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Veränderung oder der Verlust von Heimat

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24.01.24 22:58
12 Ab 12 Jahren
Fertiggestellt

Autorennotiz

Ich habe lange gezögert diese Geschichte zu veröffentlichen. Sie erscheint mir nicht so gut gelungen und das Thema ist banal.

Ich finde aber, was ich hier erzähle gibt den Lesern einen Einblick in das Leben eines Grundschulkindes am Ende der vierziger und in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Grundschule ist falsch, damals hieß es Volksschule und es war die einzige Schule, die ich besucht habe.

Das Original dieser Geschichte gibt es hier: erzaehlungen.moosecker-hassels.de/text/text_02_pdf.php?v=oeffentliche_adobe&d=sommer_in_der_stadt.pdf

Es ist die Geschichte eines Sommers und der Ereignisse des darauf folgenden Winters, die hier erzählt wird. Eigentlich war es ein ganz gewöhnlicher Sommer. Ein Sommer, wie so viele, die seit meiner der Kindheit gekommen und gegangen sind. Was ich damals nicht wissen konnte, es sollte der letzte Sommer in meiner vertrauten Umgebung sein. Von all dem, was in diesem Sommer vorgefallen ist, ist mir nur weniges im Gedächtnis geblieben und die Ereignisse, an die ich mich erinnere, sind mir vielleicht nur deshalb nicht entfallen, weil in dem Winter, der auf diesen langen, heißen Sommer folgte, die Ereignisse ihre Schatten vorauswarfen, in deren Folge ich meine vertraute Umgebung für immer verließ. Am Ende des Winters war dann alles neu und anders. Ich fühlte mich, als wäre ich mit samt meinen Wurzeln aus dem gewohnten Umfeld heraus gerissen worden. Damals habe ich einige Zeit meinem alten Leben nachgetrauert, obwohl der Verlust der gewohnten Umgebung, durch das hohe Maß an Freiheit, welches mir meine neue Umgebung bot, eigentlich mehr als ausgeglichen wurde. Mit den weiten Viehweiden, den Korn- und Rübenäckern, den klaren Bachläufen und dem nahe gelegenen, waldähnlichen Schlosspark mit seinen uralten Bäumen, bot mein neues Zuhause alles, was ein Junge in meinem Alter brauchte, um ein abenteuerliches Leben zu führen. Zu den Nachbarskindern fand ich nur schwer Kontakt. Die Klassenkameraden wohnten ungewohnt weit entfernt. Der neue Wohnort, obwohl in der gleichen Stadt gelegen, wie unsere alte Bleibe, war mit meinen bisherigen Erfahrungen über das Leben in der Stadt nicht in Einklang zu bringen.

Stadt, das waren für mich die nicht enden wollenden Ruinenfelder, die der Bombenkrieg hinterlassen hatte oder das Klingeln der Straßenbahnen gleich an der nächsten Straßenecke. Das alles war jetzt anders. Von meinem Fenster aus blickte ich nun auf einen mehr als fußballplatzgroßen Obstgarten. Dahinter lagen wogende Getreidefelder, die ich auf dem Weg zur Schule auf einem Feldweg durchqueren musste. Bei Regen war der Weg matschig, bei Trockenheit staubig. So kam ich eigentlich immer mit schmutzigen Schuhen in der Schule an, was aber nicht weiter auffiel, da andere Schüler ähnliche Wege zu Schule zurücklegten. Am schmerzlichsten empfand ich weiten Weg zur Endstation der Straßenbahn, denn nur mithilfe der Straßenbahn konnte ich die Verbindung zur angestammten Heimat und den Großeltern aufrechterhalten.

Mit der Zeit versöhnte ich mich mit der ländlichen Umgebung, insbesondere, als mir die relativ häufigen Besuche bei den Großeltern vor Augen führten, dass sich die Stadt durch den Wiederaufbau rasant veränderte. Es dauerte nicht lange und auf den Ruinenfeldern wuchsen Neubauten in die Höhe. Die vertrauten Spielmöglichkeiten verschwanden – zur Freude der Erwachsenen, denen die Sorgen wegen der Gefahren, die in den Ruinen lauerten, genommen wurden. Für meine alten Freunde bedeutete die neue Bebauung den Verlust ihrer Bewegungsfreiheit. Die Straßen wurden zum Ersatzspielplatz. Neue Gefahren ergaben sich daraus. Der zunehmende Autoverkehr machte die Straßen als Spielplatz schnell unattraktiv und gefährlich. So lernte ich letztendlich die weiten Felder, die Viehweiden und den Obstgarten meiner neuen Heimat zu schätzen. Zumal es mir gelang, mich mit dem Kettenhund des Hausbesitzers anzufreunden.

Die Freundschaft mit dem Kettenhund brachte mir die Anerkennung meiner Schulfreunde. Ich hielt den Kettenhund in Zaum, wenn sie Äpfel bei uns im Obstgarten klauen wollten. Im Gegenzug erhielt ich Unterricht im Fang von Stichlingen oder in der Verwendung des Splicks (Zwille). Wir sammelten Steine in der nahen Kiesgrube (noch heute verwahre ich einige der Steine in einer Schachtel) oder suchten auf der nahen städtischen Müllkippe nach Brauchbarem oder nach Metallschrott, den wir beim Klüngelskerl verkauften. Vieles ist seitdem geschehen, aber der Gegend bin ich treu geblieben. Nur noch wenig ist von dem vorhanden, was damals unsere große Freiheit ausmachte. Auf dem Sumpfgelände, das sich im Sommer so herrlich zum Herumstöbern eignete und im Winter bei Frost dem Schlittschuhlauf diente, befindet sich heute die Filiale eines schwedischen Möbelhauses. Wiesen und Felder wurden in Gewerbegebiete verwandelt oder in Parzellen für Kleingärten aufgeteilt. Müllkippe und Kiesgrube wurden zugeschüttet – heute befindet sich dort eine Parkanlage. Die Schnellzugstrecke, die wir immer wieder leichtsinnig überquerten, gibt es immer noch. Die Eisenbahnen sind heutzutage doppelt so schnell unterwegs. Was bei uns purer Leichtsinn war, würde heute tödlich enden. Unverändert blieb der Schlosspark. Immer noch wachsen dort Bäume, die bereits damals dort standen und der Spielplatz befindet sich immer noch an der gleichen Stelle, wie zu der Zeit, als ich ein Schulkind war und es blieb der Wald. Der Wald war damals für etwas weitere Unternehmungen gut. Heute wohne ich näher am Wald. Ich erreiche ihn zu Fuß in weniger als fünf Minuten zu Fuß.

