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Muzukashii Sekai

199
23.12.18 05:52
18 Ab 18 Jahren
Homosexualität
Fertiggestellt

Autorennotiz

[MEJIBRAY] MiA/Meto, Meto/Tsuzuku.
Alternatives Universum aka No-Band-Content, Boys Love, Drama.
Trigger-Warning: deutlich enthaltene Borderline-Erkrankung mit Essstörung etc.
Geschichte ist lange fertig, Kapitel werden hier nach und nach hochgeladen.

Das grellbunte Schwarzlicht blitzte zum Takt der dröhnenden Technobässe und ließ das neonfarbene Clubarmband an meinem Handgelenk aufleuchten, als ich die Hand mit meinem Glas hob und einen Schluck meines Drinks nahm. Malibu X Kaluha Milk, mein Lieblingsdrink. Viele schienen den recht speziellen Geschmack dieser Kombi nicht zu mögen, doch ich hatte eine kleine Vorliebe für etwas ausgefallenere Dinge und so ließ ich mir diesen Drink immer mixen, wenn ich in so einem Club war. Nun war er fast leer, ich nahm den letzten Schluck und stellte das Glas auf die schon vollgestellte Theke hinter mir.

 

Mein Blick wanderte über die tanzende Menge, auf der Suche nach einer Lücke. Ich war heute Abend erst ein Mal zum Tanzen gekommen, denn eigentlich war Techno nicht meine Musik. Ich zog Hard Rock und Metal vor, doch das spielten sie hier nicht und der nächste Rock-Club war mir zu weit weg. Angetrunken  wollte ich keine allzu langen Strecken zurücklegen.

 

Ich löste mich von der Theke und drängte mich durch die Menge auf dem Weg nach oben, zur zweiten Ebene des Clubs. Dort oben schien mehr Platz zu sein. Jedenfalls mehr als hier unten auf der Haupttanzfläche, wo sich die schwitzenden Körper tanzend aneinanderdrängten, was schon ziemlich sexuell wirkte.

 

Ich kämpfte mich die stählerne Treppe hoch und wollte gerade nach einem Platz zum Tanzen suchen, als direkt vor mir jemand über das Geländer der zweiten Ebene kletterte und einen der riesigen, vibrierenden Lautsprecher erklomm.

„Geht’s noch?“, schoss es mir durch den Kopf. „Hat der ‘ne Meise?“

Im Gewirr aus Dunkelheit und Blitzlicht brauchten meine Augen eine Weile, um den  offenbar Verrückten, der nun begann, tänzelnd auf dem Lautsprecher zu balancieren, zu erkennen. Doch er hatte meinen Blick gefangen und so starrte ich ihn so lange an, bis sich sein Aussehen förmlich bei mir eingebrannt hatte.

 

Er war vielleicht ein wenig kleiner als ich und schlank, aber keineswegs dünn. Irgendwo zwischen schlank und muskulös. Hatte türkisblau gefärbtes, recht kurzes Haar, Sidecut auf beiden Seiten und am Hinterkopf, eine echte Punkfrisur, gegen die meine eigenen blasslilablonden Visual-Haare fast langweilig aussahen. Sein Make-up war der Wahnsinn! Irgendwelche irren Kontaktlinsen, die seine Augen riesig machten, dazu viel bunte Schminke um die Augen, dichte Kunstwimpern darunter und rot gefärbte, volle Lippen.

Aber das Irrste, Umwerfenste an diesem Typen, der da, über drei Meter über dem Boden, auf dem Lautsprecher tanzte, war die Menge an Bodyart auf seinem Körper. Sein von mir aus gesehen rechter Arm war komplett von einem riesigen Tattoo überzogen, das sich von seiner Hand bis auf seine Brust ausdehnte und dort mit einem weiteren verschmolz. In seinem Gesicht saßen, um Mund, Nase und Augen verteilt, eine Anzahl Piercings, ganz zu schweigen von seinen Ohren. Seine Kleidung war schwarz, aber eindeutig dem Visual Kei zuzuordnen, genau wie meine.

Er war wirklich der blanke Wahnsinn und ich starrte ihn ziemlich unverhohlen an.

Sagte ich schon, dass ich schräges Zeug, einschließlich schräger Menschen liebe?

Auch, wenn das, was er da machte, schlichtweg bescheuert war, kam ich nicht umhin, ihn dafür zu bewundern. Das musste man sich schließlich erst mal trauen.

 

Inzwischen fand er sich im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit und schien das offenbar zu genießen. Klar, warum sonst sollte jemand so was bringen? Mit geöffneten Lippen und den Armen über dem Kopf wiegte er sich da oben hin und her, ließ sich völlig vom starken Beat des Lautsprechers leiten und wirkte dabei so leidenschaftlich und ausgelassen, dass es mein Herz zum Klopfen brachte.

Doch im nächsten Moment erstarrte er in der Bewegung, drehte sich in meine Richtung und starrte mich an. Nicht jemanden in meiner Nähe, sondern mich. Sein Blick traf meinen, so als hätte er gespürt, wie ich ihn zuvor mit meinen Blicken verschlungen hatte. Und dann begann er, mir irgendwelche Handzeichen zu machen. In dem Augenblick, als die Musik für einen Moment aussetzte und jemand rief: „He, du da oben, komm da mal ganz schnell runter!“

 

Er drehte sich um, kletterte wieder zurück über das Geländer, winkte mir noch einmal zu und verschwand dann in der Menge. Die Musik ging weiter und ich beschloss, mir jetzt endlich einen Platz zum Tanzen zu suchen. Als ich schließlich einen fand und mich in der Musik fallen lassen wollte, musste ich feststellen, dass sich eben jener türkishaarige Typ, mit seinem Auftritt und seiner Interaktion mit mir, ziemlich gründlich in mein Hirn gebrannt hatte. Egal, wie sehr ich versuchte, nur auf die Musik zu hören, ich bekam ihn nicht mehr aus meinen Gedanken weg!

 

Oh Gott, das kannte ich doch! Das war nicht das erste Mal, dass mich jemand so packte!

MiA, du hast sie nicht mehr alle! Bist du völlig verrückt geworden, dich in so einen durchgeknallten Idioten zu vergucken?

Japp, verguckt. An dieser Stelle ist wohl eine Beichte fällig: Ich bin bi, ziehe Kerle vor und am liebsten welche, die wie ich zum Visual Kei gehören. Und der Verrückte war dazu noch genau mein Typ.

 

Ich lief zur Theke der zweiten Ebene und bestellte mir noch einen Malibu-Kaluha, diesmal ohne Milch, dafür doppelt. Und als ich mich umdrehte, stand er plötzlich vor mir.

Das Bodyart-Wunder. Die schrägste Schönheit der Welt.

Erst jetzt sah ich seine richtigen Gesichtszüge unter dem Make-up: Ein breiter Mund mit auffälligen, vollen Lippen, recht große Augen und eine hübsche Gesichtsform.

 

Er starrte mich einen Moment lang an, packte dann plötzlich meine freie Hand und zog mich hinter sich her durchs Gedränge. Seine Hände waren relativ klein, aber kräftig und irgendwie anziehend. Er sagte nichts, machte keinerlei Anstalten, mir irgendwas zu erklären, auch nicht, als wir eine abgelegene Sofaecke erreichten, er mich an den Schultern packte und darauf niederdrückte.

 

„Was…“, begann ich, da legte er mir völlig ungeniert einen Finger auf die Lippen und näherte sich mir weiter, bis ich sein „Shhh, nichts sagen“ hören konnte.

Oh. Mein. Gott. Der war viel zu nah!

Er sah mich eindringlich an und flüsterte mir ein einziges Wort zu: „Meto.“

„Was das?“, fragte ich völlig verwirrt.

„Mein… Name, …was sonst?“, flüsterte er in mein Ohr.

Komischer Name, dachte ich, ist wahrscheinlich ein Nickname oder so. Aber wenn wir schon mal dabei waren, konnte ich ja auch mit meinem, ebenfalls nicht ganz echten Namen rausrücken: „Kannst mich MiA nennen. M, i, großes A.“

Er erwiderte nichts darauf und vollständige Sätze schienen sowieso nicht so seins zu sein.

 

Und bevor ich ihn noch etwas fragen konnte (zum Beispiel, was die Aktion auf dem Lautsprecher sollte), drückte er mich fester in das plüschige rote Sofa, bis er über mir war, und schob mir sein Knie zwischen die Oberschenkel. Ich war viel zu überrascht, um mich wirksam gegen ihn wehren zu können, und so stark, wie er wirkte, hätte ich wohl auch keine Chance gehabt.

„MiA …schöner Name“, flüsterte Meto, „Und… MiA …schöner Mensch.“

 

War das jetzt ein komisches Kompliment? 

„D-danke“, brachte ich heraus und zweifelte zum wiederholten Mal an der geistigen Gesundheit meines Gegenübers. Tat der nur so oder war ordentlich Sprechen echt nicht seine Stärke?

Seine leicht ungewöhnlich geformten Lippen waren ganz nah an meinem Ohr und ich konnte den Duft seines Parfüms riechen (irgendwas mit Kirsche und Vanille, was mich wiederum verwirrte), als er flüsterte:

„Was …Meto jetzt… mit MiA machen?“

Wer gibt mir Recht, dass das irgendwie bedrohlich klang? Tollen Typen hatte ich mir da ausgeguckt!

Oder… hatte er sich mich ausgesucht? Mich vielleicht schon länger beobachtet?

 

Er schien darüber nachzudenken, was er jetzt mit mir anstellen sollte. Was auch immer das war. Naheliegend wäre, dass er mit mir tanzen und rumknutschen wollte, doch so, wie er sich eben ausgedrückt hatte … da bekam ich jedenfalls schon ein wenig Angst.

„MiA keine Angst“, raunte er und zum ersten Mal hörte ich wirklich seine Stimme, sie war relativ tief, aber immer noch irgendwie jungenhaft. „Meto …tut ihm …nichts Böses.“

„Wie soll ich denn keine Angst haben, wenn du so redest!? Das eben klang wie irgendein Entführer oder so“, erklärte ich.

„Meto leid. …Tanzen?“

Tanzen. Okay, das klang gut. Meto lächelte, zum ersten Mal. Er hatte ein wirklich süßes, breites, strahlendes Lächeln. Und ich mochte ihn, mal abgesehen davon, dass er mir etwas zu schnell auf die Pelle rückte. Er war wohl anscheinend, auf eine ziemlich merkwürdige Weise, ein offensiver Typ.

 

Na, ein Grund mehr, auf diesen Verrückten einzugehen, obwohl er mir eben mit seiner ungeschickten Ausdrucksweise Angst gemacht hatte. Denn, hey, ich war schon größeren Idioten begegnet und Metos Art war zwar komplett durchgeknallt, aber auf gewisse Weise auch ziemlich süß.

 

Er zerrte mich hoch und in Richtung Tanzfläche, legte dort angekommen seine Arme um meinen Hals und drückte sich eng an mich. Dieses Überraschende schien ein Charakterzug von ihm zu sein, so viel reimte ich mir über ihn schon einmal zusammen.

Zufällig lief gerade ein etwas ruhigerer Song, der mir überraschend gut gefiel, und so verfielen wir in ziemliches Schmusetanzen. Metos vollen Lippen an meinem Ohr flüsterten Komplimente an meine Haare, meine Kleider, meinen Tanzstil, bevor er begann, vorsichtig an meinem Hals zu knabbern. Mir gefiel das und so ließ ich ihn einfach machen und in mir eine Sehnsucht nach mehr wecken. Völlig vergessend, dass ich von Meto nicht mehr als diesen Namen kannte, ließ ich mich auf ihn ein, selbst als er seine Arme um meine Taille legte und mich noch enger an sich drückte, sodass ich spürte, dass ihn das Tanzen anmachte.

„Gehst du immer so ran?“, fragte ich.

„Wenn ich …einen mag“, antwortete er. Offenbar wechselte er zwischen Ich- und Er-Form hin und her, wie es ihm gerade passte. „Meto …mag MiA.“

 

Mein Herz machte einen fröhlichen Hüpfer. Dieser durchgeknallte, verwirrende, etwas zu offensive, sprachgestörte Verrückte mit dem beeindruckenden Aussehen und dem himmlisch süßen Lächeln schien sich wirklich auf dieselbe Art für mich zu interessieren, wie ich mich für ihn. Ein echter Glücksfall, nachdem ich schon seit einer Weile keinen erfolgreichen Flirt mehr gehabt hatte.

 

Als der Song wechselte, zog Meto mich wieder von der Tanzfläche weg, diesmal in Richtung der Waschräume, welche sich in einem dunklen, rot gestrichenen Gang befanden. In dieser Ecke standen eine Menge knutschender Pärchen herum und so, wie ich Meto einschätzte …

Tatsächlich, er lächelte mich an, sagte etwas, das sich wie „Meto MiA lieb“ anhörte, dann drängte er mich an die Wand, drückte seine süßen, gepiercten Lippen auf meine und küsste mich wild und hemmungslos. Es war toll, total geil, und ich stieg voll drauf ein, legte meine Hände an seine Taille, zog ihn meinerseits an mich und erwiderte den Kuss mit vollem Einsatz.

 

Himmel, der küsste ja wahnsinnig gut! Mit Zunge, Körpereinsatz und alles, fast schon wie Sex!

Mir wurde beinahe ein wenig schwindlig.

 

Es spielte keine Rolle, dass ich ihn erst seit einer halben Stunde kannte. Und es war ja auch nicht das erste Mal, dass ich einen fast Fremden küsste, von dem ich nichts als einen Nickname oder bestenfalls den Vornamen kannte. Ich tat das in jedem Club, den ich besuchte, auf fast jeder Party. Anders war diesmal nur, dass der, den ich diesmal ausgesucht hatte, viel mehr mich gewählt hatte. Ich war mir inzwischen sicher, dass er mich schon beobachtet hatte, bevor ich ihn bemerkte.

Normalerweise schnappte ich mir jemanden auf der Tanzfläche, fragte „Hetero, bi, oder homo?“ und wenn die Antwort passte, wurde ein bisschen getanzt und vielleicht noch rumgemacht. Die meisten Typen, die infrage kamen, mochten meinen femininen Stil und meine westlich geformte Nase (von der ich prinzipiell nicht verriet, dass ich da hatte nachhelfen lassen).

 

Als Meto schließlich wieder von mir abließ, kribbelten meine Lippen und ich war heiß bis in die Haarspitzen. Er zog einen Zettel und einen kurzen Bleistift aus der Hosentasche und schrieb etwas auf, dann drückte er mir den Zettel in die Hand, lächelte mich noch einmal an und verschwand dann in der Menge.

 

Ich stand da wie angewachsen. Das Blut pochte durch meinen Körper, der Beat der Musik dröhnte um mich herum und ich starrte auf die Stelle in der Menge, wo Meto abgetaucht und verschwunden war. In diesem Club hatte es keinen Sinn, ihn zu suchen, er konnte überall, nirgends oder längst draußen und weg sein.

Schließlich kämpfte ich mich ziemlich apathisch durch die Leute nach unten, raus aus dem Club. Draußen atmete ich frische Luft, zündete mir eine Zigarette an und blieb eine Weile stehen, um wieder klar zu werden. Als ich mich wieder halbwegs runtergekühlt hatte, machte ich mich auf den Weg nach Hause.

 

Im Wissen, dass der nächste Tag ein Sonntag war und ich frei hatte, lag ich die halbe Nacht wach und schlief erst gegen vier Uhr morgens ein.

 

Am nächsten Morgen fand ich den Zettel in meiner Hosentasche. In seltsam wirkenden Schriftzeichen standen dort zwei Worte: „Meto, Akutagawa-kouen“ War das so eine Art Adresse, eine Info, wo ich ihn finden konnte? Ich kannte diesen Park, das war ein beliebter Treffpunkt von Punks. War ja irgendwie klar, dass Meto zu denen gehörte.

Ich hatte ihn einfach stehen lassen. Wild abgeknutscht, und war dann abgehauen, in der Menge abgetaucht und raus.

Wieso?

Weil ich das immer so machte. Ich blieb nie länger als bis nach dem Kuss.

Eigentlich ziemlich gemein, oder?

 

Aber dieses Mal war etwas anders gewesen. Anders als sonst, wenn ich jemanden zum Knutschen abschleppte. Ich hatte genau zwei Dinge grundlegend anders gemacht.

Erstens hatte ich MiA einen Zettel zugesteckt, mit dem Ort, an dem er mich tagsüber finden konnte.

Und zweitens: „Meto MiA lieb“ So etwas hatte ich noch zu keinem anderen, den ich auf diese Weise abschleppte, gesagt. Noch nie mehr bei dieser Knutscherei empfunden. Den Typen, der mir nur als Ablenkung gedient hatte, schon am nächsten Tag wieder vergessen.

Doch MiA schwirrte mir immer noch im Kopf rum. Ich mochte ihn irgendwie. Irgendwie sehr. Komisch, wo ich ihn doch gar nicht kannte.

 

Mit dem Kopf voller Gedanken ging ich die viel befahrene Straße entlang, in Richtung des Akutagawa-Parks. Dort angekommen zog es mich jedoch nicht zu den Gruppen von Leuten, die ähnlich aussahen wie ich, und herumsaßen und quatschten, sondern zur Fußgängerbrücke am hinteren Ende des Parks. Dort war das Schlaflager der Straßenpunks und ich war auf der Suche nach meinem besten Freund, der meist hier übernachtete.

 

Schon von weitem erkannte ich seine schwarze Tasche, die seinen gesamten Besitz enthielt, und sah ihn im abgewetzten Schlafsack daneben liegen. Ich ging zu ihm, hockte mich hin und berührte ihn an der Schulter.

„He, Tsuzuku, schläfst du noch?“

Er brummte schlaftrunken und drehte sich zu mir um.

„…Meto? Morg’n.“

 

Es war etwa vier Tage her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten und ich war sicher, dass er wieder noch ein wenig schmaler geworden war, noch weiter abgenommen hatte.

Ja, Tsuzuku war krank. Ziemlich schwer krank sogar. Er hatte Probleme mit dem Essen. Psychische. Entweder bekam er fast nichts runter, oder er aß zu viel und erbrach es wieder. Das nennt man Bulimie, oder?

Das ging schon so, seit ich ihn kannte. Und ich konnte fast nichts tun. Außer, ihn zu besuchen, ihm zuzuhören und ihm, so gut es eben ging, ein wenig von meiner Kraft abzugeben. Doch ich wusste, dass das nicht reichte.

 

Deshalb zog ich am Wochenende los, durch die Clubs. Weil ich diese Hoffnungslosigkeit, meine Angst und Sorge um Tsuzuku irgendwie vergessen und abbauen musste. Ablenkung. Damit ich stark blieb, für mich und für ihn.

 

Neben seinem Schlafsack, hinter der schwarzen Tasche, standen Plastikbecher mit Instant-Ramen, alle noch verschlossen. Er aß sie meist trocken, ohne Suppenpulver und ohne heißes Wasser. Mit solchen Sachen hielt er sich am Leben, wenn das wenige Geld nicht für richtiges Essen reichte.

Ich hielt ihm meine Hand hin, er ergriff sie und ich zog ihn hoch. Er sah schlecht aus, noch schlechter als sonst. Seine schulterlangen, schwarzen Haare waren strähnig und sein eigentlich sehr schönes Gesicht sah todmüde und fast ein wenig fiebrig aus.

Er hatte sich doch hoffentlich keine Erkältung eingefangen! Das wäre zwar zu erwarten, wenn jemand wie er abgemagert auf der Straße lebte, aber gerade deshalb eine mittelschwere Katastrophe. Denn natürlich besaß er die für Arztbesuche unerlässliche Krankenkassenkarte nicht.

 

Er zog seine Schuhe an und ich begann, die paar draußen liegenden Sachen in die schwarze Tasche zu packen. Heute war wieder unser ‚Waschtag‘, das hieß, wir gingen zu einem Waschsalon in der Nähe, ließen seine Sachen waschen und besuchten in der Zwischenzeit ein öffentliches Badehaus. Kein Onsen oder so, sondern ein modernes Schwimmbad, in dem sich niemand daran störte, dass wir beide stark tätowiert waren.

An diesem Tag, den wir möglichst einmal in der Woche hatten, gab ich mir immer besondere Mühe, Tsuzuku aufzubauen und ließ dafür einen Teil meines Geldes springen. Ich tat absolut alles, was ich konnte, damit er sich gut fühlte.

 

Nachdem wir also seine Klamotten in die Wäscherei gebracht und seinen übrigen Besitz am Bahnhof eingeschlossen hatten, machten wir uns auf den Weg zum Badehaus. Ich hatte alle nötigen Sachen für ihn dabei, wie immer, und schon in der Vordusche schien es ihm etwas besser zu gehen. Allerdings gab es mir einen ziemlichen Stich, als ich sah, wie dünn er war. Sein gestörtes Verhältnis zu seinem Körper und zum Essen war für jeden, der ihn sah, unübersehbar.

 

Im Bad verzogen wir uns in eine abgelegene Ecke, um in Ruhe reden zu können. Ich hatte es eigentlich aufgegeben, ihn direkt nach seinem Gewicht zu fragen oder danach, ob er auch hin und wieder richtig aß, doch heute war ich über sein Untergewicht so erschrocken, dass ich einfach nachfragen musste: „Tsu, hast du die letzten Tage mal richtig gegessen?“

Er nickte. „Ich bin okay.“

‚Nein, das bist du nicht!‘, dachte ich. ‚Tsuzuku, du bist krank, du brauchst echte Hilfe! Ich will dir nicht dabei zusehen, wie du kaputtgehst!‘  

Aber ich sagte nichts. Anscheinend resignierte ich bereits.

 

Das Schlimmste war: Ich kannte den Grund. Ich wusste, warum Tsuzuku krank war. Er hatte es mir erzählt. Ich kannte ihn seit einem Jahr, vor zweien hatte sein Absturz begonnen.

Früher hatte er mit seiner Mutter in einer normalen, kleinen Wohnung gelebt. Er hatte sie sehr gern gehabt und sich wohl auch ganz gut mit ihr verstanden. Doch sie war nicht gesund gewesen, hatte irgendeine Herzkrankheit gehabt, und eines Tages war sie zusammengebrochen. Obwohl sie sofort ins Krankenhaus gekommen war, hat sie es nicht geschafft.

An dem Tag ist für Tsuzuku die Welt zerbrochen. Er hat einen riesigen Hass auf sich selbst entwickelt, weil er seiner Mutter nicht hatte helfen können. Das war der Grund, warum er sich so zerstörte. Er lebte auf den Trümmern seines alten Lebens und bestrafte sich selbst.

 

Oft glaubte ich, dass er nicht mal mehr wusste, wie das ging, sich selbst zu mögen. Und dass er wahrscheinlich auch nicht wusste, was ich an ihm mochte. Dass ich sein wunderschönes Lächeln liebte, seine sensible, liebe Art, sein gefühlvolles Wesen.

Wenn er nicht lächelte, so wie meistens, dann fehlte mir etwas. Ich erzählte dann irgendwelche Sachen, von denen ich hoffte, dass sie ihn lächeln ließen und manchmal klappte das auch. So wie heute. Ich erzählte ihm von einem Video über Katzen, eines dieser vielen selbstgemachten aus dem Internet, in denen Katzenbesitzer die lustigen Ideen ihrer Lieblinge veröffentlichten, und tatsächlich lächelte Tsuzuku, als ich von einer Katze erzählte, die fast schon sprechen konnte.

 

Doch dann rutschte mir die Sache mit dem Lautsprecher vom vergangenen Abend raus.

Tsuzukus Lächeln verschwand, er sah mich entsetzt an. „Sag mal, spinnst du, Meto?! Dir hätte ja sonstwas passieren können!“

„‘tschuldige…“

„Mach das nie wieder, hörst du? Nie wieder!“ Er packte mich an den Schultern und sah mir in die Augen.

„Okay…“, kam es eingeschüchtert von mir.

„Versprich es, Meto. Ich hab nur noch dich. Ich will dich nicht auch noch verlieren, hörst du?“

„Okay, versprochen, ich mach das nicht noch mal.“

„Und auch nichts anderes Gefährliches, ja?“

Ich nickte ergeben. Natürlich sah ich irgendwie ein, dass diese Sache ein Fehler gewesen war, doch in jenem Moment, als ich über das Geländer geklettert war, hatte ich einzig und allein daran gedacht, MiAs Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich hatte ihn nämlich schon den ganzen Abend beobachtet. Und als ich diese Dummheit machte, hatte ich keine Sekunde an Tsuzuku gedacht oder daran, dass solche Aktionen gefährlich waren.

 

Ja, dummes Meto, sehr dummes Meto. Wie hatte ich auch nur einen Moment lang vergessen können, wie wichtig ich für Tsuzuku war! Dass ich als sein bester Freund der Einzige war, der ihn einigermaßen aufrecht hielt!

In diesem Augenblick, als er mich so entsetzt und ängstlich ansah, hätte ich mich dafür selbst ohrfeigen können.

Ich stand auf, stieg aus dem Wasser und ging mein Handtuch holen. Tsu folgte mir, wir gingen zusammen zu den Duschen zurück und abgetrocknet und angezogen von da in den Raum mit den Föhngeräten an den Wänden. Zum ‚Waschtag‘ gehörte auch, dass ich Tsuzuku ein wenig hübsch machte. Er achtete ohnehin so gut es eben ging auf sein Äußeres, doch einmal in der Woche schminkte ich ihn, machte seine Haare schön und versuchte so, sein Körpergefühl ein wenig zu verbessern. 

 

Übrigens war Tsuzuku der einzige Mensch, mit dem ich normal reden konnte. Ihm gegenüber hatte ich diesen Sprachfehler, also dass ich nur wenig sprach und diese wenigen Worte nicht vernünftig zu Sätzen formen konnte, nicht. Mit Fremden, also Verkäufern in Läden und so weiter, sprach ich gar nicht, da verließ ich mich auf Zeichensprache oder schrieb, und mit allen anderen, also Punks, VKs oder den Typen, die ich in Clubs kennen lernte, redete ich eben mit Sprachfehler.

Ich wusste selbst nicht recht, woher dieser Fehler kam, hatte ihn schon mein Leben lang und meine Eltern hatten mich in unzähligen Therapien behandeln lassen – bisher ohne Erfolg. Die Therapeuten nannten es „sekundäre Folge einer verdeckten Angststörung“, was auch immer das bedeutete.  Tsuzuku gegenüber hatte ich dieses Problem jedenfalls nicht. Vielleicht, weil wir wirklich so was wie Seelenverwandte waren.

 

Kurz darauf, als wir beide mit noch feuchten Haaren in Richtung Waschsalon gingen, bemerkte ich, dass Tsuzuku mir irgendwas mitteilen wollte. Seine Hand suchte meine, er wirkte leicht aufgeregt und nachdenklich zugleich. Doch ich hakte nicht nach. Egal, was es war, er würde zu gegebener Zeit die Worte finden, um es mir zu sagen.

 

Übrigens gab es nur zwei Dinge, die Tsuzuku nicht über mich wusste: Erstens, wo ich wohnte und was meine Eltern für Leute waren, und zweitens  die Sache mit meinem Geknutsche in Clubs. Beides behielt ich sorgfältig für mich. Nicht, weil mir Vertrauen fehlte, sondern weil ich ziemlich sicher war, dass ihn dieses Wissen verletzen würde.

 

Wir holten die Sachen ab, dann die vom Bahnhof, und gingen in den Akutagawa-Park zurück. Tsuzukus Schlafplatz war noch frei, wir bauten sein kleines Lager wieder auf und setzten uns hin. Ich hatte Reisbällchen und Kekse dabei und bot ihm etwas davon an.

Zuerst schüttelte er den Kopf, doch so schnell gab ich dann doch nicht auf: „Komm, Tsu, für mich, okay? Wenn ich dir versprochen hab, keine Dummheiten mehr anzustellen, dann versprichst du mir auch, dass du ein bisschen was isst und auch bei dir behältst, ja? Dann muss sich keiner von uns Sorgen um den anderen machen.“

„Das kann ich nicht, Meto.“

„Doch, du kannst. Ein halbes Reisbällchen und ein paar Kekse, das schaffst du.“ Ich teilte eins der Reisbällchen in der Mitte durch und hielt es ihm hin. Sah den Widerwillen in seinen Augen, als er die Hälfte entgegennahm und einen kleinen, zögerlichen Bissen nahm. Betete, dass er es doch irgendwann schaffte, wieder ein halbwegs gesundes Verhältnis zu sich selbst aufzubauen. Und verzweifelte ein Stückchen mehr, weil ich wusste, dass die Chance dafür jeden Tag weiter sank.

‚Tsuzuku!‘, dachte ich panisch, ‚Hör bitte, bitte, bitte endlich auf, dich kaputt zu machen!‘  

Aber in diesem Moment aß er. Zwar langsam und widerwillig, doch er tat es, und es gefiel mir wesentlich besser, als wenn ich ihm beim Herunterschlingen von Kuchen und dergleichen zusah, immer in dem Wissen, dass er es nicht bei sich behalten würde. Ich fand, wenn man das denn so denken durfte, Magersucht erträglicher anzusehen als Bulimie. Doch Tsuzuku, mein bester und einziger richtiger Freund, hatte Zweiteres. 

 

Ich beschloss, diesen ganzen Tag bei ihm zu verbringen und aufzupassen. Denn obwohl hier eine Menge Leute herumhingen, war Tsuzuku fast immer allein. Keiner von denen kannte ihn näher, er hielt Distanz zu ihnen, weshalb sich auch keiner von ihnen wirklich um ihn kümmerte. Das hing allein an mir.

 

Ich aß die andere Hälfte des Reisbällchens und sah mich dabei um. Einige der Leute hier kannte ich näher, was man so gute Bekannte nannte, und hing ab und zu mit ihnen ab, wenn Tsuzuku irgendwo anders in der Stadt war.

 

Doch dann sah ich jemanden den Park betreten, den ich trotz des Papierfetzens, den ich ihm in die Hand gedrückt hatte, nicht erwartet hatte: MiA.

Er sah sich suchend um, schritt auf die nächstbeste Gruppe zu und fragte etwas. Eine meiner Bekannten, ein grünhaariges Mädchen namens Hanako, antwortete und zeigte in meine Richtung. MiA schaute her, unsere Blicke trafen sich und er ging auf Tsuzuku und mich zu. Rasend schnell versuchte ich, mir eine Erklärung zurechtzulegen.

 

„Hey“, sagte MiA, als er vor mir stand. „Ich wollte nur mal wissen, was das sollte, gestern.“

Na klasse! Die Erklärung war wie aus meinem Kopf gefegt, MiAs große Augen sahen mich fragend an und Tsuzuku wirkte ziemlich … irritiert.

Das hast du ja wieder toll hingekriegt, Meto!

„Wer ist das?“, fragte Tsu.

Völlig durcheinander, verfiel ich in meinen Sprachfehler und stotterte: „Meto Party, MiA da… kennen gelernt. Name von Park gegeben.“

„Die Party, auf der du diesen Mist mit dem Lautsprecher gemacht hast?“, fragte Tsuzuku ziemlich bissig. Ihn schien das immer noch aufzuregen.

„Meto leid. Macht so was nicht wieder, versprochen.“

Verdammt, wie sollte ich denn jetzt MiA die Knutscherei erklären, ohne dass Tsu etwas davon mitbekam?

Ja, Meto dumm, Idiot, weiß das.

 

Okay, Versuch Nummer Eins: „Tsu, ich geh mal eben mit MiA ein Stück und erklär ihm das mit dem Lautsprecher und so“, flüsterte ich ihm zu. Er schien damit halbwegs zufrieden zu sein und so stand ich auf und sagte zu MiA: „Wir ein bisschen… gehen, …ich erklär dir.“

Verdammter Sprachfehler! Schon gestern Abend hatte ich mich innerlich aufgeregt, als MiA mich falsch verstanden hatte, nur weil ich offenbar nicht in der Lage war, mich vernünftig verständlich zu machen. Ich hätte mich ohrfeigen können!

 

MiAs erste Frage, als wir uns auf den Weg machten, den Fluss hinter dem Park entlang zu gehen, war dann auch gleich: „Sag mal, weshalb redest du so…“

Meto, jetzt reiß dich mal zusammen und versuch zumindest, ordentlich zu reden! So schwer kann das doch nicht sein!

Ich nahm mich, so gut ich irgend konnte, zusammen und brachte so folgenden Satz zustande:

„Merkwürdig? Ist …Sprachfehler, …kommt immer dann, …wenn ich aufgeregt bin… Schon immer.“

MiA lächelte kurz, so ein Ach-so-aber-schaffst-du-schon-Lächeln, dann fragte er weiter:

„Wer ist denn der mit den schwarzen Haaren da eben?“

„Tsuzuku. So was wie… bester Freund… wohnt da… sozusagen…“

„Auf der Straße?“, fragte mein Gegenüber erschrocken. „Und du?“

 

Wieso musste er gleich so was fragen?! Okay, er konnte ja nicht wissen, dass ich gern für mich behielt, wo ich herkam. Ich erzählte nie jemandem, wo ich wohnte. Einfach weil ich Grund zu der Befürchtung hatte, dann in eine blöde Schublade gesteckt zu werden.

„Nein, bei …meinen Eltern“, antwortete ich, bekam fast einen richtigen Satz hin.  

„Und du hilfst Tsuzuku?“, fragte MiA weiter. Er klang so nett und neugierig, wirkte freundlich, offen und entspannt. Und das war genau das, was ich an ihm so anziehend fand.

Ich nickte.

„Für jemanden, der auf der Straße lebt, sieht er ziemlich gut aus“, bemerkte MiA.

„Heute… unser ‚Schönheitstag‘“, antwortete ich. „Da ich ihn …immer schön mach, …ist gut … für ihn.“

Ich hatte das Gefühl, mich mit diesem bescheuerten Sprachfehler vor ihm komplett zu blamieren, doch ihn schien das nicht zu kümmern. Vielleicht war er ja wirklich so nett, wie er rüber kam. Trotzdem hatte ich mir noch nie so sehr gewünscht, diesen Fehler endlich irgendwie loszuwerden.

 

Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich deswegen fast gar nicht mehr gesprochen habe. In der mein Sprachfehler mir so unsäglich peinlich war, dass ich einfach beschloss, gar nichts mehr zu sagen. Das war vor über einem Jahr gewesen.

Dann hatte ich auf einem Straßenfest Tsuzuku kennen gelernt. Er war da gewesen, um ein bisschen was vom Reichtum und Glück der anderen abzubekommen, ich war allein herumgelaufen. Durch eine Unachtsamkeit meinerseits waren wir zusammengerasselt und dabei waren seine gesammelten Münzen zu Boden gefallen. Natürlich hatte ich ihm geholfen, alles wieder einzusammeln und, locker wie Geld bei mir sitzt, hatte ich ihm noch 1000 Yen draufgegeben. Sein dankbares Lächeln daraufhin hat mich so berührt, dass ich trotz meines sonstigen Schweigens ein Gespräch mit ihm angefangen und festgestellt hatte, dass ich auf einmal ganz normal reden konnte.

So ging das los mit uns.

 

MiA und ich gingen noch eine Weile am Flussufer entlang. Er schien genau zu merken, dass mir Sprechen zu viel wurde und so fragte er nichts weiter. Doch hin und wieder sah er mich an und lächelte. Ein verdammt hübsches, liebes Lächeln.

Ob das mit ihm und mir irgendwas werden konnte? Ich konnte es nicht sagen, hatte doch noch nie eine richtige Beziehung gehabt. Wusste ich überhaupt, wie so was ging?

 

Auf einem kleinen Umweg gingen wir in den Park zurück und MiA verabschiedete sich wieder.

„Ich finde dich hier, oder?“, fragte er.

Ich nickte.

„Gut. Bis bald!“ Er lächelte und ging davon.

 

Ich kehrte zu Tsuzuku zurück, der noch immer auf seinem Schlafsack saß und aus der Entfernung die anderen beobachtete. Die Kekse lagen noch da und er sah, obwohl ich ihn heute besonders hübsch gemacht hatte, wieder so müde und fiebrig aus.

„Alles okay, Tsu?“, fragte ich.

Er schreckte aus irgendwelchen Gedanken hoch und sah mich ein wenig verwirrt an. „… Hm? Ähm, ja, klar, alles gut …“

In letzter Zeit kam das irgendwie öfter vor, dass er so unkonzentriert war. Vielleicht, weil er so wenig aß und trank. So was ging ja auf Dauer auch aufs Gehirn und so.

Ich holte meine Wasserflasche aus meiner Umhängetasche und hielt sie ihm hin. „Hier, trinken.“

Wieder war da dieser Widerwille in seinen Augen. Doch ich hielt mit einem nachdrücklichen Blick dagegen und forderte: „Jetzt.“

Schließlich nahm er die Flasche und trank sie, wenn auch zuerst zögerlich, dann doch halbleer.

„Kannst sie behalten“, sagte ich.

Irgendwann kurz darauf machte ich mich auf den Weg nach Hause. Na ja, so richtig mein Zuhause war es nicht. Meine Eltern lebten dort, ich hatte mein Zimmer und ohne dieses Zuhause hätte ich nicht die Mittel, um Tsuzuku immer wieder so zu helfen, doch im Grunde war es nicht meine Welt.

Der Weg zurück in meine Wohnung führte mich durch ein schickes Villenviertel. Große, alte Häuser, die meisten weiß gestrichen und umgeben von hohen, alten Bäumen. Ein wenig bewunderte ich die westliche Architektur dieser Residenzen, von denen die meisten wohl etwa hundert Jahre alt waren. Über die Leute, die in solchen Häusern wohnten, machte ich mir wenig Gedanken, außer dass ich natürlich davon ausging, dass sie reich an Geld und Einfluss waren und Jobs wie Ärzte, Anwälte oder dergleichen hatten.

 

Doch als ich gerade um eine Straßenecke bog, erblickte ich Meto, der zwar seine türkisen Haare unter einer Kapuze versteckt hatte, doch ich erkannte ihn an der dunkelblauen Jacke mit dem großen weißen Totenkopf auf dem Rücken. Er ging eilig und mir gesenktem Kopf die Straße entlang, blieb dann plötzlich vor einem Gartentor stehen und betrat, irgendwie vorsichtig, den dahinter befindlichen, an einen englischen Park erinnernden Vorgarten. Das Haus dazu war eine weiße, dreistöckige Villa der allerschicksten Sorte.

Was wollte er da?

Er zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Tür auf. Bevor er ins Haus ging, sah er sich noch einmal um und ich duckte mich hinter ein vor mir am Straßenrand parkendes Auto.

Wohnt er etwa hier? In so einer schicken Villa?

Nicht, dass ich ihn in eine Schublade gesteckt hatte, doch ich war schon irgendwie davon ausgegangen, dass er… na ja, vielleicht in einem Wohnblock oder Reihenhaus lebte. Jedenfalls nicht in so einem Palast.

 

Vielleicht hatte ich Vorurteile. Kinder reicher Eltern, darunter stellte ich mir brave Kinder und Jugendliche vor, die Kaschmir trugen und Klavierunterricht nahmen. Man lernte das ja irgendwie so, bekam es gesagt, dass es in solchen Familien keine Punks und so was gab.

Vorurteile. Deshalb hatte Meto so vorsichtig gewirkt. Weil er nicht wollte, dass man so über ihn dachte. Er wollte wahrscheinlich einfach für einen verrückten Punk mit Tattoos, Piercings, gefärbten Haaren und Sprachfehler gehalten werden, der seine Tage im Park verbrachte und mit einem jungen Obdachlosen befreundet war. Nicht für ein Kind reicher Eltern, in dessen Leben Geld keine Rolle spielte, weil er viel davon hatte.

 

Aber jetzt wusste ich, woher er wirklich kam. Ich kannte sozusagen sein Geheimnis. Und ich konnte gut verstehen, warum er seine Herkunft geheim hielt.

Ich ging schnell weiter, durchquerte das Viertel und fragte mich beim Anblick der Villen nun, in wie vielen davon wohl Menschen lebten, denen man es nicht ansah.

Es wurde dringend Zeit, dass ich da ein paar Vorurteile abbaute.

 

Meine kleine, schneeweiße Perserkatze Sawako begrüßte mich an der Wohnungstür und miaute deutlich, während sie mit dem Schweif zitterte. In ihrer Sprache bedeutete das: „Los, MiA, ich will gebürstet werden!“

Ich zog meine Schuhe aus, nahm die kleine Katzenbürste vom Schuhschrank und ging ins Wohnzimmer, wo ich mich auf den Teppich sinken ließ und begann, Sawakos langes, feines Fell zu ordnen, wobei sie schnurrte wie ein Ministaubsauger. Sie wollte mindestens einmal am Tag durchgekämmt werden und ich vermutete, dass es für sie eine Art Entspannungsmassage war. Nach dem Kämmen schnupperte sie neugierig an meiner Hand.

„Riechst du, dass ich jemanden kennen gelernt habe?“, fragte ich.

„Mau“, antwortete Sawako und sah mich an, als würde dieses Mau „Ja“ bedeuten. Ich nahm sie hoch und drückte sie an mich. „Du bist süß, Katze. Irgendwann stell ich ihn dir vor. Er heißt Meto.“

Sawako gab ein zustimmendes „Brmm“ von sich, ich ließ sie wieder runter und sie lief zur Balkontür, hinter der sich gerade zwei Spatzen über meine Blumenkästen hermachten. Sobald Sawako Vögel entdeckte, gab sie eine bestimmte Art von Tönen von sich, ein schnappendes „Ma, ma, ma“, das fast so klang, als versuche sie, das Tschilpen der Spatzen nachzuahmen.  

Manchmal, wenn ich Zeit hatte, verbrachte ich Stunden damit, meine Katze zu bürsten, zu beobachten und mich mit ihr zu unterhalten. Ich erzählte ihr alles Mögliche, was ich loswerden wollte, aber niemand sonst zum Reden da war.

 

Ob Meto wohl Katzen mochte? Ich konnte ihn noch immer nicht wirklich einschätzen. Einerseits schien er ein recht warmherziger, fürsorglicher Mensch zu sein, doch auf der anderen Seite war da dieser halsbrecherische Leichtsinn, den er auf der Party an den Tag gelegt hatte.

Natürlich, ich musste ihn erst einmal besser kennen lernen, um überhaupt zu wissen, ob aus ihm und mir wirklich etwas werden konnte. Das ließ sich so ja noch kaum sagen.

 

Den Rest des Tages verbrachte ich mehr oder weniger vor dem Fernseher, streichelte Sawako und dachte hin und wieder an Meto, in den ich mich eindeutig verliebt hatte, und seinen besten Freund, Tsuzuku, um den er sich offenbar fast täglich kümmerte. Dieses Umsorgen machte Meto für mich noch attraktiver, doch gleichzeitig hielt mich die offensichtliche Nähe in dieser Freundschaft irgendwie auf einer gewissen Distanz.

 

 

Am nächsten Morgen wachte ich völlig fertig auf. Ich hatte furchtbare Albträume gehabt, war mitten in der Nacht aufgewacht und hatte den Horror anschließend weiter geträumt.

Albträume, in denen Tsuzuku noch weiter abnahm und herausfand, wo ich wohnte. In denen er erfuhr, was ich für Eltern hatte und dass ich die gesamte Punkgemeinde im Park sozusagen anlog.

Meto, das Kind aus gutem Hause, aus einer Villa in Akayama, dem edelsten Viertel der Stadt.

Sie hatten mich im Traum nicht mehr haben wollen, meine Leute. Hatten mich erst ignoriert und dann geradezu aus dem Akutagawa verjagt. Aber das Schlimmste war, dass Tsuzuku sich mir gegenüber so minderwertig fühlte, dass er immer kränker wurde.

Kurzum waren meine Albträume ein reiner Spiegel meiner größten Ängste.

Niemals durfte jemand erfahren, woher ich kam!

 

Mein nächster Gedanke war: Ich brauche einen Job und eine eigene Wohnung. Ruana, mein geliebter Teddybär, sah mich von ihrem Platz neben meinem Kopfkissen aus bestätigend an, als wollte sie sagen: „Mach dich auf die Socken, Meto!“

Mit diesen Gedanken im Kopf und den Albträumen noch in den Knochen ging ich die Treppe hinunter, in Richtung Esszimmer. Meine Eltern erwarteten mich dort schon zum Frühstück.

„Guten Morgen, Yuuhei.“

Yuuhei. Mein Taufname.

In diesem Moment erschien er mir wie das Symbol der Welt, in der ich hier lebte. Hier drinnen, zu Hause, war ich Yuuhei. Draußen war ich Meto. Meine Eltern wussten nicht mal, dass ich mir einen eigenen Namen ausgedacht hatte. Alles, was sie wussten, war das, was sie sahen: meine türkisblauen Haare, meine Piercings und Tattoos, meine auffälligen Klamotten. Sonst nichts. So, wie ich den Punks im Park Yuuhei verschwieg, so verschwieg ich hier Meto größtenteils.

 

Ich nickte, setzte mich und begann wortlos zu essen.

Es war nicht so, dass ich meine Eltern nicht mochte oder wir uns nicht verstanden. Sie waren tolle Menschen und abseits von meinem gespaltenen Ich redeten wir auch miteinander. Ich mit meinem Sprachfehler, sie im Gegensatz zu mir ganz eloquent und anständig.

Wegen meines Aussehens hatten sie natürlich Hemmungen, mich zu Abendessen und dergleichen in ihren Kreisen mitzunehmen, aber das machte mir nichts aus. Sie hatten ihre Welt, ich hatte meine, dazwischen trafen wir uns, unternahmen Sachen wie Zoobesuche und fuhren auch ab und zu mal in die Ferien.

Sie fragten nicht mehr, wo mein Taschengeld hinging und das zusätzliche Geld, um das ich sie hin und wieder bat. Ich musste es nicht erklären. Wenn ich welches wollte, bekam ich es und wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass ich es in Tokyo für Klamotten ausgab.

 

Nach dem Frühstück ging ich gleich wieder raus, zum Park. Wurde von Yuuhei zu Meto und kehrte in meine eigentliche Welt zurück.

Als ich im Akutagawa ankam, war Tsuzuku nicht da. Ich fragte Hanako, ob sie ihn schon irgendwo gesehen hatte. Sie schüttelte den Kopf, doch ihre feste Freundin Haruna, ein Mädchen mit langen, nachtblau gefärbten Haaren, sagte: „Er wollte in der City betteln oder so. Irgendwie Kohle zusammenkriegen, was weiß ich. Such mal in der Einkaufspassage.“

Einfach so betteln? Das hörte sich so gar nicht nach Tsuzuku an. So was machte er nicht. Er verdiente sich lieber mit winzigen Jobs ein paar Yen zusammen. Zum Glück. Es war ein Zeichen dafür, dass es mir gelang, seine Würde und einen Rest seiner Selbstachtung hochzuhalten.

 

Ich ging also zur Passage, in Erwartung, dass er dort irgendwo saß oder etwas tat, wie zum Beispiel Aufräumen oder dergleichen. Beim letzten Schreinfest hatte er einen der begehrten Nach-dem-Fest-Aufräumjobs ergattert und dabei für seine Verhältnisse recht viel verdient.

 

Doch als ich an der Passage ankam, war von ihm und seinen Sachen nichts zu sehen. Ich durchquerte das Shoppingparadies, das so gegensätzlich zu ihm wirkte, und fand mich dahinter in einem kleinen Park wieder. Auf einer Bank sah ich Tsuzukus Sachen liegen. Ohne ihn.

„Tsu?“, rief ich und begann, nun ernsthaft besorgt, gründlicher nach ihm zu suchen. Ein Stück weiter weg standen ein paar Leute herum. Ich ging auf sie zu und fragte, so gut ich konnte, ob sie ihn gesehen hatten. Irritiert durch meinen Sprachfehler und mein Aussehen starrten sie mich an und schienen überhaupt nicht zu registrieren, dass ich inzwischen Angst hatte, meinem besten Freund könnte etwas passiert sein.

„…Haben …wirklich nicht gesehen? Leicht zu erkennen, …Tattoos auf Hals …und Armen, sehr dünn, ungefähr so groß wie ich …und schwarze Haare…“, beschrieb ich ihn.

Doch sie schüttelten alle nur den Kopf.

 

Mein Herz klopfte ängstlich gegen meine Rippen und ich hatte ein verdammt mieses Gefühl. Das letzte Mal, als ich ihn nicht gefunden hatte, da hatte er am Ende bewusstlos unter einem Busch gelegen, weil er sich betrunken hatte.

Ich fühlte mich furchtbar hilflos. Den meisten Menschen schien es so ziemlich egal zu sein, wenn ein Obdachloser verschwunden war, er war für sie wohl nur einer von vielen Versagern, die ohne feste Adresse anscheinend auch keinen Namen und kein Recht auf Existenz hatten.

Dass er sehr wohl einen Namen, ein Herz und einen Freund hatte, kümmerte niemanden. Es tat mir schrecklich weh, als ich wieder einmal erkannte, wie herzlos Menschen sein konnten. Die Blicke der Leute musterten mich kalt, sagten, ich solle verschwinden, sie wollten mit Außenseitern nichts zu tun haben. Als ginge von uns eine ansteckende Krankheit aus, vor der sie sich fürchteten.

 

Ich drehte mich um und lief den gesamten kleinen Park gründlich ab. Es sah Tsuzuku nicht ähnlich, seine Sachen so lange unbeaufsichtigt zu lassen. Er musste doch hier irgendwo sein!

Und ich fand ihn.

Er saß hinter einem dichten Gebüsch auf dem Boden, hatte die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen und den Kopf gesenkt. Als wollte er sich ganz klein und unsichtbar machen.

„Tsuzuku?“, fragte ich vorsichtig. „Alles okay?“

Er hob langsam den Kopf. „… Meto …“

Jetzt bemerkte ich, dass er sehr nach Alkohol und Zigaretten roch. Neben ihm lagen eine leere Zigarettenpackung und eine fast leere Flasche.

„Was ist denn los? Ist was passiert?“, fragte ich weiter.

Er versuchte, aufzustehen, konnte aber das Gleichgewicht nicht halten und sank schwankend wieder auf den Boden. Das zu sehen, gab mir einen furchtbaren Stich, obwohl ich Tsuzuku schon in weit schlechterem Zustand erlebt hatte. Aber an so etwas gewöhnte man sich einfach nicht. Den besten Freund so zu erleben, zu sehen, wie er sich langsam aufgab und selbst zerstörte.

 

Auf einmal wünschte ich mir, MiA wäre da, würde mir sein aufmunterndes Lächeln schenken, mich in den Arm nehmen und mir sagen, dass Tsuzuku schon wieder auf die Beine kommen würde. Wünschte mir, endlich mit jemandem darüber reden zu können. Über Tsuzuku, über diese scheiß Bulimie, über die verdammten Leute, die einfach wegsahen, wenn es jemandem schlechtging, über die ganze schwere Verantwortung auf meinen Schultern und dass ich mich manchmal so zerrissen fühlte, zwischen den beiden Welten, zwischen Yuuhei und Meto.

Aber selbst mit MiA würde ich darüber nicht reden können. Auch, wenn ich das Gefühl hatte, vor lauter Geheimnissen zu platzen.  

 

Ich half Tsuzuku, aufzustehen, und stützte ihn, als er einen schwankenden Schritt in Richtung seines Lagers machte. Er sah wieder so fiebrig und krank aus.

„Ist was passiert?“, fragte ich noch einmal.

Er schüttelte den Kopf.

Aber ich nahm ihm das nicht ab. „Hast du schlecht geschlafen oder so?“, fragte ich weiter.

Tsuzuku nickte.

„Ich auch…“, sagte ich leise. „Hab wirres Zeug geträumt.“

„Was denn?“, fragte er und lenkte damit ziemlich offensichtlich davon ab, dass er im Moment das Problem hatte und nicht ich.

„Weiß ich nicht mehr“, log ich und bohrte mir heimlich die Fingernägel in den Handballen. „Aber was hast du geträumt?“

Zuerst antwortete er nicht, doch als wir sein kleines Lager auf der Bank erreicht hatten und er sich hingesetzt hatte, sagte er leise: „Ich… ich hab von meiner Mama geträumt.“

„Oh…“, entfuhr es mir betroffen. Das war gar nicht gut.

„Sie hat …was gesagt, aber ich ...konnte es nicht hören. Als wäre …Glas dazwischen …oder so.“

 

Er hatte die Unterarme auf die Knie gestützt, sein schmaler Oberkörper sank nach vorn. Wenig später fielen ihm die Augen zu und er sank schlafend gegen meine Schulter. Ich legte meine Arme um ihn und bettete ihn auf seinen auf der Bank ausgebreiteten Schlafsack. Er war vollkommen erschöpft. Das halbe Reisbällchen gestern war wahrscheinlich das Einzige, was er in den letzten Tagen gegessen hatte. Und wieder wusste ich nicht, was schlimmer war: Nichts zu essen, oder zu viel, um es dann wieder auszuspucken.

Tsu war irgendwo hingefallen, das sah ich erst jetzt. Seine Jeans war kaputt, das Knie aufgeschürft, seine Hände schmutzig. Ich nahm eine Packung Taschentücher aus meiner Umhängetasche und tupfte ganz vorsichtig an der knallroten Abschürfung herum, bis sie zumindest sauber war. Tsuzuku war so erschöpft, dass er nicht einmal davon aufwachte.

 

Ich blieb bei ihm. Bewachte seinen schmalen, schlafenden Körper und zerbrach mir wieder und wieder den Kopf darüber, was ich noch alles für ihn tun konnte. Zu einem Ergebnis kam ich nicht. Alles, was mir einfiel, war, unsere ‚Schönheitstage‘ fortzuführen und dass ich ihn weiter mit allem versorgte, was er zum Überleben brauchte.

 

Als er etwa eine Stunde später wieder aufwachte, bat er mich zum ersten Mal seit Monaten ausdrücklich um etwas zu essen. Ich hatte zwei Melonpan dabei, und eine Flasche mit Tee.

„Versprich mir aber vorher was“, sagte ich und hielt das süße Brot noch etwas zurück.

Er erriet, was ich meinte und nickte. „Versprochen.“

„Gut.“ Ich lächelte und in meinem Herzen keimte wieder ein wenig Hoffnung auf. Auch, wenn sie immer wieder zerschlagen wurde, so gab ich sie nie ganz auf, hoffte jedes Mal wieder neu darauf, dass Tsuzuku und ich es allein schaffen würden, dass er wieder gesund wurde.

Ich reichte ihm ein kleines Stück von dem Brot und er nahm winzige Bissen davon, schien es sich selbst nicht mal mehr zuzutrauen, normal zu essen. Aber alles war besser als das, was ich vor sechs Monaten mit ihm erlebt hatte.

 

Damals hatte ich ihn, naiv wie ich manchmal war, zum Essen eingeladen. Ganz schick zum Italiener, wo ich mit meinen Eltern schon einmal gewesen war. Dummerweise hatte ich angenommen, dass Tsu, wenn er wirklich Hunger hatte, normal essen würde. Dass ich da mehr als falsch lag und Essen gehen mit ihm grundsätzlich in einer Katastrophe endete, musste ich an jenem Abend leider nur allzu deutlich erfahren.

„Ich lade dich ein, also nimm, was du möchtest, der Preis ist egal“, hatte ich gesagt und damit ausgelöst, dass er das umfangreichste, luxuriöseste Gericht auf der Karte bestellte. Als das Essen dann da gewesen war, hatte er es förmlich herunter geschlungen.

„Hey, iss doch nicht so schnell!“, war mein Versuch gewesen, die Katastrophe, die ich da schon kommen sah, noch irgendwie aufzuhalten, doch die Lawine war nicht mehr zu stoppen.

Es war das erste Mal, dass ich eine Ahnung von dem Begriff Ess-Brech-Sucht bekam. In Tsuzukus Fall war es eben so, dass er entweder zu viel aß und dann erbrach, oder aus Angst davor, vor seiner eigenen Reaktion, gar nichts mehr zu sich nahm. Und an diesem Abend war ersteres der Fall.

Kaum, dass wir aus dem Restaurant raus und zurück im Akutagawa waren, griff er sich an den Hals, stöhnte auf und rannte zum nächsten Mülleimer, um sich da hinein zu erbrechen.

Das zu sehen, tat mir fast so weh wie ihm selbst. Vielleicht sogar noch mehr. Ich hätte mich dafür ohrfeigen können, ihm das angetan, ihn wie ein naiver Idiot zum Essen eingeladen zu haben.

Seit diesem Tag gab ich mir noch mehr Mühe, sein Selbstgefühl hochzuhalten, alles zu tun, damit er sich gut fühlte und vielleicht doch irgendwann von allein damit aufhörte, sich kaputt zu machen.

 

Ich beobachtete ihn genau dabei, wie er das kleine Stück Melonpan aß, achtete auf jeden Ausdruck seiner Augen, um abzuschätzen, ob er sein Versprechen hielt. Dass er es wollte, daran hatte ich keine Zweifel, doch oft kam es vor, dass er einfach nicht konnte. Dass es ihn überkam, obwohl er das Essen bei sich behalten wollte. Weil ihm irgendein Ungeheuer im Kopf sagte, dass er sich bestrafen musste.

Wir kämpften gemeinsam gegen dieses Ungeheuer, doch viel zu oft verloren wir diesen Kampf. Doch auch, wenn wir am Boden lagen und nicht mehr weiter wussten, so waren wir doch zu zweit, wenigstens war er nicht allein. 

 

Wieder schlossen wir Tsuzukus Sachen im Bahnhof in ein Schließfach ein und liefen durch die Straßen der Innenstadt. Ich kaufte ihm eine neue Jeans, die alte wanderte in den nächsten Mülleimer. Aus irgendeinem Grund war mir unheimlich wichtig, dass er immer so gut wie möglich aussah. Ich wollte auf keinen Fall, dass man ihm das Leben auf der Straße ansah und ihn in diese Schublade steckte. Weil ich Schubladen, in die man Menschen einsortierte, hasste.

Und noch einen Grund gab es, doch den kannte ich selbst nicht genau. Es war mehr ein Gefühl, doch es war ziemlich stark und sagte mir, dass Tsuzuku seine Schönheit auf keinen Fall hinter kaputten Klamotten und einem ungepflegten Äußeren verstecken durfte. Denn er war schön, auch wenn er das selbst wahrscheinlich nicht glaubte.

 

Auf einmal blieb Tsu stehen und zog mich am Ärmel.

„Meto, schau mal, ist das nicht der von gestern?“, fragte er und zeigte auf ein Café, in dessen Außenbereich ich MiA in Begleitung einer hübschen jungen Frau erblickte.

Doch nicht etwa…

Nein, oder? Dann wäre er doch nicht so auf meinen Kuss eingestiegen!

Sollte ich hingehen und ihn fragen, wer die Frau war? MiA war ziemlich schick angezogen, die Frau auch, alles sah nach Date aus. Der Stich, den mir das gab, war kaum zu beschreiben. Ich griff haltsuchend nach Tsuzukus Hand und wollte einfach weiter gehen, doch in dem Moment bemerkte MiA mich und rief nach mir. „Hey, Meto!“

Ich hielt Tsuzukus Hand weiter fest, und ging auf den Tisch zu.

 

„Meto, das ist Mariko“, stellte ich das Mädchen neben mir vor. Mariko lächelte ihn freundlich an, doch er machte nur ein Gesicht wie eine erschreckte Katze und hielt Tsuzukus Hand fest.

Glaubte er etwa, Mari sei meine Freundin?

„Meine Cousine“, fügte ich erklärend hinzu und augenblicklich klärte sich Metos Gesichtsausdruck auf. War er etwa schon eifersüchtig geworden? Lag ihm so viel an mir? Anscheinend schon.

 

Ich warf einen Blick auf Tsuzuku. Einmal hatte ich ihn ja gestern schon gesehen, aber da war mir noch nicht aufgefallen, wie extrem schlank er war und dass er seltsam müde und erschöpft wirkte, wenn auch für einen Obdachlosen auffallend gepflegt. Meto schien sich wirklich gut um ihn zu kümmern. An dem nötigen Geld fehlte es ihm ja sicher nicht.

 

Von wegen dieser Sache, also dass ich offenbar Metos Geheimnis kannte: Ich hatte nicht vor, das irgendwem zu erzählen. Auch ihm selbst nicht. Denn wenn ich jetzt damit rausrückte, würde er sicher gleich auf Abstand gehen und schlimmstenfalls nichts mehr von mir wissen wollen. Und wenn ich es später zugab, konnte er mir vorwerfen, ich hätte es die ganze Zeit vor ihm verheimlicht. Kurzum behielt ich es also besser für mich.

Es war ja auch nicht weiter wichtig, ob ich nun wusste, woher er das Partygehen und die Sachen für seinen besten Freund bezahlte. Hauptsache, er kam selbst damit klar, seine Herkunft zu verbergen. 

 

„Setzt euch doch zu uns“, bot ich freundlich an, doch Meto schüttelte den Kopf.

„Wieso denn nicht?“

„…Geht nicht, …kay?!“ Auf einmal klang er irgendwie gereizt.

Hatte ich was Falsches gesagt? Irgendwas nicht mitbekommen?

„Meto, was ist los?“, fragte ich.

Er ließ Tsuzukus Hand los, kam auf mich zu, nahm meine und zog mich ein Stück beiseite, bevor er mir zuflüsterte: „Tsu geht nicht gut… sollte lieber… nicht essen“

„Hat er sich ‘ne Grippe eingefangen?“

Meto nickte.

„Und es wäre wohl ziemlich gemein, ihm was vorzuessen, ne?“, sagte ich.

„Meto leid.“

„Schon okay.“ Ich lächelte ein wenig.

Grippe. Deshalb also sah Tsuzuku so kaputt aus. Konnte ja schon mal passieren auf der Straße, dass man krank wurde, wenn man immer draußen schlief.

„Was ist denn?“, fragte Mariko.

„Tsu krank…“, antwortete Meto. „Deshalb …nicht essen. Wir …weitergehen, bis dann.“

 

„Wer war das denn?“, fragte Mariko, als die beiden außer Hörweite waren.

„Meto hab ich auf der Party am Samstag kennen gelernt. Und Tsuzuku, der andere, ist ein Freund von ihm. Die zwei sind, glaub ich, sogar beste Freunde.“

„Er redet komisch“, stellte Mari fest.

„Na und? Er ist in Ordnung.“

„Das seh ich. Also, dass du ihn magst.“ Sie kicherte, so, wie sie immer kicherte, wenn sie meinte, mich durchschaut zu haben. Mari wusste Bescheid, dass ich Jungs mochte und wahrscheinlich sah sie das Leuchten in meinen Augen, welches mich als Verliebten entlarvte.

„Was ich aber nicht wusste, ist, dass du auf so schräge Typen stehst“, sagte sie dann.

„Ist halt so. Sind doch viel interessanter als normale.“

 

Das war die etwas lahme, aber spruchtaugliche Version meiner Vorliebe für Jungs wie Meto.

Dass es da noch einen anderen Grund gab, wusste niemand außer mir und den dreien, die ich bisher für länger als eine Partynacht gehabt hatte.

Ich fand Tattoos, Piercings und bunte Haare extrem anziehend. Die Piercings in Metos Gesicht und das in seiner Zunge, dazu noch das riesige Tattoo und die türkisblauen Haare, all das machte mich ehrlich gesagt ziemlich an. Meine Vorliebe galt aber längst nicht für jeden, ich zog da Jungs vor, die auf irgendeine Weise jünger wirkten als ich. Meto war also einfach ganz genau mein Typ, auf den ersten Blick wie für mich gemacht. Ob das auch so blieb, würde sich zeigen, wenn wir uns näher kennen lernten.

 

„Atsushi?“, sprach Mariko mich mit meinem Taufnamen an und wedelte mit der flachen Hand vor meinem Gesicht herum. „Hihi, wenn du wüsstest, wie du grade guckst!“

Ich schreckte auf und fragte automatisch: „Ähm, was?“

„Nimm den Löffel aus dem Mund und hör auf zu sabbern!“

„Oh…“ Ich ließ klirrend den Löffel fallen und leckte mir hastig über die Lippen. Es hatte mich wohl wirklich ziemlich erwischt. „Sorry…“

Mariko grinste mich an. „Hach, ist das süß, deinen bisexuellen Schwulitäten zuzugucken, Mialein.“

Eins musste ich ihr lassen: Sie war selbst dann witzig und cool, wenn sie sich über mich lustig machte. Deshalb konnte ich ihr auch nie böse sein, auch, wenn sie mich in genau diesem Wissen mit meiner Orientierung aufzog, beziehungsweise damit, wie ich im verliebten Zustand drauf war.

 

Nach dem Kaffee schleppte Mari mich durch unzählige Boutiquen, da sie mich oft und gern als Stilberater und Model missbrauchte und sich darüber amüsierte, wie gut mir Frauenkleider standen.

