im Schloss ist.“
Ron runzelte die Stirn.
„Aber Harry, wer könnte deine tote Mutter als Irrwicht haben? Vor allem: Von den Lehrern?!?“
Harry kam nicht dazu, ihm zu antworten. Gerade als er den Mund öffnete, erklang wieder eine Stimme hinter Hermines Rücken.
„Hallo Leute… äh ich hoffe, ich stör euch nicht.“
Es war Neville, der gerade vom Porträtloch her geschlurft kam. Nun drängte er sich an ihnen vorbei zum kleinen Tisch zwischen den Sesseln, auf dem sich ein Haufen Bücher stapelte.
„Doch, irgendwie schon“, murrte Ron und schaute ihm nach, „Ganz schlechter Zeitpunkt, wenn du’s wissen willst“
Hermine sah ihn finster an. Dann wandte sie sich Neville zu.
„Was gibt es denn? Wir sind gerade wirklich sehr beschäftigt.“
Nevilles Wangen färbten sich rosa. Und Harry stach erst jetzt ins Auge, das einige kleine, frische Wunden sie zierten. Er musste an die fangzähnige Geranie denken, die ihn wider Erwarten nicht gebissen hatte, warf einen Blick zum Sessel und stellte fest, dass sie fehlte.
„Ich wollt nur das hier holen“, murmelte Neville und griff nach einem Buch vom Tisch, „Wenn es überhaupt was hilft. Sind ja nur noch zwei Tage. Und ich bin nicht gut in Verteidigung gegen die Dunklen Künste.“
Und er ließ betrübt den Kopf hängen.
„Aber in Kräuterkunde“, sagte Harry spontan. Es war das Erste was ihm einfiel. Nevilles Gesicht hellte sich auf und ein versonnener Glanz trat in seine Augen.
„Das sagte Professor Sprout heute auch. Und dann war sie echt begeistert, wie gut ich die Geranie wieder hinbekommen habe.“
„Du hast sie zurückgebracht?“
„Ja, gerade eben. Die Prüferin will sie morgen noch vor der Prüfung sehen, ist ganz begeistert. Also sagt Professor Sprout.“
„Neville“, mischte Hermine sich ein, „Ich glaube, Verteidigung gegen die Dunklen Künste packst du auch. Du musst nur an deine Oma denken. Wir kriegen nämlich mal wieder einen Irrwicht, wenn man Dean glauben darf.“
„Oh“, meinte Neville, klemmte sich das Buch unter den Arm und trat schon wieder zur Seite, „Das ist ja merkwürdig.“
„Was ist daran merkwürdig?“, fragte Ron verwundert.
„Na, der Zufall. Ich bin unten kurz Snape begegnet. Der sah echt nicht gut aus, irgendwie fertig. Hat aber mich zum Glück nicht gesehen, glaub ich. Naja dann macht’s mal gut“
Und Neville trottete davon.
Harry, Ron und Hermine aber blieben wie angewurzelt stehen und starrten einander an. Harry war zumute, als sinke sein Herz in die Hose und ein Zittern ging durch seine Glieder. In den Gesichtern seiner Freunde spiegelte sich Überraschung und er hätte schwören können, dass sie dasselbe dachten wie er. Es schien, als schwebten Fragezeichen über ihren Köpfen: Snape? Severus Snape?!?
„Neville, wo ist er dir begegnet?“ wandte Hermine sich mit scharfem Tonfall zu Neville um, der abrupt stehenblieb.
„Vor… vor der Großen Halle“, stammelte Neville, völlig überrumpelt davon so angegangen zu werden. Doch Harry hatte gerade keinen Sinn für Mitleid. Es schien ihm, als sei eines von Freds und Georges Feuerwerken in seinem Kopf losgegangen. So sehr feuerten, blitzen und funkten Nevilles Worte durch seine Gedanken.
„Und er kam aus den Kerkern?“, fuhr Hermine fort.
„Nein, er kam von oben“
„Neville, entschuldige uns bitte“.
Augenblicklich packte sie Ron und Harry an den Schultern und zog sie vom Kamin weg in eine noch stillere Ecke des Gemeinschaftsraums, wo sie im Halbschatten die Köpfe zusammensteckten.
„Aber das kann nicht sein“, flüsterte Ron, „Was hat der denn mit Harrys Mutter zu schaffen?“
„Das wüsste ich auch gerne“, murmelte Harry und spürte, wie sein Gesicht wieder kalt wurde.
„Na immerhin so viel, dass sie zusammen an einem Zaubertrankwettbewerb teilgenommen haben“, meinte Hermine, „Und es kann doch nur Snape gewesen sein, oder? Oder ist dir noch ein anderer Lehrer begegnet, Harry?“
„Nein“, hauchte er und blickte zu Boden als ob die Antwort eine Pfütze zu seinen Füßen wäre. Warum hatte er auf einmal das Gefühl, dass seine Knie sich in Wackelpudding verwandelten? Dass ihm schlecht und schwindelig wurde und die Welt vor seinen Augen verschwamm?
„Moment mal“, sagte Ron, „Neville… Erinnert ihr euch nicht unseren ersten Irrwicht? Die Stunde mit Lupin im Lehrerzimmer. Da ist Snape abgehauen, angeblich, weil er sich Neville nicht antun wollte. Was ist aber, wenn er eigentlich-“
„-Wenn er eigentlich nicht wollte, dass wir seinen Irrwicht sehen“, beendete Harry den Satz, sank an der Wand lehnend auf den Boden und griff sich mit der Hand an die Stirn.
Er konnte nicht sagen, ob Hermine und Ron noch irgendetwas erwiderten. In seine Ohren ging keine einzige Silbe mehr hinein. Es war ihm, als ob ein Damm in seinem Inneren gebrochen wäre. Und wie rauschendes Wasser eines reißenden Flusses wirbelten all die Bilder der letzten Wochen, all die Puzzleteile, durcheinander. Die Puzzleteile, über die Harry so lange gerätselt hatte, weil er ihre Wahrheit nicht sehen wollte. Weil er Angst vor ihrer Bedeutung hatte. Snapes vor Wahnsinn verzerrtes Gesicht nach ihrem Streit; seine Tränen über ein unbekanntes Foto; Das Zurückweichen, als Harry sagte ‚Sie wollten nie, dass ich sterbe‘, während Snape in seine Augen sah; die Augen, die Harry von seiner Mutter hatte! Dumbledores unerklärliches Vertrauen in ihn; Seine Einstellung als Lehrer direkt am Tag nachdem Harrys Eltern ermordet worden waren; Die Vertrautheit zwischen den beiden in Slughorns Erinnerungen. Alles, alles lief in einem Punkt zusammen: Lily Evans!
„Aber warum?“, sagte er geistesabwesend.
Es war Hermine, die ihm mit sanfter Stimme antwortete: „Aber ist das nicht klar, Harry?“
Ihre Blicken trafen sich und er wusste, dass auch sie verstanden hatte. Dass auch sie die Puzzleteile zusammengesetzt hatte, obwohl sie nicht alle kannte.
Plötzlich spürte Harry eine Woge aus Wut in sich aufwallen. Er konnte, nein, er wollte das nicht glauben. Nicht der Lehrer, der ihn so sehr gestriezt hatte wie kein anderer. So schnell wie Harry auf den Boden gesunken war, war er wieder auf den Beinen
„Er hat sie Schlammblut genannt, Hermine, Schlammblut!“, rief er, so laut, dass sich etliche Köpfe im Gemeinschaftsraum zu ihnen umdrehten.
„Und Ron ist letztes Jahr mit einem ‚Potter stinkt‘ – Button rumlaufen“, konterte Hermine blitzschnell.
„Das war echt blöd von mir“, flüsterte Ron und lief rot an. Doch sie schien ihn nicht zu beachten.
„Was, wenn wir die ganze Zeit in die falsche Richtung gedacht haben. Wenn es bei Snape ganz ähnlich war? Sieh mal Harry, du hast uns erzählt, dass er in dieser Erinnerung halbnackt in der Luft hing. Wenn man halbnackt in Luft hängt, können einem schon mal Sachen rausrutschen, die man nicht so meint, meinst du nicht?“
„Mag schon sein“, sagte Harry trotzig. Was Hermine erzählte klang plausibel. Erst Recht, wenn man bedachte, wie Snape ausgerastet war, als er ihm die Schlammblutsache an den Kopf geworfen hatte. Aber Harry wollte keine plausiblen Erklärungen hören. Nichts, was ihn dazu zwang, seinen Zorn auf Snape zu zügeln. Ja, er hatte in der letzten Zeit viel über Snape nachgedacht und ihn in einem anderen Licht gesehen. Er hatte sogar so etwas mit Mitleid mit ihm entwickelt, als ihm klar geworden war, dass unter dessen kalter Maske irgendwo ein warmes Herz schlug. Aber das – das ging einfach zu weit. Das war zu viel!
„Aber das war nicht alles“, schnaubte Harry, „Mensch, Hermine. Snape war Todesser. Todesser. Man kann doch nicht Todesser sein und gleichzeitig eine mugglestämmige Hexe mögen“
„Ach, kann man nicht?!“, rief Hermine mit blitzenden Augen und nun war sie es, die – für Harry unverständlich – plötzlich wütend klang, „Ich kenne da einen Jungen, der einen Hauselfen befreit hat, aber kein Problem damit hat, wenn andere Hauselfen ohne Rechte und ohne Bezahlung sein Essen kochen und sein Zimmer fegen.“
Und mit einem Schnauben wandte sie sich um. Ron, der inzwischen statt Harry auf den Boden gesunken war, verrollte die Augen.
„Jetzt fang nicht schon wieder mit diesem B.ELFE.R an, Hermine. Die Hauselfen wollen es doch nicht anders.“
„Weil sie es nicht anders kennen!“, prasselte ein Wortgewitter auf Ron nieder, „Weil die Zauberer ihnen nie die Chance gegeben haben, frei zu sein. Weil-
„-Halt!“, rief Harry, der ohnehin schon das Gefühl hatte, dass sein Kopf Karussell fuhr, „So kommen wir doch nicht weiter, Leute“
Hermine verschränkte die Arme, schnaubte erneut und verfiel in Schweigen.
„Er hat Recht“, sagte Ron, während er sich wieder aufrappelte, „So bringt das doch nichts. Wir wissen noch immer nicht, was mit der mit der Prophezeiung ist oder mit McPire.“
Hermine ließ die Arme wieder sinken.
„Nein“, sagte sie leise, während sie Neville beobachtete, der ein Stück von ihnen entfernt seinen Zauberstab schwang und offensichtlich den Riddikulus übte, „Noch nicht mal, ob es diesen Irrwicht wirklich gibt.“
Ron und Harry schauten sie gleichermaßen verwirrt an.
„Sein wir doch mal ehrlich“, fuhr sie fort, „Was wissen wir schon? Ein paar Gerüchte von Dean. Aber die gibt’s in Hogwarts viele. Wer weiß, was Ginny gehört hat. Sie wird nicht lügen, aber vielleicht hat sie was missverstanden. Ich werde sie nachher mal fragen, wenn sie von Astronomie wiederkommt.“
„Heißt das, wir warten erst mal übermorgen ab?“, fragte Ron.
„Schätze ja“, meinte Hermine und atmete tief aus, „Ich denke das wäre das Beste, ehe wir uns noch in wilden Spekulationen verlieren“.
Harry folgte ihrem Blick und hatte das Gefühl, in einer dunklen, kühlen Woge zu versinken. Neville schien seinen imaginären Gegner besiegt zu haben. Doch was war mit dem anderen Irrwicht?
Lily Evans – Severus Snape. Lily Evans – Severus Snape.
Der Sickel blitzte silbern im Sonnenlicht. Harry drehte und drehte ihn. Kopf für den Tränkemeister, Zahl für seine Mutter. Ob es ihm wohl gelingen würde, ihn so schnell zu wenden, dass beide Seiten miteinander verschmolzen? Harry versuchte es, doch die Münze rutschte zwischen seinen glitschigen Fingern hindurch zu Boden und als er sie wieder aufhob, probierte er es kein weiteres Mal.
Der Flur war von Tuscheln und Murmeln erfüllt. Es hallte an den Wänden wider und kehrte als Echo zurück. Mädchen und Jungen mit bleichen Gesichtern scharten sich zwischen den Bogenfenstern, schlossen konzentriert die Augen und sprachen leise „Riddikulus“. Nervös nestelten sie an ihren Umhängen, fingerten an ihren Zauberstäben oder saßen mit in sich gekehrtem Blick auf der langen Holzbank. Harry tauschte mit Ron einen vielsagenden Blick, doch kein einziges Wort. Schweigend schauten sie wieder auf die Klassenzimmertüre.
Inzwischen hatte sich die Reihe der Wartenden bis zum Buchstaben „G“ ausgedünnt. Und Harrys Anspannung wuchs und wuchs, mit jeder Umdrehung der Münze. Seine Nerven glichen zum Zerreißen angespannten Seilen. Lange würde er zum Glück nicht mehr auf eine Antwort warten müssen. Nur ein paar Minuten noch und...
Die Tür öffnete sich.
Wie auf Kommando sprangen Harry und Ron auf. Was ihnen auf der Zunge lag, mussten sie nicht erst aussprechen. Im Rahmen erschien Hermine, ein wenig blass um die Nase.
„Es war ein Irrwicht“, sagte sie knapp.
Für einen Moment schienen ihre Worte im Raum zu schweben, ehe sie Zugang in Harrys Gehör fanden. Ehe eine Schwere seine Muskeln befiel und ihn wieder zurück auf die Holzbank drückte. Ihm war, als ob in seinem Inneren eine Eisenkette riss.
Dies war sie also: Die Lösung des Rätsels um Severus Snape. Die Erklärung für all die Ungereimtheiten der letzten Zeit. Stunde um Stunde hatte Harry sich den Kopf darüber zerbrochen. Zwei Nächte lang deswegen kaum ein Auge zugemacht. Nun hatte er die Gewissheit: Der Tränkemeister hatte seine Mutter geliebt. Severus Snape hatte Lily Evans geliebt! Harry spürte förmlich, wie die Anspannung der Ungewissheit der letzten Tage von ihm abfiel wie ein regennasser Umhang. Und doch war er weit davon entfernt, sich erleichtert zu fühlen. Die Antwort, nach der er so lange gesucht, die er so lange gejagt hatte, konnte nicht das Gefühl in ihm tilgen, noch immer in einem Wald aus Fragezeichen zu stehen. Nur ihr Anfangswort hatte sich geändert. Wie hieß sie nun statt was und warum. Wie konnte es sein, dass der Mann, der ihn all die Jahre lang so gestriezt hatte, einst seine Mutter liebte? Wie konnte Snape trotzdem Todesser werden? Wie stand Lily wohl zu ihrem Verehrer aus Slytherin? Und wie sollte Harry mit all dem nur umgehen?
Sein Magen verkrampfte sich. Noch immer konnte Harry nicht ganz fassen, was doch so klar vor ihm stand. Die Offenbarung am Donnerstag war ein regelrechter Schock gewesen. Ein bitteres Brot, an dem er lange zu knabbern hatte. Und noch immer wusste Harry nicht, ob er es inzwischen verdaut hatte. Dabei konnte er nicht einmal sagen, was an dieser Sache ihm eigentlich so auf den Magen schlug. Hatte er in den letzten zwei Monaten nicht einen anderen Severus Snape kennengelernt? Hatte er nicht erkannt, dass der Tränkemeister hinter seiner Maske zu Gefühlen fähig war, die ihm kaum ein Schüler zutraute? Aber es gab Dinge, die zu weit gingen. Zu weit, weil sie einen selbst betrafen. Weil sie alle Gewissheiten auf den Kopf stellten und alle Widersprüche miteinander verkochten. Ein Brei, dessen Zutaten so wenig zueinander passen wie saure Gruken und Siruptorte. Gänsehaut lief Harry den Rücken hinab, als er sich an die Qual in Snapes Gesicht erinnerte, an die Tränen über das Foto, an Lily Evans Leiche. Lilys Leiche – Snapes Irrwicht. Harrys Mutter, um die sie beide getrauert hatten, die sie beide schmerzlich vermissten? Harry hatte es einfach nicht glauben können – am Anfang zumindest. Doch je mehr er die Puzzleteile in jenen zwei durchwachten Nächten wiederkäute, umso sinniger erschien ihm die ganze Sache. Darum hasste und beschütze ihn Snape vielleicht. Darum dieser Widerspruch. Weil er selbst ein Widerspruch war. Weil er Lily und James in sich vereinte.
Für einen unheimlichen Moment erschien es Harry, als stände der Tränkemeister direkt hinter ihm. Näher, viel näher als jemals zuvor und legte ihm die Hand auf die Schultern, um sie nie mehr hinfort zu nehmen. Harry erschauerte unter diesem Griff und doch gewöhnte er sich allmählich daran. Fühlte sogar ein wenig Mitlied in sich keimen, als er an den Irrwicht dachte. Als er daran, was es für Snape bedeutet haben mochte, als Voldemort Lily tötete. Die Tränen, das Zurückweichen, die Qual. Nachdenklich blickte Harry hinab auf die blitzende Münze in seiner Hand. Vielleicht war diese Geschichte ja auch nur Spulenwurzelkeks, der irgendwann süß schmecken würde, wenn man ihn nur lange genug kaute?
„Mr Potter“, erschallte plötzlich eine fiepsige Stimme. Harry blickte auf. Im Türrahmen stand eine kleine Frau und winkte ihn heran. Schnell packte er den Sickel in seine Umhangstasche und stand tief einatmend auf, gewappnet für seinen Irrwicht.
„Viel Glück“, rief ihm Hermine noch hinterher wie später auch Ron, den lange nach Harry das gleiche Schicksal ereilte.
Der Weg zum Abendessen war mit betretenem Schweigen gepflastert. Und bei Tisch sprachen sie nur über die Prüfung. Erst auf dem Rückweg in den Gryffindorturm verlor Hermine ein paar Worte über das strittige Thema Severus Snape.
„Ich hab nachgedacht“, erklärte sie an Ron gewandt, während sie sich an einem Buch von Treehouse festklammerte, „Über McPire und die Prophezeiung und über Snape. Ihr habt mir doch erzählt, dass Trelawney meinte, Snape hätte versucht zu verhindern, dass sie die Stelle hier kriegt. Was haltet ihr von dieser Idee? Trelawney hat diese Prophezeiung gemacht. Und irgendwie hat Voldemort das herausgefunden, vielleicht über Malfoy, der arbeitet ja im Ministerium. Und dann hat sich Trelawney bei Dumbledore vorgestellt und Voldemort hat Snape geschickt, um zu verhindern, dass sie die Stelle bekommt, damit sie Dumbledore nichts von der Prophezeiung erzählt. Und nun soll McPire für Umbridge kontrollieren, ob Trelaw-“
„- Nette Theorie“, unterbrach Ron sie und zuckte zusammen, als an neben ihnen eine Spinne die Wand entlang krabbelte. Harry musste schmunzeln. Offensichtlich saß Ron der Kampf mit seinem Irrwicht noch immer im Nacken.
„Aber du kennst Trelawney. Die erinnert sich an nichts. Wie soll sie Dumbledore dann was erzählen?“
„Stimmt, das hab ich hab nicht bedacht“, antwortete Hermine nachdenklich und wandte sich zum Bild der Fetten Dame um, „Peitschgenehmigung“
„Zumindest ist Snape zu Dumbledore zurückgekommen, als Voldemort meine Mutter getötet hat wegen der Prophezeiung“, sprach Harry mehr zu sich selbst.
Ron verzog das Gesicht.
„Ich frag mich eh, wie die jemals mit Snape zusammen sein konnte. Ich meine mit Snape.“
„Wo die Liebe hinfällt“, entgegnete Hermine und verschwand durchs Porträtloch, „Wenn die überhaupt zusammen waren. Wär doch möglich, dass es nur einseitig war.“
Harry blieb für einen Moment stehen und schaute seinen Freunden verblüfft hinterher. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass jemanden Schlammblut zu nennen und in ihn verliebt zu sein sich nicht immer ausschlossen. Doch nicht eine Sekunde hatte er die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass zwischen Lily und Snape vielleicht mehr gelaufen war, dass sie seine Gefühle erwidert haben könnte. Ein beunruhigendes Gefühl packte Harry, als auch er die Schwelle endlich passierte. Waren sie das gewesen? Ein Liebespaar? Und wenn ja, hatte James sie ihm dann, hatte er…
„Aber ich denke, es stimmt schon, was Harry sagt“, fuhr Hermine fort, als sie im Gemeinschaftsraum ankamen, „Dass Dumbledore ihm deswegen vertraut. Ich meine, sein Irrwicht. Als Voldemort Harrys Mutter umgebracht hat, muss er aufgewacht sein und hat es tief bereut haben, Todesser zu sein. Vielleicht ist ja er deswegen auch so verbittert. Irgendwie kann er einem schon leidtun, wenn er nicht so fies zu allen wäre. Hm, ich glaub, ich muss noch etwas für Alte Runen lernen.“
Sie legte das Treehouse-Buch auf den Tisch, nahm sich das nächste vom Stapel und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Hinter ihr schimmerte die Sonne durch die Bogenfenster und stach Harry direkt in die Augen, als wollte sie ihn necken.
Den ganzen Abend grübelte er darüber wie Snape und seine Mutter wohl zueinander gestanden hatten. Und auch am nächsten Tag wollte ihn diese Frage nicht loslassen. Vor allem als er auf der Rückkehr von einem abendlichen Ausflug zu Hagrid ausgerechnet dem Mann über den Weg lief, über den er sich so sehr den Kopf zerbrach. Snape warf ihm einen dunklen, vielsagenden Blick zu und zog wortlos an ihm vorbei. In Harrys Nacken breitete sich Gänsehaut aus, während er dem Tränkemeister hinterher schaute, zusah, wie sein Schatten vor der Sonne kleiner und kleiner wurde.
Hatten diese gelblichen Finger Lily Evans Haut gestreichelt? Hatten diese schmalen Lippen sie geküsst? Hatten diese schwarzen Augen tief in ihre grünen gesehen? So wie in seine in ihrer vorletzten Okklumentikstunde?
