Der Apfelbaum in der Dämmerung
Eleanore Young starb an einem Mittwoch. Es war ein ausnehmend schöner Tag gewesen; Beth - das Hausmädchen, das Mr. Young zur Pflege seiner Gattin eingestellt hatte, da er sich trotz des guten Gehalts, das ihm das Merton College bezahlte, keine echte Krankenschwester leisten konnte - hatte Mrs. Youngs Schlafzimmerfenster geöffnet, um die frische, warme Aprilluft und die vielfältigen Blütendüfte, die in ihr lagen, herein zu lassen, nachdem sie Eleanore den Nachmittagstee gebracht hatte.
Nachdenklich hatte Eleanore in ihre Tee Tasse geblickt, einmal mehr die kräftige, grünlich-goldene Farbe und das sanfte, aber würzige Aroma des exquisiten Tees, den ihre Freundin Clementine ihr gebracht hatte, bewundert. Sehnsüchtig dachte sie daran, wie schön es doch wäre, diesen exzellenten Tee draussen unter dem blühenden Gold- und Blauregen in der von Hyazinthen, Lilien und Veilchen umgebenen Gartenlaube zu geniessen, wie sie es früher oft zu dieser Jahreszeit mit ihren Freundinnen zu tun gepflegt hatte.
Ach, es war so ungerecht, dass Beth sie noch immer das Bett hüten liess. Der schlimmste Teil ihrer Scharlacherkrankung war doch schon seit Wochen überstanden und obwohl sie noch leichtes Fieber hatte, fühlte sie sich doch eigentlich ganz wohl.
Sicher würde es sie nicht umbringen, den Tee draussen einzunehmen. Sie würde Frederik am Abend darum bitten, es zu erlauben.
Dies war Eleanores letzter klarer Gedanke, bevor fürchterliche Kopfschmerzen sie wie aus dem Nichts befielen und ihre rechte Hand mit der Teetasse kraftlos und taub auf die feine, rosafarbene Decke sank. Sie wollte nach Beth rufen, doch kaum ein verständliches Wort verliess ihre Lippen.
Als das Hausmädchen ins Zimmer ihrer Herrin zurückgekehrt war, hatte Eleanore leblos und kaum noch atmend zwischen den bunten Kissen gelegen und obwohl Beth sofort nach dem Arzt geschickt hatte, war der Kampf um das Leben der jungen Mrs. Young bereits so gut wie verloren gewesen.
„Tiny, sieh mal dort.“ Mortimer sprach den Kosenamen so zärtlich und liebevoll aus, dass Clementine ihm kaum böse sein konnte, obwohl sich ein solches benehmen in der Öffentlichkeit ganz und gar nicht schickte. „Ist das nicht Mr...“ Mortimer hielt inne und versuchte, sich an den Namen zu erinnern, doch er wollte ihm nicht einfallen. „Du weisst schon. Miss Eleanores Witwer.“
„Mr. Young“, half Clementine ihm – über seine Eigenart alle jungen Damen mit „Miss“ zu adressieren, egal ob sie nun verheiratet waren oder nicht, den Kopf schüttelnd - auf die Sprünge und besah sich den Herrn auf der anderen Strassenseite, auf den Mortimer unauffällig gedeutet hatte. „Ich glaube, das ist er wirklich.“
Seit der Beerdigung Eleanorens vor beinahe einem Jahr hatte Mr. Young sich fast gänzlich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Clementine erinnerte sich noch gut an sein geistesabwesendes Murmeln, als sie und Mortimer ihm ihr tiefstes Beileid ausgedrückt hatten: „Ich kann nicht glauben, dass sie fort ist... einfach so...“
Er hatte sie nicht einmal angesehen, sondern nur versunken in undurchdringlichem Gedankengewirr auf den Grabstein gestarrt, bis ihm schliesslich das Herz so schwer geworden war, dass er weinte wie ein verlorener kleiner Junge und keine Wohlmeinenden Worte oder Gesten vermochten, ihn in seinem Kummer zu trösten.