Im Nachhinein fand ich, es war eine echt beschissene Woche. Die Woche fing, mit einem ganz ordentlichen Montag an. Es gab nur wenige Hausaufgaben und eine schöne Zeit zum Spielen, auf den vom Krieg zerstörten Straßenbahnwagen an der Volmerswerther Straße. Das hatte den Tag so richtig lebenswert gemacht. Für den Rückweg nach Hause hatten meine Freunde und ich den gruseligen Weg über den alten Bilker Friedhof gewählt. Mit den verwilderten Gräbern und den teilweise umgestürzten Grabsteinen, fanden wir den Ort so gruselig, dass wir uns nur als Gruppe auf den Friedhof wagten. Ein echt gelungener Tag also. Der Dienstag brachte dann die Wende zum Schlechten. Es war Waschtag! Waschtag hieß für mich Aufsicht im Laden, dienstags morgens war das immer besonders langweilig, da nur wenig Kundschaft kam. Bereits morgens vor der Schule stand ich eine halbe Stunde hinter der Theke und es kamen sage und schreibe zwei Kundinnen. Eine davon kaufte nur Streichhölzer, das erledigte ich allein. Die andere verlangte ein Pfund Mehl und Brötchen. Mehl musste ausgewogen werden, also rief ich nach meiner Mutter, ganz so wie ich es machen sollte.

An diesem Tag fielen die letzten beiden Stunden in der Schule aus, ich trödelte auf dem Heimweg, um möglichst spät zu Hause anzukommen. So langsam ich auch ging, ich kam trotzdem noch vor der Mittagspause des Ladens an. Also musste ich wieder, diesmal bis Eins, den Laden hüten. Danach Mittagessen und Hausaufgaben – endlich der Waschtag war beendet und die Wäsche flatterte auf den Leinen im Hof. Ich hoffte auf einen Nachmittag mit Freunden im Freien. Es kam anders, der Himmel verfinsterte sich und ein Gewittersturm zog auf. In dessen Folge auf dem gegenüberliegenden Ruinengrundstück eine der maroden Mauern des ausgebrannten Hauses in sich zusammenbrach. Es war Glück im Unglück – wegen des Unwetters hielt sich niemand in den Ruinen auf und nur wenige der fallenden Brocken wurden auf die Straße geschleudert. Die Masse der Trümmer ging auf dem Ruinengrundstück nieder und hinterließ eine haushohe Staubwolke. So verbrachte ich den Nachmittag ungeplant und gelangweilt im Haus. Ich beschäftigte mich mit diesem und jenem. Nichts davon machte mir Freude. Am Mittwoch war es morgens empfindlich kühl und es regnete leicht. Meine Mutter meinte, es sei die Schafskälte. Mir war es gleich ob Kälte oder Schafskälte, der Schulweg war so oder so ungemütlich bei Regen. Nach der Schule war das Wetter nicht besser und ich verabredete mich mit einem Freund, um mit ihm zusammen, mit der elektrischen Eisenbahn zu spielen. Das war zwar nicht das, was uns für den Nachmittag vorschwebte, aber immer noch besser als allein zu Hause zu hocken. Als es Zeit für den Rückweg war, hatte der Regen aufgehört und ich beschloss auf dem Heimweg einen Umweg durch die Trümmerwüste unseres Stadtviertels einzulegen. Das Ereignis der einstürzenden Wand hatte ich bereits verdrängt, zu verlockend war es auf die Trümmerberge zu klettern oder durch die leeren Fensterhöhlen ins Innere der Ruinen vorzudringen.

Das Spielen in den Trümmerlandschaften war gefährlich und von daher verboten. Es verging kaum ein Tag ohne eingehende Belehrung durch Lehrer und Eltern über die Gefahren, die in den ausgebrannten und zum Teil eingestürzten Häusern lauerten. Zu kontrollieren war die Einhaltung des Verbots nicht und so spielten wir eigentlich ständig in dieser Trümmerlandschaft. Ziemlich hoch auf einem der Trümmerberge lag schräg eine mehrere Meter lange Betonplatte, die uns als Rutsche diente. Danach stand mir aber an diesem Tag nicht der Sinn, da die Spuren, die die noch feuchte Fläche auf der Kleidung hinterlassen würde, mein heimliches Tun verraten würde. So stromerte ich entlang leerer Fensterhöhlen, teilweise über ausgeglühte Stahlträger balancierend oder über bereits zum Wiederaufbau aufgestapelte Ziegelhaufen kletternd umher. Ich stolperte leicht und rutschte auf dem vom Regen glitschen Untergrund aus. Etwas unsanft landete ich mit dem Hinterteil auf einen kleinen Berg, bereits vom alten Mörtel frei geklopfter Ziegelsteine. Verdutzt blieb ich erst einmal sitzen und schaute mich um. Die geklopften Steine erweckten mein Interesse, konnte ich doch einige davon beim Trödler für ein paar Groschen verscherbeln. Nur erwischen lassen durfte ich mich nicht. Gefahr lauerte sowohl vom Eigentümer der Ruine, dem gehörten schließlich die Steine, als auch von denjenigen, der die Steine heimlich geklopft hatten. Schließlich würden sie sich um den Lohn ihrer Mühe betrogen fühlen. Die Gefahr erwischt zu werden erschien mir zu groß und so schaute ich mich weiter um, in der Hoffnung doch noch etwas Brauchbares zu finden. Im umher liegenden Gerümpel fiel mir nach einigem Umherblicken ein käfigartiges Drahtgebilde auf. Das Gebilde stellte sich bei näherem Hinsehen als Vogelbauer heraus; verrostet zwar, aber offensichtlich funktionsfähig. Da ich der Meinung war, die Mitnahme des Bauers sei unproblematisch, nahm ich ihn kurzentschlossen mit. Ich musste nur noch eine letzte Hürde überwinden und das Vogelbauer unbemerkt auf unseren Hinterhof schaffen.

