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Im Zug durch die Nacht

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27.12.23 00:05
12 Ab 12 Jahren
Heterosexualität
Fertiggestellt

Der Zug rauschte mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht. Mit jedem Kilometer, den der Zug zurücklegte, wurde ihm das Herz schwerer. Schwer wog das, was ihn bewegte. Bei jedem Halt beschlich ihn das Gefühl, er solle einfach aussteigen, den nächstbesten Zug in den Norden Deutschlands nehmen, dann würde ihm jeder zurückgelegte Kilometer das Herz erleichtern. Allein der Gedanke reichte, seine Seele zu beruhigen. Aber er war aber klug genug zu wissen, eine solch verwegene Tat würde nichts ändern. Nichts daran ändern, dass es Zwänge im Leben gibt, die man nicht ignorieren darf. Er hatte vergessen, sich mit Lesestoff einzudecken, so blieb ihm nur sein Notebook, um sich abzulenken. Immer weiter eilte der Zug durch die Nacht, immer schwerer wurde sein Herz.

Ein alter Mann, so kam ihm in den Sinn, sollte sich nicht verlieben. Und vor allem nicht in eine Frau, die etliche Stunden Fahrzeit von ihm entfernt beheimatet war. Man kann seine Gefühle nicht steuern, das war ihm klar. Niemand kann vorherbestimmen, wann und wo einen Amors Pfeil trifft oder auch nicht trifft. Ihn hatte der Pfeil mitten in sein Herz getroffen. Er wollte und musste diese neue Liebe leben, die seine alten Tage versüßte und doch legte er Kilometer auf Kilometer an Bord eines Zuges zurück, der dabei unerbittlich die Entfernung zu der Frau, die er liebte, vergrößerte. Gut zweihundert Kilometer pro Stunde schnell eilte der Zug durch Dunkelheit, würde er doch nur langsamer fahren, eine Baustelle, eine defekte Weiche, eine Störung im Stellwerk, alles, was die Fahrt verzögern konnte, sehnte er herbei, aber er geschah nichts. Konstant zeigte die digitale Anzeige die Höchstgeschwindigkeit an. Nur noch wenige Haltepunkte fuhr der Zug an, dann war das Ziel erreicht. Bremen lag bereits weit hinter ihm, bald würde Osnabrück erreicht sein. Münster, Dortmund, Bochum und Duisburg waren die weiteren Zwischenstopps. Danach dauerte es gerade einmal eine Viertelstunde, dann war er am Ziel.

Der Moment des Abschieds erschien vor seinem Auge. Sie hatten gemeinsam auf dem zugigen Bahnsteig eines Vorstadtbahnhofs gestanden und sich bei den Händen gehalten. Gesprochen hatten sie nicht mehr, es war alles gesagt. Dann rollte die Stadtbahn in den Bahnhof, sie hatten sich noch einmal umarmt, bevor er in den Zug stieg. Durch die geschlossene Tür hatten sie sich intensiv in die Augen gesehen. Der Zug fuhr ab und die Frau, deren Nähe er genossen hatte, stand allein im trüben Licht der Laternen, die die Szenerie fast gespenstig mit ein wenig Licht versorgten.

Er verlegte sich aufs Träumen, sein Wachtraum führte ihn in eine andere Welt. Einfach online ein Ticket für die Gegenrichtung buchen. Einfach klären, welcher Halt sich am besten für den Umstieg eignet. Die Homepage der Deutschen Bahn öffnete sich vor seinen Augen. Er suchte und suchte, nichts passte so richtig, dann machte es Klick in seinen Gedanken. Ab Duisburg im Nachtzug nach Hamburg, das war es. Buche das Ticket, mach hin, mach hin, sonst ist es zu spät. Weiter und weiter eilte der Zug durch die Nacht, Traum und Wirklichkeit verschwammen und vereinigten sich. Fahr schneller, fahr schneller, Zug bring mich zurück an den Ort meiner Sehnsucht.

In der Traumwelt legte der Zug noch einmal an Geschwindigkeit zu, nicht 200, nein, 300 Kilometer pro Stunde bewegte sich die Schlange aus silbergrauen Wagen durch die Nacht. Lichter einsamer Bahnhöfe blitzen kurz auf, dann tauchten die Waggons wieder in die Dunkelheit der wolkenverhangenen Nacht ein. Fast wie im Flug raste der Zug durch die norddeutsche Tiefebene – nichts schien ihn aufhalten zu können. Die Bilder verschwammen vor seinen Augen, er merkte, der zurückliegende Tag war lang und anstrengend gewesen. Bleischwer schlossen sich seine Augenlider, er glitt in den Schlaf und träumte weiter von der Reise gen Norden.

Wohlige Träume umgaben ihn, ganz nah war die Frau, in die er sich verliebt hatte. Nichts würde den dahingleitenden Expresszug bremsen, bis die Fahrt im Bahnhof von Hamburg-Altona endete. Wenn der Waggon, leicht erzitternd, über eine Weiche fuhr oder die Strecke durch eine leichte Kurve führte, wurde die Traumwelt kurz gestört. Sobald der Zug wieder gleichmäßig dahinrollte, glitt er zurück in seinen Traum. Immer näher kam ihm die Frau, er reichte ihr die Hand und zog sie an sich heran. Sein Traum schien Wirklichkeit zu werden, nie mehr wollte er sich von ihr trennen.