„Du meine Güte, er sieht ja fürchterlich aus“, stellte Clementine fest.
Frederik Young war nie ein besonders schöner Mann gewesen, doch die Zeit und sein Dasein als Witwer hatten es wahrlich nicht gut mit ihm gemeint. Er war ein Schatten seiner Selbst geworden: Dürr und von kränklicher Blässe. Seine klaren, blauen Augen, die einst von einem Mann mit wachem Geist gekündet hatten, blickten nun träg‘ und trübe aus tiefen, dunklen Höhlen in die Welt und sein vormals bereits farbloses Haar schien noch eine Spur fahler geworden zu sein und wahr wohl seit langem nicht mehr geschnitten worden.
„Er hat Miss Eleanores Tod wohl noch immer nicht überwunden“, vermutete Mortimer mitleidig. „Sieh doch, er trägt noch immer ein Trauerband an seinem Hut. Er muss sie wirklich sehr geliebt haben.“
Clementine konnte nicht umhin, eine gewisse Bewunderung für Mr. Youngs hingebungsvolle Trauer in Mortimers Worten heraus zu hören, obwohl es für einen Gentleman eigentlich unangebracht war, so lange zu trauern. Das ausgiebige Beweinen der Verstorbenen war die Domäne der Damen, denen ein derart schwaches Verhalten zugestanden wurde und auch diese durften sich keinesfalls so sehr gehen lassen, wie Mr. Young es zu tun schien.
„Komm“, sagte Mortimer und schickte sich an, die Strasse zu überqueren. „Wir wollen Mr. Young auf einen Tee einladen. Er sieht aus, als könnte er einen vertragen und es wird ihm sicherlich gut tun, etwas unter Leute zu kommen.
Frederik runzelte einen Moment lang die Stirn, während er versuchte, den Gentleman, der ihn gerade aus heiterem Himmel zu einem Tee eingeladen hatte, zuzuordnen. Er war sich sicher, dass er ihn schon einmal gesehen zu haben, es wollte ihm jedoch partout nicht einfallen, wo.
Die kleine, etwas hagere Dame, welche den Gentleman begleitete, erkannte er allerdings rasch: „Ach, sie sind doch Eleanores Freundin. Clementine, nicht wahr?“
Clementine nickte und hakte sich bei ihrer Begleitung unter. „Sie müssen meinen Mortimer entschuldigen“, sagte sie, da sie Frederiks Verwirrung über die plötzliche Einladung bemerkt hatte. „Er wollte Ihnen nur etwas Gutes tun und hat gar nicht daran gedacht, wie sehr er Sie damit überrumpelt.“ Ihre Worte waren voller gutmütigem Tadel, als spräche sie nicht von ihrem Ehemann, sondern von einem Kind, das sich ungezogen verhalten hatte. Mortimer störte sich nicht im Mindesten daran.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber...“, bemühte sich Frederik zu sagen. „Ich habe leider gar keine Zeit. Ich... muss dringend nach Hause... Das Hausmädchen... Sie verstehen?!“
Natürlich war allen Beteiligten klar, dass es sich hierbei um eine bemerkenswert faule Ausrede handelte.
Einerseits tat ein ordentliches Hausmädchen ihre Arbeit selbstverständlich auch in Abwesenheit des Hausherren, andererseits hatte Mr. Young bisher nicht den Eindruck eines Mannes, der in grosser Eile war, gemacht. Mortimer schien er vielmehr ziellos umher zu streifen, wie er selbst es zuweilen in Vollmondnächten zu tun pflegte, wenn er keinen Schlaf finden konnte.
„Mein lieber Mr. Young“, versuchte er es noch einmal. „Ich weiss, Sie haben noch immer grossen Kummer wegen der armen Miss Eleanore und ich bin bei Leibe kein Arzt, aber ich glaube nicht, dass es gesund ist, wenn Sie die ganze Welt einfach aussperren. Ihr Leben muss weiter gehen, auch wenn das Ihrer lieben Frau ein solch frühes Ende fand.“
Frederik blickte zu Boden, als wäre ihm bisher gar nicht bewusst gewesen, wie durchschaubar die ganze Situation tatsächlich war.