Zu Hause angekommen stellte ich das Vogelbauer auf die Stufen vor der Haustür und lugte vorsichtig durch eins der beiden Schaufenster in das Innere des Ladens. Ich hatte Glück, gleich mehrere Kundinnen standen vor der Theke und wartenden darauf, bedient zu werden. Die beiden Frauen hinter der Theke waren voll mit dem Bedienen der Kundschaft beschäftigt. Das machte es mir leicht, ohne Rückfragen durch den Laden in die Küche und von dort aus in den Hausflur zu gelangen. Ich betrat also den Laden, sagte, wie selbstverständlich und nur um keinen Verdacht zu erregen, laut und deutlich „Guten Tag“ und ging, ohne mich weiter im Geschäft aufzuhalten, durch die Hintertür zur Küche. Von dort aus eilte durch den Flur zur Haustür. Unbemerkt gelang es mir das Vogelbauer durch den Hausflur auf den Hinterhof zu schaffen. Erfahrungsgemäß wusste ich, stand irgendetwas erst einmal auf dem Hinterhof, interessierte sich niemand mehr dafür. Zu Abend gab es Mettenden mit Kartoffelsalat. Während des Essens beschäftigte ich mich in meinen Gedanken unaufhörlich mit der weiteren Verwendung meines neuen Reichtums.

Donnerstag war Fronleichnam, wieder regnete es. Obwohl ich mir einbildete, fest an Gott zu glauben und auf dem Weg zu einem guten Katholiken zu sein, hatte ich mit der Fronleichnamsprozession wenig am Hut. Betend und singend durch die Straßen zu laufen war einfach ich mein Ding. Und an einem Regentag wie diesem, da war mir das Herumgelaufe eh suspekt. Aber nichts half, es wurde erwartet, dass die Schüler der katholischen Volksschule Sankt Martin geschlossen und klassenweise zur Fronleichnamsprozession antraten. Ich wollte mich trotzdem drücken und spielte am Morgen beim Frühstück mein Asthma aus. Aber meine Mutter war, obwohl immer sehr um mich besorgt, in diesem Fall unerbittlich. Wahrscheinlich hatte sie mein Spiel durchschaut. Also zog ich mit den Klassenkameraden Gebete murmelnd durch die Straßen der Vorstadt. Meine Gedanken waren nicht bei der Sache, mein Denken war unaufhörlich mit der Nutzung des Vogelbauers beschäftigt. Zuerst einmal herrichten, dachte ich bei mir. Da die Futternäpfe fehlten, mussten die dafür vorgesehenen Öffnungen mit Draht verschlossen werden und natürlich sollte das ganze Gebilde gründlich abgeschmirgelt werden, um es vom Rost zu befreien. Die Prozession ging zu Ende, der Regen ging weiter. Wieder zu Hause eröffnete mir meine Mutter, wir würden am Nachmittag ihre Schwester besuchen. Obwohl die beiden Kinder der Tante meine liebsten Spielgefährten waren, passte der Besuch absolut nicht in meinen Plan, das Vogelbauer zur überholen. Ein verlorener Tag also.

Der Freitag begann mit einer Katastrophe. Nach einer eher langweiligen ersten Schulstunde setzte der Lehrer für die zweite Stunde ein Diktat an. Diktate hasste ich und ich hatte auch nur wenige Chancen der Geschwindigkeit des Diktierens zu folgen. Als umerzogener Linkshänder war meine Schrift ungelenk und ich kam beim Formen der Buchstaben langsamer voran als meine Kameraden. Obwohl ich schreiben konnte, ohne allzu viele Rechtschreibfehler in meinen Werken unterzubringen, beim Schreiben von Diktaten spielte mir meist der Zeitdruck einen bösen Streich und die Fehler häuften sich. War das Diktat geschrieben, schloss sich umgehend eine Zeit voller Furcht an, die bis zur Rückgabe der Diktathefte andauerte. Nach der Schule machte ich mich mit hängendem Kopf auf den kurzen Heimweg. Am Laden angekommen, schlich ich mich in die Küche und von dort auf den Hof. Freitags war viel los im Geschäft und obwohl es schon kurz vor der Mittagspause war, war das Geschäft noch voller Kundinnen. So hatte ich Zeit, bis zum Mittagstisch gerufen wurde. Ich unterzog das Vogelbauer einer genauen Betrachtung.

In der Werkzeugschublade suchte und fand ich Schmirgelleinwand und eine Drahtbürste. Ganz wie ich es bei meinem Opa abgeschaut hatte, begann ich als Erstes den gröbsten Rost mit der Drahtbürste zu bearbeiten. Während ich noch damit beschäftigt war, wurde ich zum Essen gerufen. Es gab am Freitag oft eine Art Blechkuchen, der aus einem am Vorabend zubereiteten Grießbrei hergestellt wurde. Ich aß diesen Kuchen an und für sich gerne, besonders, da über den bereits süßen Kuchen noch eine dünne Schicht Zucker gestreut wurden. Auf das dazu gereichte Obst aus dem Einmachglas hätte ich gerne verzichtet, aber was auf den Tisch kam, wurde gegessen, basta. Heute jedoch lag mir das Essen schwer im Magen, meine Gedanken kreisten ununterbrochen um das vielleicht verbockte Diktat. Meine Oma, die trödeln für Verschwendung von Lebenszeit hielt, mahnte mich mehrmals schneller zu essen. Nach dem Essen drangen Mutter und Oma darauf, dass ich schnellstmöglich die Hausaufgaben erledigte, damit ich nach Ende der Mittagszeit Kundinnen beim Heimtragen der Ware helfen konnte. Endlich etwas, das meine Stimmung aufhellen konnte. Verbotenerweise ließ ich mich nie lange nötigen, wenn mir eine Kundin einige Pfennige als Trinkgeld zusteckte, das mir dann zur Finanzierung von Autosammelbildern diente.

