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Schweigend saßen sie nun seit etwa zwei Stunden in diesem kleinen, etwas abgelegenen Raum, den Xiao Shiqin zuvor nie wahrgenommen hatte, obwohl er jeden Tag daran vorbei gelaufen war. Als er gekommen war, war Su Mucheng betraf am Computer gesessen und hatte Glory gespielt. Er hatte sie gegrüßt, doch von ihr war keine Reaktion gekommen. Anfangs hatte er noch gedacht, sie würde Kopfhörer tragen, aber nach näherer Betrachtung stellte er fest, dass dem nicht so war. Ignorierte sie ihn? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen.
Als er vor etwas über einem halben Jahr hierhergekommen war, hatte er nichts über Su Mucheng gewusst. Auch wenn er jetzt auch nur wenig wusste, so wusste er, dass sie ihn nicht einfach ignorieren würde. Zwischen ihnen gab es auch kein böses Blut, auch wenn er das anfangs gedacht hatte – immerhin war er nur hier, weil Ye Xiu nicht mehr da war.
In nur einem knappen halben Jahr, hatte Xiao Shiqin Dinge über Excellent Era gelernt, die er lieber nicht gewusst hätte. In der vorherigen Saison war das Team auf den vorletzten Platz abgestiegen und niemanden konnte sich erklären, wie es dazu kam. Selbst wenn Ye Xius Fähigkeiten nachgelassen hätten, hätte das restliche Team doch das Schlimmste verhindern können. Individuell war jeder einzelne Spieler mehr als fähig. Doch auch irgendeinem Grund schafften sie es nicht, sich ein paar mehr Punkte zu sichern. Auch nachdem Sun Xiang dem Team beigetreten war, hatte sich nicht viel geändert – die anfänglichen Höhenflüge wurden schnell durch eine Niederlage nach der anderen zerschlagen.
Die Realität hatte seine kühnsten Träume in den Schatten gestellt. Wie sollte er ein Team zu einem Team machen, dass verlernt hatte wie das ging ein Team zu sein? Hinzukam die Besessenheit aller mit Ye Xiu. Wann immer sie über die Challenger League sprachen kam die Sprache auf Ye Xiu und darauf, wie sie diesen besiegen konnten. Xiao Shiqin war dahingehend am Ende seines Lateins.
Erstaunlicherweise redete Su Mucheng, Ye Xius engste Vertraute, kaum über diesen. Sie schien die einzige zu sein, die sich auf das große Ganze zu konzentrieren. Mal wieder hatte er sie falsch eingeschätzt.
Sie hatten sich zum ersten Mal in der vierten Saison getroffen. Seitdem hatte er ein Auge auf sie. Von außen sah Su Mucheng wie ein Püppchen aus. Etwas das sie sicherlich oft zu hören bekam. Sie sah gut aus, aber das war es dann auch schon – sagte man. Es gab sogar Leute, die behaupteten, dass sie der Grund war, warum Excellent Era in der vierten Saison im Finale verloren hatte – so eine Behauptung war vollkommen bescheuert, aber was sollte man ging solche Leute groß sagen? Trotz ihrer wachsenden Popularität, verlor sie nicht an Neidern. Jeder Fehler wurde ihr doppelt und dreifach ausgelegt und auf die Tatsache, dass sie nun mal eine Frau war, geschoben. Wenn sie etwas gut machte, wurde es gelobt, aber gerne auch als Zufall oder Glück abgestempelt. Egal was sie machte, es war nie genug. Und Su Mucheng wehrte sich auch nicht. Sie ließ Tat statt Worte sprechen – nur leider waren die meisten nicht in der Lage ihre Taten zu verstehen. Jedoch grämte sie sich nicht darüber, sondern nutze es zu ihrem Vorteil. Sollte man sie ruhig unterschätzen und auf sie herabsehen – ihr war es egal. Sie wollte nur gewinnen.