Plötzlich zuckte Harry zusammen, als ein Gedanke in seinem Kopf Gestalt annahm. Die Qual, die er am Donnerstag für einen Moment in Snapes Miene gelesen hatte. Konnte es sein, dass es ernsthafte Sorge um ihn war? Lily Evans war gestorben, um ihn zu retten. Und wenn Snape sie geliebt hatte, dann… dann ging es vielleicht um viel mehr als nur darum, dass Harry im Kampf gegen Voldemort wichtig war. Dann war Snape vielleicht in Lilys Fußstapfen getreten. Dann war er… Harry wagte den Gedanken kaum zu denken… dann war er vielleicht viel wichtiger für Snape als er bisher geglaubt hatte. Aber warum? Warum hatte Dumbledore ihm dann nie etwas davon erzählt? Und warum hatte Snape nie versucht, auf ihn zuzugehen? Warum hatte er ihn immer nur spüren lassen, dass er James in ihm sah? Sie hätten doch so viel mehr sein können. Sie teilten ein Schicksal. Sie hätten doch Freunde werden können, oder nicht? So etwas wie Pate und Patensohn.
Der schwarze Punkt verlor sich am Horizont. Unzufrieden wandte Harry sich um und stapfte davon. Was nützten die Grübeleien. Die Dinge standen wie sie standen. Und er wusste noch immer nicht, warum Snape trotzdem Todesser geworden war. Und wie das mit Lily auseinandergebrochen war, wenn da jemals mehr gewesen sein sollte. Ein frustrierendes Gefühl von Leere breitete sich in Harry aus, als ihm klar, dass es niemandem gab, der ihm Antwort auf seine Fragen geben konnte. Snape würde er darauf nicht ansprechen. Nach dessen Reaktion auf den verbotenen Blick ins Denkarium mochte Harry sich nicht das Donnerwetter ausmalen, das über ihn hereinbrechen würde, wenn Snape wüsste, was er inzwischen alles herausgefunden hatte. Und Ron und Hermine? Was wussten sie schon mehr als er? Spekulationen, nichts als Spekulationen. Was Harry brauchte, war jemand, der dabei gewesen war, damals als Snape und Lily noch jung gewesen waren. Jemand, der Harry alles über die Vergangenheit erzählen konnte. Jemand wie…
Sirius! Sirius und Remus. Natürlich! Die Freunde seines Vaters. Die waren damals dabei. Die konnten ihm sicherlich sagen, was zwischen Lily und Snape gelaufen war. Ein ganzes Stück leichter ums Herz und mit dem festen Vorhaben im Gepäck, heute noch den Zweiwegespiegel zu benutzen, kehrte Harry ins Schloss zurück. Und doch ließ er sich Zeit, bis die Sonne längst untergegangen und der Jungenschlafsaal vom Schnarchen erfüllt war. Niemand sollte dieses Gespräch belauschen, nicht einmal Ron.
„Sirius?“, flüsterte Harry als er mit leuchtendem Zauberstab und Spiegel unter der Bettdecke lag. Es war ein Uhr vorbei und längst schon wollten ihm die Augen zufallen. Doch Harry konnte keinen Schlaf finden ohne mit seinem Paten oder seinem alten Lehrer gesprochen zu haben.
„Sirius?“
Nichts tat sich. Der Spiegel blieb dunkel. Noch drei Mal versuchte es Harry ohne eine Veränderung. Enttäuscht wollte er das Silberglas schon wieder beiseitelegen, als ihn auf einmal jemand ansprach.
„Na, Sportsfreund?“
Wildes, dunkles Haar blitze Harry aus dem Zweiwegespiegel entgegen.
„Sirius“, hauchte Harry fröhlich. Es schien ihm eine Ewigkeit her, seitdem sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten und er freute sich, seinen Paten wiederzusehen.
„Wie er leibt und lebt“, feixte Sirius, „Was gibt es zu später Stunde? Macht dir Schniefelus etwa wieder Ärger?“
„Nein. Wir kommen ganz gut zurecht. Und es wäre mir lieb, wenn du ihn einfach Snape nennen würdest“, sagte Harry nachdrücklich. Nach all dem, was er im Denkarium gesehen hatte und was in den letzten Wochen geschehen war, ging ihm ‚Schniefelus‘ allmählich ähnlich gegen den Strich wie ‚Schlammblut‘.
Sirius hob die Augenbraue, lenkte aber schließlich ein: „Na gut, wie du möchtest.“
„Aber es geht um ihn. In gewisser Weise zumindest. Naja, eigentlich eher um meine Mutter.“
Sirius schwieg für einen Augenblick und sah Harry mit ernstem Blick an.
„Zu Lily kann ich dir nicht so viel erzählen wie zu James. Aber ich werde mein Bestes versuchen.“
„Es ist auch nicht viel, was ich wissen will“, erklärte Harry, „Eigentlich nur wie sie zueinander standen. Snape und meine Mutter, meine ich“
Wieder schwieg Sirius für einen Moment und schaute ihn mit einem Ausdruck der Verwunderung an.
„Warum fragst du mich das, Harry? Hast du wieder in seine Erinnerungen geschaut?“
„Nein“, sagte Harry hastig. Was sollte er nur antworten, ohne zu viel zu verraten? „Aber heißt das, dass ich dort noch etwas hätte herausfinden können? Hermine hat neulich einen alten Tagespropheten gefunden. Da war ein Artikel drin, dass meine Mutter und Snape mal zusammen einen Zaubertrankwettbewerb gewonnen haben. Das fand ich irgendwie merkwürdig.“
„Nun ja, sie waren mal befreundet, wenn man das so nennen kann.“
„befreundet?“
Harry spürte, wie ihm warm wurde. Also doch! Er war auf der richtigen Spur. Da war mehr zwischen Severus Snape und Lily Evans gewesen als er bisher wusste und er würde herausfinden was.
„Ja, hat dir das denn niemand erzählt?“, fragte Sirius verblüfft.
„Nein“, antwortete Harry und fügte grimmig in Gedanken hinzu: ‚Aber es hält ja auch niemand für nötig mir irgendwas zu erzählen‘
„War wohl auch mehr eine Kinderfreundschaft. Schnie – Snape und Lily kamen aus der gleichen Stadt, kannten sich schon vor dem ersten Schultag. Schätze, hatten beide wohl nicht viel Gesellschaft, da wo sie wohnten. Außerdem warn sie gut in Zaubertränke. Saßen nebeneinander und haben zusammen gepaukt. Aber mit den Jahren wurde es immer seltener und nach den ZAGs hat man die gar nicht mehr zusammen gesehen.“
„Nach den ZAGs?“, fragte Harry verwundert, „Warum gerade nach den ZAGs?“
Sirius zuckte mit den Schultern.
„Wer weiß, vielleicht hat er ihr beim Lernen sein neues Schlangenschädel-Tattoo gezeigt“ Ein Grinsen zog sich über Sirius‘ Gesicht, dann wurde er wieder ernst, „Ich hab keine Ahnung. Du musst verstehen, Harry, dass wir über Snape nie gesprochen haben.“
Harry nickte. Sein Pate brauchte nicht mehr zu sagen. Jener Abend, an dem der Streit zwischen ihm und Snape eskaliert war und der Anblick von Snape wie er auf das Wort ‚Schlammblut‘ wie ein verletztes Tier reagierte, waren Harry Antwort genug. Ein eisiger Schauer lief seinen Rücken hinab, als er daran dachte, dass die Leiche der Frau, die Snape mit diesem Wort beschimpft hatte auch dessen Irrwicht war.
„Sirius“, sagte Harry leise, gedankenversunken, „Zwischen meiner Mutter und Snape… kann es sein, dass da mal mehr… also ich meine…“
Sirius‘ Augen weiteten und weiteten sich.
„Lily und Schniefelus?!? Bei Merlins Bart! Nein, das glaub ich keine Sekunde. Hör mal, Lily hätte nie was mit dem angefangen. Sie waren mal befreundet, ja. Aber Lily hasste die Dunklen Künste genau wie James. Sie hätte sich nie auf jemanden wie Snape eingelassen. Und Händchenhalten oder Schlimmeres hat man die auch nie gesehen. Was Snape angeht. Ich weiß nicht, kann sein. Ich glaube, James hat das manchmal vermutet. Aber Harry, warum willst du das überhaupt wissen?“
„Es interessiert mich einfach.“
Sirius beäugte ihn ernst.
„Hör mal, du solltest dich nicht so sehr mit Snape beschäftigen. Dem Mann ist nicht zu trauen. Steckt tief in den Dunklen Künsten bis heute, da bin ich mir sicher. Auch wenn Dumbledore ihm vertraut, ich tu es nicht. Versprich mir, dass du auf dich aufpasst.“
„Mach ich“
„Gut, dann lass von dir hören und schlaf gut!“
Harry nickte erneut und packte den Zweiwegespiegel wieder weg.
Dann warf er sich aufs Bett. In seinem Magen begann gerade der Zorn zu brodeln. Kinderfreundschaften! Kinderfreundschaften! Wer’s glaubt wird selig. Kein Irrwicht der Welt nahm die Gestalt der Leiche eines Menschen an, mit dem einen nichts verband als eine Sandburg auf dem Spielplatz. Nein, da musste mehr dahinterstecken. Doch niemand verschwendete mal einen Gedanken daran, Harry einzuweihen und aufzuklären, obwohl es doch immer irgendwie um ihn ging. Nur Rätsel, Halbwahrheiten und Geheimnisse. Oh er hatte sie alle satt, so satt, so dermaßen satt. Er wollte endlich die Wahrheit wissen. Die verfluchte ganze Wahrheit, die ganze Geschichte. Er wollte, dass das Tohuwabohu in seinem Kopf aufhörte zu wüten. Dieses Chaos aus Fragezeichen. Er wollte endlich schwarz oder weiß für Severus Snape fühlen, aber nicht mehr dieses Grau, das ihm auf den Magen schlug. Er wollte Klarheit. Klarheit und Antworten. Und es gab wohl nur einen Ort auf der Welt, an dem Harry wohl welche finden konnte: Eine Wohnung tief in den Kellern von Hogwarts. Schwer gähnend warf er sich energisch auf die Seite. Dabei streifte er mit dem Ellenbogen eine kleine Phiole auf dem Nachttisch, die klirrend zu Boden fiel, auf den Dielen zerschellte. Doch es kümmerte Harry nicht. Nichts kümmerte ihn mehr. Der Schlaf drohte ihn zu übermannen. Mit Severus Snape vor Augen fielen ihm die Lider zu und ohne einen weiteren Gedanken schlief Harry ein.
Es sollte bis zum Sonntag dauern, bis Harry seine Chance bekam. Vor den Scheiben stand schon die Nacht, als er am späten Abend auf der Fensterbank des Jungenschlafsaals saß und träge hinaus in die Schlossgründe schaute. Die Wege lagen in Dunkelheit. Kein Mondlicht beschien sie und kein Wind ging durch die Bäume. Nur das leise Ticken seines Weckers und das Federrascheln von Ron, der sich noch immer mit „Zaubertränke und Zauberbräue“ für die morgigen Prüfungen abmühte, ließen Harry wissen, dass noch jemand außer ihm wach war. So leise war es im Zimmer und die Erschöpfung legte sich allmählich auf seine Glieder. Sogar ein leichter Schmerz durchzog seine Schläfen, wie ihn eigentlich schon seit gestern eine leichte Migräne quälte. Und doch dachte Harry nicht daran, zu Bett zu gehen. Noch nicht. Nicht ehe er eine Idee hatte, wie sie in den Kerker gelangen konnten. Irgendeine.
„Hoffentlich wird das morgen nicht zu schwer“, sagte Ron hinter seinem Rücken und verfiel in Gähnen.
Nur halbherzig murmelte Harry eine Antwort und schaute müde hinab auf die Karte des Rumtreibers, die ausgebreitet zu seinen Füßen lag. Seit gestern Morgen hatte er sie nicht mehr aus den Augen gelassen, geschweige denn zusammengefaltet, um Snape die ganze Zeit überwachen zu können. Inzwischen konnte Harry nicht mehr zählen, wie oft er ihr einen Seitenblick zugeworfen hatte, nur um festzustellen, dass Snape in seinem Büro war. Es war wie verhext. Selbst für eine Schule voller Magie.
Schlaftrunken überlegte Harry wonach er in Snapes Räumen eigentlich suchen sollte – ein Fotoalbum? eine Kiste mit Briefen? - als er plötzlich das Gefühl hatte, dass etwas nicht stimmte. Er schaute hinab auf seinen Zauberstab, dessen Spitze in Snapes Büro lag und - es war leer!
Verwundert suchte Harry das Pergament nach dem Tränkemeister ab und fand ihn mitten in den Schlossgründen. Eilig zog der kleine, schwarze Punkt am See vorüber und bewegte sich weiter die Wege hinab. Harry drehte sich um, drückte die Nase gegen die Scheibe. Doch die Schlossgründe waren zu dunkel und Snape ohnehin schon zu fern, um irgendetwas zu erkennen. Als Harry wieder auf die Karte blickte, sah er gerade noch, wie der Name Severus Snape am Rande des Pergaments erlosch. Eine fiebrige Aufregung fegte all seine Schläfrigkeit davon.
„Wo ist Hermine?“, drehte er sich zu Ron um, der träge auf seinem Bett lümmelte.
„Noch im Raum der Wünsche, glaub ich. Wieso?“
Harry antwortete nicht.
„Komm“, rief er nur, raffte seine Sachen und lief zum Aufgang.
„Halt, warte!“, hörte er Rons Stimme hinter sich, als er schon fast auf der Treppe war.
Die Korridore von Hogwarts waren in die gleiche Einsamkeit dieser Neumondnacht getaucht wie die Schlossgründe. Nichts störte die Stille, bis auf -
„-Was ist los?“, fragte Ron.
„Nichts“, entgegnete Harry und blickte den fackelbeschienen Korridor hinab. Für eine Sekunde hatte er geglaubt, am Ende des Flurs eine Katze miauen zu hören. Doch als er seine Ohren spitzte, war alles verklungen.
„Mensch, Harry“, flüsterte Ron und warf dem Porträt von Barnabas dem Bekloppten einen skeptischen Blick zu, „Kannst du mir endlich sagen, was du hier willst?“
„Snape“, antwortete Harry nur und zog den Tarnumhang von ihren Köpfen.
„Du meinst?...“
„Ja. Ich weiß nicht, wo er hin ist. Aber er ist nicht mehr im Schloss“.
Ohne zu zögern begannen sie, den Gang auf- und abzugehen. Drei Mal am Porträt vorüber.
‚Bring mich zu Hermine‘, dachte Harry konzentriert, ‚Bring mich zu Hermine. Bring mich zu Hermine‘. Endlich erschienen die Umrisse in der Wand, nahmen weiter Gestalt an, bis die Tür massiv in der Mauer stand und Ron sie öffnete. Schon auf der Schwelle hörte Harry das Brodeln kochenden Wassers. Ein paar Meter vor ihm beschien ein Kreis schwebender Kerzen einen schweren Kessel über einem flackernden Feuer.
Mit überraschter Miene drehte Hermine sich um.
„Ach, ihr seid es, Jungs“, bemerkte sie nüchtern und tauchte eine Kelle in den Zaubertrank. Rauchschwaden stiegen vom Kessel auf, umhüllten ihr Gesicht. Rauchschwaden, die selbst zu leuchten schienen. Die Luft war erfüllt von übelkeitserregendem, süßlichem Gestank und als Harry näher trat und einen Blick in den Kessel erhaschen konnte, erinnerte ihn der Inferi Imunum an abgestandene Milch. Doch Harry hielt sich nicht lange damit auf.
„Hermine, du musst sofort kommen. Snape ist weg!“, rief er hastig.
Wieder wandte sie sich zu ihm um und diesmal fixierte sie ihn finsteren Blicks.
„Harry, ich hab dir schon gestern gesagt, was ich davon halte: Nichts“, sagte sie kalt und goss die Kelle über einem Trichter aus, der in einem großen Zaubertrankflakon steckte. Für ein paar Sekunden blieb Harry steif vor ihr stehen und starrte auf sie hinab. Enttäuschung wallte in ihm auf.
„Bei Dumbledore hattest du nicht so viel Skrupel“, entgegnete er bitter und erntete ein böses Funkeln aus ihren braunen Augen.
Sie hatten sich gestritten, als Harry ihr am Samstagmorgen von seinem Plan erzählt hatte, bei Snape einzubrechen. Und nun schien es, als ob der Geist ihrer Auseinandersetzung auferstanden wäre. Ron blieb auf Sicherheitsabstand, wohl ahnend, was sich da über dem Kessel zusammenbraute.
„Bei Dumbledore“, zischte sie und richtete sich auf, „Haben wir nicht seine Privatsachen durchwühlt! Harry, das geht zu weit! Das sind Dinge, die uns nichts, aber auch gar nichts angehen!“
„Ach nein?!?“, schnaubte Harry und der Zorn in seinem Magen brodelte wie der Inferi Immunum zwischen ihnen, „Schon vergessen, warum meine Mutter gestorben ist? Ja, genau: Wegen mir! Wegen mir ist sein Irrwicht Wirklichkeit. Geht mich das auch nichts an? Verdammt, Hermine. Ich will doch nur die Wahrheit wissen. Ich will wissen, was da wirklich war zwischen den beiden. Was es auf sich hat mit ihr und ihm und - mit mir! Aber wenn du mich im Stich lässt, dann gehen wir eben alleine. Komm, Ron.“
Ruckartig wandte Harry sich um und stapfte wütend in Richtung Türe davon. Er hatte zwar keine Ahnung, wie er ohne Hermines Hilfe die Banne brechen sollte, mit denen Snape seine Räume gewiss geschützt hatte. Doch in seiner Wut war ihm das alles egal. Irgendwie würden sie schon eine Lösung finden. Gerade stand Harry im Begriff, die Schwelle zu überschreiten, als eine Stimme ihn zurückrief.
„Halt, warte!“
Er wandte sich um und sah, wie Hermine einige Flakons in ihre Tasche stopfte und den Träger über ihre Schulter warf.
„Du solltest aber wissen, Harry, dass ich das eigentlich nicht billige“, sagte sie streng und richtete ihren Zauberstab auf die Flammen unter dem Kessel, „Aguamenti“. Mit einem schlangenhaften Zischen erlosch das Feuer.
„Das weiß ich“, entgegnete Harry leise, „Danke“
„Nox“, rief Ron und auch der Kerzenkreis versiegte.
Durch den Flur zog eine frische Brise, als hätte jemand Stockwerke unter ihnen noch einmal das Eichenportal aufgestoßen, um sich hinaus in die Neumondnacht zu stehlen. Für Harry roch die Luft nach Aufbruch und Abenteuer, der Jagd nach Geheimnissen.
„Also los?“, fragte Ron.
„Also los“, seufzte Hermine widerwillig.
Gemeinsam traten sie über die Schwelle und die Türe verschmolz wieder mit der Wand als hätte sie nie existiert.
Wie ein Schneckenhaus wand sich die Wendeltreppe zu den Kerkern hinab. Mit jedem Schritt wurde es dunkler und stickiger um Harry. Er kannte diesen Weg gut und doch kam er ihm nie so fremd vor. Schwüle, abgestandene Luft sammelte sich auf den Stufen, schien förmlich aus dem alten Mauerwerk zu quellen. Der Tag war heiß gewesen und Harry war zumute, als stiege er hinab in eine Gruft. Welche Geheimnisse würde er dort unten in der Dunkelheit noch ans Licht bringen? Der Geruch des ewig Vergessenen waberte regelrecht die Treppe hinauf. Und es musste der schlechten Luft geschuldet sein, dass Harry allmählich etwas schummrig wurde. Fast meinte er Flüstern an seinen Ohren vorbeirauschen zu hören. Flüstern, das von der Vergangenheit erzählte, während er weiter und weiter in die düsteren Tiefen hinabkletterte. Gleich einer schwarzen Seele. Snapes Seele. Seine Vergangenheit. Ihre Verbindung zueinander. Die Hitze stieg Harry allmählich zu Kopf, schlug sich auf seine Stirn. Das Pochen in seiner Schläfe wurde stärker. Doch endlich hatten sie die Türe zum Büro des Tränkemeisters erreicht.
Hermine blieb stehen, verschränkte die Arme und warf Harry einen kritischen Blick zu, als ob sie etwas sagen wollte.
Doch Harry zog unbeirrt den Zauberstab: „Alohomora!“
Mit einem Quietschen sprang die Türe auf, gab den Raum dahinter frei.
Ron runzelte die Stirn: „Keine besonderen Schwellenbanne?“
„Nichts Kompliziertes“, entgegnete Harry, runzelte die Stirn und trat ein.
Das Büro lag in völliger Dunkelheit. Nicht einmal das grünliche Licht, das Harry von den Okklumentikstunden gewohnt war, beleuchtete den Raum. Okklumentik… Harry musste an den Unterricht zurückdenken und hielt inne. Hier, in einer Okklumentikstunde, hatte alles begonnen. Begonnen damit, dass er zu neugierig gewesen war. Dass er seine Nase in Snapes Angelegenheiten gesteckt hatte. So wie er auch jetzt im Begriff stand, es wieder zu tun. Und zum ersten Mal seit Freitagabend, seit dem Gespräch mit Sirius regte sich in Harry das schlechte Gewissen. Eine Stimme, die er fast erstickt hatte im Rauch seiner Wut. War es richtig, was er tat?
Severus Snape, zischte es wie zur Antwort in Harrys Kopf und ein Brennen durchzuckte seine Stirn. Im Reflex griff er sich an den Kopf und wurde im nächsten Augenblick von einem Zauberstablicht direkt vor seiner Nase geblendet.
„Harry, ist alles in Ordnung?“, frage Hermine
„Danke, geht schon“, antwortete er.
Es war egal, ob es richtig oder falsch war, was er tat. Ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte oder nicht. Er wollte die Wahrheit wissen, die volle Wahrheit. Und hier war der einzige Ort, an dem er sie erfahren konnte. Sie hatten das Büro aufgebrochen, sie hatten die Schwelle übertreten. Es gab kein Zurück mehr, nur noch ein vorwärts. Zu dritt durchquerten sie den Raum, bis sie vor der Tür standen, die wohl zu Snapes Privaträumen führte.