„Sie verstehen nicht“, murmelte er und machte dabei ein Gesicht, als bräche ihm gerade erneut das Herz.
Mortimer nickte und zog Clementine unbewusst etwas näher an sich. Natürlich konnte er nicht verstehen, was Eleanores Verlust in Mr. Youngs Herzen und seiner Seele angerichtet hatte und er war noch nie glücklicher darüber, unwissend zu sein. Er reichte Mr. Young seine Visitenkarte.
„Sollten Sie irgendwann doch beschliessen, dass es wieder Zeit ist, um unter Menschen zu kommen, oder Sie jemanden brauchen, dem sie ihr Herz bei einer Tasse Tee ausschütten und mit dem Sie Ihr Leid teilen können, lassen Sie es mich bitte wissen.“
„Natürlich.“
Befriedigt sah Mortimer zu, wie seine Visitenkarte in der Innentasche von Mr. Youngs Rock verschwand.
„Wenn Sie mich dann entschuldigen wollen.“
Mortimer trat zur Seite und reichte Frederik die Hand. „Alles Gute, Mr. Young. Und auf ein baldiges Wiedersehen.“
„Ihnen auch alles Gute“, bemühte Frederik sich zu sagen. Vor Clementine zog er knapp, aber höflich den Hut. „Ma’am.“
Es war schon seit Monaten Frederiks Gewohnheit, sich umgehend ins Gewächshaus zurückzuziehen und so wunderten sich weder Hausmädchen noch Köchin, dass keiner von ihnen grosse Beachtung geschenkt wurde, als er am frühen Abend heim kam.
Das Gewächshaus, ein grosszügiger, aber geradezu filigraner Neubau aus Glas und Stahlstreben, schmiegte sich wie ein extravaganter Wintergarten an das kleine Häuschen, das seiner nicht so recht würdig erscheinen wollte, und verband das Innere des Hauses mit dem eigentlichen Garten.
Eleanore hatte es immer mit dem kristallenen Palast einer Prinzessin aus einem Märchen verglichen und war besonders im Winter oft zum Lesen hierher gekommen; Frederik selbst hatte es seit jeher eher an einen äusserst kunstvollen Käfig erinnert.
Wie gewöhnlich führten seine Schritte Frederick zunächst zu der unscheinbaren Tür zur linken, hinter der sein kleines Studierzimmer lag.
Während er die Tür öffnete, zog er Mortimers Visitenkarte aus der Tasche. Einen Moment lang betrachtete er das golden umrahmte Kärtchen nachdenklich, bevor er es zusammenknüllte und es der Glut in dem kleinen Ofen neben seinem Schreibtisch übergab.
An den Haken neben den Ofen hängt er Rock und Hut, die unordentliche Krawatte landete über der Stuhllehne.
Beim Gedanken an das ach so glückliche Ehepaar Crawford wurde ihm übel; gerade noch konnte er das Studierzimmer wieder verlassen um sich nicht auf den Teppich sondern wenigstens in eines der vielen Beete des Gewächshauses zu übergeben. In seinen Schläfen stellte sich ein aufdringliches Pochen, das als bald zu einem dumpfen Schmerz werden würde, wie er wusste.
Erschöpft strich er sich durchs fahle, von kaltem Schweiss durchnässte Haar.
Frederik kannte die Zeichen: Das Opium, das er am Mittag seiner überspannten Nerven wegen geraucht hatte, verlor seine Wirkung; die Kälte der Welt kroch langsam zurück in seine Glieder.
Der warme, narkotische Opiumrauch war gerade genug, um ihn für eine Weile zu wärmen, die Übelkeit und den Schmerz zu vertreiben. Er hinterliess ihn sediert und entspannt, ohne ihn in den typischen träumerischen Halbschlaf, die geheimnisvollen, mohnroten Gefilde des Morpheus, zu ziehen, wie es Laudanum getan hätte.
