Er wusste nicht, wann er das letzte Mal die Mittagssonne gesehen hatte. Er hatte sie untergehen gesehen. Er hatte sie aufgehen gesehen. Aber wann hatte er das letzte Mal unter ihrem wärmenden Strahlen gebadet?
Beschweren wollte er sich nicht, denn immerhin bedeutete es, dass er mehr und mehr Aufträge bekam und sein Team ihm die nötigen Informationen zur Ausführung flott beschaffte. Dennoch war auch er irgendwann erschöpft. Vor drei Monaten waren die meisten Aufträge noch relativ gleichmäßig verteilt gewesen. Jedes Land hatte seinen eigenen Assassinen Clan, der für jeden, der zahlen konnte, die Drecksarbeit erledigte. Es hatte nie einen berühmten oder besonders guten Assassinen gegeben. Jetzt auf einmal aber schien jeder seinen Namen zu kennen und in Ehrfurcht zu flüstern. Mit einem Mal wollte jeder ihn beauftragen. Man könnte meinen, er würde sich darüber freuen, was er zu einem gewissen Grad auch tat, doch viele Aufträge bargen auch die Gefahr schneller gefunden zu werden. Selbst wenn kein Land aktiv gegen die Assassinen Clans vorging, so war es klar, dass die Regierenden die Kontrolle über diese haben wollten und wenn sie diese nicht haben konnte, dann mussten die Assassinen verschwinden.
Bis jetzt waren er und sein Team der Regierung entkommen, doch mit den ansteigenden Aufträgen könnte sich das schnell ändern. Es war sowieso ein Wundern, dass die Regierung bis jetzt nichts unternommen hatte.
Die karge Außenwelt konnte mit der pompösen Inneneinrichtung des Versteckes nicht mithalten.
Das Königreich befand sich auf der Weltkarte irgendwo zwischen zwei großen Reichen – zwischen zwei Großmächte gequetscht kämpften sie um ihr Überleben. Ihr Königreich war zu stark, um in der Versenkung des Vergessens zu versinken, aber zu schwach, um sich einen eigenen Namen zu machen. Sie existierten einfach vor sich hin – auf jede gewonnene Schlacht folgte eine Niederlage. Ein trostloses Dasein.
In all den Jahren, in denen er in den Schatten gearbeitet hatte, hatte er alles in seiner machtstehende getan, um das Land zu beschützen und voran zu bringen. Einen Feind nach dem anderen hatte er geschwächt und ausgeschalten. Aber auch er war gegen die Großmächte machtlos.
Müde streifte er durch die endloserscheinenden, immer gleich aussehenden Gänge des Assassinenverstecks. Das Licht musste erneuert werden. Sein Clan hatte keinen Magier, der sich auf Lichtmagie verstand, weshalb sie oftmals in die Stadt mussten, um von der dortigen Gilde neue Leuchtkugeln zu kaufen beziehungsweise ihre alten aufladen zu lassen. Zum Glück hatten er und sein Team gute Beziehung zu der Gilde, weshalb sie relativ sicher an ihre benötigten Waren kamen.
Trotz ihres schier unendlichen und vielzählen Warensortiments, gab es etwas, dass die Gilde nicht bieten konnte: Sie konnte ihm nicht seine Einsamkeit nehmen.
Sein Zimmer war dunkel und kalt. Er erkannte es selbst nicht mehr. Tagsüber schlief er und nachts wanderte er durch die Häuser fremder Leute. Selbst mit seinem Team hatte er schon lange keine privaten Gespräche mehr geführt.
Ohne das Licht anzuschalten verschwand in seinem Zimmer in das angrenzende Bad. Weder hatte er die Zeit und noch die Energie, um sich mit irgendwas anderem, außer Schlafen, zu beschäftigen.
Die immer gleichen Gänge waren eine gute Repräsentation seines Lebens. Über die Jahre, hatte er gelernt die kleinen feinen Unterschiede zu erkennen, um zu wissen, wo er sich gerade befand, doch für Neulinge sowie Fremde war das hier das reinste Labyrinth. Eine gute Schutzmaßnahme.
Sein Leben kannte nur zwei Abläufe. Entweder wachte er im Assassinenversteck auf und frühstückte dort, damit er anschließen genug Energie hatte, um sich auf seine kommenden Missionen vorzubereiten, um dann zu eben jenen aufzubrechen. Oder er wachte in einem Versteck, das er sich während einer Mission gesucht hatte, auf.
In der Regel konnte er seine Aufträge schnell erledigen, weshalb er nur selten an einem anderen Ort schlafen musste.
Die Türen zu den Zimmern im Versteck waren mit einem magischen Mechanismus verschlossen. Um die Türen zu öffnen, musste man einen Code eingeben. Die Schlafräume der Angestellten waren mit deren individuellen Codes gesichert und niemand gab diesen raus – nicht an mal an Freunde oder Verwandte. Die anderen Bereiche hatten einen Code, der jeder, der dort arbeitete oder einen gewissen Rang erreicht hatte, erhielt. Auf diese Art und Weise wollte man sich vor Verrätern schützen. Einen absoluten Schutz vor diesen gab es zwar nie, aber irgendwie musste man anfangen und bisher hatte es zumindest in seinem Team nie derartige Probleme gegeben. Die meisten Spione hatten es sowieso eher auf die Gilde abgesehen.