Wieder zog Harry den Zauberstab: „Alohomora!“
Nichts geschah. Er tauschte mit Ron einen Blick, dann schauten sie Hermine an, die längst ihren Zauberstab gezogen hatte und wieder einmal „Revelio“ sprach.
„Und?“, fragte Ron.
„Da sind Schwellenbanne drauf“, erklärte Hermine und steckte ihren Zauberstab weg.
„Ja und weiter?“
„Nichts weiter“, sagte sie und wandte ihren Blick von der Türe ab, „Ach Ron, glaubst du wirklich, nur weil ich viele Bücher lese, könnte ich jedes Problem lösen?“
„Soll das heißen, wir kommen nicht weiter?“
„Genau das heißt es“
Harry trat vor, den Zauberstab auf den Griff gerichtet.
„Finite Incantatem“, rief er.
„Das nützt nichts, Harry“, erklärte Hermine, „Finite incantatem löst viele Zauber und Flüche, aber nicht alle. Der hier ist anderer Art. Am besten wir gehen zurück und hoffen, dass Snape nichts beme-„
„-Nein!“, rief Harry energisch und ließ sich neben dem Türrahmen zu Boden sinken. Das konnte nicht wahr sein. Es konnte nicht sein, dass sie an einer einfachen Türe scheitern sollten!
„Dobby!“, rief er unwillkürlich in die Kerkerdunkelheit hinein, nicht einmal wissend warum.
„Harry Potter hat Dobby gerufen?“, erschallte es plötzlich aus einer dunklen Ecke des Zimmers. Drei Zauberstablichter wandten sich gleichzeitig um und enthüllten eine kleine Gestalt in der Dunkelheit. Harry sprang auf.
„Dobby!“, rief er überrascht, „Dobby, du…“
Und dann fiel ihm etwas ein.
„Sag mal, die Hauselfen, die fegen doch sicher auch Snapes Räume, oder?“
„Harry!“, rief Hermine scharf. Doch er beachtete sie nicht.
„Natürlich“, erklärte Dobby, während Harry auf ihn zuging und sich zu ihm hinab beugte, „Dobby hat selbst schon oft Professor Snapes Wohnung geputzt.“
„Dann kannst du mir sicher sagen, ob es da drin irgendwo eine Schachtel mit Schloss oder ein Tagebuch oder sowas in der Art gibt, die Snape gut versteckt? Es ist wirklich sehr wichtig.“
„Ja“, entgegnete Dobby, „Die gibt es. Professor Snape verbirgt sie tief in seinem Schrank“.
Harry drehte sich um und tauschte mit seinen Freunden einen verblüfften Blick. Hermine fuchtelte durch die Luft als wollte sie sagen ‚Tu das nicht!‘
Doch Harry wandte sich entschieden zu Dobby um: „Bring Sie her!“
Die Züge des Hauselfen entglitten.
„Aber Harry Potter, Sir“, stammelte Dobby, „Professor Snape hat diese Kiste mit starken Zauberbannen geschützt. Mächtige Magie, sehr mächtige Magie.“
„Kannst du die Banne brechen?“
„Dobby kann es versuchen, Sir. Dobby tut sein Bestes. Aber versprechen kann Dobby nichts.“
„Dann tu das“, erwiderte Harry
Und mit einem Fingerschnippen war der Hauself disappariert.
„Harry, ich finde das nicht gut!“, beschwerte sich Hermine.
Harry richtete sich wieder auf, drehte sich zu ihr um.
„Ich auch nicht“, sagte er bestimmt und schaute ihr direkt in die Augen, „Aber manchmal muss man etwas Unschönes tun, um weiter zu kommen, sagte mir mal eine gute Freundin.“
Und auf einmal war es still im Zimmer. Mit zusammengepressten Lippen wandte Hermine sich um und betrachtete die Tür. Dann atmete sie kräftig aus und ließ die Schultern sinken, als hätte sie sich endlich damit abgefunden, was hier im Gange war. Gemeinsam lehnten sie sich gegen den Türrahmen und zählten die Minuten.
Endlich, als Harry schon fast das Gefühl hatte, über das Warten wahnsinnig zu werden, kehrte Dobby zurück. In seinen mit Brandblasen übersäten Händen trug er eine schmucklose Holzkiste, etwas kleiner als ein Schuhkarton.
„Dobby hat sich die Finger verbrannt. Doch er hat es geschafft“, erklärte der Hauself stolz, während Hermine in Snapes Büro herumfuhr, um das richtige Gegenmittel aus den Regalen zu holen.
Wie einen kostbaren Schatz legte Dobby Harry die Kiste in den Schoß und ließ sich von Ron die Hände verarzten, dem Hermine das Fläschchen in die Hand gedrückt hatte.
Harry begutachtete die Kiste lange, ehe er es wagte, sie anzurühren. Dort in seinen Händen lag Severus Snapes letztes Geheimnis. Und seinem zornigen Vorhaben zum Trotz hatte Harry doch schon eine innige Ehrfurcht davor. Was immer in dieser Schachtel lag: Er würde Severus Snapes tiefstes Inneres blicken. Noch einmal flammte sein schlechtes Gewissen auf gleich einer Stichflamme und verrauchte unter dem Gegenwind eines mühsam errungenen Willens. Harry schloss die Lider und riss die Kiste mit einem Handgriff auf. Als er die Augen wieder aufschlug, blicke er hinab auf einen Schatz, den er sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt hätte.
Die Kiste war voller Zierrat, der an eine längst vergangene Zeit erinnerte: Eine Haarspange mit einem Schmetterling aus Jade, verstaubte Phiolen mit eingetrockneten Zaubertrankresten, einige Münzen Muggelgeld, getrocknete Lilienblüten, eine angesengte und abgebrochene Feder. Und Fotos. Mugglefotos, magische Fotos. Fotos von zwei Kindern, die auf einer Decke unter einem Baum lagen und in die Kamera grinsten; Fotos von zwei Schülern, die durch die Scheibe des Hogwartsexpresses winkten; Ein ausgeschnittenes Zeitungsfoto von zwei Jugendlichen, die stolz ihre Siegerurkunde des Wettbewerbs „Jugend braut“ hochhielten. Kein Foto von einem Liebespaar, das sich küsste oder Händchen hielt oder tiefe Blicke tauschte. Nichts, was darauf hindeute, dass diese beiden jungen Menschen mehr als gute Freunde gewesen waren. Doch das Zeitungsfoto war wellig, als ob jemand lang und oft über darüber geweint hätte.
Harry war noch damit beschäftigt, all die Dinge zu sortieren, als Hermine in die Kiste griff und den größten Gegenstand herausnahm. Ein Buch, wie es in ihrer Natur lag. Doch Harry schenkte ihr nicht viel Beachtung. Zu versunken war er in all die Erinnerungen an seine Mutter. Der Mutter, die er kaum kennenlernen durfte, weil sie ihr Leben gab, um seines zu retten. Erst als er ein leises Schniefen hörte, schaute er von der Kiste auf. Sein Blick fiel direkt in Hermines Gesicht, die sich über Snapes Buch gebeugt hatte. Und da sah er es: Tränen. In ihren Augen standen Tränen.
„Was ist?“, fragte Harry alarmiert.
Doch Hermine brachte kaum ein Wort heraus.
„Oh Harry“, keuchte sie nur und reichte ihm ohne weitere Erklärung das Buch.
Mit zittrigen Fingern nahm er es entgegen und sah auf die vollgeschriebene Seite hinab. Die Handschrift erkannte er sofort von vielen Korrekturen auf seinen Zaubertrankhausaufgaben. Stellenweise war auch dieses Papier wellig, als ob Tränen darauf getropft wären. Harry rückte die Brille zurecht und begann zu lesen.
6. Mai 1996, nachts
Wieder Alpträume von Godric’s Hollow. Kein Auge zugemacht. Dieser Dreck von Feuerwiskey tut auch nicht mehr seinen Zweck. Nur Brennen im Hals, kein Knut für ein Besäufnis. Ach, zum Teufel damit. Und dieser verfluchte Kessel Trunk des Friedens braucht noch zwei Nächte.
Er hat mir geworfen, dass ich nur Hass und Vergeltung kenne. Dass ich nicht wüsste, was Liebe ist, wegen damals. Dein wunderbarer Sohn, dieses neugierige Balg, der seine Nase nicht aus dem Denkarium halten kann. Aber hat er nicht Recht? Verdamm mich, dass ich dich verraten habe, Lily!
Warum tut es so weh? Warum musstest du sterben wegen dieser verfluchten Prophezeiung? Ich hätte es sein sollen. Jedes Mal, wenn ich in seine Augen sehe, denke ich daran. Diese verfluchten, grünen Augen. Gottverdammte Schuld. Kein Tag, an dem ich nicht dein Lachen höre, dein rotes Haar vor mir sehe. Ich weiß, du hast mich nicht geliebt. Aber hätten wir nicht Freunde bleiben könnten, wenn ich dich nicht Schlammblut genannt hätte? Du könntest leben, wenn ich mich dem Dunklen Lord nie angeschlossen hätte. Grundgütiger!
Ich wünschte, dieses verfluchte Mal würde endlich aufhören zu brennen. Nein! Quäle mich weiter. Die Nacht ist noch nicht vorbei. Jage mich, foltere mich, lass den Dunklen Lord Cruciatus-Flüche auf mich jagen, wie ich es verdiene.
Wenn Dumbledore nicht wollte, dass ich den Jungen für dich beschütze! Wenn er mir nicht auferlegt zu spionieren, um den Dunklen Lord zu stürzen. Ich wüsste nicht… der Bengel gleicht seinem Vater so sehr. Ständig auf der Suche nach Gefahr, rotzfrech. Und doch kann ich nicht leugnen, dass etwas in mir sticht, wenn er mich so ansieht. Dass ich ihn nicht hassen kann, wie ich will. Die Augen! Und dann hat er auch noch Drawfeather beschützt. Einen Schüler aus meinem Haus! Gott, ich ertrag das nicht! Und Dumbledore ahnt etwas. Er ahnt etwas. Legte seinen Finger direkt drauf. Dass ich Potter im falschen Licht sehe, dass ich mich für den Jungen öffnen soll. Ich wünscht‘ er hätte nicht Recht! Wie soll ich das, wenn ich dich verraten habe? Zum Teufel mit mir.
Mit diesen Worten endete der Eintrag. Harry blätterte hastig vor und zurück. Doch die anderen Seiten waren leer. ‚Unsichtbarkeitszauber‘ erklang leise Hermines Stimme. Doch er hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Langsam und schwer, als ob alle Kraft aus seinen Händen gewichen wäre, ließ Harry das Buch zurück in die Kiste sinken. Er wusste nicht, was er empfinden oder denken sollte. Alles, was er jemals Severus Snape gegenüber gefühlt hatte, war wie weggewischt. Ein einziges Vakuum in seinem Innern. Und nur ein Gefühl blieb in Harry zurück: Entsetzen. Entsetzen, als hätte er in einen Höllenschlund geschaut. Das also war Snapes Qual, die aus seinen Augen sprach? Aber - wie konnte ein Mensch sich selbst nur so sehr hassen? Harry erschien es unbegreiflich. Nichts: Keine Wut, keine Verachtung, die er dem Tränkemeister je entgegengebracht hatte, war so tief wie der Abgrund dieser Zeilen. Er hätte ihm keinen Cruciatus an den Hals gewünscht, nicht ernsthaft jedenfalls.
Langsam spürte Harry, wie auch seine Augen sich mit Tränen füllten. Und durch den Damm seines Entsetzens brach ein weiteres Gefühl: Mitleid. Mitleid wie ein reißender Strom. Jeder Hass, den er Snape gegenüber je empfunden hatte, ertrank endgültig unter dieser Woge. Er hatte nur noch das Bedürfnis, aufzuspringen. Aufzuspringen, zu ihm zu laufen und ihm zu sagen, dass er aufhören solle mit diesem Mist. Verdammt, alles hatte doch mit Liebe begonnen. Severus Snape hatte Lily Evans geliebt. Nein. Nein, liebte sie nach diesen Zeilen noch immer. So sehr, dass er sein Leben riskierte, um Harry zu beschützen. Sollte nun alles in Hass untergehen? Das durfte Harry nicht zulassen. Snape beschützte ihn – ihn! Sie mussten reden, endlich miteinander reden. Vielleicht könnten sie die Vergangenheit hinter sich lassen. Vielleicht könnten sie noch einmal ganz von vorne beginnen und sogar so etwas Freunde oder Verbündete werden in ihrer gemeinsamen Trauer um Lily. Es war höchste Zeit, sich auszusöhnen!
Noch durcheinander von dem Tagebucheintrag und doch fest entschlossen, mit Snape zu reden, sobald dieser zurückkäme, sprang Harry auf.
„Bring die Sachen zurück und stell die Zauber wieder her, wenn du kannst“, rief er Dobby zeitgleich zu und spürte, dass er ein wenig zittrig auf den Beinen war. Seine Stirn brannte über dem linken Auge. Ein Stechen durchfuhr sie. Reflexartig griff sich Harry direkt an die pochende Stelle, an den Blitz auf seiner Stirn.
„Harry? Harry, hast du etwa Narbenschmerzen?!?“, rauschte Hermines Stimme gerade noch an ihm vorüber. Doch da sackte Harry plötzlich zusammen. Und alles war schwarz.
„SssSseverusSs Sssnape“, zischelte eine Stimme in der Dunkelheit, „Musss zzu Sseveruss Sssnape.“ Harry wusste nicht, wo er war. Er glitt durch einen feuchten, warmen Grund, wand sich mit dem ganzen Körper über die Erde. Ein moosiger Geruch stieg ihm in die Nase und schemenhaft konnte er hohe Grashalme und schwere Steinplatten um sich sehen. Irgendwo weit vor ihm flackerte ein Licht. Unentwegt hielt Harry darauf zu, schlang sich auf eine der Steinplatten empor, ringelte sich um ein verfallenes Kreuz.
„Ssspitzzeln“, zischelte die Stimme, seine Stimme, „Ssspitzzeln“
Und endlich erkannte Harry etwas im Lichtschein. Die Silhouetten zweier Menschen drängten sich um eine Sturmlampe, die zwischen ihnen auf dem Boden stand. Sie hatten die Zauberstäbe gezogen, doch rührten sich nicht. Wie in einer Drohgebärde, mit der sie sich gegenseitig in Schach hielten. Stimmfetzen rauschten durch die Luft. Doch Harry konnte kein Wort verstehen. Er war noch zu weit weg. Noch. Ein diebisches Vergnügen durchrauschte ihn, fast wie die Gier nach frischem Blut, während er begann sie einzukreisen. Lauernd, lauernd auf ein Zeichen, dass er zuschlagen dürfe. Und dann offenbarte das Licht die Gesichter der beiden Gestalten und Harry wurde mit einem Schlag eiskalt. Er sah zwei Hakennasen. Eine davon umgab ein goldblonder Schnauzer und trübe, grüne Augen und die andere ein fahles Gesicht, schwarze Augen und dunkles, fettiges Haar.
„Harry“, rief jemand seinen Namen und eine Hand landete unsanft in seinem Gesicht. Er blinzelte und kam auf dem Boden in Snapes Büro zu sich, die Gesichter seiner Freunde über sich.
„Du hattest eine Vision, oder?“, fragte Hermine aufgebracht.
„Ja“, keuchte Harry und rappelte sich auf. Sein Puls raste.
„Snape! McPire! Draußen auf dem Friedhof hinter der Heulenden Hütte“, stammelte er und wunderte sich für einen Augenblick was McPire mit Snape zu besprechen hatte, schob den Gedanken aber sogleich beiseite, "Da war Voldemorts Schlange. Sie ist auf dem Weg. Ron, Hermine. Sie will zu ihm. Zu Snape!“
„Was?!?“, rief Hermine und Ron sprang mit geballten Fäusten auf.
„Wenn ich die in die Finger kriege. Ich hab noch `ne Rechnung mit der offen.“
„Was? Halt, Jungs, wartet!“, entgegnete Hermine, als auch Harry aufsprang, „Was wenn das eine Falle ist? Wir dürfen da nicht kopflos rangehen“.
Doch Harry dachte nicht im Traum daran, Zeit zu vergeuden. Nach allem, was in der letzten Stunde geschehen war, hatte er nur noch einen Wunsch, ein Ziel: Snape warnen, Snape beschützen, Snape retten vor der blutigen Gefahr, die gerade in diesem Moment im Gras auf ihn zuschlängelte.
„Komm!“, rief er Ron zu.
Und ohne auf Hermine zu achten, die hinter ihnen her hechelte, stürmten sie die Kerkertreppe hinauf und raus in den Hof, auf zur Peitschenden Weide. Erst als ihre Zweige stillstanden, wagte Harry sich umzudrehen und Hogwarts einen letzten Blick zuzuwerfen. Da war ihm auf einmal, als hätte er gerade einen Schatten an den nahen Büschen vorüberhuschen sehen. Doch schon packte ihn Rons Hand und zerrte ihn in den Geheimgang zur Heulenden Hütte davon. Und Harry verschwendete keinen Gedanken mehr daran.
Die Bäume wuchsen dichter und dichter, verwoben ihre Äste zu einem Baldachin aus Holz und Laub, durch das kein Sternenlicht mehr drang. Die Nacht um Harry war mondlos und schwarz, als er den überwucherten Pfad einschlug, weiter und weiter in die Walddunkelheit hinein. Und nur Rons und Hermines Zauberstablichter gaben ihm Geleit. Sie hatten die Heulende Hütte hinter sich gelassen. Doch nicht wofür sie berühmt war. Das Heulen und Schreien, Krächzen und Rufen zahlloser Nachttiere war hier in der freien Natur allgegenwärtig. Und immer wieder ließ ein Rascheln in den Büschen Ron oder Hermine oder Harry selbst zusammenfahren. Doch sie sprachen kein Wort miteinander. Ruhelos hetzten sie den Waldweg entlang, immer dem alten Friedhof entgegen, den doch keiner von ihnen je gesehen hatte. Harrys Schuhe platschten in eine Schlammpfütze, als der Wald sich langsam lichtete. Und dann ragte sie vor ihm auf: eine verfallene Mauer, mit Flechten überwachsen und Moos zwischen den Ritzen.
„Was war das?“, rief Hermine und trat einen Schritt zur Seite. Etwas raschelte im Gebüsch und Holz knackte unter ihren Füßen.
„Nichts, nur ein Marder – glaub ich“, entgegnete Ron und wandte sich Harry zu, „Schätze, wir sind da, oder?“
Harry nickte und ließ seinen Blick über die umgestürzten, verwitterten Kreuze und gesprungenen Grabplatten gleiten soweit das Licht seines Zauberstabs reichte. Der Friedhof lag in einer Art Senke, so dass sie von oben auf ihn herabblickten. Weiche, feuchte Erde breitete sich unteren ihren Füßen aus. Das ganze Areal erinnerte an einen Sumpf. Vielleicht war das ja der Grund, warum er aufgegeben worden war? Ganz am anderen Ende, in der Nähe des Friedhoftors, schimmerte das Licht einer Sturmlampe zwischen den Zweigen einiger Büsche hindurch. Und dort waren auch Snape, McPire und Voldemorts Schlange.
„Los, weiter“, flüsterte Harry und drängte sich abseits des Weges durchs Gebüsch zu einem Ahornbaum an der Friedhofsmauer hinab. Schwüle Luft waberte ihm wie aus einem Zaubertrankkessel entgegen, als er ihm näher und näher kam.
„Harry, dir ist bewusst, dass dieser Ort gefährlich ist“, keuchte Hermine während sie sich hinter ihm gebückt durchs Unterholz schlug, „Du hast nicht vergessen, was mit den beiden Ravenclaws war? Und Dumbledore wollte nicht, dass-“
„-Dumbledore!“, schnaubte Harry, „Hat Dumbledore verhindert, was mit Rons Vater geschehen ist? Diese Schlange ist auch verdammt gefährlich! Willst etwa du, dass Snape dasselbe passiert?“
„Natürlich nicht“, entgegnete Hermine und richtete sich auf. Sie hatten endlich den Ahorn erreicht. „Ich meine nur, dass Snape sicher weiß, was er hier tut. Er kennt den Ort. Vielleicht sollten wir es einfach dabei belassen.“
Für einen Moment hielt Harry inne, während ihre Blicke sich im bläulichen Licht der Zauberstäbe trafen.
„Snape beschützt mich“, erklärte er so nüchtern, wie es seine Wut zuließ, „Verstehst du? Er riskiert sein Leben für mich. Ich kann da nicht einfach wergsehen, Hermine!“
Und ohne einen weiteren Blick auf sie wandte er sich um, um Ron zu folgen, der sich bereits über die Äste des Baums aufs Gelände schwang. Hinter Harry ertönte ein leises Seufzen und kurz nachdem seine Füße den Boden berührten, landete auch Hermine neben ihm.
„Nun gut“, flüsterte sie, „Toll find ich das nicht, aber wir sind ja eh schon hier“
Und so begannen sie, sich gemeinsam über den Friedhof zu pirschen.
Die alten Gräber waren überwuchert von Sträuchern und Gestrüpp. Schlingpflanzen am Boden erwiesen sich als gefährliche Stolperfallen und Ron musste einigen Tentakeln einen kräftigen Tritt verpassen als sie sich gierig um seine Füße ringelten. Doch die umgestürzten Grabsteine, eingesunkenen Kreuze und manche verwilderte Hecke boten ideale Verstecke. Zum Glück, denn auf dem unebenen Gelände war es fast unmöglich, sich zu dritt unter dem Tarnumhang an die beiden Männer heranzuschleichen. Harry versuchte sich zu konzentrieren, seinen Geist zu öffnen, wieder in den Kopf der Schlange einzutauchen. Doch nichts geschah als dass seine Narbe schmerzte. Ihm blieb nur übrig, den Boden im Auge zu behalten, um sie zu finden.
