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Kapitel: | 2 | |
Sätze: | 158 | |
Wörter: | 1.863 | |
Zeichen: | 10.629 |
Januar 1967, noch zu 100% lebendig
Der Dielenboden war schmutzig, die Vorhänge des Fensters zur schmalen Gasse zerschlissen. Schwarzer Qualm einer nahen Fabrik verdunkelte den Himmel, Gestank vom Fluss durchdrang jede Ritze. Am Boden kauerte ein kleiner Junge, die schwarzen Haare wild und ungewaschen, die Kleidung drei Nummern zu groß. Hinter ihm, im kaputten Sessel, saß ein Mann und las Zeitung. Vor ihm auf den Boden lag ein Stapel altes Papier und daneben - drei neue Buntstifte. Er hatte sie geschenkt bekommen, denn heute war sein Geburtstag.
Andere Kinder bekamen mehr zu ihrem Geburtstag geschenkt. Doch seine Familie hatte kein Geld. Den Jungen kümmerte es nicht. Er hatte lange schon gelernt, dass es ihn nicht zu kümmern hatte. Dass er sich darüber freuen musste, überhaupt etwas zu seinem Geburtstag zu bekommen. Und er versuchte es, auch wenn es ein bisschen weh tat, wenn er an die anderen Kinder dachte. Doch gerade dachte er nicht an sie.
Gerade war er damit beschäftigt, sich ein Flugzeug zu bauen. Eifrig falteten die kleinen Hände das alte, schmutzige Papier. Der Gedanke, einmal fliegen zu können, wirklich zu fliegen, trieb dem Jungen das Glitzern in die Augen, auch wenn es nur ein Traum war. Aber es war ein schöner Traum. Ein Traum davon, einfach auf einer Schaukel zu sitzen, hinunter zu springen, doch nicht zu fallen, sondern zu fliegen. Weit, weit weg zu fliegen in eine Welt, in der er in einem großen Schloss statt in einer kleinen Wohnung lebte, in der er Freunde hatte statt von anderen gehänselt zu werden, in der es Geburtstagskuchen und Spielzeug im Überfluss gab.
Der Mann im Sessel beachtete ihn nicht. Auch das war der Junge gewohnt. Könnte er doch nur zaubern, wie seine Mutter, dachte der Junge wehmütig, als er mit den neuen Buntstiften den Papierflieger liebevoll verzierte. Dann, ja dann könnte er sich diese ganze Welt einfach herzaubern. Das Schloss, die Freunde, das Spielzeug und vielleicht… vielleicht auch, dass der Mann im Sessel ihn endlich beachten würde. Eigentlich wünschte er sich das sogar am meisten – einmal, nur einmal wichtiger zu sein als die Zeitung. Doch er konnte ja nicht zaubern, dachte der Junge traurig und malte das Heck des Flugzeugs blau an.
Gerade hatte er den letzten weißen Fleck ausgelöscht, geschah plötzlich etwas sehr merkwürdiges. Der Papierflieger begann sich zu bewegen. Sofort zog der Junge seine Hand zurück. Und da sah er, wie die Flügel plötzlich zu flattern anfingen und das Flugzeug abhob. Mit offenem Mund schaute der Junge zu, wie es langsam in Richtung Decke hinauf schwebte. Er wusste nicht wie, er wusste nicht warum, doch er wusste instinktiv, dass er es war, der das Flugzeug zum Fliegen gebracht hatte. Dass es sein Wunsch, sein Wille gewesen war.
Ein strahlendes Lächeln trat auf das überraschte Gesicht, als die Erkenntnis sich festsetze. Er konnte doch zaubern! Er konnte tatsächlich zaubern! Genau wie seine Mutter! Jetzt würden all seine Träume wahr werden, all seine Wünsche! Er würde auf dem großen Schloss leben, er würde endlich Freunde finden, er würde Essen und Spielzeug im Überfluss haben. Und vor allem – vor allem würde der Mann im Sessel endlich beachten! Ihn endlich in den Arm nehmen, endlich sagen, dass er stolz wäre, ihn zu haben, endlich sagen, dass… dass er ihn liebte.
In der Erregung seiner Freude sprang der Junge auf.
Das Flugzeug machte einen Schlenker und flog auf den alten Sessel zu.