Ich war nicht ganz bei der Sache, da ich automatisch nach Klamotten Ausschau hielt, die Meto stehen würden.

„Erde an Atsushi!“, kommandierte Mariko mich aus dem Tagtraumland zurück. „Meine Güte, wo bist du nur immer mit deinen Gedanken?“

„Das willst du nicht wissen…“, murmelte ich und griff nach einem weiten, schwarzen Shirt mit einem ziemlich tot wirkenden, weißen Smiley vorne drauf. Dieses Teil wäre perfekt für Meto!

 

„Komm mal wieder von deiner Meto-Wolke runter und zieh das hier an, ich glaub, das steht dir besser als mir.“ Mit diesen Worten drückte sie mir ein schwarzes Spitzenkleid in die Hand und schob mich vor sich her zu den Umkleiden.

„Und sag keinen Ton, verstanden? Das ist mir zu peinlich!“, fügte sie hinzu.

Ich sollte also mal wieder die Klappe halten, weil es meinem Fräulein Cousine dann doch unangenehm war, einen Mann halb öffentlich in ein Kleid zu stecken.

„Wieso denn?“, flüsterte ich, weniger um den Grund zu wissen, als viel mehr, um mich ein wenig dagegen zu wehren.

„Das weißt du ganz genau, MiA-chan“, zischte Mari. „Das hier ist eine Frauenboutique und wenn da eine Männerstimme aus der Umkleide kommt…“

„… Ist da halt ein Visual drin!“, unterbrach ich sie laut.

„Scht!“, machte sie, schob den Vorhang beiseite und kam einfach zu mir in die Kabine. Ich hatte das Kleid gerade angezogen, nur den Häkchen-Verschluss am Rücken bekam ich allein nicht zu.

„Das sieht ja toll aus!“, quietschte Mariko und begann, die Häkchen zu schließen. Ich ließ sie machen, so wie immer, wenn sie mich als Model benutzte, nur um irgendein Kleid getragen zu sehen, das ihr nicht stand und das sie sowieso nicht kaufen wollte.

 

Okay, bei unserer letzten Shoppingtour hatte sie ein paar tolle Sachen für mich gefunden, die ich auf einschlägigen Partys auch getragen hatte.

Aber meistens musste ich wie gesagt einfach als Modell herhalten.

Nachdem sie mich ausgiebig begutachtet und das ganze dann auch noch mit dem Handy fotografiert hatte, half sie mir aus dem Kleid, ich zog mich wieder an und hetzte rüber zu dem schwarzen Shirt. Ich wollte es haben, keine Ahnung, wieso. Vielleicht, um es Meto irgendwann mal zu schenken, wenn wir zusammen feiern gingen oder so. Ich machte im Kopf schon Pläne, was wir alles zusammen machen konnten und hin und wieder, da… ja, da hatte ich auch ein paar nicht jugendfreie Gedanken. Aber hey, mit zwanzig war das ja wohl erlaubt!

 

Mariko schleppte mich noch durch drei weitere Läden, doch zum Glück musste ich nicht wieder Model spielen. Stattdessen wollte sie pausenlos von mir wissen, ob etwas an ihr gut aussah oder nicht. Ich mochte sie zwar gern, doch manchmal ging sie mir auch ein wenig auf die Nerven. Besonders dann, wenn sie einfach nicht aufhören konnte, meine Bisexualität lustig zu finden. Ich wusste ja, dass sie das nicht böse meinte, aber trotzdem störte es mich, dass sie mich dauernd kichernd aus meinem Traumland holte.

 

Irgendwann hatte selbst meine shoppingwütige Cousine genug und beschwerte sich, dass ihr die Füße wehtaten. Da ich ebenfalls müde war, verabschiedeten wir uns und ich machte mich auf den Weg nach Hause.

 

Sawako sprang aus ihrem Körbchen im Flur, als ich hereinkam, und starrte fordernd hoch zu ihrer Bürste auf dem Garderobenschrank. Nachdem ich ihr weiches Fell ausgiebig durchgekämmt hatte, erzählte ich ihr ein bisschen was von meinem Tag. Dass ich Meto und Tsuzuku getroffen hatte und dass der offensichtlich Ältere von beiden kränklich wirkte.

„Miau…“, kommentierte Sawako. Es klang wie „Och, der Arme!“

Konnte sein, dass ich mir das nur einbildete, aber Sawako war eine ungewöhnlich freundliche, menschenbezogene Katze, die wohl sehr viel mehr mitkriegte, als man einem Tier allgemein so zutraute. Wenn ich Besuch hatte, begrüßte sie ihn schon an der Tür, und wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie sicher jedem erst mal eine Tasse Tee angeboten.

 

An diesem Abend bemerkte Sawako, dass ich ziemlich müde war und als ich mich in Unterwäsche ins Bett fallen ließ, sprang sie auf die Matratze und rollte sich zu meinen Füßen ein.

Doch obwohl ich müde war, konnte ich nicht einschlafen. Meine Gedanken drehten sich um Meto, als wären sie von seiner Erscheinung gefesselt. Dabei kannte ich ihn immer noch nicht sehr viel besser. Und trotzdem war da dieses Gefühl von Vertrautheit, deshalb war es vermutlich kein Wunder, dass ich von ihm träumte.

[etwa eine Woche später]

 

Wir hatten wieder ‚Schönheitstag‘, Tsuzuku und ich. Nach dem Baden blieben wir lange in dem Raum mit den Föhngeräten und ich machte ihm die Haare schön. Eine Frau, die ein Stück weiter saß, warf uns leicht irritierte Blicke zu und ich vermutete, dass sie Tsu und mich für ein schwules Paar hielt.

 

Aber ihm schien das egal zu sein und mir sowieso. Was ging es die Leute an, ob ich meinem besten Freund die Haare machte, ihn ein wenig schminkte und so versuchte, sein Körpergefühl etwas zu verbessern? Gar nichts!

Wieso konnten Leute nicht dann wegschauen, wenn es sie nichts anging, und dann hinsehen, wenn sie gefälligst helfen sollten?! War das so schwer zu unterscheiden?

 

Während ich Tsuzukus weiche, schwarze Haare kämmte, betrachtete er sich im Spiegel. Und ich sah diesen kritischen, schmerzvollen Blick in seinen Augen. Diesen Blick, der nur allzu offensichtlich zeigte, wie schlecht sein Verhältnis zu sich selbst war. Immer, wenn ich das sah, verlor ich für einen Moment den Mut. Es war einfach furchtbar.

„Tsu, lächle doch mal“, versuchte ich, die Hoffnungslosigkeit in mir zu überdecken und diesen Blick voller Selbsthass aus seinen schönen Augen zu vertreiben.

Er versuchte es, doch es gelang ihm nicht so recht. Brachte nur ein halbes Lächeln zustande, das aufgesetzt wirkte und seine Augen kaum erreichte. Ich hielt das nicht aus, doch statt aufzugeben, riss ich mich heftig zusammen und lächelte über seinen Kopf hinweg in den Spiegel. Doch auch ich brachte nicht viel zustande.

„Denk an MiA!“, sagte ich mir und schon schlich sich ein echtes Lächeln auf mein Gesicht. Ein Lächeln, dass Tsuzuku sah und endlich auch ebenso ehrlich erwidern konnte. Damit war der Moment der Mutlosigkeit wieder vorbei. So war es immer. Wenn ich Tsuzuku ehrlich lächeln sah oder sogar lachen hörte, dann war meine Welt in Ordnung.

 

„Meto?“, fragte er.

„Hm?“

„Weißt du eigentlich, wie lieb ich dich hab?“ 

Wusste ich das? Hatte ich eine Ahnung, wie viel ich ihm bedeutete? Wenn er so fragte? Im Gegensatz dazu, dass er nie glaubte, wie lieb ich ihn hatte, betonte er das seinerseits auf mich bezogen ziemlich oft. So oft, dass ich mich sogar manchmal fragte, was für Freunde wir eigentlich waren.

Ja, ich wusste, dass ich ihm mehr als wichtig war, wahrscheinlich sogar die Hauptrolle in seinem Leben spielte. Er hatte sonst so gut wie niemanden. Zum Rest seiner Familie hatte er keinen Kontakt mehr und außer ein paar flüchtigen Bekannten im Akutagawa, mit denen ich ihn bekannt gemacht hatte, hatte er auch nichts, was man Freunde nannte. Niemanden außer mir.

Ich wusste: Wenn er aus diesem Loch wieder raus wollte, würde er das ändern müssen. Und ich wollte das auch für mich. Weil ich diese ganze Verantwortung nicht mehr lange würde tragen können. Die Verantwortung, der Einzige für jemand Krankes zu sein.

 

Am vergangenen Wochenende war ich abends nicht weg gewesen. Ich hatte zu Hause gesessen und DVDs geschaut, ein bisschen von MiA geträumt und ein paar Manga gelesen. Wegen MiA, wegen dem, was ich für ihn empfand, obwohl wir uns kaum kannten, wollte ich mit diesem Partyleben aufhören, zumindest nicht mehr mit Fremden rummachen.

Aber wie ich mich dann erholen und ein bisschen gehen lassen sollte, wusste ich nicht. Ich musste mich nach etwas anderem umsehen.

 

Über diesen Gedanken hatte ich die Schminksachen aus der Tasche geholt und begann jetzt, Tsuzuku ein leichtes Make-up zu machen, das seine Augen schön zur Geltung brachte und seine hübschen Lippen betonte.

„Und weißt du eigentlich, wie schön du bist?“, fragte ich zurück.

Aber er zuckte nur mit den Schultern. Zwar ließ er sich gern von mir schön machen, doch es änderte immer noch nichts daran, dass er sich selbst nur negativ sah.

Wieder kam die Mutlosigkeit hoch, doch ich kämpfte sie mit aller Kraft nieder. Ich musste stark bleiben, durfte auf keinen Fall aufgeben, denn ich war überzeugt, dass Tsuzukus Leben an meiner Kraft und meinem unbeugsamen Willen hing. Wenn ich aufgab, würde er auch am Ende sein.

 

Während ich mich anschließend selbst zurechtmachte, ratterte es in meinem Kopf. Ich ging noch einmal alle Möglichkeiten durch, die ich hatte, um das Leben meines besten Freundes zu retten. Irgendetwas musste es da noch geben, eine Idee, an die ich bisher noch nicht gedacht hatte. Vielleicht war sie verrückt, vielleicht riskant, doch ich klammerte mich an diesen Gedanken, dass da noch etwas war, was ich tun konnte, auch wenn ich es noch nicht kannte.

 

Als wir Tsuzukus Sachen aus der Wäscherei holten, suchte seine Hand wieder Kontakt mit meiner. Das, was er mir wohl seit einer Woche sagen wollte, war wohl immer noch nicht ausgesprochen und wieder fragte ich mich kurz, was es denn sein könnte, um mich dann mit demselben Satz zu beruhigen: Wenn irgendwas war, würde er es schon im richtigen Moment sagen. Er musste doch keine Geheimnisse vor mir haben. 

 

Wir redeten über dies und das, unter anderem darüber, dass er irgendeinen Minijob wollte. Das Herumsitzen auf der Straße tat ihm nicht gut, das wusste er selbst, aber genauso gut wusste er, dass man für eine Anstellung einen festen Wohnsitz brauchte.

 

Spät abends, zu Hause, setzte ich mich in mein Zimmer, schloss die Tür ab und drehte die Musik laut auf. Dann nahm ich einen Zettel und einen Stift, warf mich aufs Bett und schrieb alles auf, was ich bisher an Maßnahmen und Möglichkeiten ausprobiert hatte, um Tsuzuku zu helfen. Es wurde eine Liste an Dingen, die nur kurz oder gar nichts gebracht hatten. Manches, was ich ganz zu Anfang versucht hatte, hatte sich inzwischen als idiotisch erwiesen (wie zum Beispiel die Idee mit dem teuren Essen), anderes wie unsere ‚Waschtage‘ wirkte zwar nicht wirklich, funktionierte aber wenigstens ein kleines bisschen.

 

Irgendwann musste ich trotz der Musik eingeschlafen sein, denn ich fand mich in einem Traum wieder, den ich so noch nie geträumt hatte:

 

Tsuzuku und ich waren hier, in meinem Zimmer, und meine Eltern waren nicht zu Hause. Wie es dazu gekommen war, dass ich ihm gesagt hatte, wo ich lebte, spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass er da war und bei mir übernachten wollte. Wir sahen uns irgendeinen Film an, lagen dabei zusammen auf meinem Bett und ich aß irgendwelche Süßigkeiten.

Und dann passierte etwas, das mich im Traum merkwürdigerweise kein bisschen irritierte: Tsuzuku legte seine Hand auf mein Bein, genauer gesagt auf die Innenseite meines rechten Oberschenkels, und begann, mich dort zu streicheln. Es fühlte sich einfach nur gut an und kein bisschen falsch. Ich sah ihn fragend an, er nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

„Das brauchen wir jetzt nicht“, sagte er leise, bevor er sich über mich beugte und begann, mich zu küssen und überall anzufassen. Seine Fingerkuppen gruben sich in meine Haut, ich legte meine Arme um ihn und zog ihn an mich. Tsuzukus Nähe sorgte dafür, dass mit heiß wurde und ich spürte, dass er ziemlich erregt war, als er seinen schmalen Körper an meinen presste und begann, mich auszuziehen…

 

Dann wachte ich auf. Zuerst merkte ich nichts, doch als ich zwei Dinge realisierte, die ganz und gar nicht stimmten, fuhr ich erschrocken hoch.

Was zum Henker hatte ich da geträumt?!

Und wieso reagierte mein Körper darauf und sorgte dafür, dass sich meine Hose unangenehm eng anfühlte?
Je wacher ich wurde, umso mehr verwirrte mich das soeben Geträumte. Meine Gedanken rasten und mein Körper fühlte sich heiß und taub gleichzeitig an.

Ruana schaute mich mit ihren beiden unterschiedlichen Augen vorwurfsvoll an und schien mich zu ermahnen, diesem Traum nicht gedanklich zu folgen.

Warum träumte ich so etwas? Tsu und ich waren doch nur gute Freunde! Natürlich hatte ich ihn schon oft nackt gesehen, im Badehaus, aber da war doch nichts bei mir gewesen, keine Regung, kein gar nichts! Was dachte sich mein Hirn dabei, mich so was träumen zu lassen?

Hatten Träume nicht immer eine Bedeutung und hingen mit dem Unterbewusstsein zusammen? Fand mein Unterbewusstsein Tsuzuku heiß? Und wie viel davon war ein Teil dessen, was ich von mir kannte? War es schon Liebe, dass ich Tsu schön fand und alles für ihn tun wollte?

Und was war mit MiA? War ich wirklich in ihn verliebt?

Totale Unsicherheit breitete sich in mir aus.

 

Tausende solcher Fragen schwirrten mir durch den Kopf, während ich mich langsam erhob. Das Problem in meiner Hose würde sich nicht von allein lösen, also schlich ich mich ins Bad neben meinem Zimmer, zog sie aus und verschaffte mir schnell und ohne viel Fantasien Erleichterung. Meine Klamotten waren zusätzlich nassgeschwitzt und so wanderten sie alle in den Wäschekorb.

 

Als ich wieder in mein Zimmer zurückkam, sah ich die Liste neben meinem Bett liegen. Ich nahm sie, faltete das Blatt zusammen und zog die Schublade unter meinem Bett hervor. In dieser großen Kiste bewahrte ich ein paar von Tsuzukus Sachen auf und einiges, was ich mal für ihn gekauft hatte. Es war sozusagen eine Sammlung von allem, was ihn betraf, und meine Eltern absolut nichts anging. Ich wusste nicht, was sie sagen würden, sollten sie von meiner merkwürdigen Freundschaft zu einem vierundzwanzigjährigen Obdachlosen erfahren.

Ich legte die Liste in diese Schublade und schob sie wieder unter mein Bett.

 

Ein Blick auf meinen Wecker sagte mir, dass es elf Uhr nachts war. Das Lämpchen an meinem CD-Player leuchtete noch, die CD war durch und wartete, dass ich wieder auf den ersten Song schaltete. Ich ging hinüber, nahm die Platte heraus und schaltete die Anlage aus.

 

Es dauerte sehr lange, bis ich in dieser Nacht wieder einschlafen konnte. Meine Gedanken kreisten um das, was ich von dem Traum noch wusste und die Frage, was ein solcher Traum zu bedeuten hatte. Und ich hatte Angst, ihn weiter zu träumen, wenn ich wieder einschlief.

Als ich dann schließlich doch gegen drei Uhr in einen erschöpften Schlaf sank, träumte ich jedoch nichts, zumindest nichts, woran ich mich später erinnern konnte.

 

Am nächsten Morgen weckte mich ein Klopfen an meiner Tür.

„Yuuhei? Alles in Ordnung?“

Ich drehte mich schlaftrunken zur Seite und sah auf die Uhr. Ach du Schreck, viertel vor zehn?! Mit einem Satz war ich aus dem Bett.

„Alles… okay…“, brachte ich heraus, während ich mich anzog. „Nur… verschlafen!“  

Nachdem ich an den sich entfernenden Schritten gehört hatte, dass meine Mutter wieder nach unten gegangen war, lief ich aus dem Zimmer ins Bad und begann, mich so schnell wie möglich fertig zu machen.

 

„Guten Morgen, Yuuhei“, begrüßte mich mein Vater kurz darauf am Frühstückstisch. Er musterte mein Outfit und mein Make-up und sagte: „Wir hatten doch ausgemacht, dass du es heute nicht übertreibst. Für einen Termin beim Psychologen brauchst du dich doch nicht so aufzuhübschen.“

 

Ach Mist! Der Termin drohte mir schon seit vier Wochen, doch ich hatte ihn dermaßen verdrängt, dass ich nur noch gewusst hatte, dass heute um halb zwölf irgendwas war.

Meine Eltern machten sich Sorgen, weil ich immer noch nicht richtig reden und deshalb nicht arbeiten konnte, deshalb hatten sie mich einfach bei einem Psychologen in der Nachbarstadt angemeldet.

Wenn ich hätte diskutieren können, dann hätte es deswegen Streit gegeben. Ich hatte nicht die geringste Lust, irgendeinem Psychologen mein Leben zu erzählen, selbst wenn es so was wie Schweigepflicht gab. Das Thema Therapie hatte ich für mich durch, nachdem ich die letzte vor Jahren abgebrochen hatte.

 

Was sollte ich denn auch erzählen?

Dass ich mir große Sorgen um meinen besten Freund machte, weil er Bulimie hatte und auf der Straße lebte? Dass ich die ganze Verantwortung für ihn trug und das kaum noch aushielt? Dass ich ihn irgendwie liebte oder so?

Dass ich in einem Partyclub einen anderen Typen kennen gelernt und mich in den auch irgendwie verliebt hatte? Dass ich nicht mehr wusste, was davon jetzt Verliebtsein war und was nur Mögen?

Dass ich zwei Ichs hatte, die in zwei komplett verschiedenen Welten lebten, und diese beiden sogar unterschiedliche Namen hatten?

Nein, ich hatte wirklich keine Lust, da mit jemandem ‚vom Fach‘ drüber zu reden. Der einzige, bei dem ich mir irgendwie wünschte, einiges abzuladen, war MiA. Und das war ziemlich unmöglich, zumindest was meine gespaltenen Welten betraf.  

 

Trotzdem fuhr ich widerwillig mit und als wir die Praxis erreicht hatten, sagte ich: „Ich… geh allein… ihr nicht mit…“ Und auf einmal war mir dieser verdammte Sprachfehler auch vor meinen Eltern peinlich und ich verspürte wieder dieses Gefühl, mich selbst dafür ohrfeigen zu wollen.

Und auf einmal fiel mir auf, dass das in letzter Zeit mehr geworden war. Also das mit diesem Gefühl, mich schlagen zu wollen, dafür, dass ich etwas falsch machte.

Wurde ich jetzt schon genauso wie Tsuzuku? Färbte das etwa ab?

 

Mit diesen verwirrenden und ziemlich furchtbaren Gedanken im Kopf betrat ich die Praxis, die innen genau dieses pseudofreundliche Psychoambiente hatte, vor dem man sich in Anstalten fürchtet. Ich fühlte mich weder wie Yuuhei, noch wie Meto, sondern einfach zerrissen und total durcheinander. Kein guter Tag, um einem Psychologen weis zu machen, dass ich gar keine Behandlung wollte.

Im Wartezimmer erntete ich für mein Aussehen einiges an Blicken. Eine Frau starrte auf meine linke, tätowierte Hand und sah mich fast angewidert an. Ich griff mir eine der herumliegenden Zeitschriften und tat, als würde ich lesen. Zum echten Lesen interessierte mich der Inhalt zu wenig.

 

„Asakawa Yuuhei, bitte!“

Ich stand auf und die freundlich lächelnde Sprechstundenhilfe führte mich in einen Raum, in dem hinter einem Schreibtisch eine Frau von Mitte Vierzig saß.

„Guten Tag. Ich bin Hiranuma Sae. Ihre Eltern haben Sie bei mir angemeldet, weil Sie ein Problem mit der Sprache haben. Mögen oder können Sie mir davon erzählen?“

Ich beschloss, erstmal ehrlich zu sein und schüttelte den Kopf.

„Setzen Sie sich doch.“ Sie zeigte auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und ich setzte mich widerwillig.

„Sie sind neunzehn Jahre alt und leben noch zu Hause, stimmt das?“

Ich nickte.

„Aber erzählen, was sie bedrückt, wollen sie nicht?“

„… mich… nichts…“, brachte ich heraus, doch als ich richtig bemerkte, wie arm das klang, riss ich mich zusammen und versuchte es noch mal: „Mich… bedrückt… nichts. Ich… nur nicht… richtig reden… kann…“

„Deshalb sind Sie ja hier. Ihre Eltern möchten, dass ich Ihnen dabei helfe, die Wurzeln für dieses Problem zu finden. Aber dafür müssten Sie mit mir sprechen, so gut es geht, Yuuhei. Ohne das kann ich Ihnen nicht helfen.“

Ich kniff die Lippen zusammen. Was sollte das bringen, hier alles zu erzählen? Davon würde mein Sprachproblem sich bestimmt nicht lösen!

„Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, Yuuhei?“

„Tun… Sie, was Sie… nicht können… lassen…“ Ich klang wirklich wie ein kompletter Vollidiot! Warum nur konnte ich mich Tsuzuku gegenüber so einfach und eloquent ausdrücken und bei anderen nicht?! Es war echt zum Ausrasten und das alles an diesem verdammten Tag!

 

Und dann ging es los. Alles Mögliche wollte diese Frau Hiranuma von mir wissen! Manches war noch ganz okay, aber vieles ging sie einfach nichts an! Ebenso gut hätte sie mir einen von diesen gestörten Fragebögen in die Hand drücken können, auf denen man „trifft zu“, „trifft ein bisschen zu“ und „trifft nicht zu“ ankreuzen soll, damit sich wer auch immer ein bescheuertes Bild von einem macht. Fragen wie „Denkst du viel an Sex?“ musste ich doch nicht beantworten, oder?

Auf die meisten dieser Fragen jetzt antwortete ich nur mit einem widerwilligen Blick und zusammengekniffenen Lippen. Vielleicht wäre ich etwas kooperativer gewesen, hätte ich nicht so einen entsetzlich schlechten Tag gehabt.

„Hast du denn eine Freundin?“, fragte Frau Hiranuma. Sie war inzwischen, wohl weil ich auf sie wie ein an den Eltern klebender Spätzünder wirkte, dazu übergegangen, mich zu duzen.  

Ich schüttelte den Kopf.

„Hattest du schon mal eine?“

„Nein.“

„Und hättest du gern eine Freundin?“

Diese bohrende Art, mich auszufragen, brachte mich wirklich auf die Palme und so platzte ich bissig und sogar fehlerfrei heraus: „Nein, ich steh auf Kerle!“

Ihr überraschter Blick tat sein übriges, um diese Psychologin in meiner Achtung weiter gegen Null sinken zu lassen. Und ihre nächste Frage verursachte, dass sie bei mir dann wirklich unten durch war:

„Und wie läuft das bei dir?“

Ich sprang auf, bedachte sie mit einem wütenden Blick, zischte „Geht Sie gar nichts an!“ und verließ den Raum.

 

Meine Eltern saßen im Wartezimmer.

„Yuuhei?“, fragte meine Mutter. „Was ist denn heute los mit dir?“

Ich antwortete nicht, stattdessen kramte ich mein Handy raus, setzte die Ohrstöpsel ein und drehte D‘espairsRay‘s ‚Reddish‘ auf volle Lautstärke.

Im Auto drehte sich meine Mutter nochmal zu mir um und fragte irgendwas, aber ich ließ die Musik an und so verstand ich nicht, was sie wollte. Das Thema Eltern war heute für mich durch, ich wollte nur noch weg.

Aber dann fiel mir der Traum wieder ein und auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, ob ich Tsuzuku heute wirklich sehen wollte.

 

Kaum waren wir wieder zu Hause, lief ich auch schon wieder los, in Richtung meines Lieblingsclubs. Die hatten draußen immer aushängen, an welchen Tagen diese Woche Partys waren und wann nicht. Und eine Party mit Alkohol und vielleicht mit MiA war heute genau das, was ich brauchte.

Und ich hatte Glück: Heute Abend fand eine Party statt. Blieb nur die Frage, wie ich MiA erreichen und überreden konnte. Ich hatte ja weder seinen Namen, noch seine Adresse oder seine Nummer. Es war jetzt über eine Woche her, dass ich ihn kennen gelernt hatte und vielleicht war er heute Abend ja wieder hier.

Wenn nicht, würde ich eben allein feiern. Hauptsache, ich konnte das Kapitel ‚Psychologin‘ schnell vergessen.

 

Ich hing den ganzen Tag in der Stadt herum, möglichst weit weg vom Akutagawa. Weil ich mir erst wieder klar darüber werden musste, was das mit Tsuzuku und mir eigentlich war.

Doch ganz zurückziehen konnte ich mich nicht. Als ich nämlich an einem Brunnen in der Innenstadt saß, rauchte und die Menschen beobachtete, hörte ich hinter mir eine bekannte Stimme.

 

„Hey, Meto!“

Ich drehte mich um und da stand Haruna, Hanakos feste Freundin. Ich mochte sie recht gern und wäre ich nicht schwul und sie lesbisch gewesen, dann hätte sie durchaus Chancen bei mir gehabt. Sie sah gut aus mit ihren rückenlangen, meerblauen Haaren, dem rot-schwarz karierten Fetzenkleid und den schwarzen Plateau-Stiefeln. Um den Hals trug sie ein wunderschönes Halsband mit Ringen und Kreuzen, und sie hatte zwar keine Tunnel, dafür aber in jedem Ohrläppchen drei Löcher, in denen sie bunte Ohrstecker trug.

 

„Wenn du Tsuzuku suchst…“ begann sie.

„Nein, heute nicht.“

„Wärst du lieber allein? Soll ich wieder gehen?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Habt ihr Streit?“

Ich schüttelte den Kopf. „Aber… man… kann… doch nicht… auch immer… zusammen. Du hängst… auch nicht… mit Hanako immer…“

„Stimmt. Kann ich mich denn zu dir setzen?“

Ich nickte und sie setzte sich neben mich auf die steinernen Stufen.

 

„Hast du ‘ne Zigarette für mich?“, fragte sie. Ich nickte, gab ihr eine und lieh ihr auch mein Feuerzeug. Während wir so zusammen saßen und rauchten, fing sie irgendwann an zu reden.

„Du und Tsuzuku, ihr seid so richtig gute Freunde. Ich finde das total süß, wie du für ihn sorgst. Das würde wohl kaum ein anderer so tun wie du. Du hast ihn echt gern, oder?“

Normalerweise hätte ich jetzt begeistert genickt. Aber heute war alles anders. Ich war mir, was Tsuzuku betraf, überhaupt nicht mehr sicher.

„Ich meine …“, sprach Haruna weiter, „… weil du doch … auf Kerle stehst und trotzdem seid ihr zwei nur gute Freunde …“

Sie sah mich an und irgendwie reichte dieser Blick, damit alles aus mir herausbrach. Der elendige Traum, der sich während ich ihn träumte, irgendwie gut angefühlt hatte, meine ganze Verwirrung und Unsicherheit und die blöden Fragen der Psychologin. Ich vertraute mich Haruna an, brach endlich zumindest einen Teil meines Schweigens und das tat einfach gut. Sie nahm mich in den Arm, strich mir durchs Haar und hörte einfach zu.

 

Das mochte ich so an dieser Szene, an diesen Leuten. Sie waren immer da, bei ihnen zählten Menschen noch was, auch wenn viele mit der Menschheit allgemein nicht sehr viel am Hut hatten. Deshalb wollte ich diese Gruppe auf keinen Fall verlieren.

Zwar gab es da diese Sachen, über die ich mit niemandem von ihnen reden konnte, doch zumindest quetschten sie mich nicht danach aus, sondern beließen mich einfach so.

 

„Meto, Meto, Meto …“, sagte Haruna schließlich. „Du machst Sachen …“ Und obwohl ihre Worte denen meiner Eltern ähnelten, klang sie in diesem Moment für mich viel verständnisvoller.

„Was ich… denn jetzt machen…?“

„Also, zuerst mal wischst du dir die Tränen aus dem Gesicht und dann mach ich dein Make-up neu. Und dann gehen wir zusammen zu Tsuzuku und du redest mit ihm darüber, was meinst du?“ Haruna lächelte. Dann zog sie ihre Kosmetiktasche aus dem Rucksack und reichte mir ein Taschentuch.

Während sie mich schminkte, fragte ich mich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie wüsste, woher ich wirklich kam. Dass ich nicht, wie ich gelogen hatte, mit meinen Eltern in einer Hochhauswohnung lebte, sondern in einer Villa in Akayama. Ob sie dann immer noch so einfach nett zu mir sein würde? Ob ihre Toleranz soweit reichte?

 

Es war das erste Mal, dass ich fast so etwas wie Angst davor hatte, Tsuzuku zu sehen. Ich wusste auf einmal nicht mehr, was ich sagen, denken, wie ich mich verhalten sollte.

„Wenn du willst, bleib ich dabei“, sagte Haruna.

Ich nickte. Tsuzuku kannte Haruna und auch, wenn er von sich aus nie einen Schritt auf sie zu gemacht hatte, so verstanden sie sich doch relativ gut, wenn man das so sagen konnte.  

 

Wir gingen zusammen in den Akutagawa-Park, zu den Schlafstellen. Tsuzukus Sachen waren da, doch er war nirgends zu sehen.

„Der ist grad zum Fluss!“, rief uns Hanako zu, kam zu uns herüber und gab Haruna einen schnellen Kuss auf die Lippen.

Irgendwie wollte ich jetzt doch lieber allein mit ihm reden, ohne Haruna. Also ging ich in Richtung Fluss und hielt dort Ausschau nach meinem besten Freund.

„Tsuzuku?“, rief ich und befürchtete schon, ihn wieder völlig fertig vorzufinden, doch er saß auf einer Bank und blickte auf den Fluss. Er sah gut aus, jedenfalls nicht so krank wie neulich.

Ob er mir allerdings ansah, dass ich vorhin geweint hatte, wusste ich nicht. Ich hoffte, dass es nicht so offensichtlich war.

 

„Meto“, sagte er, als er mich bemerkte. „Wie geht’s dir?“ Natürlich. Er fragte immer, wie es mir ging und erwartete eine ehrliche Antwort, doch wenn ich ihn dasselbe fragte, log er und schönte seine Lage, egal, ob ihm anzusehen war, wie schlecht es ihm wirklich ging.

„Prima“, antwortete ich und versuchte, allen Mist, der mir auf der Seele lag, zu vergessen. Den Traum, die Psychologin, einfach alles. Und das gelang mir sogar ziemlich gut. Ich dachte nur noch an Tsu und irgendwo am Rande meines Bewusstseins war da noch MiA, an den zu denken mich irgendwie beruhigte. Das war es, was ich an MiA so mochte. Er hatte einfach etwas an sich, das mir eine Ruhe schenkte, nach der ich mich tief drinnen sehnte.

„Der Fluss fließt so schön …“, sagte Tsuzuku leise, als ich mich neben ihn setzte. Allein dieser Satz war ungewöhnlich positiv, doch sein fast schon verträumter Blick verwirrte mich. Woher kam diese gute Stimmung?

Sie dauerte noch ein paar Momente an, die wir schweigend auf den Fluss blickten. Bis ich wieder spürte, wie Tsuzukus Hand nach meiner suchte, nur um sich dann wieder zurückzuziehen.

 

In dem Moment kam nämlich die Erinnerung an meinen höchst verwirrenden Traum zurück. An Tsuzukus Hand auf meinem Bein, seine weichen Lippen an meinem Hals …

Ich sprang auf, schüttelte heftig den Kopf und konnte meinen besten Freund auf einmal nicht mehr ansehen. Dieser verdammte, verwirrende Traum …!

„Meto?“, fragte Tsu. „Alles okay?“

Ich war komplett durcheinander. Eigentlich wollte ich ihm von der blöden Psychologin erzählen, von meinen Eltern, die auf einmal wieder irgendwie so verständnislos waren, und davon, wie gern ich MiA hatte. Zu allem Überfluss setzte meine Stimme komplett aus, und so wusste ich kaum mehr, wo oben und unten war.

Und natürlich entging Tsuzuku das alles nicht.

Am liebsten wollte ich im Boden versinken. Und wieder war da dieses Bedürfnis, mich für meine idiotischen Gedanken selbst zu schlagen.

Meine Güte, Tsu hatte mich doch hoffentlich nicht angesteckt!

… Moment, was dachte ich da eigentlich?! So was war doch nicht ansteckend!

Und das war schon das zweite Mal, dass ich so was dachte.

 

„Meto, mit dir stimmt doch heute was nicht. Sag schon, was ist los!“, forderte Tsuzuku.

Ich kratzte meine Stimme zusammen und antwortete leise und ohne ihn anzusehen: „… nichts… musst dir keine Sorgen machen…“

Eine Sekunde später fiel mir auf, dass ich dieselben Worte benutzte wie er, wenn er vor mir verheimlichte, wie schlecht es ihm ging.

Was war mit uns passiert, dass ich ihn jetzt auch schon so anlog?!

Aber sagen, was mit mir los war, kam schlicht und einfach nicht infrage. Ich war mir sicher, mit diesem elendigen Traum unsere Freundschaft aufs Spiel gesetzt zu haben.  

Und Tsu gab heute nicht so einfach nach. Sonst war ich immer der, der unnachgiebig fragte und alles von ihm wissen wollte, ausgerechnet heute war es umgekehrt.

Mich packte der plötzliche Wunsch nach lauter Musik, blitzenden Lichtern, Alkohol und der anonymen Menschenmenge. Ich wollte weg, in den Club, MiA treffen, mit ihm tanzen und den ganzen Mist einfach nur vergessen.

 

„Wie du meinst“, riss mich Tsuzuku eingeschnappt aus meinen Gedanken. „Morgen ist ja auch noch ‘n Tag, ne …“

Na klasse! Jetzt war er auch noch beleidigt.

Verdammter Scheißtag!

 

„Ja, morgen vielleicht. Tut mir leid, Tsu, aber heute ist echt nicht mein Tag.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ging davon, in Richtung des Clubs, bei dem ich verzweifelt hoffte, dass MiA heute auch wieder dort war.

 

Ich hatte einen anstrengenden Tag auf meiner Arbeit gehabt.

Manch einer mochte glauben, dass Arbeit in einem Buchladen langweilig und einfach war, doch das galt nicht für den Laden, in dem ich arbeitete. Es war ein etwas spezielles Geschäft voller Manga und Fantasy-Bücher und bot auch einiges an Merchandise an. Jedenfalls war es der einzige Laden in der ganzen Stadt, der mir mit meinen blasslila-blonden Haaren einen Job gegeben hatte.

Dementsprechend bestand die Kundschaft aus Otakus jeder Schattierung und diese konnten schon mal ziemlich anstrengend sein.

 

Jetzt war ich, geschminkt und zurechtgemacht, auf dem Weg in denselben Club wie letztes Wochenende. Vielleicht war Meto ja auch da.

 

Er war da. Stand geschminkt und in schwarzen, kunstvoll zerfetzten Klamotten vor dem Club und rauchte. Irgendwie sah ich ihm dabei an, dass er nur Gelegenheitsraucher war. Wahrscheinlich rauchte er nur zur Beruhigung.

Ich lief zu ihm hinüber.

„Hey, heute wieder hier?“

Womit ich allerdings nicht rechnete, war, dass er mich mit einem Leuchten in den Augen anlächelte, das ich so bei ihm noch nicht gesehen hatte. Offenbar freute er sich wirklich sehr, mich zu sehen.

„MiA…“, sagte er leise.

„Wie war dein Tag?“, fragte ich.

Das Leuchten verschwand. „…Will nicht reden drüber…“

Oh, anscheinend war es ihm heute nicht besonders gut gegangen. Ich fragte nicht weiter nach, sondern ging voraus in Richtung Tür, wo uns der Türsteher nach Vorzeigen unserer Ausweise einließ.

„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte ich Meto.

„Neunzehn.“

„Da bin ich ja nur ein Jahr älter als du!“

Wir drängelten uns bis zur Bar durch und ich bestellte meinen geliebten Malibu-Kaluhamilk. Und Meto, wohl weil er unentschlossen war, bestellte dasselbe. Ich konnte mir gut vorstellen, dass dieser Drink zu ihm passte. Auch, wenn ich ihm durchaus zutraute, dass er auch härteres Zeug vertrug.

„…Tanzen?“, fragte Meto, als wir ausgetrunken hatten, und klang zwar fröhlich, aber irgendwie aufgesetzt.

„Ja, klar!“

 

Es war fast genauso wie beim letzten Mal. Meto ging ziemlich ran beim Tanzen, doch er wirkte längst nicht so leichtsinnig. Vielmehr hatte ich den deutlichen Eindruck, er wollte sich heute Abend von irgendetwas ablenken. Vielleicht war das auch schon letztens der Fall gewesen, doch heute fiel es mir wirklich auf und ich fragte mich, was wohl mit ihm los war.

So, wie er seine Finger in meinen Rücken grub, als er sich im Takt der dröhnenden Musik an mich schmiegte, fühlte ich mich ein bisschen wie der berühmte rettende Strohhalm, an den Meto sich klammerte.

Es war merkwürdig mit uns beiden: Wir wussten kaum etwas voneinander, doch trotzdem verhielten wir uns so, als würden wir uns schon lange kennen, bezogen einander in unsere Gedanken ein und bauten eine gewisse Bedeutung auf.

„MiA lieb…“. flüsterte Meto an meinem Hals. Ich konnte es kaum hören, erriet es eher daran, wie seine Lippen dabei über meine Haut streiften. 

„Sag mal …“, war ich ganz ehrlich, „… wir kennen uns doch kaum. Wie kannst du da so sicher sein, mich zu mögen?“

„Ich muss… immerzu… denken… an dich…“, antwortete er.

„Ich auch“, gab ich zu. Heute hatte ich mich mehrmals dabei erwischt, wie meine Gedanken während der Arbeit abgeschweift waren und sich statt mit Büchern lieber mit Meto beschäftigt hatten. Ich wusste, irgendwie hatte ich mich in ihn verliebt, doch das änderte nichts daran, dass ich ihn kaum kannte.

Ich wusste ja nicht mal seinen echten Namen. Alles, was ich über ihn wusste, war, dass er anscheinend aus besseren Verhältnissen kam, und das geheim hielt, dass er ziemlich waghalsig sein konnte und dass er mit einem offenbar kränklichen Obdachlosen namens Tsuzuku befreundet war.

Was davon es war, was ihn dazu brachte, sich so unbedingt ablenken zu wollen, konnte ich nur vermuten.

 

„Hast du eigentlich auch einen richtigen Namen?“, fragte ich.

Meto nickte an meiner Schulter und erwiderte: „Den sag ich… aber nicht…“

„Warum nicht? Also, ich kann dir meinen gern nennen.“

Meto reagierte seltsam heftig. Er ging ein Stück auf Abstand und sagte recht laut und vor allem fehlerfrei: „Ich bin Meto, okay?! Sonst nichts. Nur Meto.“

„Verstanden.“ Ich nickte. „Dann bin ich für dich weiter nur MiA.“

Offenbar war das mit dem Namen eine wunde Stelle oder so. Und noch offensichtlicher schien er, wenn er aufgeregt war, plötzlich normal reden zu können.

 

Ich hatte erwartet, dass nun die Stimmung kippen würde, aber dem war nicht so. Stattdessen begann Meto, mich richtig anzugraben, drückte sich an mich und tupfte Küsse auf meinen Hals. Ich wurde nicht recht schlau aus ihm, doch das hieß nicht, dass ich seine Art, mich anzufassen, nicht genoss. Er war auf eine Art und Weise offensiv, die mir extrem gut gefiel und so stieg ich drauf ein, machte mit und bewirkte so, dass er immer weitermachte.

 

Im bunten Blitzlichtgewitter und zwischen den vielen Leuten fielen wir längst nicht so auf, wie es auf der Straße oder sonst wo der Fall gewesen wäre. Aber auch die Blicke irgendwelcher Leute hätten jemanden wie Meto wohl nicht davon abgehalten, mich wieder heftig zu küssen.

Seine vollen Lippen drückten sich auf meine, ich spürte das aufgewärmte Metall seiner Piercings. Er küsste wirklich gut, absolut wundervoll. Und verdrehte mir damit zum zweiten Mal den Kopf.

 

Kurz darauf saßen wir wieder auf einem der roten, plüschigen Sofas, die an allen Wänden auf der zweiten Ebene aufgestellt waren und versuchten zumindest, uns trotz des Lärms ein wenig zu unterhalten. Doch so ganz klappte das nicht. Meto schien heute ziemlich viel erlebt zu haben und wohl nichts sonderlich gutes, denn als ich ihn danach fragte, was er heute so gemacht hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: „Will nicht… drüber reden…“

„War’s so schlimm?“, fragte ich, hoffend, dass er mir doch noch was erzählte, aber er schüttelte wieder den Kopf und so gab ich das Thema fürs Erste auf. Schließlich gab es da noch eine andere Frage, die mich weit mehr interessierte, obwohl ich gern gewusst hätte, warum Meto sich vorhin so an mich geklammert hatte.

 

„Sag mal, sind wir jetzt eigentlich so was wie ein Paar?“, fragte ich.

Meto sah mich erschrocken an.

„MiA… hör mir gut zu… es ist… nicht, dass ich… dich nicht will oder so, aber… ich brauch… noch Zeit, okay? Ich kann… jetzt noch nicht… so was Festes… anfangen…“, sprach er stockend und mit gesenktem Kopf.

Und ich glaubte ihm. Weil ich da so eine Ahnung hatte, dass es da etwas gab, weswegen er noch nicht fest mit mir zusammen sein konnte. Dass es mit Tsuzuku zusammen hing und damit, dass dieser offensichtlich in schlimmen Schwierigkeiten steckte. Dass Meto sich zuerst darum kümmern musste, bevor er mit mir wirklich zusammen sein konnte.

 

„Ist okay“, sagte ich. „Dann bin ich eben erst mal nur ein Freund, den du halt küssen darfst.“

Er strahlte mich an, war offenbar schwer erleichtert darüber, dass ich ihm diese Freiheit gewährte. Und ich lächelte zurück, froh darüber, dass wir zumindest irgendwas waren, wenn auch noch nicht fest zusammen. Das war wohl etwas, worauf ich warten musste. Aber das war okay, und vielleicht konnte ich ja auch ein wenig helfen?

 

„MiA lieb.“ Und ehe ich mich versah, hatte Meto seine Arme um meinen Hals geschlungen und drückte mich an sich. Aber anders als das erotische Rummachen von vorhin. Vielmehr schien es nun ein Ausdruck von Zuneigung zu sein, die er für mich empfand. Ich wusste nicht, wie ich das geschafft hatte, innerhalb so kurzer Zeit so wichtig für Meto zu werden, aber es machte mich glücklich, schließlich mochte ich ihn auch sehr gern. Nur, dass ich nicht in solchen Schwierigkeiten steckte.

 

Ich legte meine Arme um ihn und hielt ihn fest, auch, oder gerade als ich seine Tränen an meiner Schulter spürte.

„Hey, nicht weinen.“

„Ist… doch egal. Uns … eh keiner … bemerkt …“

So saßen wir eine ganze Weile auf diesem Sofa am Rand der zweiten Ebene des Clubs, ich hielt Meto im Arm und streichelte über seinen Rücken, bis er sich wieder beruhigt hatte. Er sagte nichts, erklärte nicht, warum er auf einmal weinen musste oder was an diesem für ihn offenbar ziemlich furchtbaren Tag geschehen war. Und ich fragte nicht mehr nach, weil ich ihn zu nichts zwingen und mich auch nicht einmischen wollte.

 

„Aber, Meto, wenn du irgendwann mal reden willst“, sagte ich, „…dann bin ich da, hörst du?“

Er nickte.

„Ich geb dir meine Nummer und meine Adresse. Hast du wieder einen Stift da?“

„M-hm.“ Er holte einen Kugelschreiber aus der Tasche und einen kleinen Block. Offenbar hatte er beides wegen seiner eingeschränkten Sprache dabei. Ich schreib ihm meine Daten auf und malte eine kleine Katze daneben.

„Wirst du dich melden, wenn was ist?“, fragte ich sicherheitshalber.

Meto nickte, fuhr sich mit dem Handrücken über die ohnehin dunkel verschmierten Augen und lächelte mich an. „…Hab dich… echt gern, MiA…“

 

„Ich dich auch. Was ist, wollen wir noch mal tanzen?“ Ich stand auf und hielt ihm meine Hand hin.

Der Song, der gerade lief, lud zum glücklichen Tanzen ein und genau das taten wir. Meto wirkte wie ausgewechselt, hatte wieder diese verrückte Leichtigkeit an sich, wie letzte Woche, als er auf dem Lautsprecher herumgeturnt war. Überflüssig zu sagen, wie süß ich ihn fand, wenn er so drauf war. Und ich war ein wenig stolz auf mich, dass ich es geschafft hatte, ihn wieder happy zu machen.

Wir tanzten, holten uns dann was zu trinken, knutschten wieder und wieder rum, bis wir irgendwann den Club verließen und draußen weiter machten. Meto war jetzt richtig gut drauf, ich hörte ihn zum ersten Mal lachen und selbst als uns irgendein Idiot „Ey, ihr Schwulen!“ nachrief, konnte das unsere Hochstimmung kaum brechen.

 

Doch irgendwann brach sie doch. Und zwar in dem Moment, als Meto sagte: „Ich muss gleich los, es ist weit bis Natsukita.“

Natsukita. Eine Hochhaussiedlung. Siedend heiß fiel mir wieder ein, dass ich ja ganz genau wusste, dass Meto eben nicht dort, sondern im Villenviertel Akayama wohnte.

Mühsam tat ich so, als wäre nichts, und verabschiedete mich von ihm. Er ging tatsächlich in Richtung Natsukita, aber ich wusste, dass es von da eine gute Verbindung nach Akayama gab.

 

Auf dem Weg nach Hause zu meiner Sawako dachte ich darüber nach, bis mir auffiel, dass Meto und ich jetzt etwas gemeinsam hatten: Er hatte ein Geheimnis und ich nun auch. Zwar war mein Geheimnis, dass ich eins von seinen kannte, aber es war eben eines und ich verstand nun zumindest ansatzweise, wie schwer es war, ein Geheimnis zu haben, das auf keinen Fall rauskommen durfte.

Ich schwebte förmlich nach Hause, schlich die Treppe rauf in mein Zimmer und sperrte die Tür ab. Nicht zu glauben, dass meine Laune an diesem scheußlichen Tag noch mal in solche Höhen steigen konnte, doch sie tat es. Mein Kopf schwirrte vor lauter MiA, von seiner Stimme, seinen Lippen, seinen Händen, seiner lieben Art …

Mit einem fetten Grinsen im Gesicht zog ich mich aus, ließ mich aufs Bett fallen und schnappte mir Ruana, um sie fest an mich zu drücken. Es ging mir wirklich richtig gut, ich war happy wie sonst was und verliebt bis in die Haarspitzen. Ruana schien sich fast ein wenig darüber zu wundern, nachdem ich heute Morgen so furchtbar verwirrt und durcheinander gewesen war.

In dieser Nacht träumte ich nichts Besonderes und war darüber am Morgen darauf sehr, sehr froh.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kam mir der vergangene Tag wie ein böser Spuk vor, der ein irgendwie sehr wunderschönes Ende gehabt hatte. Beim Anziehen fand ich den Zettel mit MiAs Daten und steckte ihn in die Tasche meines Handys. Da würde ich ihn immer bei mir haben.

 

„Na, Yuuhei, heute besser drauf?“, fragte mein Vater, als ich angezogen und geschminkt zum Frühstück erschien.

Ich nickte, setzte mich und begann, stumm das Rührei zu essen, welches meine Mutter so gut wie jeden Morgen machte.

Irgendwie fiel mir dabei Tsuzuku wieder ein. Ich hatte ihm gestern wohl ganz schön seine seltene gute Laune verdorben mit meinem dummen Traum, und wollte so schnell wie möglich zu ihm, um mich zu entschuldigen.

 

„Sag mal, Yuuhei …“, begann meine Mutter, als ich meinen Teller in die Spülmaschine räumte, „Wo bist du eigentlich den ganzen Tag?“

Was sollte denn die Frage auf einmal? Seit wann interessierte sie das?

„Wieso?“, fragte ich.

„Na ja, eigentlich halten wir uns ja aus deinen Sachen raus, aber… manchmal wüssten wir schon gern, wie du deine Tage verbringst …“

‚Das geht euch aber nichts an‘, dachte ich und schüttelte den Kopf, ‚Das ist meine Sache.‘

Ich trennte diese beiden Welten, zwischen denen ich lebte, weiterhin so streng wie möglich. Auf beiden Seiten. Weil ich mir so absolut sicher war, dass sie einfach nicht zusammen passten. Yuuheis Welt war zu edel, Metos zu chaotisch, um der jeweils anderen zu begegnen. Es passte nicht und würde auch nie passen. Und da war ziemlich egal, ob es mich dazwischen zerriss. Ich hatte doch keine andere Wahl, oder?

 

Ich machte mich dann ziemlich bald auf den Weg in den Akutagawa-Park.

Tsuzuku war da und er schien auch ziemlich gut drauf zu sein. Allerdings war er überraschenderweise nicht allein. Haruna und Hanako saßen bei ihm und unterhielten sich mit ihm. Allein das kam selten genug vor, aber als er dann auch noch lachte, verwunderte es mich wirklich.

„Meto!“, rief Haruna, als sie mich bemerkte, und winkte mich zu ihnen. Ich ging hinüber, setzte mich zu Tsuzuku auf seinen Schlafsack und fragte, so wie immer: „Wie geht’s dir?“

„Gut“, sagte er und das Leuchten in seinen Augen versicherte mir, dass er nicht log. Ihm ging es heute wirklich gut, sehr gut sogar.

„Ich… wollte mich… noch mal entschuldigen, wegen gestern…“, brachte ich etwas verlegen heraus.

„Ist schon okay, war wohl wirklich nicht dein Tag.“ Er griff nach meiner Hand und ich hatte den blöden Traum soweit vergessen, dass ich meine in seine schob.

Was ich aber noch immer nicht verstand, war, warum Hanako und Haruna hier bei Tsuzuku saßen und wie sie es geschafft hatten, ihn zum Lachen zu bringen. Es war zwar nur ein kurzes Auflachen gewesen, aber immerhin.

„Worüber… ihr denn… gerade… gesprochen habt?“, fragte ich Haruna.

„Hanako hat was Lustiges erlebt. Da war ‘ne alte Frau, die hat sie ‚Fetzenfisch‘ genannt“, sagte Haruna und zeigte auf Hanakos kunstvoll zerrissenes Kleid.

„Fetzenfisch…“ Tsuzuku kicherte fast. „Ich sag euch lieber nicht, woran ich da denke…“

„Doch, sag!“, forderte Hanako.

„Du gibst aber als Fisch im Kleid keine gute Figur ab.“

„Fetzenfisch, bitte sehr, Tsu! Das ist ein Seepferdchen!“ Hanako lachte.

 

Ich saß mit großen Augen daneben und wunderte mich. So locker und offen hatte ich Tsuzuku selten erlebt. War irgendwas passiert, was ich nicht mitbekommen hatte?

Da ich diese gute Laune jedoch nicht durch Fragen nach dem Warum dahinter kaputt machen wollte, fragte ich nicht weiter, sondern freute mich einfach, dass mein bester Freund einen guten Tag hatte. Wenn er lachte, fiel nicht mal mehr so sehr auf, wie dünn er war.

 

Wie war es das letzte Mal gewesen, als er so richtig gut drauf gewesen war?

Das war vor ungefähr zwei Monaten gewesen. Ich hatte ihn in den Zoo eingeladen, einfach, damit er mal rauskam aus dem Park und dem Straßenleben. Wenn wir nur zu zweit waren, dann war er durchaus manchmal gut drauf und wir hatten einen echt tollen Tag gehabt.

Wie kleine Kinder waren wir im Streichelgehege gewesen und ich hatte erfahren, dass Tsuzuku Ziegen für sehr interessante Tiere hielt, während ich die Bären ein paar Gehege weiter lieber mochte. Elefanten, Tiger, Flamingos, Eulen, alle möglichen Tiere, dann Eis und ein paar Fotos. Es war ein total schöner Tag gewesen, aber eben nur zu zweit.

Dass Tsuzuku jetzt offenbar auch mit Hanako und Haruna gut klarkam, freute mich. Vielleicht lag darin ja der erste Schritt raus aus seiner Einsamkeit und möglicherweise half ihm das, gesund zu werden. Ich hoffte es so sehr!

 

Wir saßen den ganzen Vormittag zusammen, redeten über dies und das und waren alle vier ziemlich gut drauf.

Aber irgendwann musste natürlich wieder was passieren. So war es doch immer im Leben. Gerade, wenn man dachte, es könnte doch eigentlich immer so schön bleiben, kippte die Stimmung und die dunklen Wolken am Himmel kehrten zurück.

Und es war Tsuzukus Stimmung, die kippte, zerbrach. Ich bemerkte nicht, was der Auslöser war, nur, dass er sich auf einmal anspannte, meine Hand losließ und wie das Leuchten aus seinen Augen verschwand. Haruna und Hanako sahen es erst, als er sich mit den Fingernägeln über den Arm kratzte.

„Tsu? Alles okay?“, fragte Haruna.

Er stand wortlos auf, kickte wütend seine Wasserflasche um und ging einfach weg, Richtung Fluss.

„Was hat er denn?“, fragte Hanako.

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich ja wirklich keine Ahnung hatte, was auf einmal mit ihm los war. Er hatte das öfter, dass seine Stimmung kippte wie Aprilwetter, aber weil er heute so gut drauf war, hatte ich natürlich, naiv wie ich war, nicht damit gerechnet.

 

„Schaust du gleich mal nach ihm?“, fragte Haruna.

Ich nickte und die beiden Mädchen gingen zu ihrem Stammplatz bei dem großen Baum in der Mitte des Parks zurück.

Ich wartete noch ein bisschen, dann machte ich mich auf die Suche nach Tsuzuku. Er hatte sich auf eine versteckte Bank am Flussufer gesetzt, die Knie angezogen und machte sich wieder so klein. Ich warf einen vorsichtigen Blick in Richtung des daneben stehenden Mülleimers und schlug mir reflexartig die Hand vor den Mund vor Entsetzen.

Nicht schon wieder … Konnte es nicht ein Mal, ein einziges Mal, gut laufen, ohne diese fürchterliche Krankheit?! Musste meine Hoffnung, meine verzweifelte Stärke, immer wieder auf dieselbe Probe gestellt werden?

 

„Tsu? Was ist denn los?“

„…Ich weiß nicht…“, antwortete er, ohne den Kopf zu heben. „Ich weiß es wirklich nicht…“

Es hatte keinen Sinn, weiter zu fragen. Wenn er selbst nicht wusste, was los war, warum seine Stimmung auf einmal wieder in den Abgrund gerauscht war, wusste er es eben nicht. Was aber auch bedeutete, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich ihm da raushelfen sollte. Ob überhaupt oder ob ich ihn jetzt vielleicht einfach in Ruhe lassen sollte. Doch meine Erfahrung mit ihm sagte mir, dass er in so einem Moment nicht allein sein durfte und dass ich der einzige Mensch auf diesem Planeten war, den er jetzt an sich ran lassen konnte.

 

Zu gern hätte ich irgendwann mal gewusst, was es war, das seine Stimmung so schwanken, und oft genug gen Abgrund fallen ließ. Was es war, das er noch nicht mal selbst kannte, ihn jedoch immer wieder heimsuchte und ihn sich so verletzen ließ. Dieses verdammte Ungeheuer musste doch einen Namen haben!

 

Ich setzte mich einfach neben ihn auf die Bank und wartete. Irgendwann löste er sich aus seiner sich klein machenden Haltung, seine Hand suchte meine und ich hielt sie ihm hin. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er meine Hand und drückte sie so fest und lange, als wollte er mir damit etwas Wichtiges mitteilen.

 

„Tsuzuku? Willst du mir vielleicht irgendwas sagen?“, fragte ich.

Er schüttelte nur den Kopf.

„Weißt du, ich hab schon ‘ne Weile das Gefühl, dass dir irgendwas auf der Seele brennt, was mich angeht.“

„Da ist nichts, Meto. Außer … na ja, dass ich dich sehr gern habe. Aber das weißt du ja.“

Ja, das wusste ich. Er hatte es mir je oft genug gesagt. Ich wusste, dass ich die Hauptrolle in seinem Leben spielte, zumindest, was die Menschen anging, mit denen er sprach. Da war ich eindeutig Nummer Eins.

„Aber, Tsu, wenn irgendwas ist, kann ich mich drauf verlassen, dass du’s mir sagst?“

Er nickte und sah mich an. „Wem, wenn nicht dir?“

Aber trotz dieser Worte, trotz seines unverstellten Blickes, war ich mir nicht sicher, ob das alles war. Irgendein Gefühl sagte mir, dass er wieder nicht ganz ehrlich zu mir war oder mir zumindest nicht die ganze Wahrheit sagte. Aber so, wie ich ihn kannte, musste ich warten, bis er es mir sagte.

 

Wenigstens schien seine Stimmung wieder ein wenig besser geworden zu sein. In dem Moment, als er mir gesagt hatte, dass er mich gern hatte, war ein wenig von dem Leuchten in seine Augen zurückgekehrt.

„Hast du diesen MiA noch mal getroffen?“, fragte er.

„Ja, gestern Abend.“

„Du magst ihn wirklich gern, oder?“

Ich nickte und der bloße Gedanke an MiA reichte aus, um mich zum Lächeln zu bringen. Aber so, wie Tsuzuku fragte … Es klang fast ein wenig eifersüchtig …

„Aber mit ihm… das ist ganz anders als mit dir“, sagte ich deshalb schnell und wahrheitsgemäß.

„Er ist ja auch nicht so kaputt wie ich …“

„Tsu, sag doch so was nicht!“ Ich konnte es nicht leiden, wenn er sich so niedermachte. „Du bist mein bester Freund, mein allerbester, und ich hab dich wahnsinnig gern, hörst du?! Aber MiA ist jemand, den ich einfach unheimlich anziehend finde, körperlich und so weiter.“

„Tut mir leid … manchmal vergesse ich fast, dass du ja schwul bist …“ Er lächelte beinahe. Seine Laune war heute wirklich das reinste Aprilwetter. Mal oben, mal unten, und dazwischen war so gut wie nichts.

„Wieso vergisst du das?“

Es dauerte eine ganze Weile, bis er leise antwortete: „… Weil wir Freunde sind …“

 

Irgendwann gingen wir zu seinem Schlafplatz zurück, er hob die Wasserflasche auf und nahm einen großen Schluck. „Mal ehrlich, Meto, manchmal muss ich dir doch direkt eklig vorkommen, oder?“, fragte er dann.

Ich schüttelte den Kopf. Nein, eklig nicht. Krank, ja, das wirklich, aber es war eigentlich nie so, dass ich mich vor ihm ekelte, selbst wenn ihn die Bulimie überfiel. Ich ekelte mich eher vor der Krankheit, als vor ihm.

„Ehrlich?“

„Ich finde, du bist krank, das weißt du ja selber, aber eklig finde ich dich wirklich nicht.“

„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zu gut für die Welt bist?“

„Ja, du jetzt.“

Er murmelte irgendwas, das sehr nach „… Und so ein Gutmensch gibt sich mit mir ab …“ klang.

Okay, dann war ich eben zu gut für die Welt. Dann kämpfte ich eben für jemanden, den alle anderen einschließlich ihm selbst schon aufgaben! Ich war halt so und das konnte und wollte ich nicht ändern!

 

Auf einmal, oder vielleicht auch gar nicht so überraschend, überkam mich der Wunsch, Tsuzuku fest in den Arm zu nehmen, damit er endlich kapierte, dass er ein liebenswerter Mensch war. Irgendwie musste das doch in seinen Kopf zu kriegen sein!

Ich machte zwei Schritte auf ihn zu und legte meine Arme um seinen schmalen Körper.

„Wann kapierst du das endlich, Tsuzuku?“, fragte ich.

„Was?“

„Dass du ein toller Mensch bist. Und dass du aufhören sollst, dich kaputt zu machen.“

Er wollte wieder widersprechen, doch dieses Mal ließ ich das nicht zu und legte einen Finger auf seine Lippen. „Schscht!“, machte ich. „Lass das doch einfach mal so stehen.“

Er nickte zögerlich.

Ich wusste, eigentlich wollte er sich nicht kaputtmachen. Aber er konnte nicht anders. Da war dieses furchtbare, viel zu mächtige Ungeheuer in seinem Kopf, das ihn dazu zwang und gegen das zu kämpfen ihm oft die Kraft fehlte. Viel zu oft glaubte er ihm, wenn es ihn niedermachte. Und ich kam dagegen einfach nicht an.

„Gib nicht auf“, flüsterte ich an seinem Hals. „Wir schaffen das … irgendwie …“ Ich versuchte, sicher zu klingen, überzeugend, doch konnten mich meine eigenen Worte kaum selbst überzeugen.

„Wenn ich mir da nur so sicher wäre wie du, Meto.“

 

Wir gingen durch den Park in die Innenstadt, liefen dort herum, wie wir immer herumliefen, einfach so, ohne irgendein bestimmtes Ziel. Irgendwann setzten wir uns an den Stadtbrunnen und ich gab Tsu eine Zigarette ab. Er war eigentlich süchtiger als ich, hatte aber oft nicht das Geld und war deshalb drauf angewiesen, dass ich ihm welche abgab, was ich natürlich gern tat. Auch, wenn ich wusste, dass es nicht gesund war. Er sagte, Rauchen entspanne ihn, und so sah es auch aus.

 

„Ich will echt einen Job“, sagte er irgendwann auf einmal und drückte die aufgerauchte Zigarette auf den nassen Steinen aus.

„Brauchst du mehr Geld?“, fragte ich. „Du weißt doch, dass ich dir jederzeit was leihe.“

„Nein, Meto, du leihst mir schon viel zu viel Geld. Das kann ich ja bald nie mehr zurückzahlen, so viel ist das schon.“ Er sah mich an und hatte dieses bestimmte Leuchten in den Augen, das ich von mir selbst gut genug kannte. „Ich brauch mal wieder ein neues Tattoo. Und das will ich mir selbst verdienen.“

Ich wollte ihm nicht sagen, dass das in seiner Lage sehr, sehr lange dauern würde, vielleicht sogar unmöglich war. Und wahrscheinlich wusste er das auch selbst. Womöglich erlaubte er sich gerade nur, ein wenig zu träumen. Von einer Welt, in der es möglich war, von dem Loch Straße wieder wegzukommen. Wenn das so war, dann war dies ein wertvoller Moment und so schwieg ich.

 

Ich kam kurz nach Mittag zu Hause an.

„Yuuhei!“, rief meine Mutter aus der Küche, „Wozu hast du ein Handy, wenn du es lautlos schaltest! Wir haben auf dich gewartet!“ Sie stand vor der Spülmaschine und legte gerade den Tab ein.

„Sorry…“

„Frau Hiranuma hat angerufen. Sie sagt, du kannst nächste Woche wieder zu ihr kommen. Sie hat wohl eine Idee, wie sie dir helfen kann, aber du musst natürlich auch mitmachen.“

Die Psychologin. Na klasse, die gab’s ja auch noch… Da ich aber wirklich nicht die geringste Lust hatte, mich wieder von ihr ausfragen zu lassen, schüttelte ich ziemlich trotzig den Kopf und verschwand ohne ein weiteres Wort auf meinem Zimmer.

 

Dort blieb ich für den Rest des Tages, saß vor dem Computer und suchte dort mehr oder weniger erfolglos nach Möglichkeiten, Tsuzuku irgendwie zumindest einen kleinen Job zu besorgen.