Die Stimmen von Snape und McPire wurden immer deutlicher, rauschten an ihm vorüber. Er konnte einige Fetzten ihres Gesprächs aufschnappen. Beunruhigende Fetzen. Einmal meinte er, seinen Namen gehört zu haben. Doch er zwang sich, nicht zu lauschen und nicht aufzusehen. Mit aller Macht schob er jeden Gedanken darüber beiseite, was es mit diesem merkwürdigen Treffen auf sich haben könnte. Er musste die Schlange finden! Darum war er hier. Und Ron schien auch ganz versessen darauf, ihr endlich Garaus zu machen. Hermine aber, die schon die ganze Zeit über immer wieder mal hinter ihnen zurückgeblieben war, hielt auf einmal inne und lugte an den Ästen eines großen Buschs vorbei zu den Männern hinüber.
„Was ist los?“, rief Ron ihr zu, der als Erstes bemerkte, dass sie nicht nachkam.
Doch sie schüttelte nur den Kopf, zischte leise ‚Schscht‘ und winkte ihn und Harry zu sich heran, „Ich denke, das solltet ihr euch anhören“.
Harry schlich zu ihr hinüber. Und als er ihrem Blick folgte, als er Snapes und McPires Gestalten im flackernden Licht der Sturmlampe endlich ins Auge fasste, war der Kampf gegen seine Neugierde verloren. Die Männer standen auf einer Fläche zwischen einigen eingesunkenen Steinplatten. McPire trat hektisch im Kreis wie ein Hund im Zwinger. Snape hingegen beäugte ihn völlig ruhig. Doch hatte er die Hand gefährlich fest um seinen Zauberstab geschlossen. In den Gesichtern beider flackerte noch immer die gleiche bedrohliche Anspannung, die Harry an zwei Raubtiere erinnerte, die nur darauf lauerten, dass ihre Beute einen Fehler machte.
„Dem wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher, Snape“, sagte McPire in diesem Moment. Und Harry traute seinen Ohren nicht, als er fortfuhr: „Der Dunkle Lord hat mir nämlich anbefohlen, in Hogwarts nach dem Rechten zu sehen. Zu kontrollieren, ob Sie Ihrer Aufgabe gewachsen und der richtige Mann für ‚den Job‘ sind. Ich habe einen Bericht über Sie verfasst, der ihn sicher interessieren dürfte.“
Harry fühlte sich wie in einem Traum, so sonderbar war ihm auf einmal zumute. Und doch wusste er, dass er wach war. Er warf Hermine einen Blick zu. Sie sagte kein Wort. Doch ihr blasses Gesicht und ihr Blick waren ihm Erwiderung genug. Bei Merlin – und er hatte gedacht, es ginge bloß ums Ministerium, als Snape von einer weitaus größeren Gefahr sprach. Harry spürte, wie die Härchen auf seinen Armen sich aufrichteten und ein Gefühl von Kälte ihn durchrauschte. Langsam drehte er sich wieder dem Geschehen zu, in ängstlicher Anspannung, wie Snape reagieren mochte.
Der Tränkemeister blieb ruhig.
„Ich glaube kaum, dass Sie dem Dunklen Lord etwas über mich berichten können, was dieser nicht längst schon weiß“, entgegnete er kühl und im Brustton der Überzeugung, „Ich enthalte meinem Herrn nichts vor.“
Für eine Sekunde schien es so, als ob sich ihre Blicke treffen würden. Doch McPires Augen streiften Snapes Gesicht nur. Dann blinzelte er kurz und blickte schnell zur Seite, um weiter im Kreis zu treten.
„Sie haben Dolores Umbridge mit falschen Veritaserum versorgt. Nicht unbedingt die Tat eines Mannes, der nichts zu verbergen hat. Was verheimlichen Sie, Severus?“
„Mich wundert, Larvatus, dass Sie sich diese Frage nicht selbst beantworten können. Ist unser Geheimnis nicht das Gleiche? Die wir beide dem Dunklen Lord [aus freien Stücken dienen.“
Snape sagte es leise, fast flüsternd und bedrohlich. Und diesmal gelang es ihm, McPires Augen zu fixieren, wie Harry es aus zahlreichen Okklumentikstunden kannte. Der Mann mit dem Dreispitz wich zurück, seine Gesichtszüge verzerrten sich und dann ging ein Zucken durch seinen Körper, wie bei einem Hund, der sich an einer Kette wand. Ein undeutlicher Aufschrei, fast wie ein gewimmertes ‚Nein, will nicht‘, entrang sich seiner Kehle, scheinbar an niemanden gerichtet. McPire schlug für einen Moment die Augen zu und Harry runzelte die Stirn.
„Was geht denn mit dem ab? Der benimmt sich ja fast wie Kreacher, wenn der was nicht will“, murmelte Ron und sprach damit aus, was Harry nur dachte.
„Die Ahnungslosigkeit und Ignoranz des Ministeriums sind unser größter Trumpf“, fuhr Snape derweil tonlos fort, „Es wäre leichtsinnig, dies dadurch auf Spiel zu setzen, dass Potter unter dem Einfluss von Veritaserum berichtet, dass er Nacht für Nacht aus dem Schloss fliehen will, um seine Freunde zu retten, die an diesem Ort gequält werden.“
Der Schauer breitete sich von Harrys Armen in seinen Nacken aus. Eiskalt lief es ihm den Rücken herab. Er konnte nichts tun als mit offenem Mund zu lauschen. Dabei kamen ihm unweigerlich Hermines Warnungen aus Kerker in den Sinn. Hermine, die ihm in diesem Augenblick einen bösen Seitenblick zuwarf. Und in Harrys Kopf, tief in den dunkelsten Winkeln seiner Gedanken, rührte sich ein furchtbarer Verdacht. Ein Verdacht, der mit zwei Schülern aus Ravenclaw zu tun hatte.
„Das Ministerium hält Potter doch für einen Geisteskranken“, sagte McPire gequält, als wolle er diese Worte nicht aussprechen, schien sich aber wieder zu fassen, „Wieso sollten seine Träume irgendein Gewicht haben? Nächtliche Wahnfantasien, nicht ernst zu nehmen. Ich warne Sie, Snape. Versuchen Sie nicht, mich hinters Licht zu führen. Sie wollen sich selbst schützen. Diese Zaubertränke, wegen derer Umbridge Sie verdächtigte, sie existieren tatsächlich, oder? Sie haben sie Potter gelehrt und dieser sie gebraut.“
„Vor Ihnen leugne ich dies keineswegs“, antwortete Snape seinem Gegenüber, der es noch immer vermied, ihm direkt in die Augen zu sehen.
„Aha! Also doch“, polterte McPire sogleich.
Und dann übertönte plötzlich ein Rascheln in der nahen Hecke das Gespräch.
„Schscht“, zischte Hermine und schnickte mit der Hand über den Boden, „Immer diese Tiere! Was hat er gesagt?“
„Keine Ahnung“, entgegnete Ron, „War zu laut. Irgendwas von Dumbledore.“
Snapes Lippen kräuselten sich zu einem leichten Lächeln.
„Sie beweisen einmal wieder eine grandiose Kurzsichtigkeit, Larvatus“, höhnte er, „Natürlich hält Potter besagte Tränke für nützlich. Ein Mittel, das ihm hilft, seinen Geist zu verschließen, in Wahrheit aber das Gegenteil bewirkt. Alles eine Frage des geschickten Verkaufens.“
„Wozu brauchen Sie Zaubertränke? Ich dachte, es wäre Ihr Auftrag, Potter durch Legilimentik mürbe zu machen?“
McPire war stehen geblieben und starrte Snape unsicher an, der nun seinerseits begann, ihn zu umkreisen.
„Potter ist zäh“, entgegnete Snape und erinnerte Harry dabei zunehmend an einen Angler, der einen zappelnden Fisch an Land zog, „Es ist nicht leicht, seinen Geist zu brechen. Der Dunkle Lord weiß darum. Und er ist keineswegs betrübt über den Einsatz dieser Tränke. Im Gegenteil. Seitdem Potter sie zu sich nimmt, ist es ihm immerhin gelungen, ihn zu den Ausgängen der Schule zu locken.“
„Und warum hat er ihn dann noch immer nicht in seiner Gewalt?“
„Hogwarts ist durch viele alte Zauber geschützt. Und Dumbledore keineswegs dumm. Auf Potter hatte er immer ein besonderes Auge und er hat das Seinige getan, um unserem Vorhaben möglichst viele Hürden aufzuerlegen. Manches Gift braucht seine Zeit, um zu wirken.“
Wieder lächelte Snape und McPire sah ihn eine ganze Weile schweigend an. Sah ihn schweigend an, während die Worte in Harry nachklangen. Die Bestätigung seines Verdachts.
„Der wollte euch. Der wollte euch, um mich zu ködern“, flüsterte er.
Doch weder Ron noch Hermine antworteten.
„Nun, dann sollten wohl auch andere Wege erschöpft werden, um an die Prophezeiung heranzukommen“, fuhr McPire schließlich fort, „Was Sie nicht getan haben. Und das macht Sie verdächtig, Snape“
„Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen“
„Ich spreche von Sibyll Trelawney.“
Zum ersten Mal zeigte Snape einen Anflug von Nervosität. In McPires Augen blitze ein siegestrunkener Glanz auf, ehe dieser mit einem heftigen Kopfzucken erlosch.
„Oh ja“, fuhr er fort und ging wieder hektisch auf und ab, „Ich habe sie ausführlich verhört. Natürlich so, dass sie keinen Verdacht schöpfte. Wie kommt es, dass Sie mit ihr nie über die Prophezeiung sprachen? Dass Sie bei Ihr keine Legilimentik anwandten noch Ihre Tränke an ihr ausprobierten?“
Harry beugte sich vor, um Snape besser zu beobachten. Doch in diesem Moment...
Da! Eine plötzliche Bewegung auf dem Erdboden. Schlängelnd. Ein glatter, langer Körper. Ganz in der Nähe der Hecke! Von einer Sekunde auf die andere war Snape vergessen, als es Harry wieder durch den Kopf schoss, weswegen er eigentlich hier war. Sein Puls begann zu rasen.
„Habt ihr das gesehen?“
„Was?“, fragte Ron.
„Da vorne, das. Das ist sie!“
Harry streckte die Hand aus. Doch in diesem Augenblick hatte die Schlange war die Schlange verschwunden und er deutete nur auf ein paar leere Furchen im Schlamm.
„Da ist nichts, Harry“, flüsterte Ron.
„Gerade war sie noch da!“, fluchte Harry so laut, dass nun auch Hermine aufmerksam wurde.
„Was ist los, Harry?“
Er antwortete ihr nicht. Eine zweite Stimme drängte sich auf einmal in seinen Kopf. Eine hohe, zischelnde.
„Harry Potter“, sprach sie, „Komm, Komm Zzuuu mir“
Und ein Brennen durchzuckte Harrys Blitznarbe, dass er vor Schmerz die Lider zukniff. Als er sie wieder aufschlug blickten ihn zwei glänzende Augen vom Erdboden aus an, ehe sie wieder im Dickicht verschwanden.
„Und da ist sie doch! Na warte!“, rief Harry und zog den Zauberstab.
„Nein, Harry, nicht!“, raunte Hermine ihm zu. Doch er schnickte es davon wie eine lästige Fliege. Er hatte nur noch Ohren für das Zischeln, das ihn lockte und rief.
„Komm Zzuuu mir, komm!“
„Ein netter Versuch, Larvatus“, rauschte ihm Snapes Stimme um die Ohren als er sich weiter durch das Gebüsch kämpfte, den Zauberstab fest in der Hand, „Ein weiterer Beweis ihrer eigenen Unkenntnis. Ich darf annehmen, dass Sie in der Kunst der Legilimentik selbst nicht bewandert sind?“
„Nein, leider kann ich mich dieser Fähigkeit nicht rühmen“, sagte McPire grimmig.
Harry erspähte noch mehr Spuren im Schlamm. Furchen über Furchen. Und immer wieder eine Schlängelbewegung. Eine glatte Schwanzspitze, die sich sofort seinem Blick entzog, sobald er genauer hinsehen wollte. Und die zischelnde Stimme säuselte nur: ‚Komm Zzuuu mir, komm doch! ‘, als wollte sie ihn foppen. Allmählich trieb die Wut Harry die Hitze ins Gesicht und in seiner Hand staute sich das Blut. So fest umklammerte er seinen Zauberstab, als er den Bewegungen nachging.
„Ich krieg dich noch!“, rief er in die Dunkelheit, „Wart’s nur ab, ich krieg dich noch!“
„Das dachte ich mir bereits“, antworte Snape irgendwo in der Ferne, „Gewöhnliche Legilimentik kann nur Geschehnisse wieder hervorholen, an die sich der Betroffene auch bewusst erinnern kann. Trelawney allerdings schwebte während ihrer Prophezeiungen in einer Art Trance. Sie war in einem anderen Bewusstseinszustand. Es bedürfte wohl außergewöhnlicher Legilimentik, um derartige Geschehnisse ins Gedächtnis zu rufen. Legilimentik, wie sie wohlmöglich nur der Dunkle Lord selbst beherrscht.“
Endlich! Endlich entdeckte Harry sie. Da lag sie: Friedlich eingeringelt unter einem nahen Busch und sah ihn nicht kommen. Den Blick nur auf ihren Hinterkopf fixiert, schlich Harry sich vorwärts. Ein Schein streifte seine Augen. Doch er blinzelte nicht einmal. Er war wie ein Raubvogel, der eine Beute erspäht hatte. Und gleich, gleich würde er sie in seinen Krallen halten!
„Erwacht meine Kinder“, zischelte die Schlange,„Euer MeisSster ruft euch, erwacht in zZzwei Minuten“
Da hob Harry den Zauberstab, schwenkte ihn durch die Luft und die Schlange rührte sich nicht mehr. Stocksteif blieb sie unter den Ästen liegen. Er schaute sie für eine Sekunde zufrieden an, musterte die leeren Augen, den geschockten Körper und dann überkam ihn plötzlich das ungute Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Er blickte an sich herab. Der Boden unter seinen Füßen war heller als das Umland. Und plötzlich fiel es Harry wie Schuppen von den Augen. Der Schein! Er war ja mitten in den Lichtkegel der Sturmlampe gelaufen, ganz ohne Tarnung!
„POTTER – NEIN!“, schrie Snape, als er ihn auch schon zwischen den Grabsteinen entdeckte.
McPire riss den Hals herum wie ein Hund an einer Kette. Auge in Auge sahen sie sich an. Ein gieriges Funkeln blitze Harry entgegen. Auch dieser Mann war wie ein Raubtier, das eine lang gejagte Beute endlich in die Enge getrieben hatte. Er saß wie eine Maus in der Falle. Die Falle, die geschickt für ihn ausgelegt worden war. Wie hatte er nur so dumm sein können, schimpfte Harry sich selbst. Da zog McPire zog den Zauberstab, richtete ihn auf seine Stirn. Harry umklammerte seinen, wich zurück und
„STUPOR!“
Ein roter Blitz rauschte nur Zentimeter an Harry vorbei und vor seinen Augen sackte McPire reglos zu Boden…
Rasend schnell fuhr Harry herum. Jemand stand hinter ihm. Jemand, den er kannte. Doch es waren weder Ron noch Hermine. Es war…
„Professor McGonagall?!?“
„Sehr richtig, Mr Potter“, entgegnete seine Hauslehrerin und warf ihrem Schüler einen strengen Blick zu, „Dürfte ich wohl erfahren, wie Sie und Ihre Freunde dazu kommen, sich zu nachtschlafender Zeit an diesen Ort herauszuschleichen?“
„Ich-“, stammelte Harry.
„-Nun, über die angemessene Sanktion Ihres Ausflugs befinden wir wohl später“, unterbrach sie ihn lakonisch und zog ohne ein weiteres Wort an ihm vorüber. Schweigend traten Ron und Hermine hinter den Büschen hervor und legten Harry die Hände auf die Schultern.
„Severus, ist alles in Ordnung?“, fragte McGonagall leise, als sie Snape erreichte.
„Wie man’s nimmt“, erwiderte dieser und ließ seinen scharfen Blick über Harry, Ron und Hermine schweifen, „Sie sind spät, Minerva. Vance ist schon vor einer halben Stunde disappariert.“
„Ich wurde, wie Sie sehen, leider von drei neugierigen Schülern aufgehalten, die ich im Auge behalten musste. Wir sollten im Hauptquartier Bescheid geben, damit Moody und Tonks ihre Kollegen verständigen können.“
„Tun Sie das und richten Sie ihnen aus, unser Mann stehe unter dem Imperius. Sein Gedächtnis muss verändert werden. Der Dunkle Lord hat ihn das Pars-“
Das Gespräch, das Harry verwundert belauscht hatte, verstummte abrupt, als plötzlich ein Knacken über den Friedhof schallte.
„Was ist das?“, flüsterte Hermine besorgt. Doch Harry kam nicht zum Antworten.
„Oh nein, nicht das noch“, zischte Snape und kniff die Augen zusammen. Dann schlug er sie wieder auf und wirbelte zu ihnen herum.
„Los, zum Ausgang, schnell! Um den Friedhof liegt ein Bannkreis.“
Seine Stimme hatte etwas derart Bedrohliches, dass Harry sofort losrannte. Noch in der Bewegung sah er, wie McGonagall den Zauberstab auf McPire richtete und den leblosen Körper wohl mit einem stummen Mobilcorpus über die Mauer hievte. Snape zog eine Phiole aus seinem Umhang hervor. Harry riss den Kopf herum, wollte das Friedhofstor suchen – und stieß mit voller Wucht gegen etwas Großes. Ron vor ihm war stehen geblieben. Benommen schüttelte Harry sich, blickte seinem Freund ins angstbleiche Gesicht.
„Ha-Harry“, stotterte Ron und deutete in die Ferne. Harry folgte seinem Fingerzeig. Dann sah er es. Etwas, das ihm die Nackenhaare aufstellte. Das ihm vor Grauen das Zittern in die Glieder trieb. Rings auf den Gräbern vor ihnen schoben sich die Steinplatten beiseite. Knochige Hände tasteten sich übers Gras. Und blasse, halbverweste Gestalten mit wächserner Haut erhoben sich aus der Erde. Inferi! Ein ganzes Geschwader an Inferi! Sie taperten auf sie zu, drauf und dran sie einzukreisen. Harry stockte der Atem. Schweiß perlte ihm über das Gesicht.
Auch Hermine, die vorausgelaufen war, blieb ruckartig stehen. Vor Schreck ließ sie ihre Tasche los. Sie rutschte von ihrer Schulter, fiel zu Boden. Ein Arsenal an blass leuchtenden Zaubertrankflaschen kullerte ins Gras.
„Moment… Moment“ stammelte Hermine, griff panisch in ihren Umhang, zog ein paar Zettel heraus, „Ich hab’s gleich. Alte Runen, nein… Zaubertränke, auch nicht. Ah hier, Treehouse. Ah doch nicht! Verdammt!“
Und wie sie hektisch in ihren Notizen herumfuhr, kamen die Inferi näher und näher. Dann plötzlich packte einer davon ihren Arm und ein markerschütternder Schrei hallte über den Friedhof.
Ron schien plötzlich wie aus seiner Schockstarre gerissen. Wut flackerte in seinem Gesicht auf.
„Weg von ihr! WEG VON IHR!“, brüllte er. Er preschte nach vorne, riss mit voller Kraft den Zauberstab empor und
„IMPEDIMENTA!“
Augenblicklich ließ der gelähmte Inferius Hermine los. Sie wandte sich um, sah Ron mit erschrockenen Augen an und ohne ein Wort stürzten er und sie und Harry sich gleichzeitig auf die Flaschen am Boden. Noch während sie den Inferi Immunum entkorkten, rückten die wandelnden Leichen auf. Harry stürzte den Zaubertrank hinunter, als hinter der Mauer ihrer Angreifer eine Lichtgestalt auftauchte. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es Snape war. Es war ein sonderbarer Anblick, den Tränkemeister in seiner schwarzen Robe leuchten zu sehen. Ein wandelndes Paradoxon, fast wie eine Fee, die versucht hatte, sich als Vampir zu verkleiden. Und doch leuchtete er. Neben ihm erschien ein zweites Licht: Minerva McGonagall, deren Erscheinung Harry nicht weniger absurd verkam. Und dann funkelte Ron, der ihn für einen Moment an Cedric vor einem Jahr erinnerte, als er sich wohl vor Übelkeit an einem Grabstein lehnte. Und Hermine, die mit ihrem Gesichtsausdruck einem zum Weihnachtsengel verwandeltem Gnom glich. Und endlich leuchtete auch Harry vom Kopf bis zu den Füßen und versuchte den Geschmack von Verwesung auf seiner Zunge besser herunterzuwürgen als seine Freunde.
Die Inferi hielten inne. Wie paralysiert standen sie vor ihnen, sahen Harry aus leeren Augenhöhlen an. Sie hatten aufgehört, sie angreifen zu wollen. Doch bildeten sie noch immer eine Mauer, durch die kein Hindurchkommen war. Perplex musterte Harry in die eingefallenen, bleichen Gesichter, bis eine Stimme in seinen Ohren dröhnte.
„Die Zauberstäbe hoch! Hoch damit, verflucht!“, donnerte Snape. Wie im Reflex griff Harry in seinen Umhang. Hinter den Inferi murmelte der Tränkemeister leise Beschwörungen und erhob dann wieder seine Stimme.
„Halten Sie den Zauberstab drei Sekunden kerzengerade zum Himmel, drehen Sie ihn zwei Mal im Kreis, gegen den Uhrzeigersinn. Dann ziehen Sie ihn blitzschnell nach vorne. ‚Lumos solaris‘ Es kommt auf die exakte Betonung an.“
„Lumos solaris“, wiederholte Harry und versuchte sich Snapes Anweisungen einzuprägen. Doch hatte er das Gefühl, dass dies weder der beste Ort noch der beste Zeitpunkt für eine Lehrstunde in Verteidigung gegen die Dunklen Künste war.
„Auf drei. Eins. Zwei. Drei.“
„LUMOS SOLARIS“, erschallten fünf Stimmen im Chor. Und um Harry wurde es hell. Gleißend hell. Als stände er mittags an einem Sommertag am Ufer des Sees. Geblendet sah er von den Inferi nur noch Schemen vor sich. Doch sie schienen zurückzuweichen, die Reihen sich nach links und rechts zu teilen. Snape zog an den Inferi vorbei in den Kreis hinein, passierte Harry und ging weiter in Richtung Tor, den Zauberstab im rechten Winkel vor sich her gestreckt. Harry, Ron und Hermine folgten ihm. Professor McGonagall bildete die Nachhut. Als das Licht erlosch, hatten sie das Friedhofstor passiert.
