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An einem kühlen Sonntagabend standen die Geschwister Su Muqiu und Su Mucheng mit ihrem Mitbewohner Ye Xiu vor der Haustür einer ansehnlichen Villa in einem der wohlhabenderen Viertel der Stadt H. Für die Su-Geschwister war es das erste Mal, dass sie zu Gast bei einer wohlhabenden Familie sein würden. Entsprechend waren sie aufgeregt.
Mucheng hatte sich extra für diesen Abend neue Klamotten gekauft, ein schönes, schlichtes fliederfarbenes, trägerloses Kleid, das ihr knapp über die Knie ging, dazu ein weißes Jäckchen aus feinem Stoff und neue Schuhe sowie eine neue kleine Handtasche, beide aus einem ähnlichen, weißen Lederimitat. Für dieses Outfit hatte sie ihren Kleiderschrank ausgemistet und vieles bei einem Second-Hand-Shop verkauft. Es waren sogar neue Sachen unter denen, die sie verkauft hatte, dabei gewesen. Etwa ein Kleid, das Muqiu ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Muchengs Bruder schien damals vergessen zu haben, dass seine Schwester keine acht Jahre mehr alt war, sondern inzwischen 13. Sie stand nicht mehr auf Blümchenmuster und Rüschen und obenrum war sie auch nicht mehr so flach als dass sich Kinderkleider gut tragen ließen. Muqiu schien auch immer noch nicht ganz verstanden zu haben, dass seine kleine Schwester dabei war, eine Frau zu werden. Dass sie nun ein trägerloses Kleid und Make-up trug gefiel ihm auch nicht, aber als er das geäußert hatte, waren sie schon so spät dran gewesen, dass Mucheng ohnehin die Zeit gefehlt hätte, um sich wieder abzuschminken oder umzuziehen.
Das jedoch sorgte auch dafür, dass Muqiu sich sorgte, wie die Hausbesitzer auf Mucheng reagieren würden. Würden sie es angesichts ihres jungen Alters so unangemessen finden wie er? Oder würden sie sie gleich wie eine Erwachsene behandeln? In letzterem Fall musste er wirklich einen guten Eindruck hinterlassen, als Muchengs kompetenter Vormund auftreten. Das setzte ihn etwas unter Druck, er wollte keinen Fehler machen. Der einzige Trost in der Hinsicht war, dass er sich keine Sorgen machen musste, dass seine eigene Kleidung negativ ankommen würde. Bei Hemd und Anzug konnte man nicht viel falsch machen, oder?
Neben den beiden stand dann noch Xiu. Der Schwarzhaarige wirkte so entspannt, als würde er einen alltäglichen Einkauf erledigen. Und genauso gelangweilt wie er immer war, wenn er einmal mit Muqiu die Lebensmittel einkaufen gehen musste, wirkte er auch nun.
„Kannst du nicht ein bisschen motivierter und freundlicher schauen?“, wendete Mucheng aich an Xiu, als sie auf die Klingel an der Haustür drückte.
„Und zieh endlich deine kaputte Jacke aus. Wieso hast du die überhaupt angezogen? Hättest du nicht auch eine Anzugjacke nehmen können? Du hättest ja nicht extra eine kaufen müssen. Leihen geht auch. Du kennst ja viele Männer“, fügte Mucheng gleich an.
Xiu hob zur Antwort seine Mundwinkel zu einem gestellten Lächeln und zog tatsächlich gleich noch vor der Haustüre seine Jacke aus. Darunter trug er ein feines, weißes Hemd und eine schwarze Stoffhose.
„Wozu denn? Ist doch nur ein Abendessen im familiären Umfeld“, entgegnete Xiu.
„Ein Abendessen bei der Familie meines festen Freundes! Du siehst doch, wie groß das Grundstück ist, wie viel Geld die haben. Da kann man nicht einfach nur ein Hemd anziehen und das war es! Die sollen nicht gleich merken, wie arm wir sind, sonst lassen die mich und Fang Liwei sicher nicht zusammen sein!“, argumentiere das Mädchen.
Xiu lachte und erntete dafür nicht nur von Mucheng einen zornigen Blick.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte auch Muqiu.
„Genau. Ich meine es todernst. Ihr dürft diesen Abend nicht ruinieren“, stimmte Mucheng zu.
„Hä? Das ist gar nicht das, was ich meine, Mu Mu. Du willst die Familie deines Freundes belügen. Das geht doch nicht gut, wenn wir vorspielen sollen, nicht ganz so arm zu sein. Das ist nicht zu lachen, weil wir die gar nicht glauben lassen können, auch nur Durchschnittsverdiener zu sein“, widersprach Muqiu.
„Daran hättest du mal früher denken sollen, Su Muqiu! Wer hat sich denn so einen miesen, unsicheren Job gesucht? Oder glaubtest du, ich würde nie einen Freund finden? Ist ja nicht überraschend, dass ich, wenn ich einen festen Freund habe, meinen künftigen Schwiegereltern nicht sagen möchte, dass mein Bruder durch’s Zocken Geld verdient“, entgegnete Mucheng.
„So schlimm ist das doch gar nicht. All die letzten Jahre störte dich das auch nicht“, sprach Muqiu.
„Jetzt aber schon“, kam es prompt von Mucheng zurück.
„He, seid nicht so laut, da kommt jemand“, sagte Xiu und nickte zur Haustür.
Die Haustür besaß einen Einsatz aus satiniertem Glas, durch das sich erkennen ließ, dass sich aus dem Hausinneren eine Gestalt der Haustür näherte.
Mucheng und Muqiu brachen daraufhin ihr Gespräch ab. Mucheng richtete noch einmal ihr Haar, obwohl es bei ihrer aufwendigen Flechtfrisur, kein loses Haar gab, das sie hätte richten können.
Dann ging auch schon die Tür auf und ein Junge so groß wie Muqiu erschein vor den Drein.
Muchengs Gesicht wurde sofort rot.
„Hi Fang Liwei“, sagte sie schwärmend.
„Hallo Mucheng“, grüßte der Angesprochene zurück, bevor er sich schließlich mit Blick zu Muqiu und Xiu verneigte. „Guten Abend. Ich bin Fang Liwei, freut mich, euch kennen zu lernen.“
Auch Muqiu und Xiu erwiderten den Gruß mit einer angedeuteten Verneigung.