Dieses Verhalten hatte ihn fasziniert. Er kannte kaum jemanden, der sich so behandeln ließ und trotzdem noch mit einem Lächeln vor der Kamera stand. Su Mucheng schlug zurück, aber sie schlug subtile zurück und manchmal dauerte ihre Rache – sie hatte Zeit und sie nahm sich diese auch.
„Was machst du hier?“
Su Muchengs plötzliche Frage riss Xiao Shiqin aus seinen Gedanken. Scheinbar war sie endlich mit dem Dungeon fertig.
„Ich konnte nicht schlafe, also haben einen kleinen Spaziergang gemacht und dann gesehen, dass hier noch Licht brennt.“
Einen kurzen Moment herrschte wieder Stille zwischen ihnen.
„Du solltest schlafen gehen. Auch wenn wir nicht gegen starke Gegner antreten, sollten wir uns nicht so gehen lassen.“
„Du bist doch auch noch wach, Vize-Kapitän.“
Wo sie Recht hatte, hatte sie Recht.
„Dann sollten wir beide ins Bett gehen. Du kannst morgen immer noch weiter spielen. So lange dauern unsere Spiele ja nicht.“
„Mag sein, aber heute ist besonders.“
Stimmt, heute war irgendwas anderes.
Jeder Spieler hatte einen eignen Computer im Zimmer stehen, mit dem er Glory spielen konnte, wenn er wollte. Warum war Su Mucheng also hier? Wenn sich das Zimmer hier so ansah, dann schien es wohl mal ein Trainingsraum gewesen zu sein. So verstaubt wie es war, wurde es mittlerweile nicht mehr genutzt – auch die Computer sahen etwas in die Jahre gekommen aus. Des Weiteren war ihm aufgefallen, dass sie nicht als Luncher – die Klasse, die sie auch in professionellen Spielen nutzte – spielte, sondern einen Sharpshooter. Es war grundsätzlich nicht selten, dass sie Profispieler in Glory etwas austobten, doch die meisten nutzten auch dann ihre Hauptklasse. Was hatte Su Mucheng veranlasst auf eine andere „Gunner“ Subklasse zurückzugreifen? Vielleicht maß er dem auch eine zu hohe Bedeutung bei, aber seltsam war es schon ein wenig.
„Was ist denn heute?“
Gedanklich war er ihm alle bekannten Daten durchgegangen. War heute ein Geburtstag? Wenn ja, dann kannte er diese Person nicht, denn von den Prospielern war es keiner. Oder war es ein Jahrestag?
Su Mucheng antwortete ihm lange Zeit nicht. Sie saß einfach nur vor ihrem Computer und starrte das Bild vor sich an. Keine schöne Aussicht. Ihr Account stand vor dem Dungeonausgang und blickte auch eine kahle Wüstenlandschaft.
In Glory gab es einen Tag-Nacht-Zyklus und auch Wetter. Im Moment war es eine bewölkte und wohl bald auch regnerische Nacht.
Xiao Shiqin konzentrierte sich mehr auch Su Mucheng selbst. Von seiner Position aus, konnte er ihr Gesicht nicht einmal im Profil sehen, aber er hatte das Gefühl, dass es das auch nicht brauchte, um zu verstehen, dass heute ein besonderer Tag war – kein besonders guter.
„Heute ist der Tag an dem mein Bruder starb.“
Mit diesen Worten drehte sich Su Mucheng zu ihm um. Sie lächelte. Xiao Shiqin fehlten die Worte. Er hatte nicht gewusst, dass sie einen Bruder gehabt hatte. Wahrscheinlich wusste das niemand außer Ye Xiu.
„Autumn Tree war sein erster Account. Ich hab ihm damals seinen Namen gegeben.“
Mehr als ein Stammeln brauchte er nicht auf diese Aussage nicht heraus. Su Mucheng schien es auch nicht zu interessieren, dass er keine sinnvolle Reaktion zu Stande brachte.