„Papa, Papa!“, rief der Junge euphorisch, „Papa, guck mal, ich kann zaubern!“
Hinter der Zeitung lugten für eine Sekunde zwei dunkle Augen hervor, starrten den Papierflieger an.
Und dann plötzlich - fuhr eine bleiche, haarige Männerhand durch die Luft. Mit brachialer Gewalt griff sie nach dem Flieger, packte ihn und zerknüllte ihn mitten in der Luft.
„NEEEEEEIN“, schrie der Junge entsetzt und Tränen schossen in seine Augen.
Er rannte zum Sessel, wollte die Hand noch wegschlagen, doch sie war schneller als er. Tatenlos musste er zusehen wie sein Flugzeug zerstört wurde. Dann erwischte ihn im Handgemenge ein Schlag. Der Stoß war so heftig, dass er zu Boden fiel und sich im Versuch, sich aufzufangen, auf den rauen Dielen die Hände blutig schürfte. Der Mann im Sessel sah ihn nicht. Seine Augen waren wieder hinter der Zeitung verschwunden. Der Junge blickte zu ihm auf. Noch immer glitzerten Tränen in seinen Augen.
„Papa?“ flüsterte er leise, verzweifelt.
Die Zeitung sank und zwei schwarze Augen blickten eisig auf ihn herab.
„Papa nennst du mich?!?“, sprach der schmale Mund, „ich habe keinen Sohn, der zaubern kann!“
Und das Gesicht verschwand wieder hinter der Zeitung.
10% der Seele eines Kindes waren gestorben.
Juni 1976, noch zu 90% lebendig
Der Flur lag in Dunkelheit. Mit pochendem Herz nahm der Junge die letzten Stufen der Treppe. Sein Puls raste. Er hatte viel riskiert. Er hatte sich raus geschlichen. Wenn Filch ihn erwischen würde! Wenn irgendwer unten im Gemeinschaftsraum davon erfahren würde! Er würde nachsitzen müssen. Er wäre das Gespött des ganzen Hauses Slytherin. Und wenn nicht sie, sondern Potter oder Black hinauskommen würden? Er mochte nicht gar nicht daran denken, was ihm dann blühen würde. Doch er konnte sich nicht davon aufhalten lassen. Er musste zu ihr. Alles in ihm drängt danach. Und wenn er vor dem Aufgang würde schlafen müssen, völlig egal!
Wie konnte es überhaupt nur so weit kommen? Was war nur in ihn gefahren! Dachte er an den frühen Nachmittag zurück, er hatte das Gefühl, eine Sekunde lang nicht mehr er selbst gewesen zu sein. Das war die einzige Erklärung. Ein fremdes Wesen musste von ihm Besitz ergriffen haben. Nie, nie hätte er sie so genannt. Das konnte nicht wahr sein! Gewiss, er nannte viele so. Das Wort lag ihm locker auf den Lippen, seitdem er in der Clique um Lucius Malfoy nach Anerkennung suchte. Menschen, die es nicht anders verdient hatten, bekamen es häufiger zu hören. Menschen, die Abschaum waren wie sein Vater. Sein Vater, der sich nie um ihn geschert hatte und damit bewies, was von seinesgleichen zu halten war.
Aber doch nicht sie! Sie, der wundervollste Mensch der Welt! Das Mädchen, das ihm nachts in seinen Träumen begegnete, das mit nur einem Lächeln einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in seiner Magengrube flattern lassen konnten. Sie, die mit der kleinsten Berührung einen Strom siedend heißes Wasser durch seine Adern goss, deren Haare im Sonnenlicht rot glühten, wie das Feuer, das in ihm aufloderte, wenn er nur einen flüchtigen Blick in ihre grünen Augen warf. Sie, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte, seitdem er sie zum ersten Mal vor sechs Jahren auf dem Spielplatz gesehen hatte. Sie, bei der er zum ersten Mal für einen Moment die Schimpftiraden in Spinner’s und alles andere vergessen konnte. Sie, deren Freundschaft ihm die Welt bedeutete.
