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Das Gespenst

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19.09.23 23:09
12 Ab 12 Jahren
In Arbeit

Autorennotiz

Wo soll ich dieses "Werk" in die vorgegebenen Kategorien bei StoryHub einordnen? Ich habe keine Idee dazu. Nehmt also bitte die Einordnung so hin, wie ich sie für naheliegend halte. Hat jemand eine bessere Idee? Ich bin für Vorschläge offen.

Ich habe hier mein ganz persönliches Empfinden verarbeitet. Wer anderer Meinung ist, mag das gerne in einem Kommentar darlegen, aber ich bitte um sachliche Argumentation.

Das Original dieser Geschichte findet Ihr hier:

erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=das_gespenst.pdf

Seit Jahrhunderten zieht ein Unheil verbreitendes Gespenst durch Europa. Es legt einen Nebel aus Ignoranz und Intoleranz über den Kontinent. Die Seele eines jeden, der sich auf das Gespenst einlässt, wird von Vorurteilen und Hass zersetzt. Das Gespenst hört auf den Namen Antisemitismus. Den Namen Antisemitismus trägt erst seit dem 19. Jahrhundert, aber das Gespenst ist viel älter. War es vorher ein namenloses Gespenst, hat es seitdem einen zugkräftigen Namen. Eine seiner Glanzzeiten erlebte das Gespenst zu der Zeit, als die Menschen meiner Generation das Licht der Welt erblickten. Während diese Generation (ich hoffe in Liebe) gezeugt wurde, waren Menschen der Vorgängergenerationen damit beschäftigt, dem Gespenst zu einer nie dagewesenen Macht zu verhelfen. Sie verhalfen dem Gespenst zu solch großer Macht, dass ein Gräberfeld ungeahnten Ausmaßes zurückblieb, als es seine Macht wieder verloren hatte. Die Generationen, die für das Gespenst die dreckige Arbeit erledigt hatten, litten seitdem an Amnesie und gingen zur Tagesordnung über.

Obwohl ich immer den Antisemitismus verurteilt habe und auch jeder Art antisemitischer Äußerungen umgehend widerspreche, war ich sorglos, denn das Gespenst war besiegt. Nach dem Antisemitismus, der während der Nazidiktatur in ganz Europa gewütet hat, lebte ich in dem festen Glauben, niemals wieder würde das Gespenst erneut die Macht über uns erringen. Große Teile meiner Generation teilten meine „nie wieder Einstellung“ und gaben diese hehren Grundsätze an ihre Kinder und Enkel weiter. Wir klopften uns auf die Schultern, fühlten uns unserer Elterngeneration überlegen und lebten zufrieden vor uns hin. Das ging lange Zeit gut. Kleinere antisemitische Vorfälle bewerteten wir großzügig als Einzelfälle, ausgeführt von verblendeten oder ewig-gestrigen. Versteckt antisemitische Redewendungen, gab es noch, nur keine jüdische Hast, sagten die Älteren, wenn es stressig wurde. War es im Klassenzimmer zu laut, fiel schon einmal der Satz – hier geht es zu wie in einer Judenschule. Wir versuchten, diese Sätze zu ignorieren und aus unserem Sprachschatz zu streichen. So wurden wir alt und älter, unsere Bereitschaft wachsam zu sein sank, ein Teil unserer Altersgenossen ist inzwischen verstorben und eigentlich haben wir alle bereits den Tod vor Augen. Wir werden die Welt nicht mehr retten, überlassen wir das doch einfach nachfolgenden Generationen und genießen unseren Lebensabend! Basta!

Mir ging es zum ersten Mal auf, dass ich mich mit meiner Einschätzung getäuscht haben könnte, als es von der Tribüne eines Fußballstadions „Jude! Jude!“ schallte. Ich beruhigte mich schnell wieder, dumme Menschen hatten sich von einer kleinen Minderheit mitreißen lassen, so etwas gibt es schließlich überall. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass es in unserer Gesellschaft einen Bodensatz von Menschen gibt, die antisemitische Gedankengut in sich tragen und verbreiten. Das Gespenst ist klüger als ich. Es erkennt jede Chance und streut sein Wissen geschickt aus: Die Migranten sind das Problem – beruhigt euch. Die Zuwanderer sind die Antisemiten. Sind die Zuwanderer weg, verschwindet das Problem. Während es dieses Wissen verbreitet, wird die Grundlage dafür geschaffen, weitere Weisheiten unauffällig unter das Volk zu bringen. Schon wieder (oder immer noch?) ist es gesellschaftsfähig, wie zufällig zu erwähnen, der erfolgreiche Sowieso ist Jude. Wie bitte, nicht so schlimm? Ich wäre auf jeden Fall unangenehm berührt, wenn jemand von mir behaupteten würde, der Moosecker, dieser IT-Spezialist, der ist Katholik, Atheist oder gehört zu einer sonstigen Gruppe von Menschen. Ich kam zu meinen beruflichen Erfolgen nicht dadurch, dass ich zufällig einer Gruppe von Menschen angehöre, sondern weil ich die Fähigkeit besitze, größere Probleme in allerkleinste Schritte zu zerlegen. Jeder soll nach dem, was er tut oder nicht tut, von mir aus auch nach seinen Fähigkeiten bewertet werden, aber nicht nach der Gruppe oder Religion, in die er zufällig hinein geboren wurde.

Die Wortführer der Gesellschaft sind nicht gerade hilfreich beim Niederringen des Gespenstes, einen neuen Begriff haben sie sich einfallen lassen, christlich-jüdische Kultur. Geht’s noch? Was an unserer Kultur ist denn jüdisch? Die Beschuldigung der Kreuzritter, die Juden wären Gottesmörder? Das war nicht Dummheit! Nein, diese Beschuldigung lieferte den Vorwand, die Juden auszurauben. Ist die jahrhundertelange Ausgrenzung von Juden unsere jüdische Kultur? Nun, ich mache mir keine weitere Mühe nach Beispielen unserer jüdischen Kultur zu suchen, unsere Kultur ist christlich geprägt. Den Begriff jüdisch hinzuzufügen, halte ich für Geschichtsfälschung. Wer will schon, dass die Shoah zu unserer Kultur gehört, denn das ist der Teil unserer Kultur, der uns für immer mit den Juden verbinden. Unsere Vorfahren haben die Juden ermordet. Das ist keine Kultur, das ist Völkermord. Ich sehe es ein, ich bin gescheitert. Ich habe in einer Blase gelebt, die geplatzt ist und ich sehe, Vorurteile sind mächtig, im Fall des Antisemitismus übermächtig.

Zurück zum Gespenst! Leider ist es kein Gespenst, das Menschen dazu bringt, andere Menschen mit Verachtung zu behandeln. Wäre es ein Gespenst, das den Antisemitismus verbreitet, könnten wir den ganzen Antisemitismus höheren Mächten in die Schuhe schieben. Diese leichte Ausrede zieht nicht, wir können uns nur an die eigene Nase fassen. Wer, wie ich es lange tat, im Glauben lebt, der Antisemitismus würde sich, ohne eigenes Zutun, von selbst auswachsen, befindet sich im Irrtum. In einem furchtbaren Irrtum!

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Autor

BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

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Sätze: 55
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Kurzbeschreibung

Ignoranz, Intoleranz, Vorurteile und Hass auf "Fremde" gehören zu den Wurzeln von Rassismus und Antisemitismus. Ich versucht hier dazustellen, wie mein Blick darauf ist.

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