Doch des Abends pflegte er, statt zur Pfeife lieber zu der kleinen Apothekerflasche aus braunem Glas in seiner Schreibtischschublade zu greifen. Denn des Abends wollte er träumen, wollte vergessen, was er nicht vergessen konnte.
„Er wollte ihnen nur etwas Gutes tun.“
Clementine Crawfords Worte klangen ihm in den Ohren, während er das Laudanum in ein Glas Wasser träufelte und es in einem Zug austrank, und entlockte ihm ein freudloses Lachen.
Ja, aber wie viel Gutes würde ihm jemand noch tun wollen, wenn diese Person die Wahrheit kannte?
Während er sich auf einer Bank zwischen Orangen- und Apfelbäumen niederliess und darauf wartete, dass die Droge ihre ersehnte Wirkung tat, tauchte Eleanorens Gesicht aus seiner Erinnerung auf. Vom Scharlach schwer gezeichnet, sah er sie vor seinem inneren Auge, wie sie so fragil in den Kissen lag, das dunkle Haar von Schweiss verklebt, die braunen Augen glasig von Fieber und die milchweisse Haut von ekelhaftem, rotem Ausschlag bedeckt.
Tag und nach hatte er um sie gebangt, war in jeder Minute, die er entbehren konnte, an ihrem Krankenbett gesessen, wissend um ihre von Natur aus kränkliche Konstitution.
Gebetet und geflucht hatte er, immer in der Hoffnung, das Fieber möge nachlassen.
Als Eleanore begann, sich besser zu fühlen, war ihm, als wäre ihm eine zentnerschwere Last von den Schultern genommen.
„Frederik, Liebster?“, hatte sie ihn eines Abends aufgehalten, als er sich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer zurückziehen wollte, um auf der Liege in seinem Studierzimmer zu nächtigen, wie er es zu dieser Zeit öfters zu tun pflegte, um die Gefahr, sich selbst anzustecken wenigstens ein bisschen zu mindern, wie er behauptete.
Sie deutete ihm, sich noch einmal zu ihr zu setzen.
„Ich habe nachgedacht und mir wurde klar, dass ich, wenn ich gestorben wäre, nichts von mir zurück gelassen hätte“, begann sie leise und vorsichtig. „Weisst du, Clementine hat bereits drei Kinder und Elizabeth bekommt gerade ihr Zweites. All meine Freundinnen haben bereits Kinder, nur ich...“ Sie brach ab und blickt beschämt zur Seite.
Frederik konnte nicht anders, als unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Er hatte gewusst, dass dieses Gespräch früher oder später wohl geführt werden musste und er hatte den Tag gefürchtet.
„Wenn ich’s recht bedenke... Dir schien nie besonders an der Erfüllung der ehelichen Pflichten gelegen zu sein.“
Frederik seufzte. „Habe ich dir jemals Zärtlichkeit versagt?“, versuchte er halbherzig, sich aus der Affäre zu ziehen.
„Nein. Du hast mich stets geküsst und geherzt, wann immer ich dir zu verstehen gab, dass ich das wollte. Aber nie hast du mir zu verstehen gegeben, dass du auch mich begehrst. Sag, Frederik, schlägt dein Herz vielleicht für eine andere Frau? Bin ich vielleicht nicht hübsch genug um deine Leidenschaft zu wecken?“ In ihrer Stimme lag kein Vorwurf, nur Unglück über den Gedanken, dass es so sein könnte.
Er nahm ihre Hand.
„Glaube mir, Eleanore, ich sehe dich als die schönste Frau der Welt, in meinem Herzen bist nur du und wenn ich jemals wahrhaftig eine Frau geliebt habe, dann dich.“ Er küsste zärtlich ihren Handrücken. „Ich wünschte, ich könnte dich begehren, wie es dir zusteht, doch ist meine Liebe zu dir auch rein und himmlisch, so trage ich doch grosse Sünde mit mir. Der Schoss einer Frau birgt für mich keine Lust, ihr weicher Busen vermag meine Leidenschaft nicht zu entflammen, auch wenn ich wünschte, dass es anders wäre.“
Sie entwand ihm ihre Hand und legte sie in ihren Schoss.