„Su Muqiu, Su Muchengs älterer Bruder.“
„Ye … Qiu, Mitbewohner“, stellte sich nach Muqiu auch Xiu zögernd vor, wobei er allerdings den Namen seines Bruders benutzte.
„Ye Qiu? Oh, da muss ich Mucheng immer falsch verstanden haben, ich dachte, du heißt Ye Xiu“, kommentierte Liwei.
Xiu sah zu Mucheng, die ihm einen unzufriedenen Blick zuwarf.
Er hatte beschlossen, sich mit dem Namen seines Bruders vorzustellen, dessen Ausweis er noch benutzte, doch scheinbar hatte Mucheng Liwei schon seinen richtigen Namen genannt.
„Äh, nein, Ye Xiu ist schon richtig. Ich … hatte gerade nur einen Frosch im Hals“, erklärte Xiu und räusperte sich. „Ah, jetzt ist es schon besser!“
„Also kommt doch bitte rein. Meine Eltern warten schon im Esszimmer“, sprach Liwei schließlich und trat zur Seite.
Einer nach dem anderen traten die Gäste in das Haus, dann schloss Liwei die Tür wieder.
„Darf ich euch die Jacken abnehmen?“, fragte Liwei daraufhin.
Xiu reichte seine Jacke sogleich dem etwas Jüngeren.
„Danke, aber ich lass mein Jäckchen lieber an, das ist ja eh nur ganz dünn“, sprach Mucheng.
Muqiu sah einmal zwischen Xiu, Liwei und Mucheng hin und her. Er glaubte, dass es ihm bald mit der Anzugjacke im Haus zu warm werden würde und Xiu und Liwei trugen auch nur je ein Hemd, doch andererseits hatte Mucheng deutlich gemacht, dass es in ihren Augen angemessener war, nicht nur ein Hemd zu tragen.
„Ähm, ich lass es auch an“, entschied er schließlich.
Liwei hing Xius Jacke auf einen Kleiderbügel neben einigen Jacken, unter denen Xius Jacke wirklich fehl am Platz wirkte.
Danach führte er die Gäste in das Esszimmer. Es war groß. So groß wie das Wohn-, zugleich Esszimmer und die Küche in der Wohnung der Su-Geschwister. Der Tisch war bereits mit vielen verschiedenen Speisen gedeckt und als die Vier den Raum betraten, erhoben sich die beiden Erwachsenen, Liweis Eltern.
Muchengs erster Blick galt der Kleidung der Beiden. Liweis Vater trug einen Anzug, die Mutter eine hübsche geblümte Bluse und einen eleganten Rock. Es war auf jeden Fall gut gewesen, dass Mucheng sich neue Klamotten besorgt hatte. Sie war überzeugt, nicht zu wenig und nicht zu übertrieben herausgeputzt zu wirken.
Sie verneigte sich zum Gruß. Xiu und Muqiu taten es ihr gleich, bevor die Anwesenden einander vorstellten. Es war das erste Mal, dass Mucheng die Eltern ihres festen Freundes zu Gesicht bekam und auch das erste Mal, dass Muqiu und Xiu Liwei und seine Familie kennenlernten. Auch erfuhr Mucheng zum ersten Mal die Namen Liweis Eltern: Fang Quan und Song Shiyan.
Nach der Vorstellung sollten sie sich setzen und Mucheng fiel auf, wie unpraktisch es war, dass der Tisch rechteckig war. Sie wollte sich neben Liwei setzen, doch so wie gedeckt war, konnte sie sich nur ihm gegenübersetzen, denn er setze sich neben seine Mutter, die neben seinem Vater auf einer Seite des Tisches saß. Innerlich unzufrieden, doch mit einem Lächeln im Gesicht nahm Mucheng also gegenüber Liwei Platz. Neben sie setzte Muqiu sich, der bald zwischen Mucheng und Xiu saß.
In den ersten Augenblicken war noch deutlich zu merken, wie auch Liweis Eltern die neuen Gesichter und ihre Klamotten musterten.
„Das ist eine sehr schöne Frisur und das Kleid steht dir wunderbar. Es ist von Yingtao, richtig?“, sprach Liweis Mutter Shiyan zu Mucheng.
„Ja, richtig“, erwiderte Mucheng stolz.
Liweis Vater Quan dagegen musterte erst Muqiu und dann Xiu, er sagte nichts, doch lächelte zufrieden.
„Nun, dann sollten wir essen, solange es warm ist“, sagte Shiyan. „Klein Liwei war so frei dir schon einmal einen Litschi-Saft einzuschenken. Ist das in Ordnung, Su Mucheng?“
„Ja, den trinke ich sehr gerne. Danke Fang Liwei“, sprach Mucheng.
„Trinken die Jungs auch ein Glas Rotwein?“, fragte Quan.
„Ja, bitte“, antwortete Muqiu.
„Nein, ich bin noch 17“, lehnte Xiu ab.
„Es ist nicht verboten, ein Glas Alkohol mit 17 zu trinken“, entgegnete Quan.
„Ja, aber ich wäre nach einem Schluck betrunken, also lieber nicht“, blieb Xiu bei seiner Meinung.
Skeptisch hob Liweis Vater eine Augenbraue.
„Es ist wahr“, lachte Muqiu.
„Nun gut. Was dürfen wir dir dann anbieten, Ye Xiu?“, fragte Quan.
„Bitte auch den Litschi-Saft.“
Während Quan sich, seiner Frau, Liwei und Muqiu ein Glas Wein einschenkte, erhielt Xiu ein Glas mit Saft. Dann prosteten sich die Anwesenden zu und begannen zu essen.
„Es schmeckt ausgezeichnet“, sagte Mucheng schnell.
„Ja, wirklich“, stimmte ihr Bruder zu.
„Das ist schön“, sprach Shiyan.
„Du bist noch in der Unterstufe, richtig, Mucheng?“, fragte Liweis Mutter.
„Ja“, antwortete Mucheng.