Der Samstagvormittag verlief einigermaßen angenehm. In der Schule hatte sich der Lehrer keine weiteren Grausamkeiten einfallen lassen und beließ es dabei, uns zwei Stunden in Heimatkunde zu unterrichten. Da er auch aus dem Rheinland stammte, untermalte er den Unterricht mit Erzählungen, die ihn mit den im Unterricht vorkommenden Orten verbanden. Schon um Zehn war an diesem Tag der Unterricht beendet. Als ich nach Hause kam, war wieder viel Kundschaft im Laden und ich verdrückte mich schnellstmöglich auf den Hof zum Vogelbauer. Da der grobe Rost bereits mit der Drahtbürste entfernt war, begann ich damit, die einzelnen Drahtstangen des Bauers zuerst mit groben und anschließend mit feinem Schmirgel zu bearbeiten. Ich kam nur langsam voran, da das Vogelbauer aus vielen dieser kleinen Stangen bestand. Da es ein schöner, warmer Sommertag war, kam ich ziemlich ins Schwitzen. Ich wischte mir ab und an mit den Händen den Schweiß von der Stirn, hin und wieder wischte ich die Hände an der Hose ab. Als meine Mutter mich zum Essen rief, war sie einigermaßen entsetzt über mein Aussehen, sie unterzog mich umgehend einer ausgiebigen Reinigung und versuchte, mit einer groben Bürste meine Hose wieder in einen ordentlichen Zustand zu versetzen.

Am Samstag war der Laden nachmittags geschlossen. Meine Mutter hatte beschlossen, mit mir nach Donrath zu ihren Eltern zu fahren. Nach Donrath fuhr ich gerne, aber nur, wenn ich allein fahren durfte. Ich war schließlich groß und wenn ich allein nach Donrath fuhr, konzentrierte sich Oma und Opa auf mich und verwöhnten mich nach allen Regeln der Kunst. Kam ich mit meiner Mutter nach Donrath, war Aktion angesagt, es wurde entlang der Agger gewandert. Lieber hätte ich mich weiter mit meinem Vogelbauer beschäftigt, denn der Rost war schließlich widerstandsfähig und noch lange nicht vollständig entfernt. So kam ich dann während der Busfahrt zu der bereits anfangs gemachten Feststellung – eine echt beschissene Woche.

Zum Glück waren noch keine Ferien. So blieb nach der Ankunft nur Zeit für eine kurze Wanderung zur Dornhecke. Da der Tag warm war, durfte ich vor dem Abendessen noch mit den Kindern des Hauses in der Agger baden. Das war bei niedrigem Wasserstand selbst für kleinere Kinder ungefährlich, reichte mir doch an diesem Tag das Wasser selbst an den tiefsten Stellen nur knapp bis zu den Knien. Am Sonntag begleitete ich den frömmelnden Opa nach Lohmar zur Kirche. Zur Kirche gehen war Pflicht, schließlich war ich auf dem Weg zu einem guten Katholiken und im kommenden Jahr sollte ich zur Erstkommunion gehen. Ich hatte aber schon einen Plan, mir durch den Kirchgang eine Eisenbahnfahrt zu erschleichen. Der Weg nach Lohmar zur Kirche war nicht weit, vielleicht so zwei oder drei Kilometer. Aber sowohl Lohmar als auch Donrath verfügten damals über einen Bahnhof. So wurde es mir bereits bei der Messe etwas schlecht und nach der Kirche fühlte es mich gar nicht wohl. Der Opa, der auch nicht gerne zu Fuß ging, nahm das zum Anlass, für die kurze Strecke die Eisenbahn zu nehmen. Oma reagierte säuerlich auf die ungeplante Geldausgabe und mir ging es auch schon wieder viel besser. Am Nachmittag fuhr dann schon der letzte Bus des Tages in Richtung Düsseldorf und während der Fahrt reifte in mir der Plan, das Vogelbauer zum Fang von Vögeln zu benutzten.

Die neue Woche begann viel entspannter als die beschissene vergangene Woche. Montags war der Lehrer krank und da an diesem Tag der Unterricht erst um Zehn anfangen sollte, waren wir nach einer Vertretungsstunde durch einen Referendar schon vor Elf wieder auf dem Heimweg. Das Wetter hatte sich deutlich zum Besseren gewendet, die Zeichen deuteten auf einen langen, heißen Sommer hin. Hausaufgaben waren uns nicht aufgegeben worden und zu Hause lauerten auch keine Aufgaben, wie den Laden hüten oder sonstiges. Für den Nachmittag hatte ich mich mit Freunden verabredet. Die Zeit nach dem Mittagstisch widmete ich der weiteren Rostentfernung. Kurz bevor ich mich mit den Freunden treffen wollte, war der Rost entfernt und das Vogelbauer erstrahlte in neuem Glanz. So blieb nur noch das Organisieren von etwas Bindedraht, um die Öffnungen zur Aufnahme, der nicht vorhandenen der Futtertröge zu verschließen. Alles suchen half nicht, denn in der Nachkriegszeit lag selten etwas Brauchbares herum und so änderte ich den Plan und suchte nach Kordel oder ähnlichem. Schließlich stibitzte ich etwas von der zu einem Knäuel aufgeribbelten Wolle eines abgetragenen Pullovers und verschloss damit die Öffnungen. Ich wusste, der Boden eines Vogelbauers sollte mit Sand bedeckt sein, das hatte ich gesehen, als ich den Kanarienvogel eines Nachbarn besichtigen durfte. Sand stand mir nicht zur Verfügung, so nahm ich etwas Erde aus einem der Randbeete des Hinterhofs und verstreute diese im Vogelbauer. Ich war zufrieden und lief zu den Freunden auf der Straße. Wir beschlossen durch die Ruinen zu stromern, da wir uns dort am schnellsten der Aufsicht von Eltern und Nachbarn entziehen konnten. Und selbst der, immer zur falschen Zeit auftauchende, Schanditz (wir benutzten dieses Mundartwort für Polizist, obwohl es ins Hochdeutsche übersetzt Gendarm bedeutet) folgte uns mit seinem Fahrrad nicht in die Trümmerwüste.

