Zhong Mian stapfte wütend durch die dunklen Gassen. Was für ein scheiß Spiel! Was zur Hölle war nur mit Excellent Era los? Seit Jahren ging es schon eher bergab als bergauf, aber seit Anbeginn der Saison hatte sein Lieblingsteam nicht ein anständiges Spiel zustande gebracht. Das war doch zum Schreien! Immer mehr Fans schob die Schuld auf Ye Qiu, den Kapitän des Teams, aber Zhong Mian sah das Problem eher bei den anderen Teammitgliedern. Er war kein verblendeter Fan. Ihm war bewusst, dass Ye Qiu nicht mehr so gut war wie früher, doch deswegen war dieser noch lange nicht schlecht oder das Problem. Ganz im Gegenteil. Ye Qiu hatte eine sehr wichtige Position: Kapitän, Taktiker und Ass-Spieler. Welcher andere Spieler musste all die Positionen auf einmal ausfüllen? Der einzige, der dieser Rolle nahe kam, war Wang Jiexi – Kapitän, Taktiker und Ass-Spieler des Teams Tiny Herb. Nichtsdestotrotz würde Zhong Mian die beiden nicht auf eine Stufe stellen. Ye Qiu war zudem dreimaliger Champion! Sowas sorgte für zusätzlichen Druck. Ja, von allen Kapitänen hatte es Ye Qiu am schwersten. Und dann war sein Team auch noch so schlecht! Die heutige Niederlage kann nicht Ye Qius Verschulden gewesen sein. Su Mucheng hatte ihren individuellen Kampf grandios gewonnen, die anderen beiden Spieler aber hatten eine derart blamable Niederlage hingelegt, dass ihre Brillanz unterging. Die Gruppenarena war nicht besser verlaufen. Als Ye Qiu endlich an der Reihe war, hatte er noch drei Gegner zu besiegen. Geschafft hatte er zwei und den dritten konnte er zumindest auf die Hälfte der Lebenspunkte runterziehen. Wie konnte man da noch behaupten, dass Ye Qiu schlechter wurde? Wie konnte man ihm da die ganze Schuld in die Schuhe schieben?
Wütend trat Zhong Mian gegen eine Dose, die auf dem Gehweg lag. Er wollte jetzt nur noch nach Hause und schlafen – vielleicht war das auch alles nur ein schlechter Traum.
Da er in dieser Stadt aufgewachsen war, kannte Zhong Mian sich hier in der Gegend gut aus, weshalb er auch die ein oder anderen Abkürzung nach Hause kannte, die er auch nutzen wollte. Leider kam ihm wieder Mal was in den Weg. Gerade als er die kleine Gasse, die ein paar Meter laufen ersparen sollte, einbiegen wollte, hörte er mehrere aufgeregte Stimmen. Laute, aufgeregte Stimmen bedeuteten nichts Gutes. In der Regel standen sie für einen Streit und in diesen waren mehrere Personen involviert. Verständlicherweise hatte er keine Lust in den Streit anderer zu geraten. Sowas konnte leider auch mit einem Besuch im Krankenhaus enden und das war das letzte, das er jetzt noch wollte. Sein Tag war so schon beschießen genug! Murrend und leise fluchend lief er bis zum Ende der Straße – seine Abkürzung konnte er knicken. Wie das Leben nun einmal so war, fing es auch noch an zu regnen und natürlich hatte Zhong Mian keinen Regenschirm dabei. Konnte der Tag noch schlimmer werden? Er konnte nur hoffe, dass dem nicht so sein würde.
Um dem Regen und der steigenden Kälte schneller zu entkommen, fing er an zu rennen. Nach wenigen Metern musste er damit wieder aufhören, da ihm die Puste ausging. Vielleicht sollte er etwas weniger Zeit vor dem Computer verbringen und etwas mehr Zeit in einem Fitnessstudio investieren.