„Dann ist die Frage vielleicht zu früh, aber planst du, zu studieren? Weißt du schon, was du studieren willst?“, fragte Shiyan weiter.
„Ich will Mathematik studieren.“
„Pha ha!“, lachte Muqiu auf.
Für sein Lachen erntete Muqiu verwirrte Blicke sowie einen wütenden Blick seiner Schwester.
„Ähm … ‘tschuldigung …“, sagte er daraufhin.
„Also ganz wie unser Klein Liwei“, meinte Quan lächelnd.
„Genau“, antwortete Mucheng.
„Und was studiert ihr?“, fragte Quan Muqiu und Xiu.
„Nichts“, antwortete Muqiu.
„Nichts?“, hakte Quan nach.
„Wir arbeiten. Wir sind in der Computerspielbranche tätig“, erklärte Xiu, bevor Mucheng, die schon überlegte, wie sie Muqius viel zu schnelle, falsche Antwort korrigieren sollte, selbst eingriff.
„Ach so. Nun, als Spieleentwickler scheint man relativ gut Geld verdienen zu können und durch Glück auch ohne Studium eine Arbeitsstelle finden zu können“, kommentierte Quan.
„Ja …. genau … haha“, stimmte Muqiu zu.
Er warf einen verzweifelten Blick zu Xiu, der mit einem Schulterzucken erwiderte.
„Und hat einer von euch schon eine Partnerin?“, fragte Shiyan.
„Nein“, antworteten Muqiu und Xiu unisono.
Für einen Moment glaubte Mucheng in den Gesichtszügen Quans einen Ausdruck zu erkennen, der ausdrückte, dass das bei dem Arbeitsbereich der Jungs nicht überraschend war. Es störte sie, denn Muqiu und Xiu durften nicht wie die Versager, die sie waren, dastehen!
„Das stimmt doch gar nicht. Die Frage war nicht, ob ihr verheiratet oder verlobt seid, sondern einfach eine feste Freundin habt“, sagte Mucheng mit Blick zu ihren beiden Brüdern.
„Oh, unser Fehler …“, verstand Muqiu und spielte mit, wobei er sich verlegen im Nacken kratzte. „Ja, also wir gehen mit Mädchen aus. Das sind sogar Schwestern. Sie sind richtig hübsch und gut erzogen und freundlich, nicht wahr, Ye Xiu?“
„ …. Klar“, kam es zögernd von Xiu.
Die beiden Jungs sahen sich an, rollten mit den Augen. Hatten sie überhaupt eine Wahl, was sie in dem Gespräch sagen durften?
„Wie schön“, äußerte sich Shiyan. „Es ist wichtig, dass man sich um den Fortbestand der Familie kümmert.“
„Ganz meine Meinung …“, sprach Muqiu. „Und es wäre ja echt unverantwortlich, würde Klein Mucheng einen Freund finden, bevor wir als ihre älteren Brüder vergeben sind.“
„Oh ja …“, fügte Mucheng hinzu.
„Die Geschichte der beiden ist auch so herzerwärmend. Wer hätte gedacht, dass Klein Liweis erste Freundin eine Schülerin meiner Schwägerin, der Frau meines Bruders, ist?“, erzählte Shiyan.
Muqui warf einen fragenden Blick zu Mucheng.
Tatsächlich wussten er und Xiu nicht viel darüber, wie sich Mucheng einen festen Freund geangelt hatte. Sie hatte es ihnen erst gestern offenbart, als sie ihnen auch mitgeteilt hatte, dass sie heute als Familie eine Verabredung zum Abendessen bei der Familie ihres Freundes haben würden. Nachdem Muqiu als erste Reaktion Muchengs - seiner Ansicht nach - zu junges Alter für eine Beziehung betont hatte, war Mucheng nicht in der Stimmung gewesen, mehr über ihren Freund zu erzählen. Immerhin hatte Xiu noch herausbekommen können, dass Mucheng und Liwei seit zwei Wochen ein Paar waren, sich aber bereits seit drei Monaten regelmäßig trafen. Liwei war auch erst vor Kurzem 16 geworden und damit gut zwei Jahre älter als Mucheng.
„Ja, Frau Song ist die Schwägerin meiner Erdkundelehrerin Frau Hu“, erklärte Mucheng.
„Ah … Das wusste ich gar nicht“, kommentierte Muqiu.
„Wie seid ihr noch einmal zusammengekommen?“, fragte Quan nach. „Liwei übersprang bei seiner Erzählung einige Punkte. Es war schwer, ihm zu folgen.“
„Und es ist immer schön, die Geschichte aus der Sicht des Mädchens zu hören“, fügte Shiyan an.
Mucheng errötete, dann begann sie, zu erzählen: „Es … ist gar nicht so besonders. Ich entdeckte Fang Liwei eines Tages nach Schulschluss vor dem Schulgelände. Er fiel auf, weil er die Uniform einer anderen Schule trug. Ich sah, dass er mit Frau Hu wieder ging. Am nächsten Tag fragten meine Freundin Lu Daiyu und ich Frau Hu, wer der Junge war und ich erfuhr seinen Namen. Ich hatte ihn schon ein paar Mal im Bücherladen gesehen und als ich ihn dort das nächste Mal wiedersah, sprach ich ihn an. Uns fiel auf, dass wir einen ähnlichen Büchergeschmack haben und wir haben etwas geredet, haben uns dann ein paar Mal am Wochenende getroffen und dann fragte er eines Tages schließlich, ob ich seine feste Freundin sein will. Das war vor zwei Wochen.“
„Ich war sehr überrascht, auf einmal von einer mir Unbekannten mit meinem Namen angesprochen zu werden. Ich meine, mir war Su Mucheng auch schon aufgefallen. Ihr langes, helles Haar kann man gar nicht übersehen, aber das erklärte natürlich nicht, woher sie meinen Namen kannte“, fügte Liwei an.
„Das ist wirklich überraschend, solange man nicht weiß, woher sie deinen Namen hat“, sagte Shiyan.
„Und wie haben Sie einander kennengelernt?“, fragte Mucheng Liweis Eltern.
„Auf der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Freundes. Wir waren beim Karaoke und kamen in’s Gespräch und fanden einander sympathisch und dann entwickelte sich das“, erklärte Shiyan.