Langsam näherte sich der Junge dem Bild mit der schlafenden Dame im altrosa Kleid. Ein mulmiges Gefühl ergriff ihn. Sie hatte den ganzen Tag lang kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Beim Abendessen in der großen Halle war sie an ihm vorbeigelaufen, ohne ihn zu beachten. Und sie hatten sich immer gegrüßt, immer! Seitdem sie sich kannten. Klamme Angst schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Was wenn sie… nein, das durfte er gar nicht denken. Er konnte es nicht ertragen. Er würde sterben ohne sie. Doch so weit würde er es nicht kommen lassen. Er würde sich tausend Mal entschuldigen. Er würde ihr erklären, dass er den Kopf verloren hatte. Das hatte er auch wirklich, so wütend, so gedemütigt, wie er war als er halbnackt in der Luft hing.
Plötzlich kam aus dem Schatten ein Mädchen um die Ecke. Für einen Moment wunderte der Junge sich, dass jemand aus Gryffindor so spät noch auf den Gängen war und auch sie schaute ihn skeptisch an.
„Was willst du denn hier? Gehörst du nicht nach Slytherin?“
Der Junge dachte nicht weiter nach, als er plötzlich seine Chance gekommen sah.
„Lil Lily Evans ich ich will sie sprechen. Severus will sie sprechen. Kannst du ihr das ausrichten?“, stotterte er während das Mädchen dem Porträt das Passwort zuraunte und mit einem finsteren Blick an im vorbeitrat.
„Und und sag ihr, ich schlafe hier, wenn sie nicht kommt. Ich meine es ernst, ich tu das wirklich!“, rief er ihr hinterher. Stille. Minutenlange Stille. Kaum auszuhalten. Seine Nerven waren gespannt wie Drahtseile, sein Herz schlug wie wild gegen seine Rippen.
Doch dann öffnete sich das Poträtloch von Neuem. Und da stand sie. Wunderschön wie immer - doch das Gesicht wütend und kalt. Dem Jungen sank das Herz.
„Es tut mir leid“, polterte er ungeschickt los.
Ein Zittern in der Stimme.
„Das interessiert mich nicht“, ihr Ton war eiskalt.
Schweiß trat auf seine Stirne…
Es tut mir leid!“
Seine Hände klitschnass!
„Spar dir deine Worte. Ich bin nur rausgekommen, weil Mary gesagt hat, du hättest gedroht, hier zu schlafen.“
Sein Gesicht glühte. Etwas schien seine Kehle zuschnüren zu wollen. Doch bloß nicht die Nerven verlieren!
„Das stimmt, das hätte ich getan. Ich wollte dich nie Schlammblut nennen, es ist einfach-“
„Rausgerutscht? Es ist zu spät. Seit Jahren entschuldige ich mich für dich. Keiner von meinen Freunden kann verstehen, warum ich überhaupt mit dir rede. Du und deine netten kleinen Todesserfreunde – siehst du, du streitest es nicht einmal ab! Du streitest nicht einmal ab, dass ihr das alle gerne wärt! Du kannst es kaum erwarten, bei Du-weißt-schon-wem mitzumachen, oder?“
Stocksteif! Ein Stich wie von unzähligen Nadeln und Daumenschrauben, die im angelegt wurden. Er öffnete den Mund. Er wollte etwas sagen. Doch er wusste nicht was. Ein Geschoss aus purer Wahrheit, die er selbst noch nicht erkannt hatte, hatte seine Zunge gelähmt.
„Ich kann mich nicht mehr verstellen. Du hast deinen Weg gewählt, ich den meinen-“
„Nein, hör zu, ich wollte dich nicht-“
Ein letzter verzweifelter Versuch, er durfte nicht zulassen, dass…
„- Schlammblut nennen? Aber du nennst jeden, der meine Herkunft hat, Schlammblut, Severus. Warum sollte es bei mir anders sein?“
Er öffnete den Mund. Er wusste, dass er es sagen musste. Jetzt oder nie. Alles, alles stand auf dem Spiel. Er würde sie verlieren! Das durfte nicht sein! Doch die Worte, die er sechs Jahre lange verschlossen hielt, weigerten sich, seinen zugeschnürten Mund zu verlassen.
Das Mädchen blickte ihn an. Nur einmal noch. Angewidert, geringschätzig. Dann wandte sie sich um und verschwand in die Dunkelheit hinter dem Porträtloch. Eine Dunkelheit so tief wie die Ewigkeit, aus der niemand mehr zurückkam. Der Junge starrte ihr fassungslos nach. „Weil ich dich liebe“ flüsterte er lautlos ins Nichts.
15% der Seele eines Jugendlichen waren gestorben.
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Kursivtext: J.K. Rowling, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, S. 683
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