Das freundliche Wetter dauerte auch am Dienstag an. Der Lehrer war immer noch krank, so lief die Schule weiterhin auf Sparflamme. Deshalb hatte ich Zeit, mich mit meiner Vogelfalle zu beschäftigen. Ich prüfte das Türchen des Bauers, es ging etwas schwer, fand ich und der Verschluss hakte nicht sicher ein. Anschließend stellte ich mit einer Kombizange den Verschluss etwas strammer. Die schwergängigen Scharniere machte ich mit etwas Schmieröl leichtgängiger. Was blieb, ich brauchte für die Falle einen Köder. Ich verschob das Problem auf später, da meine Oma mich zum Kaffeeröster schickte, um den Kaffeevorrat im Laden aufzufüllen. Am späteren Nachmittag ging ich auf den Hof, um das Problem mit dem Köder zu lösen.

Ich setzte mich auf die Treppenstufen, die vom Treppenflur auf den Hinterhof führten, da ich von dort aus einen guten Ausblick auf die Hühner hatte, die in einer Freiluftvoliere gehalten wurden. Mir war aufgefallen, dass sich in der Voliere fast ständig eine lärmende Schar Spatzen herumtrieb und hoffte so, die Lieblingsspeise dieser frechen Vögel herauszufinden. Ich hatte echt keine Ahnung, aber es war nur eine Frage der Zeit, wann sich das Rätsel löste. Am späteren Nachmittag kam meine Oma und verteile in den Futtertrögen das Hühnerfutter. Den Vorgang kannte ich natürlich, da er sich täglich zweimal wiederholte. Ich nutzte Teile des Futters selbst gerne und heimlich zum Knabbern, daher waren mir auch wesentliche Bestandteile des in einem großen Sack gelagerten Futtermittels bekannt. Es gab darin Körner diverser Getreidearten, Krabbenschalen und etwas Mais. Was mich zum Knabbern verleitete, waren die im Futter enthaltenen Weizenkörner. Ab und zu knabberte ich auch auf einem Maiskorn herum, nichts ging aber über Weizen. Erwischen lassen durfte ich mich beim Knabbern des Hühnerfutters aber nicht. Meine Mutter war in Sorge, das Getreide wäre eventuell verunreinigt. Damit lag sie wahrscheinlich richtig, aber mich beeindruckte das wenig. Das Spielen in der Trümmerlandschaft hatte auch wenig mit Reinlichkeit zu tun. Tote Ratten und ab und zu ein Hundekadaver gehören heutzutage wohl kaum zur Hygiene eines Kinderspielplatzes, damals hat das aber niemand beeindruckt. Das mit den Kadavern behielt ich aber lieber für mich, denn das verbotene Spiel in den Ruinen verursachte, auch ohne diese Einzelheiten preiszugeben, genug Ärger. Oma dachte, wenn sie mich am Hühnerfutter erwischte, wohl eher daran, dass es ziemlich viel Mühe machte, das Futter zu beschaffen.

Die Hühner stürzten sich immer sofort auf die Futtertröge. Die mutigeren Tiere liefen an die Tröge noch während Oma das Futter verteilte, die nicht so mutigen, warteten bis Oma sich zurückzog. Dabei gingen die Tiere weder untereinander noch mit dem Futter zärtlich um. Jede Menge des Futters verteile sich dabei auf dem Boden der Voliere. Solange genug Futter in den Trögen vorhanden war, kümmerte das die Hühner wenig. Das war wohl die Chance, auf die die Spatzen gewartet hatten. Mit lautem Gezirpe, sich gegenseitig vertreibend und behindernd, pickten sie das verstreute Futter vom Boden auf. Ich beobachtete genau und kam zu dem Schluss, dass die Spatzen, genau wie ich, Weizen bevorzugten. Ich blieb auf meinem Posten, bis die Hühner die Tröge geleert hatten und sich selbst den verstreuten Futterresten widmeten. Die Spatzen hatten nun das Nachsehen, versuchten aber weiter, ihren Anteil am Futter zu erhalten. Für mich war die Sache klar, einen Vogel in meinen Vogelbauer zu locken war einfach. Ich brauchte nur genügend Weizen als Köder.

Es kamen die Sommerferien. Meine Planungen zum Vogelfang wurden dadurch unterbrochen. Meine Großeltern wollten mich mit auf eine Reise in ihre Heimat nehmen, während meine Mutter derweil allein den Laden hütete. Das Vogelbauer landete erst einmal in einem regensicheren Unterstand. Er sollte ja nicht gleich wieder von Rost überzogen werden. Die Reise versprach ein Abenteuer zu werden, stammte Opa doch aus dem Alpenvorland und Oma war auf der Schwäbischen Alp zu Hause. In den frühen fünfziger Jahren war das noch eine weite Reise und so endete die erste Etappe bereits in Mannheim. Meine Großeltern hatten dort Bekannte, mit denen sie vor und während des Ersten Weltkriegs unter einem Dach zusammengelebt hatten. Dies muss zu einer Zeit gewesen sein, die für mich in prähistorischer Ferne lag. Daraufhin erschienen mir Oma und Opa noch älter, als sie tatsächlich waren. Die Reise ging weiter über München nach Miesbach. Zwischen Miesbach und Irschenberg bewirtschaftete Opas Bruder zusammen mit seiner gesamten Familie seinen Bauernhof mit Milchkühen. Ich war noch nie in einer solch einsamen Gegend gewesen und fand das alles sehr abenteuerlich. Von einer kleinen Anhöhe hinter dem Hof bot sich ein fantastischer Blick auf die nahen Alpen. Solche Berge hatte ich noch nie gesehen und war tief beeindruckt von den Felsgebilden, die sich dort auftürmten.