„Song Shiyans Stimme war umwerfend. Ihr solltet sie einmal hören. Sie hätte Sängerin werden können. Ihre Stimme wäre ein Welterfolg geworden“, meinte Quan.
„Jetzt übertreibst du maßlos“, entgegnete Shiyan.
„Keineswegs“, betonte Quan.
„Ich würde Sie gern einmal singen hören“, sprach Mucheng.
„Ach, nun, vielleicht ergibt es sich nach dem Essen und Liwei begleitet mich auf dem Klavier. Spielst du ein Instrument, Su Mucheng?“
Einen Moment überlegte Mucheng, was sie sagen sollte. Sie spielte kein Instrument, doch das kam sicher nicht gut an. Allerdings musste sie eines nennen, das die Familie Fang nicht besaß, so dass sie nicht vorspielen müsse. Welches würde die Familie wahrscheinlich nicht haben und ließ sich bei einem weiteren Besuch auch nicht einfach mitbringen?
„Harfe“, log Mucheng schließlich, als sie ihre Antwort fand.
„Oh. Wie außergewöhnlich, aber ein schönes Instrument“, sagte Shiyan
„Über dich erfährt man täglich was Neues“, fügte Liwei an.
Dabei warfen sich Xiu und Muqiu heimlich erneut ratlose Blicke zu.
„Ich über dich aber auch“, entgegnete Mucheng.
„Und ihr beiden?“, fragte Quan die Jungs.
„Nein, ich kann kein Instrument spielen“, sagte Muqiu ehrlich.
„Bedauerlich“, kam es daraufhin von Quan.
„Aber Ye Xiu spielt ganz ausgezeichnet Klavier, nicht wahr?“, sprach Mucheng.
Diesmal musste sie nicht schwindeln, das war auch dem Mädchen selbst mehr als recht. Durch Xius Klaviertalent konnte sie bei Liweis Eltern sicher noch etwas punkten.
„Wirklich? Dann kannst du mich also später begleiten?“, kam es von Shiyan.
„Ähm, ja“, stimmte Xiu zu.
„Großartig“, kommentierte Shiyan.
Die Anwesenden setzten ihr Mahl fort, bis schließlich ein jeder satt war.
„Es schmeckte wirklich ausgezeichnet“, betonte Mucheng noch einmal.
„Ja, wirklich“, stimmte ihr Bruder zu.
„Soll ich beim Abräumen helfen?“, bot Mucheng an, doch Shiyan winkte schnell ab.
„Nicht nötig, darum kümmert sich unsere Haushälterin“, erklärte Liweis Mutter.
Direkt darauf erschien eine ältere Dame im Türrahmen zwischen Esszimmer und Küche. Mucheng fühlte sich gleich noch mehr wie in ein Märchen, in den Palast eines Prinzen versetzt. Selbst Bedienstete hatte die Familie Fang. Das war unglaublich. Zu dieser Familie zu gehören musste wahrlich befreiend sein. Man brauchte sich nicht um nervige Pflichten - von der Schule jedenfalls abgesehen - zu kümmern, denn darum sorgte sich das Personal, so dass man mehr Freizeit hatte, um das Leben so zu genießen wie man es wollte.
Shiyan und Quan erhoben sich. Die Frau blieb auf einer Linie mit Mucheng und ihren beiden Begleitern stehen, blickte auffordernd zu Xiu.
„Also dann? Würde der Pianist so freundlich sein und mir folgen?“, forderte sie Xiu auf.
„Ja, natürlich“, antwortete der dunkelhaarige Junge und erhob sich ebenfalls.
Die Übrigen taten es ihm gleich und gingen allesamt hinter Shiyan her in das Wohnzimmer. Dort stand nicht bloß ein elegantes Klavier, sondern auch lederne Sitzgelegenheiten, mit filigranen Dekorationen gefüllte Vitrinen, ein großer Fernseher hing an einer Wand und eine Seite war eine Fensterfront, die Blick auf einen schönen Blumengarten freigab.
„Wow“, entfuhr es Mucheng vor lauter Bewunderung.
Auch Muqiu betrachtete den Raum mit offenstehendem Mund. Bloß Xiu schien für all dies kein Auge zu haben. Zielstrebig setzte er sich dafür auf den Hocker vor dem Klavier und klappte die Tastenabdeckung auf.
„Hier, das sind die Noten“, sprach Shiyan, nachdem sie aus einem Ordner ein paar Notenblätter gezogen hatte und sie nun Xiu reichte.
Xiu nahm sie mit einer dankbaren Kopfbewegung entgegen, ordnete sie vor sich an und studierte sie einen Augenblick. Er hatte lange nicht mehr gespielt, brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, welche Taste für welche Note da war.
Seine Hände glitten über die Tasten, bis sie schließlich bereit zum Spielen auf einer Stelle verharrten.
Shiyan stellte sich neben Xiu aufrecht hin, drehte sich zu den Anderen, die um sie herum einen Halbkreis gebildet hatten.
Einen Augenblick später setzte Xiu mit dem Klavierspiel ein. An der entsprechenden Stelle begann Shiyan zu singen.
Mucheng war wie verzaubert. Sowohl von Xius Spiel, als auch Shiyans Gesang. Beides hatte sie noch nie gehört und es passte wunderbar zusammen und das gleich beim ersten Versuch.
Sie war zufrieden. Xiu blamierte sie wirklich nicht, ganz im Gegenteil.
Schließlich klang das Lied aus. Mucheng begann sogleich zu klatschen und die anderen schlossen sich ihr an.
„Ihr Mann hatte Recht, Ihre Stimme ist wundervoll, Frau Song“, lobte Mucheng die Sängerin.
„Vielen Dank“, sprach Shiyan. „Und ich hatte auch eine großartige Begleitung. Du hattest das Lied bereits zu spielen gelernt, nicht wahr?“, wendete sie sich weiter an Xiu.
Xiu blickte über die Schulter in die Runde.
„Nein“, antwortete er.
„Wirklich? Unglaublich. Dann musst du wirklich viel am Klavier üben“, sprach Shiyan.
„Meine Mutter liebt das Klavierspiel. Ihr war es sehr wichtig, dass ich das gut lerne“, erklärte Xiu.