Für einen kurzen Moment musste er stehen bleiben und tief Luft holen. Diesen Augenblick nutzte er, um sich ein wenige umzusehen. Die Umgebung war ihm nicht unbekannt, aber er wollte wissen, wie weit es noch bis nach Hause oder zu einer Bushaltestelle war. Dazu musste er aber erst einmal genau wissen, wo er war. In seinem Kopf ging er die verschiedenen Möglichkeiten durch. Würde er weitere gerade ausgehen, würde er an einem Internet Café vorbeikommen, in dem er sich vor dem Wetter verstecken und auch ein wenig Glory zocken konnte. Würde er nach rechts gehen, würde er nach einem Fußweg von circa zwanzig Minuten an eine Bushaltestelle kommen, deren Bus ihn dann bis kurz vor seine Haustür bringen würde. Und der Nachhauseweg zu Fuß würde insgesamt eine halbe Stunde brauchen.
Das Internet Café schien ihm bei seinen Optionen am besten, weshalb er sich auch so gleich dorthin begeben wollte. Gerade als er den ersten Schritt machen wollte, blitzte etwas auf. Er hatte es nur ihm Augenwinkel wahrgenommen und wahrscheinlich hätte er es unter normalen Umständen einfach ignoriert, aber heute war kein normaler Tag – heute war ein ganz besonders beschießener Tag.
Er richtete sich auf. Wenn er noch länger im Regen stand, würde er sich noch eine saftige Erkältung holen und das wollte er auch mehreren Gründen vermeiden. Bevor er aber den ersten Schritt machen konnte, viel ihn wieder etwas Ungewöhnliches ins Auge. Im Moment stand er genau an dem Ort, an dem er rausgekommen wäre, wenn er zuvor die Abkürzung genommen hätte. Die Personen, die sich wohl hier vor kurzem gestritten hatten, waren nicht mehr da und er sah auch niemanden in der Nähe.
Hatte einer von ihnen hier etwas verloren? Oder bildete er sich das alles nur ein? Vielleicht war es einfach nur das Licht der Straßenlampen, das im Regen gespielt wurde? War das überhaupt möglich? Von solchen Dingen hatte er keine Ahnung.
Um seinen Verstand zu beruhigen, sah Zhong Mian an die Stelle, die ihm verdächtig vorkam, genauer an. Nahe eines Müllcontainers auf dem Boden in einer Pfütze lag eine auffällig designte Karte – anderen wäre das wahrscheinlich nicht aufgefallen, aber ihm als langjährigen Gloryspieler und Fan stach das Design einer ersten Generationenspielkarte sofort ins Auge. Auch wenn er selbst keine besaß, hatte er oft genug die Karten alter Spieler gesehen – viele der Accounts in der professionellen Gloryliga waren auf Karten, die es bei der Eröffnung des ersten Servers gab, gespeichert. Im Internet konnte man sich auch solche Karten kaufen, wenn man das nötige Geld dazu hatte – was auf die wenigstens zu traf. Nur ein paar Reiche oder verrückte Sammler konnten sich sowas leisten beziehungsweise waren überhaupt bereit so viel zu zahlen. Er war weder reich noch ein Sammler – er war einfach nur ein Ye Qiu Fanboy!
Schnell hob er die Karte, in der Hoffnung, dass sie nicht allzu sehr beschädigt war, auf. Mit einem Taschentuch trocknete er die Karte ab und steckte sie anschließend in seine Jackentasche. Erst dann lief er endlich zum Internet Café.
Das Internet Café war recht geräumig. Im Moment war nicht viel los, was vermutlich daran lag, dass viele Bewohner der Stadt Fans des heimischen eSportteams Excellent Era waren und von der heutigen Niederlage so verärgert und bedrückt waren, dass sie keine Lust hatten noch eine Runde Glory zu spielen – natürlich gab es auch solche, die jetzt erst recht spielten, um ihren Frust freien Lauf zu lassen. Man konnte sagen, dass Zhong Mian zu dieser Gruppe gehörte.
Nachdem er einem Computer zugewiesen wurde, begab er sich schnell dort hin und holte die zuvor eingesteckte Karte aus seiner Jackentasche.