Hinter der Mauer blieben die Inferi noch eine Sekunde stehen und wandten sich dann um. Erleichtert atmete Harry aus. Doch es dauerte nur einen Moment bis zum nächsten Schreck. Hermine krümmte sich, Tränen in den Augen und die Hand fest auf ihren Arm gepresst. Unter ihren Fingern breitete sich ein roter Fleck auf ihrem Umhang aus und mit schmerzverzerrter Miene sank sie an der Mauer nieder.
„Was ist passiert?“, fragte Harry besorgt und kniete sich zu ihr. Auch Ron war sofort an ihrer Seite.
„Der Inferi. Ich glaub, er hat sie gebissen“, entgegnete er ihrer statt und griff fürsorglich ihre Hand.
Harry starrte ihn entsetzt an.
„Heißt dass, dass sie?-“
„-Die Nacht im Krankenflügen verbringen wird, oh ja“, mischte sich Snape mit barschem Tonfall ein, „Genau wie Ihre nichtsnutzigen Schulkameraden aus Ravenclaw, die ihre Nase nur in Bücher stecken und nichts draus lernen. Sie können von Glück reden, dass Inferi keine Werwölfe sind, die bleibende Schäden erwarten ließen.“
Er wandte sich ab und lief zu McGonagall hinüber, die einige Meter neben ihnen stand und zusah, wie die Inferi zu ihren Gräbern zurück schlurften.
Harry schaute ihm nach, wollte noch etwas sagen. Doch dann schwieg er, als Hermine sich regte.
„Geht schon“, presste sie hervor und hob den Zauberstab, „Hätte schlimmer kommen können, oder? Accio Tasche“.
Ron schaute mitleidig auf sie hinab.
„Mensch Hermine“, erwiderte er zittrig und presste ihre Hand, „Versprich mir, dass du deine Nase nicht immer in Mitschriften steckst. Nicht immer, hörst du!“
Sie sah ihm tief in die Augen, lächelte gequält und nickte.
Harry stand auf und entfernte sich ein Stück von ihnen. Gerade noch rechtzeitig, um die letzten Gesprächsfetzen zwischen Snape und McGonagall mitzubekommen.
„Wenn Sie sich um McPire und den Orden kümmern würden?“, sagte Snape, „Dann bringe ich Potter, Granger und Weasley ins Schloss und sorge auch für die angemessene Bestrafung ihres kleinen Ausflugs. Wir sollten uns beeilen. Es wäre schlecht für meine Tarnung, wenn ich noch hier wäre, wenn er erwacht und den Dunklen Lord warnen kann. Potter hat vorhin seine Schlange geschockt, wenn ich mich nicht irre.“
„In Ordnung, Severus“, antwortete sie knapp und wartete, bis Snape schon im Begriff stand, sich von ihr abzuwenden, „Wie gedenken Sie eigentlich, ihm den heutigen Abend zu erklären?“
Snape knirschte mit den Zähnen.
„Eine Überraschungsattacke des Phönixordens, schätze ich. Man ist an diesem Ort so nah an Hogwarts einfach nirgendwo sicher. Überall Spitzel.“
Dann entdeckte er Harry.
„Potter“, sprach er kühl und mit erhobener Stimme, „Holen Sie Miss Granger und Mr Weasley, wir gehen. Guten Abend, Professor McGonagall.“
Stumm nickend wandte Harry sich um und gab Ron Bescheid. Die verletzte Hermine gut im Auge behaltend brachen sie auf. Zurück zum Schloss, zurück nach Hogwarts, versteckt unter dem Tarnumhang. Den ganzen langen Weg verlor Snape kein Wort über die Sache, fragte nur, ob sie noch hinter ihm waren. Mit jedem Schritt spürte Harry, wie ihm ein Kloß im Hals anschwoll. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass Snape ihn für den Zwischenfall auf dem Friedhof alleinverantwortlich machte und das nicht auf sich beruhen lassen würde. Dass Harry noch seinen Preis würde zahlen müssen für seine Dummheit, der Schlange gefolgt zu sein. Und so wuchs aus der Nacht die Silhouette Hogwarts in der Ferne wie ein drohendes Ungetüm. Und obwohl Harry seinen Schlund fürchtete, trugen seine Füße ihn dem Schloss unaufhaltsam näher. Schritt für Schritt, während das Licht in ihm und seinen Freunden erlosch.
„Bringen Sie Miss Granger auf die Krankenstation, Weasley und gehen Sie dann zurück in den Turm“, schnarrte Snape Ron an, als das Eichenportal hinter ihnen leise ins Schloss fiel und sie die Nachtdunkelheit der Schule umfing. Er schaute ihnen nach, wartete ab bis ihre Silhouetten mit den Schatten verschmolzen, während eine unheilvolle Stille sich über die Korridore legte. Dann drehte er sich mit einem Ruck zu Harry um, funkelte ihn böse an und packte mit festem Druck seinen Arm.
„Und du, Potter, kommst mit mir!“
Ehe Harry sich versah zerrte ihn Snape in Richtung Kerkertreppe davon. Er hätte sich wehren können. Er hätte versuchen können, sich dem Griff zu entwinden. Doch obwohl Harry sich nur widerwillig davon schleifen ließ, tat er es nicht. Denn eigentlich wollte er ja zu Snape. Auch wenn die Geschehnisse auf dem Friedhof sich jetzt wie ein düsterer Mantel über sie warfen.
Die Fackeln an den Wänden flackerten bedrohlich. Schatten huschten über die Stufen, als wollten sie fliehen. Tiefer und tiefer in den Abgrund des Kerkers wand sich die Treppe. Harry fühlte sich an den Tag seines Verfahrens vor dem Zaubergammot erinnert, während er Snape hinterherstolperte. Welches Urteil würde ihm am Ende dieser Anhörung erwarten? Der Freispruch? Oder die lebenslange Haft in Askaban? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. So sehr, dass Harry mit jeder Treppenstufe mehr vergaß, weswegen er eigentlich zu Snape wollte.
Schon hatten sie die Türe auf halber Höhe erreicht. Der Tränkemeister sprach einen Alohomora und zog Harry in den Raum. Alles verschluckende Dunkelheit strömte ihm entgegen, während Snapes ölige Stimme Gryffindor die letzten verblieben Hauspunkte abzog. Dann leuchtete grünliches Licht auf und eine Hand warf Harry grob auf den Hocker vor dem Pult. Das Verhör hatte begonnen.
Geisterhaft schwebte Snapes blasses Gesicht vor Harry. Die schwarzen Augen mit scharfem Blick auf ihn gerichtet, die Miene grimmig verzogen, kam er näher und näher, bis sie sich Auge und in Auge gegenüberstanden.
„So, Potter. Da wären wir also“, flüsterte Snape bedrohlich, „Der ewige Regelbrecher und derjenige, der das Glück hat, ihn dafür bestrafen zu dürfen“
Harry versuchte seinem Blick mit aller Macht standzuhalten, während Snape weitersprach.
„Ich will gnädig sein und erspare Ihnen eine Aufzählung all der Gebote, die Sie heute Nacht gebrochen haben. Ihre Hauslehrerin wird dies schätze ich mit Vergnügen nachholen. Mich interessiert nur Eines“
Snapes Augen blitzen gefährlich auf und er kam Harry so nahe, dass er dessen Atem spüren konnte.
„Was um alles in der Welt hat Sie zu dieser Dummheit getrieben?“
Harry hielt seinen Blick, versuchte sich zu sammeln, ehe er mit klarer Stimme sagte: „Die Schlange“
„Die Schlange?!?“, wiederholte Snape scharf.
„Sie war dort. Unter dem Busch. Voldemorts Schlange!“
„Oh, natürlich war sie dort. Denken Sie allen Ernstes der Dunkle Lord würde seine Lakaien jemals unbewacht lassen?“
Harry starrte Snape an und spürte, wie sein Gesicht kalt wurde. Bis jetzt war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass der Tränkemeister schon vor Harrys Eingreifen von der Gefahr geahnt haben könnte, die dort zwischen den Grabsteinen auf ihn zu glitt.
„Aber das ist zweitrangig“, entgegnete Snape blitzschnell, „Ich will wissen, warum Sie überhaupt dort waren, Potter. Also?“
Und da kam es Harry wieder zu Bewusstsein, weshalb er eigentlich zu Snape aufgebrochen war. Weshalb er sich nicht gewehrt hatte, als Snape ihn hier her geschleift hatte. Warum er dieses Gespräch gewollt hatte. Der Beginn einer Aussprache, die längst überfällig war.
„Um Sie zu beschützen“, antworte Harry deutlich und ohne zu zögern während er Snape direkt ins Gesicht sah.
„Um mich zu… was bitte?!?“, wiederholte dieser leise mit hochgezogenen Augenbrauen. Und zum allerersten Mal schien er die Fäden in diesem Verhör zu verlieren.
Harry nutzte seine Verunsicherung, um aufzustehen und zur Seite zu treten.
„Ja“, entgegnete er Snape entschlossen, „Um Sie zu beschützen wie Sie mich beschützen. Um zu verhindern, dass diese Schlange dasselbe mit Ihnen macht wie mit Arthur Weasley! Ich hab gesehen, wie auf sie zukroch, als Sie mit McPire-“
„-Sie haben Sie gesehen? Sie hatte eine Vision?!?“
Snape wurde laut.
„Ja“, entgegnete Harry.
„Trotz des Okkluserums?!?“
Harry schwieg, als ihm plötzlich etwas einfiel: Die Flasche auf seinem Nachttisch, die er am Freitagabend umgestoßen hatte, nach dem Gespräch mit Sirius.
„Ich fürchte, ich hab vergessen, es einzunehmen“, gestand er kleinlaut.
„NEIN!“, rief Snape zornig und kniff für eine Sekunde die Augen zusammen. Dann, als er sie wieder aufschlug, packte er Harry an den Schultern und drückte ihn mit aller Kraft gegen das Pult in seinem Rücken. Speichel netzte Harrys Gesicht, als Snape ihn anzischte.
„Wie oft noch, Potter? Wie oft noch?!? Verflucht! Sie müssen Ihre Gedanken kontrollieren, Ihren Geist leeren, Sie dürfen nichts empfinden! NICHTS! Verschließen Sie all ihre Gefühle!“
„So wie Sie?“, fragte Harry und schaute ihm direkt ins Gesicht. Direkt in die dunklen Augen, vor deren durchdringendem Blick er sich nicht mehr fürchtete. Nicht mehr, seitdem er wusste, wie es um die Seele dahinter wirklich bestellt war.
„Wovon reden Sie da?“, fragte Snape scharf. Doch seine Stimme war eine Spur brüchiger geworden.
„Von meiner Mutter“, antwortete Harry bestimmt.
Drei Worte, die im Raum schwebten wie eine Zauberformel. Wie das Parsel, das die Kammer des Schreckens öffnete. In der Ferne meinte Harry einen Schlüssel zu hören, der sich langsam in einem Schloss umdrehte. Jahre sammelten sich in dieser Sekunde, in diesem Raum. Diesem kleinen Raum zwischen ihren Augen, während Snape Harry ansah, einfach nur ansah und seine Hand sich allmählich lockerte, zittrig wurde. Und Harry ließ die dunklen Augen nicht los, fixierte sie mit seinem Blick.
Dann erbleichte Snapes Gesicht um ein paar Nuancen, sein Mund klappte auf und seine Augen traten hervor. Die Hand, die Harry am Umhang gepackt hatte, ließ unwillkürlich los. Einen Schritt wich Snape zurück und Harry war wieder auf den Beinen.
„Ich weiß nicht wovon-“, murmelte Snape.
Doch Harry übertönte ihn: „-Sie brauchen mir nichts vorzumachen. Ich weiß über alles Bescheid“
„Worüber wissen Sie Bescheid?“, fragte Snape scharf. Seine Stimme hatte etwas von einem Ozean, dessen ruhiges Oberflächenwasser ein beginnendes Seebeben in der Tiefe verbarg. Verräterische Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, nahe bei der Schläfe, die hervorgetreten war.
„Über alles“, entgegnete Harry, „Meine Mutter war für Sie nicht irgendein Schlammblut. Sie haben Sie geliebt.“
Snape verlor weiter an Farbe, während er Harry mit vor Entsetzen weiten Augen anstarrte. Und seine Hand zuckte gefährlich an seinem Zauberstab.
„Potter“, keuchte er gebrochen und kam langsam wieder einen Schritt auf Harry zu. Doch Harry wich blitzschnell zur Seite und in die Schatten des Büroraums hinein.
„Sie und Lily Evans kannten sich schon als Kinder vor Hogwarts“, rief er Snape zu und sah aus dem Augenwinkel, wie dessen Blick ihm folgte. Schwerfällig und schwankend, wie ein lahmender Kreisel drehte Snape sich nach ihm um, suchte ihn im Dunklen. Doch Harry stahl sich immer wieder vor seinen Augen davon, während er unaufhörlich weitersprach.
„Für sie waren Sie ein Freund, aber Sie haben sie all die Jahre geliebt.“
„Woher wissen Sie-“
„-Sie wollten Sie nicht Schlammblut nennen. Es ist ihnen rausgerutscht. Aber meine Mutter hat ihnen das nicht verziehen. Sie hat Ihnen die Freundschaftschaft gekündigt.“
Nun hatte Harry die Tür im Rücken. Snapes Augen suchten ihn noch immer.
„Potter“, keuchte er und inzwischen hatte seine Stimme etwas von einem ängstlichen Flehen. Fast war es nur noch ein Hauchen.
„Dann haben Sie sich Voldemort angeschlossen“, sprach Harry auf ihn ein und drückte sich weiter die Regale entlang, „Sie haben sogar Trelawneys Vorstellungsgespräch sabotiert, damit Dumbledore nichts von der Prophezeiung erfährt, die sie Voldemort gemacht hat. Die Prophezeiung über mich.“
„Potter“, konnte er Snapes Stimme links von sich hören. Ein Flehen, ein Schmerzlaut. Doch Harry ließ nicht locker.
„Aber dann hat Voldemort ausgerechnet meine Mutter getötet. Und Sie haben bitter bereut, sich ihm angeschlossen zu haben und haben die Seiten gewechselt und sind zu Dumbledore gegangen!“
Inzwischen hatte Harry das Pult erreicht und tauchte unter den Schreibtisch, wo Snapes Blick ihn gerade so verfehlte.
„Darum vertraut er Ihnen. Darum hat er Sie vor Askaban bewahrt. Das ist das Geheimnis, das Sie miteinander teilen. Sie arbeiten für ihn, Sie beschützen mich – wegen Ihr. Weil Sie für mich gestorben ist“, schloss Harry.
Geplatzt. Die Bombe war geplatzt. Und doch war die Luft im Raum noch immer so dicht gedrängt wie in einem zu stark aufgeblasenen Ballon. Harry spürte, wie sich all seine Muskeln anspannten, als er sich unter dem Tisch zusammenkauerte, um Snapes Blick zu entgehen. Vor ihm im grünlichen Licht, aus dem Schatten beobachtet, welchen die Tischplatte auf Harry warf, stand der Tränkemeister wie Friedhofsengel auf einem Grab, starr und völlig steif. Mit vielem hätte Harry gerechnet. Damit, dass Snape aufbrausend werden würde, dass er wie wild durchs Büro wirbeln und auf ihn losgehen würde, sobald er ihn unter dem Schreibtisch fände. Dass er ihn anschreien und eiskalt rauswerfen würde. Doch nicht mit der Stille, der undurchdringlichen Stille, die das Büro auf einmal erfüllte. Vorsichtig lugte Harry unter der Schreibtischkante hervor und zum ersten Mal, seitdem er dieses Katz- und Mausspiel mit Snape begonnen hatte, sah er im Kerzenlicht dessen Gesicht. Eine reglose Miene, die einer Maske glich. Völlig ausdruckslos mit kalten, geweiteten, schwarzen Augen, die ihn anstierten. Und Snapes bereits blasse Haut war nicht mehr blass – sie war totenbleich geworden. Für einen Moment stand der Tränkemeister wie eine Statue im Raum, als sich ihre Blicke trafen, als Harry in zwei düstere Tunnel blickte, hinter deren Leere ihn nichts als pure Fassungslosigkeit anblitzte. Dann begann Snape rückwärts zu taumeln. Zu taumeln wie von einem Fluch getroffen. In seinen Blick trat Entsetzen. Er stieß gegen die Regalwand, strauchelte wie ein getroffener Kegel dagegen. Und dann geschah es: Sein Zauberstab fiel mit einem Klackern zu Boden und ein furchtbarer Laut schallte durch das Zimmer. Wie ein Stöhnen, wie ein Aufschrei unter einem Martyrium. Snape schlug sich die Hand vors Gesicht und sackte kraftlos in sich zusammen, keuchend und flach atmend. Durch die Ritzen seiner langen, gelben Finger, die sich in sein Gesicht gruben, tropften Tränen auf den Boden.
Harry kam auf die Füße, blieb einen Augenblick stehen und sah auf ihn herab. Sah Snape an, wie dieser vor dem Regal am Boden kauerte. Der Tränkemeister, den alle fürchteten: Eine verkrümmte, hagere Gestalt in der Dunkelheit. Schwach, verletzt wie der schmächtige, schwarzhaarige Junge, der er einst gewesen war. Der Strom seiner Tränen wollte nicht enden. Snape schien nicht nur für diesen einen Moment zu weinen. Sondern für Jahre. Jahre um Jahre des Schweigens. Der Lehrer, der Harry das Leben in Hogwarts zur Hölle gemacht hatte: Ein gebrochener Mann, ein Häufchen Elend.
Harry atmete ein und sah sich um nach einem Wasserglas, das er mit einem Aguamenti füllen konnte. So wie damals beim Nachsitzen und ihrem entsetzlichen Streit. Auf dem Schreibtisch wurde er schließlich fündig und schritt Snape langsam entgegen.
„Hier, nehmen Sie, Professor“, sagte er leise und reichte das Glas dem Tränkemeister hinab, „Ich bin Ihnen nicht böse“
Snape blickte auf. Der Kerzenschein flackerte in den geweiteten Pupillen. Ein ungläubiger Blick, als hätte er Harry diese Worte nie zugetraut. Für eine Weile sahen sie sich so an, wieder Auge in Auge. Dann plötzlich ging ein Ruck durch die schwarze Gestalt. Snape kam auf die Füße und schneller auf Harry zugeschossen, als er zurückweichen konnte. Klirrend fiel ihm das Wasserglas zu Boden und zersprang wie eine Seifenblase. Die Splitter stoben in alle Ecken. Der Tränkemeister packte ihn am Umhang und warf ihn mit bloßen Händen gegen das Regal.
„Wer, Potter… Wer weiß noch alles davon?!?“, zischte und schäumte Snape, so dass Speichel Harrys Gesicht benetzte. Doch so rasend er auch erschien: Das Zittern seines Körpers, die geweiteten Augen, das Vibrieren seiner Stimme verrieten Harry, dass es nicht Wut war, die ihn trieb, sondern Angst. Panische Angst!
„Niemand“, schnaubte Harry und wand sich unter seinem festen Griff, „nur ich“.
Snape hob die Brauen und sah ihm tief in die Augen. Noch tiefer - zu tief. Sein scharfer Blick brannte sich Harry förmlich ein. Wie ein gleißendes Licht, das ihn blendete. Harry blinzelte, doch ohne viel Erfolg und er bereute zutiefst, gerade kein Okkluserum zur Hand zu haben. Ein jäher Kopfschmerz durchzuckte seine Stirn. Und dann jagten Bilder durch seinen Kopf in einem so schnellen Wechsel, dass Harry schlecht davon wurde. Er saß wieder mit Ron und Hermine über das Jahrbuch gebeugt, ließ sich neben Luna unter dem Sternenhimmel ins Gras nieder, reichte Neville und Ginny vor dem Wasserspeier den Tarnumhang, tauchte ins Denkarium, brach in Umbridges Büro ein und lugte durch einen Türspalt auf seine tote Mutter am Boden. Bei dieser Erinnerung schien Snapes Aufmerksamkeit plötzlich auszusetzen und Harry gelang es unter Anstrengung ins Kerkerbüro zurückzukehren, den Tränkemeister aus seinem Geist zu drängen.
Endlich! Endlich ließ Snape ihn los. Im doppelten Sinne. Seine Hand löste sich von seinem Umhang und sein Blick zog sich von seinen Augen zurück. Schwer ausatmend, die Wangen noch immer feucht von seinen Tränen stütze er sich mit einer Hand gegen das Regal und schloss die Augen. Es dauerte einen Augenblick, bis er wieder sprach.
„Potter“, sagte er dann mit tiefer, dumpfer Stimme, „bringen Sie Miss Granger, Miss Lovegood, Miss und Mr Weasley und Mr Longbottom hier her.“
Harry erstarrte. Einen Moment lang musterte er sein Gegenüber, während ihm der Schweiß von der Stirn rann. Was hatte Snape nur mit seinen Freunden vor? Seine bedeutungsvollen Worte verhießen nichts Gutes. ‚Warum? ‘ lag es ihm schon der Zunge. Doch in diesem Moment schlug Snape die Augen wieder auf und sah ihn an. Und als Harry in diese kalten, stechenden Pupillen blickte, die ihn fixierten, als er in das blasse, ernste Gesicht schaute, dem der grünliche Schein ein unheimliches Aussehen verlieh, als sein Blick über die fettigen Haare und den Umhang schweifte, die in der Kerkerdunkelheit zu einer einzigen, schwarzen Masse verschmolzen und über das dunkle Mal, das in der blassen Haut sichtbar geworden war, weil Snapes Robenärmel zurückgerutscht war, da verstand er auf einmal. Mehr als ihm lieb war.
Er verstand wer Severus Snape war. Verstand, warum dieser all die Jahre geschwiegen hatte. Warum er nie auf Harry zugegangen war. Warum er sich so vehement dagegen wehrte, dass jemand sich um ihn sorgte und so sehr darauf pochte, dass Harry seinen Geist verschließen solle.