„Verstehe. Welche Lieder beherrscht du noch sehr gut?“, fragte Quan.
„Ja, spiele uns noch eines vor“, forderte Mucheng.
„Na gut …“, willigte Xiu ein.
Er drehte sich wieder um und begann erneut zu spielen.
Nur ein paar Takte später erkannte Quan das Stück: „Aus Vivaldis Vier Jahreszeiten: Der Herbst.“
„Ja. Ich dachte, das passt zur Jahreszeit“, kommentierte Xiu, während er weiterspielte.
Beim Zuhören hakte sich Mucheng bei Liweis Arm unter und lehnte sich an seine Schulter. Für sie war der Moment wunderschön. Auch wenn sie dem Lied nichts abgewinnen konnte, die Situation war einfach romantisch.
Muqiu musterte seine Schwester und ihren Freund, ehe er sich wieder im Raum umsah. Schließlich, als Xiu das Stück schon drei Minuten spielte, kratzte er sich im Nacken und wendete sich an Quan: „Wie lange ist das Lied denn?“
„Psst, hör einfach zu, dann siehst du es schon“, nahm Mucheng Quan die Antwort ab.
Quan selbst lächelte daraufhin bloß und schwieg.
Muqiu war nicht zufrieden. Er war gelangweilt.
Schließlich war Xiu fertig und erneut wurde geklatscht.
„Das war gut“, lobte Shiyan erneut.
„Danke“, entgegnete Xiu.
„Kannst du die anderen Jahreszeiten auch?“, fragte Quan.
„Ja. Meine Mutter liebt Vivaldis Werke. Da war es ein ungeschriebenes Gesetzt, die Klavierstücke gut zu lernen“, antwortete Xiu.
Quan lachte heiter auf.
„Wie steht es um andere weltberühmte Künstler. Beethoven, Mozart, Chopin?“, fragte Shiyan.
„Wahrscheinlich fehlt mir die Übung, um einige ihrer Lieder noch fehlerfrei spielen zu können, aber ja, auch ein paar ihrer Stücke lernte ich“, sprach Xiu.
„Oh, du solltest das Klavierspielen nicht sein lassen“, kommentierte Quan.
„Ja, er hat recht“, stimmte Shiyan zu und blickte dann zu Mucheng. „Und von welchen Interpreten spielst du gerne Stücke?“
„Ähm … ach … Von vielen Verschiedenen, aber auch Mozart und so“, antwortete Mucheng und versuchte dabei mit einem Lächeln ihre Unwissenheit zu kaschieren.
„Und welches Stück spielst du am besten?“, hakte Quan nach.
Muchengs Herz schlug schneller. Sie kannte nicht mal ein Stück, das man auf der Harfe spielte, also was solle sie sagen? Hilfesuchend blickte sie zu Xiu.
„Also das ist Mozarts …“, begann sie und nickte Xiu zu, hoffend, er würde für sie ein Musikstück finden, doch er begann nicht gleich, ihren Satz zu vollenden. Stattdessen stand er auf und stellte sich neben Muqiu.
„Ach, wie heißt das Lied doch noch gleich? Jetzt ist mir das entfallen. Ye Xiu, das Stück, das ich gestern noch übte? Du kennst den Namen doch.“
„Die Sonate Nummer 12, in F-Dur?“, kam es von Xiu eher fragend.
„Ja, genau, die!“, stimmte Mucheng zu.
„Eine seiner Klaviersonaten?“, hakte Shiyan nach.
„Nun, eine Harfe ist genauso ein Saiteninstrument wie ein Klavier“, sprach Xiu.
„Das stimmt wohl“, erwiderte Shiyan.
„Also ich würde Su Mucheng noch gerne mein Zimmer zeigen. Wir lassen euch alleine, in Ordnung?“, meldete sich Liwei zu Wort.
„In Ordnung, Schatz“, antworte Shiyan.
Liwei und Mucheng verließen daraufhin den Raum. Mucheng war froh. Die Fragerei hatte sie nervös gemacht und so gut es einerseits war, dass Xiu sich mit all dem auskannte, es störte sie auch. Xiu wusste einfach, was bei Liweis Eltern ankam und konnte Bewunderung ernten, während sie in dieser Hinsicht lügen musste und das nicht einmal ohne Xius Hilfe.
Sie folgte Liwei die Treppen hinauf in den ersten Stock.
„Hier die beiden Zimmer links sind Meine“, erklärte Liwei.
„Du hast zwei Zimmer?“, fragte Mucheng verwundert.
„Ja. Theoretisch sogar drei. Ich habe ein eigenes Badezimmer“, erklärte Liwei.
„Wow. Dann könnte ich ja glatt eines haben und bei euch einziehen, nicht?“, fragte Mucheng, während Liwei ihr das erste Zimmer zeigte.
Es war eigentlich nichts anderes als ein Zimmer zum Lernen mit einem Schreibtisch, einem großen Bücherregal und ein paar Schränken. Und doch war es größer als Muchengs Zimmer.
Liwei lachte auf Muchengs Worte hin.
„Theoretisch“, fügt er verbal an.
„Das wäre doch eigentlich eine echt gute Idee. Dann könnten wir uns viel häufiger sehen und ich hätte auch nicht weiter zur Schule als von unserer Wohnung aus. Wir hätten auch mehr Möglichkeiten, was wir zusammen machen können. Wir treffen uns sonst ja immer in der Stadt“, sprach Mucheng.
Sie selbst war davon überzeugt, in die Villa einzuziehen wäre so viel besser. Neben allem, was sie gesagt hatte, müsste sie sich hier wirklich um nicht so viel kümmern. Das Essen einzukaufen, den Abwasch, die Wäsche, alles aufzuräumen und sauberzumachen, hier bräuchte sie das nicht, könnte stattdessen effektiver lernen und vor allem jeden Abend mit Liwei kuscheln, Filme schauen, mit ihm reden und und und …
„Du … meinst das ernst?“, fragte Liwei unsicher.