„So ist das also.“ Das war alles, was sie sagte und ihre Worte waren voll Traurigkeit.
„Verzeih, Eleanore“, hauchte Frederik mit gesenktem Kopf, „ich weiss, wie abscheulich das für dich klingen muss.“
Eleanore schwieg einen Moment.
„Gibt es nichts, was ich tun könnte?“, fragte sie schliesslich.
„Ich fürchte, diese Krankheit ist nicht zu heilen. Aber du sollst wissen, dass ich in den Jahren unserer Ehe niemals unglücklich war. Ich könnte mir keine liebreizendere und hingebungsvollere Gattin als dich wünschen. Du warst immer ein strahlender Stern in der Finsternis meiner eigenen Verdorbenheit.“
Damals schon hatte Frederik gewusst, er wäre jenseits aller Hoffnung, verlöre er Eleanore.
Die Erinnerung zerrte unerbittlich an seinem Herzen. Eleanore war die Einzige, mit der er sein dunkelstes Geheimnis zu teilen gewagt hatte und dieses Geheimnis hatte ihr Herz gebrochen, so dass sie nicht gesunden konnte. Nicht das Scharlachfieber hatte Sie letztlich getötet, sondern er selbst bereitete den Weg in ihr Grab.
Doch endlich liess das Ziehen und Zerren seiner inneren Dämonen nach, besänftigt durch die wohlige Wärme des Opiums, die sich wie eine weiche Decke über seinen mageren Körper ausbreitete.
Als er mit dem Rauchen von Opium begonnen hatte, damals, vier Monate nach Eleanorens Tod, war ihm, als wäre er zum ersten Mal wieder glücklich.
Nicht die langersehnte Ruhe zweier Laundanumtropfen in einem Wasserglas, die ihn schlafen liessen oder die aufgesetzte Fröhlichkeit, die er bis dahin in der Gesellschaft oder bei der Arbeit zur Schau getragen hatte, sondern echtes, wahrhaftiges Glück. So wie damals, als Eleanore seinen Antrag angenommen hatte, wie an dem Tag, als sie geheiratet hatten - ach, sie war so schön gewesen - und in dieses kleine Haus gezogen waren.
Schnell hatte er gelernt, dass dieses Glück geliehen war und dass Übelkeit und Schwindel ihm auf dem Fusse folgten - die Leihgebür, der Preis für einen Moment der Versöhnung mit der Welt und der Erlösung für eine geschundene Seele.
Auch hatte er lernen müssen, dass die künstlich erzeugte Euphorie des Opiumrauches ebenso vergänglich war, wie natürliches Glück und alsbald nur noch vermochte, ihn den Preis für den Rausch des Laudanums vergessen zu lassen.
Aber all dies hatte für Frederik nun keine Bedeutung; mit angenehm schweren Gliedern lag er auf der Bank - die Füsse baumelten über die Lehne - während das Gewächshaus sich unter seinem verschleierten Blick in den kristallenen Käfig der verlorenen Prinzessin verwandelte und die Bäume um ihn herum behutsame Schlaflieder zu summen schienen.
Der Klang dieser Lieder war kaum zu beschreiben: Ein leises, feierliches Brummen im Takt seiner tiefen Atemzüge, doch begleitet vom zärtlichen klingen gläserner Windspiele und dem verführerischen Klang der unendlichen Farben, in die das Licht des Mondes sich in den Kristallscheiben brach.
„Komm zu mir, Frederik.“
Er wusste nicht, ob die Stimme des Jünglings Wirklichkeit war, oder ein blosser Traum der ihn in seinem Halbschlaf heimsuchte, aber sie klang süss in seinen Ohren.
Frederik öffnete die Augen blickte nach der verschwommenen Silhouette des jungen Apfelbaums, über dem ein einzelner Stern zu stehen schien.
„Ich darf es nicht...“, hauchte er schläfrig.
Ihm war, als neige der Apfelbaum sich zu ihm hin.