Eine Sache wurde mir dabei klar: Ohne festen Wohnsitz kein Job, ohne Job kein Geld, aber ohne Geld gab es keinen festen Wohnsitz. So der offizielle Teufelskreis.

Es musste irgendwie anders gehen. Nur, wie?

 

Ich hatte geträumt und zwar viel und vor allem von Meto. Davon, wie er mich geküsst und angefasst hatte, wie sehr ich das genoss und wie sehr ich ihn mochte. Oh Gott, hatte der Junge eine Ahnung, wie sehr ich seine exzentrische Art liebte? Dass es mich direkt anmachte, wie er aussah? Möglich war es, immerhin musste er bemerkt haben, wie sehr es mir gefallen hatte, als er mich beim Tanzen anfasste und küsste.

 

Doch kaum ließ ich meinen Gedanken um ihn freien Lauf, fiel mir das Geheimnis wieder ein. Mein Geheimnis, dass ich seines kannte.

Warum war ich mir eigentlich so sicher, dass es nicht einfach ein Missverständnis war? Es konnte doch auch sein, dass er aus irgendeinem anderen Grund den Schlüssel zu dieser Villa hatte. Obwohl mir keiner einfiel, möglich war es doch.

Womöglich hatte ich auch nur wieder Vorurteile.

 

Das Ganze ließ mir keine Ruhe und so stand ich auf, wobei Sawako um meine Beine strich und ihre weißen Haare an meiner dunkelroten Schlafanzughose hängen blieben. Ich beugte mich herunter, hob sie hoch und drückte sie an mich. „Naa, du kleine Katze, willst du mich wieder einspinnen mit deinen Flauschhaaren?“

Sawako gab ein protestierendes Miauen von sich, ich ließ sie wieder auf den Boden und sie rannte quer durch meine Wohnung, sprang aufs Sofa und begann dort, sich zu putzen.

 

Auf einmal hatte ich ein Bild vor Augen, von Meto, der sich mit meiner Katze unterhielt. Ich hoffte, dass er Katzen mochte oder zumindest meine, die ja ein wenig untypisch war.

Ich bekam diesen Kerl einfach nicht aus meinem Kopf weg und eigentlich wollte ich das ja auch gar nicht. Nur hätte ich gern gewusst, was mit ihm los war, und mit Tsuzuku. Vielleicht konnte ich ja irgendwas tun?

 

Ich ging ins Bad, duschte, machte mich zurecht, zog mich an, füllte Sawakos Näpfe auf und verließ meine Wohnung in Richtung des Akutagawa-Parks. Vielleicht war dort ja irgendwie zu erfahren, was eigentlich genau los war.

Als ich dort ankam, war von Meto wie auch von Tsuzuku nichts zu sehen. Ich sprach ein paar Leute an und fragte mich durch, bis ich wusste, wo sich die beiden meistens aufhielten, wenn sie hier nicht waren: Im Badehaus am Bahnhof.

Aber ich ging nicht dorthin. Stattdessen blieb ich in der Nähe des Parks und wartete.

 

Irgendwann, nach ungefähr einer Stunde, tauchte Tsuzuku auf, allerdings ohne Meto. Er sah nicht schlecht aus, offenbar war heute wieder so ein ‚Schönheitstag‘ und wahrscheinlich war Meto direkt vom Badehaus nach Hause gegangen.

Aus der Entfernung fiel mir noch mal deutlich auf, wie irrsinnig schlank, besser gesagt dünn Tsuzuku war. Darüber konnten auch die relativ neuen Kleider, das geschminkte Gesicht und die schön gemachten, schwarzen Haare nicht hinwegtäuschen. Schlank hin oder her, dieser Typ war eindeutig untergewichtig.

Als er mich sah und erkannte, stand ich auf und ging auf ihn zu. Ich wollte ein bisschen mit ihm reden, ihn als besten Freund meines Schwarms einfach näher kennen lernen.

 

„Meto ist schon nach Hause“, sagte er gleich. Ich spürte, dass er angespannt war. Irgendwas an dieser Situation gefiel ihm nicht und das war ihm ziemlich deutlich anzusehen.

„Ich will gar nicht zu ihm“, antwortete ich. „Ehrlich gesagt möchte ich mal mit dir reden.“

„Warum das denn?“

„Meto erzählt mir nicht viel und da dachte ich…“, begann ich, doch Tsuzuku unterbrach mich ziemlich brüsk: „… Und da dachtest du, dass ich dir was über ihn erzähle?!“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich sehe nur, dass ihr zwei gute Freunde seid und deshalb würde ich dich auch gern kennen lernen.“

Anscheinend hatte ich irgendwas falsch gemacht, denn Tsuzuku funkelte mich giftig an und fauchte:  „Hör mal, Mia oder wie du dich nennst: Meto ist sehr, sehr wichtig für mich und wenn du vorhast, ihm irgendwann das Herz zu brechen, dann…“

„Hey, komm mal wieder runter!“, verteidigte ich mich gegen den merkwürdigen, überraschenden Angriff von Metos bestem Freund. „Ich mag ihn wirklich gern, das kannst du mir ruhig glauben! Und ich versteh nicht ganz, warum du mich jetzt so anfährst!“

Er starrte mich noch einen Moment lang wütend an, doch dann verschwand das angriffslustige Blitzen aus seinen Augen und er schien sich wieder zu beruhigen.

 

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich und mir fiel auf, dass er sich seine Fingernägel in die Handballen bohrte. „Manchmal bin ich halt so …“ Der reuevolle Klang seiner Stimme bildete einen merkwürdigen Kontrast zum Verhalten seiner Hände, den ich nicht so ganz verstand.

„Schon okay.“ Ich brachte sogar ein Lächeln zustande. „Du hast ihn wohl genauso gern wie ich.“

Tsuzuku nickte. Irgendwie vermittelte er einen Eindruck, der mich an Seiltänzer oder Eisfiguren erinnerte: Schön, aber immer von der Gefahr begleitet, abzustürzen und zu zerbrechen. Ich bekam ein Bild davon, wie schwierig es für Meto manchmal sein musste, so eng mit Tsuzuku befreundet zu sein. Obwohl ich andererseits glaubte, dass Tsuzuku bei ihm anders war, nicht gleich so ausrastete wie eben.

 

„Was willst du denn wissen?“, fragte er nach einer Weile.

„Keine Ahnung, einfach wer du bist, wie es dir geht, so was. Ich möchte einfach den besten Freund des Jungen, in den ich mich verliebt habe, kennenlernen.“ Ich setzte mich auf die Bank, auf der ich auch zuvor gewartet hatte und Tsuzuku setzte sich neben mich, allerdings mit einem guten Stück Abstand zwischen uns.

„Da gibt’s nicht viel. Ich lebe halt auf der Straße, aus Gründen, über die ich nicht gern rede“, antwortete er.

Ich blickte auf seine Arme, auf die dunkelblauen Tätowierungen, und fragte: „Die waren doch bestimmt teuer, oder?“

„Die hab ich schon seit Jahren. Dass ich so lebe, ohne Geld und das alles, das ist erst seit zwei Jahren so. Vorher… na ja, da hab ich mir die zusammengespart.“

„Ich finde die auf jeden Fall total schön“, sagte ich ehrlich und lächelte. Zwar hatte ich selbst nur ein einziges, winziges Tattoo, doch bei anderen bewunderte ich solche Körperkunst sehr, wie man an meinen Gefühlen für Meto ja deutlich sah.

 

Überhaupt schienen sich Meto und Tsuzuku ziemlich ähnlich zu sein. Zwar wirkten sie auf den ersten Blick unterschiedlich, doch ich konnte bereits zwei große Gemeinsamkeiten ausmachen, die mir jetzt sehr auffielen.

Zum einen, dass beide aus ihrer äußeren Erscheinung ein wildes Kunstwerk gemacht hatten, und zum anderen diese Verschwiegenheit. Sie sprachen wohl beide nicht gern über sich, besonders nicht mit Leuten, die sie noch nicht wirklich kannten.  

Sie faszinierten mich beide, jeder auf seine Weise, und ich wollte gern jemand sein, dem sie etwas mehr über sich verrieten. Ganz besonders wollte ich das natürlich bei Meto, aber auch Tsuzuku interessierte mich, zumal er in Metos Leben eine sehr große Rolle zu spielen schien.

 

Es war ein Blick in eine eigene, kleine Welt. Ich sah die beiden zusammen, sah, wie sie miteinander umgingen, und wollte gern ein wenig dabei sein. Nicht nur zusehen, beobachten und hin und wieder mit einem der beiden zu tun haben, sondern ein Freund sein.

 

„Bist du noch beleidigt, weil ich dich eben gerade so angefahren habe?“, fragte Tsuzuku auf einmal.

Ich schüttelte den Kopf, hatte ihm das längst verziehen. Er war in Ordnung, zumindest in der Hinsicht, dass ich ihn doch recht gut leiden konnte. Sein für mich ansprechendes Äußeres hatte eben seine Wirkung und sorgte dafür, dass ich ihm nicht lange böse sein konnte. Außerdem, wenn er sich entschuldigte, dann war es doch sowieso okay.

 

„Ist okay“, sagte ich und fragte dann: „Wollen wir vielleicht irgendwo hingehen?“

Er sah mich kurz fragend an, sodass ich präzisierte: „Ich könnte dich zu einer Kleinigkeit zu Essen einladen oder so…“

Ein merkwürdiger Ausdruck trat in seine Augen, eine Mischung aus Angst und einem für mich unverständlichen Zittern.

„Ach so, neulich warst du ja krank“, versuchte ich, das zu verstehen. „Geht’s dir denn wieder besser?“

„Hm? Ach so, das … Ja, ja, alles wieder okay …“

„Ich weiß einen tollen, kleinen Laden, wo es nicht so teuer ist“, sagte ich und stand auf. „Kommst du mit? Ich hab heute noch nicht sehr viel gegessen.“

Er erhob sich und sagte murmelnd: „… Ich auch nicht …“ Irgendwas daran stimmte nicht, doch ich konnte nicht sagen, was es war.

 

Doch als wir dann schließlich einander gegenüber in dem kleinen Restaurant saßen, welches ich recht oft besuchte, da bekam ich schon eine dunkle Vorahnung. Zuerst dauerte es sehr lange, bis er sich dann schließlich für einen kleinen Salat entschieden hatte, und dann, als dieser gebracht wurde, sah ich diesen Ausdruck in Tsuzukus Augen: eine Mischung aus Angst und Ablehnung der Nahrung gegenüber, so deutlich, dass ich davon ein ziemlich ungutes Gefühl bekam.

 

Ich hatte erwartet, dass er sich hungrig auf das umfangreichste Gericht der Karte stürzen würde, doch das glatte Gegenteil war der Fall. Der kleinste Salat und dazu ein Blick, als würde er freiwillig nicht einen einzigen Bissen davon nehmen. Da stimmte doch was nicht!

Dann war also nicht die Obdachlosigkeit und Armut der Grund für seine überaus zierliche Statur, sondern etwas anderes, das in meinen Augen ganz nach einem psychischen Problem aussah.

 

„Alles okay?“, fragte ich, obwohl ich wusste, dass er darauf wahrscheinlich nicht wahrheitsgemäß antworten würde.

Und tatsächlich sagte er: „Ja, alles gut“ und begann, unter meinem wohl leicht besorgten Blick, langsam zu essen. Doch sein Widerwillen war kaum zu übersehen.

 

In meinem Kopf begann es zu rattern. Worte wie Magersucht, Depression und Bulimie schwirrten durch meine Gedanken und ich versuchte automatisch, Tsuzukus offensichtliches Problem da einzuordnen. Ich hatte nicht viel Ahnung von Psychologie und so beschloss ich, später zu Hause das Ganze mal nachzuschlagen, nur um halbwegs eine Vorstellung davon zu bekommen, womit ich es hier zu tun hatte.

 

Langsam ahnte ich, dass ich dabei war, in eine Sache hineinzugeraten, die mich möglicherweise eine Menge Nerven kosten könnte.

Doch ein einziger Gedanke an Meto reichte aus, damit mir klar wurde, dass ich es wollte. Ich wollte für ihn da sein, wollte dieser Strohhalm sein, an den ich gestern Abend gedacht hatte, als er sich so an mich geklammert hatte.

Und wenn das bedeutete, dass ich mich mit Tsuzukus Problem auseinandersetzte, dann musste ich das wohl oder übel tun.

 

Und doch, obwohl ich ahnte, vermutete, womöglich sogar wusste: Ich fragte nicht. Nachdem er mich vorhin so angefahren hatte, fehlte mir dazu jetzt der Mut.

Tsuzuku aß so langsam, dass ich vor ihm fertig wurde. Zwischendurch sah er mich immer wieder an und sobald er das tat, verschwand dieser Ausdruck, mit dem er sein Essen bedachte, aus seinen dunklen Augen und wich einem nachdenklichen Betrachten meiner Wenigkeit. Ich fragte mich, was er wohl dachte, wenn er mich so ansah. Es schien so, als versuchte er, mich einzuschätzen und ob ich seiner Meinung nach gut genug für Meto war.

 

„Du musst dir keine Sorgen machen“, sagte ich. „Ich habe Meto wirklich sehr gern und…“

„Ich mach mir keine Sorgen!“, unterbrach er mich und auf einmal war da so etwas wie Eifersucht in seinem Blick, was ich wiederum nicht ganz verstand.

Ich hatte das Gefühl, als könnte ich lediglich an einer Oberfläche kratzen, nur flüchtige Blicke ins Innere dieser Freundschaft zwischen Meto und Tsuzuku werfen, und im Grunde nichts tun.

Nicht, dass ich irgendetwas bereute, aber ich begann, mich zu fragen, worauf ich mich da eingelassen hatte. Meine letzte Beziehung war eine Weile her und das hier war vollkommen anders.

 

Ich bezahlte und wir verließen das Restaurant.

„Bist du jetzt sauer auf mich?“, fragte Tsuzuku, als wir wieder auf dem Weg in Richtung Akutagawa waren.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, wieso sollte ich?“

„Weil ich mich so furchtbar verhalte…“

„Ich bin nicht sauer oder so“, sagte ich und beschloss dann, so ehrlich wie möglich zu sagen, was ich dachte: „Ich frage mich nur, ob es mir irgendwann möglich sein wird, euch beide zu verstehen. Das würde ich nämlich gern.“

„Meto ist mein Ein und Alles. Verstehst du das?“

Ich nickte. Ja, das verstand ich. Doch gleich dahinter fingen für mich die Probleme und Fragen an. Ich wollte mich nicht zwischen diese liebevolle Freundschaft drängen und doch irgendwie daran teilhaben. Vielleicht musste ich mir darüber, was ich da eigentlich wollte, auch erst klar werden. Ich wusste nur, dass ich Meto wirklich sehr gern hatte und dass ich verstehen wollte.

 

Ich begleitete Tsuzuku noch bis zu seinem Schlafplatz und ging dann nach Hause.

Auf dem Heimweg kam ich in Akayama vorbei, an dem Haus, in dem ich Meto neulich hatte verschwinden sehen. In der Hoffnung, dass er jetzt nicht aus dem Fenster schaute, sah ich mir die wunderschöne Villa ein wenig genauer an. Sie war riesig im Umfang und hatte zwei Stockwerke plus Dachboden, links einen kleinen Erker und neben der Haustür zwei schmucke Säulen.

 

An der Gartentür war ein kleines Messingschild befestigt. „Asakawa“ stand dort in hübschen, schwarzen Zeichen. Was für ein schöner Familienname! Man stellte sich gleich einen wunderschönen, breiten Fluss vor, der unter der roten Morgensonne entlangfloss und dessen Wasser in ihrem Licht glitzerte.

 

Ich hob den Blick und sah mir die Fenster an. Eines fiel mir irgendwie ins Auge. Es befand sich im ersten Stock rechts außen und drinnen auf dem Fensterbrett stand eine dunkelblaue Lampe. Von hier unten war vom Zimmer hinter dem Fenster nicht viel zu sehen, doch als ich ein paar Schritte zur Seite ging, erhaschte ich einen Blick auf ein dunkles Poster, das an der Wand links vom Fenster hing. Es war nur eine schmale Ecke zu sehen, doch ich erkannte das Logo von Dir en grey.

Vielleicht war das da oben ja Metos Zimmer.

 

Auf einmal hatte ich das Gefühl, dass er gerade dort drin war und jeden Moment aus dem Fenster schauen und mich entdecken könnte. Schnell ging ich weiter, verlangsamte meine Schritte erst, als ich Akayama hinter mir gelassen hatte.

 

Ich gab meinen Eltern nach und ging doch wieder zu Frau Hiranuma. Zum einen, weil ich die beiden nicht noch mehr beunruhigen wollte, und zum anderen, weil ich irgendwo in mir drin hoffte, dass mir diese Frau, so unsympathisch sie mir auch war, vielleicht doch helfen konnte. Immerhin hatte sie sich, laut den Worten meiner Mutter, Gedanken um meinen Fall gemacht und sich etwas einfallen lassen, das vielleicht ja doch etwas brachte. Auch, wenn ich mir nicht vorstellen konnte, was das sein sollte.

 

Auf dem Weg dahin nahm ich mir jedoch vor, ihr nichts zu erzählen, was ich nicht erzählen wollte. Mein Liebesleben ging sie schlicht und einfach nichts an, alles was ich von ihr wollte, war, dass sie mir diesen bescheuerten Sprachfehler vom Hals schaffte.

 

„Guten Tag, Yuuhei“, sagte Frau Hiranuma, als ich dann schließlich vor ihrem Schreibtisch saß und darauf wartete, dass sie mit ihrer angeblich so tollen Idee rüberkam.

„Tag…“

„Ich weiß, dass Sie nicht gern herkommen. Die ganze Fragerei hat Sie… oder soll ich lieber Du sagen?“

Ob sie mich nun duzte oder siezte, war mir so ziemlich egal. Ich zuckte mit den Schultern.

„Also bleibe ich bei Yuuhei und Sie, ist das in Ordnung?“

Wieder gleichgültiges Schulterzucken meinerseits.

 

Frau Hiranuma sah mich über ihre eckige, rot gerahmte Brille hinweg an und fragte: „Können Sie mir sagen, wann das begonnen hat, dass Sie so stottern und Wörter vertauschen?“

„Immer… schon…“, sagte ich leise. „Ganz …früher aber… war’s… so schlimm… nicht…“

„Gab es irgendwelche Ereignisse, die das schlimmer gemacht haben?“

Natürlich gab es die. Wenn man so wenig und fehlerhaft sprach wie ich, dann war man in der Schule außen vor und unten durch. Meine Schulzeit war eine einzige Katastrophe, auch wenn ich gern lernte und es mir auch nicht besonders schwer fiel. Aber jeder weiß, dass das Soziale mehr oder weniger die Hälfte des Lebens in der Schule ausmacht und genau da hatte es mir gefehlt. Nicht richtig sprechen zu können, hatte mich von den anderen getrennt, mich zum Außenseiter gemacht und irgendwann, als ich dann anfing, auch so auszusehen, war es zwischen mir und den anderen endgültig vorbei gewesen. Es hatte kein offenes Mobbing gegeben, aber immer wieder diese kleinen Attacken, unterschwellige Gemeinheiten, die doch ganz schön wehgetan hatten. Sie hatten bewirkt, dass ich zwischenzeitlich ganz verstummt war, bis nach meinem Abschluss, als ich Tsuzuku kennenlernte.

 

„Sie wurden in der Schule attackiert, nicht wahr?“, hakte Frau Hiranuma nach und ich nickte. So, wie sie mich ansah, verstand ich, was manche Leute meinten, wenn sie sagten, dass Psychologen alles Mögliche von einem einfach erraten konnten.

 

„Haben Sie jetzt Freunde?“

Ich nickte.

„Gute Freunde?“

„Ja…“

„Mögen Sie mir etwas über diese Freunde erzählen?“

„Ich hab sie gern“, antwortete ich.

„Sind diese Freunde mehr männlich oder mehr weiblich?“

Ich dachte an Tsuzuku, an Haruna und Hanako, an MiA. „Beides“, sagte ich. „Ich… hab als Freunde… Mädchen… und Jungs…“

„Das ist doch schön, Yuuhei. Sie haben Freunde gefunden, die Sie mögen, obwohl Sie nicht richtig sprechen können. Ist es bei Ihren Freunden einfacher mit dem Sprechen?“

Ich nickte.

„Haben Sie auch … einen solchen Freund?“

Ich kniff die Lippen zusammen, dachte an MiA und nickte.

„Darüber wollen Sie nicht sprechen, oder?“

„Geht… Sie… nichts an!“

„Yuuhei, Sie wissen aber, dass ich nichts von dem, was sie hier erzählen, an ihre Eltern oder jemand anderes weitererzählen werde, es sei denn, Sie gestatten es mir?“

Wieder nickte ich. Ja, Schweigepflicht und so, das wusste ich. Aber darum ging es mir nicht. Ich wollte einfach nicht mit Frau Hiranuma über MiA reden, ich fühlte mich nicht danach.

 

Sie sah mich noch einen Moment lang an, dann schrieb sie etwas auf. Wahrscheinlich, dass ich das Thema ‚geliebter Freund‘ verweigerte. Okay, sicher musste sie das, schließlich verlangte man einen Bericht von ihr, doch es störte mich trotzdem. Ich tat mich einfach unheimlich schwer damit, dieser Frau eine Chance zu geben.

„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich schreibe das nur für den Bericht auf, das muss sein.“

„Weiß ich…“, antwortete ich. Was nichts daran änderte, dass ich es nicht mochte, wie sie da hinter ihrem Schreibtisch saß, mich Sachen fragte und meine Antworten aufschrieb.

 

„Wir können uns auch da vorn hinsetzen“, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken gehört, und deutete auf eine kleine Sitzgruppe schräg hinter mir. „Vielleicht ist Ihnen das lieber und ein bisschen bequemer, hm?“

Ja, vielleicht. Ich stand auf, nahm meine Jacke und meine Tasche und setzte mich auf einen der mit dunklem Leder bezogenen Sessel.

„So ist es doch besser, oder?“, fragte Frau Hiranuma und setzte sich mir mit Klemmbrett und Stift gegenüber. „Sehen Sie, ich kann Ihnen nur helfen, dieses Problem zu überwinden, wenn Sie zumindest versuchen, mit mir zu reden. So lange ich nicht weiß, wie es in Ihrem Leben aussieht, kann ich nicht viel tun. Verstehen Sie das?“

Ich nickte. Verstehen tat ich ja, warum sie mich so viel fragte. Es leuchtete mir sogar ein und ich sah, dass das ein Weg zur Lösung meines Sprachproblems sein konnte. Doch trotzdem: Ich wollte einfach nicht über manche Dinge sprechen. Und so schwieg ich die Psychologin an, nickte nur ab und zu oder ließ ein paar leise Worte fallen.

 

Als die Stunde vorbei war, stand ich auf und ging, ohne „Auf Wiedersehen“ zu sagen.

Ich wusste, dass ich meine Eltern enttäuschte, wenn ich mich so weigerte, ordentlich zu sprechen. Ob Frau Hiranuma auch enttäuscht war, wusste ich nicht. Vielleicht war sie auch so eine geduldige Psychologin, die meinte, dass ich nur etwas Zeit brauchte. Ob das so war, also dass ich einfach Zeit brauchte, wusste ich nicht.

 

Von der Praxis nahm ich zuerst den Zug und lief dann vom Bahnhof in Richtung Akutagawa. Natürlich erwartete ich, Tsuzuku auf seinem üblichen Schlafplatz zu sehen, doch im Gegensatz zu seinen Sachen, die wie üblich dort herumlagen, war er nicht da.

„Der ist wieder beim Fluss!“, rief mir Haruna zu.

Ich lief zu der Bank am Flussufer und tatsächlich saß er dort und schaute den kleinen Booten auf dem Fluss hinterher.

 

„Hey, Tsu.“

Er sah mich an und lächelte. „Wo warst du heute Morgen?“

„Bei der Psychologin.“

„Welche Psychologin?“

Ach so, davon hatte ich ihm ja an dem furchtbaren Tag, als ich das erste Mal bei Frau Hiranuma gewesen war, gar nichts erzählt. „Sie heißt Hiranuma. Meine Eltern wollen, dass sie mir hilft, damit ich wieder richtig mit allen sprechen kann.“ Ich setzte mich neben Tsuzuku auf die Bank und wandte meinen Blick ebenfalls den Booten zu.

„Also so, wie du auch mit mir redest?“

Ich nickte. „Aber … ich glaube, das kann ich nicht. Und irgendwie … irgendwie will ich auch nicht. Ich meine …“

„Na ja, es ist ja auch ein bisschen was Besonderes, dass du nur mit mir so reden kannst.“ Seine Hand suchte wieder meine und ich nahm sie. Irgendwie fühlte sie sich ein klein wenig wärmer an als sonst.

 

„Sag mal, Meto“, fragte er dann, „Redest du mit MiA eigentlich auch so …normal?“

Ich schüttelte den Kopf. Zwar fiel mir das Sprechen bei MiA etwas leichter als bei Fremden, doch ich machte trotzdem eine Menge dieser Fehler, die ich bei Tsuzuku eben nicht machte, und besonders fließend sprach ich auch nicht.

 

„Ich hab gestern mit MiA gesprochen“, sagte er dann.

Ich sah ihn verwundert an. Was hatte er mit MiA zu reden? Das konnte ja eigentlich nur mich betreffen.  

„Genauer gesagt hat er mich angesprochen. Er wollte mich wohl irgendwie genauer kennen lernen, so weil ich dein bester Freund bin und so. Und dann hat er mich zum Essen eingeladen.“

Oh Gott, dachte ich, was war da passiert? Doch hoffentlich nicht …

„Alles okay.“ Tsuzuku sah mich von der Seite an und lächelte kurz. „Nichts passiert.“

 

Mein erleichtertes Ausatmen konnte ihm gar nicht entgehen und so fügte er noch hinzu: „Ich hab sowieso das Gefühl… so als ob es irgendwie… besser wird mit mir.“

Wieder lächelte er und zwar so strahlend, dass mein Herz aufgeregt zu klopfen anfing. Und mein Tag war gerettet. So war es mit mir und Tsuzukus Lächeln. Ich liebte es und weil es so selten war, machte es mich umso glücklicher.

 

Wieder suchte seine Hand nach meiner, ich ergriff sie und hielt sie fest. Seine große, schlanke, warme Hand mit den kleinen Tattoos auf den Fingern und dem einen Ring, der mal silbern gewesen war, bevor er sich schwarz verfärbt hatte. Meine Hand war kleiner und irgendwie, wenn ich sie so mit seiner verglich, kam ich mir genauso klein und hilflos vor wie meine kleine Hand, die versuchte, Tsuzukus große festzuhalten und zu beschützen und es nie so ganz schaffte.

„Meto…“, sagte er leise und als ich in seine dunklen Augen schaute, sah ich dort ein warmes Leuchten, wie ich es bei ihm lange nicht gesehen hatte. Vielleicht ging es ihm ja wirklich besser, vielleicht hatte er doch noch eine Chance und schaffte es raus aus dem tiefen, schwarzen Loch.

Mein Herz klopfte.

Es schlug, war lebendig, füllte meinen Körper mit Wärme. Hielt mich immer weiter am Leben, unnachgiebig, auch wenn es oft wehtat.

Doch in diesem Moment schien die Wärme auch von woanders zu kommen. Von der Hand meines besten, engsten, einzigen Freundes, der meine festhielt.

 

Lange hatte ich nicht verstanden, weshalb mein Herz so klopfte, wenn Meto meine Hand hielt. Doch in letzter Zeit wurde mir mehr und mehr klar, warum es schneller schlug, wenn er da war, warum ich von ihm träumte, ihm lange hinterher sah, wenn er ging, und ihn zum einzigen Grund für mein Weiterleben gemacht hatte.

Weil er mehr war als mein bester Freund. Meto war mein Leben, mein Ein und Alles, die Sonne, um die ich mich drehte wie ein kalter Planet voller Sehnsucht nach Wärme. Seit einem Jahr war er immer da, in meinen dunkelsten Momenten, wenn ich das Licht nicht mehr sah, wenn ich glaubte, vor Schuldgefühlen und Trauer verrückt zu werden, dann war er da, nahm meine Hand und zog mich wieder zurück ans Licht.

Wie viel Kraft in diesen doch recht kleinen Händen steckte!

 

Ich sah ihn an und musste lächeln. Heute war ein guter Tag. Ich hatte mir noch nichts getan und es fühlte sich auch nicht danach an, als könnte das noch passieren. Nur nicht daran denken, sonst konnte sich das sehr schnell ändern.

 

Aber ich hatte irgendwie ein ziemlich gutes Gefühl, so als ob es vielleicht doch noch eine Chance für mich gab. Als ob dieses Leben doch noch etwas Gutes mit mir vorhatte. Als ob sich die Schatten, die nach mir griffen, langsam zurückziehen und mich ein wenig in Ruhe lassen würden. Fast erschien es mir sogar so, als könnte ich… ja, als könnte ich mir meine Schuld irgendwann verzeihen.

 

Das Treffen mit MiA gestern hatte ein merkwürdiges Gefühl bei mir hinterlassen, eine Mischung aus Sympathie einerseits, weil Meto ihn mochte und ich meinem Freund, was guten Personengeschmack betraf, vertraute, und Eifersucht andererseits, weil ich, wenn ich ehrlich war, meine geliebte Sonne nicht teilen wollte.

Und dann hatte MiA mich auch noch ausgerechnet zum Essen eingeladen. Und ich hatte, in meinem ständigen Versuch, so zu tun, als sei alles okay, die Einladung angenommen, gegessen, mich zumindest ansatzweise sozial verhalten. Aber natürlich - und das war mir nicht entgangen - hatte MiA meine Unfähigkeit bemerkt. Hatte mit Sicherheit meine Einstellung zum Essen gesehen, vielleicht sogar meinen Hass auf mich selbst. Und so, wie ich ihn angefaucht hatte, war meine Eifersucht wohl ebenso offensichtlich.

 

„Tsuzuku?“, riss mich Metos leise Stimme aus meinen Gedanken. „Wollen wir irgendwo hingehen, irgendwas machen?“

Ich hob die Schultern. „Weiß nicht…“

„Sind deine Sachen alle heil oder brauchst du neue?“

„Alles okay.“

„Oder soll ich dich wieder schön machen?“

„Das haben wir doch gestern erst gemacht“, antwortete ich und fragte mich dabei, woran es wohl lag, dass Meto mit mir ganz normal sprechen konnte, während er bei anderen in diesen furchtbaren Sprachfehler verfiel, Worte durcheinanderbrachte und kaum einen Satz ohne Stocken herausbekam.

 

Vielleicht, so fühlte es sich für mich ja auch an, waren wir so etwas wie Seelenverwandte, zwischen denen es ganz einfach funktionierte. Er ohne diesen Sprachfehler und ich mit ein bisschen weniger Stimmungsschwankungen und Komplexen als anderen Menschen gegenüber.

Zwar bekam er mein merkwürdiges Auf- und Ab der Gefühle mit, doch er war der einzige, der in so einem Moment einen echten Zugang zu mir bekam und es ein wenig lindern konnte, sodass es mir relativ schnell wieder besser ging.

 

Meto kramte die kleine Kosmetiktasche, die er immer dabei hatte, aus seinem Rucksack und sagte: „Ich will aber, dass du jeden Tag schön aussiehst, Tsuzuku.“

Da hatte ich nichts entgegen zu setzen, wie immer. Zumal dieses Schönmachen einer der wenigen Momente in meinem derzeitigen Leben war, die ich wirklich genießen konnte.

Ich schloss die Augen und spürte kurz darauf den weichen Applikator auf der Haut, mit dem Meto dunklen Lidschatten um meine Augen verteilte. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, was mein bester Freund mit einem leisen Lachen erwiderte. ‚Gut so, lächeln, Tsuzuku‘ hieß das und tat irgendwie unheimlich gut.

 

Wir gingen zusammen in die Stadt, setzten uns am großen Brunnen hin, rauchten und redeten. Mir ging es gut, ich war sogar ein bisschen glücklich und glaubte in dem Moment fast, dass es ein wenig länger so bleiben würde. Ich hätte alles darum gegeben, diese gute Stimmung zu erhalten, meine Schuldgefühle zu vergessen und ganz einfach glücklich zu werden. So lange, wie Meto bei mir war, fühlte ich mich gut und sicher.

 

Doch als Meto später schließlich nach Hause ging und ich allein auf meinem Schlafplatz zurückblieb, gelang es mir nicht lange, die gute Stimmung festzuhalten. Ich spürte die Schatten wieder, wie sie sich über mein Herz legten, dunkel, kalt und voller Schmerz. Es tat einfach nur weh.

 

Mama. Wenn ich allein war, dann musste ich manchmal an sie denken. Der Tag, an dem ich sie verloren hatte, hatte sich tief in mein Herz gebrannt. Vor allem das, was außer mir niemand mehr wusste: Dass ich am Tag, als sie starb, einen furchtbaren Streit mit ihr gehabt hatte. Sie war nicht damit zurechtgekommen, was ich aus mir gemacht hatte. Meine Tattoos und Piercings, das Implantat, all das hatte ihr nicht gefallen. Sie hatte mir eine Szene gemacht wegen des Implantats. Und ich mit meinem verfluchten Temperament, mit meiner damaligen Uneinsichtigkeit, hatte sie angeschrien, furchtbare Dinge gesagt, die ich Sekunden später bereute, als sie plötzlich keuchte, sich ans Herz griff und vor meinen Augen zusammensank.

Ich war gerade noch in der Lage gewesen, den Notarzt zu rufen. An alles danach konnte ich mich nicht mehr erinnern.

 

Deshalb war ich schuld an ihrem Tod. Hätte ich nicht mit ihr gestritten, wäre sie noch am Leben. Ich mit meinem Körper, dem, was ich aus ihm gemacht hatte, und meinem furchtbaren Charakter trug die alleinige Verantwortung. Und so bestrafte ich mich dafür, tat mir weh, rang mir das Essen ab, bis mein Körper es von selbst wieder loswerden wollte, mir schon automatisch übel wurde, und das Kratzen über meine Unterarme eine Art Reflex, sobald meine Stimmung kippte.

 

Die Neigung dazu, mich zu verletzen, hatte ich schon immer irgendwie gehabt, doch seit Mamas Tod war es schlagartig so schlimm geworden, dass ich die Kontrolle darüber verlor. Es erschien mir vollkommen logisch: Ich trug Schuld und musste mich dafür bestrafen.

Warum ich Meto nichts davon gesagt, ihm eine halb gelogene Version vom Tod meiner Mutter erzählt hatte? Weil ich nicht wollte, dass er wusste, wie schuldig ich wirklich war.

 

Die Gedanken an meine Schuld verursachten mir körperliche Schmerzen. Ich zog langsam meine Schuhe aus, kroch in meinen Schlafsack und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Es gab so gut wie nichts, womit ich diese Schmerzen lindern konnte. Sie zerrissen mich immer wieder aufs Neue und ich wünschte mir verzweifelt, dass Meto noch da wäre, meine Hand in seine nahm und die andere auf mein Herz legte, die Schuld so etwas erträglicher machte.

Aber er war nicht da. War nach Hause gegangen, zu seiner Familie, über die ich so gut wie nichts wusste, außer dass er mit seinen Eltern in Natsukita lebte.

 

Am liebsten hätte ich geschrien vor Verzweiflung und Traurigkeit. Ich vergrub mein Gesicht in meinem schmutzigen Kopfkissen, versuchte, die Bilder von Mama irgendwie loszuwerden, wollte sie gleichzeitig vergessen und mich an sie erinnern. Ich hatte sie doch gern gehabt!

Wir hatten eigentlich selten gestritten, eben weil sie herzkrank gewesen war und ich das gewusst hatte. Nur an jenem Abend, da hatte ich in meiner Wut nicht daran gedacht. Nur ein einziges Mal.

 

Mein Körper bewegte sich wie von selbst, ich setzte mich auf, zog meine schwarze Tasche heran und kramte in einem Seitenfach nach meinem Messer. Es war eins der wenigen Dinge, die ich noch von früher hatte. Mit zitternden Fingern klappte ich die Klinge aus, zog den linken Ärmel meines Shirts bis zum Ellbogen hoch und suchte schon nach einer Stelle zwischen meinen vielen Tattoos, an der noch Platz für einen Schnitt war.

Der erste Schnitt war nur ein weißer Kratzer, beim zweiten quollen schon winzige Blutstropfen hervor. Ich sah meinen Arm an, als gehörte er nicht zu mir und spürte doch den Schmerz, der sich besser anfühlte als die Verzweiflung.

 

„Tsuzuku?! He, was machst du denn da?!“

Das war Harunas Stimme. Ich blickte auf und sah sie auf mich zukommen, ihr langes, meerblaues Haar leuchtete in der Abendsonne und blendete meine Augen, die alles nur noch unscharf und verschwommen wahrnahmen. Sie kniete sich vor mir hin und sah meinen Arm, den blutigen Schnitt, das Messer in meiner Hand. Dann streckte sie die Hand aus und griff danach.

„Gib das her“, sagte sie und als ich zögerte, wiederholte sie: „Komm, gib her, das hilft doch nichts.“

„Es muss nicht helfen, es passiert einfach…“ Meine Stimme klang rau und erstickt. „Lass mich in Ruhe.“

Haruna ignorierte meine Worte, drehte sich kurz um und rief nach Hanako: „Hana, komm mal schnell her! Tsu geht’s gar nicht gut.“

Hanako kam nun ebenfalls in meine Richtung, und ein paar andere Leute, die zu dieser Zeit noch hier waren, warfen neugierige Blicke herüber. Mein Griff um das Messer lockerte sich und Haruna nahm es mir einfach ab.

„Hana, frag mal rum, ob wer Pflaster oder so da hat.“

 

Haruna blieb bei mir. Als Hanako mit einem Pflaster zurückkam, war Haruna es, die es auf den Schnitt klebte, ihre Hand auf meinen Rücken legte und mir vor allem mein Messer nicht zurückgab. Die mich einfach nicht in Ruhe ließ, obwohl ich sie bissig anfauchte, dass sie verschwinden sollte. Als würde sie Metos ‚Aufgabe‘ übernehmen. Natürlich hatte sie nicht mal annähernd dieselbe Wirkung auf mich wie er, doch … ein wenig beruhigte ich mich wieder.

Haruna fragte nicht nach meinen Gründen. Sie wusste nichts über mein Leben früher, meine Mutter, meine Schuldgefühle, und sie beließ es dabei. Alles, was sie tat, war ihre Hand auf meinen Rücken zu legen und einfach da zu sein.

 

Irgendwann fragte sie: „Kann man dich jetzt alleine lassen, ohne dass du Dummheiten machst?“

Ich nickte, obwohl ich nicht wusste, ob es stimmte.

Sie kramte einen Zettel und einen Stift aus ihrer Tasche und schrieb etwas auf, drückte mir dann den Zettel in die Hand. „Meine Adresse. Wenn’s dir heute Nacht wieder schlecht geht, kannst du gern zu mir kommen, okay?“

Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Sie kannte mich doch kaum, wieso machte sie das? Es war über zwei Jahre her, dass ich bei jemand anderem in der Wohnung gewesen war.

Nein, ich wusste, ich würde nicht zu ihr gehen, egal wie es mir heute Nacht ging.

Als sie weg war, fragte ich mich, wieso es mir jetzt eigentlich so schlecht ging. Immerhin hatte ich heute eigentlich einen guten Tag gehabt, sogar mit dem Gefühl, dass es mit mir langsam besser wurde. Wieso also war ich derartig zusammengebrochen? Ich verstand mich selbst nicht mehr und das machte es nicht besser.

Doch Dummheiten machte ich keine mehr.

 

In dieser Nacht hatte ich einen ziemlich merkwürdigen Traum. Obwohl, so abwegig war er dann doch nicht, wenn ich bedachte, was für Gedanken ich in letzter Zeit über Meto im Kopf hatte…

 

Er und ich waren in einem ziemlich teuer und edel aussehenden Raum, in dem ich mich zuerst etwas unwohl fühlte. Es war ein Schlafzimmer mit einem großen Bett, bezogen mit seidig glänzender Bettwäsche, mit weißen Verzierungen an der Decke, und hübschen Lampen, die ein angenehmes, gelbes Licht abgaben.

 

Obwohl mein Traum erst einsetzte, als ich schon in diesem Raum war, wusste ich, dass er sich nicht in einem Hotel, sondern in einem großen, sehr edel aussehenden Haus befand. Das Haus, der Raum, alles wirkte viel zu schick und teuer für jemanden wie mich, doch Meto bewegte sich ganz natürlich in dieser gediegenen Umgebung. Und doch wirkte er irgendwie ziemlich nervös und aufgeregt.

Ich setzte mich aufs Bett, er setzte sich neben mich und auf einmal war da seine Hand auf meinem Bein, die andere auf meinem Rücken, er mit einem Mal so nah.

 

„Geht’s dir gut, Tsu?“, fragte er.

Ich nickte mechanisch, schlecht ging es mir ja nicht. Mein Herz klopfte zwar bis zum Hals, doch das fühlte sich gut an, es war dieses wundervolle Herzklopfen, das ich immer hatte, wenn Meto mir so nah war. Das, was machte, dass ich mich lebendig fühlte und ein bisschen Hoffnung hatte.

Unbewusst war mir klar, dass ich träumte und so war es wenig verwunderlich, als sich dieser Traum schließlich in jene bestimmte Richtung entwickelte, die ich noch sorgfältig vor Meto geheim hielt, weil ich sie bisher selbst kaum verstand. 

 

Meto nahm meine Hand, mein Herz klopfte und mit einem Mal war da dieses Wort in meinem Kopf. Dieses eine Wort, das einfach nicht mehr verschwand. Das mein Herz noch schneller schlagen ließ und mir die Hitze in den Kopf trieb.

Verliebt. Das war das Wort.

Die Erklärung für mein Herzklopfen, für meine Eifersucht MiA gegenüber und die seltsamen Gedanken, die ich manchmal hatte und die sich ausschließlich auf Meto bezogen.

Es war schon ein kleiner Schock, dass ich jetzt erkannte, was das war mit Meto und mir, doch es fühlte sich viel zu gut an, um es abzustreiten oder mir irgendwelche Fragen zu stellen.

 

Ich wandte mich ihm ganz zu, hob die freie Hand und berührte vorsichtig seine Wange. Wusste er eigentlich, wie wunderschön er war, geradezu anziehend? Hatte er eine Ahnung, wie sehr ich ihn liebte? Dass er mir wichtig war, hatte ich ihm ja schon oft gesagt, doch das war freundschaftlich gewesen. Das, was ich jetzt empfand, war anders.

Und auch, wenn ich irgendwo wusste, dass ich träumte, ahnte ich, dass meine Gefühle echt waren.

Ich streichelte seine Wange, strich mit dem Daumen über seine vollen Lippen und wartete, dass er mich aufhielt. Doch das tat er nicht. Stattdessen öffnete er leicht seine Lippen und begann, kleine Küsse auf meine Hand zu tupfen.

 

„Meto…?“, fragte ich, verwirrt von seiner Reaktion.

Er antwortete nicht, sondern legte seine Arme um mich, zog mich an sich und wir fielen zusammen nach hinten in die weichen Kissen. Mein Herz raste, ich spürte ein Flattern im Bauch und mein Kopf schien vergessen zu haben, wie Denken ging.

Und dann drückte Meto seine wundervollen, weichen, liebevollen Lippen auf meine, ich spürte seinen Atem und das erwärmte Metall seiner Piercings, und das Flattern in mir wurde heiß …

Mit einem leisen Keuchen wachte ich auf.

 

Das erste, was ich wieder von der Welt mitbekam, war der Ruf eines Nachtvogels hoch oben in einem der Bäume. Langsam richtete ich mich auf und warf einen Blick auf die anderen, die hier unter der Brücke schliefen. Meine Leidensgenossen, zu denen ich jedoch auch nach fast zwei Jahren Straßenleben noch keinen richtigen Kontakt hatte.

Glück gehabt, keiner außer mir war wach. Ich fror und beeilte mich, mich wieder in meinen Schlafsack zu kuscheln, so gut das eben möglich war. Aber einschlafen konnte ich nicht mehr.

 

Dieser Traum war der erste, in dem es so eindeutig geworden war. In meinen bisherigen Träumen von Meto war es nie bis zu einem Kuss gekommen. Und nie hatten sich meine veränderten Gefühle für ihn so echt angefühlt wie in diesem Traum und jetzt, danach, wenn ich so an ihn dachte. Es war nicht wie dieses übliche Nachgefühl eines Traumes, sondern so, dass ich sicher war, dass es bleiben würde. Und es war stark, so stark …!

 

Auf einmal hatte ich Hunger, wer weiß warum. Ich zog meine Tasche heran und kramte eine Packung Instant-Ramen heraus, riss sie auf und brach ein Stückchen von dem Nudelblock ab. Da ich den ganzen Tag über wieder nicht wirklich gegessen hatte, war es vielleicht auch nicht weiter verwunderlich, dass ich auf einmal Hunger hatte. Ein wenig befürchtete ich nach dem schmerzhaften Ende des vergangenen Tages, dass mir wieder übel werden würde, doch ich fühlte mich überraschend gut. Zwar kannte ich dieses Auf und Ab ja schon lange von mir, doch es war eigentlich selten so krass wie heute.

 

Irgendwann stand ich auf, packte die verbliebene Hälfte Ramen wieder in meine Tasche und ging zum Fluss hinüber. Die eine Bank dort war während der letzten zwei Jahre zu einem meiner Lieblingsplätze geworden und manchmal saß ich hier nachts und schaute auf den Fluss.

Wieder hörte ich einen nächtlichen Vogel rufen, wusste nicht, was es für einer war, aber das war ja auch egal.

Ich ließ mich auf die Bank sinken, legte den Kopf in den Nacken und atmete die kühle Nachtluft ein. Hier draußen waren sogar ein paar einzelne Sterne zu sehen. Der Himmel war klar, doch die Lichter der Stadt stahlen den Sternen das Licht, sodass ich nur die hellsten von ihnen erkennen konnte.

 

Je länger ich so in den Himmel schaute, umso kleiner und unbedeutender fühlte ich mich. Doch es war ein seltsam angenehmes Gefühl. So, als ob ich und vor allem meine Schuld gar nicht so wichtig wäre, weil es so viel Größeres in dieser Welt gab. Ein paar Momente lang fühlte ich mich vollkommen ruhig und gelassen, fast frei.

 

Schließlich stand ich auf, ging zu meinem Schlafplatz zurück und legte mich wieder hin. Es dauerte jedoch noch recht lange, bis ich wieder eingeschlafen war.

Ich traf mich wieder mit Mariko. Sie war so etwas wie meine beste Freundin und zurzeit neben Meto die einzige Person, mit der ich mich regelmäßig traf. Ich lebte noch nicht sehr lange in dieser Stadt und hatte neben meiner Partybekanntschaften, die ich jedoch selten länger als einen Abend kannte, noch niemanden wirklich kennen gelernt.

 

„Und? Wie geht’s dir? Immer noch verliebt?“, fragte Mari und wippte grinsend mit den Augenbrauen.

Ich nickte und musste allein vom Gedanken an Meto lächeln.

„Aber zieh mich nicht immer damit auf, okay?“, antwortete ich.

„Alles klar, Mialein.“ Sie grinste mich weiter an, doch dann wurde sie auf einmal ernst. „Hör mal, ich hab ein bisschen ein komisches Gefühl bei dieser Sache. So als ob das alles noch mal ziemlich kompliziert wird.“

„Ich auch“, gab ich zu. „Aber weißt du, Mari… das ist mir irgendwie egal, verstehst du?“

„Du bist verliebt, deshalb ist es dir egal. Und ich will dir das auch gar nicht kaputtreden. Ich will dir nur sagen, dass du auf dich aufpassen sollst. Auch, wenn keiner von den beiden deine Gefühle verletzen will, kann das trotzdem passieren.“

„Warum denkst du denn, dass es noch komplizierter wird?“, fragte ich, wissend, dass meine Cousine eine ziemlich treffende Menschenkenntnis hatte. Und, wenn ich so darüber nachdachte, besonders darüber wie sich Tsuzuku mir gegenüber verhielt, musste ich meiner Cousine ja Recht geben, er war schon ziemlich merkwürdig.  

„Ich hab diesen Tsuzuku doch neulich auch gesehen. Das zwischen Meto und ihm scheint eine etwas komische Freundschaft zu sein. Ich weiß nicht, was passiert, wenn du da als Dritter von außen dazukommst.“ Mari sah mich ernst an. „Wenn irgendwas ist, was ich wissen sollte, sagst du Bescheid, oder?“

Ich nickte.

 

Sie schien sich wirklich Sorgen um mich zu machen. Und ich beschloss, zu ihr ganz ehrlich zu sein. Und so erzählte ich ihr, dass ich Metos Geheimnis kannte, zumindest das, was er offenbar vor den Leuten im Akutagawa-Park geheim hielt.

Warum ich jetzt vor ihr damit herausrückte? Nun ja, ich konnte es einfach nicht mehr für mich behalten. Geheimnisse drücken so auf die Seele und wenn Mari sich schon Sorgen um mich machte, dann sollte sie auch wissen, was mich belastete.

 

„Meinst du, sein Freund weiß davon, dass er in solchen… besseren Verhältnissen lebt?“, fragte Mari.

„Ich weiß nicht“, antwortete ich. „Aber ich hab so das Gefühl, dass Tsuzuku davon keine Ahnung hat.“ Jetzt, wo ich es sagte, war ich mir sicher und konnte es auch verstehen. Denn es musste für einen Obdachlosen ein ziemlich mieses Gefühl sein, wenn der beste Freund in einer so schicken Villa wohnte. Ich an seiner Stelle wäre auf Distanz gegangen und da eine solche Distanz zwischen ihm und Meto ganz offensichtlich nicht existierte, konnte ich davon ausgehen, dass er nichts vom Geheimnis seines besten Freundes wusste.

 

Mari und ich verbrachten wieder den Nachmittag zusammen. Später, als es schon dunkel wurde, kam ich auf meinem Heimweg durch Akayama und blieb kurz vor der weißen Villa stehen. Das Fenster rechts oben, in dem eine brennende Lampe stand, war auf Kipp geöffnet und ich hörte Musik herausrieseln. Wobei Rieseln eigentlich das falsche Wort war, denn ich erkannte ein älteres Stück von D’espairsRay, das ungefähr so melodisch war wie eine Dampfmaschine.

Ich trat einen Schritt zur Seite und sah wieder den kleinen Ausschnitt des Diru-Posters.

Als sich dann plötzlich die Vorhänge bewegten, drehte ich mich schnell um und lief davon, so schnell und gleichzeitig unauffällig, wie ich konnte.

 

Zu Hause kümmerte ich mich erst um Sawako, dann machte ich mir etwas zu essen. Und die ganze Zeit dachte ich an Meto und hoffte inständig, dass er mich nicht gesehen hatte. Wie hätte ich ihm erklären sollen, dass ich ausgerechnet vor seinem Haus, vor seinem Fenster stehen geblieben war? Hunderte von gelogenen Erklärungen fielen mir ein, doch ich wusste, dass ich ihm, sollte er mich wirklich danach fragen, die Wahrheit sagen würde. Einfach, weil ich ein sehr schlechter Lügner war.

 

Ich ließ mich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher an. Sawako sprang zu mir und während ich mehr oder weniger aufmerksam verfolgte, wie Sänger Gackt sich zum Amüsement des Publikums mal wieder einer Nicht-Lachen-Challenge stellte, kraulte ich meiner Katze das weiche Fell und nahm hin und wieder einen Schluck Tee.

Irgendwann hatte ich keine Lust mehr auf die öden Fernsehwitze und schaltete um, nur um bei einer noch idiotischeren Sendung namens AKBingo zu landen, die Gackts Sich-lächerlich-machen noch in den Schatten stellte. Sawako bedachte die kindisch klatschenden und kichernden Idol-Girlies mit einem abschätzigen Blick, und ich schaltete den Fernseher aus.

 

„Was ist, gehen wir schlafen?“, fragte ich. Meine flauschige Mitbewohnerin ließ ein leises Miauen hören, was ich mal frei als Ja übersetzte und mich somit langsam bettfertig machte.

Die Nacht bestand aus Träumen von Meto und zweimaligem Aufwachen zu unmöglichen Uhrzeiten. Und als ich am Morgen aufwachte, hatte ich ein gewisses Problem in der Körpermitte, das ich schnell mit einer kalten Dusche bekämpfte.

Als ich dann fertig und relativ entspannt aus dem Haus ging, um mich auf den Weg zum Buchladen zu machen, wusste ich zwar, dass ich Meto irgendwann sagen musste, inwiefern ich sein Geheimnis kannte, hatte jedoch keine Ahnung, wie das gehen sollte, ohne dass er allzu sauer auf mich sein würde.

 

Die Arbeit war nicht sonderlich spannend und dauerte den ganzen Tag. Es war ziemlich viel los, deshalb hatte ich kaum Zeit zum Nachdenken und so beschränkte sich das auf meine Mittagspause. In dieser beschloss ich, heute im Park vorbeizuschauen. Vielleicht war Meto ja da und ich konnte schon mal vorfühlen, wie es mit dem Geheimnis aussah.

Ja, ich hatte meinen vorherigen Entschluss, ihn nie wissen zu lassen, dass ich es wusste, ziemlich weit revidiert. Das Gespräch mit Mari hatte mir gezeigt, dass solche Geheimnisse schwer zu halten waren und einen selbst und den anderen sehr belasten können. Und so hatte ich beschlossen, Meto irgendwie wissen zu lassen, dass ich wusste, wo er wohnte.

 

Ich ging also nach der Arbeit in den Akutagawa-Park und tatsächlich war sowohl Meto als auch Tsuzuku da, zusammen mit zwei Mädchen, von denen eine kurzes, schwarzes und die andere langes, blaues Haar hatte.

Dass ich in einem unpassenden Moment gekommen war, bemerkte ich erst, als ich schon zu nah dran war, um wieder zu gehen. Tsuzuku hatte ein breites Pflaster auf der Innenseite seines linken Armes und Meto saß ziemlich verstört daneben.

„Ich hab’s gerade rechtzeitig gesehen“, erzählte das blauhaarige Mädchen gerade.

„Tsu…“, sagte Meto leise, „Du hast mir doch mal versprochen, dass du das nicht mehr machst…“

„Tut mir Leid…“

‚Oh Gott‘, dachte ich, trat ein paar Schritte zurück und drehte mich um, doch im selben Moment hörte ich Meto etwas lauter „MiA?“ fragen. Ein Stoßgebet zum Himmel schickend drehte ich mich zu ihm um und ging wieder auf die kleine Gruppe zu.

Sobald Tsuzuku mich bemerkte, zog er den Ärmel seines schwarzen Shirts herunter und verdeckte so das Pflaster, das sogar ein wenig durchgeblutet war. Die Stimmung war seltsam und die beiden Mädchen verschwanden mit einem leisen „Dann lassen wir euch mal alleine…“

Einen Moment schwiegen wir uns an, dann nahm ich allen Mut zusammen und sagte: „Meto, kann ich mal mit dir reden?“

 

Meto tauschte einen Blick mit Tsuzuku, der nickte schwach und Meto stand auf. „Wir gehen zum Fluss, okay?“

Als wir dann dort am Ufer standen, fragte er: „Was ist denn?“

Mein Mut war schon wieder am Vergehen und ich wusste, allzu bald würde ich ihn, wenn er einmal weg war, nicht wiedererlangen, und so platzte ich mehr ungewollt mit dem heraus, was mir schon seit gestern durch den Kopf ging:

„Meto, ich weiß, wo du wohnst. Du lebst in Akayama, in einer weißen Villa, und in deinem Zimmer hängt ein Poster von Dir en Grey, das man vom Fenster aus sehen kann.“

Sein überraschtes, geschocktes Gesicht würde ich wohl so bald nicht vergessen.

In meinem Kopf hörte ich das Klirren von zerbrechendem Glas. Es war die Wand um mein Geheimnis, die auf einer Seite eingerissen und zerbrochen wurde. Von MiA.

Ich starrte ihn an, fühlte zuerst gar nichts, da war nur der Schock.

 

Dann die Frage, wie er es herausbekommen hatte. Wie war MiA dahinter gekommen, wo und in welchen Verhältnissen ich lebte? War ich unvorsichtig gewesen?

Und seit wann? Wie lange wusste er schon davon?!

Wie lange hatte er wohl vor mir geheim gehalten, dass er mein wohlgehütetes Geheimnis kannte?!

 

Die Fragen schwirrten unerträglich durch meinen Kopf, ich hielt MiAs halb ängstlichen und halb erleichterten Blick nicht aus, drehte mich um und lief davon, weg vom Fluss, weg vom Park, Richtung nach Hause, einfach weil das das erste war, was mir einfiel.

Ich sah mich nicht um, ob MiA mir folgte. Doch ich ging davon aus, dass er es nicht tat.

Auf dem Weg durch Akayama sah ich mich trotzdem immer wieder um, da ich mich auf einmal verfolgt und beobachtet fühlte. Ich spürte Hitze in meinen Augen, meine Sicht wurde verschwommen von meinen Tränen.

 

Meine Eltern waren natürlich nicht da, Arbeit und so, und so war ich niemandem eine Erklärung schuldig, als ich meine Tasche auf den Küchentisch knallte, dann rauf in mein Zimmer rannte und die Tür laut zuschlug. Ich war weder wirklich wütend noch traurig, konnte selbst nicht beschreiben, wie ich mich fühlte, nur, dass es schlecht war. Ich ging zum Regal, nahm meine Despa-Lieblingsplatte heraus, legte sie in die Musikanlage und stellte diese so laut, dass es sicher draußen auf der Straße zu hören war, zumal mein Fenster auf Kipp stand.

Dann schnappte ich mir Block und Stift vom Schreibtisch und versuchte, irgendeine Ordnung in das miese Gefühl in meinem Kopf zu bringen.

 

MiA wusste, dass ich hier lebte. Er wusste sogar, welches mein Zimmerfenster war. Wusste, dass ich ihn und die anderen angelogen hatte und kannte sicher auch meinen Nachnamen, denn der stand auf dem Schild an unserem Zaun.

War er mir heimlich gefolgt, weil ich so ein Geheimnis um meinen echten Namen machte? Oder hatte er es irgendwie zufällig herausgefunden? Ich konnte mir kaum vorstellen, wie das gewesen sein konnte, denn schließlich sah ich mich immer, wirklich immer um, bevor ich ins Haus ging, allein wegen unserer Nachbarn, die mich gerne mal ansprachen und sich dann heimlich über mich amüsierten.

 

Aber vor allem: Seit wann wusste er es? Hatte er es schon gewusst, als wir uns zuletzt im Club getroffen hatten? Warum hatte er es mir da nicht gesagt?! Warum log er mich sozusagen an, indem er mir bewusst verschwieg, dass er mein Geheimnis kannte? Dass er wusste, aus welchen Kreisen ich wirklich kam?

‚Na wenigstens ist MiA keiner von meinen Leuten im Park. Wenn die Bescheid wüssten, wär‘s schlimmer‘, sagte ich mir und dachte an Tsuzuku und die anderen, die wirklich nicht erfahren durften, dass ich in einer Villa lebte, meine Eltern Anwälte waren und vor allem, dass das mit Natsukita komplett gelogen war.

 

MiA durfte das auf gar keinen Fall irgendwem verraten!

Ich musste mit ihm reden, ihm das sagen, erklären, warum ich so ein Geheimnis aus meiner Herkunft machte. Mit einem Ruck stand ich auf, unterbrach Hizumis Geschrei und machte das Fenster zu. Rannte die Treppe runter, nahm meine Tasche und wühlte darin nach dem Zettel mit MiAs Adresse. Dabei fiel mir auf, dass Akayama genau zwischen dem Park und dem Viertel lag, in dem sich laut diesem Zettel die Wohnung meines Angebeteten befand.

 

Hoffend, dass er schon zu Hause war, machte ich mich auf den Weg. Mein Herz raste vor Aufregung und ich spürte, wie der Schock nachließ und ich langsam doch irgendwie wütend wurde.

Das Viertel war eines der unübersichtlichen Sorte, mit einer Kouban an der Ecke. Ich hatte nicht die geringste Lust, jetzt einem Ordnungspolizisten nach dem Weg zu fragen, also lief ich mit dem Zettel in der Hand von Haustür zu Haustür und suchte die Klingelschilder ab.

 

Atsushi Miyama. Das war also MiAs richtiger Name. Dann war „MiA“ also nicht viel mehr als eine Abkürzung der japanischen Leseweise Nachname vor Vorname.

Als ich den Namen Miyama endlich auf einem der Klingelschilder entdeckte, die Klingel drückte und tatsächlich MiAs Stimme „Miyama hier, hallo?“ aus dem kleinen Lautsprecher tönte, war ich vom vielen Suchen und den Fragen in meinem Kopf dermaßen auf der Palme, dass ich zischte: „Meto hier, mach auf!“

 

Es dauerte lange, bis die Tür endlich dieses Summen von sich gab und ich sie öffnen konnte. Ich rannte die Treppen rauf bis in den dritten Stock und drückte lange und schrillend auf die Klingel an der Tür mit Namen Miyama.

Ich stellte mir schon vor, was ich ihm alles an den Kopf werfen wollte, meine Fragen, meine Enttäuschung, weil ich mich von ihm belogen fühlte, doch als er die Tür öffnete und mich traurig und reuevoll ansah, verrauchte ein großer Teil meiner Wut sofort. Er hatte geweint, das konnte ich deutlich sehen und als ich an ihm vorbeispähte, erblickte ich auch Taschentücher auf dem Wohnzimmertisch.

 

„Ich weiß, ich hätt’s dir schon viel früher sagen müssen. Aber… irgendwie konnte ich nicht. Ich dachte, du schießt mich ab, wenn du erfährst, dass ich’s weiß.“

Da stand ich nun vor ihm, er schniefte leise und fuhr sich mit der Hand über die rotgeweinten Augen.

Und meine Stimme versagte. Natürlich.

In dem Moment ging die Tür der Wohnung gegenüber auf und eine ältere Dame kam heraus, die MiA anlächelte und mich etwas irritiert musterte.

 

„Vielleicht… sollten wir reingehen…“, sagte MiA leise und trat ein Stück zur Seite, sodass ich seine Wohnung betreten konnte. Augenblicklich kam ein weißer Schatten angeschossen, rannte um meine Beine, setzte sich dann vor mich hin, sodass ich erkennen konnte, dass es sich um eine weiße Perserkatze handelte, und schrie mich förmlich an: „Miiiaaau!“

„Das ist Sawako“, stellte MiA das schimpfende Plüschtier vor.

Sawako blitzte mich mit ihren blassgrünen Augen vorwurfsvoll an und verschwand dann mit einem gurrenden Laut in Richtung Küche.

 

Ich beeilte mich, meine Stimme wieder zu finden und fragte, völlig belanglos: „Ist sie… auf mich… sauer…?“

„Ich weiß nicht, vielleicht.“ MiA zuckte mit den Schultern und räumte die Taschentücher in den Papierkorb. „Eigentlich ist das aber nicht ihre Art, jemanden so anzuschreien.“

Meine Fragen schwebten zwischen uns im Raum und obwohl ich mir genau vorgestellt hatte, wie ich sie MiA an den Kopf werfen würde, kam jetzt kein Wort über meine Lippen.

 

„Ich will dich nicht verlieren, Meto“, brach MiA schließlich die unangenehme Stille zwischen uns.

Verlieren wollte ich ihn ja auch nicht. Ich hatte ihn wirklich gern, nur war ich ziemlich enttäuscht.

Ich kratzte alles zusammen, was noch von meiner Stimme übrig war und brachte natürlich nur einen meiner mehr als fehlerhaften Sätze zustande, doch in diesem Moment war ich froh, überhaupt irgendwelche Wörter herauszukriegen: „Ich… dich ja …auch …hab gern… MiA…, aber… enttäuscht…“

Er lächelte kurz, ein halbes, verlegenes Lächeln.

 

Wieder Stille. Ich bekam endgültig kein Wort mehr raus und MiA wusste wohl auch nicht, was er sagen sollte. Es war merkwürdig, irgendwie eine Art Streit, zumindest von meiner Seite war da noch Wut dabei, aber da es MiA offensichtlich leid tat und er nicht streiten wollte, standen wir nur da und schwiegen uns an.

„Wie wäre es… wenn wir zwei von jetzt an ehrlich zueinander sind? Nichts lügen, nichts Wichtiges verschweigen und so?“, fragte er irgendwann, nach einer ganzen Weile. „Ich erzähl dir alles über mich, was du wissen willst, und du machst es genauso?“

Ehrlich sein. Keine Geheimnisse mehr. Alles sagen müssen. Aber auch, ihm alles sagen, alles anvertrauen können. Jemanden haben, bei dem ich mal alles abladen konnte.