Ein Geräusch schreckte ihn hoch. Er war kurz desorientiert. Sowie er sich umsah, kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Die gleichen Reisenden saßen immer noch auf der anderen Gangseite neben ihn im Waggon. Die Frau in der Sitzreihe vor ihm spielte immer noch an ihrem Smartphone herum, der junge Mann, weiter vorn, telefonierte immer noch lautstark. Das Geräusch, das ihn aus dem Traumland zurück in die Wirklichkeit geholt hatte, entpuppte sich als die turnusmäßige Lautsprecherdurchsage vor dem nächsten Halt. Er bekam nur noch den Rest der Ansage mit und verstand 22:45 Uhr. Die Durchsage wurde auf Englisch wiederholt: Next stop, Düsseldorf main station at 10:45 p.m. Er warf einen Blick auf die Uhr, nur noch fünf Minuten. Er schloss sein Notebook, verstaute es in seinem Koffer, rollte das Netzkabel zusammen und stecke es samt Netzteil in die Seitentasche des Koffers, zog seine Jacke an und schulterte seinen Rucksack. Bereits im Hinausgehen verabschiedete er sich kurz von den Mitreisenden in der gleichen Sitzreihe und ging zur Tür. Der Zug rollte bereits durch die stadtnahen Vororte und kam nach wenigen Minuten im Bahnhof zum Stehen. Er öffnete die Tür, stieg aus und griff nach seinem Koffer. Ein Warnsignal ertönte, die Türen schlossen sich wie von Geisterhand und der Zug fuhr langsam beschleunigend aus dem Bahnhof. Auf dem Bahnsteig war es nass und zugig. Seinen Rollkoffer hinter sich her ziehend, ging er in Richtung der Treppen, die Wirklichkeit hatte endgültig erreicht.

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Gesko Am 10.03.2024 um 11:19 Uhr
Hallo Bernd, Deine Geschichte kenne ich bereits aus einem anderen Forum - und sie gefällt mir immer noch, wenn auch nicht das Ende. Ich hätte mir gewünscht, dass Dein Protagonist tatsächlich alles über den Haufen wirft, in den Norden fährt und seiner Herzelinde in die Arme fällt. Meiner Ansicht nach ist die Liebe wichtiger als alles andere und es auch Wert, alles andere dafür über den Haufen zu werfen. Letztendlich bereuen wir am Ende unseres Lebens ja nicht, wie oft wir geliebt haben oder was wir im Namen der Liebe getan haben, sondern wie oft wir nicht unserem Herzen gefolgt sind, oder? Mehr anzeigen
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BerndMoosecker (Autor)Am 12.03.2024 um 0:58 Uhr
Hallo Gesko,
Ich freue mich über Deinen positiven Kommentar. Sicher ich hätte die Geschichte auch anders enden lassen können, aber mein Ende ist eher von der Realität gezeichnet.
Menschen sollen und müssen der Liebe folgen, sind aber auch gleichzeitig kleine Rädchen im Getriebe ihres sozialen Umfelds.
Es gibt feste Zusagen, bei denen es der Anstand gebietet, diese einzuhalten. Bei mir, nur als Beispiel, geht es darum, dass ich dem Fördervereins unseres Bürgerhauses feste Zusagen mache, wann ich verfügbar bin.
Trotzdem kann ich Deinem Schlusssatz zustimmen, es fahren aber immer wieder Züge. So hindert meinen Protagonisten nichts daran, möglichst bald wieder in den Norden zu reisen.
Gruß Bernd
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Mira Am 29.12.2023 um 17:34 Uhr
Hallo Bernd,
Deine Kurzgeschichte hat mich sehr berührt. Die Gedanken, dass man etwas noch schnell ändern kann (wie zum Beispiel Tickets in die andere Richtung zu buchen) kenne ich zu gut, auch in vielen anderen Lebenslagen. Manchmal wäre es schön, wenn wir das tun könnten, worauf wir gerade Lust haben und nicht das, wozu uns das Leben in unserer Gesellschaft zwingt. Dein Text hat etwas Träumerisches an sich, was mir sehr gut gefällt. Danke für den tollen Text und einen guten Rutsch ins neuen Jahr!
Liebe Grüße
Mira
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BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 29.12.2023 um 19:48 Uhr
Guten Abend Mira,
danke für Deinen positiven und interessanten Kommentar. Einmal tun, wozu man gerade Lust hat, das darf man sich schon manchmal gönnen. Aber wir sind schließlich "Herdentiere". Ich meine das positiv und viele Sachen sind einfach termingebunden. Wenn z.B. der Vorstand des Fördervereins unseres Bürgerhauses tagt, kann ich mich nicht einfach auf einen Egotrip begeben. Ehrenamt ist nun einmal nicht nur Ehre sondern auch Amt.
Ich wünsche Dir ebenfalls einen guten Rutsch in neue Jahr und hoffe, für Dich wird es ein glückliches und erfolgreiches Jahr.
Liebe Grüße
Bernd
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Sätze: 57
Wörter: 992
Zeichen: 5.875

Kurzbeschreibung

Ein alter Mann sitzt im Zug und träumt von der Frau, in die er sich verliebt hat.

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