Es war nicht das erste Mal, dass er die Stimme eines Jünglings hörte, während er sich dem Opiumrausch hingab und er war zu betört, zu entspannt um davor zurück zu schrecken.
Ein Zittern lief durch den schlanken Stamm des Baumes und Zoll um Zoll begann sich das Gesicht des Jünglings darin abzuzeichnen. Während seine Züge - die rosigen Wangen, das schlanke Kinn - immer wirklicher wurden, waren seine intensiv-grünen Augen das einzig Klare in Frederiks Wahrnehmung. Sie schienen ihm direkt in sein Innerstes zu blicken, auf all seine dunklen, verbotenen Begierden und Geheimnisse. Die vollen Lippen von der Farbe rosiger Apfelblüten kräuselten sich zu einem Lächeln.
„Du darfst also nicht... aber du willst es...“
Mehr und mehr formte sich der Körper aus dem Baumstamm, schon war der Kopf des Jünglings losgelöst, der schlanke Hals und die starken Schultern folgten. Seine Finger entwanden sich dem Geäst und senkten sich alsbald hinunter um Frederiks Wange zu streicheln.
Die vom Opium fast verstummte Stimme der Vernunft sagte Frederik, dass er aufstehen und gehen - flüchten - sollte, doch die Schwere seiner Glieder und die Berührungen des Jünglings - sie waren wie frisches Sommerlaub und hinterliessen ein willkommenes Prickeln auf seiner Haut - waren ihm so angenehm.
Dennoch versuchte er, sich aufzuraffen.
„Nein...“ Seine Worte waren nur mehr ein Keuchen. „Das ist nicht richtig... Ich... ich...“
„Ach, was ist schon richtig, mein Lieber Frederik?“, neckte ihn der Jüngling und die köstliche Kuhle zwischen seinen Schlüsselbeinen erbebte sanft unter seinem hellen Lachen, das wie von gläsernen Glockenspielen war. „Richtig ist nur ein Wort... Und du willst es doch so sehr...“, wisperte er verführerisch, während seine Finger langsam ihren Weg unter Frederiks Hemd suchten, heisse Spuren über seine Haut zogen und sein Herz schneller schlagen liessen.
„Ich darf dich nicht lieben“, hauchte Frederik zwischen zwei hastigen Atemzügen, wünschend dass die Berührungen tiefer wandern mögen und es zugleich fürchtend.
Wieder lachte der Jüngling sein Glockenspiellachen.
„Du sollst mich nicht lieben. Du willst mich nicht lieben. Du willst mich besitzen... mich nehmen...“, hauchte er in Frederiks Ohr, küsste sanft seinen Hals, während seine Finger neckend Frederiks Lenden streiften. „Ich bin alles was du begehrst und dir doch versagst, all die scheusslichen, dunklen Geheimnisse, die du in deinem Herzen weggeschlossen glaubtest, all die köstlichen Empfindungen die dir verboten sind. Und du könntest mich haben...“ Sie waren sich so nah, dass seine Lippen die Frederiks bei jedem Wort streiften. Der junge Botaniker stöhnte halb gequält, halb lustvoll auf. „Vergiss die Welt dort draussen, Frederik, sie ist nicht wichtig. Ein Wort von dir genügt und ich wäre dein. Alles, was du begehrst wäre ich für dich, wenn du dich nur hingeben würdest...“
Frederik tat einen tiefen Atemzug, umweht vom erdigen Aroma des Jünglings, und leckte sich über die trockenen Lippen, den zugleich süssen und herben Geschmack, der auf ihnen lag, wie von Harz und Honig zugleich.
Sein Körper war längst aus dem Halbschlaf in den sein Geist immer tiefer glitt - unfähig, sich gegen die sündigen Gedanken zu wehren -, erwacht und bog sich den neckenden Berührenden lüstern entgegen.
Es wäre so einfach...