Oma und Opa waren für mich uralt, in Wirklichkeit aber waren sie erst Anfang sechzig und körperlich äußerst fit. Es gab großes Programm. Wir bestiegen gemeinsam den Wendelstein, besuchten den Tegernsee und München. An einem Ruhetag durfte ich in der Leitzach baden. Wie dieses Programm in gerade einmal vierzehn Tagen abgewickelt wurde, ist mit heute einigermaßen schleierhaft. Auf der Rückfahrt gab es einen Stopp in Omas Heimatort Gerhausen. Meine Oma hatte dort eine Menge Verwandte, stammte sie doch aus einer äußerst großen Familie. Sie hatte an die fünfzehn Brüder und Schwestern. Alle noch lebenden Geschwister, sofern es sie nicht in die Fremde verschlagen hatte, wurden aufgesucht. Viel ist mir nicht im Gedächtnis geblieben – der Blautopf in Blaubeuren hat mich beeindruckt.

Meine Karriere als Vogelfänger verdrängte ich während der Reise, zu viel Neues gab es zu verarbeiten. Oma, eine äußerst strenge und prinzipientreue Frau, ließ mir ungewohnt viel Freiheit. Opa, der sonst gemeinsam mit Oma jeden Pfennig dreimal umdrehte, bevor er ausgegeben werden durfte, zeigte sich äußerst großzügig. Ich durfte mir während der Ausflüge im Restaurant zu essen aussuchen, worauf ich gerade Lust hatte und das ohne, dass auf den Preis geachtet wurde. Sogar ein Eis am Nachmittag wurde mehrmals genehmigt. Gespart wurde nur an Einem, am Fotografieren. Damals hatte ich meine Leidenschaft für das Fotografieren entdeckt und besaß eine Bilora Box. Fotografiert wurde möglichst alles, was mir vor die Linse kam. Das ging im Beisein der Großeltern nicht – zwei Bilder am Tag, das reicht, basta! Ach, basta hat Oma bestimmt nicht gesagt, ich weiß nicht einmal, ob das aus dem Italienischen stammende Wort damals schon bekannt war.

Wieder zu Hause, überbrückte ich die Zeit, bis ich mit meiner Mutter für den Rest der Ferien nach Donrath fuhr, mit dem heimlichen Sammeln von Weizenkörnern. Das Vogelbauer ließ ich derweil in seinem Unterstand, denn ohne ausreichendes Vogelfutter machte ich mir keine große Hoffnung auf einen erfolgreichen Vogelfang. Sorge bereitete mir das Finden eines mäusesicheren Verstecks für meinen Weizenvorrat. Es wimmelte einfach überall von Mäusen, die reichlich Nahrung in den Ruinen fanden und sich auch ungeniert bis in die Wohnungen vorwagten. In der Küche klaute ich ein selten benutztes nicht allzu großes irdenes Schälchen. Das Schälchen brachte ich in meiner Spielzeugkiste unter, die in dem Zimmer auf der ersten Etage stand, das ich mir mit meiner Mutter teilte. Ich hielt diesen Ort für relativ mäusesicher und er bot den Vorteil, dass sich niemand für den Inhalt der Kiste interessierte. Da ich es mir zur Angewohnheit gemacht hatte, immer dann, wenn beide Frauen Kundschaft bedienten, am Hühnerfutter zu naschen, war es mir ein Leichtes, jeden Tag eine kleine Hand voll Weizen in der Spielzeugkiste zu deponieren. Da Ferien waren, traf ich mich nur selten mit Freunden, höchsten zwei- oder dreimal in der Woche, um die Ruinen zu erforschen. So war am Wochenende, als wir dann nach Donrath aufbrachen, genug Vogelfutter im Versteck deponiert, um nach den Ferien aktiv in den Vogelfang einzusteigen.

Donrath war wie immer, nur das Wetter spielte nicht so mit, es regnete oft, was die liebste Freizeitbeschäftigung von uns Kinder, das Baden in der Agger, verhinderte. Meine Mutter nutzte das unbeständige Wetter ihren Wandertrieb zu befriedigen und ich musste mit ihr durch die Wälder ziehen. Besuche im nahen Siegburg waren die Krönung des Aufenthalts, denn im Aufschwung nach der Währungsreform hatten dort die ersten Cafés eröffnet. Siegburg brachte zwei Vorteile. Erstens fuhren wir dorthin mit der Eisenbahn und ich fuhr ausgesprochen gerne Eisenbahn. Zweitens, aber nur wenn Oma mit uns Enkeln dorthin fuhr, gab es ausreichend Torte im Café – Oma verfügte wohl über den größeren Geldbeutel und Torte aß sie selbst auch gerne. Am angenehmsten war Donrath jedoch an den wenigen warmen Sommertagen. Das Wasser der Agger war in diesem August angenehm warm und so fanden die Erwachsenen keinen Grund uns vorzeitig aus dem Wasser zu holen.

Ich verliebte mich in meine Cousine oder verliebte sie sich in mich? Wie dem auch sei, das verlieh dem Aufenthalt etwas Einmaliges. Wir verkrümelten uns so oft es ging, an einem verschwiegenen Plätzchen. Die Liebe hielt nicht lange, sie endete auf der Rückfahrt nach Düsseldorf. Was blieb, ist Vertrautheit, eine Vertrautheit, die uns lange begleitete und die auch noch heute jederzeit abrufbar ist.