War es nicht das gewesen, was ich mir die ganze Zeit gewünscht hatte?

„Meto?“

Ich nickte. „Nichts mehr… Geheimnisse…“

„Nein, keine Geheimnisse mehr, zumindest nicht zwischen uns beiden“, sagte MiA.

 

Und da fielen mir endlich tonnenweise Steine vom Herzen. Meine Wut war weg. Ich machte einen Schritt auf MiA zu und aus einem plötzlichen Impuls heraus umarmte ich ihn. Er legte seinen Arm um mich und strich mir durchs Haar.

„Hab MiA lieb…“

„Meto auch lieb“, machte er mich mit einem Lächeln nach.

 

Den Rest des Abends, als es schon lange dunkel draußen war, saß ich bei MiA auf dem Sofa, seine Katze strich um uns herum und MiA erzählte mir alles Mögliche über sich. Woher er kam, dass er noch nicht sehr lange hier wohnte und wo und was er arbeitete. Und wie um mir zu beweisen, wie ernst es ihm mit der Ehrlichkeit war, erzählte er mir auch, dass er, genau wie ich, gern auf Partys ging und dort Leute zum Knutschen angequatschte.

„Aber das mach ich jetzt nicht mehr“, sagte er. „Jetzt hab ich ja dich.“ Und lächelte.

Ich konnte nicht viel reden, doch als ich das sagte, meinte MiA nur: „Wenn ich weiß, dass du’s mir so bald wie möglich sagst, kann ich auch ein wenig warten.“

 

Am liebsten hätte ich bei ihm übernachtet, aber gerade als ich ihn danach fragen wollte, kam eine SMS von meiner Mutter: „Yuuhei, wo steckst du? Komm sofort nach Hause.“

„…Muss gehen…“, sagte ich leise, umarmte MiA noch einmal und stand dann auf.

„Komm gut nach Hause.“ Er lächelte.

 

Ich war auf einmal so glücklich und erleichtert, dass ich den Weg nach Hause beinahe tanzte und als ich daheim ankam, gleich wieder rauf in mein Zimmer ging und die romantischste, fröhlichste Musik anmachte, die ich in meiner Sammlung hatte.

 

Ich hätte erwartet, in dieser Nacht von MiA zu träumen, doch seltsamerweise drehte sich mein Traum um Tsuzuku. Es war kein besonderer Traum, doch selbst während ich träumte, wunderte ich mich, dass MiA nur ganz am Rande vorkam.

Ein paar Tage lang lief alles mehr oder weniger normal. Mir ging es relativ gut, Meto kümmerte sich wie üblich um mich und wir gingen wieder zusammen ins Badehaus.

Nur hatte sich eine Sache verändert: Ich sah meinen besten Freund jetzt mit anderen Augen. Verliebten, eifersüchtigen Augen. Ich spürte, dass meine Gefühle für ihn sich wirklich und nachhaltig verändert hatten und es fühlte sich viel zu gut an, um sich dagegen zu wehren. Fragen bezüglich meiner Orientierung stellte ich mir immer noch nicht. Ich war einfach nur froh, Meto zu haben.

 

Wir saßen zusammen im heißen Wasser und ich konnte nicht umhin, Meto anzustarren. Das Wasser sprudelte und durch die vielen kleinen Luftblasen war meine Hand nicht zu sehen, als ich sie unter Wasser ein Stück ausstreckte und wie zufällig Metos Knie berührte, um sie, als er mich fragend ansah, sofort wieder zurückzuziehen.

 

Ohne Make-up und Kontaktlinsen sah er zwar ganz anders, aber keineswegs weniger schön aus. Sogar noch anziehender. Am liebsten hätte ich, wenn wir alleine gewesen wären und er es auch gewollt hätte, mich augenblicklich auf ihn gestürzt und ihn von oben bis unten abgeknutscht, seinen nackten Körper an mich gezogen und …

Den nächsten Gedanken verbot ich mir. Sonst hätte er am Ende noch was gemerkt. Es war alles andere als einfach, doch ich musste mich beherrschen.

 

„Tsuzuku?“

„Hm?“

„Du bist heute irgendwie komisch…“

Ich zuckte mit den Schultern und tat, als hätte ich keine Ahnung, was er meinte. Und sofort flammte die noch kleine Flamme meiner Eifersucht auf, als ich daran dachte, dass er ja MiA hatte und deshalb nicht erfahren durfte, was ich für ihn empfand.

 

Er hatte mir erzählt, dass sie sich über irgendetwas ausgesprochen hatten, doch ohne mir zu sagen, worum es wirklich ging. Vorsichtig war er dabei gewesen und hatte wohl gehofft, dass ich nicht bemerkte, dass er den Grund dafür verschwiegen hatte, doch ich hatte es gemerkt.

Ich wusste, dass Meto mir nicht alles erzählte, doch da ich ja auch so einiges vor ihm verbarg, störte es mich eigentlich nicht besonders. Eigentlich. Denn seit diesem Traum und der Verdeutlichung meiner Gefühle hatte sich das geändert. Auf einmal wollte ich alles wissen, störte mich daran, dass ich nicht mal irgendwas über Metos Familie wusste und dass er und MiA ein gemeinsames Geheimnis vor mir hatten. Mir wurde klar, wie wenig ich eigentlich über Metos Leben außerhalb unserer kleinen Gemeinschaft im Akutagawa-Park wusste.

 

Und wie ich nun mal war, sprach ich ihn sofort darauf an: „Was hast du mit MiA eigentlich neulich besprochen, als ihr am Fluss wart? Ich hab auf dich gewartet, aber du bist nicht zurückgekommen.“

Meto war deutlich anzusehen, dass ich ihn irgendwie erwischt hatte. Da war was und ich hätte nur allzu gern gewusst, um was es sich handelte. Doch was ich wusste, war: Wenn Meto nicht reden wollte, war nichts aus ihm herauszukriegen.

 

Als wir dann wieder angezogen in der Umkleide saßen und Meto mich wie sonst auch immer ein bisschen schön machte, bemerkte ich wieder, dass die Leute um uns herum uns anstarrten. Meto schien es egal zu sein, und mir eigentlich auch. Und auch wieder nicht. Dem Getuschel nach hielten uns die Leute nämlich für ein Paar. Bisher war mir das egal gewesen, schließlich stimmte es ja nicht. Aber jetzt, wo ich wollte, dass es stimmte, da verletzten mich die abfälligen Kommentare der anderen Menschen irgendwie.

 

„Alles okay?“, fragte Meto und ich drehte mich zu ihm um, damit er mir die Augen schminken konnte.

„Ja, alles gut“, antwortete ich. Irgendwie stimmte das auch, denn ich fühlte mich besser als sonst. Was waren schon ein paar blöde Kommentare fremder Menschen. Und im Vergleich zu meinen schlechten Tagen mit Übelkeit und Ritzdrang war das hier geradezu paradiesisch.

Meto lächelte. „Ich hab dich lieb, Tsu.“

„Ich hab dich auch lieb“, sagte ich leise und dachte: ‚Ich liebe dich.‘ Es war das erste Mal, dass ich das so dachte, in diesen großen Worten.

„Und jetzt Augen zu.“

 

Wir verbrachten wieder den ganzen Tag zusammen, aber dieses Mal waren, als wir auf meinem Schlafplatz saßen, auch Haruna und Hanako dabei. Seit jenem Abend, an dem Haruna direkt mitbekommen hatte, wie es in mir aussah, fühlte ich mich ihr gegenüber etwas seltsam, doch sie tat, als wäre nichts passiert. Der Schnitt auf meinem Arm war fast verheilt und wir alle gingen dem Thema aus dem Weg. Ich, weil ich fürchtete, dadurch den Ritzdrang wieder zu wecken, und die anderen, weil sie mich nicht daran erinnern wollten.

 

Wenn ich mir Haruna und Hanako so ansah, wie sie zusammen kicherten, sich Küsschen auf die Lippen hauchten und durchgehend Händchen hielten, wurde ich ein wenig neidisch. Meine Hand suchte dann Metos und er, nichtsahnend, nahm sie in seine und brachte damit mein Herz dazu, aufgeregte Hitze durch meinen Körper zu jagen. Ein eindeutiges Zeichen dafür, wie verliebt ich war.

 

Als Meto schließlich ging, sah ich ihm wieder lange nach und zum ersten Mal fragte ich mich wirklich, was er wohl machte, wenn er jetzt nach Hause kam. Wollte auf einmal wissen, wie sein Zimmer aussah, was seine Eltern für Menschen waren, all solche Dinge, die mich bisher nicht halb so sehr interessiert hatten. Bis jetzt war es immer so gewesen, dass es nur ihn und mich gab, wenn wir redeten. Wir sprachen nicht viel über andere, weder über Menschen in seinem Leben, noch über welche, die es bei mir früher gegeben hatte.

 

Auf einmal hatte ich das Gefühl, meinen liebsten, besten, einzigen Freund zwar über alles zu lieben, jedoch eigentlich gar nicht wirklich zu kennen. Ich wusste ja, dass er Geheimnisse vor mir hatte, doch auf einmal störte mich das gewaltig. Und noch mehr störte mich, dass er diese Geheimnisse offenbar mit MiA teilte, aber nicht mit mir.

 

Was hatte dieser MiA, was ich nicht hatte, fragte ich mich und wusste dabei auch gleich die Antwort: Er war attraktiv, freundlich, und vor allem war er im Gegensatz zu mir gesund. Wer wollte schon mit einem Gestörten wie mir zusammen sein? Freundschaft, okay, dazu war ich wohl in der Lage und geeignet. Aber eine echte Beziehung? Nein, selbst Meto würde das nicht wollen.

 

Ich spürte, wie die Dunkelheit in mir hochkam, und in einem Versuch, rechtzeitig etwas dagegen zu tun, stand ich auf und ging zu Haruna und Hanako hinüber, die zusammen mit zwei Leuten, die ich hier noch nie gesehen hatte, auf der Bank um den größten Baum herum saßen.

„Hey, Tsu, setz dich doch zu uns.“ Haruna lächelte mich freundlich an.

Normalerweise ging ich Leuten und besonders Neuen aus dem Weg. Doch meine Angst, mir wieder etwas zu tun, wenn ich allein blieb, war zu groß, als dass ich es riskieren wollte, jetzt in der Nähe meines Messers auf meinem Schlafplatz zu sitzen.

 

Und so setzte ich mich zu ihnen und hörte erst einmal zu, worüber sie sprachen.

Die Neuen, ein Mädchen und ein junger Mann etwa in meinem Alter, sahen genauso bunt und anders aus wie alle hier, vielleicht ein wenig fröhlicher. Sie hatte weißblondes, er hellrosa Haar und beide trugen Kleidung, die irgendwo zwischen Pastelgoth und Oshare Kei lag.

„Das sind Mikan und Koichi“, stellte Hanako mir die beiden vor, wandte sich dann an sie und stellte mich ihnen vor.

„Hi, Tsuzuku.“ Der mit Namen Koichi lächelte mich strahlend an. „Schön, dich kennen zu lernen.“

Und ich lächelte zurück, so gut ich eben konnte. Sofort spürte ich diese Anspannung, die mich immer befiel, wenn ich jemanden neu kennen lernte und nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Am besten war es für mich immer, erst einmal eine gewisse Distanz zu wahren, doch selbst das machte mich nervös und aufgeregt.

 

Ich wusste nicht, warum ich das nie wirklich gut hinbekam mit dem sozialen Kontakt, aber es war schon immer so gewesen. Früher war ich dann auf der anderen Seite vom Pferd gefallen, hatte keine Distanz wahren können und die Leute teilweise ziemlich überfallen, doch seit Mamas Tod ging ich mehr in die andere Richtung, mehr auf Abstand. Ich konnte niemanden außer Meto so wirklich an mich heranlassen.

 

„Tsuzuku?“, fragte Haruna leise und tippte mir an die Schulter. Ich drehte mich zu ihr um, sie hatte mein Messer in der Hand und flüsterte: „Kann ich dir das zurückgeben, ohne dass du damit Dummheiten machst?“

Ich zögerte. Es war mein Messer, eine Erinnerung an früher, fast eine Art Glücksbringer für mich, deshalb wollte ich es schon gern zurückhaben. Doch andererseits wusste ich selbst gut genug, dass ich mich wieder damit verletzen würde, wenn ich es einmal wiederhatte, und ich war gerade klar genug im Kopf, um zu wissen, dass das nicht gut war.

„Nee, weißt du was? Ich geb’s morgen Meto“, sagte Haruna. „Der ist doch dein bester Freund und kann gut drauf aufpassen.“

Ich nickte. Damit konnte ich leben.

 

Haruna steckte mein Messer wieder ein und ich wandte mich wieder Koichi und Mikan zu, die sich mit Hanako über irgendwelche Kleidung unterhielten. Ich konnte natürlich nicht mitreden, obwohl mich Visual Kei durchaus sehr interessierte und ich diesen Stil früher auch gern getragen hatte.

Aber bald wurde es mir einfach zu viel mit zwei neuen Leuten und so ging ich erst zu meinem Platz zurück und trank einen Schluck Wasser, dann ging ich zu meiner Lieblingsbank am Fluss, zog die Knie hoch und schaute eine Weile einfach den Booten hinterher.

 

Irgendwann legte ich den Kopf in den Nacken und beobachtete statt der Boote die Wolken, die vom herbstlichen Wind über den Himmel getrieben wurden. Der Himmel tagsüber hatte nicht dieselbe Wirkung wie der nächtliche, doch auf seine eigene Weise beruhigte auch er mich irgendwie.

 

Und da war sie wieder, die Frage, was eigentlich mit mir los war. Die Frage danach, warum ich so schlecht mit Menschen zurechtkam, warum es mir so selbstverständlich erschien, mich zu verletzen und durchweg negativ zu denken. Mir war klar, dass das nicht normal war, dass mit mir etwas nicht stimmte. Nur hatte mir bisher niemand sagen können, was es war.

Früher, als ich noch offener und sehr viel impulsiver gewesen war, war das in der Schule mal aufgefallen und ich war in der Folge ein paar Mal beim Schulpsychologen gewesen, der irgendwas von ADHS erzählt hatte. Doch damit hatte ich mich nie wirklich identifizieren können. Und es war auch nichts weiter passiert, keine Therapie oder dergleichen, was mein Verhalten geändert hätte.

Dass ich mich so zurückzog, war erst seit Mamas Tod gekommen. Irgendetwas in mir war zerbrochen und auf einmal hatte ich Angst vor Menschen, traute mir sozialen Kontakt nicht mehr zu und fühlte mich schnell überlastet.

 

„Hey“, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. „Alles klar bei dir?“

Ich hatte die Augen geschlossen gehabt, öffnete sie nun wieder und erblickte Koichi, der neben meiner Bank stand und mich etwas besorgt ansah.

„Äh … ja, wieso?“

„Weil du auf einmal weg warst… Und jetzt siehst du so traurig aus.“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Schließlich kannte ich diesen Typen nicht, auch wenn er mir für den Anfang relativ sympathisch war. Aber das war noch lange nicht genug, um ihm irgendwas über meine Gedanken zu erzählen.

 

Stattdessen spielte ich meine harte Schale aus und fragte ziemlich abweisend: „Was willst du?!“

Doch statt zu verschwinden, setzte Koichi sich neben mich und sagte nur: „Ich würde dich gern etwas näher kennen lernen, Tsuzuku.“

Und ich, von diesen Worten endgültig durcheinander, stand auf und ging schnell zu meinem Schlafplatz zurück. Was zum Teufel war das denn gerade gewesen?! Was wollte dieser Koichi von mir? Was meinte er mit ‚näher kennenlernen‘? Wie kam er drauf, sich ausgerechnet mit mir anfreunden zu wollen?

 

Und dann ließ er mich nicht mal in Ruhe. Er war mir gefolgt und stand nun neben meinem Schlafsack, besah sich meinem mageren Vorrat an Instantnudeln und fragte sich sicher, warum ich so ein offensichtliches Problem mit dem Essen hatte.

Auf mein erneutes und noch etwas bissigeres Fragen, was er denn von mir wollte, wiederholte er nur, dass er mich eben kennenlernen wolle. Dass ich ihn interessiere. Und ging einfach nicht weg.

„Verschwinde!“, fuhr ich ihn an und wusste im selben Moment, dass es zu spät war, dass ich jetzt an ihn denken würde, auch wenn er ging. Und natürlich ging er nicht.

Stattdessen  setzte er sich im Schneidersitz vor mir auf den Boden und sagte: „Haruna meinte, du könntest ein paar mehr Freunde gebrauchen. Und ich biete mich da an.“

Ich warf einen giftigen Blick in Harunas Richtung, den sie jedoch nicht bemerkte, da sie mit Hanako am Rumturteln war. Aber, ja, verdammt, sie hatte Recht. Ich war wirklich so sehr auf Meto fixiert, dass ich das Interesse an so gut wie allen anderen Menschen verloren hatte. Das sah ich ja ein.

 

Was nichts daran änderte, dass ich in diesem Moment überfordert war und am liebsten allein sein wollte. Doch gleichzeitig hatte ich auch Angst davor, jetzt hier allein herumzusitzen, auch wenn Haruna mein Messer hatte.

„Du musst nicht mit mir reden oder so“, sagte Koichi. „Lass mich einfach ein bisschen bei dir sein.“

 

Wenn es ihm nicht schon längst gelungen wäre, mich zu verwirren, dann hätte er es spätestens jetzt vollends geschafft. Und unfähig, mich noch weiter zu wehren, gab ich schließlich auf und ließ ihn eben da sitzen und versuchte einfach, ihn zu ignorieren, was mir aber schon wegen seines Äußeren nicht gelang. Selbst in unserem Park der schrägen Vögel gab es keinen anderen Kerl mit langen, pastellrosa Haaren und derartig femininer Kleidung wie ihn.

 

Immer noch nicht wissend, was er eigentlich genau von mir wollte (Näher-Kennenlernen war ja ein eher weit gefasster Begriff), versuchte ich, irgendwie mit der Situation zurechtzukommen, indem ich dem Blick seiner von blauen Kontaktlinsen verdeckten Augen auswich und fieberhaft überlegte, worüber wir denn reden könnten, was mich aber wiederum noch aufgeregter machte.

 

„Du hast tolles Haar“, sagte Koichi auf einmal und lächelte mich an. „Wie machst du das, dass es so gepflegt aussieht?“ Er zeigte auf die Brücke, auf meine Sachen und das alles, meine mehr als armselige Umgebung, in der es so schwer war, sich schön zu halten.

Eigentlich war die Antwort einfach. Ich hätte einfach nur sagen müssen, dass ich einen sehr guten Freund hatte, der mich ein- bis zweimal in der Woche ins Badehaus schleppte und dafür sorgte, dass man mir das Leben auf der Straße kaum ansah.

Aber genau diese Antwort fiel mir seltsam schwer. Etwas in mir wollte nicht über Meto reden, wollte nicht, dass jemand Fremdes etwas über die Nähe in unserer Freundschaft erfuhr.

Doch als Koichi mich wiederum anlächelte, kam die Antwort einfach, ohne nachzudenken, über meine Lippen: „Ich hab einen sehr guten Freund, mit dem gehe ich regelmäßig ins Badehaus beim Bahnhof.“

„Aha, das ist ja schön“, sagte Koichi, und dann, als wäre es das Normalste von der Welt, so etwas zu Jemandem zu sagen: „Das muss ja ein toller Freund sein, wenn deine Augen so leuchten, sobald du an ihn denkst.“

‚Alles klar‘, dachte ich. ‚Da ist wohl jemand mehr als offen.‘ Mein Bild von Koichi, innerhalb der guten Stunde, die ich ihn jetzt kannte, entstanden, setzte sich folgendermaßen zusammen: Bunt, freundlich, nett, aber ziemlich aufdringlich und übertrieben offen.

Die letzteren beiden Eigenschaften hatten früher auch auf mich zugetroffen, jedoch in anderer Weise, als es nun bei meinem rosahaarigen Gegenüber der Fall war.

 

Mal dazu, dass er Recht hatte mit dem ‚Deine Augen leuchten‘: Ich fühlte mich ertappt. Es war schließlich nicht ganz normal, beim Gedanken an einen guten Freund das Leuchten in die Augen zu kriegen und so glaubte ich mich schon erwischt dabei, wie ich innerlich ins Schwärmen von Meto geriet.

 

Koichi grinste mich an. „Ein Freund? Oder der Freund?“ Er betonte das ‚der‘ absolut eindeutig, sodass ich fast rot wurde. Aber nur fast, immerhin war ich nicht der Typ, der errötete.

„Mein bester“, antwortete ich und fügte in Gedanken hinzu: „Mein allerbester, süßester, wundervollster, liebster Freund…“

Koichis Grinsen wurde breiter, er lachte leise. „Jemand sollte dir mal sagen, dass man dir deine Gefühle an den Augen ablesen kann, Tsuzuku.“

Er stand auf. „Wir sehen uns.“ Rief Mikan etwas zu, sie kam auf ihn zu und die beiden verließen den Park in Richtung Bahnhof.

 

Doch lange blieb ich nicht alleine. Hanako kam auf mich zu.

„Woher kennst du die beiden?“, fragte ich sie.

„Von einer Visual Con in Tokyo. Sie sind nett, oder?“

„Ja, total nett“, brummte ich sarkastisch. „Ich würde Koichi eher aufdringlich nennen.“

Sie lachte. „Haha, ja, ein bisschen schon. Aber sieh’s mal so, er scheint dich ja zu mögen.“

Ja, schön. Nur dass ich damit nicht viel anfangen konnte und noch immer nicht wusste, was diesen Typen dazu brachte, sich gerade mit mir anfreunden zu wollen.

Aber okay, dachte ich mir und beließ es dabei. Vielleicht war es ja doch irgendwo gut…

 

Es war schon relativ dunkel und so beschloss ich, schlafen zu gehen.

Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil ich fror. Es wurde langsam Herbst und ich würde mir demnächst wieder einen Platz in einer Unterkunft suchen müssen.

Zitternd vor Kälte erhob ich mich und kramte meinen wärmsten Pullover aus meiner Tasche, zog ihn über und ging dann, weil ich nicht wieder einschlafen konnte, zum Fluss und schaute in den Nachthimmel.

 

Heute waren nur vereinzelte Sterne zwischen den Wolken zu sehen und die unendliche Weite des Universums, die mir beim letzten Mal so ein beruhigendes Gefühl geschenkt hatte, nur zu erahnen. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie hoch der Himmel war und wie weit alles dahinter. Dass es das größte war, was überhaupt existierte und gegen das alles hier unten so unvorstellbar klein und allein deshalb schon unwichtig sein musste.

 

Und dann kam mir ein Gedanke, den ich zuvor nie so bewusst im Kopf gehabt hatte: In diesem gewaltigen Universum konnte doch nichts wirklich verloren gehen. Alles war noch auf irgendeine Weise irgendwo vorhanden, auch wenn man es nicht mehr sah.

Vielleicht, wenn es da draußen so etwas wie einen Gott und einen Himmel für die Toten gab oder etwas anderes, wo sie noch da waren…

 

Auf einmal war da Mamas Stimme in meinem Kopf. Ich hatte schon geglaubt, ihren Klang vergessen zu haben, aber nun, da ich sie von irgendwo aus den Tiefen meiner Erinnerung hörte, war sie wieder ganz klar.

„Genki“, sagte sie und mir sprangen Tränen in die Augen, weil mich seit zwei Jahren niemand mehr bei meinem wahren Vornamen genannt hatte. Mehr sagte sie nicht und verschwand dann wieder ins Nirgendwo. Und ließ mich, ein wenig gestärkt, zurück, mit einem winzig kleinen Versprechen, nicht ganz weg zu sein.

 

Ich wollte mir vorstellen, dass sie irgendwo da oben war, bei den Sternen, wollte wie ein kleiner Junge an einen Gott glauben, doch es gelang mir nicht. Ich stand auf, ging zu meinem Schlafplatz zurück und versuchte lange, einzuschlafen …

Nachdem das Geheimnis zwischen Meto und mir ausgeräumt war, fühlte ich mich um einiges leichter und befreiter.

Wir gingen zusammen aus, wieder in denselben Club, wieder dieselbe wilde Knutscherei. Mir war danach nach mehr, aber Meto blockte das konsequent ab. Er sei noch nicht so weit, sagte er und dass er noch Zeit brauche, um irgendwas Diesbezügliches mit sich selbst auszumachen. Das sei sehr kompliziert und er könne es mir nur schwer erklären.

Ich witterte schon wieder ein Geheimnis und bestand deshalb darauf, dass Meto mich an diesem Abend zu sich nach Hause mitnahm.

 

Zuerst zögerte er. „… Das auch… kompliziert… wenn meine Eltern da… und so…“

„Wieso?“, fragte ich.

Meto sah mich einen Moment lang nachdenklich an, schien zu überlegen, wo eigentlich das Problem lag und sagte dann leise: „… Haben keine Ahnung… dass ich …Freund habe…“

„Aber sie wissen schon, dass du auf Männer stehst, oder?“

Er schüttelte den Kopf.

Okay, jetzt verstand ich. „Dann bin ich eben einfach ein Freund. Die müssen ja nicht gleich wissen, was das zwischen uns ist.“

 

Damit schien ich ihn überzeugt zu haben und so machten wir uns auf den Weg zu ihm nach Hause. Auf dem Weg bemerkte ich, dass sowohl er als auch ich gern ein bisschen gezeigt hätten, dass wir so was wie ein Paar waren, doch er schien sich nicht so recht zu trauen, sah sich, je näher wir der Villa kamen, immer wieder um und flüsterte mir zu, dass er sich ein wenig verfolgt und angestarrt fühle.

„Da ist aber niemand“, sagte ich, sah mich um und wollte dann wenigstens Metos Hand nehmen, doch nicht einmal das ließ er zu, obwohl ich ihm anmerkte, dass er durchaus wollte.

 

An der Haustür drehte er sich noch einmal um, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte, die Tür öffnete und mich dann vor sich her ins Haus schob. Es war genauso riesig, wie es von draußen aussah, aber irgendwie vom Stil her ganz anders, moderner als die edelantike Fassade. Vom Eingangsbereich ging eine Tür zur Küche ab, eine zu einer großen Halle und rechts führte eine Treppe zur Galerie im ersten Stock. An der ersten Tür dort oben hing ein dunkles Bandposter, das diese als die zu Metos Zimmer auswies.

 

„Yuuhei?“, fragte eine weibliche Stimme aus der Halle. „Bist du auch endlich da?“

Meto bedeutete mir, im Eingangsraum stehen zu bleiben und ging in die Halle, wo ich ihn kurz darauf irgendetwas zu der Frau, die aller Wahrscheinlichkeit nach seine Mutter war, sagen hörte.

Yuuhei. Yuuhei Asakawa war also sein Name. Irgendwie fand ich, dass ‚Meto‘ besser zu ihm passte.

 

Als er wiederkam, strahlte er mich an.

„Deine Mam?“, fragte ich.

„Sie… uns heut Abend… nicht stört… Hab gesagt… wir zocken n bisschen… und so…“

„Zocken?“ Ich lächelte und wollte noch etwas sagen, aber Meto packte meine Hand und zog mich hinter sich her die Treppe rauf, öffnete die Tür zu seinem Zimmer, schob mich hinein, fiel mir um den Hals und begann, mich wild zu küssen.

Seltsam, dachte ich, wieso küsste er fast wie Sex, wollte aber andererseits mit allem noch warten?

„Ich… hab dich… so lieb, MiA…“, keuchte er, als er den Kuss für einen Moment unterbrach, nur um mich dann in Richtung Bett zu drängen und weiter zu küssen.

Am liebsten hätte ich mich jetzt einfach nach hinten fallen lassen, hätte weitergemacht, immer weiter, mehr … Ich wollte ihn, wollte ihn so sehr, doch ich musste mich beherrschen, weil ich ja wusste, dass er nicht, noch nicht, wollte.

Einmal versuchte ich, ihm zu zeigen, was ich wollte. Ich schob meine Hand unter sein Hemd, streichelte über seinen Rücken und zog ihn eng an mich.

Doch er unterbrach den Kuss, schüttelte den Kopf und brachte einen gewissen Abstand zwischen uns. Seine Botschaft war klar: Nur Küssen. Bis dahin und nicht weiter.

Auch, wenn ich nicht ganz verstand, weshalb er noch nicht zu mehr bereit war, musste ich es akzeptieren, und das tat ich, auch wenn es mir schwer fiel.

 

Ohne weiter Worte darüber zu verlieren, ging Meto zu einem anderen Thema über, indem er aus einem kleinen Regal, das unter dem Diru-Poster stand, einen Stapel DVDs holte und sie mir vor die Nase hielt. Es handelte sich um eine Sammlung alter und neuer Horror- und Actionfilme, von denen ich nur etwa die Hälfte kannte.

„Hattest du nicht was von Zocken gesagt?“, fragte ich lächelnd, obwohl ich ja wusste, dass er das nur vorgeschoben zu seiner Mam gesagt hatte, damit sie uns nicht störte.

Meto ließ meine Frage unkommentiert und legte stattdessen die erste DVD in den Player ein, der sich genau gegenüber von seinem Bett befand.

 

Wir machten es uns auf seinem Bett gemütlich, ich legte meinen Arm um seine Schultern und so sahen wir uns den ersten Film an. Es war ein ziemlich alter Horrorfilm, der jedoch, wie ich fand, wie kein zweiter zu Meto passte. Und obwohl es ein wirklich spannender, fesselnder Film war, fiel es mir doch recht schwer, mich zu konzentrieren. Meto lag in meinen Armen, sein Haar kitzelte meine Nase, ganz zu schweigen vom auf mich betörend wirkenden Duft seines Parfums.

Am liebsten hätte ich den Film einfach Film sein lassen und wäre mit meinem Angebeteten  hier und jetzt in ganz anderen Sphären versunken.

Doch als ich es noch einmal versuchte, indem ich meine Hand auf sein Bein legte und ihm einen Kuss ins Haar hauchte, ging er wieder auf Abstand und sah mich mit einem Blick an, den ich nicht recht deuten konnte, der aber unbestreitbar „Nein“ sagte.

Langsam fing ich an, mich zu fragen, was da los war. Irgendwas stimmte schon wieder nicht.

 

Als der Film vorbei war, sprach ich ihn darauf an.

„Meto, was ist los?“, fragte ich. „Ich merk doch, dass was ist.“

„Nichts…“, antwortete er.

„Keine Geheimnisse mehr“, erinnerte ich ihn an unser Versprechen. „Liegt’s irgendwie an mir, mach ich was falsch?“

Er schüttelte den Kopf, sein Blick wich meinem aus. „Liegt… nicht… an dir…“

Na toll, die Stelle kannte ich doch! Wir waren schon wieder an dem Punkt angekommen, an dem er dicht machte und ich versuchte, etwas offensichtlich Problematisches aus ihm herauszukriegen.

„Meto, wenn du mir nicht sagst, was los ist, kann ich auch nichts tun, verstehst du? Es fühlt sich besser an, wenn ich wenigstens weiß, warum du nicht willst, dass wir weiter als Küssen gehen.“

„Ich… eben… nicht will…“

„Aber wieso nicht? Ich meine… na ja, ich wüsste eben gern, warum…“ Mein Mut verließ mich schon wieder und ich sah Meto unsicher an.

„MiA…ich… kann nicht… verstehst du? Ich… kann… das… einfach… nicht…“

 

In diesem Moment beschlich mich eine ganz, ganz ungute Vorahnung. Ich wusste nicht, wo sie herkam, doch auf einmal war da so ein visionäres Gefühl, dass wir auf eine furchtbare Katastrophe zu schlitterten. Vielleicht war es das, was Mariko damit gemeint hatte, als sie sagte, sie habe ein komisches Gefühl bei der Sache.

 

Um dieses miese Gefühl irgendwie zu vertreiben, stand ich auf und suchte aus dem Stapel DVDs den nächsten Film aus.

„MiA…?“

Ich drehte mich zu ihm um und sagte, um des lieben Friedens willen und weil ich ahnte, dass heute nichts mehr in dieser Richtung aus Meto herauszukriegen war: „Ich warte auf dich.“

 

Den zweiten Film sahen wir nicht mehr so eng zusammengekuschelt an. Ich spürte, dass Metos Stimmung ziemlich im Eimer war und nannte mich innerlich einen Idioten, weil ich es mit meiner Fragerei gewesen war, der die schöne Filmabend-zu-zweit-Atmosphäre zerstört hatte.

 

Irgendwann musste ich dann wohl eingeschlafen sein, denn ich fand mich in einem seltsamen Traum wieder, der mein ungutes Gefühl bestätigte.

In diesem Traum kamen sowohl Meto, als auch Tsuzuku vor, und die ganze Atmosphäre gab mir das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Irgendwas war zwischen den beiden, was ich nicht verstand, vielleicht niemals verstehen konnte. Tsuzuku legte einen Arm um Meto und sah mich mit diesem traurig-eifersüchtigen Blick an, der mir klarmachte, dass mein Angebeteter schon das Ein und Alles von jemand anderem war, der ihn sicher nicht hergeben wollte. Mariko war auch da und sagte: „Ich hab’s dir gesagt, Atsushi“, was mich noch mehr verletzte.

 

Mitten in der Nacht wachte ich auf und wusste zuerst nicht, wo ich war. Ich hatte Tränen in den Augenwinkeln, die ich rasch wegwischte, dann stand ich auf und öffnete das Fenster. Nachdem ich ein wenig klare Nachtluft geatmet und mein Bewusstsein wieder normalisiert hatte, drehte ich mich um und sah Meto auf seinem Bett liegen. Er trug immer noch dieselben Sachen, hatte sich also auch nicht mehr umgezogen, und drückte mit beiden Armen etwas an sich, was ich erst auf den zweiten Blick als braunen Teddybären mit einem lila Knopfauge erkannte.

 

Himmel, sah das süß aus! Meto, der mir sonst immer relativ erwachsen vorkam mit seinen kurzen türkisblauen Haaren und dem riesigen Tattoo auf dem Arm, wirkte schlafend und mit dem Teddy im Arm fast wie ein lieber, kleiner Junge.

Ich beugte mich über ihn und hauchte einen vorsichtigen Kuss auf seine Stirn, dann legte ich mich wieder hin und beobachtete seine schlafenden Atemzüge.

Es brauchte lange, bis ich wieder eingeschlafen war und gottseidank nichts mehr träumte.

Ich hatte geglaubt, dieser Traum mit Tsuzuku und mir wäre eine einmalige Sache gewesen, eine kurze Verirrung.

Doch da hatte ich mich wohl getäuscht, denn in dieser Nacht war er wieder da. Es war derselbe Traum wie beim letzten Mal, nur fühlte er sich noch intensiver an, bedrängte mich geradezu.

 

Erst, als ich aufwachte, kehrte mein Bewusstsein ziemlich langsam in die Realität zurück und ich realisierte, dass nicht Tsuzuku, sondern MiA neben mir lag. Das wiederum fühlte sich so absolut merkwürdig an, dass ich erst jetzt das ‚Problem‘ namens Beule in meiner Hose bemerkte. Ich ging ins Bad, zog mich aus und versuchte, mich mithilfe einer kalten Dusche wieder in Normalzustand zu bringen.

 

Mein nächster richtiger Gedanke war: Warum träumte ich so was zweimal? Ein einziger solcher Traum war ja schon verwirrend genug. Was steckte dahinter, wenn ich so ein Zeug jetzt schon zum zweiten Mal träumte und das sogar, während MiA neben mir lag. Warum zum Himmeldonnerwetter nochmal hatte ich nicht von ihm, sondern von meinem besten Freund geträumt? Lief da in meinem Kopf irgendwas ab, von dem ich nichts wusste?

 

Ich wickelte mich in meinen Bademantel und ging in mein Zimmer zurück, wo MiA immer noch friedlich schlief.

War es möglich, dass ich mich sowohl in ihn, als auch in Tsuzuku verliebt hatte? Zwar fühlte sich das, was ich für beide empfand, unterschiedlich an, doch wenn man die Kriterien einer Beziehung erst auf mein Verhältnis zu MiA und dann auf meine Freundschaft  mit Tsu anwandte, kam dasselbe heraus. Ich fragte mich, worin eigentlich der Unterschied zwischen enger Freundschaft und Liebe bestand. Wahrscheinlich darin, dass es in einer Freundschaft eigentlich keine solchen Träume oder dergleichen gab.

 

Während MiA weiter selig schlief, saß ich neben ihm und wusste, dass er nie erfahren durfte, was wirklich in meinem Kopf abging. Er wollte, dass es keine Geheimnisse zwischen uns gab, doch ich war mit meinem Chaos im Kopf überhaupt nicht in der Lage, dieser Bitte Folge zu leisten.

Ich wünschte mir, wieder einzuschlafen und diesmal von ihm zu träumen, doch so wach wie ich war, war daran nicht zu denken.

 

Und so wartete ich tatenlos, bis MiA irgendwann aufwachte.

„Morgen, Meto“, murmelte er verschlafen, richtete sich auf, nahm meine Hand und zog mich zu sich, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann sah er mich fragend an.

„Du hast schon geduscht?“

Ich nickte, mir war mal wieder nicht nach Sprechen.

„Kann ich auch?“, fragte er.

Wieder Nicken meinerseits und MiA stand auf, ging zur Tür und fragte dann: „Wo ist denn das Bad?“

„Nächste Tür… rechts“, antwortete ich und hoffte, ihn nach dem Duschen nicht halbnackt sehen zu müssen, denn das hätte mich vollends durcheinander gebracht.

 

Während MiA im Bad war, machte ich das Bett und hob Ruana, die irgendwann runtergefallen war, wieder auf, um sie auf ihren Stammplatz auf meinem Nachtschrank zu setzen. Ich nutzte MiAs Abwesenheit, um mich anzuziehen, und schloss das Fenster, welches einer von uns gestern Abend wohl geöffnet hatte.

Als MiA dann, zum Glück fertig angezogen und mit halbwegs trockenen Haaren, zurückkam, hatte ich die Spielekonsole herausgekramt, nur für den Fall, dass meine Mutter hochkam und schauen wollte, was wir so machten.

 

MiA schien im Bad über irgendetwas nachgedacht zu haben, denn er sah mich ernst an und sagte dann: „Und deine Eltern wissen echt nicht, was Sache ist?“

Ich schüttelte den Kopf. Nein, wussten sie nicht. Für mich, der Sprechen schon schwer genug fand, war ein Coming Out doppelt schwierig und ich wollte für diesen Moment richtig, ohne Fehler reden können. Dazu kam noch das, was MiA nicht wissen durfte: Dass ich nicht mal wusste, in wen ich jetzt eigentlich verliebt war.

„Irgendwann musst du es ihnen sagen, das weißt du aber, oder?“

„…Ja…“ Natürlich wusste ich das.

 

„Yuuhei, kommt ihr zum Frühstücken?“, rief meine Mutter von unten.

MiA sah mich kurz fragend an, ich nickte und er antwortete für mich: „Ja, sind gleich da!“

Anscheinend musste meine Mutter heute später oder gar nicht in die Kanzlei, jedenfalls hatte sie ein relativ aufwendiges Frühstück gemacht und blieb dabei, als MiA und ich uns in der Küche hinsetzten.

„Und du bist…?“, fragte sie meinen heimlich Angebeteten lächelnd.

„Ich heiße Atsushi Miyama, aber Sie können gern MiA zu mir sagen“, stellte er sich vor und griff unter dem Tisch nach meiner Hand. Ich zog sie jedoch zurück, wollte auf keinen Fall, dass meine Mutter irgendwas merkte.

Bildete ich mir das nur ein oder sah sie uns beide wirklich ein bisschen komisch an?

 

Ich bekam kaum etwas herunter vor Aufregung, und zu allem Überfluss wurde ich die Bilder aus meinem Traum einfach nicht los. Immerzu musste ich an Tsuzuku denken und fragte mich, wann diese Gefühle für ihn entstanden waren. Irgendwann hatte ich wohl nicht gut genug auf mein Herz aufgepasst, nun war es mitten auf dem Irrweg und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich das wieder ändern sollte.

 

„Meto?“ MiA sah mich fragend an. „Alles okay?“

Sah man mir jetzt auch noch an, dass was nicht stimmte?!

„‚Meto‘? Hast du einen neuen Spitznamen, Yuuhei?“, fragte meine Mutter verwirrt und in diesem Moment wusste ich, dass meine beiden Welten auf eine Katastrophe zu schlitterten. Wenn Mama jetzt schon meinen Nicknamen aus dem Park kannte…

Ich warf MiA einen bösen Blick zu, den er fragend erwiderte und dann: „Oh… kennt deine Mama diesen Namen nicht?“

„Nein“, zischte ich. „Der ist… nur für Leute… aus Park…“

„Ach so… Tut mir leid…“ MiA senkte den Kopf.

„Welcher Park, Yuuhei?“, fragte Mama. „Und was für Leute? Von denen hast du noch nie was erzählt.“

Ich dachte nur: ‚Jetzt ist alles aus.‘

Jetzt konnte ich meine beiden Welten nur noch durch Abblocken und Lügen getrennt halten. Und das tat ich. Mir blieb ja nichts anderes übrig, denn zulassen, dass in diesem Moment die Mauer zwischen meinem Elternhaus und meinem Leben draußen eingerissen wurde, wollte ich auf keinen Fall!

„Geht dich… nichts an…!“, fauchte ich. „Das… meine Sache!“ Wie blöd ich klang! Und wie arm mein Versuch, das komplizierte Gerüst Meto-Yuuhei aufrecht zu erhalten! Ich hasste diesen verdammten Sprachfehler!

Meine Mutter sah mich entsetzt an. „Yuuhei, was ist da los?!“

 

Ich hatte das Gefühl, dass ich, wenn eines meiner Gerüste einbrach, die anderen auch nicht mehr halten könnte. Und wenn die brachen, würden sowohl meine Eltern, als auch Tsuzuku und die Leute im Park alles über mich erfahren. Ich wollte mir das lieber gar nicht erst vorstellen.

Es war, als würde ich tatenlos einem Erdrutsch zusehen müssen,  der meine Hütte am Berghang Stück für Stück mit sich riss. Mein lautloses Schreien nutzte nichts, ich konnte nichts tun, um mich oder jemand anderen davor zu beschützen.

 

Aber zum Glück war es noch nicht so weit. Denn in diesem Moment griff MiA ein, indem er etwas zu meiner Mutter sagte, was den Erdrutsch zumindest fürs Erste von meiner kleinen, wertvollen Hütte fernhielt: „Sehen Sie, Yuuhei ist erwachsen. Er hat seine eigene Welt, seinen eigenen Kreis, in dem er sich so bewegt wie Sie sich wahrscheinlich in ihrem. Ich kenne ein paar Leute in diesem Park, das sind zwar schräge Vögel, aber definitiv okay. Und es ist sehr wichtig, dass Sie sich da komplett raushalten, glauben Sie mir das.“

 

Ich hätte ihn augenblicklich umarmen und küssen können! Er hatte meine kleine Welt gerettet, mein Leben, mein Alles. Und das, obwohl ich ihm nie gesagt hatte, wie wichtig das alles war. Er musste es wohl irgendwie geahnt haben.

Mama sah ihn zuerst noch etwas zweifelnd an, doch dann schien sie zu verstehen.

„Gut, ich halte mich da raus. Aber du versprichst mit, Yuuhei, dass du die Finger von Drogen und dergleichen lässt, ja?“

Ich nickte. Mit Drogen hatte niemand zu tun, den ich näher kannte, sah man einmal von Alkohol und Zigaretten ab, die ich zwar nicht allzu ausgiebig, doch recht regelmäßig konsumierte.

 

MiA ging ziemlich bald nach dem Frühstück, und ich ging in den Park, wo Tsuzuku schon auf mich wartete. Schon in den letzten Tagen war mir ja aufgefallen, dass er sich ein wenig seltsam verhielt, doch dass er heute, als er mich kommen sah, aufstand und mich dann umarmte, war wirklich ungewöhnlich. Zwar standen wir uns ja nahe, doch er umarmte mich selten und heute schien es so, als wollte er mich gar nicht mehr loslassen.

 

„Tsu?“, fragte ich. „Alles okay?“

Auf einen Schlag ließ er mich los und zum allerersten Mal sah ich, dass sich eine deutliche Röte auf seinen Wangen ausgebreitet hatte. Er wurde sonst nie rot! Das war einfach nicht seine Art und verwirrte mich noch mehr.

Passierten denn heute nur so verwirrende, irgendwie erschreckende Sachen? Erst kam meine Mama hinter mein ‚Doppelleben‘ hier, dann benahm sich mein bester Freund komisch, was kam wohl als nächstes?

Tsuzuku bemerkte wohl, dass er mich verwirrt hatte und entschuldigte sich, wobei jedoch die merkwürdige Röte auf seinen Wangen noch an Intensität zunahm.

„Du… bist ganz rot“, sagte ich leise, hoffte wohl, dass er es mir irgendwie erklären konnte, doch er wich meinem Blick aus und tat, als hätte er es nicht bemerkt.

 

Wir verbrachten wieder den Nachmittag in der Stadt. Ich kontrollierte, ob seine Sachen alle heil und halbwegs sauber waren, was schmutzig war, kam in die Wäscherei und in der Wartezeit saßen wir am Stadtbrunnen und rauchten. Was allerdings merkwürdig blieb, war, dass Tsuzuku mich hin und wieder geradezu anstarrte und dann, wenn ich ihn ansah, meinem Blick auswich und tat, als wäre nichts. Ich verstand weder, was auf einmal los war, noch was das sollte.

 

Doch dabei blieb es nicht. Denn als ob Tsuzuku wüsste, dass mein Gerüst schwankte, trug er nun auch dazu bei, dass es nicht gerade stabiler wurde, indem er auf dem Weg von der Wäscherei zum Park zurück eine Frage stellte, von der ich irgendwo gewusst hatte, dass sie mal kam, aber gehofft hatte, dieser Moment läge noch in weiter Ferne. Doch irgendwann ist so ein Augenblick eben da und das war wohl jetzt.

„Sag mal, Meto, woher hast du nur immer dieses ganze Geld? Wenn ich mir diese Rechnung so ansehe und die vom Badehaus, dann… na ja, ich frag mich schon eine ganze Weile, wie du das machst, wo du doch nicht mal arbeitest.“

Ich hörte es förmlich knacken und krachen, als das Gerüst in meinem Kopf eine weitere Bruchstelle bekam. Heute schien ein Tag der Wahrheit zu sein, nur war ich dafür noch lange nicht bereit. Am liebsten wollte ich das alles, wenn es denn schon sein musste, langsam auflösen, mit dem geringstmöglichen Schaden für alle. Doch dabei hatte ich wohl irgendeine Realität außer Acht gelassen.

 

Und so versuchte ich, jetzt wo kein MiA da war, der mich retten konnte, den Moment der Wahrheit allein noch weiter hinauszuzögern.

„Du musst dir darum keine Gedanken machen, Tsu.“

„Ich wüsste schon gern mal, von wessen Geld du mich die ganze Zeit unterhältst.“ Er klang fordernd und ungeduldig.

Ich machte einen letzten Versuch, zu retten, was noch zu retten war: „Hör zu, ich kann dir das jetzt nicht sagen. Es ist nichts Gefährliches oder so, ich kann nur nicht drüber reden. Warte noch ein bisschen, irgendwann demnächst muss ich’s dir eh sagen.“

Er schien damit nicht so ganz zufrieden, sagte jedoch nichts mehr.

 

Ich ging dann ziemlich bald nach Hause, mit dem bedrückenden Gefühl, mein Gerüst aus zwei Welten nicht mehr allzu lange halten zu können. Ich wusste, ich würde leiden, wenn es zusammenbrach und ich wäre nicht der Einzige.

 

Der Sonntag verlief mehr oder weniger ereignislos. Ich verbrachte ihn in meinem Zimmer vor der Spielekonsole, da es draußen regnete, und fragte mich nur einmal kurz, wo Tsuzuku bei dem Wetter wohl unterkam. Bisher hatte er jedoch immer irgendeinen Unterschlupf gefunden, also ging ich davon aus, dass er schon einen Platz hatte, wo ihn der Regen nicht völlig durchnässte.

 

Am Montag hatte ich wieder einen Termin bei Frau Hiranuma. Und da ich seit Samstag das dringende Bedürfnis verspürte, mit jemandem von ganz außen über das heillose Durcheinander in meinem Leben zu reden, wollte ich mich dieser Frau, die schließlich dafür ausgebildet war, Menschen wie mir zu helfen, nun doch ein Stück weit öffnen.

 

„Sie… haben doch… diese Schweigepflicht…?“, fragte ich, als ich ihr gegenüber saß.

Sie nickte. „Nichts, was du mir darunter erzählst, wird diesen Raum verlassen. Ich darf nicht einmal deinen Eltern irgendetwas erzählen, es sei denn, du erlaubst es ausdrücklich. Und wenn du nicht willst, dass ich etwas aufschreibe, kann ich das auch seinlassen. Möchtest du mir denn etwas sagen?“

Ein Nicken meinerseits, sie lächelte mich freundlich an, und mit einem Mal platzte es einfach aus mir heraus, zwar stockend und mit meinen üblichen Fehlern, doch ich redete. Über alles. Über MiA, Tsuzuku, über meine Eltern und die Leute im Park, mein Verhalten in Clubs und mein Gefühlschaos, einfach alles.

Sie schrieb nicht mit, fragte kaum, hörte nur zu und sah mich aufmerksam an. Als ich halbwegs fertig war, zu allem Überfluss hatte ich zu heulen angefangen, hielt sie mir eine Box Taschentücher hin.

 

„Ich finde das sehr mutig, dass du mir das alles erzählst. Wie fühlst du dich jetzt?“, fragte sie.

Ja, wie fühlte ich mich? Erleichtert und befreit, weil alles einmal raus war, weil ich zum ersten Mal wirklich über Tsuzuku gesprochen hatte. Traurig, weil mir bewusst geworden war, wie tief ich in diesem furchtbaren Chaos drinsteckte. Und auch ein bisschen ängstlich, weil ich ahnte, dass da noch was auf mich zukam, ich aber keine richtige Vorstellung davon hatte, was es war.

Und weil sie mir wohl ansah, dass ich keine Worte fand, sprach sie meine Gedanken für mich aus, so als könnte sie sie von meinen Augen ablesen. Lernte man so etwas im Psychologiestudium?

 

Ich schniefte, fuhr mir mit dem Taschentuch über die Augen und dankte meinem Bauchgefühl, das mich am Morgen gewarnt hatte, mich nicht zu sehr zu schminken.

„Du bist unheimlich stark, Yuuhei, weißt du das?“, fragte Frau Hiranuma.

Ich schüttelte den Kopf.

Sie sah mich einen Moment lang nachdenklich an und sagte dann: „Was deinen besten Freund angeht, habe ich da so einen Verdacht. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, dafür müsste ich ihn kennen lernen. Aber einen Rat kann ich dir trotzdem geben: Tu am besten irgendetwas, was ihn stärkt. Etwas, woran er sich erinnern kann, wenn es ihm schlecht geht.“

 

Ich griff in meine Umhängetasche, in der ganz unten immer noch Tsuzukus Klappmesser lag, nahm es heraus und schloss meine Hand darum. Einfach, weil ich mich an irgendetwas festhalten wollte, was mit ihm zu tun hatte.

„Du kennst ihn ja gut, dir fällt bestimmt etwas ein, was du tun kannst“, fuhr Frau Hiranuma fort. Und lächelte mich so freundlich an, dass ich beschloss, sie ab jetzt zu mögen. Ich wusste, ich brauchte wirklich Hilfe, also nahm ich sie an. Eine Wahl hatte ich nicht mehr.

Den ganzen Weg nach Hause dachte ich darüber nach, was ich wohl noch für Tsuzuku tun konnte. Es musste wohl etwas Außergewöhnliches sein, eine Erinnerung, an die er sich klammern konnte, wenn die Schatten nach seinem Herzen griffen. Doch mir wollte nichts einfallen. Mein Kopf war leer und wie blockiert.

 

Zu Hause setzte ich mich mit Ruana im Arm auf mein Bett, nahm Zettel und Stift zur Hand und fragte meinen Bären um Rat. Sie sah mich mit ihren zwei verschiedenen Augen wissend an, so als hätte sie hunderte Gedanken dazu, und langsam löste sich die Blockade. Ich schrieb ein paar Ideen auf, von Ausflug bis Extra-Schönheitstag. Dass Geld bei mir kaum eine Rolle spielte, war in diesem Fall nur gut und der einzige Vorteil, den ich in meiner Herkunft sah.

 

Als ich gerade mitten am Schreiben war, klopfte meine Mutter an meine Zimmertür.

„Yuuhei? Hast du mal einen Moment?“

„M-hm?“

Sie öffnete die Tür, kam rein und setzte sich zu mir aufs Bett. Allein das kam schon selten vor, sie war nie der Typ für viel Nähe gewesen, doch was sie dann sagte, war geradezu verwirrend: „Yuuhei, ich habe gestern und heute über etwas nachgedacht, über unser Leben hier und dass du dich so von uns abkapselst. Du erzählst nie, was du den ganzen Tag draußen in der Stadt machst und bis auf diesen Mia kenne ich keinen deiner Freunde. Und dass du etwas mit uns unternommen hast, ist auch schon lange her. Ich weiß, du bist erwachsen und willst dein eigenes Leben haben, aber… na ja, ich wüsste manchmal schon gern, wer die Leute sind, mit denen du dieses eigene Leben verbringst. Du kannst jederzeit einen von ihnen mit herbringen, das weißt du, oder?“

 

Ich sah sie stumm an, meine Stimme versagte mal wieder. Und was hätte ich auch sagen sollen? Dass außer MiA keiner von meinen Freunden wusste, in welchen Verhältnissen ich lebte? Dass mein bester Freund ein psychisch kranker Obdachloser war, der auf keinen Fall wissen durfte, dass ich aus gutem Hause kam, er aber kurz davor war, es zu erfahren?

 

„Wir sind deine Eltern, Yuu“, sagte Mama. Wann hatte sie mich zuletzt Yuu genannt? Auch das war schon lange her. „Wir können zwar nicht mehr über dich bestimmen, doch es würde uns sehr freuen, wenn du uns wieder ein wenig an deinem Leben teilhaben lässt.“

Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir… leid… Geht… nicht…“

„Hast du gestern mit Frau Hiranuma auch darüber gesprochen?“

Ich nickte, gab Mama aber mit einem Blick zu verstehen, dass ich darüber nicht reden wollte.

„Du kannst jederzeit zu mir kommen. Ich habe jetzt ein paar Tage weniger zu arbeiten, dann könnten wir doch mal… na ja, einen Kaffee zusammen trinken oder so…“ Mit diesen Worten stand sie auf, ging hinaus und ließ mich in einem ziemlichen Gedankenchaos zurück.

Man sagt ja, der Mensch gewöhnt sich an alles. An Leid, Schmerz und Trauer genauso wie an Dinge oder andere Menschen, die einem zu Anfang eher auf die Nerven gehen.

So war es mit mir und Koichi. Er und Mikan (die übrigens nicht seine Freundin war) kamen täglich im Akutagawa vorbei und jedes Mal setzte sich dieser übertrieben freundliche Typ mit den pastellrosa Haaren zu mir und versuchte, sich mit mir zu unterhalten. Und nach ein paar Tagen, an denen ich noch versucht hatte, ihn abzuweisen, gab ich schließlich auf und machte einen kleinen Schritt auf ihn zu, indem ich hin und wieder halbwegs ehrlich auf seine Fragen antwortete.

 

Haruna, die sich immer irgendwie in meiner Nähe aufhielt, bemerkte das natürlich und es schien ihr zu gefallen. Ich hatte zwar eine Ahnung, dass sie und Koichi hinter meinem Rücken über mich sprachen, doch seltsamerweise störte mich das kaum. Ich hatte so etwas wie Grundvertrauen zu Haruna aufgebaut, nach jenem Abend, als sie sich so um mich gekümmert hatte. Sie schien der Meinung zu sein, dass es gut war, wenn ich ein wenig Kontakt zu anderen aufbaute und ich sah wie gesagt ein, dass sie da Recht hatte.

 

Es war Mittwoch und ich hatte eigentlich schlechte Laune. Ich war ungeduldig, weil ich endlich wissen wollte, wo Meto eigentlich das ganze Geld herbekam, und das Wetter war auch nicht das Beste. Zum ersten Mal in diesem langsam beginnenden Herbst hatte ich am Samstag, als es ziemlich stark geregnet hatte, das Obdachlosenheim aufgesucht, um mich nicht zu erkälten. In dem Leben, das ich führte, war eine Erkältung keine Kleinigkeit und ich hatte nach anfänglichem Trotz eingesehen, dass ich mich an Regentagen besser um Schutz bemühte.

Obwohl ich die Unterkunft nicht mochte, denn dort war es meist sehr voll und dazu unangenehm laut, hatte ich sie also wohl oder übel aufgesucht, war heute jedoch froh, meinen Schlafplatz wieder unter der gewohnten Brücke in meinem geliebten Park zu haben.

 

Koichi saß wieder neben meinem Schlafplatz, nachdem Meto für heute nach Hause gegangen war. Im Gegensatz zu den meisten hier schien er eine feste Arbeit zu haben, jedenfalls kam er immer abends und um die Zeit, wenn alle anderen von der Arbeit nach Hause gingen.

„Wie lange lebst du eigentlich schon so?“, fragte er.

„Zwei Jahre“, antwortete ich.

Koichi sah mich einen Moment lang schweigend an, versuchte sich wahrscheinlich vorzustellen, wie das war, auf der Straße zu leben, und dann stellte er diese Frage, die unweigerlich darauf folgen musste und vor der ich Angst hatte:

„Darf ich fragen … wie das gekommen ist?“

 

Nein, durfte er nicht! In Sekundenschnelle war meine Mauer hochgezogen, meine Abwehr bereit, mein Weglaufreflex geweckt. Dass ich mich an Koichis Anwesenheit gewöhnt hatte, hieß noch lange nicht, dass ich ihm so etwas erzählen würde. Meto war und blieb der Einzige, der die Umstände meines Absturzes, mit Ausnahme meiner Schuld an Mamas Tod, kannte und kennen sollte.

 

Ich hatte damals schlicht und einfach den Boden unter den Füßen komplett verloren. War nicht mehr in der Lage gewesen, zu meinem damaligen Job zu erscheinen, hatte es in der Wohnung, wo mich jede Ecke, jeder Gegenstand an Mama und an meine Schuld erinnerte, nicht mehr ausgehalten und war so Stück für Stück ins Straßenleben abgeglitten. Zuerst hatte ich den Job, dann Versicherungen und so weiter und schließlich die Wohnung verloren, in der jetzt Verwandte meiner Mutter lebten, zu denen ich jedoch absolut keinen Kontakt wollte.

Im Akutagawa hatte mich die Gemeinschaft ohne große Fragen akzeptiert und aufgenommen, nachdem ich mir meinen Schlafplatz erkämpft und bewiesen hatte, dass ich trotz meiner offensichtlichen psychischen Probleme und meiner abweisenden Fassade irgendwie hierher passte.

 

„Ist okay“, erwiderte Koichi auf mein offensichtliches nonverbales Nein hin. „Geht mich ja auch nichts an. Ist aber ganz schön hart, dieses Leben, oder?“

Ich nickte und nahm meine Fassade fürs erste wieder zurück.

„Na ja, du hast ja auch ‘nen echt tollen besten Freund, oder? Das macht es bestimmt erträglicher. Und die Leute hier sind auch klasse.“ Koichi lächelte. Irgendwas hatte dieses Lächeln an sich. Etwas, das mich dazu brachte, mich noch ein Stückchen weiter zu öffnen.

„Meto ist mein Ein und Alles“, sagte ich leise.

„Das merkt man. Ich hab euch vorhin kurz zusammen gesehen. Du hast ihn echt richtig gern, oder?“

 

Ich bekam einen Schreck, denn so, wie Koichi das sagte, hörte es sich fast so an, als wüsste er, was ich für Meto empfand. Und das, was er als nächstes sagte, ließ mich die Fassade wieder hochziehen.

„Tsuzuku, ich hab’s dir schon mal gesagt: Du hältst dich vielleicht für schwer durchschaubar, aber zumindest ich kann dir ziemlich viel an den Augen ablesen. Und, wie ich auch schon sagte, ich biete mich da an, als Freund, mit dem du reden kannst.“

„Wovon redest du?“, fragte ich in einem letzten Versuch, meine Fassade zu halten.

„Ich weiß ja nicht, ob Meto es merkt, aber für mich ist es ziemlich offensichtlich, dass du mehr für ihn empfindest als bloße Freundschaft. Allein, wie du aussiehst, wenn du an ihn denkst.“

Und das sagte er mir einfach so! Mitten ins Gesicht! Traf den Nagel mitten auf den Kopf und riss meine Fassade nieder, bis ich wortlos nickte und dabei dem Blick seiner künstlich blauen Augen auswich.

 

„Keine Angst, ich erzähl das keinem weiter. Ich bin jetzt dein Freund, Tsuzuku, ob du willst oder nicht“, sprach Koichi und lächelte mich wieder an, mit diesem Lächeln, dem ich nichts entgegen zu setzen hatte.  

Meine Fassade, meine Abwehr, alle meine Schutzmechanismen waren in diesem Moment vollkommen nutzlos. Zum ersten Mal war da ein Mensch, der sie nicht nur wortlos überging, so wie Haruna, sondern der meine Mauer mit voller Absicht einriss, und dazu noch einen draufsetzte und sich einfach mal zu meinem Freund erklärte.

 

Ich warf einen bissigen Blick rüber zu Haruna, sie tauschte einen mit Koichi und strahlte mich dann an, als hätte sie soeben die tollste Verbindung überhaupt eingefädelt.

Jeder meiner selbsternannten Freunde schien sich zum Ziel gesetzt zu haben, mich zu sozialisieren oder was auch immer, und sich meine kranken Probleme anzuhören, die sie doch eigentlich überhaupt nichts angingen! Es schien sowohl Haruna als auch Hanako und Koichi nicht im Geringsten zu kümmern, was ich wollte, wussten sie doch angeblich alle viel besser, was gut für mich war.

Aber okay, ich war ja schon dabei, mich dieser Übermacht zu ergeben. Ich hatte ja keine Chance gegen Leute, die meine Grenzen freundlich lächelnd ignorierten und so entsetzlich fürsorglich und nett zu mir waren, dass ich keine andere Wahl hatte, als sie zu mögen.

Obwohl ich immer noch nicht wusste, was genau Koichi dazu bewogen hatte, meine Freundschaft zu suchen, beschloss ich, mich meinerseits auf ihn einzulassen, und damit zuzulassen, dass er wichtig für mich wurde.

 

Eine Weile saßen wir einfach da und schauten in den wolkenverhangenen Himmel. Bis Koichi einen weiteren ‚Vorschlag‘ machte, der mich wieder fast aus der Fassung brachte:

„Mir ist kalt, lass mal irgendwo hingehen, wo es Kaffee und Kuchen gibt.“

Kaum hatte er die Worte ‚Kaffee und Kuchen‘ ausgesprochen, verspürte ich das altbekannte druckartige Gefühl im Bauch. Das Wissen, dass mir, wenn ich heute etwas aß, sofort wieder schlecht werden würde. Bis jetzt hatte ich heute nur Wasser getrunken und ein paar trockene Nudeln gegessen. Ich wusste, dass das zu wenig war, doch die Alternative war das Risiko, alles wieder auszukotzen und davor hatte ich Angst. Denn ich wollte die Bulimie nicht, sie war einfach da und bedrohte mich unablässig in Form einer Art innerer Stimme und dieses Druckgefühls.  

Ich schüttelte auf Koichis Frage hin den Kopf und hoffte, dass er nicht weiter nachfragte.

Was er aber natürlich tat, denn es handelte sich ja um Koichi.

„Willst du nichts essen? Du musst doch irren Hunger haben, wenn du immer nur diese Nudeln hier isst und sonst nichts!“ Er sah mir in die Augen und dieses Mal spürte ich richtig, dass er mich las wie ein offenes Buch. Dass es keinen Sinn hatte, irgendetwas vor ihm zu verbergen.

Ein Blick reichte aus, damit er wieder ein Stück mehr von mir wusste.

„Ach du Schande…“, sagte er leise.

 

„Willst du jetzt immer noch mit mir befreundet sein?“, fragte ich mit gesenktem Blick und erwischte mich selbst dabei, wie ich hoffte, dass er jetzt ‚Ja‘ sagte.