„Ja, warum denn nicht? Ihr habt Platz und eine Haushälterin. Das würde also gar nicht so viel mehr Mühe für euch kosten.“
„Ähm … wie sage ich das am besten, also Mucheng, ich glaube, das wäre zu früh. Wir sind ja erst seit zwei Wochen zusammen.“
„Aber du meinst es doch ernst mit mir?“, unterbrach Mucheng Liwei.
„Natürlich!“
„Dann ist das doch kein Problem. Wir wollen schließlich irgendwann heiraten und sowieso zusammenziehen. Alles, was es bedeuten würde, wäre, dass wir schon jetzt mehr Zeit für einander haben und deine Eltern und ich uns schon daran gewöhnen könnten, eine Familie zu sein.“
„Also … wir können das ja uns noch ein bisschen überlegen, okay? Es wäre einfach ein großer Schritt“, sprach Liwei.
Mucheng lächelte. „Ja, das wäre ein großer Schritt, aber ein sehr Guter. Aber es ist in Ordnung, wir können das ja noch später etwas besprechen. Willst du mir nun noch dein Schlafzimmer zeigen?“
„Ja. Komm mit“, sagte Liwei und führte Mucheng weiter in das nächste Zimmer.
In diesem standen nun ein Bett und eine Kommode, sowie auch ein Bücherregal und eine Vitrine. Es wäre genug Platz, den Schreibtisch und ein paar Schränke noch hier unterzubringen, um Mucheng das andere Zimmer zur Verfügung zu stellen.
„Es ist schön“, kommentierte Mucheng.
Liwei zuckte mit den Schultern.
„Du kannst dich auf das Bett setzen“, sprach er.
Eine andere Sitzgelegenheit bot das Zimmer ohnehin nicht.
„Okay“, antwortete Mucheng und ließ sich auf der Bettkante nieder.
Liwei ging zu dem Bücherregal und zog ein Buch hervor. Mit diesem kam er zurück zu Mucheng, dann setzte er sich neben sie.
„Hier. Du fragtest doch bei unserem letzten Treffen, was ich zuletzt las. Das ist es.“
„Shakespeares Der Sturm“, las Mucheng den Schriftzug auf dem Buchcover. „Du liest immer so besondere, anspruchsvolle Werke. Davon bin ich wirklich beeindruckt.“
Liwei wurde rot.
„Ach, das ist nichts Besonderes“, äußerte er sich bescheiden. „Das mit den Autoren und Werken ist eben wie mit den Klavierstücken und Musikern. Es gibt Berühmtheiten, die viele kennen, und sich damit auseinanderzusetzen ist hilfreich, um leichter Gespräche führen zu können. Man hat gleich etwas, worüber man reden kann“, erklärte Liwei.
„Ja, das habe ich gemerkt …“, murrte Mucheng.
Sie beneidete durchaus, wie einfach Xiu mit Liweis Eltern zurechtkam. Er kannte all das, was sie gut fanden, hatte Ahnung davon.
Was spielte es für eine Rolle, ob man nun Vivaldis oder Mozarts Lieder, Shakespeares oder Gibsons Bücher schön oder langweilig fand, Hauptsache, man kannte ein paar, wusste, wie sie klangen oder worum es ging. Dann konnte man darüber reden, sagen, dass man es toll fand und begründen, wieso man das fand. Selbst wenn es nicht die Wahrheit war, aber man wusste wenigstens, wovon man sprach.
Mucheng wollte genauso wie Xiu und Liwei diese Dinge kennen, damit sie dadurch die Tür in das Reich der Gebildeten und Wohlhabenden, der Glücklichen und Sorglosen öffnen konnte, ohne sich zu blamieren.
Sie schlug das Buch in ihren Händen auf und blätterte durch die ersten Seiten. Es war ein Theaterstück, was bei Shakespeare wohl nicht verwunderlich war. Schrieb er überhaupt etwas anderes als Theaterstücke? Mucheng wusste es nicht.
„Das Stück spielt auf einer eher trostlosen Insel. Dort lebt Prospero mit seiner Tochter Miranda. Eigentlich war Prospero ein Herzog, doch man hatte ihn gestürzt. Und als ein Schiff mit ein paar Leuten, die ihn damals hintergangen hatten, vorbeikommt, lässt er es in einem Sturm stranden“, erklärte Liwei.
„Also geht es um Rache?“, fragte Mucheng.
„Kann man so sagen“, antwortete Liwei. „Und um Magie.“
„Und gibt es auch ein Liebespaar? Sowie bei Romeo und Julia?“, fragte Mucheng weiter nach.
„Ja. Miranda und Ferdinand, der Königssohn. Der König hatte damals auch geholfen, Prospero zu stürzen.“
„Das klingt spannend. Darf ich es mir ausleihen?“, fragte Mucheng.
Liwei lächelte. „Natürlich! Aber du musst auch wissen, manche Charaktere sind echt … unmenschlich. Zum Beispiel Caliban, der mehr wie ein ungepflegtes, wildes Tier ist.“
„Naja, so etwas gehört wohl dazu. Es wäre ja langweilig, würden alle Charaktere einem sympathisch erscheinen, oder?“, meinte Mucheng lächelnd.
„Ja, da hast du Recht.“
Mucheng legte das Buch neben sich und blickte verliebt in Liweis Gesichtszüge.
„So oder so, aber Miranda und Ferdinand bekommen ein Happy End, oder?“, fragte sie.
„Willst du das nicht lieber selbst lesen und so erfahren?“
„Hm … okay. Stimmt. Nicht zu spoilern ist besser“, gab Mucheng bei.
„Ja“, stimmte Liwei zu.
Mucheng legte ihre Hand auf die Liweis, streichelte sanft darüber. Liwei war zwar kein Königssohn, doch für Mucheng war er nicht weniger als ein solcher wert. Sie genoss es, bei so jemanden zu sein und wollte ihn wissen lassen, wie sehr sie ihn liebte.
„Darf ich dich küssen?“, fragte sie.
„Das brauchst du doch nicht fragen“, lachte Liwei mit ganz geröteten Wangen.
Er beugte sich vor zu Mucheng und diese sich ebenso zu ihm, bis sich ihre Lippen trafen und sie einander küssten. Liwei zog Mucheng in seine Arme und Mucheng schmiegte sich an ihren festen Freund. In diesem Moment fühlte sie sich wie das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt.