Zurück in Düsseldorf, blieb nur wenig Zeit. Sonntag kamen wir zurück und nur einige Tage später waren die Ferien zu Ende. Der Sommer dachte noch nicht daran, sich zu verabschieden und so widmete ich mich wieder intensiv dem Vogelfang. Das Vogelbauer wurde auf dem Hof aufgestellt. Ich holte das Gefäß mit den Weizenkörnern aus der Spielzeugkiste und stellte es auf den blechernen Boden des Vogelbauers. Einige Körner verstreute ich als Köder vor dem Türchen des Käfigs und nun wartete ich darauf, dass Spatzen oder lieber noch Meisen in die Vogelfalle flögen. Im Vertrauen darauf, dass Vögel, die einmal in der Falle saßen, den Ausgang durch das Türchen nicht mehr finden würden, hielt ich eine Beaufsichtigung der Vogelfalle für überflüssig und schaute nur ab und zu auf dem Hof vorbei, um, wenn ein Vogel in der Falle gegangen sein sollte, das Türchen zuzuschlagen. Die erste Kontrolle fand morgens vor der Schule statt. Auf dem Weg zur Falle ging ich unauffällig am Sack mit dem Hühnerfutter vorbei, stibitzte dabei stets eine Händchen voll Körnern und verteilte diese vor der Falle, da die dort verteilten Körner regelmäßig verschwunden waren. Der Bestand an Weizen im Vogelbauer änderte sich zu meinem Bedauern nicht. Ich war aber weiterhin fest davon überzeugt, dass über kurz oder lang ein Vogel in die Falle gehen würde. So ging das eine ganze Zeit und ich verlor langsam das Interesse an der Sache. Der Prozess des nachlassenden Interesses begann schleichend. Mal vergaß ich morgens nach der Falle zu sehen, ein anderes Mal schaute ich nach der Schule nicht mehr auf dem Hof nach. Als sich am Ende der schönen Spätsommertage die aufgestaute Hitze in einem heftigen Gewitter entlud und sich in der ersten Septemberhälfte das Wetter schon eher wie ein früher Herbst gebärdete, hatte sich mein Interesse am Vogelfang endgültig verflüchtigt. Nach einigen Tagen, als ich auf Hinterhof zu tun hatte, fiel mein Blick noch einmal auf das Vogelbauer. Er hatte bereits wieder Rost angesetzt. Was mein Interesse indessen erweckte, war etwas Grün inmitten des Käfigs. Beim näheren Hinsehen sah ich, dass in der feuchten Luft die Weizenkörner keimten und sich bereits erste grüne Sprossen nach oben reckten. Da mein Interesse am Vogelbauer erloschen war, entfernte ich das Schälchen mit den Weizenkeimlingen aus dem Bauer und spendierte den Inhalt, den immer hungrigen Hühnern. Das Vogelbauer deponierte ich wieder in seinem regensicheren Unterstand, man kann ja nie wissen.

Die Zeit verging. Die Kartoffelferien verbrachte ich unbeaufsichtigt von der Mutter in Donrath. Allein die Fahrt dorthin war immer ein kleines Abenteuer für einen allein reisenden Jungen. Ich war mit mir im Reinen. Es folgte ein unangenehm nasser und dunkler Herbst, mit vielen Aufgaben im heimischen Lebensmittelhandel. Die Zeit verstrich unendlich langsam. Weihnachten nahte, ein groß gefeiertes Familienfest. Für meine Mutter war das ziemlich stressig, fühlte sie sich doch ihrer Herkunftsfamilie und der Familie meines Vaters verpflichtet. Der Heilige Abend verlief daher recht sonderbar. Das Geschäft wurde an diesem Tag um zwölf Uhr geschlossen. Danach ging schnell zur Straßenbahn, um zu meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, zu fahren. Wir trafen dort auf Mutters Eltern, die aus Donrath angereist waren. Am frühen Nachmittag Bescherung. Danach Nachmittagskaffee, wir Kinder nutzten die Zeit zum Spielen. Nach dem Kaffee drängte Mutter zum Aufbruch, es galt schließlich die letzte Straßenbahn des Tages zu erreichen (so war es damals –der öffentliche Personennahverkehr endete Heiligabend am Nachmittag). Zurück zu Hause gab es eine weitere Bescherung mit den Eltern meines Vaters. Der Abend endete für mich mit einem Abendessen. Traditionell gab es Kartoffelsalat mit Mettenden. Meine Mutter war nach solch einem Heiligabend ziemlich geschafft – ich war zufrieden – nicht jedem werden zwei Bescherungen gewährt.

Der Winter zog sich hin und im Laufe des Januars besuchten wir zusammen mit der Donrath-Oma Tante Luzi und Onkel Herrmann. Das waren zwei alte Leute, ähnlich alt wie Oma. Unser Verwandtschaftsverhältnis zu ihnen ist mir inzwischen entfallen, vielleicht habe ich auch nie erfahren, welche familiären Bindungen da bestanden. Sie wohnten im Süden der Stadt, da, wo sich die Stadt in flaches Land verwandelt, zusammen mit Sohn, Schwiegertochter und Enkel. Ich kann mich kaum noch an diese Leute erinnern, da wir nur selten Kontakt zu ihnen hatten. Es war dann an diesem Tag wohl so, dass meine Mutter erfuhr, dass der Sohn von Tante und Onkel aus beruflichen Gründen in eine ferne Stadt übersiedeln musste und die gesamte Familie sollte mit dorthin ziehen. Meine Mutter wurde sofort hellhörig, schließlich war damals eine frei werdende Wohnung eine Seltenheit. Es gab ein Problem mit der neuen Wohnung in der fernen Stadt – der Vermieter dort verlangte einen Baukostenzuschuss. Das war wohl damals nicht unüblich und da Geld knapp war, war guter Rat teuer. Die Lösung des Problems, damals wohl auch üblich, man erwartete vom Nachmieter einen Kredit zur Finanzierung des Baukostenzuschusses. Meine Mutter hatte kein Geld, deutete aber an, sie wolle versuchen, das Geld aufzutreiben.