„Dummköpfe, die stolz das Herz auf der Zunge tragen, die ihre Gefühle nicht beherrschen können, die in traurigen Erinnerungen schwelgen und sich damit leicht provozieren lassen – Schwächlinge mit anderen Worten – sie haben keine Chance gegen seine Kräfte!“, klang es Harry in den Ohren.
Severus Snape war derjenige, der das Herz nicht auf der Zunge tragen durfte, der seine Gefühle beherrschen musste! Dumbledores Spion unter der Todessermaske! Er war es, der gegen seine Kräfte bestehen musste, tagein – tagaus. Und nun war es auch Harry wegen der sonderbaren Verbindung zwischen ihm und Voldemort. Ein Schaudern packte Harry, schnürte ihm die Kehle zu als er begriff, was dies bedeutete. Für Snape, für ihn, für ihr Verhältnis zueinander. Es war ihm, als ob ein Schneesturm durch sein Inneres fegte. Stumm schluckte er seine Worte hinunter und beobachtete, wie Snape den Blick von ihm abwandte und sich in den Schatten des Büros zurückzog. Und obwohl Harry noch immer mulmig war bei dem Gedanken, seine Freunde hier her zu bringen, hatte er auf einmal doch das Gefühl, dass es keine andere Wahl gab.
Schweigend und bedrückt schritt er zur Tür hinüber. Doch ehe er das Kerkerbüro verließ, hielt er auf der Schwelle ein letztes Mal inne und drehte sich zu Snape um. Im Halbdunkel des Büros trafen sich ihre Blicke. Und zum ersten Mal sprach aus diesen schwarzen Augen kein Hass oder ein Gefühl, das Harry nicht fassen konnte. Sondern ein gegenseitiges, echtes Verstehen. Eine stille Übereinkunft über Dinge, die so tief gingen und so groß waren, dass sie unter den verhängnisvollen Wolken eines nahenden Kriegs nicht ausgesprochen werden durften. Und doch nahm Harry allen Mut zusammen, während Snape ihn erwartungsvoll anblickte und öffnete die Lippen.
„Was immer Sie vorhaben, Professor. Sie sollten wissen, dass ich Sie nicht dafür hasse, was damals geschehen ist. Und Sie tun mir leid, weil Sie es selbst tun. Ich glaube nicht, dass meine Mutter das gewollt hätte.“
Ein Hauch von Verwunderung spiegelte in sich in Snapes Miene und dann tiefer Schmerz als wäre ihm gerade ein Dolch in die Brust gerammt worden. Harry amtete ein letztes Mal ein, wandte sich um und ging, wissend dass der Blick des Tränkemeisters ihm folgte.
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Kursivtext: J.K. Rowling, Harry Potter und der Orden des Phönix, S. 630
Die Turmuhr der Kirche in Hogsmeade schlug zur ersten Stunde, als Harry den Krankenflügel erreichte. Im grauen Nachtlicht saßen Ron und Hermine nebeneinander auf einem der Betten.
„Wie geht es dir?“, fragte Harry besorgt, als er zu ihnen kam.
„Geht schon“, antwortete Hermine, „Es tut weh. Aber Madame Pomfrey meinte, dass ich Glück gehabt hätte. Vielleicht ist die Wunde in ein paar Stunden schon wieder verheilt. Du warst bei Snape, oder?“
Harry zögerte nicht und erzählte ihr die ganze Geschichte.
Am Ende seufzte sie schwer: „Das war zu befürchten.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Ron.
Sie tauschten fragende Blicke. Dann, nach einem kurzen, hitzigen Streitgespräch, brachen sie zum Gryffindorturm auf, um Neville und Ginny zu wecken. Luna versuchten sie über die verzauberten Münzen zu erreichen. Tatsächlich stapfte sie ihnen zehn Minuten später auf dem Flur entgegen. Barfuß, in einem himmelblauen Nachthemd und mit einer seltsam anmutenden Schlafmütze auf dem Kopf. Immer zu dritt brachte Harry sie unter dem Tarnumhang zu Snapes Büro hinunter. Als letztes ging er mit Neville. Kaum dass sie ihre Freunde erreichten, öffnete sich auch schon Snapes Türe und der grüne Schein irrlichterte auf den Flur hinaus. An der schwarzen Robe vorbei konnte Harry einen Blick auf Snapes Pult erhaschen. Sechs Schnapsgläser standen dort, alle mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt. Harry musste schlucken und mit einem mulmigen Gefühl sah er zu, wie seine Freunde ins Zimmer traten: Zögerlich, die Blicke gesenkt. Er wollte ihnen folgen. Doch gerade als er seinen Fuß auf die Schwelle setzte, versperrte Snapes Arm ihm den Weg.
„Sie warten hier draußen, Potter“, raunte der Tränkemeister und schlug ihm die Türe vor der Nase zu. Einen Augenblick lang starrte Harry auf das blanke Holz. Dann sank er langsam auf die Stufen nieder und harrte aus. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen und die Türe wollte sich einfach nicht wieder öffnen.
Endlich riss Harry das Quietschen der Scharniere aus seinen Gedanken. Blitzschnell fuhr er vom Boden auf und – erschrak. Wie in einer stillen Prozession schlichen Ron und Neville, Hermine, Ginny und Luna aus dem Zaubertrankbüro. Schweigend, mit blassen Gesichtern und dumpfem Blick.
„Was ist passiert?“, rief Harry ihnen aufgebracht zu. Doch niemand antwortete. Ohne ihn zu beachten zogen sie wortlos an ihm vorüber gleich einem Zug aus gewaltlosen Inferi. In Harrys Magen schwoll der Groll. Er hatte geahnt, dass es keine gute Idee war, seine Freunde hier her zu bringen und er hatte sich nicht geirrt. Wütend wandte Harry sich um, polterte ins Zaubertrankbüro, ohne Rücksicht auf Verluste.
„Was haben Sie mit ihnen gemacht?!?“, blaffte er Snape an, der vor seinem Pult stand.
„Nichts, was ihnen Schaden zufügt hätte“, entgegnete dieser kühl und schwang seinen Zauberstab, „Colluportus“
Die Tür hinter ihnen fiel ins Schloss und Harry saß zum zweiten Mal in dieser Nacht in der Falle. Wie ein in die Enge getriebenes Tier starrte er in die Augen seines Jägers. Doch er hatte nicht vor, sich allzu leicht stellen zu lassen.
„Was ist das für ein Zeug, das Sie ihnen gegeben haben?“, schnaubte er aufsässig als ob die Macht noch immer auf seiner Seite war.
„Ein Schlaftrunk“, antwortete Snape nüchtern, „Sie kennen ihn bereits. Er hat Ihnen letztes Jahr nach dem Trimagischen Turnier eine angenehme Nacht verschafft und Ihren Freunden wird er so viele Stunden Schlaf gönnen, dass Sie morgen Ihre Zaubertrankprüfungen bestreiten können. Glauben Sie nach Ihrer wundervollen Detektivarbeit noch allen Ernstes, Potter, dass ich Ihnen etwas antun will?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte Harry, „Ich bin mir nicht sicher“.
Es war die Wahrheit. Sein Zorn war wie ein Gift, das sein Denken vernebelte. Doch als er Snape ansah, der ruhig vor seinem Pult stand, erlosch allmählich seine Wut. Wie kindisch er sich gerade benahm! Die Tür hinter ihm war eh geschlossen, mit oder ohne seine Skepsis.
„Setzen Sie sich!“, befahl der Tränkemeister knapp und deute auf den Hocker vor dem Pult.
Widerwillig ließ Harry sich nieder und hatte Sekunden später das sechste und letzte Schnapsglas vor der Nase.
„Ich werde keinen Schluck davon trinken“, protestierte er energisch.
„Schön. Ganz wie sie wünschen, Potter“, raunte Snape bedrohlich, „Wenn Sie es nicht freiwillig austrinken, werde ich es Ihnen einflößen müssen. Also?“
Harry roch an dem Gebräu. Der Duft kam ihm bekannt vor. Es war tatsächlich der gleiche Zaubertrank, den ihm Madame Pomfrey in Dumbledores Auftrag verabreicht hatte. Widerwillig öffnete er die Lippen und nippte an dem Gebräu.
„Gut, es geht doch“, entgegnete Snape, als er das Glas ausgetrunken hatte und absetzte.
„Das war’s also. Ich kann gehen“, erklärte Harry und beugte sich nach vorne um aufzustehen.
„Nicht so schnell“, hielt Snape ihn zurück, „Wir sind noch lange nicht fertig. Stehen Sie auf!“
„Was ist denn noch?“, fragte Harry, während er sich vom Stuhl erhob. Er versuchte, teilnahmslos zu klingen. Doch konnte er nicht leugnen, dass ihn ein leichter Schauer packte, als in er Snapes dunkle Augen sah. Snape, der gerade die Lippen schürzte.
„Eine kleine Modifikation an ihrem Geist, Potter, an ihrem Gedächtnis“
„An meinem…“, wiederholte Harry wie automatisch und starrte den Tränkemeister entsetzt an. Und dann auf einmal packte ihn eine Welle aus Energie, rauschte von seinem Kopf bis in die Beine.
„Nein!“, rief er entschieden und lief mit gezogenem Zauberstab an Snape vorbei in Richtung Türe, „Das lass ich nicht mit mir machen! Alo-“
„-Expelliarmus!“, schallte es durch den Raum und Harrys Zauberstab flog gegen eines der Regale, rollte in den Staub einer dunklen Ecke. Langsam drehte er sich um und blickte in Snapes fahles Gesicht, der gerade seinen eigenen Zauberstab wegsteckte.
„Seien Sie nicht albern, Potter“, sprach der Tränkemeister leise, „Der Dunkle Lord hat aller Versuche Ihnen Okklumentik beizubringen zum Trotz noch immer Zugang zu Ihrem Geist. Alles was Sie, leider Gottes, über mich herausgefunden haben, ist eine Gefahr für mich ebenso wie für Sie selbst. Was geschehen muss, geschieht zu Ihrem eigenen Schutz.“
Einen Augenblick lang schaute Harry den Tränkemeister noch an. Dann seufzte er. Snape hatte Recht. Hermine war verletzt worden, weil er so dumm gewesen war, einer Vision zu folgen, obwohl er um die Gefahr wusste. Was erst würde mit Snape geschehen, wenn Voldemort in seinem Geist sehen würde, was Harry alles über ihn herausgefunden hatte?
„Na gut“, sagte er seufzend und kehrte zum Stuhl zurück, Snapes Blick haltend, „Aber gerne tue ich das nicht. Nur damit Sie es wissen. Ich glaube, Dumbledore würde wollen, dass wir uns auszusprechen.“
Für eine ganze Weile sprach Snape kein Wort, schaute Harry nur mit halb geöffnetem Mund an und musterte ihn eindringlich.
„Vielleicht“, sagte er dann langsam, „Werden ich Ihnen eines Tages die Wahrheit zurückgeben, wenn die Umstände günstiger stehen.“
„Ist das Ihr Ernst?“, fragte Harry wenig überzeugt.
„Sie haben mein Wort.“
„Ihr Wort?“
„Ja, mein Wort. Trauen Sie meinem Wort etwa nicht?“, entgegnete Snape zornig und blickte Harry scharf in die Augen. Und Harry verstand. Das also war das Pfand, das er Dumbledore für dessen Einsatz vor dem Zauberergamot gegeben hatte. Und er hatte sein Versprechen aller Widrigkeiten zum Trotz gehalten.
„Doch“, entfuhr es Harry leise.
„Schön“, entgegnete Snape, während er seinen Blick hielt, „Dann schließen Sie die Augen, Potter. Konzentrieren Sie sich auf alles, was in den letzten zwei Monaten geschehen ist. Seit dem Tag, als Sie in Umbridges Büro einbrachen.“
Harry tat was der Tränkemeister von ihm verlangte und spürte im nächsten Augenblick die Spitze eines Zauberstabs an seiner Schläfe. Die Bilder vor seinen Augen verblassten, während etwas aus seiner Stirn zu entweichen schien.
„Was tun Sie da?“, rief Harry und riss die Augen auf. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Snape einen ganzen Strang an silbrigen Gazestreifen in eine leere Phiole füllte.
„Dies, Potter“, erklärte Snape, „Ist eine Kopie Ihrer Erinnerungen. Ich werde Sie verwahren bis die Zeit reif ist. Und nun machen Sie sich bereit. Ihr Gedächtnis wartet.“
Auffordernd blickte er Harry an und zog den Zauberstab. Die Worte schienen ihm schon auf der Zunge zu liegen, so konzentriert wirkten seine Züge.
„Eine letzte Frage noch“, preschte Harry vor, ehe Snape den Zauber wirken konnte.
Dieser sah ihn erwartungsvoll an, direkt in seine grünen Augen.
„Ja?“
„Ich. Mein Vater“, stammelte Harry, „Sehen noch immer ihn in mir? Glauben Sie noch immer, ich bin genauso wie er? Glauben Sie noch immer, dass ich Sie hasse? Hassen Sie mich noch immer wie sie ihn gehasst haben?“
Snape antwortete nicht. Er kniff nur die Lider zu. Und über seine Lippen kam leise und gequält ein einziges Wort: „Harry“.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, schlug Snape die Augen wieder auf. Sie sahen sich an und Harry nickte stumm. Er hatte alles erfahren, was er wissen wollte und ein Gefühl von Frieden breitete sich in seiner Brust aus.
„Bereit?“, fragte Snape leise.
„Bereit“, sagte Harry bestimmt und atmete ein.
Snape hob den Zauberstab und…
„Obliviate!“
Erneut rauschten Bilder an Harrys geistigem Auge vorüber. Bilder all der vergangenen Wochen. Noch einmal durchlebte er die Zeit, die vollen zwei Monate. Wieder war er in Umbridges Büro und sprach mit Sirius und Remus über seinen Vater, bis ein Geräusch ihn störte. Er wandte sich um, Snape blitzte für eine Sekunde in der Zimmerecke auf. Doch schon im nächsten Augenblick verwandelte der Tränkemeister sich in Filch, der zur Türe hereinkam. Harry warf den Tarnumhang über sich. Und Filch, der ihn nicht bemerkte, holte seine langersehnte Peitschgenehmigung aus dem Schubfach. Dann folgte Harry dem Hausmeister auf den Flur. Er hörte Freds Stimme, der ihn durch den Lärm von Krachern und Knallern ‚Schlafmütze‘ zurief. Dann, abrupt, verstummte Fred. Und Umbridge, die gerade noch schleimbekleckert den Flur entlang hastete, stand plötzlich im Treppenhaus, wo sie die Zwillinge zur Rede stellte. Ron und Hermine blitzten für eine Sekunde neben Harry auf und zerstoben zu Licht. Er beobachtete allein wie Fred und George in den Sonnenuntergang hinaus flogen. Viele Bilder funkten durch seinen Kopf: Drawfeather, der angegriffen wurde; Luna, die Harry im Flur auf die Treffen von Dumbledores Armee ansprach; Nevilles explodierender Kessel; Der Streit mit Snape; Die erste Okklumentikstunde nach ihrer Aussöhnung; das Jahrbuch und der Zeitungsartikel über ‚Jugend braut‘; Jede Begegnung mit McPire; die Ravenclaws, die verletzt in den Schlosshof getragen wurden; der brodelnde Kessel Inferi Immunum; der Einbruch in Dumbledores Büro und zuletzt die Nacht auf dem Friedhof; Alles, was Harry in den letzten Wochen erlebt hatte. Alles, was irgendwie mit Snape zu tun hatte. Es tauchte auf und löste sich auf im Nichts. Erlosch wie ein Streichholz unter Glas. Jeder Hoffnungsschimmer nur ein flüchtiger Anblick. Schon mit dem Aufblitzen wieder vergessen. Ron zitterte vor keinem Quaffel mehr, sondern hielt ihn und die Zaubertrankphiole, die Snape Harry einst repariert hatte, ließ der Tränkemeister nun selbst auf dem Boden zerschellen, um darauf keine gute Note geben zu müssen. Am Ende dieser Achterbahnfahrt durch seine sterbenden Erinnerungen fand Harry sich in Snapes Büro wieder und wusste nicht, wie er hier her gekommen war.
Snape ließ den Zauberstab sinken, dann plötzlich hob er ihn wieder.
„Du wirst vergessen, was hier geschehen ist“, sprach er auf Harry ein, der sich auf einmal wie benommen, wie in Trance fühlte und Snapes Stimme nur noch als fernes Murmeln wahrnahm „Du wirst vergessen, dass ich dein Gedächtnis manipuliert habe. Du wirst in den Gryffindorturm zurückkehren, dich für die Nacht fertig machen und vergessen, dass du überhaupt hier warst. Sobald du dich in dein Bett gelegt und das Licht gelöscht hast, wirst du feststellen, dass du wach bist. Du wirst glauben, lediglich aus einem Alptraum über deine Zaubertrankprüfung hochgeschreckt zu sein und weiterschlafen als wäre nichts gewesen. Du wirst deine Freunde nicht auf heute Abend ansprechen. Du wirst Hermine Granger nicht nach ihren Verletzungen fragen. Und du wirst vergessen, dass ich dir dies alles eingegeben habe.“
„Ich werde vergessen, dass Professor Snape mir das alles eingegeben hat“, wiederholte Harry geistesabwesend.
„Gut“, entgegnete Snape und ließ den Zauberstab endgültig sinken.
Harry kam zu sich und erschrak, als er erkannte, wo er war.
„Snape!“, rief er unwillkürlich und tastete nach seinem Zauberstab, den er nicht fand.
„Für Sie noch immer Professor Snape, Potter“, blaffte der Tränkemeister ihn an, „Sie können gehen. Wehe ich erwische Sie noch einmal nachts auf den Fluren. Ihr Zauberstab liegt dort hinten in der Ecke.“
„Garantiert nicht“, murmelte Harry zornig, während er ihn holte. Er wusste noch nicht einmal, dass er auf den Gängen unterwegs gewesen war. Doch Snape hatte ihm wahrscheinlich irgendeinen Fluch auf den Hals gehetzt. Wie sehr Harry ihn verabscheute! Er zögerte nicht, dem Büro des Tränkemeisters zu entkommen, als er seinen Zauberstab endlich aus dem Staub gelesen hatte. Eilig rannte er unter dem Tarnumhang die Treppen zum Gryffindorturm empor, um nur möglichst viel Platz zwischen sich und seinen verhassten Lehrer zu bringen. Schnell putzte er sich die Zähne und stülpte sich seinen Pyjama über. Morgen waren Prüfungen und es war schon nach eins, wie Harry mit Schrecken auf der Kaminsimsuhr sah. Ron lag schon in festem Schlaf. Und endlich warf auch Harry sich müde aufs Bett. Seine Augen wollten ihm schon zufallen, so erschöpft war er. Doch kaum als sein Kopf das Kissen berührte, schreckte er plötzlich hoch. Was war das! Wer war die Hexe, die gerade vor seinen Augen zusammenbrach. Bei Merlin! Hatte er gerade wirklich ein Mitglied der Prüfungskommission vergiftet? Mit rasendem Herzschlag blickte Harry sich um. Das hier war kein Klassenzimmer. Das war der Jungenschlafsaal! Und Harry war wach. Grundgütiger! Er hatte nur fantasiert, nur schlecht geträumt. Ja, alles war nur ein böser Traum gewesen. Nichts war wahr.
Erleichtert atmete Harry aus, schloss die Augen und glitt zurück in die Federn, ruhig und schwer vor Müdigkeit. Die Hitze einer Frühlingsnacht sickerte durch die Glasfronten und Mauerritzen des Schlosses, wartete auf die Sonne, die sich auf die Türme und Zinnen senken würde. So wie damals. Wie im April. Tief atmete Harry aus und sank in einen traumlosen Schlaf. Nichts war geschehen.
Zäh nur wabert das graue Gemisch, halb Flüssigkeit halb Nebel, über den Rand des Fläschchens. Fast so, als weigere es sich, hinab in das Steinbassin gegossen zu werden. Es ist der letzte, kleine Rest, vergessen in einer Nacht, in der zu viel passiert ist. Der Bodensatz eines Lebens hinter Masken. Silbrige Schlieren wirbeln durch das Wasser, laden zum Eintauchen ein. Tiefer und tiefer...
Ein Zimmer formt sich aus dem Nebel, ein großer Raum. Kellergewölbe, brennende Funzeln. Schwere, eiserne Pfannen an den Wänden. Der Keller des Hauses am Grimmaulsplatz. Und in der Luft: Betretenes Schweigen. Auf dem langen, hölzernen Tisch stehen ein Korb mit Hot Cross Buns und eine Schale bunte Eier.
„Und woher wissen wir, dass es so ist, Mr Snape?“, bricht der Mann, der dahinter sitzt nach einer Weile die Stille – zögerlich, leise.
Aus dem Halbschatten am Kopf der Tafel taucht das blasse, hakennasige Gesicht des Tränkemeisters.
„Es besteht kein Zweifel“, erhebt sich dessen ölige Stimme, „Die verwirrte Hexe, die der Orden gestern aufgegriffen hat, war nicht zufällig in Hogsmeade. Sie war dort, um die Gegend um die Heulende Hütte auszukundschaften. Ein unfreiwilliger Spitzel, unter den Imperiusfluch gesetzt von Lucius Malfoy. Leider nicht so geglückt wie gewünscht, was zu dem Ergebnis führte, das wir gestern präsentiert bekamen. Der Dunkle Lord ist ungeduldig. Er will die Prophezeiung besser gestern als heute. Und Hogsmeade, so nah an Potter, ist der perfekte Stützpunkt für seinen Feldzug. Noch hüllt er sich über sein genaues Vorhaben in Schweigen, doch er wird nichts unversucht lassen, um Potter aus dem Schloss und in seine Gewalt zu bekommen.“
An der Tafel erhebt sich auf einmal ein aufgeregtes Gemurmel. Alle Köpfe drehen sich zu einem Mann um, der etwas abseits hinter Snape im Schatten steht und nachdenklich über seinen langen Bart streicht, der ihm im Gürtel steckt. Als er die auf sich gerichteten Blicke spürt, hält er inne und tritt an den Tränkemeister heran.