Koichi rückte ein Stück näher zu mir, streckte die Hand aus und wagte es tatsächlich, mich am Kinn zu berühren, um meinen Blick anzuheben. „Natürlich. Glaub ja nicht, dass ich dich deswegen jetzt in Ruhe lasse!“

Er war wirklich aufdringlich und das ging mir schon wieder auf die Nerven. Und wo wir schon mal bei Offenheit waren, sagte ich ihm das natürlich direkt ins Gesicht. „Du nervst!“

Doch alles, was diese rosahaarige Klette dazu zu sagen hatte, war: „Ich weiß.“ Dazu dieses Grinsen, und da wusste ich, dass ich ihn jetzt wirklich nicht mehr loswerden würde. Dass wir uns tatsächlich angefreundet hatten, Koichi und ich, und dass sich das eigentlich ziemlich gut anfühlte.

 

Er stand auf, sagte: „Ich geh mir jetzt Kaffee und Kekse holen. Bin gleich wieder da“ und weg war er. Ich blieb auf meinem Platz sitzen und wartete. Beobachtete die anderen, die sich zu einer Gruppe zusammengerottet hatten und über irgendwas redeten und lachten.

Auf einmal drehte sich einer von ihnen, Hiro, dessen Schlafplatz meinem am nächsten lag, zu mir um und winkte. Ich hatte keine großartige Beziehung zu ihm, nur eben, dass wir so was wie Nachbarn waren, doch auf einmal schien er sich, genau wie Koichi und Haruna, für mich zu interessieren. Warum eigentlich gerade jetzt? Die Leute kannten mich doch schon länger, wussten um meine Probleme und dass ich mich selbst verletzte, wieso also kamen sie auf einmal alle an und wollten nett zu mir sein?

 

Ist ja auch egal, dachte ich mir und als Koichi mit einem To-go-Becher Kaffee und einer Packung Kekse wiederkam, schlug ich ihm vor, dass wir uns zu den anderen setzten. Und als wir dann alle zusammensaßen, in der Mitte ein kleines Lagerfeuer in einer Feuerschale, da bekam ich auf einmal doch ein klein wenig Hunger. Da Koichis Kekse einfach herumstanden (die Packung war schon halb leer), nahm ich mir einfach einen und erntete fast augenblicklich sowohl von Haruna, als auch von Koichi ein ermutigendes Lächeln.

 

Der Abend wurde richtig gut. Auf einmal fiel es mir viel leichter, mit den anderen, zu deren Gemeinschaft ich mich jetzt schon seit fast zwei Jahren zählen durfte, zu reden und ein bisschen sozial zu sein. Ich spürte, langsam, ganz langsam kam mein altes, mutigeres Ich zurück, in winzigen Stückchen und ganz vorsichtig, aber ich fühlte mich gut dabei und traute mich zögernd wieder, auf andere Menschen zuzugehen.

Koichi bemerkte irgendwie, dass es mir besser ging und lächelte mich immer mal wieder an. Und als würde er mich schon ewig kennen, flüsterte er mir zu: „Das machst du sehr gut, Tsuzuku.“

Und ich lächelte zurück, war auf einmal richtig glücklich, und weil ich wusste, dass es bestimmt nicht sehr lange anhalten würde, genoss ich es, so gut ich konnte.

Ich wurde von Albträumen geplagt. Albträumen, in denen sich immer wieder dieselbe Szene abspielte: Ich sah von weitem zu, wie Meto und Tsuzuku miteinander umgingen, wie gern sie sich hatten und wie besonders die Freundschaft zwischen ihnen war. Und ich war außen vor, kam nicht an Meto heran, wurde von Tsuzuku mit eifersüchtigen Blicken bedacht und wusste, sobald ich mitten in der Nacht aufwachte, dass ich mindestens genauso eifersüchtig war wie er.

 

Sawako war, wie es sich für eine Katze gehörte, vor allem nachtaktiv und so beschäftigte ich mich mit ihr, um wieder runterzukommen und Klarheit in meine Gedanken zu bringen, während ich ihr weißes Fell kämmte.

Punkt eins: Ich war schwer verliebt in Meto. Das wusste ich ja längst.

Punkt zwei: Ich war anscheinend eifersüchtig auf Tsuzuku. Das war neu. Eigentlich hatte ich ja sogar versucht, mich mit ihm anzufreunden, doch inzwischen war da nur noch der Gedanke, dass er ja für Meto zurzeit wichtiger war als ich, und das störte mich im Gefühl mehr, als mir lieb war.

 

Mit Mariko redete ich darüber nicht. Sie, mit ihrem Gerede von wegen sie hätte so ein schlechtes Gefühl bei der ganzen Geschichte, hätte mich nur noch mehr beunruhigt und das konnte ich einfach nicht gebrauchen.

 

Ich stürzte mich in die Arbeit, versuchte mich abzulenken und machte auf dem Heimweg einen großen Bogen um den Akutagawa-Park.

Und trotzdem schaffte ich es nicht, Abstand von der Sache zu bekommen. Einfach, weil Meto in meinen Gedanken dauerpräsent war und ich mich zwischendurch immer wieder erwischte, wie ich davon träumte, wie es wohl sein würde, wenn wir endlich ein echtes Paar würden. Ich verstand immer noch nicht ganz, wieso er mich so abgeblockt hatte, doch mein eifersüchtiges Gefühl flüsterte mir zu, dass es möglicherweise mit Tsuzuku zu tun hatte. Wie auch immer diese innere Stimme darauf kam, dass das zwischen den beiden mehr als Freundschaft war.

 

„Stopp!“, sagte ich mir, als ich mich zu Hause mal wieder bei diesem Gedanken erwischte. „Was sollte da sein, die beiden sind doch echt nur beste Freunde!“

Irgendwie schaffte ich es nach einer Weile, diese Gedanken beiseite zu schieben und befasste mich möglichst konzentriert mit einem Buch, dass ich schon lange einmal hatte zuende lesen wollen.

 

Am Samstag ging ich wieder in den Club, natürlich in der Hoffnung, dass Meto da war. Zuerst, draußen, sah ich ihn nicht, doch als ich drinnen im Club auf der zweiten Ebene suchte, da fand ich ihn auf der Tanzfläche. Es war fast so wie an unserem ersten Abend hier, als wir uns kennen gelernt hatten: Selbstvergessen, mit geschlossenen Augen und geöffneten Lippen wiegte er sich im Takt der dröhnenden Musik und es dauerte eine ganze Weile, bis er mich bemerkte. Er trug ziemlich knappe, zerfetzte schwarze Sachen und ich sah, wie er für das riesige Tattoo auf Brust und Arm einige Blicke erntete. Doch offenbar bekam er davon nicht das Geringste mit, sah aus, als zählte für ihn in diesem Moment nichts als die Musik.

 

Eine Weile stand ich einfach nur da und beobachtete ihn, wobei mir wieder auffiel, dass er wirklich so aussah wie jemand, der nur deshalb feiern ging, um etwas zu vergessen. Und jetzt, da ich die Gründe kannte, verstand ich es auch.

Wusste er eigentlich, wie wunderschön und anziehend das aussah, wenn er so tanzte? War er sich dessen bewusst, oder tat er das nur für sich selbst? Ja, entschied ich, er musste das einfach wissen. Und so, wie wir uns kennen gelernt hatten, mit der ganzen Knutscherei, war es wahrscheinlich, dass er da dieselbe Masche durchgezogen hatte wie ich.

Als er mich schließlich bemerkte, war ich schon davon, ihn beim Tanzen beobachtet zu haben, ein wenig aufgeheizt.

In dem Moment kam irgendein Typ auf ihn zu und sah ihn auffordernd an.

„Sorry, aber das ist meiner“, klärte ich den Fremden auf, nahm Metos Hand und zog ihn durchs Gedränge zur Bar. Nachdem wir uns jeder mit einem Drink versorgt hatten, zogen wir uns wieder auf die roten, plüschigen Sofas am Rande des Raumes zurück.

 

Erst jetzt realisierte ich, wie sehr ich ihn in den letzten Tagen vermisst hatte und so war ich es, der dieses Mal mit der Knutscherei anfing, auf die Meto voll einstieg und mich noch heißer machte. Am liebsten wäre ich mit ihm zu den Toiletten, in einer Kabine verschwunden und hätte sofort mehr mit ihm gemacht, aber da ich ja genau wusste, wo seine Grenze lag, gab ich mir alle Mühe, mich zu beherrschen. Schließlich wollte ich uns nicht den Abend verderben.

 

Aber sagen musste ich es ihm schon: „Meto, du weißt aber, dass du mich gerade ziemlich wahnsinnig machst und dass ich, wenn du so weitermachst, bald nicht mehr warten kann? Und, weißt du, ich frage mich schon, was eigentlich der Grund ist…“

Er ging sofort auf Abstand. „…Kann… ich dir… nicht sagen… wirklich nicht…“

„Aber warum nicht?“

Meto schüttelte stumm den Kopf.

„Wie soll ich dich verstehen, wenn ich nicht weiß, was los ist?“, fragte ich und wusste im nächsten Moment, dass ich es schon wieder tat, wieder seine Stimmung ruinierte und genau das bewirkte, weshalb er überhaupt herkam: Er wollte vergessen, und ich Idiot erinnerte ihn an die Dinge, die er beiseiteschieben wollte.

 

Doch er reagierte vollkommen anders, als ich erwartet hatte. Ich hatte gedacht, er würde wieder abblocken, so etwas wie „Warte bitte noch“ sagen, mich weiter vertrösten. Doch stattdessen nahm er meine Hand, zog mich hoch und führte mich zielstrebig zu den Waschräumen, wo sich auf dem roten Flur davor bereits etliche Paare gesammelt hatten.

Er öffnete die Tür der Herrentoilette, führte mich am Spiegel vorbei zu den Kabinen, schob mich in die erste, die offen war und schloss hinter uns ab.

 

„Was…?“, fragte ich verwirrt, kam jedoch nicht weiter, denn Meto drückte mich an die Wand, legte seine Lippen auf meine und küsste mich so leidenschaftlich und absolut eindeutig, dass es jegliche Verwirrung wegwischte.

„Mach schon, bevor… mich mein Mut… wieder verlässt…“, keuchte er gegen meine Lippen. Mir fiel gerade noch auf, dass er soeben einen bis auf ein wenig Stocken zum ersten Mal mir gegenüber einen vollständigen, fehlerfreien Satz gesprochen hatte, dann setzte der Großteil meines Verstandes aus, denn er schob eine Hand unter mein Oberteil und von da hinten in meine Hose.

 

Und ich kam seiner Bitte nur zu gern nach, berührte ihn zum ersten Mal auf diese eine Art und genoss das kribbelnde Gefühl, welches seine Hand auf meinem Hintern auslöste. Ich fragte nicht mehr, was Meto dazu bewogen hatte, jetzt doch weiter zu gehen, denn dazu war ich von seinem Tun viel zu überrascht und benebelt. War Wachs unter seinen Händen, die mich schier wahnsinnig machten, und schmolz förmlich dahin, als er sich das bauchfreie, löchrige Oberteil auszog und mir zum ersten Mal einen Blick auf die ganze Schönheit seiner Tattoos gewährte.

„…Meto … nhhh…“ entfuhr es mir, als er sich an mich drückte und so meine bereits deutlich harte Erregung mit seinem Körper berührte. Wollte er jetzt wirklich mehr, viel mehr? Ich war darauf nicht wirklich vorbereitet, hatte nichts dabei, war aber kaum mehr in der Lage, jetzt noch zu stoppen.

Ich ließ meine Hände über das riesige Tattoo wandern, spürte, dass die Haut dort etwas dünner und anscheinend irgendwie empfindlicher war und tupfte kleine Küsse auf Metos Schulter.

 

In diesem Moment fühlte sich alles absolut perfekt an, sodass ich mich meinerseits vorwagte, eine Hand zwischen uns schob und versuchte, seine Hose zu öffnen. Seltsamerweise war er noch nicht annähernd so hart wie ich. Ich musste an seine Worte denken: „…bevor mich mein Mut wieder verlässt.“ Was hatte das hier an sich, dass Meto dafür so viel Mut aufbringen musste? War es für ihn echt so schwer?

Doch bevor ich mir weiter Fragen stellen und damit diesen Moment kaputtmachen konnte, sorgte Meto mit einer gezielten Berührung seiner tätowierten Hand an meiner Härte dafür, dass sich mein Verstand wieder verabschiedete und ich laut aufstöhnte. „Oh Gott, Meto … ahh… ich liebe dich!“

 

Seine Reaktion darauf fiel vollkommen aus dem Konzept: Er zog seine Hand aus meiner Hose zurück, brachte Abstand zwischen uns und verspannte mit einem Mal so, dass ich ihn verwirrt ansah.

„Meto…?“, fragte ich, noch leicht keuchend.

Sein Blick zerriss mir fast das Herz. Er sah mich todtraurig und reuevoll an, eine nicht unerhebliche Spur Angst war auch dabei. Ich verstand nicht, konnte nicht verstehen, so sehr ich auch versuchte, mir einen Reim auf seine Reaktion zu machen.

 

„Meto leid…“, flüsterte er, zog sich das Oberteil wieder über, sah mich noch einmal an und verschwand dann aus der Kabine. Außer uns war gerade niemand hier und so hörte ich ihn kurz darauf heftig aufschluchzen, bevor die Tür des Waschraumes hinter ihm zuschlug.

 

Ich stand da wie angewachsen und versuchte noch eine ganze Weile vergeblich, zu verstehen, was gerade passiert war. Stellte mir vor, wie Meto sich weinend durch die Menge nach draußen kämpfte und fing davon selbst an zu heulen. Ich ließ mich auf die geschlossene Toilette sinken, in meinem Kopf spielte sich die ganze Szene eben wieder und wieder durch, suchte nach einem Fehler, den ich wohl gemacht hatte. Es musste meine spontane, durch Erregung ausgelöste Liebeserklärung gewesen sein, die Meto irgendwie furchtbar durcheinander gebracht hatte. Auch, wenn ich nicht die geringste Ahnung hatte, weshalb ein „Ich liebe dich“ ihn derartig aus dem Konzept brachte.

 

Irgendwann stand ich auf und verließ die Kabine, den Waschraum, versuchte die Pärchen auf dem Flur zu ignorieren und kämpfte mich nach draußen durch. Natürlich war Meto längst weg und einen Moment lang überlegte ich, ob ich bei ihm zu Hause vorbeischauen sollte, doch den Gedanken verwarf ich sofort wieder. Es war wohl besser, wenn ich ihn jetzt in Ruhe ließ. Auch, wenn ich eine Erklärung wollte.

 

Ich ging auf einem Umweg nach Hause, wollte nicht riskieren, Meto vielleicht doch noch auf dem Weg oder in Akayama wieder zu treffen, oder am Ende doch noch bei ihm zu Hause zu klingeln.

 

Mit den Nerven vollkommen runter kam ich in meiner Wohnung an und beachtete Sawako kaum, die miauend um meine Beine strich. Ich zog mich aus und ließ mich ins Bett fallen, schlief aber zu meinem Unglück nicht gleich ein. Und ein Gedanke an Metos traurigen Blick, sein reuevolles ‚Meto leid‘ und seinen herzzerreißenden Schluchzer reichte aus, damit mir wieder die Tränen hochkamen. Mit dem Kopf voll verzweifelter Fragen heulte ich mich in den Schlaf.

 

 

Am nächsten Morgen wachte ich auf wie gerädert, kam kaum aus dem Bett. Mein Kopf tat weh und am liebsten wäre ich den ganzen Tag in meinem schön abgedunkelten Schlafzimmer geblieben.

Aber Sawako wollte Futter, wollte gekämmt werden, und so erhob ich mich seufzend und kümmerte mich erst einmal um sie. Doch danach legte ich mich wieder ins Bett und versuchte, doch noch wieder einzuschlafen. Was sich allerdings als unmöglich erwies, obwohl Sonntag war.

Stattdessen sah ich mich trotz meiner Kopfschmerzen gezwungen, über Meto und mich nachzudenken. Ich verstand seine Reaktion auf mein ‚Ich liebe dich‘ einfach nicht, doch allein kam ich überhaupt nicht weiter.

 

Das Einzige, was ich beim Nachdenken herausfand, war: Ich musste mit ihm reden. Nur so ließ sich das, was jetzt zwischen uns stand, irgendwie klären.

Langsam erhob ich mich, zog mich an, machte mich zurecht, wobei ich das Schminken ausfallen ließ, und machte mich dann auf den Weg nach Akayama.

Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich auf den Klingelknopf neben der Tür der Villa drückte und das Schrillen im Haus hörte.

 

Metos Mutter öffnete die Tür. „Oh, guten Morgen, Mia.“ Sie sah mich einen Moment lang abwägend an und sagte dann: „Yuuhei geht es heute nicht so gut, ich glaube nicht, dass er mit jemandem reden will.“

„Deshalb bin ich hier“, gestand ich. „Ich denke, dass ich der Grund bin. Darf ich kurz reinkommen, es ist sehr wichtig, dass er und ich das klären.“

„Du kannst es ja versuchen“, sagte Frau Asakawa und ließ mich ins Haus. „Yuu, Mia ist hier, er will mit dir sprechen.“ Und zu mir: „Geh einfach rauf und klopfe.“

 

Ich ging die Treppe hoch und klopfte mit rasendem Herzen an Metos Zimmertür.

„Meto? Können wir reden?“

„Lass… mich in… Ruhe.“

„Bitte, ich muss einfach wissen, was los ist!“

„Nein!“

„Meto, komm schon! Sag mir doch wenigstens, was das gestern sollte!“

Ich warf einen Blick zurück auf seine Mam, die mich fragend ansah. Anscheinend, und vollkommen nachvollziehbar, interessierte es sie ebenfalls, was mit Meto los war.

„Meto, hör zu“, wisperte ich gegen die fest verschlossene Tür, „wenn du mich jetzt reinlässt, kriegt deine Mam wenigstens nicht mit, dass bei uns irgendwas … anders ist.“

 

Das wirkte. Kurz darauf wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht, Metos ungeschminktes Gesicht erschien in dem schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen, er streckte seine Hand aus und zog mich ins Zimmer.

Vor mir breitete sich das reinste Chaos aus. Klamotten lagen wild durcheinander auf dem Boden, Handtücher, Schuhe. Der braune Teddy mit dem Knopfauge lag zwischen der völlig zerwühlten Bettdecke und wild durcheinandergeworfenen Kopfkissen, und vor dem Schrank stand ein offener Koffer.

„Willst du wohin?“, entfuhr es mir.

Meto reagierte nicht, fing aber an, die herumliegenden Kleidungsstücke einzusammeln und in den Koffer zu packen.

Auf seinem Schreibtisch lag ein Reisekatalog, aufgeschlagen die Seite mit Hotels in der nächsten Großstadt. Anscheinend wollte er wirklich irgendwohin und zwar allein, denn seine Mutter schien nichts davon zu wissen.

 

„Meto?“

Er sah mich an und in seinem Blick lag etwas, dass mich deutlich wissen ließ: Ich würde keine Erklärung für gestern bekommen. Weil er selbst nicht genau wusste, was da mit ihm los gewesen war. Weil er sich selbst nicht verstand und es da etwas gab, was ich nicht wissen durfte.

So viel zum Thema ‚Keine Geheimnisse mehr‘. Und zu Marikos Worten von einem unguten Gefühl. Inzwischen war ich überzeugt, dass ich in eine Geschichte hineingeraten war, die sich als alles andere als harmlos und einfach herausstellte und mir, wenn ich die vergangene Nacht bedachte, schon jetzt einiges abverlangte.

Und trotzdem: Ich blieb. Setzte mich aufs Bett und wartete, bis Meto fertig aufgeräumt hatte und versuchte es dann noch mal: „Ich wüsste nur gern…“

„…Warum… ich dich… erst so …angemacht habe… und dann so… was?“

Ich nickte.

Er setzte sich neben mich, griff sich den Teddy und sagte, ganz leise: „…Ich dachte… weil du das… so sehr wolltest… dass ich… es einfach mache, aber… ich konnte nicht…“

Da hatte ich meine Antwort. Auch, wenn ich vermutete, dass irgendwie noch mehr dahinter steckte, musste ich mich damit jetzt zufrieden geben.

 

„Und du willst jetzt mit einem Mal verreisen?“, fragte ich, um von dem Thema Geheimnisse wegzukommen.

Meto nickte. „Mit Tsu. Meine… Psychologin… sagt, ich soll… was mit ihm… unternehmen… damit er mal weg von… Straße kommt…“

Da war sie wieder, meine Eifersucht. Doch ich bemühte mich nach Kräften, sie zu ignorieren. Eifersucht war einfach kindisch und brachte mich dazu, genau das in Gedanken zu tun, was ich eben nicht wollte: Mich bei Meto und Tsuzuku dazwischendrängen. Eigentlich wollte ich das nicht, doch dank dieses blöden Gefühls wollte ich meinen Angebeteten nur noch für mich allein haben. Innerlich packte ich die Eifersucht in eine Kiste, klebte diese zu und packte einen Stapel dicker Bücher obendrauf, hoffend, sie so in den Griff zu bekommen.

 

„Weiß er’s denn schon?“

Meto schüttelte den Kopf. „Ich… geh gleich zu ihm… und dann …fahren mit dem Zug da hin…“ Er zeigte auf den Katalog auf dem Tisch, ich stand auf und sah mir das Angebot genauer an. Es war ein ziemlich schickes Hotel in der nächsten großen Stadt, das gewisse Ähnlichkeiten mit dieser Villa hatte.

„Das ist schön“, sagte ich. Und dann, einfach weil mir diese Frage einfiel: „Weiß er, dass du hier wohnst?“

„Nein… ich werd’s ihm… dann sagen…“

Also wollte Meto doch langsam, aber sicher, mit den ganzen Geheimnissen aufräumen. Und auch seine Sprache war irgendwie besser geworden, es fehlten weniger Worte und die stockten auch nicht mehr so sehr. Und trotzdem spürte ich, dass da noch eine große Sache war, die er mir nicht sagen konnte. Aber ich beließ es für heute dabei. Wir hatten uns annähernd ausgesprochen und zu viel wollte ich auch wieder nicht von Meto verlangen.

 

„MiA?“, fragte er auf einmal und nahm meine Hand.

„Hm?“

„Ich… will dir …nur sagen…“, begann er, brach dann ab, wurde rot.

„Was willst du mir sagen?“

Er brauchte sehr lange für die Antwort, doch dann kam sie ganz klar und deutlich: „Ich liebe dich auch, MiA. Egal was passiert, hörst du? Ich liebe dich.“

Ich beugte mich vor, nahm sein Gesicht in meine Hände und küsste ihn, so lieb und sanft, wie ich es nur vermochte. Und ließ zu, dass sich seine Worte, die ersten, die er ohne Stocken an mich richtete, in mein Herz prägten. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich sie brauchen würde, denn irgendwas Ungutes kam immer noch auf mich zu.

 

Ich half Meto noch dabei, seinen Koffer zu packen, erfuhr nebenbei, dass der Teddy weiblich war und Ruana hieß, und ein bisschen was über Metos Familienverhältnisse. Er sprach mit jedem Satz ein kleines bisschen weniger stockend, ließ kaum noch Wörter aus. Ich wusste ja nicht, was die Gründe für seine Sprachstörung waren, aber offenbar fühlte er sich mir inzwischen ähnlich nah wie Tsuzuku, dem gegenüber er ja auch ganz fließend sprechen konnte.

 

Gegen Mittag ging ich nach Hause, machte mir dort eine Portion Instant-Ramen und verbrachte den Rest des Tages mehr oder weniger vor Fernseher und Laptop. Zwischendurch spielte ich ein wenig mit Sawako und versuchte vor allem, keine eifersüchtigen Gedanken bezüglich Meto und Tsuzuku aufkommen zu lassen, was mir überraschend gut gelang.

Nachdem MiA gegangen war, ging ich runter zu meiner Mutter und erzählte ihr, dass ich einen Kurztrip in die nächste Großstadt plante. Dass ich vorhatte, mit Tsuzuku zusammen zu fahren, erwähnte ich natürlich nicht, stattdessen sagte ich nur, dass ich eben mit einem Freund aus dem Park verreisen wollte.

„Magst du mir sagen, wie du auf einmal auf so eine Idee kommst?“, fragte Mama.

„Ich… muss was klären… mit diesem Freund…“, antwortete ich. „Und… er hatte …lange keinen… richtigen… Urlaub mehr…“

„Wann bist du denn wieder da?“

„…Übermorgen…“

„Na dann, viel Spaß und pass auf dich auf.“ Mama lächelte und zum ersten Mal seit Langem hatte ich wieder das Gefühl ‚Das ist meine Mama‘. Sie hatte Recht, wir hatten uns voneinander entfernt, und dass sie nun endlich versuchte, das zu ändern, rührte mich schon ein wenig, auch wenn ich im Augenblick viele andere Sorgen im Kopf hatte.

 

Was ich mit Tsuzuku klären wollte? Nun, zuerst einmal hatte ich mich nach dem Gespräch mit Frau Hiranuma dazu entschlossen, dass ich Tsu doch die Wahrheit über meine Herkunft sagen musste.

Zum anderen hoffte ich, dass zwei, drei Tage nur mit ihm und mir vielleicht Klarheit in unser Verhältnis brachten und ich mit meinen seltsamen Gefühlen für ihn aufräumen konnte.

Und dann war da noch die Ahnung, dass er mir ebenfalls etwas Wichtiges zu sagen hatte. Außerdem hoffte ich, dass es ihm einfach guttat, mal für ein paar Tage aus allem rauszukommen und sich ein bisschen zu erholen.

 

„Yuu?“, fragte meine Mutter. „Hast du auch genug Geld dabei?“ Und schon war sie auf dem Weg in unser Wohnzimmer, wo sie in einem Geheimfach im Schrank den stets verfügbaren Teil unseres Bargeldes aufbewahrte.

‚Kann ja nicht schaden‘, dachte ich und nahm das kleine Bündel Geldscheine an, das Mama mir entgegenhielt.

 

Ich ging wieder rauf, in mein Badezimmer, und packte meine Wasch- und Schminksachen zusammen. Dabei blieb mein Blick am Spiegel hängen. Ich sah dezent furchtbar aus, ungeschminkt und mit leichten Augenringen, weil ich ja wegen MiA die halbe Nacht durchgeweint hatte, doch irgendwie fehlte mir in diesem Moment die Lust, mich noch großartig zurechtzumachen. Ich kämmte mir lediglich die Haare und machte ein klein wenig Haarspray rein, um meine Augen würde sich heute meine Sonnenbrille kümmern müssen.

 

Von wegen MiA. Es gefiel mir überhaupt nicht, ihn schon wieder halb angelogen zu haben. Denn natürlich war ‚Ich dachte, weil du das so sehr wolltest, dass ich es einfach mache, aber ich konnte nicht‘ nur ein Teil der Wahrheit.

Dass ich ihn immer wieder vertröstete, warten ließ, heiß machte und dann stehen ließ, hatte nicht nur damit zu tun, dass ich mich irgendwie nicht traute. Zwar stimmte das, ich hatte eine unbestimmte Angst davor, sexuell weiter zu gehen, doch das gestern hatte auch einen zweiten Grund gehabt: Nämlich, wie sollte es anders sein, meine verwirrenden Gefühle für Tsuzuku. In dem Moment, als MiA mir erregt keuchend seine Liebe gestanden hatte, da hatte ich auf einmal an meinen besten Freund denken müssen, an meine Träume von ihm, und das hatte mich furchtbar aus der Bahn geworfen.

Mit einem Mal war ich nur noch traurig gewesen darüber gewesen, dass ich MiA in Träumen und Gedanken sozusagen betrog und es hatte mir unendlich leidgetan, ihm seinen deutlichen Wunsch nach mehr schon wieder nicht erfüllen zu können, weil ich dabei unweigerlich auch an Tsuzuku hätte denken müssen.

 

Ich nahm meine Sonnenbrille vom Board unter dem Spiegel, setzte sie auf und nahm meine Kulturtasche mit in mein Zimmer, wo ich sie in meinem Rollkoffer verstaute.

Dann hievte ich selbigen aus meinem Zimmer, die Treppe runter und verabschiedete mich von meiner Mutter, die in der Küche stand und sich Tee kochte.

„Dein Vater wird sich wundern, dass du spontan verreist bist“, sagte sie und lächelte. „Komm gesund zurück.“

„Hab… Ruana mit, …keine Sorge…“, antwortete ich.

 

Der Weg in den Park dauerte mit dem Koffer im Schlepptau etwas länger als sonst und als ich dort ankam, war Tsuzuku nicht allein. Neben ihm saß ein rosahaariges Wesen, das ich erst auf den zweiten Blick als männlich erkannte, und unterhielt sich mit ihm. Tsu wirkte locker, fast glücklich, und ich fragte mich, wann er diesen Typen, den ich nur einmal von weitem gesehen hatte, näher kennen gelernt hatte.

 

„Hi, Meto! Ich bin Koichi“, begrüßte mich der Fremde, als ich näher kam. Spontan versagte meine Stimme und ich lächelte ihn nur kurz an.

„Was ist denn das?“, fragte Tsuzuku und deutete auf meinen Koffer. „Willst du verreisen?“

Ich kratzte meine Selbstsicherheit und Stimme wieder zusammen und antwortete: „Ja, und zwar mit dir.“

Er sah mich überrascht an. „Mit mir?“

„Ich …dachte… wir fahren mal …ein, zwei Tage… zusammen weg…“ In Koichis Anwesenheit war Sprechen nicht so einfach, weswegen Tsu zum wiederholten Male Zeuge meines Sprachfehlers wurde. Zum Glück ließ ich wenigstens kein Wort aus. „Was… sagst du… dazu?“

„Wie komm ich denn zu der Ehre?“

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und gestand: „Ich muss… dir was sagen, …deshalb… Und ich dachte… tut dir… vielleicht mal gut, …wenn du ein bisschen… raus kommst… aus dem hier…“

Ich glaubte, ein merkwürdiges Schimmern in Tsuzukus Augen aufblitzen zu sehen, doch es war zu schnell wieder weg, als dass ich es hätte deuten können. Er lächelte mich an und sagte: „Das ist wirklich ‘ne gute Idee, Meto.“

 

Koichi stand auf. „Na, dann geh ich mal. Viel Spaß in eurem Urlaub.“

„Wohin fahren wir denn?“, fragte Tsu mich.

Ich nannte den Namen der Stadt und des Hotels und verschwieg zuerst noch, wie teuer dieses Hotel war. Sonst hätte er am Ende noch gleich nachgefragt und ich wollte mir das Geständnis bezüglich meiner Herkunft gern für einen ruhigen Moment aufheben.

 

Ich half Tsuzuku, seine Sachen zusammen zu packen, dann gingen wir zusammen zum Bahnhof und schlossen seinen Schlafsack ein, denn den würde er die nächsten zwei Tage ja nicht brauchen. Anschließend setzten wir uns auf eine der Bänke und warteten auf den nächsten Zug.

Während dieser Wartezeit spürte ich wieder, und deutlicher denn je, dass Tsuzuku irgendwas Wichtiges auf dem Herzen hatte, etwas, das er mir sagen wollte, sich aber offenbar nicht traute. Seine Hand suchte meine, ich ließ es zu und er drückte meine Hand so fest, dass mein Herz wild zu klopfen anfing. Was mich natürlich wiederum verwirrte. Ich wusste noch nicht, wie, aber diese Sache musste auch irgendwie geklärt werden.

 

Als der Zug einfuhr und wir einstiegen, suchten wir uns einen ruhigen Platz, wo wir ungestört reden konnten. Zum Glück war es nicht sehr voll und so fanden wir eine Ecke, in der außer uns nur ein pastellfarben gekleidetes Mädchen saß, das sich allerdings hinter Kopfhörern und einen Buch versteckte.

 

„Sag mal … wer ist denn dieser Koichi?“, fragte ich.

Tsuzukus Antwort war ein strahlendes Lächeln und er erzählte mir, dass Koichi neu im Park war und  er sich tatsächlich mit ihm angefreundet hatte. Er schien glücklich zu sein, sich ein Stück weit geöffnet zu haben, und das wiederum machte mich sehr froh.

Koichi machte einen sehr netten Eindruck und ich spürte, wie ein Stück der Last, die durch die Verantwortung für Tsuzuku auf meinen Schultern gelegen hatte, von mir abfiel. Haruna, Hanako, Koichi. Tsu schien endlich richtig Anschluss gefunden zu haben, ich war nicht mehr der Einzige in seinem Leben, nicht mehr der Einzige, der für ihn sorgen musste, auch wenn ich das nach wie vor gern tat.

 

Ich lehnte mich an Tsuzukus schmale Schulter, schloss die Augen und hörte seinen Herzschlag, das Zeichen, dass er am Leben war. Und er lebte nicht nur, er war sogar glücklich, schien endlich einen Weg zurück ins Leben gefunden zu haben.

Dieser Moment wäre perfekt gewesen, wenn ich nicht weiterhin gespürt hätte, dass da noch etwas war. Etwas, das mich bei genauerem Nachdenken doch sehr beunruhigte.

 

Als der Zug hielt und wir ausstiegen, hielt Tsu weiter meine Hand und auch den ganzen Weg zum Hotel über ließ er sie nicht los. Es schien ihm wirklich gut zu gehen und so ließ ich ihn, zog meine Hand nicht zurück.

 

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Meto!“, rief Tsuzuku aus, als wir schließlich vor dem Hotel standen, das mit seiner edlen weißen Fassade ein wenig Ähnlichkeit mit meinem Zuhause hatte. „Du hast doch nicht wirklich hier drin Zimmer gebucht, oder?“

„Doch“, sagte ich. „Hab ich. Ich dachte mir, wenn wir schon mal wegfahren, dann so richtig.“ Das war wirklich mein Gedanke beim Buchen übers Internet heute Nacht um drei gewesen, wenn auch nicht der Entscheidende. Der wichtigste Grund war, dass ich Tsu in einer Umgebung, die meinem Zuhause ähnelte, die Wahrheit darüber sagen wollte. „Na ja...“, fügte ich noch hinzu, „…eigentlich hab ich auch nicht zwei, sondern ein Doppelzimmer gebucht.“

„Ich fass es nicht…“ Tsuzuku lachte fast. „Das wirst du mir aber noch erklären müssen.“

 

„Das werde ich“, sagte ich und damit stand es endgültig fest. Zumindest in meiner Freundschaft zu Tsuzuku mussten die Geheimnisse jetzt endlich ausgeräumt werden. Nach dem Schock gestern Abend hatte ich die halbe Nacht darüber nachgedacht und mich entschieden. Zwar hatte ich immer noch Angst, meinen besten Freund mit der Wahrheit über meine Herkunft zu verletzen, doch ich hatte keine Wahl mehr, wenn ich mich nicht noch weiter verstricken wollte.

 

An der Rezeption wurde es noch mal schwierig, weil ich reden musste, doch heute schien, was meine Sprechfähigkeit anging, ein guter Tag zu sein, ich schaffte es und kurz darauf hatten wir auch unser Zimmer gefunden.

„So…“, sagte Tsuzuku, als wir nach dem Koffer-Auspacken zusammen auf dem Bett saßen, „…jetzt will ich aber wissen, wie du das hier bezahlst.“

 

‚Jetzt geht’s los‘, dachte ich und suchte nach den passenden Worten, um meinem besten Freund zu erklären, dass ich alles andere als arm war und ihn, was mein Zuhause betraf, angelogen hatte. Ich wollte nach wie vor möglichst vermeiden, ihn irgendwie zu verletzen.

„Tsuzuku… ich hab dir bei einer Sache… nicht ganz die Wahrheit gesagt…“, begann ich und wurde sofort von ihm unterbrochen: „Ach ja? Und bei was?“

 

Mein Herz raste vor Aufregung und ich musste kämpfen, um nicht zu zittern, solche Angst hatte ich.

Augen zu und durch, ich schloss die Augen und platzte mit allem auf einmal raus: „Tsu, ich wohn nicht in Natsukita. Meine Eltern sind auch nicht arm. Wir leben in Akayama in einem ziemlich großen Haus und meine Mutter und mein Vater arbeiten als Anwälte. Ich hab’s dir verschwiegen, weil ich Angst hatte, dass du dich dann schlecht und minderwertig fühlst, und die anderen im Park sollten’s nicht wissen, weil ich dachte, die stecken mich dann in so eine blöde Schublade oder so. MiA hat’s alleine rausgekriegt und … “

Vorsichtig sah ich ihn an, versuchte in seinem Gesicht zu lesen, zu erkennen, ob er jetzt verletzt oder wütend war. Er erwiderte meinen Blick ziemlich lange, sein Ausdruck war unergründlich. Auf einmal stand er auf, griff sich seine Zigaretten und verschwand wortlos auf den Balkon.

Ich blieb wie angewachsen sitzen und kämpfte mit den Tränen. Irgendwann stand ich ebenfalls auf und ging langsam auf die Balkontür zu, traute mich allerdings nicht, Tsuzuku jetzt anzusprechen.

Es kam selten vor, dass wir solche So-was-wie-Streits hatten, normalerweise wusste ich so etwas zu vermeiden, weil ich wusste, wie schwierig Tsuzuku in so einer Situation sein konnte.

 

Irgendwann, nach einer ganzen Weile, nahm ich all meinen verbliebenen Mut zusammen und fragte: „Tsuzuku…?“

Er drehte sich zu mir um, die Zigarette noch zwischen den Fingern, und in seinem Blick war jetzt deutlich zu sehen, dass er enttäuscht von mir war.

„Meto, kannst du mir mal sagen, wieso du mir so wenig vertraust? Warum hast du solche Geheimnisse vor mir?“

„Ich… wollte dich… nicht verletzen…“, stotterte ich.

„Hast du mal dran gedacht, dass es mich vielleicht viel mehr verletzt, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst? Als ob es mir was ausmachen würde, wo du herkommst, ha! Und weißt du, was mich wirklich enttäuscht? Dass du MiA etwas erzählst, worauf ich auch das Recht hätte, es zu wissen.“

Das saß. Es reichte, damit ich endgültig in Tränen ausbrach, und einsah, dass meine Geheimnisse und Lügen mehr kaputtgemacht als geholfen hatten. Tsuzuku schien ernsthaft enttäuscht zu sein und in meiner Aufregung fürchtete ich sogar, dass er mich jetzt vielleicht nicht mehr gern hatte.

 

„Hast du… mich denn… jetzt… noch lieb?“, fragte ich schluchzend.

„Meto, natürlich hab ich dich noch gern, wie kannst du so was denken?! Gerade, weil ich dich so wahnsinnig lieb habe, bin ich jetzt traurig, dass du mich angelogen hast.“ Er nahm noch einen Zug von seiner Zigarette und ließ sie dann vom Balkon fallen. „Und jetzt hör auf zu weinen, du weißt, ich kann so was nicht ab.“

Ich schniefte noch einmal, kramte dann eine Packung Taschentücher aus meinem Koffer und versuchte nach Kräften, zu Weinen aufzuhören. „Tut mir leid…“, flüsterte ich.

„Mach so was einfach nicht wieder, das reicht.“ Das war Tsuzukus Art, zu sagen, dass es jetzt okay war und er mir irgendwie verzieh.

„…Keine Geheimnisse mehr…?“, fragte ich leise.

Tsuzuku nickte. „Keine Geheimnisse mehr. Weißt du, ich hab auch welche, ziemlich große sogar. Ich brauch noch ein bisschen, aber dann werde ich dich darüber aufklären. Versprochen.“

„M-hm…“ Mehr wusste ich nicht zu sagen. Doch was ich ahnte, war, dass er sein in letzter Zeit irgendwie merkwürdiges Verhalten meinte. Das, was mich so beunruhigte, weil er auf einmal so auf Nähe war und immerzu meine Hand halten wollte.

 

Zuerst einmal ließen wir das Thema jedoch wieder sein. Ich schlug vor, dass wir ein bisschen raus gingen, denn die Stadt lag am Meer und vom Hotel war es gar nicht weit bis zum Strand, der zwar nur grau und mit riesigen Wellenbrechern aus Beton ‚verziert‘, aber immerhin am Meer war und zu einem langen Spaziergang einlud. Wir verbrachten den Rest des Tages an diesem Strand, liefen einfach, ohne viel zu reden, nebeneinander her und schauten hin und wieder auf die See hinaus.

 

Später, als es draußen schon langsam dunkel wurde, saßen wir im Restaurant des Hotels, ich aß Kekse, Tsu trank Tee und erzählte mir ausführlicher von Koichi, mit dem er sich wirklich angefreundet zu haben schien. Das erleichterte mich echt ungemein, da Koichi sich offenbar in den Kopf gesetzt hatte, meinen besten Freund in Zusammenarbeit mit Haruna und Hanako vor der Dunkelheit zu schützen. Bis jetzt war das ja allein meine Aufgabe gewesen und mit einem Mal war sie zum großen Teil von meinen Schultern genommen worden.

 

Doch da ich Tsuzuku nach wie vor am nächsten stand, gab es da immer noch diese eine Sache, die mir Frau Hiranuma geraten hatte zu tun: Momente zu schaffen, Erinnerungen, an denen Tsu sich festhalten konnte, wenn es in ihm dunkel wurde. Und ich wollte das gut machen, weshalb ich die ganze Zeit im Hinterkopf darüber nachdachte.

 

„Ich sag’s dir definitiv in den nächsten zwei Tagen“, sagte Tsuzuku auf einmal. „Dann gibt’s keine Geheimnisse mehr zwischen uns.“ Die Art, wie er das sagte, klang so, als müsste er sich mit seinen Worten immer noch selbst davon überzeugen. Also hatte er auch Angst, genau wie ich. Geheimnisse aufzudecken, die man vor dem allerbesten Freund hat, war schwer und da ich’s ja selbst gerade hinter mir hatte, konnte ich gut verstehen, dass er Angst davor hatte.

Ich nickte nur, sagte nichts dazu.

 

Ich bestellte mir noch etwas als Abendessen, Tsu blieb bei seinem Tee und ausnahmsweise ließ ich ihm das kommentarlos durchgehen. Ich spürte, dass er viel zu angespannt war, um auch nur an Essen zu denken, und wollte ja auch nicht zu viel von ihm verlangen.

 

Als es ganz dunkel draußen war, gingen wir rauf ins Zimmer und beschlossen, schon jetzt schlafen zu gehen, obwohl es erst acht war. Aus irgendeinem Grund verschwand Tsuzuku zum Umziehen ins Bad, was mir auffiel, weil er bei unseren Besuchen im Badehaus nie ein Problem damit gehabt hatte, sich vor mir auszuziehen. Mir mit meinen seltsamen Träumen war das jedoch nur recht, zumal ich diese Träume immer noch nicht wirklich verarbeitet und eingeordnet hatte.

Als er schließlich in Shorts und T-Shirt, die eindeutig Unterwäsche und keine Nachtkleidung waren, zurückkam, lag ich schon im Schlafanzug im Bett und wunderte mich, dass er so lange gebraucht hatte. Anscheinend hatte er sich noch gewaschen.

 

Tief seufzend kroch er unter seine Decke und fragte in meine Richtung: „Hach, Meto, hast du eine Ahnung, wie wahnsinnig gemütlich so ein Bett sein kann?“

Ich lächelte. Ja, für ihn musste das hier wirklich paradiesisch sein. Ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und vor allem endlich wieder Privatsphäre. Wahrscheinlich konnte ich reiches Kind mir nicht mal annähernd vorstellen, wie es sich anfühlte, nach zwei Jahren auf der Straße und in ärmlichen Unterkünften endlich wieder in einem luxuriösen Hotelzimmer zu schlafen.

Mit dem sehr zufriedenstellenden Gefühl, Tsuzuku wirklich etwas Gutes getan zu haben, schlief ich schließlich ein.

 

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder wusste, wo ich war, und was mich geweckt hatte. Oder besser gesagt, wer.

Tsuzuku war von seiner Betthälfte zu mir herübergerückt, lag nun direkt neben mir und hatte seinen Arm um mich gelegt. Mein Schlafshirt war wohl hochgerutscht, ich spürte seine große, schlanke, warme Hand auf der Haut, spürte sie vorsichtig tasten, suchen, finden. Ganz offenbar hatte er nicht bemerkt, dass ich aufgewacht war und so streichelte er mich weiter, während ich mich schlafend stellte und in meinem Kopf die Fragen durcheinander schwirrten.

 

Was machte er da? Wieso kam er mitten in der Nacht zu mir und berührte mich so? Und warum fühlte sich das so unglaublich gut an? Waren das meine Gefühle für ihn, die jetzt aus meinen Träumen sozusagen in die reale Welt gekommen waren?

Es war wirklich so, als wären meine Träume von Tsuzuku mit einem Mal wahr geworden. Nur hätte ich nie, niemals gedacht, dass er so etwas wirklich tun würde.

 

Auf einmal hörte ich, ganz leise, seine Stimme: „Ach Meto… Wenn du wüsstest…“

Wenn ich was wüsste?, dachte ich, bemüht, mich weiter schlafend zu stellen, was aber scheiterte, denn in dem Moment schob Tsuzuku mein Shirt ganz nach oben, streichelte mit der Hand über meinen Oberkörper und strich schließlich mit dem Daumen über meine linke Brustwarze.

 

Ich sog scharf die Luft ein vor Schreck und verriet so, dass ich wach war.

Augenblicklich zog Tsuzuku seine Hand zurück. „… Meto?“

Langsam öffnete ich die Augen. Es war nicht ganz dunkel, irgendwo von der Stadt kam Licht herein, und so konnte ich, als ich meinen Kopf nach rechts wandte, Tsuzukus erschrockenes Gesicht sehen.

„… Meto, ich …“, begann er und brach dann wieder ab.

„Was… machst du da?“, fragte ich, ungeschickt vor Verwirrung.

 

Er drehte sich auf den Rücken, blickte eine ganze Weile wortlos zur Decke, bevor er leise antwortete: „… Dir endlich die Wahrheit sagen …“

„Und die wäre?“ Die Worte waren schneller draußen, als ich denken konnte.

Statt einer Antwort war da auf einmal seine Hand auf meinem Bein, ganz oben, innen, wo es schon kribbelte. Genau wie in meinem Traum. War es möglich, dass Tsuzuku … dass er auch in Wirklichkeit so empfand? Dass er sich, von mir unbemerkt, tatsächlich … in mich verliebt hatte? Ich konnte es nicht glauben und doch fiel mir kein anderer Grund für sein Verhalten ein. Warum sonst sollte er mich so berühren? Warum sonst mich so ansehen?

 

„… Fuck, ist das schwer!“, hörte ich ihn leise fluchen, er nahm seine Hand weg und ging auf Abstand.

Ich kratzte meinen letzten Rest Mut zusammen und fragte: „Tsuzuku? Was ist los?“

Er antwortete, jedoch so leise und undeutlich, dass ich nichts verstand. Wieder nahm ich allen Mut zusammen, beugte mich über ihn und erinnerte ihn daran, dass er mir versprochen hatte, mir die Wahrheit zu sagen: „Keine Geheimnisse mehr, Tsu.“

Er nickte, ich sah etwas in seinen Augen aufleuchten, er legte seine Arme um mich, drehte mich auf den Rücken, sodass er jetzt über mir war, und flüsterte: „… Keine Geheimnisse mehr. Und kein Zurück …“

 

Ich wollte etwas erwidern, fragen, was er mit ‚kein Zurück‘ meinte, doch ich konnte nicht, denn keine Sekunde später lagen seine Lippen auf meinen, weich, warm und voller Verlangen, ließen mein Inneres wild flattern.

„Ich liebe dich, Meto“, flüsterte Tsuzuku gegen meine Lippen, küsste mich weiter, während seine Hände leicht zitternd über meinen Körper streichelten. „Ich wollte es dir … erst morgen sagen, aber … ich halt’s einfach nicht mehr aus!“

Das war es also. Wirklich. Deshalb wollte er immerzu meine Hand halten. Deshalb die vielen Umarmungen in letzter Zeit. Weil er mich wirklich liebte.

 

Tsuzuku drückte sich fest an mich und ich bemerkte mit einem kleinen Schreck, dass er ziemlich erregt war, hart und heiß. Und das wegen mir? Ich hatte immer angenommen, dass er hetero war, zumal er mir einmal erzählt hatte, dass er früher Freundinnen gehabt hatte. Doch wie es aussah, war er mindestens bi.

Er unterbrach den Kuss wieder und sagte leise: „Ich hab zu lang gewartet. Ich hätt’s dir viel früher sagen müssen. Jetzt bin ich … so heiß auf dich, … dass ich’s kaum aushalte.“

Seine Worte trieben mir das Blut in die Wangen. Wir hatten kaum je miteinander über Sex gesprochen, einfach weil bisher keiner von uns einen Grund dafür gesehen hatte. Schließlich waren wir bis jetzt wirklich nur beste Freunde gewesen und Tsu hatte das Thema auch nie angeschnitten.

 

Erst jetzt musste ich auf einmal an MiA denken. Daran, wie er mich berührt und mir seine Liebe gestanden hatte. Daran, dass ich ihn liebte, genauso, wie ich Tsuzuku liebte. Dieses ganze Durcheinander aus Liebe tat weh und ich wusste nicht mehr ein noch aus. Ich hatte die furchtbare Wahl zwischen Tsu abweisen und MiA treu bleiben auf der einen Seite, und MiA betrügen, aber meinen besten Freund glücklich machen, auf der anderen.

Und mein Zögern blieb natürlich nicht unbemerkt.

 

„Meto … bitte …“ Tsuzuku sah mich fast flehend an. „Nur diese eine Nacht.“

So hatte ich ihn noch nie erlebt. Fordernd und gleichzeitig unterwürfig bittend, wahrscheinlich halb verrückt vor Erregung und Verlangen. Er lag immer noch auf mir und ich spürte allzu deutlich, dass er sich kaum mehr selbst stoppen konnte. Und doch schien es ihm mehr als gut zu gehen. Das Einzige, was ihm zu seinem Glück heute Nacht noch fehlte, war ich, besser gesagt mein Ja zu ihm.

 

Und da kam mir ein Gedanke, der sich in meinem Kopf, fast schon leise klickend, an mein Vorhaben anhängte, Tsuzuku eine schöne Erinnerung zu schenken: Ich hatte es in der Hand, ob das hier vielleicht die schönste Nacht der letzten zwei Jahre für ihn wurde. Und, was sich für mich wirklich gut anfühlte: Ich hatte die Chance, Tsuzuku zu zeigen, dass sein Körper etwas Wunderschönes war, etwas, das er nicht zerstören durfte. Wenn er begriff, zu welchen schönen Gefühlen sein Körper fähig war, half ihm das vielleicht, sich nicht weiter zu verletzen.

 

Gedankenverloren ließ ich meine Hände unter sein Shirt wandern und streichelte über seine warme Haut, was ihm einen wohligen Seufzer entlockte. Das wiederum fühlte sich für mich so absolut gut und richtig an, dass ich MiA für einen Moment vollkommen vergaß und zuließ, dass Tsuzuku sich noch fester an mich drückte. Ich hörte sein leises Keuchen an meinem Ohr und spürte am ganzen Körper, wie sehr er mich wollte, dass er wirklich langsam die Kontrolle verlor. Ich wusste, ich musste nur zustimmen und er würde sich gehen lassen.

 

Wie auch immer das sein würde, denn diese Seite an ihm war mir völlig unbekannt. Ich wusste weder, was er im Bett mochte, noch, welchen Part er bevorzugte, weil wir wie gesagt nie wirklich über Sex gesprochen hatten. Wenn ich ehrlich war, hatte ich zwischenzeitlich sogar angenommen, er sei durch das Straßenleben so was wie asexuell geworden.

 

„… Bitte …“ Das Flehen in seiner Stimme war unüberhörbar. So kannte ich ihn wirklich nicht und es erschreckte mich.

Und ich konnte ihn nicht länger so bitten und warten lassen. Meine Gefühle für ihn waren ebenso echt wie die für MiA und in diesem Augenblick war Tsuzuku so einnehmend, dass ich nachgab, ohne weiter nachdenken zu können.

 

Ich bedeutete ihm, sich aufzurichten, was er sofort tat, woraufhin ich ihm das T-Shirt auszog und es irgendwohin fallen ließ. Dann zog ich meines ganz aus und spürte augenblicklich seine Fingerspitzen an meinen Nippeln, was mir ein erstes Seufzen entlockte. Ein Seufzen, das einem Ja zu dieser Nacht gleichkam. Ja, ich wollte ihn. Hier und jetzt, ohne einen Gedanken an Morgen. Ich wollte Tsuzuku glücklich machen und ich wollte diese Träume ausleben. Es war eine kopflose Entscheidung, doch ich traf sie und handelte danach.

 

Unvermittelt stand er auf, jedoch nur, um sich ganz auszuziehen, was ich nutzte und ebenfalls meine Hose abstreifte. So weit war ich bis jetzt mit niemandem gegangen und mein Herz klopfte aufgeregt, als Tsu sich wieder zu mir legte, „Kein Zurück“ flüsterte und sich dann auf mich stürzte. Als hätte er mich eine Ewigkeit nicht gesehen oder als wäre ich ein jahrelang erwartetes Geschenk, etwas, das er sich mehr als alles andere auf der Welt gewünscht hatte. Er zitterte, keuchte, seine Hände strichen fahrig über meinen Oberkörper, während seine Lippen liebeshungrig meinen Hals entlang tasteten.  

In meinem Bauch breitete sich ein seltsam angenehmes Ziehen aus, ich schloss die Augen und ließ Tsuzuku einfach machen, bis er sich ein wenig beruhigt hatte. Schwer atmend ließ er sich neben mich sinken, noch immer heiß und erregt, aber nicht mehr ganz so verzweifelt.

 

Ich schaute an mir herunter und entdeckte ein paar rötliche Kratzer auf meinem Bauch. Sie taten nicht wirklich weh und störten mich auch nicht, vielmehr zeigten sie mir, dass sich bei Tsuzuku irgendwas verändert hatte. Dieses Leidenschaftliche, diese Initiative, das kannte ich von ihm einfach nicht. Apathisch, traurig, erschöpft, so hatte ich ihn kennen gelernt. Ich ahnte, dass er früher anders gewesen war, wir hatten jedoch auch darüber nie wirklich gesprochen.

 

„So… kenn ich dich irgendwie… gar nicht“, sagte ich leise.

„Kannst du auch gar nicht“, antwortete Tsuzuku. „Weil, das hier … das ist mein altes Ich. So war ich früher, bevor …“ Er brach ab, wie immer an dieser Stelle.

So war er früher gewesen? So leidenschaftlich, impulsiv und verlangend?

„Und wie… wie kommt das jetzt? Dass du wieder so bist?“, fragte ich.

„Weil ich dich so sehr liebe, Meto. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr es mich drängt, das auszuleben.“  Er sah mich direkt an, mit ganz klaren Augen und ohne das kleinste bisschen Rot im Gesicht. „Und … ein bisschen liegt es auch an Koichi und Haruna. Sie haben mich förmlich gezwungen, dass ich mich wieder mehr öffne.“

 

„Wie lange… fühlst du denn schon so… für mich?“

„Noch nicht lange. Aber die Zeit spielt keine Rolle. Es ist so … wahnsinnig intensiv, dass ich … Ich komme nicht dagegen an und will auch nicht.“ Er beugte sich über mich und streifte mit seinen Lippen ganz sanft über meinen Hals. „Mhmmh… Du riechst gut. Ich könnte dich … von oben bis unten abküssen.“

Mir schoss wieder das Blut in die Wangen. Allein, wenn ich mir vorstellte, diese sinnlichen, weichen Lippen überall zu spüren … Der Gedanke reichte aus, um mir ein leises Seufzen zu entlocken, und als Tsuzuku dann wirklich langsam seine Lippen meinen Hals hinabwandern ließ, wurde ich schon ein klein wenig lauter.

„Gefällt dir das?“, fragte er und lächelte gegen meine Haut.

Ich nickte.

 

Er rutschte ein Stück Richtung Fußende, um besser an meine Brust zu kommen und tupfte zarte, kleine Küsse auf mein Tattoo, immer weiter runter, bis seine Lippen an meinen Nippeln angelangt waren, wo er kurz stoppte, bevor er sie vorsichtig auf die noch weiche Haut drückte und mich damit zum Stöhnen brachte.

Ich hörte Tsuzuku leise lachen und als er einen Moment später meine eine Brustwarze mit seiner gespaltenen Zungenspitze berührte und die andere etwas grober massierte, schrie ich auf. Aber nicht etwa, weil es wehtat, sondern weil es sich unsagbar gut anfühlte. Er verstärkte den Druck seiner Finger, bis es wirklich ein wenig wehtat, doch mein Körper reagierte nicht wie auf normalen Schmerz. Stattdessen wurde das Ziehen in meinem Bauch stärker und es gesellte sich ein angenehmes Kribbeln dazu, wie ich es zuvor noch nie gespürt hatte. Ich seufzte ungewollt laut und mein Körper bog sich dem meines jetzt ehemals besten Freundes entgegen, der dies mit einem Lächeln zur Kenntnis nahm, wie ich es bei ihm noch nie gesehen hatte.

 

„Na sowas …“ Tsu lachte kurz auf. „… Meto steht also auf leichte Schmerzen?“ Und begann, statt seiner Zunge nun seine Zähne einzusetzen. Ich krallte meine Hände ins Bettlaken und schrie wieder auf, aber wieder nicht, weil es unangenehm war. Tsuzuku hatte Recht, ich mochte das, und das heiße Gefühl in meinem Bauch wanderte recht schnell nach unten, um sich in meiner Körpermitte auszubreiten.

 

„Oh ja, und wie du das magst!“, bemerkte er lächelnd und ließ seine Hände langsam abwärts wandern, berührte meine Erregung und begann, sie zuerst sanft, doch dann immer fester zu massieren, was mich hemmungslos stöhnen ließ.

„Mach die Augen auf und fass mich an“, forderte er und ich bemerkte, dass ich meine Augen geschlossen hatte. Sein Oberkörper mit den gepiercten Nippeln bog sich mit entgegen, ich hob die Hände, berührte die zarte, sich unter meinen Fingerspitzen augenblicklich festigende Haut, und das von seiner Körperwärme aufgewärmte Metall. Nun waren es meine Hände, die fahrig und zitternd vor Erregung über seinen schmalen Körper strichen und ihn zum Seufzen brachten. Ich spürte deutlich, wie sehr er es genoss, und dachte, vielleicht war das ja ein erster Schritt dahin, dass er seinen Körper wieder mochte. Auf alle Fälle hatte sich in ihm etwas verändert und so, wie er sich gerade anhörte, wohl nur zum Guten.

 

Es war, als hätte sich um uns eine ganz eigene, weltfremde Sphäre gebildet. Die Außenwelt war nicht wichtig, nichts und niemand außer uns beiden, und dass ich ihn liebte und er mich.

 

Ich musste mich nicht mehr großartig überwinden, die Hand auszustrecken und Tsuzukus Erregung zu berühren. Er stöhnte auf, kniete sich zwischen meine Beine und zog mich zu sich hoch, bis wir nah voreinander saßen und ich ganz leicht an ihn herankam.

„Na komm, fass mich richtig an“, raunte er in mein Ohr und seine schöne Stimme klang so verrucht und erregt, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.

Wieder streckte ich die Hand aus und umfasste seine Härte, massierte sie vorsichtig und lauschte seinem Stöhnen. Sein Kopf sank an meine Schulter, seine eine Hand schenkte meinen Nippeln Aufmerksamkeit, während die andere sich liebevoll und fordernd zugleich mit meiner Erregung befasste, was mich ebenfalls stöhnen ließ.

 

Es war einfach nur schön. Nah, intim und erregender als jeder Traum. Es gab nur noch Tsuzuku und mich, unsere erregten Körper und diese seltsame, neue Liebe zwischen uns. Seine weichen Lippen an meinem Hals, seine schlanken Hände auf meiner Haut, sein erwartungsvoll bebender Körper so nah an meinem …

 

Das heiße Ziehen in meinem Bauch wurde stärker, je fester er meine Erregung massierte, je unvorsichtiger er wurde, und als er mich keuchend bat, auch ihn fester anzufassen, dachte ich zum ersten Mal in dieser Nacht: „Gleich komm‘ ich!“

Er spürte, dass ich kurz davor war und stöhnte: „Warte bitte … noch einen Moment … ahh! ... Ich will…. mit dir zusammen … kommen …“

 

Ich versuchte, mich zu beherrschen und trieb ihn gleichzeitig mit immer schnelleren Bewegungen meiner Hand dem Höhepunkt entgegen, während seine Hand an mir noch fester zu griff und das Ziehen in meinen Bauch immer weiter verstärkte.

Er ließ sich gegen mich sinken, meine Hand verlor für einen Moment den Kontakt zu ihm und ich fiel rückwärts ins Kissen, Tsuzuku auf mir. Er drückte sich fest an mich und hauchte atemlose Küsse auf meine Nippel, was mir den Rest gab und mich aufschreiend kommen ließ. Im selben Moment spürte ich, wie Tsuzukus Körper ebenfalls unter einem heftigen Höhepunkt erbebte. Er stöhnte laut und krallte in meine Seiten, was mir einen weiteren Schrei über die Lippen trieb.

 

Schwer atmend blieben wir eine Weile so liegen, ich spürte, wie unsere Herzen das Blut durch unsere Körper hämmerten und Tsuzukus Atem auf meiner schweißnassen Haut.

„Ich liebe dich, Meto“, sagte er leise und ich antwortete: „Ich dich auch.“

Er erhob sich langsam, griff nach der Box Taschentücher auf dem Nachtschrank und begann dann, sich und mich von der weißlichen Sauerei zwischen uns zu befreien. Und ich sah ein wenig verwundert hin, als ich seine gespaltene Zunge auf meinem Bauch spürte, die die Reste ableckte.

„Was …?“

Tsuzuku lächelte, dieses eine Lächeln, das mir so neu war, und sagte: „Du schmeckst gut.“

Ich antwortete nicht, sondern lächelte halb zurück und ließ ihn machen. Was sollte ich auch sagen? Diese neue Seite an ihm, die wohl ein Teil seines alten Ichs war, war noch so ungewohnt.

Kurz darauf sank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als ich aufwachte, lag Meto in meinen Armen. Ich spürte seinen Herzschlag, lauschte seinem ruhigen Atmen und erinnerte mich an das, was wir in der Nacht zusammen getan hatten. Es war so unsagbar schön gewesen, hatte mich unbeschreiblich glücklich gemacht und mich einem alten Lebensgefühl, das ich schon fast vergessen hatte, wieder näher gebracht. Ich fühlte mich schwebend und wie in einer Sphäre, in der es nur Meto und mich gab, als wäre die Welt ausgeschlossen. Und als wären wir eins, auf eine Art, die nur uns gehörte.

 

Zwar hatten wir nicht wirklich miteinander geschlafen, doch ich hatte, im Gegensatz zu meinen Beziehungen früher, nicht das unbedingte Verlangen danach gehabt, in ihn einzudringen. Es wäre mein erstes Mal mit einem Mann gewesen.

Nein, es hatte auch so gereicht, wir waren zusammen gekommen und ich hatte herausgefunden, dass er leichten Schmerz mochte, was meiner doch ein wenig sadistisch veranlagten Seite im Bett sehr entgegenkam. Auch diese Seite von mir hatte ich fast vergessen. Sie war Teil meines alten Ichs, das nun dank Koichis aufdringlichen Bemühungen wieder ans Licht trat.

Nach zwei Jahren fand ich nun langsam zu mir selbst zurück, und auch, wenn ich früher alles andere als perfekt gewesen war, fühlte es sich gut an. Impulsiv, selbstbewusst, im Bett leicht sadistisch, in gewisser Weise offenherzig, ja, das war ich, wie ich mich von früher kannte. Nicht unbedingt nett und im klassischen Sinne gut, aber eben ich.

 

Meto redete im Schlaf irgendwas Unverständliches und ich sah ihn an, betrachtete sein hübsches Gesicht, das ungeschminkt so unschuldig und doch gleichzeitig sexy aussah. Am liebsten hätte ich ihn geküsst, wollte ihn aber nicht wecken und aus einem schönen Traum reißen.

Er wusste jetzt, wie sehr ich ihn liebte, und es tat sehr gut, das nicht mehr vor ihm verbergen zu müssen. Am Ende hatte es fast wehgetan, ihm nicht so nah sein zu können, wie ich gewollt hatte. Doch nun war mein Begehren gestillt worden.

 

Und da fiel mir etwas ein, das bisher irgendwie nicht wichtig gewesen war, und mich wunderte, dass es mich bisher so wenig interessiert hatte: Metos wahrer Name. Den ich immer noch nicht kannte. Obwohl wir uns so nah standen, kannten wir uns nur als Meto und Tsuzuku. Er wusste auch nicht, dass ich eigentlich Genki Aoba hieß, denn dieser Name hatte nach Mamas Tod für mich den Sinn verloren.

 

Vorsichtig, um Meto nicht zu wecken, ließ ich ihn los und erhob mich, was mir durch die Kühle im Zimmer eine Gänsehaut bescherte. Ich zog mir meine auf dem Boden liegenden Schlafsachen wieder an und ging dann zu Metos Koffer, wo ich in einem Seitenfach seinen Geldbeutel mit dem Ausweis fand.