Anders als bei anderen Onlinespielen, bei denen es eines Nutzernamens und seines Passworts bedurfte, musste man sich bei Glory mit einer Karte, die man in ein spezielles Lesegerät steckte, anmelden. Eine verlorene Karte konnte man bei der Spielefirma melden, welche diese dann blockierten und somit nicht mehr genutzt werden konnte. Zhong Mian selbst hatte damit keine Erfahrung gemacht, daher wusste er weder, wie oft sowas wirklich vorkam oder ob es wirklich etwas brachte. Einem musste ja erst einmal auffallen, dass man seine Karte verloren hatte – bis dahin war vielleicht schon alles an Equipment und Geld gestohlen.
Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht wirklich. Bedenken, ja. Aber nicht mehr. Ihm war bewusst, dass er nicht einfach in den Account einer anderen Person einloggen sollte. Jeder Spieler investierte viel Zeit und manchmal auch Geld in den jeweiligen Account. Es wäre nur fair den Fund der Karte zu melden und einfach seines Weges zu gehen. Jetzt hatte er die Karte aber schon aufgehoben und mitgenommen. So ein kurzer Blick würde doch niemanden schaden. Er könnte vielleicht über die Freundesliste des Account die Freunde des richtigen Besitzers auf den Verlust hinweisen und dann könnte dieser hier vorbei kommen und die Karte abholen. Er hatte nichts Böses vor, er wollte nur ein bisschen gucken!
Vielleicht hatte er doch ein schlechtes Gewissen. Unruhig sah er sich um. Die Plätze neben ihm waren frei und es lief in seiner Nähe auch keine andere Person herum – niemand würde sehen, wenn er die Karte nutzen würde.
Tief durchgeatmet überwand er seine Bedenken – sein Gewissen – und steckte die Karte in das Lesegerät und wartete bis der Ladebildschirm anzeigte, dass er los legen konnte. Sobald man sich in das Spiel einloggte kam man zu aller erst in die Übersicht des Accounts. Dort konnte man den Charakter selbst sehen, dessen Ausrüstung, Name, Level und noch paar Dinge mehr. Und genau diese Informationen, die er nun vor sich sah, raubten ihm jetzt den Atem!
Als er den in schwarz gekleideten Battle Mage sah, dachte er sich noch nicht viel dabei – auch wenn dieser dem berühmten „Battle God“ One Autumn Leaf zum Verwechseln ähnlich sah. Viele Fans eiferten ihren Idolen nach und da war es nicht ungewöhnlich, dass es welche gab, die ihren Account des einen professionellen Spielers nachempfand. Was ihn stutzige machte war der Name: One Autumn Leaf. In Glory war jeder Account an einen Server gebunden und auf einem Sever konnte es einen Namen nur einmal geben. Natürlich gab es auch Fans, die versuchten einen ähnlichen Namen, wie ihr Idol zu bekommen, aber dass der Name identisch war, war seines Wissens nach, noch nie vorgekommen. Bevor der dritte Server geöffnet worden war, gab es zwar schon ein paar berühmte Accounts, aber noch nicht zu so einem Grad, dass man deren Namen haben wollte. Als die erste Saison der Glory Liga losging, wurden die Namen der professionellen Accounts für alle Server gesperrt. Selbst wenn jetzt jemand in einem anderen Server, als dem ersten Server, versuchte den Namen „One Autumn Leaf“ zu bekommen, konnte er dies schlicht nicht. Das System verweigerte den Namen. Und doch sah er jetzt einen Account vor sich mit dem Namen „One Autumn Leaf“. Das konnte nur eines bedeuten, das hier war der echte One Autumn Leaf!
Um sich zu versichern, sah er schnell nach auf welchen Server er war: Erster! Das hieß, das hier war der einzig wahre „Battle God“! Das hieß, dass er den Account seiner großen Idols Ye Qiu in den Händen hielt – oder gehalten hatte, im Moment befand sich die Karte im Lesegerät. Es kostete ihn seine gesamte Selbstkontrolle nicht aufzuschreien und herum zu tanzen. Mit einem kräftigen Zwicken in den Oberarm versuchte sich zudem zu vergewissern, dass er nicht träumte. Der Schmerz war echt. Kein Traum! Ruhig einatmen; ruhig ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Er durfte jetzt auf keinen Fall durchdrehen! Ganz im Gegenteil er musste jetzt die Ruhe bewahren und Ye Qiu beziehungsweise Excellent Era informieren. Nur wie?
