Das Telefon klingelte bereits zum dritten Mal an diesem Vormittag, doch Ingrid Sieversen ging ganz bewusst nicht ran. Würde sie keinen Anruf von ihrer Schwester erwarten, hätte sie schon längst den Stecker des schrill läutenden Gerätes gezogen und es so zum Schweigen gebracht. Doch unter diesen Umständen musste sie jedes Mal erneut ihr Buch zur Seite legen, sich aus ihrem gemütlichen Lesesessel bequemen, zur Kommode eilen und nachsehen, welche Nummer auf dem Display des Telefons angezeigt wurde. Stand dort nicht ausdrücklich Margarethe Sieversen, konnte sie das Ding getrost wieder ignorieren und sich dem nächsten Kapitel ihres Thrillers widmen. Wahrscheinlich betätigte dieser Bauherr in regelmäßigen Abständen die Wahlwiederholungstaste, da er es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die ältere Dame in einem Gespräch um den Finger zu wickeln und ihr auf diese Art das Zuhause abzuschwatzen, das für ihn nicht mehr war als eine bloße Immobilie. „Was für ein arroganter Schmierlappen“, dachte sie, während das Opfer in ihrem Buch gerade geknebelt und gefesselt wurde. „An mir wird der sich noch die Zahnpastawerbungs-Zähne ausbeißen.“ Für gewöhnlich wären das Rascheln, das beim Umblättern der Seiten entstand, und das rhythmische Ticken der Standuhr die einzigen Geräusche gewesen, die sie in ihrem stillen Nest zu dieser Tageszeit gehört hätte, doch seit ein Paar Monaten hatte sich einiges geändert. Nun durchbrachen das Brummen und Dröhnen von Baufahrzeugen sowie die lautstarke Kommunikation der Arbeiter diese heimelige Ruhe. Ingrid Sieversen zog angestrengt ihre Augenbrauen zusammen, bemühte sich aus ihrem Sessel und schritt zum Fenster. Direkt vor ihrer Nase turnte eine enorme Anzahl gelber Warnwesten und Sicherheitshelme herum, doch es war kein schönes Gelb, wie zum Beispiel das von Sonnenblumen, sondern eine aggressiv leuchtende Variante, die in den Augen wehtat. Zwischen all diesen Neonflecken entdeckte Ingrid Sieversen plötzlich ein tristes, nachtschwarzes Exemplar. Schnell zog sie die schützenden Gardinen zu, da sie mit Sicherheit nicht vorhatte, diesem Fatzke auch noch freundlich zuzuwinken. Wahrscheinlich war sein Handy bereits mit seinem Ohr verwachsen und gleich würde ihr Telefon das vierte Mal klingeln. Sie beschloss, diesem Treiben zumindest vorerst den Rücken zuzukehren und ging nach hinten zur Küche durch. Ein Tee wäre jetzt genau das Richtige. Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, hörte sie ein weiteres, inzwischen wollbekanntes Geräusch. Mit einem deutlichen Platsch landete sämtliche Post in ihrem Flur, die durch den Briefschlitz geworfen wurde. Inständig hoffte sie, dass sich dieses Mal etwas Nettes darunter befinden würde und nicht nur diese sie förmlich anschreienden Angebote, welche Vorteile sie erwarten würden, wenn sie nur ihr Haus verkaufe. Am besten war noch eine Broschüre für das nächstbeste Seniorenheim angeheftet. Ingrid Sieversen schnaubte abfällig. In Gedanken versunken setzte sie sich an den kleinen Küchentisch, schloss ihre Hände um die bauchige Teetasse und genoss die wärmende Wirkung, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete. „Hätte Winfried doch nur ein Paar Jahre länger durchgehalten…“, dachte sie wehmütig und erinnerte sich an ihren ehemaligen Nachbarn. Herzlich lächelnd und stets mit einer Gartenschere bewaffnet hatte er immer fit und gesund auf sie gewirkt. Doch dieser Schein hatte sie getrügt und vor nicht allzu langer Zeit war er für immer eingeschlafen. Sie seufzte. Mit diesem Ende hatte das ganze Chaos seinen Anfang genommen. Nun wurde hier eine Luxus Hotelanlage gebaut, samt sehr, sehr breiter Straße, für die dicken Autos und Hotelgäste. Nur das Grundstück von Ingrid Sieversen fehlte noch, damit die Investoren auch wirklich freie Fahrt hatten. Alle übrigen umliegenden Grundstücke hatten sie inzwischen erworben. Zynisch lachte sie auf. Was nahmen die sich nur heraus? Sie waren hier doch nicht bei Monopoly! So lange sie noch bei klarem Verstand war, würde sie nicht einmal im Traum daran denken, zu verkaufen. Für kein Geld der Welt würde sie ihre Vergangenheit und gesammelten Erinnerungen dem Erdboden gleichmachen lassen und die vier Wände, in denen erst sie aufgewachsen war, ehe sie hier ihre Kinder großzog, verraten. Aber das Unternehmen schien diese Ansätze partout nicht zu verstehen. Doch sie würde weiterhin standhaft bleiben, auch wenn dies zugegebenermaßen mehr und mehr an ihren Kräften zehrte.