Kein Zoll trennte ihre Lippen, wenn er sich nur ein bisschen aufrichten würde, könnte er den Jüngling gänzlich kosten, seinen eigentümlichen Geschmack auf seiner Zunge spüren, wie er sich in ihm Ausbreitete wie ein Feuerwerk aus Hitze und diesem Prickeln, das seine Berührungen hinterliessen. Die Erfüllung seiner Fantasien schwebte dicht vor ihm, er müsste nur die Hand ausstrecken und schon erbebte die Harme, seltsam glatte Haut des Jünglings unter seiner Berührung. nur ein bisschen mehr und er könnte jene delikate Kuhle zwischen den Schlüsselbeinen liebkosen, seinen Hals, seine Schultern, seine Brust...
Nur ein kleines bisschen, was machte es schon?
Es war so einfach...
Der Morgen war trüb und von tristem Grau, obwohl die Sonne durch die Scheiben des Gewächshauses schien.
Frederik erwachte nur halb bekleidet auf dem Boden zwischen der Bank und dem Apfelbaum, der sich nun wieder starr und unbeweglich himmelwärts reckte.
Sein Kopf pochte unangenehm, so dass er die Schmerzen in seinem restlichen Körper zunächst kaum bemerkte und ihm war aussergewöhnlich übel.
„Oh... was hab ich nur getan?“, fragte er halb sich selbst, halb den Apfelbaum, als könnte er ihm antworten.
Nur langsam und undeutlich kehrt seine Erinnerung an letzte Nacht zurück. Er errötete bei dem Gedanken an den bebenden Leib, an dem er sich in dieser Erinnerung rieb; die vollen, süssen Lippen des Jünglings, die feuchte, heisse Spuren über seinen Körper gezogen hatte, liessen ihn erneut erschauern, obwohl der Spuk längst vorüber war.
Hastig knöpfte Frederik sein Hemd zu um wenigstens angezogen genug zu sein, um durch das Haus laufen zu können, dann zog er sich rasch in sein Schlafzimmer zurück um sich einigermassen präsentabel herzurichten.
Dabei fiel sein blick für einen kurzen Moment auf sein Spiegelbild. Sein zunehmend heruntergekommenes Äusseres hielt ihn für gewöhnlich davon ab, lange vor dem Spiegel zu stehen, doch etwas liess ihn stutzen.
An seinem Hals entdeckte er drei, gereizte, gerötete Stellen, wie von Liebesbissen. Seine Finger zitterten, als er das Hemd aufknöpfte, seine abgemagerte Brust entblösste und weitere dieser Male vorfand. Sie waren überall dort, wo sein Körper am empfindsamsten war.
Frederiks Gesicht wurde noch eine Spur fahler als es ohnehin bereits war und er sank von plötzlichem Schwindel geplagt auf die Bettkante.
Wie war das möglich? Diese Flecken waren die offensichtlichen Zeichen einer äusserst leidenschaftlichen Liebesnacht, aber das war ganz ausgeschlossen. Er hatte doch nicht... Nicht wirklich ...
War es vielleicht möglich, dass jemand in sein Gewächshaus eingedrungen war? Irgendein Halunke, der ihn dort im Delirium liegen gesehen hatte und seine Gelegenheit gesehen hatte, selbst etwas Spass mit ihm zu haben?
Er erschauderte mit Abscheu. Das grenzte doch an Schändung!
Aber die Welt war voller skrupelloser Gesellen, man musste nur einmal die Zeitung aufschlagen, und sicherlich hätte keine ehrbare Dame und kein ehrbarer Gentleman den Nerv, auch nur an etwas Derartiges zu denken.
Er sagte dem Hausmädchen mit knappen Worten, sie solle die Polizei rufen, da er Grund zu der Annahme habe, dass in der letzten Nacht eingebrochen worden sei und verliess das Haus mit hochrotem Kopf, als sie berichtete, sie sei in der Nacht aufgewacht und habe geglaubt, ein seltsames Geräusch gehört zu haben.