Excellent Era war nicht weit weg, aber wie würde es auf die Angestellten dort wirken, wenn er plötzlich da stand und behauptete, One Autumn Leafs Accountkarte gefunden zu haben? Was wenn sie ihm nicht glaubten oder dachten, er hätte die Karte gestohlen? Gab es vielleicht einen Briefkasten, in den er die Karte werfen konnte? Auf diese Art und Weise konnte man ihn nicht des Diebstahls beschuldigen – außer es gab Kameras, die ihn filmten. Das war doch zum Verrücktwerden! Brachte er die Karte persönlich vorbei, konnte er vielleicht Ye Qiu selbst treffen und dieser könnte ihn auch von etwaigen Beschuldigungen freisprechen, nicht wahr? Ja, das klang logisch.
Bevor er aber überstürzt aus dem Internet Café rasen konnte, beschlich ihn allmählich ein weiterer Gedanke. Er hatte One Autumn Leaf genau dort gefunden, wo sich kurz zuvor eine Gruppe von Männern gestritten hatte. Hieß das, dass Ye Qiu eine Auseinandersetzung mit jemanden gehabt hatte? Aber mit wem? Fans? Nein, es gab niemanden außerhalb der Allianz, der Ye Qius Gesicht kannte. Natürlich konnte es auch sein, dass er mit aufgewühlten Fans in Kontakt gekommen war und diese ihn, ohne zu wissen wer er war, angegangen waren. Aber wie wahrscheinlich war das schon? Auf der anderen Seite, wer hätte es sonst sein sollen? Etwa seine eigenen Teamkollegen? So ein Blödsinn!
War es überhaupt relevant mit dem Ye Qiu da aneinander geraten war? Vielleicht war es auch gar nicht Ye Qiu gewesen. Genauso gut hätte es ja sein können, dass Ye Qiu nur seine Karte dort verloren hatte – manchmal fiel einem nun mal etwas unbemerkt aus der Tasche.
Eine Welle von verschiedensten Emotionen brach über Zhong Mian herein, während er versuchte die Realität zu verstehen und zu akzeptieren. Es war erstaunlich, wie lange er sich jetzt schon unter Kontrolle hatte, doch er merkte, wie er diese nicht mehr lange aufrechterhalten konnte. Ohne großartige nachzudenken zog er die Karte aus dem Lesegerät und sperrte den Bildschirm. Mit schnellen Schritte begab er sich auf die Toilette. Nicht weil er so dringen musste, sondern weil er zum einen Bewegung brauchte und der Gang zur Toilette erschien ihm die beste Möglichkeit ohne Aufmerksamkeit zu erregen dazu – außerdem war man dort mehr oder weniger für sich und musste sich keine Gedanken machen, wie dämlich man gerade in die Luft starrte.
Wenn er ehrlich war, gab es nur eine Option die richtig war: Die Karte zurück bringen.
One Autumn Leaf war Excellent Eras bester Account und Ye Qiu ihr bester Spieler. Sollte er One Autumn Leaf nicht zurückbringen, dann würde das bedeuten, dass im nächsten Wettkampf Ye Qiu nicht antreten konnte und das wiederherum bedeutete, dass das Team definitiv verlieren würde! Dabei konnte sich das Team keine weiteren Niederlagen mehr leisten! Für ihn als Ye Qiu Fan war es zwar sowieso klar, dass er die Karte zurückgab, aber wie sollte er das anstellen? Er hatte keine Lust des Diebstahls beschuldigt zu werden und was wenn man ihn nicht glaubte?
In diesem Moment kam ihm eine brillante Idee: Jeder Account konnte sich mit anderen Accounts anfreunden. Folglich gab es eine Freundesliste und Ye Qiu hatte doch sicherlich die anderen Excellent Era Accounts als Freunde. Wenn sich also in den Account einloggte könnte er beispielsweise Dancing Rain, Su Muchengs Account und Ye Qius bester Kampfpartner, anschreiben und sie darüber informieren, dass One Autumn Leaf auf der Straße gefunden worden war und sie oder Ye Qiu die Karte im Internet Café abholen konnte. Anschließen könnte er die Karte an der Rezeption abgeben und sagen, dass er die Karte an einem der freien Plätze gefunden hat.