Auch wenn er es nie geplant hatte, so war sein einst komplett leeres Zimmer doch etwas persönlicher geworden. Nicht viel, aber ein bisschen. Nichtsdestotrotz wirkte es noch immer fremd und kalt. Normalerweise störte ihn das nicht sonderlich, immerhin sah er es nur als einen Ort zum Schlafen und Arbeiten an und dafür reichte das Zimmer.
Doch seit kurzem belastete ihn diese Tatsache. Wenn immer er vor seiner verschlossenen Tür stand, wanderte sein Blick kurz zu der Tür nebenan. Einst hatte sie in das Zimmer seines Stellverstreters geführt – zwar tat sie dies immer noch, aber die Person hinter dem Titel „Stellvertreter“ hatte sich geändert. Er hatte keine Probleme mit seinem neuen Stellvertreter. Ganz im Gegenteil, er war sogar überzeugt, dass es aufgrund diesen überhaupt dazu kam, dass sein Team nun mehr Aufträge bekam, da er dadurch sein eigenes Verhalten geändert hatte. Früher hatte er sich immer Sorgen um sein Leben gemacht, da er der Anführer war und dieser konnte doch nicht auf einer Mission sterben. Als sein alter Stellvertreter sich entschieden hatte zu gehen, entschied er sich Änderungen durchzuführen. Es war nicht die Schuld des anderen, das er solange an seinem Vorgehen festgehalten hatte, aber er war der Auslöser für seine Entscheidung, sich zu ändern. Sein neuer Stellvertreter war eine gute Unterstützung für diese Änderung – das war ihm vorher schon klar gewesen, sonst hätte er ihn nicht ausgewählt, aber die Monate, die sich jetzt schon zusammen gearbeitete hatten, hatte ihn in seiner Annahme bestätigt.
Jedoch bedurfte es noch einiger Zeit, bis er all diese Veränderungen wirklich akzeptieren und los lassen konnte. Nach drei Jahren der Zusammenarbeit war es nicht leicht, jemanden los zu lassen und voran zu schreiten.
Nach einer langen und harten Mission in der kalten Nacht, gab es fast nichts Besseres als eine warme Dusche und anschließend ins kuschlig weiche Bett zu flüchten. Vielleicht war es kindlich sich daran zu erfreuen, aber es war eines der wenigen Dinge, die ihn nach einem langen Arbeitstag – oder Nacht – ohne große Anstrengung Freunde bereitete. Das Leben als Assassine war nicht leicht und es gab kaum Zeit für ein Privatleben und die wenigen Stunden die man hatte, konnte man in der Regel auch nicht sorgenfrei genießen, da man sich selbst nicht als Mitglied des Clans zu erkennen geben durfte.
Eine warme Dusche half ihm auch sich zu entspannen. Auch nach Jahren in seiner Position und vielen unterschiedlichen Aufträgen, war er am Ende immer verspannt. Zu beginnen waren die Verspannungen meistens von seiner Nervosität gekommen, aber inzwischen war es eher von seinen Aufträgen selbst. Das ständige Bücken, Verstecken, Herumkriechen und die nötige Wachsamkeit machten sich auf diese Art bemerkbar.
Während er sich duschte, bekam er das Gefühl für seinen ausgekühlten Körper zurück. Es gab keine Worte, die beschrieben, wie gut sich das anfühlte.
Das magische Gerät neben seiner Zimmertür war alt. Wann immer er den Code zum Öffnen eingab, konnte er in leises klacken hören. Die Knöpfe ließen sich nicht mehr richtig drücken.
Heute verlief die Eingabe des Codes ohne Problem. Die Tür öffnete sich leise und er trat in den dunklen Raum, der zum Vorschein kam.
Wie es sich für einen Assassinen, der durch die Nacht schlich, gehörte, war er von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet – mit Ausnahme seiner Maske, die die unter Hälfte seines Gesichts verdeckte. Beim Eintreten begann er gleich seine Kleidung auszuziehen. Es gab ihm ein gewisses Gefühl von Freiheit, endlich seine Arbeitskleidung auszuziehen – es bedeutete das Ende seines Arbeitstages.
Nach wenigen Schritten blieb er wie angewurzelt stehen, während die Tür hinter ihm sich schloss. Jemand war in seinem Zimmer! Bevor er aber eine weitere Reaktion zeigen konnte, bemerkte ihn die andere Person.
„Willkommen zurück, Kapitän.“
Kapitän, einer der vielen Anreden, die er hier besaß – Anführer, Boss und Kapitän. Er entspannte sich ein wenig.
„Bai Shu.“
„Genau der. Wie war die Mission?“
„Wie bist du hier rein gekommen?“
Unbeirrt fing er an sich weiter auszuziehen. Sein Bad würde er sich nicht entgehen lassen. Bai Shu schaltete derweilen das Licht an. Bei nächster Gelegenheit sollten sie die Lichtkugeln von den Magiern in der Gilde aufladen lassen. Das Licht in seinem Zimmer war kaum noch vorhanden – es reichte nur noch, damit sie einander sehen konnten.
„Ich habe den Code eingegeben.“
„Woher kennst du ihn? Und warum bist du überhaupt hier?“
„Ich bin dein Stellvertreter. Ich mach nur meinen Job.“
Was für eine nichtssagende Antwort. Die Stellvertreter vor Bai Shu kannten seinen Code nicht.
„Ist irgendwas während meiner Abwesenheit vorgefallen? Gibt es neue Aufträge?“
Er ließ sich nicht von dieser Antwort beirren und begab sich ins Bad, die Tür ließ er offen.
Bai Shu sah auf das kleine Gerät, auf dem alle Informationen zu ihren Aufträgen zu finden waren.
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