„Ein Inspektor Sullivan war mit zwei seiner Kollegen hier und hat das ganze Haus durchsucht“, berichtete das Mädchen am Abend, während sie Frederik das Essen auftrug. Sie war sichtlich froh, dass er überhaupt etwas ass. „Die Herren Polizisten schienen mir sehr gründlich zu sein, aber gefunden haben sie nichts.“
Frederik seufzte. Ein Einbrecher, der keine Spuren hinterliess oder ein lüsterner Apfelbaum... Eine Erklärung war so absurd wie die andere.
Fest stand, dass er in nächster Zeit nicht wieder in seinem Studierzimmer oder gar dem Gewächshaus nächtigen würde, auch wenn sich sein Herz bei dem Gedanken an das halbverwaiste Ehebett schmerzhaft zusammenzog. Seit Monaten hatte er nicht mehr darin geschlafen, es schien ihm so kalt und leer ohne Eleanores warmen Körper an seiner Seite und er hatte sich einfach nicht daran gewöhnen können. Aber was blieb ihm anderes übrig?
Nachdenklich betrachtete er die kleine, braune Laudanumflasche auf dem Nachttisch. Es war sein erster Impuls gewesen, sie noch einmal zu bemühen, um die ganze Sache einfach vergessen zu können. Sein zweiter Impuls war gewesen, die Flasche an die Wand zuwerfen, sie zu zerschmettern, denn genau so, mit dem Wunsch nach Vergessen, hatte das alles doch überhaupt erst angefangen und Frederik hatte bemerkenswert wenig Lust darauf, dass ihm plötzlich auch ein Bettpfosten oder die Kommode Avancen machte.
Er folgte keinem der beiden Impulse, sondern liess das Fläschchen in der obersten Schublade des Nachtkästchens verschwinden und entzündete stattdessen mit geübten Handgriffen die kunstvoll gearbeitete Opiumpfeife. Nachdenklich sass er rauchend auf der Bettkante.
Als schliesslich nur noch ein verkohlter Klumpen Dross von dem Opium in der Pfeife zurück geblieben war, schwang er sich in Bett und liess sich in die Kissen zurück fallen.
Trotz der Betäubenden Wirkung des Opiums, fühlte er einen Stich in seinem Herzen, als sein Blick auf die leere Seite des Bettes fiel. Fast war ihm, als könnt er Eleanores Parfum - ein zartes Bouquet aus Rosen, Jasmin und Magnolienblüten - riechen.
Er erinnerte sich an ihre federleichten Berührungen und liebevollen Küsse, als wäre es nicht mehr als ein Jahr her, dass sie gemeinsam das Bett geteilt hatten. Sie im Arm zu halten war in gewisser Weise erfüllend gewesen, nicht auf lustvolle, sündige Art, wie die Umarmung, die heissen Küsse des Jünglings es gewesen waren, sondern in ganz anderer, liebevoller Weise.
Doch beide Arten der Erfüllung, die reine wie auch die sündige hatten ihn doch nur leer und sehnend hinterlassen.
Zu Eleanorens Bouquet mischte sich ein Hauch von Apfelduft, gerade so, als hätte jemand einen aufgeschnittenen Apfel neben sein Kopfkissen gelegt. Tief atmete Frederik ein.
In dem Duft lag das Versprechen von Zärtlichkeit und Trieb, von Lust ohne Liebe. Ein Versprechen, das ihn einmal mehr leer hinterlassen würde, doch konnte Frederik nicht verhindern, dass Bilder der Erinnerung durch seinen sedierten Verstand zogen und seine Wangen gerötet und heiss hinterliessen.
Er versuchte, an etwas anderes zu denken, doch das Bild der vollen Lippen des Jünglings drängte sich sofort wieder in seinen Geist. Das Gefühl zarter Küsse und kleiner Liebesbisse an seiner Schulter, während die Hände des Jünglings die leise Stimme der Vernunft zum Verstummen brachten, jeden Gedanken fort wischten, ihn in den Wahn trieben, liessen ihn nicht zur Ruhe kommen.
Endlich schwang er sich aus dem Bett und wankte hinunter zum Gewächshaus, wo der Apfelbaum in der Abenddämmerung darauf wartete, dass der Zirkel von Neuem begann.
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