Doch der Moment wurde jäh unterbrochen. Es klopfte an der Tür.
Sofort löste sich Liwei von Mucheng und auch Mucheng wich ein Stück zurück. Es wäre peinlich, würde jemand sehen, wie sie beide sich küssten.
„Ja?“, fragte Liwei und klang dabei ebenso nervös.
Wahrscheinlich schlug sein Herz genauso schnell wie das Muchengs.
Die Tür öffnete sich und Shiyan stand im Türrahmen.
„Tut mir leid, euch zu stören, doch Su Mucheng, es ist an der Zeit, zu gehen“, sprach Shiyan.
„Schon? Die Zeit ist wiedermal viel zu schnell vergangen“, sprach Mucheng lächelnd, ehe sie auf ihre Armbanduhr blickte.
Dabei sah sie jedoch, dass noch gar nicht so viel Zeit vergangen war. Es kam ihr eher zu früh zum Gehen vor.
„Dein Bruder ist betrunken“, erklärte Shiyan schließlich.
„Was?!“, entfuhr es Mucheng ungläubig.
Dieser verdammte Muqiu! Er war also schuld, dass sie heute nicht länger Zeit mit Liwei verbringen konnte.
„Ja. Er musste sich sogar übergeben. Wir riefen bereits ein Taxi, das euch nach Hause bringt. Es wird in fünf Minuten da sein, also solltest du dich fertig machen“, fuhr Shiyan fort.
„Das … es tut mir leid, dass mein Bruder nicht rechtzeitig aufhören konnte zu trinken. Wirklich, Frau Song“, sagte Mucheng und stand auf.
„Du kannst nichts dafür“, antwortete Shiyan.
Mucheng griff nach dem Buch, dann sah sie zu Liwei.
Ihr Freund erhob sich ebenso und sie beide gingen mit Shiyan die Treppe hinunter.
Im Eingangsbereich des Hauses stießen sie auf die Männer. Xiu stand dort bereits, hielt in einem Arm seine Jacke, mit dem anderen stützte er Muqiu, der noch an der Wand lehnte und selbst fast so bleich wie die weiße Wand wirkte.
Je näher Mucheng kam, umso mehr stieg ihr der Geruch von Alkohol und Erbrochenem in die Nase. Es war widerlich und es machte sie wütend.
Mucheng zog ihre Schuhe an, steckte das Buch in ihre Tasche und vergewisserte sich noch einmal, dass sie all ihre Sachen bei sich hatte.
„Treffen wir uns nächste Woche wieder?“, fragte sie Liwei.
„Ja, aber die Woche habe ich viel zu tun. Also nächsten Samstag wieder?“, entgegnete Liwei.
„Ist gut. Um 12:00 Uhr bei dem Pavillon im Park?“, schlug Mucheng vor.
„Ja, das passt“, stimmte Liwei zu.
Die beiden lächelten sich verliebt an.
„Sehr schön“, kommentierte Mucheng.
„Das Taxi ist da“, sprach Quan.
„Dann ein gutes Nachhausekommen, Su Mucheng, Ye Xiu, … Su Muqiu“, sprach Shiyan zum Abschied.
„Auf Wiedersehen Frau Song, es war sehr schön bei Ihnen“, verabschiedete sich Mucheng.
„Auf Wiedersehen“, verabschiedeten sich auch Xiu und Muqiu.
Muqius Stimme klang dabei etwas schwach, doch an sich nicht so schlimm, wie Mucheng es bei seinem Anblick erwartet hatte. Es ging ihm schlecht, doch geistig schien er noch anwesend zu sein.
Mucheng griff nach Liweis Hand, drückte sie sanft.
„Also bis dann. Auf Wiedersehen“, verabschiedete sie sich. „Und vergiss nicht, über die Sache nachzudenken.“
Sie fügte ein Augenzwinkern an.
„Ja, vergesse ich nicht. Auf Wiedersehen, Mucheng.“
„Auf Wiedersehen, Klein Liwei“, sagte Muqiu.
„Ja, auf Wiedersehen …“, kam es von Liwei zurück.
Auch er und Xiu verabschiedeten sich.
„Ich helfe dir, ihn zum Taxi zu tragen“, beschloss Quan, der sich ebenso seine Schuhe angezogen hatte.
Dann zog er Muqius freien Arm über seine Schulter und bugsierte diesen zusammen mit Xiu aus dem Gebäude.
Mucheng und Liwei sahen sich noch einen Augenblick lang an. Sie wollten sich nicht voneinander trennen, doch schließlich ließ Mucheng Liwei los und folgte ihren Brüdern nach draußen, bis zur Straße, an der das Taxi hielt.
Xiu und Quan hatten Muqiu bereits auf die Rückbank geschoben und verabschiedeten sich voneinander.
„Vielen Dank für die Hilfe, Herr Fang. Es tut mir leid, dass mein Bruder ihnen solche Mühe bereitete“, sprach Mucheng.
„Mach es gut, Su Mucheng“, verabschiedete sich Quan.
Xiu rutschte neben Muqiu auf die Rückbank und nach den Abschiedsworten folgte Mucheng.
Xiu hatte dem Fahrer bereits die Adresse genannt und der Wagen setzte sich in Bewegung.
„Wie konnte das passieren?“, ging Mucheng sogleich die anderen beiden an. „Wieso musstest du so viel trinken, Su Muqiu? Nur wegen dir konnte ich nicht mehr Zeit mit Fang Liwei verbringen. Und dann musstest du dich auch noch übergeben? Ehrlich, das ist so widerlich, du hast mich total blamiert!“
„Ich habe das doch nicht absichtlich gemacht …“, murrte Muqiu.
„Warum hast du ihn nicht aufgehalten?“, wendete Mucheng sich an Xiu.
„Ich wusste gar nicht, dass er noch mehr Wein trinkt. Ich war damit beschäftigt, mich mit den Eltern zu unterhalten“, rechtfertigte sich Xiu.
„Aber da war er doch bei dir!“
„Nein, ich habe mich abgesetzt und mit dem Wein in ein Eck gehockt. Was sollte ich denn tun? Mitreden konnte ich bei diesen Themen eh nicht“, erklärte Muqiu.