Was das Ganze für mich bedeutete war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wozu eine eigene Wohnung? Schließlich hatten wir ein eigenes Zimmer. Meine Mutter sah das wohl anders. Das enge Zimmer, das wir bewohnten, bot gerade einmal Platz für unsere beiden Betten und ein paar, über den Krieg gerettete Möbelstücke. Klo, Wasser und Kochgelegenheit befanden sich eine Etage tiefer. Das ständige Zusammenleben mit den Schwiegereltern war für beide Seiten sicher auch nicht ganz unproblematisch, obwohl die beiden Frauen sich, so meine Erinnerungen, gut verstanden und bei der Zusammenarbeit im Laden und im Haushalt ein perfektes Team bildeten. Im Nachhinein glaube ich, es war Mutters Wunsch, ihre kränkelnden Eltern besser betreuen zu können. Die häufigen Wochenendfahrten nach Donrath fand sie wohl auf Dauer aufreibend. So fasste sie sich ein Herz und bat ihren Schwiegervater um das Geld für den Baukostenzuschuss. Opa und Oma sahen es nicht gern, dass wir ausziehen wollten, fanden aber Mutters Argumente nachvollziehbar und waren bereit ihr das Geld für den Kredit zu geben. Nach dieser Zusage nahm Mutter sofort die konkrete Planung auf. Schon wenige Tage später hatte sich meine Mutter mit dem Vermieter geeinigt und der entfernte Verwandte erschien bei uns, um den Kreditvertrag zu unterzeichnen. Danach ging es Schlag auf Schlag. Mutter verschwand für einige Tage nach Donrath, um ihren Eltern beim Packen zu helfen. Ich blieb zu Hause, da keine Schulferien waren. Mir ging es ausgesprochen gut, während meine Mutter weg war. Oma und Opa verwöhnten mich, was sie eigentlich sonst nie taten. Als Opa mir eines Abends sagte, er wäre traurig, weil wir auszögen, da wurde mir auch etwas komisch zu mute. Nachdem Oma mich zu Bett gebracht hatte, machte ich mir so meine Gedanken und dabei ging mir auf, durch den Umzug würde sich mein Leben total verändern. Die Reisen nach Donrath würden ein für alle Male vorbei sein. Meine gewohnte Umgebung würde ich verlassen, auf eine andere Schule gehen und die Besuche in Opas Autowerkstatt würden auch selten werden.

Als Mutter wieder zurückkam, dauerte es nicht mehr lange mit dem Umzug. Um Geld zu sparen hatte sie den Klüngelskerl, als Umzugsunternehmer engagiert. Der erschien eines Morgens mit einem Gehilfen, jeder von ihnen ein von klapprigen Gäulen gezogenes Fuhrwerk lenkend, auf unserer Straße. Obwohl die Straße recht eng war, wurden die beiden Fuhrwerke geschickt gewendet und kamen vor dem Laden zu stehen. Ich war ob dieses Manövers tief beeindruckt und schaute zu, wie unsere ganzen Habseligkeiten auf die beiden Wagen verladen wurden. Kaum war all unser Gut verladen, setzten sich die beiden Fuhrwerke in Bewegung und verschwanden nach kurzer Zeit aus meinen Augen. Meine Mutter hatte noch eine kleine Tasche mit irgendwelchen Dokumenten und dem wenigen Schmuck, den sie besaß. Diese nahm sie und ging mit mir zur Straßenbahnhaltestelle und so fuhren wir unserer neuen Heimat entgegen.

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Sillys Profilbild
Silly Am 24.06.2020 um 17:27 Uhr
Wunderbar geschrieben! Wirklich. Vielen vielen Dank für diese Geschichte, die mich in eine Zeit entführt hat, über die ich so wenig weiß.... Und als ich den letzten Satz gelesen hatte und auf das nächste Kapitel klicken wollte, kam mir folgender Satz über die Lippen:"Och schade... schon zu ende."

Liebe Grüße,
Silly.
BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 24.06.2020 um 19:58 Uhr
Liebe Silly,

Deine Beurteilung freut mich ungemein. Inzwischen glaube ich, dass ich mit meiner eigenen Beurteilung dieser Story daneben liege. Außer hier auf StoryHub kam die Geschichte auch in dem Seniorenforum, bei dem ich mitarbeite gut an. Dort habe ich wohl Erinnerungen an ein früheres Leben geweckt.

Liebe Grüße
Bernd
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Klatschkopies Profilbild
Klatschkopie Am 17.06.2020 um 16:09 Uhr
Hallo!
Ich mag deine Art zu schreiben, du besitzt einen guten Stil.
Allerdings wäre es für meine Begriffe besser, wenn du aus dem Bericht eine Geschichte machen würdest.
LG
LBR

Ps.: Dein Protagonist ist umgeschulter Linkshänder? Ich auch ... Ich kann nachempfinden, was dein Prota durchgemacht hat in der Schule. Erst die Umschuldung, dann der Drill zu schnellem Schreiben mit der nicht-dominanten Hand. Ja, da kommt Freude auf!
BerndMooseckers Profilbild
BerndMoosecker (Autor)Am 17.06.2020 um 18:34 Uhr
Hallo,

es freut mich, dass Dir mein Schreibstil gefällt und das in einer Story, die ich für misslungen halte, sowohl vom Schreibstil her, als auch inhaltlich. Wie ich schon in der Autorennotiz schrieb, ist es vielleicht für jüngere Leser interessant einen Einblick in das Leben eines Kindes in den Nachkriegsjahren zu erhalten.

Ja, ja, umgeschulter Linkshänder! Willkommen im Klub, kann ich da nur sagen. Immer mit der schönen Hand schreiben und dann so ein Gekritzel zu erzeugen, vor dem es mir selbst grauste. Aber ich hatte Glück, ich schreibe auf der Tastatur flott im Zehnfingersystem blind :-)

Gruß Bernd
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BerndMooseckers Profilbild BerndMoosecker

Bewertung

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Statistik

Kapitel: 4
Sätze: 336
Wörter: 6.284
Zeichen: 37.731

Kurzbeschreibung

Ein Kind lebt sein Leben nach dem Krieg in den Ruinen der Großstadt, bis zu dem Tag, an dem es unerwartet in einen damals ländlichen Vorort seiner Heimatstadt zieht.

Kategorisierung

Diese Story wird neben Heimat auch in den Genres Entwicklung und Familie gelistet.

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