Yuuhei Asakawa. Das war also sein Name. Daneben das Foto eines schwarzhaarigen Jungen, der auf den ersten Blick so gar nichts mit meinem Meto gemeinsam hatte. Erst, als ich genauer hinsah, erkannte ich ihn wirklich darin wieder und warf einen kurzen Blick zum Bett, wo er weiter friedlich schlief, die türkisblauen Stirnhaare wirr im Gesicht und mit dem silbern blitzenden Tunnel im Ohr.

 

Ich dachte an das, was er mir gestern gestanden hatte. Dass er mich, was seine Herkunft betraf, angelogen und mir jetzt endlich die Wahrheit gesagt hatte, darüber, aus welchen Verhältnissen er wirklich kam. Ich war schockiert und enttäuscht gewesen, aber nicht darüber, dass er ein Kind reicher Eltern war, sondern weil er das vor mir verheimlicht und mich so aus einem großen Teil seines Lebens rausgehalten hatte. Und dass er offenbar MiA lange vor mir davon erzählt hatte.

Warum hatte er es ihm, aber nicht mir gesagt? Wieso hatte er geglaubt, mir das nicht anvertrauen zu können? Hatte ich etwa so labil gewirkt, dass er mir nicht zugetraut hatte, damit klarzukommen?

 

Ich steckte Ausweis und Geldbeutel zurück und legte mich wieder zu ihm ins Bett. Meinetwegen konnte der ganze Tag heute so gemütlich werden. Ich genoss den Luxus hier in vollen Zügen und kuschelte mich tiefer unter die weiche, warme Decke, ganz nah an meinen Liebsten.

Sein Körper strahlte eine so liebevolle Wärme aus, ich legte meinen Kopf auf seine Brust und lauschte seinem Herzschlag. Er klang so ruhig und sicher, ganz anders als meiner, den ich immer als schwach und unstet wahrnahm. Sehr wahrscheinlich war meine Wahrnehmung falsch und mein Herz schlug genauso stark und gleichmäßig wie Metos, doch im Gefühl war es eben oft anders.

Ich fühlte mich in diesem Moment so sicher, als sei all das andere, die Bulimie und dass ich mich selbst verletzte, in einer anderen Welt, in einem anderen Leben. Und ich mochte nicht daran denken, dass beides zurückkehren würde.

 

„Ich liebe dich“, kam es leise, mehr unbewusst, über meine Lippen, und ich erschrak ein wenig, als er antwortete: „Ich weiß, Tsuzuku.“

Offenbar hatte ich schon wieder nicht mitbekommen, dass er aufgewacht war. Ich war immer so in Gedanken und Gefühlen versunken, dass ich nicht viel mitkriegte.

Ich richtete mich auf, beugte mich über Meto und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, ganz vorsichtig und anders als der heftige Kuss der letzten Nacht. Er hob die Hand und strich über meinen Hals, lächelte mich an. Ich versank förmlich in seinen dunklen Augen, küsste ihn wieder, strich mit den Fingerspitzen zärtlich über das ‚Baby‘ auf seiner Haut und wollte mehr, nichts als mehr.

 

Doch er schüttelte den Kopf. „Wir sollten aufstehen, meinst du nicht? Ich hab Hunger.“

„Ich nicht“, antwortete ich, da ich schon beim Gedanken an Essen wieder Angst bekam. Doch mein Körper schien das anders zu sehen und so verriet mein knurrender Magen, dass ich seit gestern Morgen nichts außer dem Tee am Abend zu mir genommen hatte.

„Tsuzuku, bitte. Für mich. Ich kann das nicht mehr mit ansehen.“

Mit einem Schlag war meine gute Stimmung weg. Wenn ich an Essen dachte, wurde mir immer erst mal sofort übel. Ich wusste, darauf folgte ein hirnloser Heißhunger, gefolgt vom Brechen, und so machte mir schon diese Übelkeit Angst.

„Unten ist ein riesiges Buffet, du musst dir ja nicht viel nehmen. Ich will nur, dass du ein bisschen was isst. Bitte.“

Buffet. Nicht gut. Ich sah mich schon davor stehen, mir viel zu viel auf den Teller tun, dann der Heißhunger …

„Tsu, komm jetzt, steh auf, geh duschen und dann gehen wir runter und du isst was. Du schaffst das schon.“ 

 

Langsam erhob ich mich und ging ins Bad. Es war mehr als luxuriös, für mich vollkommen ungewohnt. Ich kannte seit zwei Jahren nur die Duschräume im Badehaus, diese halb-öffentlichen Nasszellen, die man hiermit fast gar nicht vergleichen konnte. In der Dusche standen weiß-goldfarbene Flaschen mit duftender Seife und es gab weiche, neue Handtücher.

Ich zog mich aus, stieg in die Dusche und stellte den Duschkopf genauso ein, wie ich es mir am schönsten vorstellte. Heißes Wasser, weich auf meiner Haut, innerhalb von Sekunden stand ich in einer dichten Dampfwolke. Einfach herrlich. Sollte ich jemals aus dem Loch namens Straße wieder rauskommen, würde ich jede Dusche so genießen, mich wieder selbst schön machen, wieder Visual Kei tragen, … mich wieder schön fühlen. Eine ganze Weile blieb ich so unter dem heißen Wasser stehen und genoss es einfach.

 

Ich seifte mich von oben bis unten gründlich ein, atmete den rosigen Duft der Seife ein und blieb einen Moment so stehen, sah an mir runter. Und zum ersten Mal, es fiel mir wie Schuppen von den Augen, sah ich wirklich, wie dünn ich eigentlich war. Sah die Knochen, über denen sich meine tätowierte Haut spannte, und wie dünn meine Beine waren. Das war nicht gut, ganz und gar nicht. Ich wusste nicht, wie wenig ich genau wog, aber in diesem Moment war mir klar, dass es definitiv zu wenig war. Und ich wusste, dass ich das irgendwie ändern musste.

 

Ich spülte die Seife ab und sah mich dann noch einmal an. Irgendwas in meinem Kopf hatte sich soeben verändert, fühlte sich jetzt anders an. Ich hatte einen Moment der Erkenntnis gehabt, vielleicht den ersten Schritt in eine andere Richtung.

Ich nahm von dem ebenfalls gut duftenden Shampoo, verteilte eine großzügige Menge davon in meinen schwarzen Haaren und schloss die Augen, während ich mir die Haare wusch und es in meinem Kopf ratterte auf der Suche nach irgendetwas, was mich mit der eben gewonnenen Erkenntnis weiterbrachte.

Der erste Schritt würde sein, dass ich gleich mit Meto zusammen runter zum Essen ging, mir ein bisschen was von Buffet nahm und es ganz normal aß, um es dann auch bei mir zu behalten.

‚Du schaffst das, Tsuzuku‘, sagte ich mir, und es fühlte sich so gut und richtig an, dass ich lächeln musste, während ich den Schaum aus meinen Haaren spülte und anschließend heftig den Kopf schüttelte, dass die Tropfen nur so flogen.

 

„Alles okay?“, fragte Meto von draußen. „Du brauchst so lange.“

„Ja, alles gut“, antwortete ich, wickelte eines der himmlisch weichen Handtücher um meine Hüfte und trocknete mir mit einem anderen die Haare. Ich fühlte mich so gut und sauber wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Das hier war doch etwas ganz anderes als das Badehaus. „Mir geht’s richtig gut.“ 

„Lass dir ruhig Zeit“, sagte Meto. „Ich warte so lange. Kannst meine Sachen mitbenutzen.“

Darauf hatte ich nur gewartet. Ich nahm mir alles, was ich brauchte, aus seiner Kulturtasche und begann damit, mich mal wirklich richtig schön zu machen, mit Eincremen, ausgiebiger Körperrasur, Schminke und allem, was mir an Kosmetikzeug in die Finger kam. Es war fast wie ein kleiner Rausch und als ich schließlich damit fertig war und wartete, dass der schwarze Lack auf meinen Nägeln trocknete, klopfte Meto wieder, nun wohl doch etwas ungeduldig, an die Tür und fragte: „Was machst du denn da drin so lange?“

Ich schloss die Tür auf und musste grinsen, als ich Metos erstauntes Gesicht sah.

„Ich dachte, ich mach mich mal wieder so richtig hübsch“, sagte ich.

Meto strahlte mich an. „Du siehst wunderschön aus, Tsuzuku.“  

 

Während ich dann wartete, dass mein Liebster mit Duschen fertig wurde, zog ich mich an und stellte fest, dass mir Jeans und Pullover auf einmal nicht mehr reichten. Ich wollte mehr, wollte mich wieder schön anziehen wie früher, wollte wieder Netzhemden, Lackleder und lange Mäntel. Zwar war dieser Wunsch in Anbetracht der Tatsache, dass ich nicht sehr viel mehr besitzen konnte als das, was in meine Tasche passte, ziemlich utopisch, doch er sagte mir, dass ich mich soeben auf einen guten Weg begeben hatte.

 

Als Meto dann schließlich, ebenfalls geschminkt und mit lackierten Nägeln, aus dem Bad zurückkam, hatte ich mich innerlich so weit, dass ich glaubte, der Problemsituation namens Frühstück beinahe gelassen entgegentreten zu können. Ich war ja nicht allein und wo ich jetzt erkannt hatte, wie gravierend mein Problem war, musste ich doch eigentlich in der Lage sein, etwas dagegen zu tun.

 

Zusammen gingen wir runter und schon bevor wir das Restaurant erreichten, stieg mir der Geruch von Rührei und Toast in die Nase. Augenblicklich ging in meinem Kopf der Streit zwischen Angst und Heißhunger los, dessen Ausgang darüber entschied, ob ich es dieses Mal schaffte, halbwegs vernünftig zu essen. War ich eben noch einigermaßen sicher gewesen, das schon irgendwie zu schaffen, so fühlte ich mich jetzt wieder so schwach wie eh und je.

Meto schien zu bemerken, dass in meinem Kopf wieder einmal Krieg herrschte, nahm meine Hand und drückte sie fest.

Ich dachte angestrengt an den Moment vorhin unter der Dusche, an die Erkenntnis, dass ich etwas gegen meine Essstörungen tun musste, doch je näher wir dem Essen kamen, umso größer wurde meine Angst und auch die Übelkeit nahm wieder zu. Am liebsten wäre ich wieder aufs Zimmer verschwunden, hätte mich im Bett unter Kissen und Decken vergraben, um den ganzen Tag nicht mehr raus zu kommen.

 

„Tsu? Alles okay?“, fragte Meto leise, hielt weiter meine Hand.

Ich nickte tapfer, obwohl es in mir alles andere als gut aussah. Doch das Zittern meiner Hände verriet mich.

„Ist dir wieder schlecht?“

„M-hm.“

„Aber du musst was essen! Wie wär’s denn, wenn ich einfach was nehme und du kriegst was ab? Ist das vielleicht besser?“

Wieder Nicken meinerseits. Diese Idee nahm ein bisschen Druck weg. Ich hatte ja schon Panik davor, mir irgendwas vom Buffet aussuchen zu müssen.

 

Inzwischen hatten wir das Restaurant erreicht. Ich hielt die Luft an, um vom Geruch des Essens nicht völlig erschlagen zu werden und wagte einen ersten Blick auf die luxuriös aufgebaute Theke, wo sich das Essen förmlich stapelte. Mein Herz raste, ich spürte ein unangenehmes Zittern im Bauch und gleichzeitig einen wahnsinnigen Hunger, dem ich jedoch keinen Meter über den Weg traute.

„Was magst du denn?“, fragte Meto.

„Nichts, such du aus“, antwortete ich, immer noch versuchend, nicht zu tief zu atmen. Meto musste meine Hand loslassen, um sich etwas vom Buffet auf seinen Teller zu tun und so stand ich mit einem seltsam einsamen Gefühl vor der Theke, die angefüllt war mit dem Inhalt meiner Albträume.

Ich schloss die Augen und atmete versuchsweise etwas von der nach Rührei und Bacon duftenden Luft ein. Augenblicklich wurde mir schwindlig und ich musste mich mit beiden Händen an der Stahlstange festhalten, die vor der Theke angebracht war, damit man seinen Teller darauf abstellen konnte.

Gerade noch rechtzeitig tippte Meto mir an die Schulter und deutete auf einen freien Tisch. „Komm, da ist Platz.“

Ich ließ leicht schwankend die Stange los und folgte ihm zu dem Tisch, der ein bisschen ablegen war.

 

„Geht’s?“, fragte er, als wir saßen und der Teller mit Brötchen, Aufschnitt und Butter zwischen uns stand. Ich nickte und sah das Essen wie etwas Fremdes an, nicht wie notwendige Nahrung. Der Streit zwischen Angst und Heißhunger wurde immer heftiger und der Schwindel nahm zu.

„Tsuzuku?“

„Hm?“

„Wie geht’s dir?“

„Ich hab Angst“, brachte ich heraus. „Und Hunger, aber dem trau ich nicht.“

Meto griff nach dem ersten Brötchen, schnitt es in zwei Hälften und riss von der oberen ein Stückchen ab, hielt es mir hin. Mein Magen zog sich vor Hunger schmerzhaft zusammen, schließlich hatte ich seit zwei Tagen nicht mehr wirklich gegessen, nur Tee und Wasser und ein paar Kekse. Und das Verlangen nach Nahrung wurde immer stärker.

„Mund auf, Tsu“, sagte Meto und hielt mir das Fetzchen weißen Brotes unter die Nase. Ich öffnete vorsichtig meine Lippen und biss ein winziges Stück ab, das sich jedoch so trocken nur schwer schlucken ließ, sodass ich husten musste.

 

„Ist Butter okay?“, fragte er und als ich zögerlich nickte, strich er ein wenig davon auf das Stückchen und hielt es mir dann wieder hin. Mit dem glatten Fett darauf ließ sich das Brötchen besser schlucken, doch sobald ich es runtergeschluckt hatte, überrollte mich eine heftige Welle aus Angst und der Schwindel kam zurück.

„Möchtest du was trinken?“, fragte Meto, als er es bemerkte, stand auf und kam wenig später mit zwei Gläsern Wasser zurück. Ich nahm das eine und nippte vorsichtig daran, doch die kalte Flüssigkeit tat mir überraschend gut und spülte den Geschmack der Butter aus meinem Mund, sodass ich wieder halbwegs klar denken konnte.

„Du kannst fast keinen Geschmack mehr ab, oder?“, fragte Meto nach einer Weile. „Und vom Geruch von Essen wird dir schwindlig?“

Ich nickte nur, war auf einmal derjenige von uns, dem das Sprechen schwer fiel. Mein Bauch schmerzte vor Hunger, doch gleichzeitig schien er schon diesen winzigen Bissen, den ich soeben zu mir genommen hatte, wieder loswerden zu wollen.

„Deshalb isst du auch die Nudeln ohne das Pulver, stimmt’s?“

Wieder nickte ich. Er hatte ja Recht: Ich ertrug jeden auch nur ein wenig zu intensiven Geschmack nicht mehr, und der Geruch von Essen löste in mir diesen Krieg aus. Ich war schon früher ein bisschen so gewesen, wählerisch und so, doch mit dem Beginn meines Selbsthasses hatte sich das derartig verstärkt, dass ich in diese Bulimie geschlittert war.

 

Zwar stand unser Tisch relativ weit weg vom Buffet, doch der ganze Raum war angefüllt mit diesem Duft nach Ei, Toast und Bacon. Ich hasste es, und gleichzeitig hatte ich so schrecklichen Hunger, dass ich am liebsten etwas davon geholt und gegessen hätte. In einem Versuch, das irgendwie abzuschirmen, hielt ich mir die Hand vor die Nase, doch auch das brachte nicht viel.

Dazu kam, dass an einem Tisch in unserer Nähe eine Gruppe Gäste saß, die Meto und mich schon seit einer ganzen Weile kritisch musterten und eindeutig tuschelten.

Wie in einer Art Spirale schraubten sich der Krieg in meinem Kopf, mein Hunger und der Druck durch das Getuschel der Leute immer weiter hoch, bis es mir schließlich zu viel wurde. Ich sprang auf und lief aus dem Restaurant, fand schnell den Weg zu den Toiletten und schloss mich in die erstbeste freie Kabine ein.

 

Es kostete mich meinen letzten Rest Kraft, jetzt nicht den Deckel hochzuklappen und mir das bisschen Brötchen und Wasser wieder abzuringen, doch ich schaffte es irgendwie und blieb so sitzen, den Kopf auf die Hände gestützt und mit einem fürchterlichen Schwindel im Kopf.

„Tsuzuku?“, hörte ich wenig später Metos Stimme leise fragen. „Bist du hier?“ 

„Ja…“, antwortete ich schwach, erhob mich und schloss die Tür wieder auf, setzte mich dann wieder hin. Meto kam rein, hockte sich vor mich hin, sah mich an und fragte: „So schlimm?“

Ich nickte.

„Woran lag’s?“

„…Es war einfach zu viel. Die Leute und das Essen und alles.“

„Du meinst diese Idioten vom Nachbartisch? Oder weil’s so nach Essen roch?“

„Beides.“

„Aber du hast jetzt nicht gebrochen oder so…?“

Ich schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf. „Nein.“

Meto nahm meine Hände und sah mir in die Augen. „Tsu, du wirst jetzt aber nicht aufgeben. Ich geh zum Tisch zurück, hol das Brötchen und dann isst du das auf dem Zimmer, okay?“

Ich nickte zögernd. Es war nur ein kleines, weißes Brötchen, und trotzdem hatte ich in diesem Moment eine ziemlich große Angst davor.

 

Als wir dann wieder auf dem Zimmer waren, nahm ich den Kampf gegen die Angst wieder auf. Ich schaffte, jetzt, wo mich niemand außer Meto beobachtete, tatsächlich die obere Hälfte des Brötchens mit ein klein wenig Butter, doch mehr nicht.

„Siehst du, du kannst es doch“, sagte Meto. „Komm, wir gehen ein bisschen raus, wieder ans Meer.“

 

Wir gingen wieder am Strand entlang. Das Wetter war trüb und so waren kaum andere Leute da. Meto hielt meine Hand und wenn wir stehen blieben, um aufs Meer zu schauen, legte er seinen Arm um mich. Der Wind war kalt und ich fror, aber das machte mir wenig aus. Ich war daran gewöhnt.

Es ging langsam wirklich auf die kalte Jahreszeit zu und irgendwann begann ich, mir Gedanken darum zu machen, wie und wo ich den Winter verbringen sollte. Ich wollte nicht in die Unterkunft, dort hatte ich den letzten Winter verbracht und die vielen Menschen dort hatten mich oft genug an die Grenzen meiner Nerven gebracht. Ich wusste zwar nicht, wohin ich sonst sollte, aber immerhin hatte ich eine Vorstellung davon, was ich nicht wollte.

 

„Woran denkst du gerade?“, riss mich Meto aus meinen Gedanken.

„Daran, dass ich nicht wieder in diese Unterkunft will“, antwortete ich.

„Aber wohin dann?“

„Ich weiß nicht.“

„Am liebsten hättest du wieder ‘ne kleine Wohnung, oder?“, sprach er die utopischste Lösung meines größten Problems aus. Ich nickte, sagte nichts, wusste nicht, was ich dazu auch hätte sagen sollen. Es war klar, dass ich wieder eine Wohnung wollte, doch ebenso unmöglich. Ich besaß ja nicht einmal mehr genug Geld, um mir selbst Kleidung zu kaufen. Und den Überblick über die Summe, die ich Meto und auch den anderen im Park, die mir ab und zu Geld liehen, schuldete, hatte ich inzwischen auch verloren.

 

Ich war insgesamt wirklich tief gesunken und mit einem Schlag wurde mir das klar. Ich dachte an früher, daran wie ich damals gewesen war und dass ich kaum einen Gedanken an meine Zukunft verschwendet hatte. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass ich mal auf der Straße landen würde. Aber wer dachte auch an so was? Ich hatte nur Visual Kei, Musik, Bodyart und Sex im Kopf gehabt, mich mit meiner Verwandtschaft zerstritten, und meinen Stimmungsschwankungen hingegeben. Inzwischen wusste ich so vieles besser und sollte ich jemals wieder in ein halbwegs normales Leben zurückfinden, das schwor ich mir in diesem Moment, würde ich einiges besser machen.

Ein neues Leben, zusammen mit Meto.

 

Ich sah ihn an, wie er geistesabwesend aufs Meer hinausblickte, zog ihn zu mir und legte meine Lippen auf seine. Außer uns war niemand hier und so ließ ich meiner Leidenschaft freien Lauf, küsste meinen Liebsten mit meiner ganzen Liebe und Zärtlichkeit. Ich liebte ihn wahnsinnig, es war fast zu viel für mein Herz, das davon beinahe wehtat.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich gegen seine Lippen, bevor ich ihn wieder küsste, immer weiter, an seinem Schal zog, meine Küsse auf seinen Hals ausdehnte.

„Tsu…zuku … mmmhh…“ Er legte den Kopf in den Nacken, sodass ich besser an seine Haut kam.

Ich wollte mehr, ins Hotelzimmer zurück, obwohl es mitten am Tag, noch nicht mal früher Abend war. Wollte ihm die Kleider vom Leib reißen, seine Haut heiß auf meiner, seinen Herzschlag spüren.

 

Auf einmal schob Meto seine Hände zwischen uns und stieß mich von sich. In seinen Augen stand eine Mischung aus Angst und einem mir unerklärlichen Schmerz.

„Tsu … ich … tut mir leid …“, stotterte er, drehte sich um und lief in Richtung der Stadt zurück.

Ich rannte ihm hinterher, holte ihn ein und packte ihn an den Schultern.

„Meto, was ist?“

„Nichts, ich … ich weiß nicht … ich hab auf einmal Angst gekriegt.“ Er wirkte so verwirrt und verängstigt. Hatte ich irgendwas falsch gemacht? War ich in meinem Rausch, meiner Sehnsucht nach seiner Nähe zu drängend gewesen?

„Mir tut’s leid“, sagte ich, nahm schließlich an, dass er einfach nicht in der Öffentlichkeit so rummachen wollte. Meto war nun mal anders als ich, nicht so offensiv und leidenschaftlich.

 

Wir gingen ins Hotel zurück, aufs Zimmer und ich als erstes mit meinen Zigaretten auf den Balkon. Es war nur noch eine in der Packung und einen Augenblick lang widerstrebte es mir, sie jetzt aufzurauchen, doch ich brauchte das jetzt, um meine Aufregung und Sehnsucht in den Griff zu bekommen. Viel zu schnell war sie weg und damit meine letzte Notration dieses Beruhigungsmittels.

 

„Ich geh runter, hab Hunger“, sagte Meto, seine Stimme klang ein wenig belegt.

Ich blieb auf dem Balkon. Allein der Gedanke an Essen machte mir wieder Angst, obwohl ich immer noch Hunger hatte. Ich spürte eine starke Anspannung im Körper und nur allzu bald fiel mir eine Möglichkeit ein, diese Spannung abzubauen. Meine Schritte trugen mich wie von selbst auf Metos Koffer zu, ich kramte darin herum, auf der Suche nach meinem Messer, hoffend, dass er es eingepackt hatte. Doch ich fand es nicht. Wahrscheinlich lag es bei ihm zu Hause.

 

Ich ging ins Bad, sah die Rasierklingen in Metos Kulturtasche liegen und war schon drauf und dran, eine zu nehmen und mich wieder einmal absichtlich selbst zu verletzen. Doch als ich die Klinge in der Hand hatte, musste ich auf einmal an die letzte Nacht denken, daran, wie schön es gewesen war und wie wahnsinnig gut sich mein Körper dabei angefühlt hatte. Und da konnte ich es nicht mehr. Hatte auf einmal Hemmungen, mich zu schneiden, weil ich meinen Körper spürte und wieder wusste, dass es nicht okay war, ihn kaputt zu machen. Und dass es auch Meto verletzen würde, wenn ich mir wehtat. Weil er mich liebte.

 

Diese Einsicht, dass ich mir nicht wehtun durfte, war unheimlich stark und in dieser Form spürte ich sie zum ersten Mal, obwohl es durchaus schon genug Situationen gegeben hatte, in denen ich das ebenfalls hätte erkennen können. Doch anscheinend hatte es diese kleine Reise hier gebraucht, damit ich das endlich ansatzweise kapierte.

 

Die Anspannung blieb jedoch, ich musste sie anders lösen. Ich ging ins Zimmer zurück, nahm eins der Kissen vom Bett und schrie mit aller Kraft hinein. Danach ging es mir etwas besser, doch ich spürte auch meinen Hunger wieder.

 

‚Du musst was essen‘, dachte ich und kramte eine Packung Nudeln aus meiner Tasche. Trocken, fad, eigentlich vollkommen langweilig und doch das einzige, was ich zurzeit vertrug. Ich schaffte nicht viel davon, aber als Meto zurückkam und mich essen sah, schien wenigstens er ein bisschen zufrieden damit zu sein.

 

Ich sah ihn an, mein Blick wanderte über seinen ganzen Körper und wieder verspürte ich den augenblicklichen Wunsch, ihm die Kleider vom Leib zu reißen, mit ihm ins weiche, weiße Bett zu sinken und ihn meine ganze Liebe und Leidenschaft spüren zu lassen. Jetzt, wo ich es einmal getan hatte, war meine Hemmschwelle noch niedriger und das Kino in meinem Kopf wurde wohl zunehmend offensichtlich, denn Meto sah mich ein wenig seltsam an.

„Tsu? Alles klar?“, fragte er.

Ich riss mich zusammen, antwortete: „Äh… ja, alles okay“ und kam doch nicht ganz von diesen Gedanken los. Um mich abzulenken, sah ich auf die Uhr, die an der Wand gegenüber dem Bett hing. Sie zeigte fünfzehn Uhr an, viel zu früh. Warum konnte es nicht jetzt schon Abend sein?

 

„Wir können noch wieder raus gehen, in die Stadt“, sagte Meto. „Hier in der Nähe ist so ein Szene-Club, ich würde dich einladen.“

„Szene?“, fragte ich. „Unsere?“

Er nickte. „Ich hab mir ein paar Klamotten dafür eingepackt. Aber du hast nichts, oder?“

Ich schüttelte den Kopf. Von meinen alten Visual-Sachen besaß ich keine mehr, die hatte ich alle nach und nach verkaufen müssen, weil sie zum Leben auf der Straße einfach nicht geeignet gewesen waren.

„Wir könnten dir vorher noch was kaufen.“

 

Ich dachte an meine Gedanken von heut Morgen unter der Dusche. Daran, wie ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder von Leder, Lack und Netz geträumt und wie gut sich das angefühlt hatte.

Doch andererseits wollte ich bei Meto nicht noch mehr Schulden machen.

„Du gibst viel zu viel für mich aus“, sagte ich.

„Nein. Es ist mein Geld und ich geb’s dir wirklich gern. Meinetwegen sieh’s als weit vorgezogenes Geburtstagsgeschenk oder so.“

Anscheinend wollte er wirklich noch Klamotten für mich kaufen. Wenn er jetzt schon meinen Geburtstag als Grund nahm, wo der doch noch über zwei Monate hin war. Und dann war da wieder dieser Blick, dieses herzensgute ‚Ich will dir was Gutes tun, Tsuzuku‘, was mich wieder einfach mal schwach werden ließ. Und so sagte ich ‚Ja‘ dazu.

 

Vom Hotel zur Innenstadt war es relativ weit und es dauerte etwas, bis wir uns zurechtfanden, aber dann standen wir auch schon vor dem hiesigen Gothic-Laden. Das Schaufenster war voll von schwarzsilbernem Schmuck, Lederklamotten und allem, was sonst noch dazu gehörte und mein Herz höher schlagen ließ. In meiner Heimatstadt machte ich meist einen Bogen um solche Läden, weil sie mich an früher erinnerten und traurig machten, doch jetzt ging es mir einfach gut und so genoss ich es, wieder in meine alte Szene zurückzufinden.

„Du kannst die Sachen dann bei mir lagern“, sagte Meto, als er bemerkte, wie ich einen langen, schwarzen Kunstledermantel mit etwas mehr als bloßer Begeisterung anschaute. „Such dir einfach was aus.“

 

Und das tat ich. Wir betraten den Laden und nachdem ich ausgiebig die von früher so vertraute Atmosphäre eines solchen Geschäftes geatmet und mich ein erstes Mal umgesehen hatte, stürzte ich mich auf das Angebot an Lacksachen und Schmuck. Fand den Mantel aus dem Schaufenster, lange schwarze Lackhosen, Netzhemden, Schmuck mit Totenköpfen und umgedrehten Sternen, all das, worauf ich seit zwei Jahren hatte verzichten müssen. Es war wohl nicht übertrieben zu sagen, dass ich in eine Art Visual-Rausch verfiel. Auf einmal war alles wieder da und ich probierte eine Unmenge an Sachen an, was Meto mit sichtlicher Zufriedenheit beobachtete.

„Macht Spaß?“, fragte er lächelnd, als ich mit der vierten Hose und einem Paar schwarzer Stiefel ankam.

Ich nickte begeistert und setzte dann, passend zu den Sachen, einen dunklen Blick auf.

„Das steht dir unheimlich gut“, sagte Meto.

„Ich weiß“, erwiderte ich selbstbewusst und verschwand zum x-ten Mal in der Umkleide.

Am Schluss hatte ich mich für den Mantel, eine Hose, ein Netzhemd, ein weißes Hemd und ein Paar schwarze Stiefel entschieden, dazu eine Halskette und ein paar Ringe. Ich sah das einfach mal, wie Meto vorgeschlagen hatte, als verfrühtes Geburtstagsgeschenk und freute mich, einen weiteren Zugang zu meinem alten Ich gefunden zu haben.

 

„So, jetzt umziehen und dann feiern?“, fragte ich, als wir den Laden mit zwei dicken Einkaufstüten verließen.

Meto nickte und strahlte mich an.

Zurück im Hotel ging es dann richtig los. Hatte ich schon im Laden einen Visual-Rausch erlebt, so war das nichts im Vergleich dazu, wie ich mich jetzt schminkte, meine Haare zurechtmachte und mir dann die neuen Sachen anzog, mich zurückverwandelte in den Tsuzuku, der ich früher gewesen war. Mit dem Äußeren kam auch das Innere zurück, alte Gedanken und Gefühle, die ich in meinem harten Straßenleben schon vergessen hatte. Kurz dachte ich an Mama, einfach weil sie natürlich auch zu diesem alten Leben gehörte, doch dann schob ich jeden Gedanken an sie rasch beiseite und konzentrierte mich darauf, meine Haare zu glätten, meine Lippen dunkelrot zu färben und jede Menge dunklen Lidschatten aufzulegen. 

 

Der Club, zu dem er mich führte, war gar nicht so weit vom Hotel entfernt. Schon von draußen war zu erkennen, dass es sich um einen reinen VK-Club handelte, die Plakate und die Deko sprachen eine deutliche Sprache. In den neuen Klamotten, die meinen alten von früher fast aufs Haar glichen, betrat ich an Metos Seite diesen Laden und hatte das Gefühl, endlich wieder nach Hause zu kommen. Visual Kei war doch noch meine Heimat und ich war überglücklich, wieder zurück zu sein, auch wenn es nur für diese Nacht war.

Die Musik, die Leute, die ganze Atmosphäre und nicht zuletzt eben die Kleidung, die ich trug, gab mir ein vertrautes und zugleich irgendwie neues Gefühl. Als würde ich wiedergeboren werden in eine Welt, die ich schon kannte.

Die Musik dröhnte, ich erkannte die Band und das Lied, und erinnerte mich daran, dass ich früher gern dazu getanzt hatte.

 

„Willst du was trinken?“, fragte Meto gegen die Musik an. Ich nickte und er verschwand in der Menge, wohl in Richtung der Bar. Was genau er holte, war mir egal.

Während er weg war, bewegte ich mich schon mal allein zur Musik, man konnte es kaum Tanzen nennen, da ich völlig aus der Übung war und so überwältigt von der Rückkehr meines alten Lebens.

Als Meto mit zwei Getränken zurückkam, hatte ich meinen inneren Takt wieder gefunden, fühlte mich wirklich rundum wohl und war sicher, dass dieser Abend einer der besten meines Lebens werden würde.

 

Ich trank nicht viel, gerade genug um locker zu werden, denn ich wusste, dass es besser war, wenn ich es mit dem Alkohol erst mal ruhiger angehen ließ. Schließlich war ich hier, um mit Meto zusammen einen schönen Abend zu haben und nicht, um mich zu betrinken.

 

Ich stellte mein Glas ab, nahm die Hand meines Liebsten und zog ihn in Richtung Tanzfläche. Doch auch jetzt wurde kein richtiges Tanzen daraus. Es war viel mehr ein Rumknutschen, Anfassen, Rummachen zur Musik und als ein ruhigerer Song gespielt wurde, verfielen wir endgültig in weltvergessenes Schmusetanzen.

 

Wir blieben nicht den ganzen Abend, weil es immer voller wurde und ich keine Lust auf die Menschenmenge hatte, und so waren wir gegen zehn wieder auf dem Weg ins Hotel, Hand in Hand und immer wieder knutschend stehen bleibend.

Ich schwebte innerlich, mein ganzer Körper schien nur noch aus Verliebtheit zu bestehen und als wir das Hotel erreichten, war nur noch ein Gedanke in meinem Kopf: Ich wollte die halbe Nacht mit Meto wachbleiben, ihn mit all meinen Gefühlen für ihn lieben, mit ihm schlafen. Ja, in ihn eindringen, eins mit ihm sein.

 

Erst, als wir die Treppe hinauf zum Zimmer gingen, fiel mir ein, dass ich weder Kondome noch Gleitmittel hatte. Aber auf dem Weg vom Club weg waren wir an einem Love-Hotel vorbeigekommen, vor dem ein Automat für solche Dinge gestanden hatte. Ich holte mein dünnes Portmonee heraus, zählte die wenigen Münzen darin und stellte fest, dass es wohl gerade eben reichen würde.

„Was ist?“, fragte Meto.

„Ich geh mir nur eben noch Zigaretten holen.“

Sofort hatte er seinen eigenen Geldbeutel in der Hand.

„Nein, die zahle ich selbst“, erwiderte ich, drehte mich um und lief aus dem Hotel, die Straße zurück. Ich ging so schnell ich konnte, jedoch langsam genug, damit es nicht auffiel. Ein bisschen seltsam fühlte ich mich in diesen Klamotten schon, einfach weil es so lange her war, dass ich zuletzt einen weit ausgeschnittenen Ledermantel, ein Netzhemd und so eine Hose getragen hatte. Mein Selbstbewusstsein ließ sich doch noch etwas Zeit mit seiner Rückkehr.

 

Als ich den Automaten erreichte, klopfte mein Herz aufgeregt, so als ob ich so ein Teil noch nie zuvor benutzt hätte. ‚Meine Güte, dachte ich, zwei Jahre Abstinenz und schon tue ich so, als hätte ich noch nie Kondome gekauft?‘ Meine Hände zitterten, als ich die Münzen, mein letztes Geld, einwarf und die entsprechenden Schalter drückte. Ich sah mich unwillkürlich um und kam mir vor wie ein schüchterner Oberschüler.

‚Reiß dich zusammen, Tsuzuku! Früher hattest du doch keine Scham bei so was! Und letzte Nacht auch nicht!‘

Ich entnahm die Kondome und die Packung Gleitmittel dem Ausgabefach, steckte beides tief in meine Manteltaschen und machte mich wieder auf den Weg zurück zum Hotel.

 

Die Zimmertür war nur angelehnt und ich hörte Wasser im Badezimmer rauschen. Ich zog den Mantel und die Stiefel aus, dann ging ich ebenfalls ins Bad, wo Meto unter der Dusche stand, und begann, mich abzuschminken, das Haarspray raus zu kämmen und mich allgemein bettfertig zu machen. Da ich ja heute Morgen schon geduscht hatte, sah ich das für mich jetzt nicht als notwendig an und ging ins Zimmer zurück, wo ich die Sachen aus meiner Manteltasche nahm und auf meine Betthälfte warf. 

Seltsam, früher hätte ich nicht das geringste Problem damit gehabt, mal eben zum Automaten zu laufen und solche Sachen zu besorgen. Warum war mir das gerade so schwergefallen? War ich einfach … sozusagen aus der Übung und hatte deshalb Hemmungen? Oder lag es daran, dass Meto vor dieser Reise hier mein bester Freund gewesen war? Ich wusste es nicht und als er schließlich in Schlafsachen aus dem Bad kam, war es mir auch egal. Er sah so unheimlich süß und sexy aus, dass ich mich am liebsten sofort auf ihn gestürzt hätte. Doch ich riss mich noch zusammen.

 

Meto sah mich lange wortlos an, stand einfach da und setzte sich dann auf seine Betthälfte. Irgendwas arbeitete in seinem Kopf, das war ihm deutlich anzusehen und er sah irgendwie ziemlich traurig aus.

„Alles okay?“, fragte ich.

Er nickte, ließ sich auf den Rücken fallen und zog die Bettdecke um sich. Und ich spürte, dass das Nicken gelogen war, dass ihn irgendwas sehr beschäftigte und nicht alles okay war.

Ich zog mich schnell aus und legte mich ebenfalls ins Bett, allerdings zuerst mal auf meine Hälfte. Die beiden gewissen Sachen ließ ich auf den Boden vor dem Nachtschrank fallen. Im Moment sah es ja leider nicht danach aus, dass ich sie gleich brauchen würde.

 

Doch irgendwann, als ich schon aufgegeben hatte und hoffte, dass wir irgendwann später noch mal zusammen in ein Hotel gehen konnten und ich dann bekommen würde, was ich mir so sehr wünschte, da hörte ich Metos Stimme ganz leise von seiner Hälfte herüberflüstern: „Tsuzuku?“

„Hm?“

„Kannst du… mich im Arm halten?“

„Klar.“ Ich rückte zu ihm rüber und legte meinen Arm um ihn. Er drehte sich zu mir um und ich sah, dass ihm Tränen aus den Augen liefen.

„Warum weinst du denn?“, fragte ich leise, doch er zuckte nur traurig mit den Schultern.

 

Ich wollte nicht, dass Meto weinte. So wie ich überhaupt nicht wollte, dass er traurig war. Er war doch meine Sonne, mein Schatz, ich brauchte sein Lächeln. Und so nahm ich sein Gesicht vorsichtig in meine Hände und küsste die salzigen Tränen weg.

„Nicht weinen, hörst du?“, sagte ich und sah ihm in die Augen, die in diesem Moment so furchtbar traurig aussahen, dass mir fast selbst Tränen in die Augen sprangen. Deshalb hasste ich es, wenn er weinte: Ich wollte dann mitheulen, war miserabel im Trösten und das erst recht, wenn ich so wie jetzt etwas ganz anderes wollte.

 

Jetzt, wo Meto mir so nah war, schrie mein verliebter Körper erst recht danach, meinem Liebsten noch näher zu kommen, meine Lust auszuleben, und so wanderte meine Hand wie von selbst unter Metos Shirt, streichelte über seinen Rücken und ich zog ihn näher an mich.

„Tsu…?“, fragte er verwirrt, immer noch mit Tränen in den Augen.

„Hör auf zu weinen, bitte!“

Er schniefte, fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Wieso… magst du das eigentlich nicht?“

„Weil ich dich nicht richtig trösten kann!“, antwortete ich, zugegeben recht ungehalten. „Ich kann so was einfach nicht und außerdem…“ Ich brach ab, bevor ich etwas sagen konnte, was sicherlich ziemlich unsensibel klingen würde.

„Außerdem was?“, fragte er, und da platzte es einfach aus mir heraus:

„Ich will mit dir schlafen, dich meine ganze Liebe und Leidenschaft spüren lassen, dich und mich verwöhnen, und da kann ich es nun mal nicht haben, wenn du weinst!“

 

‚Na klasse!‘, dachte ich, kaum dass ich es ausgesprochen hatte. ‚Hast du wieder toll gemacht, Tsuzuku! Du bist und bleibst ein egoistischer, sexbezogener Idiot!‘

Meto sah mich zuerst wortlos an, dann rückte er ein Stück von mir ab, griff er hinter sich, nahm ein Taschentuch aus der Box, wischte sich die verbliebenen Tränen weg und putzte sich die Nase.

„Tut mir leid…“, sagte ich leise und erwartete, dass er sich jetzt mit dem Rücken zu mir hinlegen und mich ignorieren würde.

Doch stattdessen zog er sich das Shirt aus, legte er sich wieder zu mir, seine Arme um meinen Hals und drückte seine Lippen lange auf meine. Zeit, mich darüber zu wundern, ließ er mir nicht, sondern strich mit seinen warmen Händen über meinen nackten Oberkörper und flüsterte rau gegen meine Lippen: „Mach schon.“

Mir stockte der Atem und ich wusste erst nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Unterschwellig spürte ich, dass irgendetwas nicht stimmte, doch mein Verlangen und die Freude darüber, dass Meto mich berührte und küsste, überwogen so sehr, dass ich alles andere ausblendete und das tat, was er sagte. Ich beugte mich über ihn und ließ meine Lippen seinen Hals hinabwandern, streichelte über das bunte Tattoo und spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging.

 

Ich verteilte Küsse auf seinem ganzen Oberkörper, während sich in meinem Bauch das heiße Flattern ausbreitete und intensiver wurde, als ich Metos weichen, blassrosa Nippeln meine liebevollste Aufmerksamkeit zukommen ließ und er leise zu stöhnen begann. Ich liebte diese zarte, süße Haut, die so ganz anders war als meine eigenen, dunklen Brustwarzen, so weich und geradezu unschuldig. Obwohl ‚unschuldig‘ angesichts seiner Reaktion absolut nicht das richtige Wort war. Es schien ihm nämlich sehr zu gefallen, was ich deutlich bemerkte, als ich meine Hand abwärts wandern ließ und seine sich härtende Männlichkeit durch den Stoff seiner Hosen hindurch berührte.

„Mmmhh…“, machte ich mit genießerisch-rauer Stimme, „So süße rosa Nippel und so ein heißer Schwanz…“

Augenblicklich breitete sich eine absolut anziehende, sanfte Röte auf Metos Wangen aus und ich musste grinsen. Ich mochte es, so zu reden, es machte mich noch heißer und gab mir einfach ein verdammt gutes Gefühl. Man nenne mich versaut, aber so war ich eben.

 

Aus der letzten Nacht wusste ich ja, dass er gern etwas fester angefasst werden mochte und so tat ich das und genoss seine Reaktion, sein immer lauteres Stöhnen und dieses leise Machtgefühl, das mich so unheimlich anmachte. Denn so sehr ich Meto liebte; genauso sehr liebte ich es, ihn zu dominieren, zu spüren, dass er mein war, und wie er sich unter meinen Berührungen lustgeladen wand. Ich massierte seine Nippel, bis sie fest wurden, und seine Härte, küsste jeden Zentimeter Haut, an den ich herankam und rieb mich so lange und stark an seinem wundervollen Körper, bis ich vor Lust kaum mehr wusste, was ich tat.

„Ich … liebe … dich …“, flüsterte ich, atemlos keuchend, doch die Worte fühlten sich seltsam kraftlos an, konnten nicht beschreiben, was ich in diesem glühend heißen Moment empfand. Es schien so viel mehr als dieses Wort Liebe zu sein, so unendlich viel mehr.

 

Meto antwortete nicht, stattdessen drehte er sich zu mir, seine Hände glitten fahrig über meinen erregt zitternden Körper, taten dasselbe wie meine zuvor bei ihm, reizten meine gepiercten Nippel und ließen mich in einem Moment wahnsinniger Lust unartikuliert aufschreien.

Ich wusste, jetzt hatte ich ihn willig und tatsächlich war es ganz leicht, ihn auf den Bauch zu drehen, tief in die weiche Matratze zu drücken, um mich zwischen seine Beine zu drängen und meine Härte an seiner Kehrseite zu reiben. All mein Wollen und Sehnen bestand nur noch darin, endlich in ihn einzudringen, ihn meine ganze ungezügelte Leidenschaft spüren zu lassen, und ein gewisser Teil von mir wollte ihn schreien hören.

 

Und so fiel es mir unglaublich schwer, mich von ihm zu lösen, doch ich musste, um erstens die Kondome und das Gleitmittel zu holen und mich zweitens endlich ganz auszuziehen.

„Kannst du bitte … das Licht ausmachen?“, hörte ich Meto leise fragen und sah, wie er sich umdrehte.

„Wieso?“, fragte ich zurück, denn meinetwegen konnte das Licht gern an bleiben. Ich wollte meinen Liebsten schließlich sehen.

„Ich find’s im Dunkeln … romantischer …“, antwortete er und streifte sich dabei die Hose, die ich ihm zuvor schon halb ausgezogen hatte, ganz von den Beinen.

„Okay“, gab ich schließlich nach. Der Lichtschalter war gerade in Reichweite und wenn es Meto im Dunkeln wirklich besser gefiel, passte ich mich eben an. Es sollte ja auch für ihn schön werden.

 

Durch das Halbdunkel tastete ich mich nackt zurück ins Bett, legte mich neben ihn, er hatte sich auf die Seite gedreht mit dem Gesicht weg von mir, und nahm ihn in meine Arme. Durch die Unterbrechung war die glühend erregte Stimmung von eben fast verschwunden und ich versuchte, sie wieder zu wecken, indem ich ihn berührte und seinen Hals küsste.

Er schmiegte sich an mich und als ich meine Hand über seine Brust wandern ließ, spürte ich sein Herz rasend schnell schlagen. Mit meiner anderen Hand strich ich über sein Hinterteil, fand schließlich seinen Eingang und drückte mit der Fingerkuppe vorsichtig dagegen. Augenblicklich spannte sich sein gesamter Körper an, ich spürte sein Herz noch schneller rasen und sein Atem ging rasch und ruckartig.

 

„Alles okay?“, fragte ich leise.

Meto antwortete zuerst nicht, dann sagte er, ebenso leise: „Du willst wirklich richtig mit mir schlafen, oder?“

„Hast du Angst?“, versuchte ich, sein Herzrasen zu deuten.

Er nickte.

„Dass es weh tut?“

„Ich weiß, dass es wehtun wird.“

„Vertrau mir, Meto.“

„Das ist es nicht. Tsuzuku, ich vertrau dir und es fühlt sich toll an, dass du mich so liebst, aber … verstehst du, es wird nicht gehen. Ich krieg ja nicht mal selber einen Finger in mich rein, wie soll das dann mit dir gehen?“

Ich sah ihn fragend an und ahnte doch, was das Problem war. Offenbar war diese Verspannung nicht einfach eine momentane Sache. So, wie er das sagte, handelte es sich um etwas Grundlegenderes.

„Hast du’s denn versucht?“

Er nickte. „Anscheinend will mein Körper das einfach nicht.“ Es klang traurig.

Vielleicht war es das gewesen, was vorhin nicht gestimmt hatte. Er hatte ganz offenbar große Angst, davor dass es sehr weh tat und dass er mich enttäuschen musste.

 

„Lässt du es mich wenigstens versuchen?“, fragte ich vorsichtig. Ich wollte es so sehr und doch hätte ich diese Worte, kaum dass ich sie ausgesprochen hatte, am liebsten wieder zurückgenommen. Zwischen meiner Liebe und meiner Lust tat sich ein Spalt auf. Ich liebte Meto so sehr und wollte ihn zu nichts zwingen, doch auf der anderen Seite war da meine unbändige Leidenschaft und Sehnsucht nach seinem Körper. Eben noch war es ein und dasselbe Gefühl gewesen und dass ich mich jetzt zwischen dem einen und dem anderen möglicherweise entscheiden musste, tat doch ziemlich weh.

 

„Es hat keinen Sinn“, antwortete er leise auf meine Frage. „Tsu, wir können alles zusammen machen, nur das nicht. Und du wirst am Ende nicht zufrieden sein. Ich kann dir nicht viel mehr bieten als das bisschen Blümchensex ohne Eindringen.“

„Du denkst, ich mag keinen normalen Sex?“

„Du stehst doch auf härtere Sachen.“

Ich riss mich wahnsinnig zusammen und versuchte, mein Verlangen irgendwie zu vergraben. Mir war klar, dass meine Liebe zu Meto wichtiger war als diese Lust und dass ich mich wieder unreif, sexbezogen und dumm verhalten hatte.

 

„Ich steh vor allem auf dich, Meto. Ich liebe dich und natürlich will ich wahnsinnig gern mit dir schlafen, aber wenn du wirklich nicht willst... dann muss das nicht sein. Es gibt einen Unterschied zu meinem alten Ich: Damals war ich unheimlich leichtsinnig und hätte das wohl nicht so einfach hingenommen, aber inzwischen bin ich da anders, verstehst du? Ich würde dich nie zwingen.“

„Ich lieb dich doch auch. Aber … ich hab solche Angst. Du hast so viel Erfahrung und ich …“

Ich beugte mich über ihn, drehte ihn auf den Rücken und legte meine Lippen auf seine, küsste ihn lange und zärtlich.

„Vergiss das doch“, flüsterte ich dann. „Wir können alles tun, was du willst, und wenn du was nicht möchtest, kannst du mich einfach wegstoßen, okay?“

Er erwiderte den Kuss kaum, nickte jedoch schließlich.

 

„Aber, weißt du …“, Ich sprach schon wieder, ohne nachzudenken, „… ich würde es gern versuchen.“

„Wenn du gerne enttäuscht werden willst …“

„Meto, ich werde sicher nie von dir enttäuscht sein, was Sex angeht! Ich hab’s eben schon gesagt, ich nehme es so, wie du kannst.“

Er sah mich lange an. „Du willst das wirklich sehr, oder?“

Ich nickte. „So bin ich eben. Definiere Liebe über Sex, überrede meinen Liebsten dazu und gebe nicht eher auf, bis ich kriege, was ich will“, wurde ich selbstironisch.

Meto hob eine Hand, streichelte über meine Wange und lächelte ein wenig, als er sagte: „Ich liebe dich trotzdem.“

Ich ließ mich wieder neben ihn sinken und legte einen Arm um ihn. Er war so süß und ich hatte wieder nichts als Sex im Kopf! Aber ich kam auch nicht davon weg.

 

„Darf ich dich fragen …“, wollte ich nach einer Weile leise wissen, „… wie hast du es denn versucht? Ich meine, mit dem Finger …“

Wieder breitete sich dieses sanfte, im Halbdunkel kaum sichtbare Rot auf seinen Wangen aus. Ein süßes Rot, wie ich es schon lange, lange nicht mehr zustande brachte. Ich wurde lange nicht mehr rot beim Gedanken an Sex und auch nicht, wenn ich so offen darüber sprach. Und in diesem Moment beneidete ich Meto darum, dass er das noch konnte, erröten.

„Ich …“, begann er und seine Wangen färbten sich dunkelrot, „… unter der Dusche … mit Seife … und so … Aber … ich bin nicht … tief gekommen …“

Ich lächelte leise. „Wenn du dabei stehst, wird das auch nichts.“

Er sah mich fragend an, immer noch mit dieser süßen Röte im Gesicht.

„Du musst dich hinlegen, auf die Seite, und die Knie hochziehen“, erklärte ich, wie üblich ohne Umschweife.

 

Es war keine Anweisung gewesen, nur ein Rat, doch trotzdem tat er, wie ich gesagt hatte. Drehte sich wieder auf die Seite, zog die Knie ein Stück hoch und sagte leise: „Sei aber … bitte… vorsichtig…“

Mein Herz machte einen Satz, heimlich, vor Freude, dass er mich doch noch ranließ. Ich wollte ihn so sehr und wenn es jetzt eben nur mit dem Finger war. Diese Sehnsucht, sein Inneres zu spüren, ihn stöhnen zu hören … Einen Moment lang genoss ich die Vorfreude, dann berührte ich ihn, fand seinen Eingang und schob, so vorsichtig, wie ich nur vermochte, meine Fingerkuppe hinein. Einen Moment lang war alles gut, doch dann verspannte er wieder und ich kam nicht weiter.

 

Und in dem Augenblick wurde mir sehr, sehr deutlich klar, was ich hier gerade tat: Ich versuchte, den liebsten Menschen, den ich auf der ganzen Welt hatte, zu etwas zu überreden, was er nicht konnte und nicht wollte. Und das nur, weil ich so versessen auf Sex war! 

 

Tief erschrocken zog ich meine Hand zurück, brachte Abstand zwischen unsere Körper. Was war ich eigentlich für ein Mensch?! Wie weit wäre ich gegangen, wenn ich das jetzt nicht eingesehen hätte?

„Meto … ich …“, begann ich, er drehte den Kopf und sah mich an, seine Augen glänzten verdächtig.

„Warum hörst du auf?“, fragte er.

„Du willst … das doch gar nicht, oder?“ Ich hatte Mühe, meiner Stimme einen halbwegs festen Klang zu geben.

„Aber … du wünschst es dir so sehr und ich …“

„Nein!“ Ich richtete mich auf, packte ihn an den Schultern und drückte ihn ins Kissen. „Meto, hör mir jetzt gut zu: Du musst das nicht mit dir machen lassen, nur weil ich es gern will! Wenn du nicht kannst und nicht willst, dann sag das! Ich …“ Meine Stimme wurde brüchig, ich spürte die Hitze von Tränen in meinen Augen. „… Es tut mir leid. Wirklich. Ich hab … nur an mich gedacht … und total vergessen, ernsthaft darüber … nachzudenken, … ob du überhaupt … wirklich willst.“

 

Meto blinzelte, sah mich an. „Tsuzuku … Ich wollte, dass du … es schön hast, … verstehst du? Damit du dich, wenn wieder schlechte Zeiten kommen, daran erinnern kannst, wie gut sich dein Körper anfühlen kann, weil …“ Eine Träne lief seine Wange hinunter. „Ich will, dass du dir nicht mehr wehtust!“

Ich schluckte, blinzelte, versuchte den Stich in meinem Herzen zu ignorieren und die Tränen runterzuschlucken. So dachte er? So weit wollte er gehen, nur damit ich aufhörte, mich abzumagern und zu schneiden? Dass es irgendwie funktionierte, hatte ich ja heute Nachmittag selbst bemerkt, als mich die Erinnerung an letzte Nacht vom Schneiden abgehalten hatte.

Aber dass Meto so weit gehen würde, hätte ich nicht im Traum gedacht. Ich wusste weder, was ich jetzt sagen sollte, noch, was tun. Traute mich nicht mehr, ihn zu berühren, nahm meine Hände von seinen Schultern und ließ mich wieder neben ihn sinken, mit einigem Abstand zwischen uns. Die erste Träne suchte sich ihren Weg über meine Wange, eine zweite folgte.

 

Und ich hatte es doch sogar bemerkt, dass er nicht mit derselben Begeisterung wie ich bei der Sache war. Hatte gewusst, dass er eigentlich nicht wollte, und ihn trotzdem überreden wollen.  Weil ich eben wieder nur an mich gedacht hatte.

 

„Wie kannst du so was wie mich lieben?“, fragte ich und starrte an die dunkle Zimmerdecke.

„Frag so was nicht!“ Auf einmal war er über mir, in derselben Position wie ich zuvor. „Tsuzuku, ich liebe dich, so wie du bist! Du hast Fehler, ja, aber dass es die gibt, stellt meine Gefühle nicht infrage. Und jetzt weine nicht, sondern küss mich und sei glücklich, dass du mich hast.“ Die letzten Worte waren in mein Ohr geflüstert und keine Sekunde später lagen seine Lippen auf meinen, weich, liebevoll und zugleich fordernd, er drückte mich ins Kissen und ließ mich Wachs unter seinen Händen sein. Und ich schmolz buchstäblich dahin, ließ ihn machen, obwohl er nicht viel tat außer sich an mich zu drücken, mich zu küssen und mit den Fingern in meine Haare zu krallen.

 

Mein ungestümes Verlangen war dahin, zumindest fürs erste, und machte einer neuen Lust Platz, die ich so noch nie gespürt hatte. Einer Lust daran, unten zu liegen, berührt zu werden, ohne selbst etwas zu tun. In meinem alten Leben früher hatte ich so etwas nie empfunden, war immer der Offensive gewesen, der, der den Ton angab. Doch nun spürte ich, dass mir das Gegenteil zwar anders, aber mindestens genauso gut gefiel.

Meto war so lieb und weich und auf seine Art leidenschaftlich, liebte mich mit einer Bedingungslosigkeit, die mich fast wieder zu Tränen rührte. Ich zitterte leicht, versuchte die Tränen wegzublinzeln und als doch eine ihren Weg aus meinen Augen fand, wurde sie ganz sanft weggeküsst.

„Das ist schön…“, seufzte ich leise, selbstvergessen und schwebend vor Lust. „So schön…“

 

Meto ließ sich viel Zeit und ich gab sie ihm, ergeben und kein bisschen widerwillig. Als ich schließlich kurz nach ihm kam, war es der ‚ruhigste‘ und längste Höhepunkt, an den ich mich erinnern konnte.

„Das ist also Blümchensex“, dachte ich. „Eigentlich müsste das einen besseren Namen haben, einen, der beschreibt, wie schön das ist.“

Bald darauf sank ich in einen tiefen, von diesem langen Tag erschöpften Schlaf.

Ich verbrachte die beiden Tage, die Meto nicht da war, größtenteils allein und versuchte, weder an ihn noch an Tsuzuku oder die anderen Akutagawa-Leute zu denken. Aber nachts, in meinen Träumen, waren sie alle da. Besonders Meto und Tsuzuku. Und in jedem Traum traten sie deutlicher als Paar auf, was meine Eifersucht unheimlich schürte und mich mehr oder weniger wütend aufwachen ließ.

 

Am zweiten Tag traf ich Mariko in einem Café. Sie musterte mich mit diesem Blick, mit dem sie meine Laune immer ziemlich exakt einschätzte und stellte treffend fest: „Mialein, du platzt ja vor Eifersucht!“

Ich nickte ergeben, bei Mari hatte ich keine andere Wahl. Sie hätte mich so lange genervt, bis ich es zugab, also gestand ich es lieber gleich.

„Ich sag’s echt nur ungern, aber: Ich hab’s dir gesagt. Die zwei sind keine normalen Freunde, da ist zumindest von einer Seite mehr im Spiel und ich würde mal auf diesen schwarzhaarigen Typen tippen, wie hieß der noch gleich?“

„Tsuzuku.“

„Der kam mir gleich so besitzergreifend vor. Und so hat er doch auch mit dir geredet, oder?“ Mariko nippte an ihrem Kaffee.

„Ja, mach meine Eifersucht schlimmer!“, motzte ich ironisch.

„Ich sag nur, wie’s ausschaut. Und das sieht gerade so aus, als hättest du dich in eine ganz seltsame Dreiecksgeschichte verstrickt.“

 

„Und jetzt ist Meto mit Tsuzuku zusammen weggefahren. Ich will mir gar nicht vorstellen…“

Mariko nickte wissend. „Na ja, aber man muss ja nicht gleich das Schlimmste denken…“

Ich schnaubte. „Das tust du doch sowieso.“

„Ich sag nur, was ich sehe. Ob Meto dich tatsächlich…“

„…Betrügt?“, fragte ich fassungslos und sprach damit zum ersten Mal das aus, was mir meine Albträume der letzten Nacht immer wieder vorgespielt hatten. Schon der Gedanke daran tat heftig weh und ich schlug mir entsetzt die Hand vors Gesicht.

„Ich kann’s dir nicht sagen“, sagte Mari. „Du kennst ihn besser als ich. Und ob du ihm das zutraust, ist deine Sache.“

Das brachte mich dazu, mich zu fragen, warum ich eigentlich so wenig Vertrauen zu Meto hatte. Irgendwie hatte sich in meinem Kopf eine kleine, fiese Stimme eingenistet, die mir nahezu pausenlos zuflüsterte, dass da zwischen Meto und Tsuzuku irgendwas lief, das verdächtig nach Liebe aussah.

 

„Quatsch“, sagte ich leise, mehr zu mir selbst. „Wieso sollte da mehr sein? Meto hat mir doch vor der Reise sehr deutlich gesagt, dass er mich liebt.“

„Hat er das?“, fragte Mari, die mich natürlich gehört hatte.

Ich nickte und dachte an dieses Liebesgeständnis, an den zärtlichen Kuss, und an das, was am Abend zuvor passiert war. Würde Meto wirklich, nachdem er mich so berührt hatte … mich mit seinem besten Freund betrügen? Nein, entschied ich, würde er nicht. Doch die kleine, fiese Stimme verstummte einfach nicht, flüsterte mir weiter meine Eifersucht zu.

 

„Lenk mich mal bitte ab!“, forderte ich und Mari nickte und begann, mir von ihrem Leben an der Uni zu erzählen. Aber irgendwie konnte ich ihr nicht wirklich zuhören. Meine Gedanken waren wie gefesselt, fixiert darauf, dass mein Angebeteter mit seinem besten Freund, mit dem ganz offensichtlich so einiges nicht stimmte, verreist war und mich möglicherweise betrog.

 

War es das, weshalb Meto noch keine richtige Beziehung mit mir wollte? Hielt er mich deshalb hin, weil es da eben auch noch Tsuzuku gab, für den er irgendwelche Gefühle hatte? Aber warum hatte er mir dann gesagt, dass er mich liebte?

Wie ich es auch drehte und wendete, ich verstand sein Verhalten nicht. Und je mehr ich darüber nachdachte, umso sicherer war ich mir und das tat furchtbar weh.

 

„Atsushi, das sind Gedanken, das ist dir klar, oder?“, riss mich Mari aus meinem heillosen Gedankenchaos. „Das muss nicht die Wirklichkeit sein. Es kann ebenso gut sein, dass die beiden einfach was zusammen unternehmen, weil es Tsuzuku ja anscheinend nicht so wirklich gut geht. Wenn das der Fall ist, solltest du deine Eifersucht schleunigst begraben.“

So war Mariko. Sie sagte die Dinge so, wie sie es sah. Weder wollte sie, dass ich eifersüchtig war, noch, dass ich blind vor Liebe nicht bemerkte, wenn man mich betrog.

„Finde raus, was wirklich los ist. Ich meine, selbst wenn Tsuzuku in Meto verliebt ist, muss das ja nicht auf Gegenseitigkeit beruhen. Sobald die beiden wieder da sind, versuchst du mal, rauszukriegen, was Sache ist. Da hast du ein Recht drauf.“

„Okay…“ Ich nickte. Mari hatte wie immer Recht. Ich würde schon rausfinden, was da jetzt lief. Hoffend, dass ich Meto vertrauen konnte.

 

Auf dem Heimweg vom Café kam ich dann doch am Akutagawa-Park vorbei und setzte mich ein bisschen zu den Leuten dazu, die auf dem Feuerplatz ein größeres Lagerfeuer gemacht und sich darum herum gesetzt hatten. Es war wirklich eine tolle Gemeinschaft, die sich hier zusammen gefunden hatte und obwohl ich kaum jemanden kannte, fühlte ich mich irgendwie heimisch, einfach, weil die meisten von ihnen VKler waren und ich eben auch.

 

„Hey, du bist neu, oder? Wie heißt du?“, sprach mich einer von ihnen von der Seite an. Es war einer von denen, die tagsüber meistens bei ihren Sachen unter der Brücke saßen und deshalb natürlich weniger aufwändig gekleidet waren als diejenigen, die irgendwo in der Stadt eine feste Wohnung hatten.

„Nenn mich MiA“, antwortete ich und lächelte.

„Hiro“, sagte er knapp, setzte sich jedoch neben mich und stellte seine halb leere Bierflasche ab.

Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, also wartete ich, bis er wieder zu reden begann: „Du kennst ja Tsu und Meto, oder? Weißt du, wo die sind?“

„Sie sind zusammen ans Meer“, antwortete ich.

 

„Seit wann sind die denn ein Paar?“ Er war wohl schon etwas betrunken und hatte somit anscheinend nicht verstanden, dass ich das keineswegs gesagt hatte. Seine Stimme hatte jedenfalls den typischen schleppenden Klang eines alkoholisierten Menschen.

„Gar nicht“, sagte ich. „Ich bin Metos Freund.“ Obwohl das ja nicht ganz stimmte. Ich dachte daran, wie er im Club neulich zu mir gesagt hatte, dass er noch keine Beziehung wollte. Und so fügte ich leise ein „Zumindest fast…“ hinzu.

„Asso…“ Er nahm einen Schluck Bier. „Dann solltest du aber besser auf deinen Freund aufpassen. Tsuzuku is nämlich…“

„Hiro!“, unterbrach ihn eine Stimme von der anderen Seite des Feuers. „Willst du wohl den Mund halten! Du bist ja total zu!“ Dort drüben stand jemand auf und kam in einem Bogen hinter den anderen herum auf uns zu.