„Wie? Du bist einfach gegangen?“, hakte Mucheng nach.
„Ja. Zurück ins Esszimmer“, antwortete Muqiu. „Schien auch keinen zu stören. Die Haushälterin war freundlich, hat immer wieder gefragt, ob ich noch was brauche. Die Eltern dagegen waren eh mehr an Xiu interessiert. Dich scheinen die echt zu mögen …“
„Oh ja! Das ist noch so eine Sache. Du hättest dich echt nicht sooo sehr bei denen einschleimen müssen“, meinte Mucheng und verschränkte ihre Arme vor der Brust.
„Du wolltest doch, dass ich mich so verhalte, dass die zufrieden sind“, entgegnete Xiu.
„Ja, schon, aber doch nicht so sehr, dass ich neben dir wie ein Nichtskönner dastehe. Vor allem weißt du doch, dass ich von klassischer Musik keine Ahnung habe. Als Frau Song fragte, welche Lieder ich gut kann, hättest du gleich für mich antworten sollen. Aber da hast du mich ja echt auf Grund laufen lassen!“
„Hä? Du hättest also gewollt, dass ich einfach für dich antworte?“, fragte Xiu.
„Ja! Und zwar gleich, ohne dass die merken, wie wenig Ahnung ich habe. Sonate Nummer 12 … Wenn ich gewusst hätte, dass ich nur eine Zahl als Name hätte nennen müssen!“
„Hätte ja sein können, dass du weißt, dass einige Komponisten ihre Werke durchnummerieren …“, nuschelte Xiu.
„Wusste ich aber nicht.“
„… oder dass du dir vorher die Lügen, die du denen auftischen willst, vorbereitet hast“, fügte Muqiu an.
„Habe ich aber nicht!“, knurrte Mucheng.
„Wieso willst du die Familie deines Freundes überhaupt anlügen?“, fragte Xiu.
„‘Wieso‘? Ist doch klar! Du hast doch gemerkt, was ihnen wichtig ist. Ich will, dass sie mich mögen und akzeptieren!“, rechtfertigte sich Mucheng.
„Aber denkst du nicht, dass du das mit Ehrlichkeit besser erreichst? Irgendwann wird auffallen, dass du ihnen Lügen auftischtest“, äußerte sich Xiu.
Mucheng lachte auf.
„Und das gerade von dir, Ye Qiu! Du gibst dich vor all den Leuten bei Excellent Era als jemand anderes aus! Das ist nicht besser! Von dir lass ich mir das nicht vorwerfen!“, knurrte Mucheng.
Xiu verstummte.
„Das ist doch was anderes. Eine Notlüge, weil er nur den Ausweis seines Bruders dabeihat“, mischte sich Muqiu ein.
„Das ist bei mir dasselbe! Notlügen! Mensch, Su Muqiu, du als mein Bruder solltest mehr hinter mir stehen!“
„Gerade, weil ich hinter dir stehe, besorgen mich all deine Lüge. Ich meine: Du willst Mathe studieren? Du bist unglaublich schlecht in Mathe!“, sprach Muqiu.
„Das ist gar nicht wahr. Ich habe viel Mathe gelernt, ich bekomme das hin. Irgendwann kann ich das alles und dann sind das eh keine Lügen mehr, es wird zur Wahrheit. Bei Mathe-Können, Harfe-Spielen und Musiker-Kennen geht das nämlich. Nicht so wie bei Ye Xiu! Er wird niemals sein Bruder sein können.“
„Und wie willst du das alles hinbekommen? Von welchem Geld willst du dir eine Harfe kaufen?“, fragte Muqiu.
„Das wird schon irgendwie“, meinte Mucheng locker.
„Was meintest du vorhin überhaupt zu Fang Liwei mit ‚dieser Sache‘?“, wollte Xiu wissen.
„Oh, ob ich bei ihnen einziehen kann“, antwortete Mucheng.
„Was?! Du willst weg von uns?“, rief Muqiu.
„Ehrlich mal, ja, ich will in so einem schönen Haus leben, ich will denjenigen, den ich liebe, häufig sehen und so.“
„Das ist doch …. Ye Xiu, hilf mir!“, fehlte Muqiu.
„Ach, dazu kommt es doch eh nicht. Das will Klein Mucheng auch gar nicht, denn dann würden ihre Lügen viel schneller auffliegen“, meinte Xiu locker.
Mucheng lehnte sich verärgert zurück, doch unweigerlich musste sie einsehen, dass sie das noch gar nicht bedacht hatte und Xiu Recht damit hatte.
„Su Mucheng, ich weiß, das willst du jetzt nicht hören, aber du solltest darüber nachdenken: Wenn Fang Liwei und seine Familie dich nur akzeptieren, wenn du dich verstellst, dann ist das nicht gut. Du brauchst jemanden, der dich annimmt, so wie du bist. Nur dann kann eine Beziehung funktionieren“, meinte Xiu.
„Mann! Wenn du schon weißt, dass ich das nicht hören will, dann sag es doch erst gar nicht, du Idiot!“, rief Mucheng verärgert.
„Wow. Ist das wirklich meine kleine Mu Mu? Was ist aus meiner lieben, freundlichen Schwester geworden? Jetzt beleidigt sie dich schon, Ye Xiu!“, klagte Muqiu.
„Das sind sicher die Hormone. In meiner Klasse haben die Mädchen mit 13,14 aus rumgesponnen wie noch was …“, seufzte Xiu.
„Wird das aufhören?“, fragte Muqiu und lehnte sich an Xius Schulter.
„Keine Ahnung, ich hatte noch keine Schwester in dem Alter.“
„Jetzt hört aber auf! Mit mir ist alles in Ordnung! Ich bin die Erwachsenste von uns Drein hier!“, rief Mucheng, um das Gespräch der beiden zu beenden.
Wenn etwas klar war, dann doch, dass sie als Einzige hier einen geregelten Alltag hatte und sich mehr für die Realität als eine virtuelle Fantasiewelt interessierte. Wenn hier also mit jemanden etwas nicht stimmte, dann mit Muqiu und Xiu. Nicht sie war das Problem, sondern ihre beiden Brüder!
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