Wieder klingelte es. Nun aber war die Tür an der Reihe. Ingrid Sieversen seufzte erneut und marschierte durch den Flur. Sie wusste, was nun auf sie zukommen würde und konnte sich nicht genau erklären, warum sie sich überhaupt die Mühe machte, dem entgegenzutreten. Vielleicht waren es ihre guten Manieren? Sie löste die Kette, drehte den Schlüssel herum und öffnete die Tür, wobei sie die zuvor eingetroffene Post zur Seite geschoben wurde und ein bisschen zerknickte. Ihr gegenüber stand besagter Anzugträger, dessen weißen Zähne sie im ersten Augenblick blendeten. Ob sie wohl im Dunkeln leuchteten? „Guten Morgen Frau Sieversen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“ Machte der Witze? Sie blieb stumm. „Ich würde gerne nochmal mit ihnen auf das Angebot bezüglich des Verkaufes zu sprechen kommen. Dafür möchte ich gerne einen Termin mit Ihnen vereinbaren, dann könnten wir bei einer schönen Tasse Kaffee…“ Ingrid Sieversen erinnerte sich an den Geschmack von sauren Zitronen und funkelte böse mit den Augen. Auf diese Weise schien ihr Gesichtsausdruck genau die gewünschte Wirkung auf Mister Grand Hotel zu erzielen, da er abrupt verstummte und entschuldigend die Hände hob. „Ich seh’ schon, sie möchten in Ruhe darüber nachdenken. Melden sie sich doch bei mir, wenn sie einen Entschluss gefasst haben. Ich wünsche einen schönen Tag.“ Erhobenen Hauptes stolzierte er zurück zur Baustelle. Kopfschüttelnd machte Ingrid Sieversen die Tür wieder zu, verschloss sie gut und machte sich daran, ihre Topfpflanzen zu gießen, um sich etwas zu beruhigen. „Wenn sie einen Entschluss gefasst haben“, äffte sie den Schuft in Maßanzug nach. Ihr Entschluss stand schon längst fest und sie hatte ihn tausend Mal verkündet. Doch dieser Schönling mit Betonfrisur hatte ihr nie zugehört, das war sein Problem. Sie fragte sich, wie es weitergehen sollte. Jeden Tag aufs Neue dieselbe lästige Leier zu ertragen würde ihr bald den letzen Nerv rauben. Zusätzlich musste sie sich eigentlich um noch ein Problem kümmern, nämlich ihren Garten. Sie schaffte es körperlich einfach nicht mehr, diesen in Schuss zu halten, doch würde es sich überhaupt lohnen, einen Gärtner zu beauftragen, wenn sie dort draußen bald von weißen Bademantel tragenden Saunagästen umgeben war? Sie fühlte sich überfordert und allein diese bloßen Gedanken forderten einiges an Ausdauer, doch sie wollte sich nicht unterkriegen lassen. Noch nicht. Sie würde schon noch den ein oder anderen Trumpf aus ihrem Ärmel hervorzaubern. Sie beschloss, vorerst am Rechner im oberen Stockwerk in ihr Email-Postfach zu schauen. Das würde sie erstmal etwas ablenken. Als sie die auf der zweiten Stufe ihrer Treppe stand, begann ein Presslufthammer oder eine ähnliche Gerätschaft mit voller Lautstärke seine Arbeit. Ingrid Sieversen verzog schmerzverzerrt das Gesicht und drehte an dem kleinen Rädchen ihres Hörgerätes. Sie könnte nörgeln und sich beklagen, wie es im Alter doch bergab ging, jegliche Körperfunktionen nachließen und sie sich immer renovierungsbedürftiger vorkam. Stattdessen könnte sie sich jedoch auch einfach freuen, wie leicht es nun war, die tosende Umwelt zum Schweigen zu bringen. Da es ihrer Schwester Margarethe schon immer schwer gefallen war, sich an vereinbarte Uhrzeiten zu halten, musste sich diese nun auch nicht wundern, wenn sie jetzt nicht mehr zu erreichen war. Akustisch abgeschottet setzte sie ihren Weg fort, vorbei an zahlreichen Bildern, die an der Wand zum oberen Stockwerk hingen. Allerlei Lebensabschnitte waren darin eingefangen und verewigt und erzählten in Form dieser Momentaufnahme ganze Geschichten. So wie dieses Haus. „So lange ich lebe, wird es nicht verkauft“, dachte Ingrid Sieversen