 

Als er sich neben Hiro hockte und ihm die Flasche aus der Hand nahm, erkannte ich, dass es sich um einen jungen Mann mit hellrosa Haaren und ziemlich eleganten Klamotten handelte. Einem von denen, die nur abends hier herumsaßen und dann in ihre Wohnungen zurückkehrten. So wie ich.

„Hör nicht auf Hiro, der spinnt“, sagte er zu mir und lächelte entschuldigend. „Du heißt MiA, oder? Ich bin Koichi.“

„Woher...?“

„Ich bin mit Tsuzuku befreundet. Und da du eben sagtest, dass du Metos Freund bist, hab ich dich erkannt.“

Hiros Worte hatten, obwohl er nicht zuende gesprochen hatte, den Stachel meiner Eifersucht berührt und ich fühlte einen Stich in der Brust. Ich dachte an Marikos Worte, dass ich die Wahrheit herausfinden musste, und sah meine Chance:

„Sag mal… also…“, begann ich und wusste auf einmal nicht mehr, wie ich es sagen sollte. Wie fragte man jemanden, ob der eigene Freund irgendwas mit seinem besten Freund am Laufen hat? Und wie würde ich reagieren, wenn Koichi das bejahte oder meine Eifersucht durch vage Aussagen verstärkte?

 

„Hiro redet Quatsch, wenn er trinkt“, unterbrach Koichi meine Gedanken.

„Ich weiß ja gar nicht, was er sagen wollte“, erwiderte ich.

„Tsuzuku und Meto sind sehr, sehr enge Freunde, MiA. Deshalb gibt es hier Gerüchte, dass zwischen ihnen mehr ist. Aber da läuft nichts.“ Koichi schaute beim Sprechen in die Flammen, die ein Spiel aus hellen und dunklen Orangetönen auf sein feminines, geschminktes Gesicht warfen, und mir fiel auf, dass er um irgendetwas herumformulierte. Oder war das ein Trugbild meiner Eifersucht?

 

Verdammt, ich musste endlich mal klar denken! Wieso vertraute ich Meto so wenig? Nur, weil ich nachts davon träumte und ein betrunkener Typ mir irgendwelche blöden Gerüchte auf die Nase band, dass da irgendwas war mit Tsuzuku?

 

Meto liebte mich. Das hatte er mehr als deutlich gesagt. „Ich liebe dich auch, MiA. Egal was passiert, hörst du? Ich liebe dich.“ Diese Worte hatten sich in mein Herz gebrannt, und doch spürte ich daneben die Stiche dieser Eifersucht. Vielleicht, weil dieses „Egal was passiert, hörst du?“ so geklungen hatte, als sei da eben etwas, das passieren konnte.

 

MiA, er liebt dich! Also wird er dich wohl kaum betrügen, oder? Nur, weil Tsuzuku eventuell irgendwelche Gefühle für ihn hat, heißt das doch nicht, dass er das erwidert! Und jetzt lass die blöde Eifersucht endlich sein!

 

Ein Stück neben mir saßen Haruna und Hanako, wie üblich herumturtelnd. Als sie mich bemerkten, winkte Haruna, stand auf und kam zusammen mit ihrer Freundin ebenfalls zu uns.

„Hey, MiA! Was machst du denn hier? Meto ist nicht da.“

„Ich weiß, der ist mit Tsuzuku weg“, sagte ich.

„Wohin?“

„Ans Meer oder so, in ein Hotel.“

„Das ist gut. Tsuzuku muss mal raus aus all dem hier.“

„Ich wüsste ja gerne mal…“, mischte sich Hanako ein, „…woher Meto die Kohle für solche Sachen nimmt. Er hat immer Geld. Egal, was Tsu braucht, Meto bezahlt es.“

 

Ich schwieg, wusste ich doch, woher das Geld kam und dass die anderen es nicht erfahren durften.

Doch auch, wenn ich mich raushielt: Zwischen Haruna, Hanako und Hiro entspann sich nun eine Diskussion über Metos geheimnisvolle Geldquelle, in deren Verlauf mehrfach das Wort „Natsukita“ fiel. Koichi hielt sich ebenfalls raus, stand dann bald auf und ging wieder zu seinem Platz auf der anderen Seite zurück.

„Wie kann einer, der in Natsukita wohnt, einmal in der Woche Badehaus und dann noch so einen Urlaub bezahlen?“, fragte Hanako zum zweiten Mal. Und dann: „Leute, da stimmt was nicht. Ich sag’s echt nur ungern, aber ich glaube, Meto hat da irgendwas zu verbergen.“

Haruna runzelte die Stirn. „Meinst du?“

Die Diskussion ging weiter, jetzt darum, welchen Grund Meto haben könnte, seine geheimnisvolle Geldquelle zu verschweigen. Und irgendwann hatte ich genug. Genug von Geheimnissen, genug von dem Gerede, genug von diesem ganzen Durcheinander. Und in diesem Moment war mir egal, was Meto dazu dachte. Ich wollte nur nicht, dass die anderen über ihn so redeten.

„Seine Eltern sind reich, so ist das!“, sagte ich laut und stand auf. „Meto wohnt in Akayama, nicht in Natsukita. Er bekommt das viele Geld von seinen Eltern und gibt es alles für Tsuzuku aus, dass es dem gut geht!“

Drei Paar Augen sahen mich zuerst verwundert, dann verwirrt an.

„Akayama? Dieses Bonzenviertel?“, fragte Hiro.

Ich nickte. „Ich war da, ich weiß, in welchem Haus er wohnt. Und ich weiß, warum er das vor euch geheim gehalten hat.“

„Und warum?“, fragte Haruna. „Ich meine, wieso hat er uns angelogen?“

 

„Na, was hättet ihr denn gedacht, wenn er hier, als er neu war, angekommen wäre mit den Worten: Hey, ich komm aus Akayama, ich hab Geld, meine Eltern sind reich!? Ihr hättet ihn doch gleich in eine Schublade gesteckt, oder? Reiches Kind und so. Deshalb hat er euch eben nicht gesagt, wo er herkommt. Weil er von euch als Mensch und ohne Vorurteile angenommen werden wollte!“

Haruna sah mich erschrocken an. „So denkt er von uns? Dass wir so sind?“

„Wahrscheinlich am Anfang schon. Und dann… kommt, ihr wisst, wie das ist: Es ist nie der richtige Zeitpunkt, so was zu gestehen. Er denkt, dass ihr ihn jetzt wegen dieser Lüge ausschließt.“

„Als ob wir so was tun würden, ey!“, rief Hanako und lenkte damit endgültig die Aufmerksamkeit der gesamten Gemeinschaft auf uns.

 

„Was denn?“, fragte ein Mädchen, das neben Koichi saß. „Was ist los?“

„Meto denkt, dass wir ihn ausschließen, wenn wir erfahren, dass er in Akayama wohnt und reiche Eltern hat, das ist los“, sagte Haruna laut. „Einmal Hand heben, wer das tun würde!“

Ich blickte mit klopfendem Herzen in die Runde. Niemand meldete sich. Hier und da war Gemurmel zu hören, doch nirgends war eine erhobene Hand zu sehen.

„Und woher wissen wir das?“, fragte jemand.

„MiA weiß es und er hat es uns eben gesagt“, antwortete Hanako. „Und jetzt einmal Hand heben, wer meint, dass wir zusammenhalten und niemanden ausschließen, nur weil er Geld hat! Meto ist schwer in Ordnung, das wissen wir alle!“

Haruna riss ihre Hand hoch, Hanako, Koichi, Hiro, einer nach dem anderen. Fast vergaß ich, selbst meine Hand zu heben. Es war irgendwie ein sehr, sehr schönes Bild, wie diese wunderbare Gemeinschaft um das Feuer saß und die Hände hob, zum Zeichen, dass sie zusammenhielten und niemanden ausschlossen.

 

Und doch, obwohl ich bei ihnen war und sie mich kannten, fühlte ich mich immer noch nicht dazugehörig. Es war ein merkwürdiges, aber ziemlich deutliches Gefühl und so ging ich bald darauf, nachdem ich Haruna gebeten hatte, Meto morgen nicht gleich zu erzählen, dass ich sein Geheimnis verraten hatte.

 

Ich ging auf dem schnellsten Weg nach Hause und kümmerte mich den Rest des Abends um Sawako, erzählte ihr alles, was passiert war und von meiner Eifersucht.

Als ich dann schließlich schlafen ging, hoffte ich inständig, nicht wieder denselben Albtraum zu träumen. Doch sobald ich die Augen geschlossen hatte, ging es wieder los:

 

Ich stand auf der Straße in der Nähe des Parks und sah von weitem, wie Meto mit Tsuzuku unter der Brücke saß. Meto hielt Tsuzukus Hand, der hatte den anderen Arm um ihn gelegt und keiner von beiden sah mich an.

Ich ging auf die beiden zu, wollte Bestätigung, dass es nur Freundschaft zwischen ihnen war, und auf einmal sah Tsuzuku mich mit seinen schmalen, dunklen Augen an, zog Meto besitzergreifend an sich und wandte sich dann von mir ab, um meinem Angebeteten einen, für mich sehr schmerzhaft, liebevollen Kuss auf die Lippen zu drücken.

„Er gehört mir“, sagten seine Augen, als er mich noch einmal ansah.

„Meto?“, fragte ich, tief verunsichert. „Stimmt das?“

Doch Meto sah mich nur wortlos an. Eine einzelne Träne glänzte auf seiner Wange.

Mit einem lauten Keuchen wachte ich auf.

Sawako, die wie immer am Fußende meines Bettes geschlafen hatte, schreckte hoch und gab ein leicht irritiertes Miauen von sich.

 

Ich seufzte schwer, rieb mir über die Augen und stand auf, um mir einen Tee zu machen. Um mich irgendwie von der Erinnerung an den Traum abzulenken, schaltete ich den Fernseher ein. Da dort aber außer einer nächtlichen Doku über den Sambesi-Fluss nichts Interessantes lief, schaute ich mir eine Weile diese afrikanische Landschaft an, um dann doch gelangweilt auszuschalten und wieder ins Bett zu gehen.

 

Zwar träumte ich diesmal nicht so schlimm, doch ich wachte noch zwei Mal auf und war am Morgen wie gerädert.

Ich wusste, irgendwann an diesem Tag würden die beiden aus ihrem Urlaub zurückkommen und darauf musste ich mich irgendwie vorbereiten, für den Fall, dass ich Meto begegnete. Ich wollte nicht, dass er meine Eifersucht bemerkte.

 

Ich versuchte, die sichtbaren Anzeichen meiner schlechten Nacht unter einer Schicht Make-up zu verstecken und drehte einen Teil meiner Haare in leichte Locken, während in meinem Kopf weiter die Rädchen ratterten.

Sawako strich mir miauend um die Beine und als ich mit dem Schönmachen fertig war, stellte ich ihr neues Wasser hin.

Anschließend setzte ich mich vor den Laptop und klickte mich querbeet durchs Internet, bis ich schließlich, nachdem ich auf einer eindeutig zweideutigen Seite gelandet war, aufgab und mich auf den Weg zur Arbeit machte.

 

Die Arbeit selbst war an diesem Tag nichts als langweilig. Kein besonders spleeniger Kunde, der ein Artbook seiner liebsten Animeserie kaufen wollte, keine Cosplayerinnen, niemand Interessantes kam in den Buchladen und so saß ich mehr oder weniger herum, sortierte Bücher ein und versuchte, nicht an Meto zu denken, was aufgrund meiner nach wie vor deutlich vorhandenen Verliebtheit nicht gerade einfach war.

 

Nach der Arbeit kam ich, wie sollte es anders laufen, natürlich am Akutagawa vorbei, musste aber feststellen, dass weder Tsuzuku noch Meto irgendwo zu sehen war. Offenbar waren sie noch nicht wieder zurück. Ich beschloss, auf Meto zu warten und setzte mich zu Haruna und Hanako, um mich ein wenig mit ihnen zu unterhalten.

Als ich aufwachte, schien die Sonne zum Fenster herein. Ich drehte mich auf die Seite und sah Tsuzuku neben mir liegen. Die Sonnenstrahlen ließen das dunkle Blau der Tattoos auf seinen Armen fast ein wenig leuchten und seine tiefschwarzen Haare schimmern. Er lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht zu mir, und auf seinen Lippen lag, obwohl er noch schlief, ein kleines, sanftes, absolut süßes Lächeln. Die Bettdecke bedeckte ihn nur bis zur Taille und so streckte ich meine Hand aus und berührte, vorsichtig um ihn nicht zu wecken, seine helle Haut.

 

Was wir gestern Abend getan hatten, war so schön gewesen, das zuletzt fast noch schöner als unsere erste Nacht zusammen. Ich rief mir Tsuzukus genießerischen Gesichtsausdruck ins Gedächtnis, seine Weichheit, als er sich mir hingegeben hatte, und sein leises Stöhnen. In diesen zwei Nächten hatte ich ihn so viel besser kennen gelernt, hatte ihn gespürt und er mich.

Ich liebte ihn so sehr, dass es fast ein bisschen wehtat und als ich tatsächlich einen seltsamen Stich im Herzen spürte, spürte ich genauer nach und erschrak heftig:

 

MiA. Auf einmal war er wieder da in meinen Gedanken. Gestern hatte ich nur zwei Mal an ihn denken müssen. Einmal am Strand, als Tsuzuku mich so plötzlich und wild geküsst hatte, und dann abends, als ich auf einmal weinen musste.

Und da war sie wieder, meine Verliebtheit in ihn, die Gefühle, die ich zum ersten Mal gespürt hatte, als ich ihn im Club kennen lernte. Die Erinnerung daran, wie ich ihn bei unserem letzten Besuch dieses Clubs berührt hatte, sein Liebesgeständnis und meines am nächsten Morgen in meinem Zimmer zu Hause.

 

Ich sah Tsuzuku an, der immer noch friedlich schlief, und schon kamen die Tränen hoch, ließen sich nicht aufhalten. Ich sprang auf, lief unbekleidet ins Bad und schloss hinter mir ab. Sank auf den kalten Boden und weinte. Darüber, dass ich MiA betrogen hatte, dass ich Tsuzuku belog, dass diese beiden letzten Nächte so verdammt schön gewesen waren und dass mein Herz sich anfühlte, als würde es in zwei Hälften gerissen.

Tsuzuku. Und MiA. Ich liebte beide, so sehr, wollte beide, und keinen verlieren.

 

Oder liebte ich Tsuzuku mehr? Mit ihm hatte ich, vollkommen willig und genießend, die letzten beiden Nächte verbracht und sozusagen fast mit ihm geschlafen. Er war zuvor mein allerbester Freund gewesen, mein Vertrauter, der Mittelpunkt meines Lebens. Und das war er immer noch.

Auch MiA hatte ich berührt, geküsst, ihm eindeutige Signale gesandt. Weil ich auch ihn wollte. Weil ich auch in ihn verliebt war.

 

„Meto?“, fragte Tsuzuku von draußen und klopfte an die Badezimmertür. „Alles in Ordnung?“ Er war wohl inzwischen wach und aufgestanden. Ich schniefte, nahm ein dünnes Taschentuch aus einer neben dem Waschbecken stehenden Box und putzte mir die Nase.

Ich wusste, mir blieb vorerst keine andere Möglichkeit, als Tsuzuku weiter in Bezug auf MiA etwas vorzumachen.

 

„Ja, ich bin okay“, antwortete ich mit noch zittriger Stimme.

„Wirklich?“

Ich nahm ein Handtuch, wickelte es um meine Hüfte und öffnete die Tür.

„Hast du geweint?“, fragte Tsuzuku, und ich wusste, dass er es mir ansehen konnte.

„Alles gut. Ich war nur… irgendwie traurig, …weiß auch nicht, warum.“

Er streckte die Hand aus, streichelte über meine Wange und zog mich mit der anderen Hand zu sich, um seine Lippen kurz auf meine zu drücken. „Nicht weinen, Meto.“

Ich dachte nur daran, dass er es nicht erfahren durfte. Dass schon wieder ein großes Geheimnis zwischen uns stand. Also lächelte ich tapfer und tat, als sei alles in Ordnung. Und lenkte ab, hoffend, dass er mit den Gedanken weiterhin nicht mal in die Nähe des Themas ‚MiA‘ kam.

 

„Ich hab Hunger“, sagte ich. „Willst du noch mal versuchen, mit dem Frühstück unten?“

Tsuzuku sah mich lange nachdenklich an, nickte dann aber schließlich. Er wollte es versuchen mit dem Essen, und ich hoffte, dass es diesmal besser ausging als gestern Morgen.

 

Als wir dann runter zum Frühstück gingen, wirkte er auch ein wenig entspannter als gestern. Ich vermutete, dass die letzte Nacht ihm wieder sehr gut getan hatte. Auch, wenn Frau Hiranuma, die mich ja im Grunde darauf gebracht hatte, wahrscheinlich nicht geahnt hatte, mit welcher ‚Methode‘ ich nun dafür sorgte, dass Tsuzuku sich gut fühlte, so war ich sehr froh, mit ihr darüber gesprochen und ihre Hilfe angenommen zu haben.

 

„Ich nehm mir einfach was und du kriegst was ab, okay?“, sagte ich, als ich am Buffet bemerkte, dass es für Tsuzuku wieder schwierig wurde. Ihm war anzusehen, dass er innerlich kämpfte, zwischen Hunger und Angst hin und her schwankte. Und so nahm ich neben dem, was ich selbst essen wollte, ein paar etwas fader schmeckende Sachen auf meinen Teller und außer meinem Kakao auch noch ein Glas Wasser.

 

Ich sah, wie Tsuzuku sich die Hand vor die Nase hielt, um den Geruch des Essens abzuwehren, und spürte fast selbst, wie aufgeregt er war. Beruhigend legte ich ihm meine Hand auf den Arm.

„Du schaffst das“, sagte ich leise. „Alles gut, du musst nur, was du willst.“

Er atmete tief durch und wir setzten uns an denselben Tisch wie gestern. Heute waren weniger Leute da und soweit ich das bemerkte, schien uns auch niemand besonders anzuschauen. Ich schnitt das erste Brötchen in zwei Hälften und hielt ihm die eine hin. Er aß es trocken, mit ganz kleinen Bissen und schluckte hastig, trank immer wieder kleine Schlucke Wasser dazwischen.

 

Auf einmal sah er mich an, griff nach meiner Hand und sagte, ganz leise: „Das von letzter Nacht, das war so schön.“

Ich nickte, lächelte, hielt über den Tisch seine Hand und hätte ihn am liebsten vor allen Leuten umarmt und geküsst. Ich liebte ihn so sehr, dass es wehtat, und auf einmal spürte ich den heftigen Wunsch, mit ihm hier zu bleiben, nicht wieder nach Hause zurück zu gehen. Dort wartete MiA und vor dem Wiedersehen mit ihm hatte ich Angst.

„Ja, war es“, sagte ich, ebenso leise wie er. „Ich liebe dich.“

„Ich will nicht wieder zurück“, erwiderte Tsuzuku.

„Ich auch nicht.“

„Wir müssen das irgendwann noch mal machen.“

Ich nickte. Ja, irgendwann mussten wir das wiederholen. Ich spürte, dass seine Sehnsucht danach sehr stark war und mir ging es genauso.

 

„Meto…“, begann Tsuzuku, sah sich kurz um und sprach dann sehr leise weiter: „Ich bin ganz ehrlich zu dir: Ich brauche dich. Sowohl seelisch, als auch körperlich. Ich will gar nicht daran denken, die nächsten Nächte ohne dich zu sein.“

Ich sah ihn an, nickte, lächelte leicht. Und dachte an mein Bett zu Hause, in dem ich heute Abend ganz allein liegen würde. Ohne Tsuzuku, ohne MiA, nur mit meiner kleinen Ruana.

 

Ich hatte nicht gewusst, dass Sex so süchtig machte. Dass man, wenn man es einmal hatte, nicht mehr darauf verzichten wollte. Dass es diese Sehnsucht nach mehr und mehr weckte. Und dass sich diese Lust so schwer beherrschen ließ. Auf einmal verstand ich, warum Menschen Affären hatten, alles für Sex taten, dafür logen und betrogen und damit so viel Geld zu machen war. Weil ich jetzt selbst in so einer Lage war.

Ich dachte an MiA, daran, wie wir uns in der Toilettenkabine des Techno-Clubs berührt hatten. Das war bisher unser intimster Moment gewesen. Mit Tsuzuku war ich nun so viel weiter gegangen.

 

Und wieder musste ich kämpfen, um nicht auf der Stelle los zu weinen. Ich stand auf und lief zu den Toiletten, schloss mich in die erste Kabine ein und kämpfte die Tränen gewaltsam nieder. Mir wurde klar, in was ich mich da verstrickt hatte und dass es keine Möglichkeit gab, da heil wieder rauszukommen. Nur durfte ich jetzt nicht daran denken.

Ich schluckte, kniff mich in den Unterarm, atmete ein paar Mal tief durch und ging zurück zu Tsuzuku, der sich inzwischen die zweite Brötchenhälfte genommen hatte und diese nachdenklich betrachtete.

 

„Hast du die erste geschafft?“, fragte ich.

Er nickte, sah fast ein bisschen stolz aus. Und in dem Moment wusste ich, dass er es schaffen konnte. Dass er jetzt stark genug war, den Kampf gegen diese furchtbare Krankheit aufzunehmen und auch zu gewinnen. Es würde sicher schwer werden und lange dauern, aber am Ende würde er gesund sein.

Ich lächelte und machte mich selbst daran, eine Brötchenhälfte mit Butter und Marmelade zu bestreichen.

 

Nach dem Frühstück gingen wir wieder runter ans Meer. Die Sonne schien, aber heute Nacht hatte es geregnet und der graue Sand am Strand war nass. Wir schauten auf die See hinaus, Tsuzuku hielt mich im Arm und hin und wieder küsste er mich. Ich spürte seine Sehnsucht, wie verliebt er war und wie glücklich, dass ich diese Gefühle erwiderte. Anscheinend hatte er MiA und das, was mich mit diesem verband, vollkommen vergessen.

 

Ich wollte die letzten zwei Stunden, die wir hier für uns allein hatten, so gut wie möglich genießen. Wollte an nichts anderes denken als an Tsuzuku und daran, wie schön es mit ihm war.

Ich sah ihn an, er schaute den Wolken hinterher, seine Lippen waren ganz leicht geöffnet, weckten in mir augenblicklich den Wunsch nach einem Kuss. Ich hob die Hand, berührte seine Wange und brachte ihn dazu, mich anzusehen.

„Ich liebe dich, Tsuzuku“, sprach ich leise und drückte meine Lippen sanft auf seine. Sie waren so wunderbar weich und warm, dass mein Herz wie verrückt klopfte und ich den Kuss immer weiter intensivierte. Ich vergaß, dass das hier öffentlich war, dass uns jemand sehen konnte, dass ich das eigentlich nicht wollte. Es war mir einfach egal. Ich wollte nur noch dem liebsten Menschen, den ich auf der Welt hatte, zeigen, wie wahnsinnig gern ich ihn hatte.

 

„Wann … wann fährt der nächste Zug nach Hause?“, fragte Tsuzuku irgendwann.

„Weiß nicht“, antwortete ich. „Und ich will noch hier bleiben.“

„Ich doch auch“, sagte er und ich sah, wie sich seine Hände zu Fäusten verkrampften. Wieder tat mein Herz fast körperlich weh, als ich an MiA denken musste und daran, dass ich mich trotz meiner Angst auch irgendwie nach ihm sehnte.

„Gehen wir zurück, packen und dann schauen wir beim Bahnhof nach“, sprach ich leise und hätte am liebsten losgeheult.

 

Während wir unsere Sachen zusammenpackten, redeten wir nicht viel miteinander. Ich spürte, Tsuzuku wollte wirklich hier bleiben, aber er wusste offenbar genauso gut wie ich, dass das nicht ging. Wir mussten zurück, ich in meine Villa und er unter die Brücke im Park.

 

Am Bahnhof fuhr gerade der Zug zurück ein, als wir auf den Bahnsteig kamen. Ich sah es als Zeichen, dass diese wundervollen zweieinhalb Tage Urlaub jetzt vorbei waren.

Tsuzuku wirkte sehr angespannt und wir sprachen die gesamte Fahrt über kein Wort miteinander. Ich hoffte, dass er nicht wegen MiA so drauf war. Hoffentlich lag es nur daran, dass er nicht zurück unter die Brücke wollte.

 

Als wir dann wieder in unserer Heimatstadt waren, holten wir als erstes Tsuzukus Schlafsack aus dem Schließfach und machten uns dann direkt auf den Weg in den Park.

 

Schon von weitem sah ich, dass MiA da war, sich mit Haruna unterhielt und ganz offensichtlich auf mich wartete.

Tsuzuku hielt meine Hand und als er MiA ebenfalls bemerkte, wurde sein Griff fester.

Ich atmete tief durch, versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen und meine Hand wegzuziehen.

Doch Tsuzuku ließ mich nicht. Ich sah ihn an, in seinen dunklen Augen funkelte die Eifersucht. Ich fühlte einen Stich im Herzen und wäre am liebsten davongelaufen.

 

Doch in dem Moment blickte MiA auf und bemerkte uns. Er hob die Hand und winkte kurz. Es tat weh, ihn wiederzusehen, doch gleichzeitig freute ich mich, wieder bei ihm zu sein. Und je weiter ich auf ihn zuging, umso unerträglicher wurde es.

„Was ist?“, fragte Tsuzuku neben mir. Anscheinend bemerkte er, dass ich litt.

„Nichts …“, brachte ich mühsam heraus.

 

Haruna winkte uns ebenfalls zu. „Hey, da seid ihr ja wieder!“

Ich winkte zurück, setzte eine Art Maske auf, verbarg, wie furchtbar es mir ging.

Mit einem Mal ließ Tsuzuku meine Hand los und ging mit seinen Sachen zu seinem Schlafplatz. Ich spürte, dass seine Stimmung gekippt, er wütend und aggressiv war. Und jetzt war ich mir sicher, dass es an MiA lag.

 

„Hey, Meto!“ MiA lächelte mich freundlich an. „Ich hab dich vermisst.“ Er stand auf und wollte mich umarmen, aber ich machte einen Schritt zurück. Eine Umarmung hätte ich jetzt nicht ertragen.

„Alles okay?“, fragte er. 

Ich nickte, log immer noch, und dachte an nichts anderes als daran, dass MiA niemals erfahren durfte, dass ich ihn betrogen hatte. Betrogen. Dieses eine Wort wertete die beiden vergangenen Nächte, den wundervollen Dinge, die ich mit Tsuzuku getan hatte, meine Liebe zu ihm ab, machte all das schlecht, obwohl es doch so schön gewesen war.

Ich wollte nur noch nach Hause, in mein Zimmer, die Musik laut aufdrehen und weinen. Wollte nicht reden, nur allein sein, niemanden sehen.

 

„Meto, ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte Haruna. „Du siehst so traurig aus.“

Und ich drehte mich weg, lief davon, kam aber mit meinem Koffer nicht weit, MiA holte mich ganz einfach ein.

„Was hast du denn?“, fragte er und packte mich an den Schultern.

„Nichts!“, fuhr ich ihn an.

„Ist irgendwas passiert?“

Und da konnte ich nicht mehr. Ohne Worte brachen die Tränen aus mir heraus, ich zitterte am ganzen Körper und schaffte es gerade noch bis zu einer der Bänke am Straßenrand. MiA setzte sich neben mich, nahm mich in seine Arme und streichelte über meinen Rücken. Ich wollte gehalten werden und es tat gut, ich hatte MiAs Nähe vermisst.

 

„Soll ich dich nach Hause begleiten?“, fragte er irgendwann.

Ich nickte, wischte mir die Tränen mit dem Handrücken weg. Dunkle Schlieren auf meiner Hand, mein Make-up war mal wieder im Eimer.

Ich drehte mich noch mal um und sah, dass Tsuzukus Sachen auf seinem Platz waren, er aber nicht zu sehen war.

„Ich schau nach ihm!“, rief mir Haruna zu. „Geh du mal nach Hause und ruh dich aus.“

MiA stand auf, hielt mir seine Hand hin, ich nahm sie mit klopfendem Herzen und ging neben ihm her in Richtung Akayama.

 

„Yuu? Alles okay?“, fragte meine Mutter, als sie uns die Tür aufmachte und mein verschmiertes Make-up sah.

Ich war nicht wirklich imstande zu sprechen, deshalb antwortete MiA für mich: „Ja, alles gut, hat sich erledigt.“ Er hatte den Arm um mich gelegt und Mama bedachte ihn mit einem etwas irritierten Blick, sagte aber nichts weiter.

 

Wir gingen rauf in mein Zimmer und ich fing wortlos an, meinen Koffer auszupacken.

„War der Urlaub denn wenigstens schön?“, fragte MiA und lächelte mich an.

„…Ja, sehr.“ Ich erwiderte das Lächeln, jedoch um einiges schwächer, und setzte mich neben ihn auf mein Bett.

„Und geht’s Tsuzuku jetzt ein bisschen besser?“

„Ich… glaube schon…“, sagte ich und musste daran denken, wie wütend Tsuzuku eben gewirkt hatte. Er war eindeutig eifersüchtig und das tat mir weh. Wieder stiegen Tränen auf, ließen sich nicht aufhalten, und wieder war MiA da, hielt mich im Arm und versuchte, mich von etwas zu trösten, wovon er niemals erfahren durfte, was der Grund war.

„Was ist denn passiert, dass du deswegen so weinen musst?“, fragte er.

 

Was sollte ich antworten? Dass ich so todtraurig war, weil ich ihn betrogen und das so sehr geliebt hatte? Dass ich nicht nur in ihn, sondern genauso in Tsuzuku verliebt war? Dass mein Herz sich anfühlte, als würde es in zwei Hälften gerissen?

Nein, ich konnte nichts sagen. Stattdessen schmiegte ich mich aus einem inneren Impuls heraus näher an MiAs Körper, nahm sein Gesicht in meine Hände und drückte meine Lippen auf seine. Er zog mich an sich, wir sanken rückwärts in die Kissen und er begann, mich fordernder, verlangender zu küssen, schob seine Hände unter mein Shirt und drückte mich an sich.

„Ich hab dich so vermisst“, flüsterte er gegen meine Lippen.

„Ich… war doch …nur zwei …Tage weg…“

„Ich war so eifersüchtig. Ich hab mir vorgestellt, wie Tsuzuku und du die ganze Zeit zusammen seid und hab sogar davon geträumt.“, sprach er leise und streichelte unter dem Shirt über meinen Rücken. Beim Gedanken daran, wie richtig er mit seiner Eifersucht lag, verspannte sich mein gesamter Körper und ich versuchte, Abstand zwischen uns zu bringen.

 

„Hey, was ist denn mit dir los?“, fragte er.

Ich riss mich gewaltig zusammen, stand auf und schloss meine Zimmertür ab. „Will nicht, …dass meine Mam …reinkommt… und mitkriegt…“

MiA nickte, schien meine Ausflucht verstanden zu haben. Es tat mir furchtbar weh, ihn so anlügen und wegstoßen zu müssen und gleichzeitig wollte ich in seinen Armen liegen.

„Meto, du musst jetzt nicht denken, dass ich jetzt irgendwas von dir will oder so“, sprach MiA, stand auf und nahm mich wieder in seine Arme. „Ich will dich nur im Arm halten, sonst nichts.“

Ich schmiegte mich wieder an ihn und dieses Mal klopfte mein Herz, weil er mir so nah war und sich das wundervoll anfühlte. Er streichelte meinen Rücken, über meinem Shirt, nicht darunter, und hauchte ab und zu kleine Küsse auf meine Wange.

 

MiA war so anders als Tsuzuku, weniger leidenschaftlich und nicht so besitzergreifend, ließ mir eine gewisse Ruhe. Was keinesfalls bedeutete, dass mich Tsuzukus Art störte, nein, aber es war auch irgendwie entspannend, zu spüren, dass MiA sich sehr viel besser zurückhalten konnte. Bei Tsuzuku spürte ich in jedem Kuss, dass er mehr wollte.

 

„Hast du mich denn auch vermisst?“, fragte MiA mit einem leisen Lächeln.

Ich nickte und dieses Mal stimmte es sogar. In diesen zwei Momenten, in denen ich gestern hatte weinen müssen, hatte ich MiA ja wirklich vermisst.

Wir gingen zu meinem Bett zurück, setzten uns und er sah mich lange einfach nur an. Irgendwann nahm er meine Hand und sagte leise: „Meto, ich verlange wirklich nicht viel von dir. Du musst dich wegen mir nicht vor deinen Eltern outen oder so, und wir müssen, was Sex angeht, auch nichts überstürzen. Aber … es gibt da etwas, das ich sehr gerne möchte.“

Ich sah ihn fragend an.

„Ich möchte gern eine richtige Beziehung mit dir. Eine, zu der du auch Ja sagst. Ich will dich meinen festen Freund nennen, mit dir als Paar auftreten, solche Sachen. Ich liebe dich und so eine unvollständige, lockere Sache, wie es im Moment ist, macht mich unsicher.“

Ich schluckte, spürte einen seltsamen Druck im Herzen. Mir war ja klar gewesen, dass MiA so etwas wollte, eine richtige Beziehung, aber noch während seiner Worte wusste ich genau, dass ich niemals ganz Ja zu ihm sagen können würde. Und da konnte ich ihm nichts vormachen.

 

„Es… tut mir… leid… MiA, aber…“ Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Ich wollte nicht schon wieder weinen, nicht vor ihm wie eine Heulsuse dastehen, doch da tropften sie auch schon hinunter. Schluckend wischte ich mir mit der Hand über die Augen und versuchte, weiterzusprechen. „Ich… ich kann …das nicht… Beziehung und so… das krieg ich… nicht hin…“

„Warum denn nicht?“

„Wir… wir können… alles sein, …Freunde mit …Vorzügen, …was auch immer, …aber kein… Paar. Ich… komm da… nicht mit klar… mit so was Festem…“

„Brauchst du deine Freiheit?“

Ich nickte, froh, dass er mir eine Möglichkeit gab, in diesem Moment aus der Lage, antworten zu müssen, zu entkommen. MiA legte seinen Arm um mich und zog mich an sich.

„Okay. Das muss ich wohl akzeptieren. Ich warte, bis du so weit bist.“

„Danke…“, schluchzte ich und schmiegte mich an ihn. „MiA, ich liebe dich, wirklich, aber… es geht eben nicht.“

„Shhh, ist okay, Meto. Alles gut.“

 

Und ich küsste ihn, mit aller Liebe, die ich in diesem Moment für ihn aufbrachte. Er ließ sich nach hinten sinken, ich mich auf ihn, und wieder schob er die Hände unter mein Shirt. Ich setzte mich auf, zog mir das Shirt über den Kopf und ließ mich neben ihn sinken. Im nächsten Moment war er über mir und küsste meinen Hals, ließ seine Lippen bis auf meine Brust herunterwandern und übersäte mein Tattoo mit vielen kleinen Küssen.

Es fühlte sich so ganz anders an als das, was Tsuzuku mit mir gemacht hatte, obwohl er im Grunde dasselbe getan hatte. Und so musste ich dabei gar nicht so sehr an meinen besten Freund denken, sondern war mit den Gedanken bei MiA.

 

Doch da war immer noch dieses leise Stechen in meinem Herzen, von dem ich wusste, dass es nicht verschwinden würde. Das mich daran erinnerte, dass ich immer einen von ihnen beiden anlügen und betrügen würde, wenn ich … wenn ich mich nicht für einen entschied.

 

Ich sog überrascht die Luft ein, als MiA seine weichen Lippen auf meine Nippel drückte und vorsichtig an der empfindlichen Haut knabberte. Augenblicklich breitete sich in meinem Inneren dieses heiße Ziehen aus, das Tsuzuku vorletzte Nacht in mir geweckt hatte.

„Magst du das?“, fragte MiA.

Ich nickte und stöhnte leise, als er mit seinem Tun fortfuhr und begann, die zarte Haut sanft zu massieren.

„Oh ja“, bemerkte er leise und berührte meine Körpermitte, meine sich schon härtende Erregung.

Ich keuchte auf und wollte ihn bitten, mich fester anzufassen, doch als dürfte es einfach nicht sein, hörte ich in dem Moment ein Klopfen an meiner Zimmertür.

 

„Yuuhei? Alles in Ordnung?“ Mamas Stimme. Augenblicklich schoss mit das Blut in den Kopf, MiA stieg von mir runter und ich beeilte mich, laut „Ja, …alles gut…“ zu antworten.

„Wieso hast du denn abgeschlossen?“, fragte Mama besorgt.

„Weil …darum! Geh bitte… wieder… es ist alles… okay…“, stotterte ich und verfluchte zum gefühlt 32465ten Mal meinen Sprachfehler.

„Ist MiA noch bei dir?“

„Ja“, antwortete er für mich und fügte noch hinzu: „Wir wollten gleich einen Film schauen.“

Ich sah ihn dankbar an und er lächelte.

„Kommt ihr danach zum Abendessen runter?“

„...Ja!“

 

„Du solltest es deiner Mutter irgendwann sagen“, sagte MiA, als sich Mamas Schritte wieder die Treppe hinunter entfernt hatten. „Ewig kannst du das nicht geheim halten.“

Ich nickte, wusste ja, dass er Recht hatte. Irgendwann würde ich meinen Eltern sagen müssen, dass ich Männer auf diese Art weit lieber mochte als Frauen. Doch ich traute mich einfach nicht. Besonders meinen Vater konnte ich in der Richtung schlecht einschätzen und wusste nicht, wie er reagieren würde. Ich hatte nicht wirklich ein enges Verhältnis zu ihm und was er davon halten würde, dass ich schwul war, konnte ich mir einfach nicht positiv vorstellen.

 

„Soll ich weiter machen?“, fragte MiA.

Ich nickte, ließ mich wieder auf den Rücken sinken, er beugte sich über mich und machte da weiter, wo er eben aufgehört hatte. Übersäte meinen Oberkörper mit Küssen, massierte meine Nippel und berührte hin und wieder meine Härte, nur flüchtig, als wollte er sagen, dass er nicht zu viel von mir verlangte. Doch diese nur leichten Berührungen dort reichten mir nicht. Ich wollte mehr, wollte, dass er mich richtig anfasste, fester.

 

Doch dann war da auf einmal Tsuzuku wieder in meinen Gedanken, und die Erinnerung an die letzten beiden Nächte. Ich wusste, wenn ich jetzt mit MiA weiter ging, würde das diese Erinnerungen verblassen lassen und das wollte ich nicht.

„MiA… hör auf, ich…“

„Hm? Alles okay?“

„Ich… ich kann… das nicht… Nicht heute…“, brachte ich mühevoll heraus und sah im selben Moment die Enttäuschung in seinen Augen.

„Warum denn nicht?“

„Ich… bin ziemlich kaputt…“

„Ich dachte, das hilft dir vielleicht…“, sagte er leise und nahm seine Hände von mir weg.

Ich schüttelte den Kopf. „Erst …dachte ich… auch… aber…“ Und schon wollte ich wieder am liebsten losweinen, riss mich aber unheimlich zusammen.

„Ist okay, Meto. Alles gut.“ MiA lächelte ein wenig und ließ mich aufstehen. „Ich geh dann wohl mal besser, oder?“

 

Das wollte ich ja auch wieder nicht. Er sollte bei mir bleiben, ich hatte Angst, heute allein zu sein. Also ging ich zum Regal, suchte eine DVD aus meiner Sammlung und hielt sie ihm hin.

„Ich will… aber, …dass du …bleibst“, sagte ich. „Und… ich will auch.. in deinen Armen… liegen…“

„Aber nicht mehr?“

„…Nicht mehr.“

 

Wir sahen uns den Film dann wirklich zusammen an, aneinander gekuschelt auf meinem Bett. So war es einfacher, fast ein bisschen wie ‚nur Freundschaft‘. Zwar wusste ich, dass MiA sich fragte, warum ich ihn schon wieder erst heiß gemacht und dann abgeblockt hatte, doch er kam nicht darauf zurück und darüber war ich mehr als froh.

 

Als der Film vorbei war, blieben wir einfach liegen, bis meine Mutter erneut an die Tür klopfte und uns darüber informierte, dass erstens mein Vater da und zweitens das Abendessen fertig war.

„Soll ich bleiben?“, fragte MiA.

Ich dachte an meine Eltern und dass ich nicht wollte, dass sie irgendwas von meinem Geheimnis ihnen gegenüber ahnten, und schüttelte den Kopf.

„Okay. Sehen wir uns morgen?“

„Weiß… nicht…“, antwortete ich. „Ich… wollte den Tag… mit Tsu…“

„Ich muss ja auch arbeiten. Aber morgen Abend könnten wir ausgehen.“

„Vielleicht…“, sagte ich.

 

„Yuu? Isst Mia mit?“, fragte Mama von unten.

„Nein.“

Wir gingen zusammen die Treppe runter und bevor MiA aus der Haustür ging, hauchte er mir einen schnellen, aber lieben Kuss auf die Wange. „Dann bis Morgen, mein Süßer.“

Ich drehte mich um und sah, dass meine Mutter in der Küchentür stand und es gesehen hatte. Sie sah mich leicht irritiert an. Ich wusste, irgendwann würde sie fragen. Und ich würde die Wahrheit sagen müssen.

 

Der Moment war sehr viel schneller da, als ich gehofft hatte.

„Sag mal, Yuuhei …“, begann Mama nach dem Essen und sah mich ernst an. „Dein neuer Freund, kann es sein, dass der … ein bisschen vom anderen Ufer ist?“

Wieder dachte ich nur: ‚Jetzt ist alles aus‘  

„MiA?“, fragte ich.

„Andere Freunde hast du ja bisher nicht mit hergebracht. Also ja, ich meine ihn.“

„Wie kommst du darauf?“, mischte sich mein Vater ein.

„Der hat ihn geküsst“, sagte Mama.

„…Aber nur… auf die Wange…“, versuchte ich, das zu retten, was noch zu retten war. „…Wir sind… sehr gute… Freunde…“

„Seit wann küssen sich Jungs untereinander?“, fragte Mama rhetorisch. 

 

Ich spürte, wie mir aufgeregte Röte in die Wangen stieg. Wieso musste MiA mich auch außerhalb meines Zimmers küssen?! Ich war doch noch lange nicht so weit, meinen Eltern gegenüber zuzugeben, dass ich auf Männer stand! Und in diesem Moment war ich mir sicher, dass sie es beide nicht besonders gut aufnehmen würden.

Vorsichtig sah ich meinen Vater an, der sein Essbesteck beiseitegelegt hatte und mich forschend musterte. Ich dachte an den Moment vor drei Jahren, als ich mit meinem ersten Piercing nach Hause gekommen war und er mich angeschrien hatte.

„Was fällt dir ein, so was ohne unsere Erlaubnis machen zu lassen?!“, hatte er gebrüllt und ich hatte mich daraufhin für den Rest des Tages in mein Zimmer eingeschlossen.

Am liebsten wäre ich auch jetzt aufgestanden und wieder in mein Zimmer verschwunden, doch ich wusste, wenn ich das jetzt tat, würde sowohl Mama, als auch Papa das als Eingeständnis deuten.

 

„Yuuhei? Ist da irgendwas zwischen euch?“, fragte Mama.

Seit wann interessierte sie das eigentlich? Seit zwei Jahren hatte sie mich nicht mehr gefragt, was ich machte, mit wem ich meine Tage verbrachte und wo ich mich herumtrieb, doch auf einmal schien sie unbedingt alles wissen zu wollen. Fehlte nur noch, dass sie auf einmal wissen wollte, wofür ich das ganze Geld ausgab.

„Was… interessiert dich… das?“, fragte ich stockend.

„Ich bin deine Mutter. Und ich dachte, wir könnten uns … nun ja, mal wieder ein wenig miteinander befassen, meinst du nicht?“

In mir stieg der Druck. Meine Eltern schauten mich von beiden Seiten des Tisches neugierig an, viel zu interessiert. Ich hatte mich in ihrem Desinteresse eingerichtet, mir ein eigenes Leben aufgebaut und auf einmal mischten sie sich wieder ein, stellten Fragen und wollten Dinge wissen, über die ich weder reden konnte, noch wollte. Ich spürte, wenn sie weiter fragen würden, dann würde ich platzen.

 

„Du bist aber nicht … so … oder?“, fragte mein Vater mit eindeutiger Betonung.

Das reichte. Damit ich aufsprang, dass das Geschirr klirrte. Damit ich ihn wütend anstarrte. Und damit ich, fehlerfrei vor Aufregung, laut und ohne nachzudenken herausplatzte: „Doch, das bin ich! Ich bin genau das, was du jetzt denkst! Ja, ich bin schwul! Ich steh auf Männer und zwar mit allem Drum und Dran! Und MiA ist mein Könnte-vielleicht-was-werden-Freund, den ich auf einer heißen Party abgeschleppt habe, von der ihr nichts wusstet, weil ihr keine Ahnung von meinem Leben habt und ich das auch nicht mehr will!“ Ich spürte heiße Tränen in den Augen, stieß meinen Stuhl um und rannte aus der Küche, rauf in mein Zimmer, schloss die Tür ab und warf mich heulend aufs Bett.

 

Warum? Warum musste mein Coming-Out so laufen? Warum hatte Mama unbedingt diesen kleinen, harmlosen Kuss auf die Wange sehen müssen und warum interessierte es meine Eltern auf einmal, wie ich drauf war? Okay, das vor ein paar Tagen, als Mama mich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder Yuu genannt hatte, war schön gewesen. Und natürlich bedeutete, dass wir uns wieder annäherten, auch, dass sie und Papa auf einmal wieder mehr Interesse an meinem Leben hatten.

Trotzdem: Ich hatte mir mein Coming-Out immer für einen passenden Moment aufheben wollen. Aber gab es diesen ‚passenden Moment‘ überhaupt?

 

Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, stand ich auf, ging zu meiner Musikanlage und legte die aggressivste Platte ein, die ich besaß. Ich wollte jetzt keine Liebeslieder hören, sondern wütende, rebellische Musik, hatte mir mal extra für solche Fälle eine Playlist-CD gebrannt und drehte diese nun fast bis zum Anschlag auf.

Und so hörte ich das Klopfen an meiner Tür erst, als mein Vater mit der Faust dagegen hämmerte.

„Yuuhei, mach die Tür auf!“

Ich drehte die Musik etwas leiser und antwortete: „Nein!“

„Wir müssen mit dir reden!“

„Mich …weiter …ausfragen? Kapiert halt…, dass es euch… nichts angeht!“

„Nein, nur reden“, sprach Mama durch die Tür.

 

Ich ging langsam auf die Tür zu und schloss schließlich widerwillig auf.

„Yuu …“, sagte Mama, als sie mein verheultes Gesicht sah. „Du musst jetzt nicht denken, dass wir dich dafür hassen oder so … Gib uns einfach … ein wenig Zeit, dass wir uns daran gewöhnen können.“

„Lasst mich… einfach… in Ruhe…“, antwortete ich müde. Der Tag heute war einfach zu viel gewesen, ich hatte so viel geheult wie schon lange nicht mehr und wollte nur noch meine Ruhe haben.

„Können wir morgen noch mal darüber reden?“, fragte mein Vater.

Ich nickte, schloss die Tür wieder, stellte die Musik ab, zog mich aus und legte mich mit Ruana im Arm ins Bett. Erschöpft, wie ich war, schlief ich auch bald ein.

Ich lag wach, konnte nicht schlafen, war fast verrückt vor Eifersucht. Drehte mich unruhig hin und her und sah innerlich vor mir, wie Meto, mein Meto, mit MiA weggegangen war.

 

Ich hatte beobachtet, wie MiA ihn getröstet hatte und hatte mit einem Mal eine solche Wut auf diesen Kerl verspürt, dass ich aufgestanden und zu meiner Bank am Fluss gelaufen war, um mich irgendwie zu beruhigen. Am liebsten hätte ich ihm eine riesige Szene gemacht! Das war mein Meto! Meiner!

Haruna war bei mir gewesen, hatte mit mir gesprochen, doch ich hatte ihr kaum zugehört.

„Was ist auf dieser Reise passiert?“, hatte sie gefragt. „Du hast doch nicht einfach so eine solche Wut auf MiA, oder?“

„Meto gehört zu mir!“, hatte ich gezischt und Haruna so wütend angeblitzt, dass sie ohne weitere Fragen aufgestanden und gegangen war.

 

Und jetzt lag ich, obwohl ich wirklich nicht müde war, in meinem Schlafsack und versuchte, einzuschlafen und zu vergessen. Es hingen noch ein paar Leute im Park herum, Haruna und Hanako waren allerdings schon gegangen. Da ich keine Ahnung hatte, wie spät es war, nahm ich wegen der Dunkelheit einfach an, dass es nach sechs Uhr abends war.

Ich hörte Schritte und ein Schatten fiel auf mich. Langsam hob ich den Kopf und sah Koichi vor mir stehen, so feminin zurechtgemacht wie eh und je.

„He, schläfst du schon?“, fragte er leise.

„Nein“, brummte ich.

Koichi setzte sich auf den Boden neben meinem Schlafsack und sah mich abwartend an. Ich hatte eigentlich keine Lust, jetzt mit ihm zu reden, setzte mich aber dennoch auf.

 

„Und? Wie war der Urlaub?“, fragte er.

Ich antwortete zuerst nicht, wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber Koichi wäre nicht Koichi, wenn er nicht sofort erraten hätte, was zwischen Meto und mir passiert war.

„Du hast es ihm gesagt?“, fragte er mit großen Augen nach.

„Ja.“

„Und? Was dann?“ Er klang wie ein neugieriges Schulmädchen.

Ich sah ihn möglichst vielsagend an, wollte es nicht in Worte fassen. Koichi sah mich fragend an und ich antwortete mit einem einzigen Wort: „Sex.“

„Nicht wirklich, oder? Du hast nicht ernsthaft mit ihm geschlafen?!“

„Doch“, sagte ich mit gesenktem Kopf. „Zumindest so was Ähnliches.“

„Also liebt er dich auch?“

Ich nickte. Und bis vorhin war ich mir dessen auch absolut sicher gewesen. Aber dann war MiA da gewesen und Meto war einfach mit ihm mitgegangen. Warum? Ich verstand es einfach nicht. Ich hatte angenommen, dass zwischen den beiden Schluss war, denn warum sonst wäre Meto so auf mich und meine Leidenschaft eingegangen. Doch anscheinend lief da doch noch irgendwas und das machte mich wirklich, wirklich wütend.

 

„Und wieso bist du dann so mies drauf?“, fragte Koichi.

„MiA.“, sagte ich. „Ich weiß nicht, ob du ihn kennst …“

Koichi nickte. „Ich hab ihn gestern Abend kennen gelernt. Und er hat sich mir als Metos Freund vorgestellt.“

Ich ballte meine Hände allein beim Gedanken an diesen Typen zu Fäusten. Der sollte mir die nächsten Tage besser nicht über den Weg laufen. Was fiel ihm eigentlich ein, mir meinen Meto, mein Ein und Alles, einfach wegzunehmen?! Er wusste, wie wichtig Meto für mich war, zumindest ansatzweise hatte ich ihm das selbst gesagt. Und jetzt tat er also auch schon vor anderen so, als würde Meto zu ihm gehören!

 

„Was ist denn passiert?“, wollte Koichi wissen.

„Meto hat geweint. Ich weiß nicht, warum. Und MiA ist dann mit ihm weg, wahrscheinlich hat er ihn nach Hause gebracht.“

„Sag mal, weißt du, wo Meto wohnt und so?“

Ich nickte.

„Darüber hat MiA uns nämlich gestern Abend aufgeklärt.“

„Meto hat’s mir auf der Reise gesagt.“

Koichi lächelte. „Dann ist ja gut. Ich dachte nämlich schon, dass ich dir das sagen muss.“

„Ist doch kein Ding“, sagte ich. Das war es wirklich nicht. Im Vergleich zu der Wut, die ich in diesem Moment auf MiA hatte, war die Sache mit Metos Herkunft eine nebensächliche Kleinigkeit.

 

Ich versuchte, meine Wut daran zu hindern, sich auch auf Metos Verhalten auszudehnen. Versuchte, mir einzureden, dass er nicht mehr für MiA empfand als ein bisschen Anziehung. Da war doch keine echte Liebe zwischen den beiden, oder? Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein!

Allein dieser Gedanke versetzte mir einen heftigen Stich, einen körperlichen Schmerz. Ich keuchte auf und schlang automatisch die Arme um meinen Körper. Mein Herz fühlte sich an, als würde es ein paar Schläge aussetzen.

 „Tsuzuku?“, fragte Koichi besorgt. „Tut dir was weh?“ 

Ich nickte zitternd, konnte ihm nicht in die Augen sehen, doch er rückte näher zu mir, streckte die Hand aus, hob mein Kinn an und zwang mich dazu, ihn anzuschauen. Ich sah, dass er in meinen Augen las und ihm entfuhr ein leises „Oh…“

 

Ich hielt seinen Blick kaum aus, spürte heiße Tränen in meinen Augen, wollte nur noch weinen. Vor Wut und Enttäuschung und weil es einfach furchtbar wehtat.

Und dann waren da auf einmal Koichis Arme um mich, seine Hände streichelnd auf meinem Rücken, noch ehe ich bemerkte, dass ich gerade wirklich in Tränen ausbrach. Er hielt mich, redete beruhigend auf mich ein, war einfach da und strich über meinen Rücken.

 

„Also, damit ich das jetzt alles richtig verstehe“, sagte Koichi, als ich mich ein wenig beruhigt hatte. „Du liebst Meto über alles, er erwidert das und ihr habt sogar schon miteinander geschlafen. Aber gleichzeitig empfindet er etwas für MiA und du weißt nicht genau, wie viel da läuft. Deshalb bist du jetzt wahnsinnig eifersüchtig und hast eine riesige Wut auf MiA, weil er dir den wichtigsten Menschen in deinem Leben wegnimmt.“

Ich nickte, schniefte, fuhr mir mit der Hand über die Augen. Ich hasste es, wenn ich weinen musste, fühlte mich dann so schwach. Doch ich konnte nichts dagegen tun, die Tränen flossen und meine Atmung schluchzte.

 

„Weinen ist vollkommen okay, Tsuzuku“, sagte Koichi leise. „Jeder, der in so einer Lage steckt, hat allen Grund zum Weinen. Das nennt man Liebeskummer.“

„Weißt du, ich … ich hatte ihn schon … Meto … und dann kommt MiA … einfach hier her … und nimmt ihn weg …“

„Ich weiß“, erwiderte Koichi und streichelte weiter meinen Rücken. „Ich weiß.“

„Und … ich muss jetzt aufpassen … dass ich nicht auch noch auf Meto wütend werde … Er … er hat mir doch gesagt, dass er mich liebt, … wieso geht er dann mit MiA mit?“

„Vielleicht muss er das auch erst mal klären. Für sich selbst. Ich kenne Meto ja nicht so gut, aber ich glaube auch nicht, dass er dir was vorgemacht hat. Bestimmt liebt er dich. Aber anscheinend hat er MiA auch sehr gern. Ich weiß ja nicht viel von euch, aber eins kann ich euch allen drei sagen: Ihr solltet das schnellstmöglich klären, bevor ihr euch noch mehr verletzt.“

 

Irgendwann danach muss ich wohl eingeschlafen sein. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, war Koichi weg und ich lag zugedeckt in meinem Schlafsack.

Es war ziemlich kalt und so blieb ich liegen, kuschelte mich so eng wie möglich zusammen und versuchte zuerst, wieder einzuschlafen. Doch zu spät, ich war hellwach.

Ich sah, dass Hiro und ein anderer von uns am Feuerplatz saßen, rauchten und tranken. Kurzentschlossen stand ich doch auf, zog mir meine eiskalte Sweatjacke über und ging zu ihnen hinüber.

 

„Hey, Tsuzuku, biste doch noch wach?“, fragte Hiro.

„Wieder“, antwortete ich knapp und setzte mich auf den Boden neben ihn. Er hatte irgendwie ein ganzes Sixpack Bier aufgetrieben und hielt mir eine Flasche hin.

Ich schüttelte zuerst den Kopf, nahm sie dann aber doch an. Mir war nach Alkohol, Zigaretten und Rumhängen, dem Klischee vom Obdachlosen alle Ehre machen.

„Hast du ‘ne Kippe?“, fragte ich, als mir einfiel, dass ich auf der Reise meine letzte aufgeraucht hatte.

Hiro grinste. „Na klar“ Und hielt mir eine hin. „Find ich cool, dass du dich mal ein bisschen locker machst, Tsu.“

„Gewöhnt euch nicht dran, ich garantier für nichts“, antwortete ich.

Hiro lachte. Und der andere, an dessen Namen, Akira, ich mich erst erinnern musste, lachte mit.

„Ich mein das ernst“, sagte ich, erntete aber wieder nur Lachen. Die beiden hatten schon ganz schön was intus, neben Akira stand eine etikettlose Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, die garantiert nicht ‚Wasser‘ hieß.

 

Ich trank die Bierflasche langsam leer, rauchte, lachte irgendwann mit über Hiros dreckige Witze und ließ mich einfach treiben. Es war lange her, dass ich mit anderen zusammen getrunken und so herumgehangen hatte. Eine Weile ging das gut, aber dann …

 

„… Die Mädels hier sind ja nicht zu haben, alle lesbisch“, sagte Akira irgendwann mit schon leichter alkoholischer Schwere in der Stimme. „Ich werd‘ noch schwul, wenn ich nicht bald eine kriege!“

„Nee, du, das schaffst du nie im Leben!“ Hiro lachte laut. „Du brauchst doch Frauen wie Luft zum Atmen!“ Und auf einmal sah er mich an. „Tsuzuku, du bist bi, oder?“

„Geht dich nichts an!“, erwiderte ich, noch relativ gelassen.

 

Aber Hiro war schon so zu, dass er mir gar nicht zuhörte. Er lachte immer noch. „Du stehst doch auf Meto, ne? Ich hab’s gesehen, wie du ihn anguckst. Was habt ihr im Urlaub zusammen gemacht, hm? Hast du ihn flachgelegt? War’s geil?“ Seine Stimme klang so widerlich betrunken  und wie er die Worte betonte!

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Und ich sah rot.

 

Einen Moment später lag Hiro auf dem Rücken, hielt sich die Wange, starrte mich überrascht an. Ich war aufgesprungen, mein Atem ging ruckartig und meine Hand war zur Faust geballt.

„Spinnst du?!“, fuhr Akira mich an. „Wieso schlägst du ihn?!“

Hiro stand langsam wieder auf, starrte mich weiter an, schien erst langsam zu begreifen, dass er mich wirklich wütend gemacht hatte.  

„Halt dein schmutziges Maul!“, fauchte ich. „Du verstehst überhaupt nichts!“

„Hey, jetzt krieg dich mal wieder ein!“, machte Akira einen Versuch, die Situation, die für mich zu einer absoluten Katastrophe geworden war, zu schlichten.

Ich trat voller Wut die Bierflasche um, sie schlitterte über die Steine und zerbrach an der Umrandung der Feuerstelle in tausend grüne Glassplitter.

 

„Was hab ich denn gemacht?“, fragte Hiro verständnislos und starrte auf die Scherben.

Ich blitzte ihn wütend an, versuchte, mich wieder zu beherrschen. Ich wusste, es war nicht gut, so auszurasten, aber ich wollte einfach nicht, dass dieser betrunkene Idiot so über Meto sprach. ‚Flachgelegt‘, das klang so mies und abwertend! Als hätte ich das nur aus Trieb getan.

„Noch so ein Satz und ich schlag richtig zu“, drohte ich.

Hiro wollte noch etwas sagen, doch da stand auf einmal Akira zwischen uns, der mich entschuldigend ansah und „Sorry“ sagte. Anscheinend war er doch wesentlich weniger betrunken als Hiro. „Er hat’s nicht so gemeint, okay? Und jetzt krieg dich mal wieder ein, Tsuzuku.“

„Lasst mich einfach in Ruhe.“ Ich drehte mich um und ging zum Fluss hinüber. Innerlich kochte ich vor Wut, auf Hiro, auf MiA und auch auf mich selbst. Am liebsten hätte ich noch irgendwas zerschlagen. Wenn ich daran dachte, dass ich letzte Nacht mit Meto im Hotel gewesen war, sozusagen mit ihm geschlafen hatte, wie schön das gewesen war, wollte ich nur noch heulen, schreien vor Verzweiflung.

 

Ich legte den Kopf in den Nacken, blickte in den schwarzen Nachthimmel und versuchte, mich irgendwie zu beruhigen. Suchte nach Sternbildern und der Ruhe, die mir die Weite des Universums sonst immer geboten hatte. Doch da war nur Meto in meinen Gedanken und Gefühlen. Mein Körper sehnte sich nach seinem, mein Herz nach seiner Liebe. Er fehlte mir so sehr, dass es wehtat.

Schon spürte ich wieder Tränen und es war so leicht, ihnen nachzugeben, sie einfach fließen zu lassen. Ich zog die Knie hoch, schlang die Arme um meinen Körper und weinte, bis sich meine Augen trocken und leer anfühlten.

 

Irgendwann stand ich wieder auf und ging zu meinem Schlafplatz zurück. Hiro saß auf seinem Platz und war noch wach, doch zu seinem und meinem Glück ignorierte er mich. Akira war irgendwohin verschwunden. Ich fror und kuschelte mich so tief wie möglich in meinen Schlafsack, spürte deutlich, dass es Herbst wurde, und versuchte, mir konstruktive Gedanken zum Thema ‚Wo verbringe ich den Winter?‘ zu machen, bis ich schließlich erschöpft einschlief.

 

Mein Traum in dieser Nacht war nur allzu lebhaft, fühlte sich absolut real an und war das eindeutige Ergebnis meiner Sehnsucht.

Meto und ich waren wieder im Hotel, er lag nackt in meinen Armen und wir berührten einander. Flüsternd gestand er mir seine Liebe, ich ihm mein Verlangen, er schmiegte sich an mich und ich ließ ihn meine Leidenschaft spüren.

In diesem Traum gab es nur uns beide, da war kein Gedanke an MiA, nichts und niemand außer Meto und mir. Und noch als ich am Morgen aufwachte, spürte ich das Echo des warmen Körpers an meinem, so lange, bis mir langsam klar wurde, dass ich allein war.

 

Seufzend setzte ich mich auf. Die Sonne schien und es waren schon einige Leute im Park, auch welche von denen, die Wohnungen hatten. Ich sah mich um und bemerkte Hiro, der auf seinem Schlafplatz saß und mich anscheinend beobachtete. Mir fiel wieder ein, wie wütend er mich in der Nacht gemacht hatte und ich bedachte ihn mit einem kalten Blick.

Doch zu meiner Überraschung erhob er sich und kam auf mich zu.

 

„Tsuzuku …“

„Hau ab!“, fauchte ich.

„Ich wollte mich entschuldigen … wegen letzte Nacht … Ich war besoffen und so …“

Ganz ehrlich, der Typ konnte mir wirklich gestohlen bleiben. Solche wie er waren einer der Gründe, warum ich bisher Distanz zu den anderen gewahrt hatte. Ich legte keinerlei Wert darauf, mit jemandem befreundet zu sein, der im betrunkenen Zustand nur Mist redete und auch sonst nicht viel anderes als Alkohol im Kopf hatte.

„Halt einfach deine dreckige Klappe und lass mich in Ruhe“, erwiderte ich.

Hiro murmelte ein leises „Okay …“ und ging mit gesenktem Kopf zur Feuerstelle, wo ein paar andere Leute saßen und schon vor dem Mittag Bier tranken. Ich wusste, er war kein schlechter Mensch, nur ein alkoholsüchtiger Idiot, doch das änderte nichts daran, dass ich ihn nicht leiden konnte.

 

Ich saß den halben Tag auf meinem Platz und beobachtete die Menschen. Es war ziemlich kalt und als ich den Kopf hob und die Bäume anschaute, sah ich, dass die Blätter schon deutlich orangene Spitzen hatten. Also wurde es wirklich Herbst. Grund genug, um mir weitere Gedanken darum zu machen, wo ich diesen, und den unweigerlich darauf folgenden Winter verbringen sollte.

 

Als ich die Turmglocke der christlichen Kirche in der Innenstadt dreimal schlagen hörte, sah ich Koichi in den Park und ohne Umschweife auf mich zu kommen.

„Na? Wie geht’s dir heute?“, fragte er und lächelte.

„Geht so …“, antwortete ich ehrlich.

Koichi setzte sich zu mir und sah mir in die Augen. Ich wusste, er versuchte wieder, in ihnen zu lesen.

„Okay, gut, du hast dich abgelenkt“, sagte er. „Womit?“

„Es wird kälter“, sagte ich. „Da muss ich langsam mal überlegen, wo ich den Winter verbringe.“

„Willst du nicht in die Unterkunft?“

„Nein. Ist mir zu voll und so. Ich brauch meine Ruhe.“

Koichi sah mich einen Moment lang nachdenklich an, dann sagte er: „Wir können ja was anderes suchen. Es gibt bestimmt noch mehr Möglichkeiten, man muss sie nur finden.“

„Und die wären?“, fragte ich wenig begeistert.