Vielleicht machte er sich ein wenig zu viele Gedanken, aber was sollte man in seiner Situation bitte machen? Er war überfordert!
Etwas ruhiger begab er sich an seinen Platz zurück. Jetzt da er einen Plan hatte, fühlte er sich sicherer. Vorsichtig steckte er One Autumn Leafs Accountkarte in das Lesegerät und wartete darauf, dass Glory fertig geladen war.
Auch wenn er sich beruhigt hatte, war er immer noch nervös. Wie sollte er Su Mucheng anschreiben? Sollte er die Situation lang und bereit erklären oder nur kurz und knapp darauf hinweisen, dass One Autumn Leafs Karte, in seiner Erzählung, in einem Internet Café gefunden worden war?
One Autumn Leafs emotionsloses Gesicht starrte ihn mit einem Mal schweigend an. Er starrte schweigend zurück. Die Stunde der Wahrheit war gekommen, wenn man so wollte.
Geschickt klickte er auf die Freundesliste und suchte nach Dancing Rains Namen.
Während er gedankenversunken durch die Liste scrollte, bemerkte er nicht, wie jemand hinter ihm zu stehen kam und beobachtete. In so einer Situation unaufmerksam zu sein war nicht ratsam, daher konnte Zhong Mian froh sein, dass die andere Person wohl kein Interesse daran hatte, irgendwas zu sagen. Vielleicht kannte der andere One Autumn Leaf auch nicht oder sah nicht, dass es sich um einen berühmten Account handelte. Oder die andere Person hatte sowas wie einen Verstand und wusste, dass es nichts ratsam war, einen Aufruhr zu starten.
„Es gehört sich nicht mit den Accounts anderer zu spielen.“
Zhong Mians Herz rutschte ihm in die Hose und er drehte sich langsam mit vor Schreck geweiteten Augen um.
„Ähm… ja… ich… also…“, stammelte er vor sich hin.
Er hatte eine Erklärung, er musste sie nur rausbringen!
Schweigend starrten sich die beide an und musterten sich von oben bis unten. Der Fremde war im Anzug und wirkte auf Zhong Mian nicht wie der typische Besucher – vor allem nicht um diese Uhrzeit. Ein Geschäftsmann, der den letzten Zug verpasst hatte oder etwas Dringendes erledigen musste und selbst keinen Computer oder Laptop hatte? Klang ein wenig unglaubwürdig, aber vor dem heutigen Tag hätte er es auch nicht für möglich gehalten, One Autumn Leaf auf der Straße zu finden.
„Und du bist wer?“, fragte Zhong Mian, nachdem er nicht nur seinen Mut, sondern auch sein Vokabular wiedergefunden hatte.
„Ye Qiu.“
Eine simple Antwort. Ein simpler Name. So viel Bedeutung.
„Natürlich.“
So sehr er Ye Qiu auch treffen wollte, in der jetzigen Lage sollte er ganz besonders vorsichtig sein. Jeder konnte einfach behaupten Ye Qiu zu sein. Als Ye Qiu Fan konnte er es nicht verantworten, dass irgendwer One Autumn Leaf in die Hände bekam! Bevor er aber irgendwas sagen konnte, hielt ihn sein Gegenüber eine Karte, die sich als Personalausweise herausstellte, entgegen.
Der Name und das Geburtsdatum stimmten mit den allgemeinen Information überein, aber konnte er darauf vertrauen, dass es sich hierbei um einen echten Personalausweis handelte? Andererseits, wieso sollte jemand mit einem gefälschten Ausweis herum rennen und sich als Ye Qiu ausgeben? Wenn man sowas machte, dann doch nur für einen bestimmten Zweck und nicht, um vielleicht irgendwann sich als Ye Qiu auszugeben. Außerdem hätte man doch sicherlich schon davon gehört, wenn sich jemand als Ye Qiu ausgab. Sollte er es vielleicht mit Fragen versuchen, die nur Ye Qiu beantworten konnte? Nein, das würde nicht funktionieren, immerhin kannte Zhong Mian auch nur das, was man im Internet fand und ob das korrekt war, war fraglich. In einem Anflug von Genialität kam ihm der Gedanke, dass er Ye Qiu auch eine Frage zu One Autumn Leaf stellen konnte. Ye Qiu sollte die Stats seines Accounts doch wissen und auch wenn Zhong Mian sie nicht kannte, so konnte er diese nachschauen. Zufrieden mit einem Gedanken, sah Zhong Mian auf – sein Blick war die ganze Zeit über auf den Ausweis in seinen Händen gerichtet gewesen – und gab dem Ye Qiu vor sich dessen Ausweis zurück. Kaum hatte dieser die Karte entgegen genommen, ergriff er das Wort.