noch während sie an dem robusten Schreibtisch aus dunkelbrauner Kastanie Platz nahm. Ungeduldig klopfte sie mit den Fingern auf die Tischkante, während der PC hochfuhr. Ein weiterer Vorteil ihres Alters war, dass sie sich in vielen Situationen dumm und unwissend stellen konnte, wobei sie insgeheim mehr Kenntnisse hatte, als unter Umständen angenommen wurde. Kaum einem war bekannt, dass sie mehrere Computerkurse belegt hatte und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten dadurch mehr als passabel waren. Sie versuchte stets, sich auf dem neusten Stand zu halten. Margarethe hingegen wollte nicht skypen, nicht einmal erfahren, worum es sich dabei handelte und würde wohl eher eine Brieftaube bevorzugen. Ingrid Sieversen allerdings hoffte, dass mit dem Bau des Hotels auch endlich das Glasfasernetz in dieser Provinz ausgelegt werde. Das wäre wenigstens ein Vorteil und viele Prozesse würden deutlich schneller von statten gehen. Inzwischen hatte der Rechner zur Begrüßung gepiepst und war betriebsbereit, jetzt musste sie nur noch überlegen, mit welcher ihrer Brillen sie am Besten das Geschriebene auf dem Bildschirm entziffern konnte. Sie entschied sich für zwei Exemplare, die sie übereinandersetzte und öffnete das Email Postfach. Das meiste darin war Werbung, die allerdings sehr hübsch aussah und tatsächlich Lust auf mehr machte. Ingrid Sieversen überflog die Angebote, doch nach einigen Minuten war sie bereits damit durch. Fast niemand ihrer Freunde nutzte die moderne Technik so wie sie, daher warteten leider keine weiteren Nachrichten darauf, beantwortet zu werden. Sie dachte wieder an den Investor, der vor Kurzem so frech auf ihrem Grund und Boden stand und ihr scheinbar durch die Blume und doch sehr direkt mitgeteilt hatte, dass sie doch bitte ihr Zuhause verlassen möchte, da sie störte. Ingrid Sieversen wünschte sich sehnlichst, sich in sein Computersystem hacken zu können, um dort den ein oder anderen Unfug anzustellen. Doch soweit war sie leider noch nicht. Noch. Aber war genau dieser Ansatz vielleicht der Schlüssel? Vielleicht war es jetzt an der Zeit, ihren passiven Widerstand in eine aktive Gegenwehr zu verwandeln? Sie musste nicht nett oder zurückhaltend sein, sich hier verstecken und abwarten, nein, sie konnte handeln. Mit zehn Fingern tippte sie etwas in die Suchleiste ihres Internetbrowsers. Es dauerte nicht lange, ehe sie fündig wurde.
Heavy Metal Band sucht Probenraum. Ihr Gartenhaus wäre perfekt dafür. Das wäre doch mal etwas anderes, als Spa im Garten mit grünen Smoothies und Thai Chi Klängen. Suche Ort für Möbelrestaurierung. Grandios. Hierfür war die leerstehende Garage ein geeignetes Plätzchen. Pfau sucht Zuhause. „Wie außergewöhnlich“, dachte Ingrid Sieversen und sie wusste, dass Pfaus schön laut sein konnten. Vielleicht könnte sie noch einige Schafe dazu nehmen, dann hätte sie auch gleich jemanden, der ihren Garten in Schuss halten würde. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Und dieser Möbelrestaurator konnte vielleicht den alten Schuppen zu einem Stall umbauen. Während sie die Antworten auf diese Annoncen verfasste, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Schließlich lehnte sie sich zufrieden zurück, faltete die Hände und konnte es kaum erwarten, bis sich die ersten meldeten. Ihr Haus würde zu neuem Leben erwachen. Es würde bunt werden, laut und exotisch. Und wenn ihr all dies zu viel wurde, konnte sie ihr Hörgerät rausnehmen, die Brillen absetzen und es sich in irgendeinem Zimmer gemütlich machen.
Nun war Schluss mit guter Nachbarschaft. Ingrid Sieversen war für den Gegenangriff gerüstet. Und das war zunächst nur der erste Streich, bis sie gelernt hatte, zu hacken.