„An seinem Todestag spiele ich immer ein bisschen mit seinem Account. Anfangs war es leichter, die Erinnerungen an ihn aufrecht zu erhalten, weil ich nicht alleine war. Wäre er nicht gestorben, dann wäre er einer der ersten Excellent Era Spieler gewesen. Inzwischen sind die anderen alle Zurückgetreten und führen ein anderes Leben. Sie haben keine Zeit mehr in Erinnerungen zu schwelgen. Es ist ein wenig Schade, aber die Zeiten ändern sich. Letztes Jahr war Ye Xiu nicht da. Aber dieses Jahr scheint er zu sehr mit Happy beschäftigt zu sein.“
Um diese Uhrzeit sollte man nicht mit seinem Team beschäftigt sein, sondern schlafen. Insbesondere ein Team wie Happy sollte sich gut erholen. Excellent Era hatte gegen normale Spieler kein Problem, aber Happy konnte Probleme kriegen. Zwar waren die Spieler alle wesentlich besser als die meisten normalen Spieler, aber wenn sie gegen Veteranen in den individual Runden antraten, konnte zumindest die jüngeren Spieler ins Schwitzen geraten.
„Warum spielst du hier? Wäre es in deinem Zimmer nicht angenehmer?“
„Weil das hier das Zimmer war, in dem wir mit dieser Tradition angefangen haben. Excellent Era nicht immer so prunkvoll wie heute. Wir haben auch mit einem Stock angefangen und langsam wurden es immer mehr.“
Excellent Era hatte sich wirklich in ein prunkvolles Unternehmen entwickelt. Als er zum ersten Mal hierhergekommen war, konnte er nicht glauben, was er sah. Alles war auch Hochglanz poliert und aus jedem Winkel schrie der Reichtum – auch ohne Siege und ohne Ye Xius Gesicht hatte das Team sich einen Palast geschaffen. Ein wenig konnte er verstehen, woher manch ein Spieler seine Arroganz nahm – Glanz blendete.
Su Mucheng hatte der Glanz nicht blenden können.
„Ich werden diesen Ort vermissen.“
„Wie meinen?“
„Ist es nicht offensichtlich? Nach der Challenger League werde nicht mehr ein Teil von Excellent Era sein – egal wie es ausgeht.“
„Wirst du Ye Xiu folgen?“
„Ja.“
„Warum?“
„Weil man mich hier nicht mehr will und weil das hier nicht mehr das Excellent Era ist, dem ich damals beigetreten bin und für das Ye Xiu und auch mein Bruder so hart gearbeitet haben.“
„Nicht mehr das Excellent Era für das Ye Xiu und dein Bruder so hart gearbeitet haben?“
„Ja. One Autumn Leafs Waffe wurde von meinem Bruder entworfen und auch Dancing Rain ist von ihm. Sie hatten so viele Pläne, aber manche mussten sie begraben. Ihnen ging es um Glory und um den Sieg. Aber jetzt geht es nur noch ums Geld. Glory ist zweitrangig geworden. Weißt du, Xiao Shiqin, wir werden nicht gewinnen. Wir können nicht gegen Happy gewinnen und der Grund dafür ist so simple, dass es schon lächerlich ist.“
„Was ist der Grund?“
„Alle fokussieren sich nur auf Ye Xiu. Sie fürchten ihn. Boss Tao und Manager Cui fürchten sich vor Ye Xiu, weil sie Angst haben, dass er verrät, wie sie ihn behandelt haben und ihr schlechtes Gewissen, wie sie ihren einstigen Freund behandelt haben, quält sie. Die anderen sind nicht besser. Sie wissen, dass alles nur Schall und Rauch ist. Sie wissen, dass Excellent Era nicht wegen Ye Xiu so schlecht ist, sondern wegen ihnen. Und Sun Xiang… Den geht es nicht um Excellent Era, sondern nur um sich selbst. Er will nur beweisen, dass er besser ist als Ye Xiu, aber Ye Xiu ist mehr als nur seine individuelle Stärke. Selbst wenn Sun Xiang ihn hundert Mal in einem Kampf besiegen würde, er würde am Ende nichts damit beweisen. Wenn man es genau nimmt, sind es nur wir drei, Qiu Fei, du und ich, die nicht von Ye Xiu beeinflusst sind. Aber zu dritt ist man noch lange kein Team. Und Happy hat mehr als drei Spieler. Solange wir weitermachen wie bisher werden wir nicht gewinnen.“
Langsam begann Su Mucheng den Computer herunter zu fahren.