„Danke, Severus“, flüstert er Snape zu, der in den Schatten zurückweicht und hebt dann an die Runde die gewandt die Hand, um den Anwesenden Schweigen zu gebieten.
„Nun, ihr werdet mir wohl zustimmen, dass es in Anbetracht der Lage notwendig sein wird, Hogsmeade noch intensiver zu bewachen als bisher. Wir dürfen die Gegend keinen Moment aus den Augen lassen, solange wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben. Ich brauche euch nicht einzuschärfen, in welch großer Vorsicht wir vorgehen müssen. Es gibt Köpfe des Ministeriums in Hogwarts, die wir keinesfalls auf uns aufmerksam machen sollten. Es wäre günstig, wenn-“
„-Albus“, regt plötzlich sich eine Frau mittig der Tafel. Es ist Minerva McGonagall, die beherzt ihr schottenkariertes Schultertuch zurechtrafft, „Ich denke, dass ich mich diesmal an der Aufgabe beteiligen sollte. Hogsmeade hat unzählige streunende Katzen und Harry braucht meine Hilfe“.
„Danke, Minerva“, entgegnet Dumbledore sanft und wird gleich nochmal unterbrochen. Diesmal von einem tiefen Brummen am anderen Ende der Tafel, wo es so dunkel ist, dass man nur noch den Flachmann auf dem Tisch neben dem Teelicht erkennen kann.
„Ich werde die Organisation dieser Operation übernehmen“, ruft es über die Tafel hinweg, „Hier braucht es eine erfahrene Hand. Immer wachsam!“
„Danke, Alastor“, erwidert der Dumbledore. Doch seine Worte gehen unter. Die Anwesenden rücken bereits die Stühle beiseite und versammeln sich um Moody. Alle bis auf einen. Snape steht noch immer am Kopfende im Halbschatten.
„Dumbledore?“, flüstert er und der Angesprochene wendet sich zu ihm um, „Der Dunkle Lord wird sich wohl nicht mehr lange hinhalten lassen. Ich fürchte, er steht im Begriff an meinen Fähigkeiten, Potters Geist zu brechen, zu zweifeln. Sie müssen Ihre Taktik ändern.“
Schweigen erfüllt für einen Moment den schmalen Zwischenraum zwischen ihren Gesichtern.
„Dies war wohl zu befürchten“, sagt Dumbledore dann schwer, „Nun, auch für dieses Problem gibt es sicher eine Lösung. Ich werde darüber nachdenken. Fürs Erste sollten wir weitermachen wie bisher.“
„Weitermachen wie bisher?!?“, fragt Snape scharf.
„Ja, indem Sie Harry Okklumentikunterricht geben“, antwortet Dumbledore und blinzelt.
„Potter ist dazu nicht fähig“, zischt er, „Er ist-“
Ein Seufzen unterbricht ihn.
„Ich weiß, dass Sie Ihre Schwierigkeiten mit Harry haben. Aber zweifle nicht, dass der Junge die Okklumentik noch zu beherrschen lernen wird. In Lilys Sohn steckt viel Gutes, das sich auch Ihnen noch offenbaren wird, wenn sie es wagen, sich mit Jungen zu beschäftigen. Was bisher geschah oder nicht geschah muss nicht zwangsläufig auch für die Zukunft gelten. Ich vertraue Ihnen, vertrauen Sie mir.“
Er dreht sich um und schreitet zum Ende der Tafel, wo die Menge sich noch immer um Alastor Moody schart. Mit einem Ausdruck unterdrückter Wut auf Gesicht schaut Snape ihm hinterher.
Und die Szene wandelt sich.
Ein neues Zimmer formt sich aus dem Nebel. Ein helleres und doch auf seine Weise ebenso düsteres. Es ist der Salon mit Sesseln aus abgewetztem, dunkelgrünem Samt und dem Familienstammbaum als Wandteppich, in dem Brandlöcher prangen. Vor dem Kamin steht Albus Dumbledore und wirkt verärgert. Severus Snape betritt soeben den Raum.
„Sie wollten mich sprechen, Dumbledore?“, fragt er ruhig.
„Ja, das wollte ich“, antwortet Dumbledore vorwurfsvoll, „Ich bin schwer enttäuscht von Ihnen, Severus! Ich hatte Ihnen aufgetragen, Harry Okklumentikstunden zu geben und nun muss ich hören, dass Sie den Unterricht eingestellt haben? Was ist in Sie gefahren?!?“
Snape wirft seinem Gegenüber einen grimmigen Blick zu.
„Ich habe es wirklich versucht, Dumbledore. Es ist einfach unmöglich. Potter verweigert die Übung, er scheint sich sogar über seine Verbindung zu Voldemort zu freuen. Mit einem so widerspenstigen Schüler kann niemand arbeiten.“
„So? Und ich dachte, der Grund dafür sei Harrys Neugierde gewesen?“
Snape blickt pikiert. Dumbledore seufzt stumm und wendet sich dem Feuer zu. Auf einmal wirken seine Züge recht kummervoll, während auf seine Frage keine Antwort folgt.
„Ich hörte Gerüchte, der Junge habe gestern einen Ihrer Schüler heldenhaft verteidigt. Ist das wahr, Severus?“, lenkt er das Gespräch auf ein anderes Thema, ohne den Tränkemeister anzusehen.
„Benjamin Drawfeather, einen Erstklässler“, antwortet Snape zögerlich mit skeptischer Miene.
„Ah, ich erinnere mich dunkel. Der Junge sieht Ihnen recht ähnlich, oder? Nun, wenn das kein Grund ist, Harry zu verzeihen.“
Snape atmet tief aus, wendet Dumbledore den Rücken zu und läuft zum Fenster. Der Blick seines Gegenübers folgt ihm.
„Oh, ich verstehe, Severus. Sie wagen es nicht, den Jungen in Ihr Herz zu schließen, denn wen sonst sollten Sie hassen? Wem sonst sollten Sie die Schuld für Ihr Schicksal geben? Aber Severus, unsere Vergangenheit überwinden wir nicht im Hass, nur in Liebe und in Verantwortung für unsere Fehler. James und Lily sind beide tot. Aber Harry lebt.“
Snape stöhnt leise auf. „Er hat nicht einmal versucht, sich bei mir zu entschuldigen. Er ist genau wie sein Vater“, spricht er, doch seine Stimme klingt gebrochen.
„Oh, gewiss! Das möchten Sie gerne glauben. Und ja, er ist wie sein Vater. Und ebenso ist er wie seine Mutter. Er hat Drawfeather gegenüber das getan, was Lily getan hätte, in einer Weise, die zu James passt. Ich glaube, Harry ist einfach wie Harry.“
Mit diesen Worten schreitet Dumbledore zu ihm hinüber und legt Snape die Hand auf die Schulter, eher er im Flüsterton fortfährt: „Geben sie ihm eine Chance, Severus. Er hatte Mitleid mit Ihnen und zu viel Angst auf Sie zuzukommen. Öffnen Sie sich für ihn und sie werden Ihre Entschuldigung erhalten.“
Snape atmet hörbar ein.
„Bitte Dumbledore, hören Sie auf damit“, keucht er, „Ich kann das nicht ertragen!“
Und für einen Augenblick herrscht Stille im Raum. Dumbledore tritt vom Fenster zurück und noch im Gehen fragt er laut und im Geschäftston: „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, Severus?“
Snape dreht sich um und fängt Dumbledores Blick.
„Ja, allerdings. Noch ist alles recht vage. Der Dunkle Lord hat nicht mehr als Andeutungen fallen lassen. Aber aufschlussreiche Andeutungen. Ich habe eine gewisse Ahnung, womit wir es zu tun bekommen werden.“
Die hellblauen Augen hinter der Halbmondbrille weiteten sich.
„Ich bin ganz Ohr, Severus“, schallt es durch den Salon.
Das Zimmer löst sich auf, nur um aus dem Nebel neu zu erstehen.
„Damit ist es also amtlich“, erklingt Dumbledores Stimme und versiegt. Sekundenlang ist es still. Dann ein Seufzen.
„Nun, zumindest können wir die Gefahr nun auf einen Ort eingrenzen. Ich danke Ihnen, Severus für die rasche Mitteilung. Dies wird heute Abend höchste Priorität haben. Es sollte noch in der heutigen Nacht der vollständige Wachtrupp nach Hogsmeade apparieren, um einen Bannkreis um den Ort zu legen, so unauffällig wie möglich. Den restlichen Phönixorden sollten wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ins Vertrauen ziehen. Voldemort legt leider überall seine Netze für uns aus. Ich frage mich, wie es ihm gelungen ist...“, Dumbledore sieht nachdenklich auf einen der Samtsessel herab, „Aber natürlich! Die Schlange! Das ist am unauffälligsten. Eine Zauberformel in Parsel. Lassen Sie mich raten, Severus, dass er Nagini anbefohlen hat, den Ort zu überwachen und seinen Plan durch sie ausführen will?“
„Auch“, unterbricht ihn Snape und Dumbledore blickt wieder vom Sessel auf, „Die Schlange ist zu wertvoll für ihn, um sie allzeit auf dem Friedhof zu lassen. Er hat eine Andeutung gemacht, dass er eine seiner Marionetten dazu abkommandieren und ihn die wenigen Worte Parsel lehren wolle, die vonnöten sind. Die Todesser sind angehalten nach geeigneten Personen Ausschau zu halten. Es würde mich nicht wundern, wenn die Wahl auf einen der Dorfbewohner Hogsmeade fallen würde.“
„Auch das noch“, seufzt Dumbledore leise, „Nun, es wird schwierig werden, das Nest unter diesen Umständen auszubrennen. Aber kein Grund, den Mut zu verlieren. In Hogwarts ist Harry fürs Erste sicher. Auch wenn es wichtiger denn je wird, dass der Junge Okklumentik lernt. Ich frage mich, welche Vorsorgemaßnahmen für den Ernstfall geeignet wären, ohne die Aufmerksamkeit des Ministeriums allzu sehr herauszufordern.“
„Ich hätte eine Idee“, wirft Snape ein. Sein Gegenüber sieht ihn durchdringend an.
„Ein kleines und für den Notfall doch nützliches Mittel, das in meinen Fachbereich fällt.“
„Ein Zaubertrank gegen Inferi?“, fragt Dumbledore verwundert, „Das klingt ja fast nach der Eigenkreation.“
„Ja“, knirscht Snape und wirft ihm einen gequälten Blick zu, „Fragen Sie nicht weiter danach.“
Dumbledore schmunzelt leise, während er sich ein Bonbon in den Mund steckt.
„Die Schatten unserer Vergangenheit – wer hätte gedacht, dass sie noch einmal unser Sturmlicht sein würden. Brausedrop, Severus?“
„Nein, Danke“, entgegnet Snape und zögert für einen Augenblick, „Es gibt noch einen weiteren Trank, dessen Rezept gestern leider etwas in Mitleidenschaft geriet. Okkluserum. Ein Elixier, das unter anderem eine fördernde Wirkung auf okklumentische Übungen hat.“
Dumbledores Augen blitzen auf.
„Das ist ja großartig, Severus!“, ruft er begeistert, „Auf diese Weise können wir Harry den besten Schutz für seinen Geist gewähren, den wir zur Hand haben. Wie steht es zwischen Ihnen eigentlich?“
Snapes Augen treten hervor, als blicke er in den Lauf einer Schrotflinte.
„Ich“, stammelt er und beißt sich augenblicklich auf die Lippen wie jemand, der sich schämt, die Kontrolle über sich verloren zu haben, „Er lernt“.
Dumbledore schließt für einen Moment die Augen und nickt verständnisvoll.
„Bleibt also nur noch die Frage offen, wie wir den Trank an den Mann bringen. Ich würde ungern unseren rosa Drachen kitzeln. Minerva berichtete mir, dass sie längst nicht mehr nur Trelawney im Visier hat, sondern wohl alle Lehrer, die im Verdacht stehen, meine besondere Gunst zu genießen.“
„Oh, da machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe Longbottom sei Dank einen Plan. Und so wie ich Potters Charakter kenne, wird sich sicher bald Gelegenheit ergeben, ihn in die Tat umzusetzen.“
Dumbledore mustert Snape skeptisch, dann atmete er tief ein: „In Ordnung. Dann wohl bis heute Abend.“
Snape nickt und macht sich bereit zum Gehen. An der Tür jedoch hält ihn Dumbledore zurück.
„Severus?“
Keine Antwort folgt. Nur einen vielsagenden Blick tauschen die beiden Männer. Dann tritt Snape über die Schwelle.
Und die Szene verwirbelt zu Nebel.
Ein Kellergewölbe erscheint, als der Dunst sich wieder lichtet und deckenhohe Regale voller Einmachgläser und Flaschen. Zwei Jugendliche kauern davor, scheinen sie aufmerksam zu inspizieren. Dann durchzuckt eine Stichflamme den Raum und ein feuerfarbener Vogel rauscht auf das Pult zu. Er überreicht Snape einen Brief, den dieser sofort öffnet.
Nachricht durch Phineas erhalten. Lassen Sie Vorsicht walten und halten Sie mich unbedingt auf dem Laufenden. Viel Erfolg, A.D.
Snape blickt auf, wirft den Jugendlichen einen kontrollierenden Blick zu. Dann wendet er den Brief und taucht seine Feder ins Tintenfass
Alles läuft nach Plan. Potter gerade mit letzten Zutaten versorgt. Umbridge hegt keinen Verdacht, S.S.
Und die Szene versinkt im Nebel
Nun schimmert durch eine Reihe hohe Bogenfenstern rötliches Abendlicht, während Severus Snape mit gerunzelter Stirn dicht an den schattigen Wänden einen Flur entlang läuft und den Blick auf etwas in der Ferne richtet. Ihm voraus geht eine Frau in rosa, die summend ein paar Notizen auf ein Klemmbrett kritzelt und dann hinter einer Tür verschwindet, durch die Miauen auf den Flur dringt. Sie scheint erwartet worden zu sein, denn nun erhebt sich im Zimmer eine Männerstimme: „Guten Abend, stets zu Ihrer Verfügung“. Dann herrscht Stille. Snape lehnt sich gegen die Wand, um besser zu lauschen. Und endlich fährt der Mann fort.
„Nun, nach Abschrift des Protokolls und wenn Sie mir diesen Kommentar erlauben, scheint Professor Snape sein Labor ja wirklich tadellos geführt zu haben“
„Ja, zu tragisch, nicht wahr? Ich konnte mich über sein Veritaserum auch nie beklagen“, antwortet Umbridge.
„War denn etwas anderes zu erwarten?“
„Oh, nicht doch. Mir als ihrer Direktorin sind die Lehrer natürlich absolut hörig, selbst wenn ich längst schon ihren Untergang plane. Es ist nur wegen Cornelius. Er mahnte mich jüngst noch einmal, ein Auge auf den Zaubertranklehrer zu haben. Scheint wohl recht durcheinander zu sein und stünde Dumbledore sehr nahe. Doch ohne einen Verdachtsmoment. Tja, zu schade…“
„Nun, vielleicht ist die Fachkompetenz schlichtweg der falsche Anknüpfungspunkt und Mr Snapes Schwachstellen liegen woanders. Ich habe da vielleicht eine Idee.“
„Was meinen Sie damit?“
„Als ich auf Sie wartete, zog hier an der Tür eine Gruppe Mädchen vorbei, die sich lautstark darüber beschwerten, dass Professor Snape seine Schüler so ungleich behandle. Vielleicht lässt sich hierauf aufbauen.“
„Das… das ist eine grandiose Beobachtung. Das muss ich mir sofort notieren.“
„Freut mich, wenn Ihnen eine Hilfe sein konnte. Benötigen Sie meine Dienste dann heute noch? Ich möchte gewiss nicht drängeln, aber ich bin noch mit einem guten Kollegen verabredet und schon ein wenig spät.“
„Nein, Sie können gehen.“
„Auf Wiedersehen und es war mir eine Ehre“
Die Tür fliegt auf. Vorbei an Snape, der ihn mit halbgeöffnetem Mund anstarrt, tritt zielstrebig der Mann hinaus auf den Flur und setzt sich mit einer gekonnten Bewegung seinen rubinroten Dreispitz auf den Kopf. Er scheint Snape nicht zu bemerken. Denn nun zieht er eine Taschenuhr aus seiner Weste, fixiert sie mit seinen klaren, grünen Augen und schüttelt den Kopf.
„Lucius, ich fürchte, dein erstes Glas Elfenwein wird heute leider warm werden“
Und die Szene löst sich auf.
Jetzt schreibt eine langfingrige Hand mit gelben Nägeln Worte auf ein Pergamentblatt.
‚Malfoy noch keinen Ersatz gefunden, seitdem letzter Versuch vereitelt. Der Dunkle Lord erwähnte Lucius gegenüber, dass er ja zum Glück noch ein zweites Standbein habe. Gefahr, dass Maß seiner Geduld bald ausgereizt ist. Okklumentikunterricht muss unterbrochen werden. Potters Geist zu öffnen zu riskant derzeit. Es gab einen Zwischenfall‘
Zwischen dem vorletzten und dem letzten Satz hält die Feder inne, so dass sich ein unschöner Tintenkleks auf dem Blatt abzeichnet. Schnell setzt der Schreiber noch seine Initialen aufs Papier. Dann faltet er den Brief sorgfältig zusammen, legt ihn beiseite und starrt ins Leere. Eine Weile sitzt er so da, bis er plötzlich in einem Anflug offensichtlicher Wut Pergamente und Tinte mit seinem Arm vom Tisch fegt und die Hand gegen die Stirn schlägt – mehrmals, wie jemand, der sich im wahrsten Sinne des Wortes einen Gedanken aus seinem Kopf schlagen will.
„Warum Potter?“, keucht er und sieht hinab auf das Einzige, das noch auf dem Tisch liegt: Ein altes Fotos eines rothaarigen Mädchens, dessen grüne Augen direkt zu ihm aufblicken.
Und das Bild wandelt sich.
Wieder formt sich der Nebel zum Salon eines wohlstehenden Hauses. Doch der Stammbaum mit den Brandflecken fehlt. Ringsum glänzt Marmor und große Porträts zieren die Wände. In einer Ecke sitzt an einem Sekretär eine weißblonde Frau über ein Pergament gebeugt und schreibt etwas nieder, während ein großer Kauz ihr auf die Finger starrt. Stimmgewirr liegt in der Luft, dann das schrille Lachen einer anderen Frau. Die Weißblonde steht auf und dreht sich um. Rund um einen gedeckten Wohnzimmertisch hat sich auf den Sesseln eine kleine Gesellschaft versammelt, zu der auch Severus Snape gehört. Die Weißblonde tritt zu ihm hinüber, während die Feder hinter ihr ohne ihr Zutun weiterschreibt.
„Euer Freund des Hauses ist sehr ambitioniert“, erklärt die andere Frau, eine Schwarzhaarige mit wirren Locken, während die Weißblonde sich gerade auf den letzten freien Sessel niederlässt, „Du hättest dabei müssen, Zissy. Als Lucius auf den Appell an seine Vorsicht und Dumbledores Schergen dem Dunklen Lord erklärte, dass er wisse, dass in der Schulbehörde viele hinter dem Tatterkreis stünden, allen voran Griselda Marshbanks, meinte er doch glatt auch noch, dass er nicht von der Prüfungskommission rede, sondern von der Aurorenzentrale. Er hat Lucius regelrecht auflaufen lassen, um selbst besser dazustehen.“
„Ist das wahr?“, fragt Narzissa Malfoy ungehalten und wirft Snape einen scharfen Blick zu, während sie an ihrem Tee nippt. Ihr Ehemann neben ihr schweigt betroffen.
Snape setzt die Teetasse ab und verzieht grimmig die Miene.
„Ich sagte dies nicht, um Lucius beim Dunklen Lord in Misskredit zu bringen, sondern weil es die Wahrheit ist. Alastor Moody hat einige hochstehende Auroren für den Orden des Phönix gewinnen können, alles streng geheim. Ihre Namen kennt außer ihm nur Dumbledore. Selbst ich bin in diese Sache nicht eingeweiht.“
„Ja, der gute, liebe Dumbledore“, säuselt die schwarzhaarige Bellatrix Lestrage als spräche sie mit einem Kleinkind und ein vielsagendes Grinsen zieht sich über ihre Lippen.
Doch in diesem Moment regte sich Lucius.
„Severus hat Recht“, sagte er bestimmt, „Der nächste Versuch darf nicht scheitern. Und er wird es auch nicht. Ich habe schon jemandem im Auge!“
Energisch stellt er seine Teetasse auf den Untersetzer.
Snape wirft ihm einen vielsagenden, finsteren Blick zu. Lucius bemerkt es nicht, wohl aber die beiden Frauen.
Und die Szene versinkt im Nebel.
Wieder liegt ein Brief auf einem Schreibtisch, als der Dunst sich lichtet. Lange, gelbliche Finger reißen ihn auf.
‚Es tut mir leid zu erfahren, unter welche Schwierigkeiten Voldemort derzeit nur in Schach zu halten ist. Und dass Lucius sich diesmal so siegessicher gibt, erscheint auch mir äußerst besorgniserregend. Bis wir wissen, auf wen seine Wahl gefallen ist, ist besondere Vorsicht geboten, gerade diesen Sonntag. Arthur, Kingsley und Alastor sind bereits in Kenntnis gesetzt. Ich habe zudem den Wirt des Eberkopfs alarmiert, nutzen Sie ihn als Kontaktmann, bis Sie wieder von mir hören. Wollen wir hoffen, dass Voldemorts Ungeduld in der Zwischenzeit nicht noch weiter wächst. Minerva...‘
Ein lautes Klopfen ertönt und die Finger falten das Papier hastig zusammen. Der Brief löste sich in Nebel auf, nur um im nächsten Moment wiederzuerstehen.
‚…Minerva hat mir berichtet, in welchem Zustand sie Sie Dienstagnacht antraf. Ich konnte mir meinen Teil denken. Severus, bitte passen Sie gut auf sich auf! Viel Erfolg, A.D.‘
Die gelblichen Finger werfen das Blatt achtlos auf die andere Seite. Eine Feder taucht hastig in ein Tintenfass und ungestüm kritzelt jemand auf das Pergament die Worte: ‚NOTFALL! Potter Vision von Dienstag! Plane okklumentische Täuschung. Erwarte Ihre Antwort. DRINGEND! S.S.‘
Und die Szene wandelt sich.