„Wenn Zweifel bestehen, kann ich auch jemanden für mich bürgen lassen. Wie wäre es? Wäre Su Mucheng ausreichend um meine Identität zu bestätigen?“
Dieser Vorschlag riss Zhong Mian aus seinem Konzept und gab ihm das Gefühl, dass der andere doch der wahre Ye Qiu war. Wenn es ein Hochstapler wäre, dann würde er doch nicht so einen Vorschlag machen, immerhin musste man doch damit rechnen, dass der andere den Vorschlag annahm.
„Einverstanden!“
Vollkommen ruhig und ohne unnötige Hast, setzte sich Ye Qiu an den ihm zugeteilten Computer, der sich praktischerweise genau neben Zhong Mians befand, und loggte sich ein. Sobald der Computer nutzbar war, loggte er sich in einen QQ-Account ein und schrieb eine kurze Nachricht an Su Mucheng. Ihr QQ Name war nicht Su Mucheng, sondern Dancing Rain, aber das interessierte niemand. Es kam nur darauf an, ob sie sich zurück meldete und mit einem Videochat bestätigte, dass es sich bei der anderen Person wirklich um Ye Qiu handelte.
Zhong Mian hegte noch ein paar Zweifel. Erst jetzt kam ihn der Gedanke, dass Su Mucheng wahrscheinlich gar nicht antworten würde. Nach dem Wettkampf war sie sicherlich nicht mehr bereit sich mit anderen auszutauschen. Außerdem war es schon sehr spät. Er kannte natürlich nicht die internen Prozesse der Teams nach einem Spiel, aber jeder wusste, dass es nachdem Spiel noch eine Pressekonferenz gab und erst nach dieser begaben sich die Spieler zurück in ihr Hotel oder dem Klubhaus. Wahrscheinlich gingen die meisten Spieler dann gleich ins Bett.
Zum Glück hatte er noch immer One Autumn Leaf und im Fall der Fälle könnte er noch immer Fragen zu diesem stellen.
Wie erwartet dauerte es einige Zeit bis Ye Qiu eine Rückmeldung bekam. Nun, Zhong Mian hatte eher erwartet, dass sich niemand meldete, aber es erschien ihm auch logisch, dass Su Mucheng sich mit großer Verzögerung melden würde, wenn sie sich melden würde. Egal wie neugierig er war, hielt er einen angemessenen Abstand zu Ye Qius Bildschirm. Während sie auf Su Muchengs Antwort warteten, hatte sich Ye Qiu noch um ein paar andere Angelehnten gekümmert, die Zhong Mian nichts angingen.
Erst als Ye Qiu ihm Bescheid gab, dass Su Mucheng sich gemeldet hatte und für ein Videotelefonat bereit war, rückte er näher an den anderen heran. Jeder Computer war standardmäßig mit einem Headset ausgestattet. Zhong Mian nahm das Headset an sich und setzte es auf, immerhin war er es, der sich mit Su Mucheng unterhalten wollte. Kurz darauf nahm er den eingehenden Anruf entgegen. Gedanklich hatte er so viel zu sagen, aber als Su Muchengs Gesicht zu sehen war, blieben ihm alle Worte im Hals stecken. Es war wirklich Su Mucheng! Und das bedeutete, dass der Mann neben ihm wirklich Ye Qiu war! Sein Idol! Sein Gott!