Xiao Shiqin konnte nichts sagen. So gern er ihr wiedersprechen würde, so sehr wusste er, dass sie recht hatte. In den letzten Monaten war ihm klar geworden, wie sehr Ye Xius Schatten auf Excellent Era lastete. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Kapitän seine Spuren in der Geschichte des Teams hinterließ, doch anstatt das Team anzuspornen, lehrte Ye Xius Schatten dem Team das Fürchten und lähmte alle – nicht nur die Spieler, sondern auch das Management. Dagegen konnte er auch nicht viel machen, außer immer wieder gebetsmühlenartig herunter zu beten, dass sie sich nicht auf Ye Xiu versteifen sollten.
„Xiao Shiqin, warum bist du hier?“
„Hä? Das habe ich doch schon erklärt. Ich konnte nicht schlagen un…“
„Das meine ich nicht. Warum bist du Excellent Era beigetreten? Ging es dir nur um Ruhm und Ehre?“
Warum war er hierhergekommen? Wie hätte er eine Einladung von Excellent Era ausschlagen können. Mit einem Mal hätten sich alle seine Träume erfüllt – nun gut, vielleicht nicht wirklich erfüllt, aber er wäre ihnen näher gekommen als je zuvor. Sobald Excellent Era sich wieder gefangen hatte, hatte es eine wesentlich höhere Chance die Meisterschaft zu gewinnen als Thunderclap – war die Trophäe nicht das Ziel eines jeden Profispielers? Außerdem konnte er somit Su Mucheng näher sein. Seit ihrem ersten aufeinander Treffen hatte er ein Auge auf sie geworfen. Was zuvor nicht mehr war als reines Interesse an ihr als Spielerin hatte sich über die Jahre in Interesse an ihr als Person entwickelt. Aber das konnte er ihr nicht sagen.
„Ist es verwerflich, nach Ruhm und Ehre zu greifen? Ich habe in Thunderclap alles geben und du hast selbst gesehen, wie weit ich gekommen bin. Aber ich möchte weiter als bis dahin. Excellent Era gibt mir die Chance neue Höhen zu erreichen.“
„Neue Höhen kann man nur als Team erreichen. Excellent Era ist kein Team. Das solltest du inzwischen begriffen haben.“
Mit diesen abschließenden Worten verließ Su Mucheng den Raum und ließ Xiao Shiqin allein zurück.
Su Mucheng war wirklich voller Überraschungen und er hatte sie in der Tat mal wieder unterschützt. Ihre Worte wurden wahr. Excellent Era verlor. Und Xiao Shiqin erreichte neue Höhen mit seinem Team Thunderclap.
Su Mucheng und Xiao Shiqin trafen sich in der zehnten Saison wieder. Eine Niederlage schmeckte bitter, aber ihm blieb nicht der bittere Geschmack der Niederlage in Erinnerung, sondern Su Muchengs Lächeln. Es war ein echtes und es galt nur ihm. Seit diesem Tag hatte er das Gefühl, dass es nicht er war, der Su Mucheng beobachtete, sondern sie ihn. Sie sah ihm zu, wie er sich weiterentwickelte. Wie er ihre Worte – sowohl die direkt gesprochenen, als auch die drin versteckten – verstehen lernte und umsetzte.
Su Mucheng war mehr als nur ein Püppchen, das war ihm schon immer bewusst gewesen, aber nie hätte er gedacht, dass sie so viel hinter ihrem Erscheinungsbild versteckte. Wahrscheinlich war sie mysteriöser als Ye Xiu, der sich jahrelange aus der Öffentlichkeit gehalten hatte.
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