Jetzt formen sich die Nebel abermals zu dem Kellergewölbe mit der langen Tafel und dem Kochgeschirr an den Wänden. Snape steht vor dem Tisch und wirkt irgendwie nervös, während Dumbledore neben ihm ernst und betroffen dreinschaut.
„Die Lage ist kritisch“, sagt Snape scharf, „Potter schwebt in großer Gefahr, ist eine große Gefahr. Hogwarts ist durch viele Banne geschützt, die es dem Dunklen Lord erschweren, in seinen Geist einzudringen. Doch außerhalb des Schulgeländes hat er leichtes Spiel. Dort wo ihn keine Hürden halten, ist Potter Freiwild für ihn. Darum, zu seinem eigenen Schutz und dem anderer, schlage ich vor, Potter diesen Ausflug zu untersagen.“
In den Gesichtern ringsumher spiegelt sich Betroffenheit, bis der Erste, eine rothaarige, pummelige Frau, das Wort ergreift
„Harry ist doch noch ein halbes Kind, wir müssen ihm schützen, ich bin dafür, unbedingt“, erklärt sie aufgeregt.
„Molly hat Recht“, schließt sich der Mann neben ihr an, „Wenn es einer meiner Söhne wäre, ich würde ihn in Sicherheit in Hogwarts wissen wollen. Und unter diesen Umständen…ich stimme zu“
Ein Raunen geht durch die Reihen, weitere pflichten den beiden bei, bis Albus Dumbledore endlich die Hand hebt.
„Mich beruhigt zu sehen, dass ihr mehrheitlich meine Ansicht teilt. Daher sehe ich die Sache hiermit als beschlossen an und erteile offiziell den Befehl, die weiteren Schritte einzuleiten. Es ist auch mir wohler bei dem Gedanken, Harry sicher geborgen im Schoß der Schule zu wissen als draußen im Dorf, in dem ein Feind herum streift, dessen Gesicht wir noch nicht kennen und der den Jungen zu seinem Werkzeug machen will. Da ich leider von meinem Posten enthoben bin, möge meine Stellvertretung in Hogwarts Harry die Nachricht möglichst schonend überbringen“, er lächelt McGonagall an, „Hat jemand noch etwas zu dieser Sache hinzuzufügen?“
„Ja, ich!“, erschallt ein Ruf am Ende der Tafel. Der Einwand kommt von Sirius Black, welcher sofort die ganze Aufmerksamkeit der Runde auf sich hat.
„Wer sagt, dass es diesen mysteriösen und gemeingefährlichen Spitzel Malfoys überhaupt gibt? Oder Harrys Geist nach all den Okklumentikstunden noch immer so labil ist? Wo ist der Beweis, dass das alles nicht nur Übertreibung, Lüge oder eine fixe Idee ist?“
Dumbledore hatte zuletzte gesprochen. Doch statt ihn blickt Sirius Snape an.
„Du! Du brennst doch nur darauf, Harry zu demütigen, ihm die Freude an diesem Ausflug zu nehmen. Ihn einzusperren wie einen räudigen Hund!“
Snape lächelt süffisant. „Da spricht der wahre Kenner. Verzweifelt an der Leine zu hängen, Black? Und was, wo das Schicksal so gnädig war, dir einen Genossen zu schenken. Vielleicht magst du deinem Patensohn ja schon mal einen Knochen schicken – so als Willkommenspräsent!“
Black springt auf als wolle er auf Snape losstürmen. Doch in diesem Moment packt ihn eine Hand kräftig am Arm. Es ist Lupin.
„Sirius, bitte sei vernünftig! Denk an Weihnachten“, spricht dieser auf Black ein, während sie eisige Blicke tauschen.
„Remus hat Recht“, erklingt im nächsten Moment Dumbledores sanfte Stimme rechts von ihm, „Was geschehen muss, geschieht nur zu Harrys Bestem, zu seinem eigenen Schutz. Und es ist meine Anordnung, nicht die Severus‘.“
Sirius Black wendet den Kopf und starrt Dumbledore einen Augenblick lang an.
„Schön“, schnaubt er dann, „Schön! Wenn ihr alle so überzeugt davon seid, dass er die Wahrheit sagt und Harry nicht auf sich aufpassen kann, dann bitte – ihr habt meinen Segen. Ich bin der Letzte, der will, dass jemand Harry benutzt. Nur dir, Schniefelus, werde ich nie trauen.“
Und mit einer abwehrenden Geste entwindet er sich Lupins Griff und lässt sich wieder auf seinen Platz fallen. Ohne ein weiteres Wort starrt er demonstrativ in eine dunkle Ecke und verschränkt die Arme.
„Was ist das eigentlich, mit dem sie Harry in Hogsmeade bedrohen?“, fragt Remus derweil ruhig.
Snape, Minerva und noch einige Andere am Tisch tauschen vielsagende Blicke. Dann atmet Dumbledore tief ein und erhebt die Stimme
„Es handelt sich um eine Art von Kreatur, die Voldemort schon einmal für seine Dienste nutzte.“
In den Gesichtern der Anwesenden stehen noch immer Fragezeichen geschrieben. Doch Dumbledores Tonfall hat etwas Abschließendes, so dass wohl keiner wagt, auszusprechen, was ihm durch den Kopf geht.
„Albus“, rührt sich nun Minerva McGonagall, „Unter diesen Umständen… können wir es da verantworten, diesen Ausflug am Wochenende überhaupt durchzuführen?“
„Ich fürchte, wir müssen es. Jede Unregelmäßig in Hogwarts würde Umbridges Verdacht erregen und wer weiß über welche Ecken es Lucius Malfoy zu Ohren kommt. Natürlich müssen wir besondere Vorsicht walten lassen. Am Sonntag sollte der gesamte Wachtrupp unauffällig im Dorf patrouillieren. Dies sollte die Sicherheit der Schüler gewährleisten. Und der Bannkreis besteht ja auch noch.“
„Was ist Miss Granger, mit Mr Weasley? Sind diese nicht in ebenso großer Gefahr wie Harry selbst?“
„Nicht mehr als andere rothaarige Schüler braunhaarige Schülerinnen“, antwortet ihr Snape an Dumbledores Stelle, „Und davon gibt es unzählige in Hogwarts. Auf wen immer Lucius Malfoys Wahl gefallen ist und mit welchen Informationen er versorgt sein mag, die Mühe, Potters Freunde zu identifizieren, um sie anzugreifen, wird noch immer bei ihm selbst liegen. Und solange man die beiden nirgendwo mit Potter zusammen sieht… Es würde Granger und Weasley in weitaus größere Gefahr bringen, ihnen eine Sonderbehandlung angedeihen zu lassen, da es sie verdächtig macht.“
„Danke, Severus für diese Ausführungen“, unterbricht ihn Dumbledore und erhebt die Stimme, „Nun, dies ist der Stand der Dinge. Ich denke, die heute Sitzung kann hiermit geschlossen werden. Falls jemand des Wachtrupps etwas bemerken sollte, das zur Identifizierung von Lucius Malfoys Marionette beitragen könnte, ist dies unverzüglich Alastor Moody mitzuteilen. Hoffen wir auf das Beste.“
Stühle rücken und der Raum leert sich. Nur Snape harrt neben Dumbledore aus.
„So labil, wie Potters Geist ist und sich die Lage gestaltet, wäre es unverantwortlich, ihn derzeit Okklumentik zu lehren, Dumbledore. Es besteht noch immer die Gefahr, dass er Einsicht in Dinge gewinnt, die nicht zum Dunklen Lord durchdringen sollten. Ich bitte Sie, mich den Unterricht aussetzen zu lassen.“
Dumbledore seufzt schwer, nickt und sieht Snape ins Gesicht: „Behalten Sie die Entwicklung der Wirkung des Okkluserums im Auge und führen Sie den Okklumentikunterricht fort, sobald die Lage es in Ihren Augen wieder erlaubt.“
Snape nickt und die Szene löst sich auf.
Erneut erheben sich aus dem Nebel die Korridore Hogwarts mit ihren hohen Bogenfenstern, durch die das Licht Severus Snape ins Gesicht fällt, der etwas abseits des Trubels steht. Doch diesmal ist er nicht alleine. Eine Frau mit einem kartierten Schultertuch kreuzt gerade seinen Weg.
„Ah, Professor McGonagall, frisch von der Wache, wie ich annehme?“
„Sehr richtig, Herr Kollege. Vance hat gerade die Überwachung übernommen“
Und sie lächelt. Snape hebt die Augenbrauen.
„Dies scheint ja eine amüsante Schicht gewesen zu sein heute Nacht.“
„Zumindest eine sehr erfolgreiche“, McGonagall strahlt, „Alastor dürfte in wenigen Augenblicken ein Patronus erreichen. Es ist mir zwar nicht gelungen, unseren Mann dingfest zu machen, doch für eine ausführliche Personenbeschreibung reicht es aus.“
Snapes Augen weiten sich. Zügig tritt er zwei Schritte auf McGonagall zu.
„Wer?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen, Severus. Niemand, den wir kennen. Aber durchaus eine auffällige Erscheinung. Knochiges Gesicht mit einer adlerhaften Nase, ein goldblonder Schnurrbart und auf dem Kopf trug er einen roten Dreispitz.“
Snape, der erst so neugierig erschien, wird immer stiller, während ein abwesender, nachdenklicher Ausdruck auf sein Gesicht tritt. Schließlich unterbricht sich auch McGonagall.
„Stimmt etwas nicht, Severus?“
„Ja“, antwortet Snape langsam, während er seinen Blick über den Flur schweifen lässt ohne den buschigen, braunen Haarschopf einer Schülerin zu bemerken, „Diese Beschreibung…Ich glaube, ich kenne den Mann. Wenn er der ist, für den ich halte, dann ist er vom Ministerium. McPire, Dolores Umbridges Sekretär.“
McGonagall fasste sich erschrocken an die Brust, „Ach, du meine Güte!“
„Das erhöht die Gefahr um ein Vielfaches“, fährt Snape fort.
„Wir sollten sofort Dumbledore Bescheid geben“, entgegnet McGonagall energisch.
Snape blickt sie an und die Szene verblasst.
Doch schon im nächsten Augenblick tauchen die Gesichter der beiden Lehrer wieder aus dem Nebel. Und mit ihnen noch die einiger Anderer. Erst auf den zweiten Blick offenbaren sich die restlichen als eine kleine Ansammlung an Porträts. Weißes Licht bescheint sie und reflektiert sich auch auf der Holztäfelung der Wand. Seine Quelle ist eine silbrige, große Katze, die im Zimmer umherstreift.
„…Nach Hogsmeade, zum Wirt des Eberkopfs. Das Hauptquartier muss informiert und was geschehen ist unverzüglich an Dumbledore weitergeleitet werden“, erklärt Minerva McGonagall ernst und beobachtet, wie die Katze mit einem Satz durch die Tür springt und verschwindet. Dann wendet sie sich zu Snape um, der sich im Schein einer einzigen Kerze kaum von der Dunkelheit abhebt und beginnt nervös auf und ab zu gehen.
„Es ist eine Katastrophe, eine einzige Katastrophe!“, poltert sie, „Sie sind mein Zeuge. Ich habe Albus gewarnt. Ich habe ihm gesagt, dass so etwas passieren könnte. Und nun ist es geschehen!“
„Es sind keine bleibenden Schäden zu erwarten“, entgegnet Snape lapidar, „Der Angriff mag schlimm aussehen, doch die Verletzungen werden in ein paar Tagen verheilt sein. Es ist nichts Ernsthaftes pass-“
„-Aber es hätte!“, fällt im McGonagall wütend ins Wort, „Warum musste Filius auch nicht auf mich hören. Ich versuchte ihn noch zu warnen. Doch er meinte, auf seine Siebtklässler sei Verlass. Wenn diese beiden Ravenclaws mir noch einmal unter die Augen treten, ich werde sie nachsitzen lassen bis an ihr Lebensende!“
Snape betrachtet sie mit hochgezogenen Augenbrauen, dann grinst er hämisch. „Diese Seite kenne ich noch gar nicht an Ihnen, Minerva“
Sie dreht sich zu ihm um, schaut ihn an und atmete tief aus.
„Entschuldigen Sie. Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen. Es ist nur… was wäre, wenn es wirklich Miss Granger und Mr Weasley gewesen wären? Ich frage mich nur, wie dieser Mensch gerade einen Doppelgänger von Harrys Freunden in seine Falle locken konnte. Diese Treffsicherheit grenzt ja schon fast an Hellseherei.“
„Ja, das ist in der Tat interessant“, entgegnet Snape und wirft einen Blick hinüber zum Sideboard, auf dem sich einige Teetassen stapeln. Ein verschleierter Blick tritt in seine Augen als glitten seine Gedanken in weite Ferne.
Dann plötzlich ertönt aus einem der Porträts die atemlose Stimme einer jungen Frau.
„Professor McGonagall?“
Zwei Köpfe fahren herum.
„Ah, Madelaine, endlich! Aber - Sie sehen ja ganz abgehetzt aus, gutes Kind. Was gibt es zu berichten?“
„Ich habe alle Porträts im Schloss alarmiert, wie Sie es wünschten. Violet erzählte mir, dass Sie wohl tatsächlich was bemerkt hat, als sie von einem Ausflug zur Fetten Dame zurückkehrte. Sie hat sie gesehen, zusammen mit Filch. Sie sind-“
Was die junge Frau sagen wollte, erklärt sich in diesem Augenblick von selbst. Vom Flur her dringen Geräusche ins Zimmer: Schritte, Miauen und Gemurmel, das sich aus einer Männerstimme und einem mädchenhaften Säuseln zusammensetzt.
Reflexartig ziehen die beiden Professoren ihre Zauberstäbe.
„Verstehen Sie sich auf Vergessens- und Verwechslungszauber?“, fragt Snape hastig.
„Na, für wen halten Sie mich?!?“, protestiert Minerva McGonagall.
Snapes Augen blitzen auf.
„Dann schocken Sie die beiden wenigstens, damit ich meine Arbeit machen kann.“
Er wirbelt herum. Minerva McGonagall runzelt die Stirn und starrt ihm nach wie vor den Kopf gestoßen.
Und das Bild wandelt sich.
Nun gleichen die Szenen nur noch Fragmenten. Fetzen, herausgerissen aus dem Strom der Erinnerungen. Momentaufnahmen, die hastig aus mit dem Nebel steigen und wieder darin versinken.
‚Fürchte, McPire beauftragt, Trelawney auszuspionieren. Draco machte Andeutung. S.S.‘, schreiben die gelblichen Finger auf ein Pergament.
Dann blitzt der Hinterkopf eines schwarzhaarigen Schülers auf, der aus dem Kerkerraum läuft. Snape starrte ihm mit offenem Mund nach, bis der Junge die Tür hinter sich zugezogen hat. Er schließt die Augen und wirft sich aufstöhnend gegen die nächste Wand.
Jetzt fährt eine Feder in wildem Wechsel mit dem Nebelhauch mal über beschriebene Buchseiten mal über Pergamentblätter.
‚Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Potter bringt alles durcheinander. Hat er Recht? Mir graut vor Dumbledores Meinung dazu.‘
‚Nun Beweis. McPire beim Todessertreffen, zusammen mit Lucius, unter dessen Befehl, S.S.‘
‚Verfluchter Idiot! Verdammter Verräter! Okklumentikstunden verboten und für jeden Unterricht ein rosa Bonbon. Oh, was für ein Vergnügen. Zum Glück hat diese aufgeplatzte Kröte keine Lunte gerochen. Ich werd sie umbringen! Alle!‘
‚Von McPire zum Treffpunkt bestellt, Kommen Sie schnell, noch vor Ihrer Schicht, Zaubertrank steht in meinem Büro bereit, S.S.‘, lautet die letzte Nachricht.
Alles steigt aus dem Dunst und versinkt wieder darin. Immer schneller, immer hastiger wandeln sich die Bilder, als rasten die auf ein bestimmtes Ziel zu. Und dann steht alles still.
Nur langsam lichten sich die Schwaden, geben die Szenerie wieder frei: Ein karges, schmuckloses Zimmer, mit einem Bett, das mehr an eine Pritsche erinnert. Daneben ein Regal, das unter seiner Last aus Büchern fast zu brechen scheint. Auf einem Regalbrett reihen sich einige Kessel, alle sorgsam poliert, so dass sich das Licht einer Kerze darin reflektiert. Die Kerze steht auf dem nahen Schreibtisch. Und davor sitzt Severus Snape, faltet einen Brief zusammen, steckt ihn in einen Umschlag, auf dem die Initialen A.D. prangen und legt ihn beiseite. Dann hebt er ein kleines Fläschchen mit einer gasartigen, weißgrauen Flüssigkeit vom Tisch auf, betrachtet es eine Weile und legt es sorgsam in eine Schatulle, aus der er stattdessen ein Buch nimmt. Er schlägt es auf, eine weiße Seite, dann taucht er eine Feder in ein Tintenglas, setzt sie aufs Blatt und beginnt zu schreiben.
Sonntag, 16. Juni 1996
Es ist vorbei! Alles ist vorbei. Was seit den Osterferien geschehen ist nicht mehr als eine gelöschte Erinnerung, die ich hüten werde, als hinge dein Leben davon ab. Welch treffende Analogie, nicht wahr? Er hat alles herausgefunden. Dein Sohn hat alles herausgefunden. ALLES. Sogar in diesem Buch hat er mithilfe des Hauselfen rumgeschnüffelt und wäre ich nicht ohnehin gerade dabei gewesen, sein Gedächtnis zu manipulieren und hätte ich nicht das Unglaubliche gesehen, wie er und Granger darauf reagierten, ich hätte ihm den Hals umgedreht! Ich weiß nicht, was mir gerade mehr die Sinne raubt. Der lodernde Zorn oder das blanke Entsetzen. Noch während ich die Zeile schreibe, kann ich nicht fassen, was geschehen ist. Ich mag gar nicht daran denken. Ich muss es nicht. Es ist vorbei, niemals geschehen. Irgendwann werde ich Potter dafür bezahlen lassen, das schwöre ich, doch erst wenn ich einen guten Vorwand habe. Diese verfluchte Neugierde, die sich schwerer ausrotten lässt als vollgetrunkene Kitzpurfel. Rumtreiber, Draufgänger, Regelbrecher, der glaubt Gebote gelten nur für andere. Genau wie sein Vater. Er und seine kleinen Freunde waren in Hogsmeade. In Hogsmeade, DORT. Einen Sack Flöhe zu hüten ist einfacher als auf diesen Bengel aufzupassen. Sagte, er sei aufgebrochen, mich zu beschützen. MICH. Kann es wahr sein? Kann es wahr sein, was Dumbledore immer sagte? Dass ich Potter im falschen Licht sehe? Ich kann diesen Gedanken nicht ertragen. Nicht ertragen, dich in ihm zu sehen. Und doch – ist es nicht genau das, was ich in den letzten Wochen begonnen habe, zu tun? Gegen meinen Willen, allem Wehren zum Trotz? Verflucht, ich beginne Gefühle für den Jungen zu entwickeln, die mehr zu Dumbledore passen als zu mir. Hätte ich doch nie Umbridges Büro betreten. Hätte ich nie gehört, wie Potter dem Werwolf und dem Köter erklärte, er hätte Mitleid mit mir. Hätte Dumbledore nie seine Finger in diese verfluchte Wunde gelegt. Ich hätte Potter einfach weiter hassen können und er mich und alles wäre in bester Ordnung gewesen. Aber so? Ich ertrage das alles nicht mehr. Ich ertrage mich nicht. Ihn anzusehen und nicht James Potter vor mir zu haben, sondern dein Kind, dem ich die Mutter raubte. Er sagte heute etwas, das mir noch immer durch die Adern kriecht wie ein zu starkes Elixier. Dass du nicht gewollt hättest, dass ich mich selbst so bestrafe. In all den Nächten, in denen ich deinen Geist beschworen habe, mich heimzusuchen, in denen auf die Knie sank, um dich um bis ans Ende meiner Tage um Vergebung anzuflehen, in denen ich dich packen und wieder ins Leben zerren wollte und doch nur Luft griff, ging mir seit Jahren nichts so nahe wie das. Ich zittere noch immer, wenn ich daran denke und die grünen Augen, die mich dabei ansahen. Deine Augen. Ach verdammt! Was nützt all dieses Gezeter! Gottdämliches Gejammer. Es ist eh vorbei. Und es ist besser so. Jedes Gefühl für mich und alles, was Potter herausgefunden hat, ist eine Gefahr für uns beide, solange der Dunkle Lord in seinem Geist lesen kann wie diesem Buch als der Lümmel es auffbrach. Er wird mich wieder hassen lernen. Dafür werde ich Sorge tragen zu seinem Schutz. Ich habe Dumbledore von dieser Nacht Bericht erstattet, von der Gedächtnislöschung. Aber nicht davon. Ich will nicht, dass er etwas davon erfährt. Er. Wie ich ihn kenne, würde er wollen, dass wir uns die Hände zur Versöhnung reichen. Ein Wahnsinn. Mitten in diesem verfluchten Krieg. Und ich war wahnsinnig genug, deinem Sohn zu versprechen, ihm irgendwann die Wahrheit zu sagen. Wer weiß, am Ende reichen wir uns vielleicht doch die Hände. Dann wenn alles vorbei ist, wenn der Dunkle Lord endlich zugrunde geht. Grundgütiger, ich kann nicht glauben, dass ich dies gerade tatsächlich geschrieben habe! Ich habe Potters Erinnerungen, werde sie verwahren. Es ist spät und mir fallen die Augen zu. Ich werde noch ein Gläschen Feuerwiskey trinken und zu Bett gehen. Dies ist der letzte Eintrag. Zur Sicherheit werde ich dieses Buch zerstören, damit es deinem Sohn nicht noch einmal in die Hände fällt und die Kiste wandert in mein Verlies nach Gringotts. Dann gibt es in Hogwarts keine Spuren meiner Vergangenheit mehr.
Gute Nacht, Severus Snape
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Kapitel: | 54 | |
Sätze: | 9.540 | |
Wörter: | 114.776 | |
Zeichen: | 685.302 |
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