Das Gespräch mit Su Mucheng war kurz. Sie war müde und das verlorene Spiel vor wenigen Stunden setzte ihr sicherlich auch noch zu. So gerne er auch mit ihr noch etwas länger hätte reden wollen, so gut verstand er auch, dass es dafür gerade nicht der beste Zeitpunkt war, außerdem saß noch immer Ye Qiu neben ihn und er hatte noch immer One Autumn Lead in seinem Besitz. Die Situation erschien ihm mit einem mal noch surrealer als sie noch vor wenigen Minuten war.
Ye Qiu schwieg und sah ihn lediglich wartend an. Auch wenn er One Autumn Leaf gerne wieder zurück haben wollte, so wollte er den anderen, der wohl ein Fan war, nicht drängen. Ein positives Image musste aufrechterhalten werden – egal wie sein Bruder dazu stand. Ye Xiu hatte sich noch nie für sein öffentliches Erscheinungsbild interessiert, aber Ye Qiu interessierte sich umso mehr dafür – vielleicht auch weil Ye Xiu seinen Namen verwendete und er auch nicht dafür verantwortlich sein wollte, dass Ye Xius Ansehen bei dessen Fans sank.
„Ich hab die Karte auf der Straße gefunden. Ich wollte sie zurückgeben! Wirklich!“; erklärte Zhong Mian mit einem Mal.
Er wollte nicht schlecht vor seinem Idol dastehen.
„Ich weiß, sonst würden wir wohl schon lange nicht mehr hier sitzen.“
Ein Stein fiel Zhong Mian vom Herzen.
„Kann ich ein Autogramm haben?“
Man musste die Gunst der Stunde nutzen!
„Sicher.“
„Und kann ich noch ein wenig mit One Autumn Lead spielen?“
Wurde er jetzt unverschämt? Hoffentlich nahm ihm Ye Qiu seine Fragen nicht übel.
„Ein wenig. Ich muss leider bald wieder los.“
Ye Qiu war so unglaublich nett! In Zhong Mians Augen stieg Ye Qius Ansehen noch weiter und egal was all die anderen Fans über ihr Idol sagten, niemand konnte Ye Qiu toppen. Leider wäre er nie in der Lage den heutigen Tag mit anderen zu teilen – man würde ihn sowieso nicht glauben.
Im Nachhinein war dieser Tag der wohl aufregendste seines Lebens. Als er am heutigen Morgen aufgestanden war, war er voller Energie gewesen und hatte sich auf das anstehende Spiel gefreut nur um all seine Energie und Freunde aus sich heraus geprügelt zu bekommen, weil sein Lieblingsteam in Grund und Boden gestampft wurde. Und wenn er dachte, es könnte nicht schlimmer werden, fing es an zu Regnen. Wäre hätte an so einem Tag, nach so einem frustrierenden Erlebnis, noch gedacht, dass es ein gutes Ende geben würde? Zhong Mian jedenfalls nicht. Nicht nur hatte er One Autumn Leaf gefunden und nun die Möglichkeit mit diesem ein wenig durch die Glory Welt zu wandern, sondern er traf auch noch seinen Lieblingsspieler und erhielt dessen Autogramm. Egal wie sehr ihn die heutige Niederlage mitgenommen hatte, für ihn war dieser Tag mit diesem einen Ereignis zum Besten seines bisherigen Lebens geworden – es war so einfach einen Fanboy glücklich zu machen.
Was Zhong Mian nie erfahren würde, war die für ihn wohl traurige Tatsache, dass der Ye Qiu nicht der Ye Qiu war für den er diesen hielt. Aber wer dachte schon auch daran, dass sein Idol einen identischen Zwillingsbruder hatte und dieser ausgerechnet an diesem Tag an diesem Ort zu dieser Uhrzeit auftauchen würde und dann auch noch mitbekam, wie der Account seines Bruders von einer fremden Person benutzt wurde? Niemand! Absolut niemand.
Wenn Ye Qiu das Internet Café verließ begab er sich ohne Umwege zum Excellent Era Gebäude, an dem er sich mit Ye Xiu traf – ein Versuch Ye Xiu nach Hause zu bekommen in dem er One Autumn Leafs Accountkarte als Geisel nahm schlug fehl.
Wenn Zhong Mian das Internet Café verließ, begab er sich fast schon hüpfend nach Hause. Seine Schritten waren leicht, ein breites Lächeln im Gesicht.
Feedback
Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!