Koichi grinste, so wie er mich immer angrinste, wenn er mir helfen wollte, und sprach: „Lass mich mal machen, ich finde schon was.“

Ich hatte keine Ahnung, was er sich da vorstellte, nickte aber. Versuchen konnte er es ja mal.

 

„Magst du heute mit mir einen Kaffee trinken gehen? Ich weiß da so eine Bude, die haben den besten in der ganzen Stadt“, wechselte Koichi das Thema.

Ich dachte an die Reise, daran, wie ich gestern Morgen beim Frühstück im Hotel zumindest ein bisschen was gegessen und einen kleinen Kampf gegen die Bulimie gewonnen hatte und nickte wieder. Ich wusste, ich musste dranbleiben, durfte nicht wieder zurückfallen, wenn ich wirklich gesund werden wollte.

„Und dann erzählst du mir, was ihr auf dieser kleinen Reise außer Liebe noch so gemacht habt“, sagte Koichi und lächelte mich an.

 

Wenig später saßen wir zusammen bei der Bude, die ein Stück den Fluss runter am Ufer, gegenüber des kleinen Hafens stand, auf einer kleinen Mauer, heiße Kaffeebecher in den Händen.

Koichi hatte Recht, der Kaffee hier war wirklich gut und es waren trotzdem nur wenige Leute da, sodass ich nach kurzer Zeit ziemlich ungezwungen daherredete und ihm mehr oder weniger detailliert alles von der Reise erzählte.

„Den Laden kenn ich“, sagte er, als ich von dem Visual Kei Club erzählte. „Da bin ich so einmal im Monat auch.“

„Ich hab mich da irgendwie sofort wieder wie zu Hause gefühlt. Früher war ich ja ziemlich aktiv, hab viel gefeiert und so, halt vor allem in der Szene.“

„Und jetzt kannst du das wieder?“

Ich nickte. Und weil ich wusste, dass ich das zum großen Teil Koichi zu verdanken hatte, sagte ich ihm das auch.

Er grinste mich an. „Mach ich doch gerne. Ob du’s glaubst oder nicht, Tsuzuku, ich bin gerne mit dir befreundet.“

„Weißt du …“, erwiderte ich mit einem kurzen, leisen Lachen, „…inzwischen glaube ich dir das sogar.“

 

„Wie der Abend ausgegangen ist, kann ich mir denken, oder?“, fragte Koichi nach einer Weile.

Ich nickte. „Und es war … so wahnsinnig schön.“

„Das glaub ich dir. Du hast das jahrelang nicht gehabt und dann das erste Mal wieder, mit deinem Liebsten, das kann ja nur schön sein.“

„Ich bin ja nicht mal in ihm gewesen, … er konnte das nicht, aber es war trotzdem so wunderschön, dass ich … ich vermiss das jetzt schon.“

Auf einmal wollte ich nur wieder losheulen, hatte das Bild im Kopf, wie Meto mit MiA weggegangen war, das hatte so wehgetan. Ich stellte meinen Becher, der sowieso fast leer war, neben mir ab und schlang die Arme um meinen Oberkörper.  Mir war kalt, ich spürte den Stich im Herzen und meine unbändige Eifersucht. Ich wusste, ich war besitzergreifend, doch ändern konnte ich es nicht. Denn ich wollte meinen Meto auf keinen Fall mit jemandem teilen, der solche Gefühle für ihn hatte!

 

Koichi sagte nichts, legte mir nur die Hand auf den Rücken und streichelte, um mich zu beruhigen und meinen Schmerz ein wenig zu lindern.

Und als ich einfach nicht mehr konnte, in aller Öffentlichkeit in Tränen ausbrach, da hielt er mich im Arm. „Ist okay, Tsuzuku, wir stehen das zusammen durch. Ich bin für dich da.“

Ich war ihm so unendlich dankbar. Er übernahm einfach so, ohne Vorbehalte und Bedingungen, die frei gewordene Rolle meines besten Freundes und hörte sich mein Geheule und meine Wut an. In diesem Moment erschien Koichi mir wie ein Geschenk des Himmels.

Ich wachte davon auf, dass mein Handy einen leisen Piepton von sich gab. Den Ton, der anzeigte, dass ich eine ungelesene Nachricht hatte. Ich erhob mich mit einem leisen Seufzen und griff nach dem mobilen Telefon, das sich auf meinem Nachtschrank befand.

Die Nachricht war von einer nicht eingespeicherten Nummer, doch ich wusste trotzdem gleich, dass es sich um Metos Nummer handelte. Denn wer außer ihm und Mariko, deren Nummer ich unter ihrem Namen eingespeichert hatte, sollte mir so früh am Morgen eine Nachricht schreiben?

„MiA, ich hab’s meinen Eltern gesagt. Gestern Abend. War ziemlich hart, aber geht schon. Sehen wir uns heute Abend? me+0“

 

Sofort musste ich an diesen kleinen, harmlosen Kuss denken, und daran, dass Metos Mutter es gesehen hatte. Sie schien ihn also darauf angesprochen zu haben und in der Folge hatte er es ihr gesagt. So oder so ähnlich stellte ich es mir vor und „War ziemlich hart …“ las sich so, als seien wieder Tränen geflossen.

 

Was mich darauf brachte, mich zu fragen, warum er gestern so furchtbar geweint hatte. Was war passiert, dass er, sobald er mich gesehen hatte, ihn Tränen ausgebrochen war? Ich ahnte, dass es irgendwie mit der Reise zu tun hatte und sofort flüsterte mir meine Eifersucht zu, dass da womöglich doch irgendwas mit Tsuzuku gelaufen war.

Und später, in seinem Zimmer, als ich ihn berührt und geküsst und er mich wieder mal mitten drin abgeblockt hatte, da war dieser Ausdruck in seinen Augen gewesen, den ich irgendwie so gar nicht verstand.

Okay, er schien wirklich diese Freiheit zu brauchen, konnte anscheinend den Gedanken, sich fest an mich zu binden, aus irgendeinem Grund nicht ertragen. Aber warum sagte er mir dann, dass er mich liebte? Spannen nicht allein diese Worte ein Band zwischen uns, das einer Beziehung gleichkam?

 

Ich beschloss, ihn heute Abend vorsichtig darauf anzusprechen, dass ich ihn einfach nicht richtig verstand, und das Gefühl hatte, dass er immer noch Dinge vor mir geheim hielt.

„Heute Abend ist gut, dann erzählst du mir, was los war, ja? MiA“, schrieb ich zurück und speicherte dann Metos Nummer unter seinem Nicknamen ab.

 

Anschließend stand ich auf und ging ins Bad, um zu duschen und mich wie immer hübsch zu machen. Als ich in mein Schlafzimmer zurückkam, saß Sawako auf meinem Bett und putzte sich. Als sie mich sah, gab sie ein leises, ertapptes Gurren von sich, sprang vom Bett und rannte quer durch meine Wohnung zum Sofa. Sie sah so süß aus, egal was sie tat! Während ich mich anzog, beobachtete ich sie und sie bemerkte das, strich mir miauend um die Beine und versah meine dunkle Hose mit ihren feinen, weißen Flauschhaaren.

 

„Och man, Katze, muss das sein?“, fragte ich und sah mich nach der kleinen Bürste um, die ich immer dazu benutzte, die Mengen von Katzenhaaren von meiner Kleidung zu kriegen.

„Miau“, antwortete Sawako und es klang verdächtig nach „Mir doch egal, ob meine weißen Haare an deiner schwarzen Hose kleben“.

„Kätzchen, ich weiß, deine Prioritäten liegen da etwas anders“, sagte ich und ging zu ihrem Körbchen, neben dem die gesuchte Bürste lag, „Aber ich will nun mal keine von deinen Haaren auf meinen Sachen haben.“

Sawako maunzte leise und rannte zur Balkontür, wo sich wieder einmal ein paar Spatzen versammelt hatten, um mit diesen ihre übliche „Ich kann euch eh nicht jagen“-Unterhaltung zu führen.

 

Während sich meine Katze also, ganz die Stadtkatze, damit beschäftigte, eben jene Vögel, die sie als Katze auf dem Land sicherlich gejagt oder mindestens verfolgt hätte, lediglich zu beobachten, schminkte ich mich, setzte Kontaktlinsen ein und entfernte die Katzenhaare wieder von meiner Hose.

 

Auf dem Weg zur Arbeit kam ich am Akutagawa-Park vorbei, konnte jedoch weder Meto, noch Tsuzuku entdecken, was aber wahrscheinlich auch gut so war, wenn ich bedachte, dass Tsuzuku auf mich anscheinend ebenso eifersüchtig war wie ich auf ihn.

Ich sah Haruna und Hanako, überlegte erst, sie anzusprechen, ließ es dann aber doch. Mein Gefühl sagte mir, dass ich mich gerade doch besser aus der Gemeinschaft im Park heraushielt.

 

Als ich den Buchladen erreichte, sah ich schon von draußen, dass heute wohl ziemlich viel los war, denn es stand eine lange Schlange davor. Heute kam der Folgeband einer berühmten Fantasy-Buchserie namens ‚Mirai Kokoro‘ heraus und die Fans standen sicher schon seit Stunden hier, um die ersten zu sein, die den neuen Band in Händen hielten. Manche hatten sich sogar extra entsprechende Cosplays angezogen und machten aus dem Kauf des neuen Buches eine Art kleines Fantreffen.

 

„Miyama, Sie sind spät dran“, sagte meine Chefin, als ich den Laden betrat und mein Namensschild ansteckte. Ich entschuldigte mich und öffnete die Ladentür, woraufhin mir die durchs Warten ziemlich aufgekratzten Fans entgegenstürzten.

 

Innerhalb kürzester Zeit waren mehr als die Hälfte der auf einem Sondertisch ausgelegten Bände von ‚Mirai Kokoro‘ weg und am Mittag hatten wir nur noch zwei Exemplare davon vorrätig. Ich war ziemlich kaputt von der mit dem Verkauf verbundenen Arbeit und als die letzten beiden Bände auch noch weggingen, durfte ich den folgenden Fangirlies immer wieder erklären, dass das Buch bei uns zumindest für heute vergriffen war.

Ich verstand nicht so ganz, warum so ein riesiges Theater um ein Buch gemacht wurde, aber anscheinend hatte ‚Mirai Kokoro‘ dieses Etwas an sich, das dafür sorgte, dass vor allem Mädchen völlig ausflippten, wenn sie nicht augenblicklich den neuesten Band in Händen halten konnten.

 

Gegen drei Uhr kam eine Gruppe von dreien ebendieser weiblichen Fans in den Laden.

„Waaas?!“, kreischte eine von ihnen sofort los, als sie den leeren Sondertisch erblickte. „Die sind alle schon weg?!“

„Tut mir leid“, sagte ich und lächelte entschuldigend.

Das Mädchen drehte sich zu mir um, sah mich an und ich konnte geradezu sehen, wie winzige Sternchen in ihren Augen aufleuchteten. Sie gab ein quietschendes Kieksen von sich und starrte mich an, als wäre ich das letzte Exemplar besagten Buches.

Es war nicht das erste Mal, dass ein Mädchen so auf mich reagierte, aber ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte.

Sie tippte eine ihrer Freundinnen an, deutete auf mich und flüsterte etwas, das nach „Sahneschnitte, Visual, süß“ klang. Es schien ihr kaum peinlich zu sein, einen Fremden derartig zu fangirlen.

 

Ich wandte mich wieder meiner Arbeit hinter dem Tresen zu und tat, als sei es mir komplett egal, doch da hatte ich die Rechnung ohne diese Mädchen gemacht, die den Buttons auf ihrer Kleidung nach ganz offensichtlich zur Fujoshi-Fraktion gehörten. „Hey, dürfen wir dich was fragen?“

Ergeben drehte ich mich wieder zu ihnen um und erwiderte: „Ja, was denn?“

„Bist du schwul?“

Ich hatte so gewusst, dass diese Frage kam und trotzdem war ich kaum darauf vorbereitet. Ich wollte auf keinen Fall zum Objekt für lautes Herumquietschen werden und es ging diese Mädchen auch gar nichts an, also antwortete ich schlicht mit: „Nein.“

Was ja auch irgendwie stimmte. Immerhin hatte ich, bevor ich meine unbändige Vorliebe für Jungs wie Meto entdeckt hatte, auch mal ‘ne Freundin gehabt.

 

Die Enttäuschung war den Mädchen anzusehen.

‚Sorry, Girls, ich bin halt nur bi‘, dachte ich, sagte aber nichts weiter, sondern wandte mich wiederum meiner Arbeit zu, die darin bestand, eine Liste mit Neuerscheinungen in den Computer einzutragen.

Die Mädels sahen sich noch eine Weile um, eine von ihnen kaufte schließlich noch einen Manga und dann zogen sie schnatternd und quietschend wieder von dannen.

 

Der Rest meines Arbeitstages verlief komplett langweilig. Es war absolut nichts mehr los und als ich mich schließlich auf den Heimweg machte, war ich müde, geschafft und gleichzeitig gelangweilt.

Ich machte einen Umweg, um nicht am Akutagawa vorbei zu müssen, wodurch ich in einer etwas zwielichtigen Gegend vorbeikam, in der sich Kneipen, Love Hotels und Bars aneinanderreihten.

Da ich ja heute Abend noch mit Meto ausgehen wollte, ließ ich mich nicht dazu hinreißen, eine der Bars zu betreten und einen Feierabend-Drink zu nehmen und so lief ich an sämtlichen Etablissements vorbei, ohne sie mir näher anzusehen.

 

Während ich dieses spezielle Viertel durchquerte, blieb mein Blick immer wieder an den Reklameschildern der Love Hotels hängen, und ich erwischte mich selbst bei dem Gedanken, irgendwann vielleicht mit Meto in ein solches Hotel zu gehen. Dann, wenn er soweit war. Ich glaubte inzwischen, wenn ich meine Eifersucht außen vor ließ, dass er einfach Zeit brauchte. Und ich war jetzt bereit, ihm diese Zeit zu geben.

 

Als ich zu Hause ankam, lag Sawako auf dem Sofa und schlief. Die Glückliche musste nicht arbeiten, sich nicht mit Beziehungen auseinandersetzen, nicht mal großartig mit der Welt außerhalb meiner Wohnung. Sie schien mit ihrem Dasein als Drinnen-Katze vollkommen zufrieden zu sein.

 

Ich ging ins Bad und begann, mich für den Club schön zu machen. Und für Meto. Ich wollte gut für ihn aussehen, wollte, dass er mir Komplimente machte, war einfach ein verliebter Idiot. Zog hübsche, schön knappe Sachen an, dieselben, die ich auch an unserem ersten Abend, bei unserem Kennenlernen getragen hatte. Und erinnerte mich an den Moment, als ich realisiert hatte, mich in Meto verliebt zu haben.

Ich hatte sogar noch das neonfarbene Clubarmband von jenem Abend, fand es in der Tasche meiner Lackledershorts und legte es auf den Nachtschrank.

 

Zu Fuß, wie immer, ging ich durch die nächtliche Stadt zum Club und sah Meto schon von weitem draußen stehen und auf mich warten.

„Hey“, sagte ich und lächelte.

Er blickte zuerst geradezu durch mich hindurch, doch dann schien er sich zu sammeln und lächelte mich schließlich strahlend an. Es sah fast so aus, als hätte er innerlich einen Schalter umgelegt, den Modus gewechselt.

Ich hielt mich jedoch nicht damit auf, das merkwürdig zu finden, sondern nahm seine Hand und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Na, mein Süßer, wie geht’s dir?“, fragte ich.

Meto wirkte immer noch etwas unkonzentriert, lächelte aber.

„Was hast du heute so gemacht?“, wollte ich weiter wissen.

„… War mit Tsu… im Badehaus…“, antwortete er.

Ich versuchte, mir das gar nicht erst vorzustellen. Sonst ging sicher wieder meine eifersüchtige Fantasie mit mir durch.

‚Stopp, MiA!‘, sagte ich mir innerlich, „Er wird dich wohl kaum heute betrogen haben!‘

 

„MiA…?“ Meto sah mich fragend an und ich hatte wirklich keine Ahnung, wie mein Gesicht gerade aussah. „Alles… okay…?“

Blitzschnell sammelte ich mich wieder und antwortete: „Ähm … ja, alles gut.“

Wir betraten den Club, in dem bereits voller Betrieb herrschte, und holten uns erst mal was zu trinken. Dann gingen wir auf die zweite Ebene zu den Sofas.

 

Mir fiel auf, dass irgendwas anders war, aber erst als wir schon eine Weile da saßen und ich meinen Cocktail schon halb leer hatte, fiel mir auf, was es war: Meto trug ein anderes Oberteil als die letzten Male. Sonst hatte er immer dieses zerfetzte, schwarze Teil angehabt, das sein Tattoo so hübsch zur Geltung brachte, doch heute trug er stattdessen ein bedrucktes, dunkles T-Shirt, welches das ‚Baby‘ vollkommen versteckte und nur die schwarzen Linien auf seinem Arm sehen ließ.

Ich sprach ihn jedoch erst einmal nicht darauf an, sondern fragte stattdessen: „Tanzen?“

 

Meto nickte, schien heute auch nicht sonderlich gesprächig zu sein. Und als wir dann auf der Tanzfläche standen, ging er auch längst nicht so sehr ran wie sonst. Von seiner sonstigen, waghalsigen Leidenschaftlichkeit war kaum etwas zu spüren und er machte nicht mal den Versuch, mich beim Tanzen zu küssen.

Richtig merkwürdig wurde es, als mir auffiel, dass er andauernd beiläufig am Ausschnitt seines Shirts herumzupfte, als wollte er sicherstellen, dass es irgendwas verdeckte. Jedoch nicht auf der Seite, an der sich das Tattoo befand, sondern auf der anderen.

 

„Meto?“, fragte ich, als wir wieder auf einem der plüschigen Sofas saßen. „Ist irgendwas? Du bist heute irgendwie so … anders …“

Ich sah deutlich ein Erschrecken in seinen Augen aufblitzen, doch er zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Nein… Was soll sein…?“

„Ich merk doch, dass was ist!“, erwiderte ich. „Du bist nicht halb so gut drauf wie sonst. Ich meine, sonst gehst du beim Tanzen immer so ran und heute hast du mich noch nicht mal geküsst!“

„Es ist nichts“, beharrte er und zupfte wieder sein T-Shirt zurecht.

Und ich hatte genug. Es war doch offensichtlich, dass er mich gerade anlog! Wieder flammte meine Eifersucht auf und meine Worte waren schneller als ich denken konnte: „Meto, was ist passiert? Du warst heute mit Tsuzuku zusammen, oder? Ist da irgendwas gewesen, was ich vielleicht wissen sollte?“

 

Er starrte mich tief erschrocken an. So, dass mir klar wurde: Ich hatte ihn tatsächlich erwischt. Irgendwas war passiert. Etwas, das mit Tsuzuku zu tun hatte und wahrscheinlich auch mit dem Urlaub der beiden.

Meto schüttelte auf meine Worte hin nur den Kopf und sah mir nicht einmal in die Augen. In seinen sammelten sich Tränen, die seine bunten Kontaktlinsen wegzuschwemmen drohten.

„Es …tut mir leid, MiA“, sprach er leise und schluchzte auf, „… ich kann das nicht…“

„Was kannst du nicht? Sag mir endlich, was los ist!“

„Tsuzuku… geht’s …nicht gut… Er hat …Bulimie und …schneidet sich und… Er braucht… mich… und ich… brauche ihn…“

„Aber … was hat das mit mir zu tun?“

„Er ist… ziemlich …besitzergreifend, …weißt du? Er hat …Angst, mich …zu verlieren.“

Ich konnte meine Frage nicht mehr länger zurückhalten: „Läuft da was zwischen euch?“

Meto sah mich wieder so erschrocken an, schüttelte aber den Kopf. „Ich… hab ihn nur… so furchtbar lieb, …verstehst du?“

 

Ich nickte. ‚Lieb haben‘ klang freundschaftlich und langsam wurde meine Eifersucht wieder weniger. Dass Tsuzuku, was Meto anging und auch sonst, nicht ganz einfach war, wusste ich ja bereits. Das zwischen den beiden schien etwas wirklich Außergewöhnliches und Besonderes zu sein und ich gab auf, es verstehen zu wollen. Offensichtlich konnte da kein Außenstehender wirklich durchblicken.

 

„Aber, Meto, du bist nicht für Tsuzuku verantwortlich. Er ist doch nicht alleine, da gibt es ja auch noch Koichi und die beiden Mädels“, sagte ich.

Meto nickte, sah mich an und nahm dann meine Hand. „MiA? Das …mit dem ‚keine Geheimnisse‘ … ich …kann das nicht…“

„Deine Freiheit?“, fragte ich und er nickte wieder. „Okay“, sagte ich, „Ich zwing dich zu nichts. Du musst mir nicht alles erzählen. Ich will nur, dass du mir sagst, wenn was Wichtiges ist, was ich wissen sollte, alles klar?“

„M-hm“ Er schien darüber sehr erleichtert. Ich hatte nicht gewusst, dass ihm das mit der Ehrlichkeit solchen Druck gemacht hatte und es tat mir leid, genau wie meine Eifersucht.

 

„Nochmal Tanzen?“, fragte ich. „Diesmal richtig?“

Meto lächelte leicht, zog mich hinter sich her zur Tanzfläche. Und auf einmal war er wieder ganz der alte, tanzte leidenschaftlich, küsste mich, schmiegte sich an meinen Körper und machte mich unheimlich glücklich. Und schon war mir wieder egal, dass er Geheimnisse hatte und dass er viel Zeit mit Tsuzuku verbrachte. Solange er mich nur so berührte, mit mir zusammen war, mich liebte, war alles okay.

 

„Soll ich dich noch nach Hause begleiten?“, fragte ich irgendwann, als wir wieder am Rand der Tanzfläche saßen.

Meto schüttelte den Kopf. „Nein… musst du… nicht.“

„Wenn ich aber will?“

„Aber… kein Rummachen… okay?“

„Okay.“ Ich nickte. Obwohl ich natürlich schon gern noch bei ihm im Zimmer den Abend ausklingen lassen wollte. Aber wenn er das aus irgendeinem Grund nicht konnte (und sei es nur, dass er zu müde dafür war), musste ich das eben akzeptieren.

 

Durch die nächtlichen Straßen gingen wir nach Akayama. An der Gartentür zu seinem Haus blieb Meto stehen, griff nach meiner Hand, zog mich an sich und küsste mich noch einmal, heiß und liebevoll, als wären wir schon drinnen und nicht hier auf der Straße, wo uns jeder hätte sehen können.

„Gute Nacht… MiA“, flüsterte er und ging dann ins Haus.

[Zur selben Zeit, als MiA sich im Buchladen mit den Fangirls befassen muss]

 

Ich war, nachdem ich die SMS an MiA geschrieben hatte, wieder ins Bett gegangen und noch einmal eingeschlafen. Der vergangene Tag hatte mir so viel abverlangt, dass ich einfach nur müde war und außerdem wollte ich mit Frühstück warten, bis meine Eltern los zur Arbeit waren.

 

Als ich dann schließlich wieder aufwachte, war es schon weit nach Mittag. Ich beschloss, es heute sehr, sehr langsam angehen zu lassen und ging erstmal ausgiebig duschen, um mich dann anzuziehen, anschließend ganz gemütlich etwas zu essen zu machen und den Fernseher anzuschalten. Während ich also mein Mittagessen im Wohnzimmer aß, mir eine Doku über die Lebewesen in der Tiefsee anschaute (was überraschenderweise wirklich interessant war) und mich von meinen ganzen emotionalen Strapazen zu erholen versuchte, dachte ich ab und zu an Tsuzuku und fragte mich, wie es ihm wohl gerade ging. Ich wollte so gegen halb vier im Park sein und dann vielleicht mit ihm ins Badehaus gehen.

 

Nach dem Essen ging ich wieder rauf in mein Zimmer und begann, meinen Koffer auszupacken. Dabei fand ich Tsuzukus neue Sachen und verstaute sie in der Schublade unter meinem Bett.

Diese Kleidung ließ ihn so anders aussehen als das, was er des Straßenlebens wegen trug, und ich hatte den Eindruck, dass sie Tsuzukus anderes, altes und nun wieder neu sichtbares Ich abbildete. Schwarzes Leder, Lack, Netz, das passte zu dem, wie er sich in unserer ersten gemeinsamen Nacht verhalten hatte. Eine Seite an ihm, die mich zuerst erschreckt hatte, die mir inzwischen aber wirklich gut gefiel. Immerhin schien es ihm so bedeutend besser zu gehen.

 

Ich strich nachdenklich mit der Hand über das synthetische Material des langen Mantels und dachte daran, wie wunderschön Tsuzuku darin ausgesehen hatte. Und wie von selbst wanderten meine Gedanken weiter, zu unserer zweiten Nacht. Ich hörte Tsuzukus wundervolle Stimme in meinem Kopf, hörte ihn seufzen vor Lust und erinnerte mich an das Gefühl, als er unter mir gelegen und sich so vollkommen hatte fallen lassen.

 

Ruana sah mich von ihrem Platz aus fragend an. Sie hatte die ganze Reise über unten in meinem Koffer gelegen und gar nichts davon mitbekommen, was sich zwischen Tsuzuku und mir so sehr verändert hatte.

Ob Teddys wohl wussten, was Liebe ist? Also, solche Liebe? Hätte meine Kleine es deuten und verstehen können, wenn sie mitbekommen hätte, wie Tsuzuku mich berührte? Ich wusste es nicht und Ruana konnte es mir auch nicht beantworten.

Ich wusste nur: Sie war kein kleines, unschuldiges Kind. Es entging ihr nicht, wenn ich mich abends hin und wieder selbst anfasste, da sie ja immer direkt neben meinem Bett saß.

Einen Moment lang überlegte ich, ob ich sie heute mal mit in den Park nehmen sollte, doch ich entschied mich dagegen. Ihr Platz war hier zu Hause und wenn ich mit Tsu ins Badehaus wollte, würde sie eh nur im Spind warten müssen.

 

Ich packte noch den Rest meiner Sachen aus dem Koffer zurück in den Schrank und räumte noch ein bisschen mein Zimmer auf, dann packte ich meine und Tsuzukus Badesachen zusammen und machte mich um Viertel vor vier auf den Weg in den Park.

 

„Da bist du ja!“, begrüßte mich Hanako und kam auf mich zu. „Ich hab da noch ein kleines Hühnchen mit dir zu rupfen, Meto!“

Was? Ich sah sie fragend an.

„Thema Vertrauen, mein Süßer. Warum hast du uns denn nicht gesagt, wo du wohnst?“

Mein Herz setzte einen gefühlten Schlag aus und ich starrte Hanako erschrocken an. „…Woher…?“

„Dein Herzeschatz MiA hat’s uns erzählt. Er meinte, du würdest dich nicht trauen, uns von selbst die Wahrheit zu sagen. Sag mal, hast du echt gedacht, dass wir dich rausschmeißen, nur weil du reich bist?!“ Hanako stemmte die Hände in die Seiten und sah mich streng an. „Was denkst du eigentlich von uns?!“

„…Ich dachte… weil“, begann ich, doch sie unterbrach mich: „Ist ja auch egal. Wir wissen’s jetzt alle und keiner hat ein Problem damit. Womit ich allerdings ein kleines Problem hab, ist dein Mangel an Vertrauen. Ich dachte, wir wären Freunde!“

„…Sind wir… ja auch… aber ich…“

 

„Du dachtest jetzt aber nicht wirklich, dass wir dich hassen, nur weil wir arme Punks sind und du halt reiche Eltern hast? Ha! Als ob wir auf so was Wert legen würden, eh!“ Hanako holte Luft und lächelte mich dann plötzlich an. „Und jetzt geh schon, Tsuzuku wird sonst noch ganz verrückt ohne dich.“

„Wie… meinst du das…?“, fragte ich.

„Er hat gestern den ganzen Abend völlig fertig auf seinem Platz gelegen und geheult. Was hast du mit ihm gemacht, dass er dich dermaßen vermisst?“

Ich schluckte. Tsuzuku hatte geweint? Wegen mir?

„…Es ist… kompliziert…“, sagte ich leise und endlich ließ Hanako mich vorbei.

 

Tsuzuku saß auf seinem Platz, aber er war nicht allein. Koichi saß neben ihm und die beiden unterhielten sich über irgendwas.

„Hey“, sagte ich, als ich vor ihnen stand.

Tsuzuku hob den Kopf, sah mich an und in seine Augen trat ein warmes, wunderschönes Leuchten. Er sprang auf, machte einen Schritt auf mich zu und einen Moment später fand ich mich in seinen Armen wieder, fest an seinen Körper gedrückt.

„Meto“, sprach er leise, „Ich hab dich so vermisst!“

„Ich war doch gar nicht lange weg…“, erwiderte ich ebenso leise. 

„Es hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt.“ Und auf einmal waren da, ganz weich und flüchtig, kaum mehr als ein kurzer Hauch, seine Lippen an meinem Hals.

 

„Na dann … geh ich mal“, riss uns Koichi aus der kurzzeitig aufgekommenen Verliebten-Sphäre und wandte sich zum Gehen.

Tsuzuku ließ mich los und hielt ihn am Arm fest. „Danke. Für den Kaffee und das alles.“

„Gerne doch.“ Koichi lächelte ihn an.

Zwischen den beiden schien sich eine wirklich gute Freundschaft entwickelt zu haben und ich spürte wieder, wie sehr mich das erleichterte. Endlich war ich nicht mehr alleine für Tsuzuku verantwortlich. Ich blieb der wichtigste Mensch in seinem Leben, war aber nicht länger der einzige.

 

Als Koichi weg war, fragte ich: „Wollen wir ins Badehaus? Ich hätte da gerade Lust drauf.“

„Klingt gut“, sagte Tsuzuku, sah mich von oben bis unten an und fügte dann mit diesem einen, speziellen Lächeln auf den Lippen und einem leicht lüsternen Tonfall „Sogar sehr gut“ hinzu.

Er hatte doch nicht wirklich vor, in aller Öffentlichkeit mit mir auf schwer verliebtes Pärchen zu machen, oder?

 

Wir schlossen wie üblich Tsuzukus Sachen in ein Schließfach am Bahnhof ein und machten uns dann auf den Weg ins Badehaus. Den ganzen Weg über hielt er meine Hand und ich spürte deutlich, wie verliebt er war. Verliebt in mich, der ich vorher sein allerbester Freund gewesen war.

Er sah mich an und seine hübschen Lippen verzogen sich zu einem süßen Lächeln.

„Ist dir das immer noch peinlich?“, fragte er.

„Was?“

„Dass ich deine Hand halte und dich am liebsten hier und jetzt küssen würde.“

Ich schüttelte den Kopf. „Na ja…“, sagte ich dann leise, „…ein bisschen schon.“

„Dann wird’s Zeit, dass wir dir das abgewöhnen“, sagte Tsuzuku.

„Dir ist auch gar nichts peinlich.“

Er grinste. „Nein, so was nicht.“ Und dann: „Wenn man auf der Straße lebt, wo einen jeder immerzu sehen kann, vergeht einem so was wie Peinlichkeit.“

 

Wir erreichten das Badehaus und als wir wenig später in der Vordusche standen, fiel mir etwas auf: Dieser kritische, schmerzvolle Blick voller Selbsthass war fast völlig aus Tsuzukus Augen verschwunden. Ich beobachtete verstohlen, wie er sich abduschte, einseifte und die Seife abspülte, und sah, dass sich etwas in seinem Verhältnis zu seinem Körper verändert, verbessert hatte.

War es eingebildet, wenn ich dachte, dass das möglicherweise an mir lag?

 

Es waren nicht allzu viele Leute im Badehaus und wir suchten uns eine abgelegene Ecke, in der es vollkommen ruhig war und uns auch nicht gleich jeder sehen konnte. Eine Nische hinter einer Trennwand, wo wir uns in das warme Wasser setzten.

Und kaum waren wir allein, spürte ich seine Hand auf meinem Rücken, er zog mich näher zu sich und begann, mich zu streicheln. Ich wandte mich ihm zu, streckte langsam die Hand aus und legte sie an seine Brust. Strich über die beiden gewitterblauen Tattoos und berührte vorsichtig das ringförmige Implantat unter seiner Haut. Ich hatte es bisher immer nur kurz betrachtet und irgendwie war es mir noch nie so anziehend und interessant erschienen wie in diesem Moment.

„Magst du’s?“, fragte Tsuzuku.

Ich nickte. „Ich hab das noch nie außer bei dir gesehen. Ich finde … es macht dich einzigartig.“

„Danke.“ Er lächelte.

 

Doch auf einmal war da wieder dieser Schatten in seinen Augen, als hätte ich ihn an irgendetwas Schlimmes erinnert. Ich beugte mich vor, wollte diesen Schatten vertreiben, nahm Tsus Gesicht in meine Hände und küsste ihn, unterbrach den Kuss nur, um mich auf seine Beine zu setzen und ließ zu, dass er mich eng an seinen fast nackten Körper drückte.

„Du bist wundervoll, Meto, weißt du das?“

Ich nickte enthusiastisch und drückte meine Lippen wieder auf seine, mein Herz klopfte wie verrückt. Tsuzuku verstand es wirklich, mich wahnsinnig zu machen!

 

Jetzt war er es, der den Kuss unterbrach, leicht den Kopf senkte und seine Lippen meinen Hals hinab wandern ließ, Küsse auf meine rechte Schulter tupfte und an meiner Haut nippte. Ich fuhr mit den Fingern durch seine nassen, tiefschwarzen Haare und seufzte, als er vorsichtig zu knabbern begann und so fest an meiner Haut saugte, dass ich sofort wusste: Das wird ein Knutschfleck.

„Tsu…!“, protestierte ich, doch meine Stimme klang viel zu angetan, als dass er auf mich gehört und sein Tun gestoppt hätte.

„Ach komm, das gefällt dir doch“, erwiderte er nur. Womit er leider absolut Recht hatte. Ich liebte diese andere Seite an ihm, seine Leidenschaft und Lust an mir, sein Selbstbewusstsein, das ihn so viel stärker wirken ließ als vorher. Es gab mir Sicherheit, zu spüren, dass es ihm gut damit ging und dass er wusste, was er wollte.

 

Doch ich musste an MiA denken und daran, dass ein Knutschfleck sofort verraten würde, dass zwischen Tsuzuku und mir eindeutig sehr viel mehr als Freundschaft lief. Wieder spürte ich den Stich im Herzen und dieses Gefühl, langsam zerrissen zu werden. Ich blinzelte, atmete tief ein und aus, versuchte, den Schmerz zu vertreiben.

Tsuzuku deutete mein tiefes Atmen als Zeichen meiner Erregung und küsste weiter meine Halsbeuge, was mich wider Willen leise stöhnen ließ.

„Tsu…zuku… Nicht hier!“, keuchte ich, da ich jeden Moment damit rechnete, dass jemand an der Nische vorbeikommen und uns sehen würde.

„Wo dann?“, fragte er gegen meine Haut. „Love Hotel?“ Er hob den Kopf, sah mir in die Augen und über seine Lippen huschte wieder dieses anzügliche Lächeln.

Ich schüttelte den Kopf, dachte an MiA und daran, dass ich ihn heute Abend noch treffen wollte. Schon allein dieser Gedanke tat weh.

 

Tsuzuku legte seine Arme um mich und drückte mich fester an sich, sodass ich seinen Herzschlag spüren konnte. Das Wasser um uns herum, ohnehin ziemlich warm, erschien mir mit einem Mal noch wärmer und ich spürte, dass ich langsam heiß wurde.

„Bitte, Meto“, bat er und sah mich wieder so bittend an wie am Anfang unserer ersten Nacht. Wusste er eigentlich, wie einnehmend er war? Dass ich nicht gegen ihn ankam, wenn er so versuchte, mich zu überzeugen?

Er spürte, dass ich schon am Nachgeben war, und lächelte.

„Du bist gemein“, sagte ich, viel zu leise.

„Ich weiß.“

„Okay, wir gehen noch ins Hotel“, sagte ich schließlich, fügte aber noch hinzu: „Aber nichts übertreiben, Tsu.“

Er grinste mich nur wieder an und drückte einen weiteren Kuss auf meine Halsbeuge.

 

Wenig später stiegen wir langsam aus dem heißen Wasser und gingen zu den Duschen. Als ich dann kurz darauf mit meinem Handtuch zu den Umkleiden wollte, griff Tsuzuku meine Hand und flüsterte: „Ich freu mich schon …“

‚Oh Gott …‘, dachte ich, ‚Wie wichtig ihm das ist!‘

Während ich mich abtrocknete und anzog, versuchte ich, nicht an MiA zu denken. Ich wusste, wenn ich jetzt zu viel an ihn dachte, würde ich wieder weinen müssen und Tsuzuku würde das natürlich bemerken und sich wundern, warum ich wie aus dem Nichts in Tränen ausbrach.

 

‚Denk jetzt nur an Tsu!‘, befahl ich mir und atmete einmal tief ein und aus. Erinnerte mich an die Reise und die beiden Nächte, und spürte allein beim Gedanken daran, wie Tsuzuku mich berührte, dieses wundervolle, kribbelnde Ziehen in meinem Innern.  

Und auf einmal war mir egal, dass ich MiA heute Abend noch treffen wollte. Den Knutschfleck an meiner Schulter, von dessen dunkelroter Existenz ich mich mit einem kurzen Blick in den Spiegel der Umkleidekabine überzeugen konnte, würde ich schon zu verdecken wissen. Ein T-Shirt würde wohl ausreichen.

 

Mit noch leicht feuchten Haaren verließen wir das Badehaus, doch diesmal gingen wir nicht zurück in Richtung des Parks, sondern ohne weitere Umwege ins sogenannte Vergnügungsviertel (wenn man das in unserer Kleinstadt so nennen konnte). Ich war, bevor ich meinen derzeitigen Lieblingsclub entdeckt hatte, ein paar Mal hier gewesen, hatte jedoch festgestellt, dass mir die Etablissements hier zu zweideutig waren.

 

Tsuzuku hielt wieder meine Hand und führte mich geradewegs auf das erste Love Hotel zu, das von außen gar nicht mal so schlecht aussah. Es schien, als würde er dieses Haus kennen, wahrscheinlich aus seinem früheren Leben.

„Warst du hier schon mal drin?“, fragte ich.

Er nickte. „Früher. Als ich so was wie Freundinnen hatte.“

Freundinnen. Ich konnte mir das irgendwie kaum vorstellen. Zum einen, weil ich Tsuzuku als zuerst so-was-wie-asexuell und jetzt eben homo kannte, und zum anderen, weil ich halt noch nie gesehen hatte, wie er einem weiblichen Wesen derartige Blicke zuwarf.

„Kannst du dir nicht vorstellen, oder?“, erriet er meine Gedanken. „Ich war früher so ein furchtbarer Player. Aber … heute könnte ich das nicht mehr.“

„Weil du jetzt mich hast?“

„Ja. Und weil ich mich verändert habe.“

 

Wir betraten das Hotel. Der Empfangsschalter war komplett automatisiert, da saß offensichtlich keine Rezeptionistin mehr dahinter und so konnte ich für eine Stunde bezahlen, ohne reden zu müssen. Als wir mit dem Zimmerschlüssel die Treppen zu dem Zimmer, das uns die freundliche Automatenstimme genannt hatte, hinaufstiegen, klopfte mein Herz auf einmal wie verrückt.

„Bist du aufgeregt?“, fragte Tsuzuku.

Ich nickte und versuchte, das plötzliche Zittern meiner Hände zu unterdrücken.

„Musst du nicht sein“, sagte er und lächelte leicht. „Ich tu nichts, was du nicht willst.“

„Das ist es nicht. Ich … ach, ich weiß auch nicht …“ War das schon eine Lüge, wenn ich sagte, dass ich nicht wusste, warum ich auf einmal solche Angst hatte? Weil ich irgendwo ahnte, dass das, was ich gleich tun würde, nichts anderes war, als MiA zu betrügen?

 

Tsuzuku blieb stehen und ich sah die Tür mit derselben Nummer wie auf dem Schlüssel vor uns.

Auf seinen Lippen lag dieses eine, ebenso anzügliche wie anziehende Lächeln. Er schloss die Tür auf und schob mich in das dunkle Zimmer dahinter, schloss hinter uns ab und ließ den Schlüssel und unsere Tasche einfach zu Boden fallen, bevor er sich auf mich stürzte, mich küssend rückwärts zum schemenhaft erkennbaren Bett drängte und nur kurz von mir abließ, um sich mit fahrigen Händen Schuhe, Jacke, Pullover und Jeans vom Leib zu zerren.

 

„Zieh dich aus. Oder soll ich?“ Er wartete meine Antwort kaum ab, ich konnte nur noch nicken, bevor er sich über mich beugte und mich ebenso ungeduldig aus meiner Jacke schälte, mir mein Shirt über den Kopf zog und sich dann vor mir und dem Bett hinkniete, um mir Hose und Schuhe auszuziehen, mich dann weiter aufs Bett zu drängen, wo er sich sofort auf mich legte und seinen Körper an meinen drückte. Ich hörte ihn leise stöhnen und spürte deutlich, wie erregt er war, dass er sich kaum noch unter Kontrolle hatte vor Lust.

„Ich … hab dich so vermisst, Meto …“, sprach er, lustvoll seufzend. „Ich werde …  wahnsinnig ohne dich!“ Seine heißen Hände wanderten über meinen Körper, suchten nach heißen Zonen und fanden sie auch.

„Aber… ich kann doch nicht immer bei dir sein“, widersprach ich leise.

„Versprich mir, … dass du mich liebst!“ Tsuzukus Lippen waren wieder an meinem Hals, saugten an meiner Haut, ich spürte seine gespaltene Zunge.

„Versprochen … Ich … liebe dich …“, keuchte ich und wusste, dass es nicht gelogen war. Wenn er mich so berührte, liebte ich nur ihn, dann fühlten sich meine Gefühle für MiA wie ganz weit weg an.

 

Es war immer noch dunkel im Zimmer, ich drehte ein wenig den Kopf und sah, dass die Jalousien nur zwei kleine Spalte Licht einließen, gerade hell genug, dass ich ungefähr wusste, wie das riesige, runde Bett stand, und dass ich Tsuzuku ein bisschen sehen konnte.

„Magst du’s so dunkel?“, fragte er, seine Stimme klang sanft und liebevoll.

Ich nickte, ließ ein leises „Ja“ hören. Ich fand die Dunkelheit romantisch, wollte spüren, hören, fühlen, nicht sehen.

Er strich mit den Fingerspitzen unter meinem Kinn entlang und drückte kurz seine Lippen auf meine, bevor er sprach: „Ich würde dich aber viel lieber sehen.“

 

Auf einmal richtete er sich auf, ging von mir runter und ich sah ihn schemenhaft in der Schublade des ans Bett angebauten Nachtschranks herumkramen. Kurz darauf hörte ich das leise Klicken eines Schalters und gedimmtes, gelbes Licht füllte den Raum. Ich sah, wie Tsuzuku etwas aus der Schublade nahm und als er sich zu mir umdrehte, erkannte ich auch, was er da in der Hand hatte: Eine schwarze Augenbinde aus dicht gewebtem, weichem Stoff.

„Ist die okay?“, fragte er. „Dann kann ich dich sehen, aber du hast deine Dunkelheit.“

Ich musste einen Moment überlegen. So eine Augenbinde erinnerte mich an gewisse Praktiken, die ich nur aus Büchern kannte. Ich hatte mich eigentlich nicht für jemanden gehalten, der so etwas mochte, aber so, wie Tsuzuku das sagte, klang es irgendwie ganz normal.

 

Schließlich nickte ich und hob ein wenig den Kopf, damit er mir die Binde anlegen konnte, was er auch sofort tat. Der weiche Stoff schmiegte sich eng an mein Gesicht und ich konnte nun wirklich außer einem ganz leichten Lichtschimmer am unteren Rand nichts mehr sehen. Mir vorstellend, dass es im Zimmer dunkel war, atmete ich tief durch und spürte im nächsten Moment wieder Tsuzukus warmen Körper über meinen Beinen knien und seine Hände an meinen Schultern. Und dieses leichte Ziehen im Innern.

„Ouh…“, hörte ich ihn seufzen, „… Hast du eine Ahnung, wie heiß das jetzt aussieht …?“

Ich schüttelte den Kopf, wusste jetzt nicht, was daran so besonders heiß sein sollte, dass ich eben die Augen verbunden hatte, aber offenbar schien es ihn ziemlich anzumachen.

Sekunden später fühlte ich, wie er sich vorbeugte, und hörte seine Stimme ganz nah an meinem Ohr: „Dann weißt du es jetzt.“

„Stehst du auf so was?“, fragte ich.

 

Er ließ meine Frage unbeantwortet, küsste mich stattdessen, wild und leidenschaftlich, ließ seinen Körper dabei wieder ganz auf meinen sinken und begann, zuerst langsam, sich an mir zu reiben. Ich ging darauf ein, so gut ich konnte, hatte aber irgendwie das Gefühl, ihn damit nicht ganz zufrieden zu stellen. Er wirkte auf diesem Gebiet so erfahren und ich kam mir irgendwie ein bisschen unfähig vor.

 

„Meto… was ist?“, fragte er atemlos, denn natürlich entging ihm nicht, dass ich noch nicht halb so erregt war wie er.

„Ich weiß nicht …“, antwortete ich.

„… Willst du nicht?“ Ihm war anzuhören, dass ihn allein der Gedanke daran beinahe enttäuschte.

„Doch“, widersprach ich, denn wollen tat ich ja schon, sehr sogar.

„Schön.“ Tsuzuku lachte leise, seine schöne Stimme war ganz nah an meinem Ohr, und sprach: „Wollen wir doch mal sehen, ob wir dich auch noch geil kriegen …“ Und schon waren da seine Finger an meinen Brustwarzen, strichen sanft und doch fest über die noch weiche Haut, was das Ziehen in meinem Innern augenblicklich aufheizte und nach unten wandern ließ.

„Na, geht doch“, bemerkte er, lachte wieder und machte weiter, rückte ein Stück nach unten und drückte seine Lippen auf meine Nippel, die augenblicklich hart wurden. „Mmmh…“ Er lächelte hörbar und schon spürte ich seine Zunge und Zähne auf der Haut, und das starke Kribbeln in meinem Bauch.

 

Ich streckte meine Hände aus und tastete nach ihm, berührte seine weichen Haare und verfing meine Finger in ihnen. Dadurch, dass ich die Augenbinde deutlich spürte, konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass es auch um mich herum dunkel war. Und als ich mir so richtig vorstellte, wie das jetzt wohl aussah, ich unter ihm und meine Augen verbunden, da verstand ich auf einmal, was er daran so erregend fand. Ich war ihm dadurch, dass ich nichts sehen konnte, aber er schon, in gewisser Weise ausgeliefert und das schien ihm zu gefallen.

Blind ließ ich meine Hände weiter wandern, über seinen Nacken, Rücken, dann nach vorn, bis ich seine gepiercten Nippel unter meinen Fingern spürte. Er sog hörbar die Luft ein und als ich die zarte Haut vorsichtig massierte, stöhnte er tief auf. Der erregte Klang seiner Stimme trieb mir einen heißen Schauer über den Rücken.

Oh Gott, wusste er eigentlich, was für eine wunderschöne Stimme er hatte?

 

Ich verstärkte den Druck meiner Finger, reizte vorsichtig und lauschte seinem Stöhnen, das sich so, wo ich nichts sehen konnte, noch viel intensiver anhörte. Zu gern hätte ich jetzt den Ausdruck auf Tsuzukus Gesicht gesehen. Ich stellte es mir vor, seine sinnlich geöffneten Lippen, fast geschlossenen Augen, leicht schweißfeuchte, schwarze Haarsträhnen in der Stirn, die ruckartigen, tiefen Bewegungen seiner Brust beim Atmen …

Ich ruckte mit dem Kopf hin und her, um die Augenbinde ein wenig zu lockern, doch er hatte sie ziemlich fest gebunden, sodass ich keine Chance hatte, sie ohne auffällige Zuhilfenahme meiner Hände zu lösen.

 

Und bevor ich ihm mitteilen konnte, dass ich ihn nun doch sehen wollte, spürte ich seine Hand an meiner Körpermitte, wie er sich an mich drückte und uns so beide gleichzeitig dort berührte. Der Gedanke daran trieb mir den in oberen Regionen verbliebenen Teil meines Blutes in die Wangen und machte mich noch heißer. Ich hörte meinen Namen, atemlos gestöhnt von dieser wundervollen Stimme, die in diesem Moment so erregt und rau klang, dass ich meinen ehemals besten Freund kaum wiedererkannte.

 

Ich richtete mich, soweit es ging, auf und stützte mich mit den Armen ab, wurde jedoch gleich wieder in die Matratze gedrückt und spürte gleich darauf heiße Lippen an meinem Hals. Hand und Glied an meiner vor Hitze glühenden Körpermitte bewegten sich immer fordernder und ich spürte, dass Tsuzuku langsam aber sicher die Kontrolle über sich verlor.

 

„Tsu …“, keuchte ich atemlos, „… ich will dich sehen!“

Er antwortete zuerst nicht und ich wusste, dass er auch keine Hand frei hatte, denn während er mit der einen mich und sich selbst verwöhnte, musste er sich mit der anderen neben mir abstützen.

„Dann … mach die Binde ab …“, keuchte er schließlich und ich nahm meine Hände von ihm weg, um das schwarze Stück Stoff von meinem Gesicht zu lösen. Augenblicklich sah ich das, was ich mir eben schon annährend vorgestellt hatte, nur war der Anblick, der sich mir nun in echt bot, um einiges erregender als meine Vorstellung:

Tsuzuku hatte dieses wahnsinnig schöne Leuchten in den Augen, seine tätowierte Haut schimmerte fast seidig im gedimmten Licht und über seine Lippen huschte, immer wieder von seinem Stöhnen unterbrochen, dieses eine Lächeln.

Ich senkte zögerlich meinen Blick nach unten und erblickte, zum ersten Mal bei Licht, seine Hand an meiner Erregung. Sofort klopfte mein Herz wie verrückt und ich spürte, wie ich noch mehr errötete als ohnehin schon.

 

„Das muss dir nicht peinlich sein, Meto.“ Seine Stimme klang wieder so sanft und lieb. „Bin doch nur ich, der dich da anfasst.“

Er wartete nicht ab, ob ich etwas erwiderte, sondern machte einfach weiter, brachte sich und mich zum Stöhnen und ließ mich schließlich schreiend in seiner Hand kommen, kurz bevor er selbst vom Höhepunkt überrollt wurde und sich laut und tief stöhnend auf meinen Bauch ergoss.

 

Tsuzuku ließ sich neben mich fallen und eine Weile blieben wir einfach so liegen. Dann erhob er sich, griff nach der ganz selbstverständlich auf dem Nachttisch stehenden Taschentücher-Box und befreite sich und mich von den Spuren unserer Lust, bevor er sich wieder neben mich legte.

 

„Sag mal…“, fragte ich und streichelte seinen tätowierten Arm, „Was mochtest du eben daran so, dass ich die Augen verbunden hatte?“

Tsu lachte leise. „Du fragst Sachen! Hm, ich schätze, ich bin eben so, dass ich drauf stehe.“

Ich sah ihn fragend an.

„Was machst du mit mir, wenn ich dir sage, dass ich auf dieses Machtgefühl stehe? Dass ich es mag, zu spüren, dass du zu mir gehörst und dich mir so anvertraust? Dass es mich wahnsinnig anmacht, wenn du dich mir so auslieferst?“, fragte er schließlich, blickte dabei an die Decke.

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Vielleicht gab es darauf auch keine Antwort. Er war eben so und ich liebte ihn, seine ganze Art und eben auch das. Es passte zu ihm und obwohl ‚Machtgefühl‘ und ‚sich ausliefern‘ irgendwie fast schon etwas verwerflich klang, musste ich zugeben, dass es mir gefiel, ihn so zu erleben.

„Magst du das denn?“, fragte er, fast als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich nickte, diesmal sogar ohne rot zu werden.

 

Tsuzuku beugte sich über mich und hauchte einen Kuss auf die Lippen, bevor er fragte: „Hab ich dir schon mal gesagt, wie wundervoll du bist?“

Wieder nickte ich, erinnerte mich, dass er das schon mehr als einmal gesagt hatte. Er lachte leise und sprach: „Dann sag ich es dir jetzt noch mal: Meto, du bist der allergrößte Schatz, den ich auf dieser Welt habe und ich liebe dich so wahnsinnig, dass ich davon fast verrückt werde.“

Jetzt wurde ich doch rot. Doch wer würde bei einer solchen Liebeserklärung von einem Menschen wie Tsuzuku nicht erröten?

 

Und als gäbe es keinen schlechteren Moment, musste ich gerade jetzt auf einmal an MiA denken. Daran, dass ich mit ihm ja heute Abend noch verabredet war und ihn soeben zum dritten Mal betrogen hatte. Zwar waren wir ja nicht fest zusammen, aber mir war vollkommen klar, dass das, was ich hier tat, nichts weiter als Untreue war.

Und irgendwann würde er es auf irgendeinem Weg erfahren.

 

Ich erhob mich und suchte meine Unterwäsche zusammen, zog mich langsam wieder an und spürte dabei Tsuzukus Blick im Rücken.

„Musst du schon wieder nach Hause?“, fragte er und die Enttäuschung war seiner Stimme anzuhören.

Ich nickte, während ich meine Jeans zumachte, und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er ebenfalls aufstand und begann, sich anzuziehen.

„Zeigst du mir irgendwann, wo du wohnst?“

„Ja“, sagte ich leise. „… irgendwann …“

 

Als wir beide fertig angezogen waren, verließen wir das Love Hotel und gingen zurück in Richtung Bahnhof, wo wir seine Sachen holten und dann in den Park zurückkehrten.

Tsuzuku hielt den ganzen Weg über meine Hand und ich spürte in dieser Berührung noch einen Rest von dem, was wir zuvor zusammen getan hatten. Als wären unsichtbare Spuren davon an seiner Haut zurückgeblieben.

 

Im Park richteten wir Tsuzukus Schlafplatz wieder her und er nahm mich zum Abschied fest in seine Arme. Ich spürte, eigentlich wollte er mich nicht gehen lassen, doch er sagte nichts dergleichen.

Doch als ich dann allein auf dem Weg nach Hause war, kämpfte ich mit den Tränen. Weil ich wusste, dass er litt, wenn er allein war. Dass er mich so sehr liebte und brauchte, sich von mir abhängig gemacht hatte.

 

Unglücklicherweise waren meine Eltern zu Hause, als ich dort ankam, und sie schienen auch noch auf mich gewartet zu haben.

„Yuu?“, fragte Mama. „Können wir ein bisschen mit dir reden?“

Ich schaute auf die Uhr. Der Club öffnete in dreieinhalb Stunden, bis dahin musste ich mich wieder halbwegs ins innere Gleichgewicht gebracht haben.

„Ja… aber nicht… viel Zeit…“

„Gehst du heute wieder aus?“, wollte Mama wissen.

Ich nickte.

„Wohin eigentlich?“, fragte Papa und ich nannte den Namen des Clubs und den Stadtteil, in dem er sich befand. „Und mit wem?“

„MiA“, sagte ich nur.

„Das ist der junge Mann, der schon hier war, oder?“

Wieder Nicken meinerseits, ich war gerade nicht besonders gut im Sprechen.

„Und ihr seid ein Paar?“

„So… was Ähnliches…“, antwortete ich. „…Es ist… kompliziert…“

‚Kompliziert‘ war maßlos untertrieben. Es war das größte, merkwürdigste und schmerzhafteste Chaos, das ich bisher erlebt hatte. Und so kamen mir, kaum dass ich daran dachte, wie schrecklich durcheinander alles war, wieder die Tränen.

 

Sowohl Mama als auch Papa sahen mich ganz betroffen an, als ich vor ihnen zum wiederholten Mal in Tränen ausbrach.

„Yuu? Was hast du denn?“

„…Nichts… ich… nur… alles… so schwer…“, schluchzte ich zusammenhanglos und ließ zu, dass Mama einen Schritt auf mich zu machte und mich in den Arm nahm.

„Mein kleiner Junge …“, sagte sie leise und strich mir durchs Haar. „Das Leben ist nicht einfach, was?“

Es tat unheimlich gut, meine Mama wieder so nah zu haben. Erst jetzt spürte ich wirklich, dass ich diese Nähe in der Zeit, als wir uns auseinandergelebt hatten, vermisst hatte. Dass es mir gefehlt hatte, ‚Yuu‘ genannt und ein bisschen wie ein Kind behandelt zu werden. Anscheinend brauchte ich das noch. So erwachsen, wie ich mich sonst sah, war ich wohl doch noch nicht.

 

„Yuuhei, du kannst mit uns reden, das weißt du, oder?“, fragte Papa und auch zu ihm fühlte ich zum ersten Mal seit langem wieder diese Nähe. Von ihm hatte ich mich, vor allem weil er wirklich sehr viel arbeitete, noch weiter entfernt als von Mama und deshalb rührten mich seine Worte so sehr, dass ich nur noch mehr weinte.

Mama nickte bestätigend auf Papas Worte hin und ließ mich wieder los.

„Ich… muss das… selbst ausmachen… okay?“, sagte ich.

„In Ordnung. Du schaffst das schon, mein Schatz.“ Mama lächelte und sagte dann: „Übrigens, das mit deiner … Orientierung, das ist okay. Sei so, wie du bist.“

Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen und mir gelang ein halbes Lächeln. „…Danke…“

„Dafür doch nicht. Und jetzt geh rauf und mach dich hübsch, du willst doch noch ausgehen.“

 

Was ich auch umgehend tat. Ich verschwand für die nächste Stunde in meinem Badezimmer, duschte gründlich, wusch meine Haare und machte mich rundum hübsch. Als ich dann nur mit einem Handtuch um die Hüften vor dem Spiegel stand, sah ich den dunkelroten Knutschfleck an meiner Schulter und musste feststellen, dass mein kunstvoll zerrissenes Lieblings-Oberteil an genau dieser Stelle ein großes Loch hatte. Sprich, es kam auf keinen Fall für heute Abend infrage.

Ich lief zurück in mein Zimmer und zerrte zwei schwarze T-Shirts aus dem Schrank, das eine mit einem wild-bunten, abstrakten Muster, das andere mit einem Totenkopf drauf. Im Vergleich vor dem Spiegel ging das gemusterte Teil aufgrund des etwas engeren Kragens als Sieger hervor und außerdem passte es hervorragend zu meiner ebenfalls schwarzen Lieblings-Partyhose.  

Beim Schminken griff ich auf mein Basisprogramm zurück, schmückte es hier und da ein wenig aus und wählte eher einfache Kontaktlinsen.

 

Als ich dann schließlich aus dem Haus gehen wollte, fing Mama mich an der Tür noch mal ab.

„Du siehst toll aus, mein Schatz, das steht dir sehr gut“, sagte sie und betrachtete mein Ausgehoutfit von oben bis unten.

„Danke… Mama“, erwiderte ich und lächelte sogar.

Auf meinem Weg durch die Stadt zum Club versuchte ich, das Gefühl der Zerrissenheit irgendwie in den Griff zu bekommen. Versuchte, das, was ich heute mit Tsuzuku getan hatte, in meinen Gedanken ganz nach hinten zu verbannen und mich auf MiA einzustellen. Mir war klar, dass es nicht lange so gehen konnte, doch ich mochte gar nicht daran denken, was passieren würde, sollte ich einem von beiden sagen, was wirklich los war.

 

Ich musste eine Weile warten, bis MiA schließlich vor dem Club auftauchte, und es dauerte wirklich recht lange, bis ich mich so weit hatte, innerlich den Schalter umzulegen und ihn anzulächeln.

Seltsamerweise wirkte er genauso unkonzentriert, wie ich mich fühlte.

„Na, mein Süßer, wie geht’s dir?“, fragte MiA und lächelte.

Ich antwortete nicht, erwiderte sein Lächeln nur mühevoll.

„Was hast du heute so gemacht?“, wollte er weiter wissen.

„… War mit Tsu… im Badehaus…“, antwortete ich stockend und versuchte, jetzt nicht daran zu denken, was danach passiert war.

Ein etwas eigenartiger Ausdruck trat auf MiAs Gesicht und ich glaubte, Eifersucht in seinen Augen zu erkennen. Ahnte er etwa, dass zwischen Tsu und mir mehr war als bloße Freundschaft? Wieder spürte ich den Stich im Herzen.

„MiA…?“, fragte ich vorsichtig. „Alles… okay…?“

„Ähm … ja, alles gut“, antwortete er schnell, der seltsame Ausdruck verschwand aus seinen Zügen und wir betraten den Club, in dem bereits voller Betrieb herrschte …

Ich saß auf meiner Bank am Fluss und fühlte mich schwebend, einfach glücklich. In meinem Kopf, meinem Herzen, meinen Gedanken war nur noch Meto, die Gewissheit, dass er mich liebte und dieses Gefühl, dass er zu mir gehörte.

 

Ich hatte ihn natürlich nur widerwillig gehen lassen, einfach weil ich absolut nicht genug von ihm bekam, doch in diesem Moment hatte ich kaum Angst, ihn zu verlieren. Denn ich war mir sicher, dass er, wenn denn da zwischen ihm und MiA irgendetwas wäre, Meto nicht zum dritten Mal mit mir geschlafen hätte.

Zwar war es wieder kein wirklicher Sex in dem Sinne gewesen, doch kam es dem so nahe, dass ich kaum an den Unterschied dachte. Ich hatte mich damit abgefunden, dass es Meto körperlich aus irgendeinem Grund nicht möglich war, mich in sich eindringen zu lassen, und da ich ihm auf keinen Fall gegen seinen Willen weh tun wollte, beließ ich es fürs erste dabei.  

 

Am liebsten hätte ich jetzt mit Koichi über all das gesprochen, doch da ich nun mal alleine war, musste ich mich damit begnügen, den Sternen am Abendhimmel in Gedanken von meiner Liebe zu erzählen.

 

Und da war er wieder, der Gedanke an Mama. Vielleicht war sie da oben, vielleicht sah sie mich, beobachtete aus dieser unglaublichen Entfernung mein Leben hier unten. Ich stellte es mir mit aller Kraft vor, und positiv gestimmt, wie ich an diesem Abend war, gelang es mir sogar.

„Mama?“, fragte ich leise ins Nichts und wartete, schaute zu den Sternen hoch und versuchte, ihr Blinken und Leuchten zu deuten.

Und da hörte ich, natürlich in meinem Kopf, aber auch schon irgendwie wirklich da, ihre Stimme. Sah ihr Gesicht vor meinem inneren Auge, sie lächelte. „Genki.“

Mir sprangen augenblicklich Tränen in die Augen, mein Herz zitterte.

„Mama?“, fragte ich noch einmal und mir war vollkommen egal, ob mich jemand, der jetzt an mir vorbeiging, für verrückt hielt. „Bist du da?“

„Ich bin da. Ich bin immer bei dir.“

Ich wusste nicht, woher ihre Worte kamen. Rein rational betrachtet mussten sie irgendwie aus mir selbst kommen, doch sie waren mir so neu, dass ich das kaum glauben konnte.

 

„Mama, ich hab mich verliebt. Und zwar so richtig. In meinen allerbesten Freund“, flüsterte ich.

„Bist du glücklich?“ Ihre Stimme klang so warm und lieb, genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte.  

Ich nickte, versuchte, die Tränen wegzublinzeln, doch sie waren zu schwer, zu viele, mein Inneres innerhalb weniger Augenblicke so aufgewühlt, dass ich nicht anders konnte, als sie fließen zu lassen.

„Ja, Mama“, antwortete ich und versuchte, trotz meiner Tränen wenigstens zu lächeln, „Ich bin glücklich.“

„Das ist schön, mein Schatz.“ Ich hörte sie leise lachen. „Aber warum weinst du?“

„Weil ich so glücklich bin. Und … weil ich dich so vermisse!“

 

Eine Sekunde später glaubte ich, jetzt endgültig wahnsinnig geworden zu sein, denn auf einmal spürte ich das Echo einer sanften Hand auf meiner Schulter und sah Mama wie einen hellen Schatten direkt vor mir knien.

„Genki, mir geht es gut, da, wo ich jetzt bin. Und alles, was ich will, ist, dass du dein Leben so glücklich lebst, wie du nur kannst. Versprichst du mir das?“

Ich konnte nur nicken, die schweren Schluchzer machten mir das Sprechen unmöglich. Zum ersten Mal, seit Mama tot war, hatte ich wieder das Gefühl, ihr nah zu sein und meine ungeheure Schuld nicht mehr so entsetzlich deutlich zu spüren. Fast war es sogar so, als könnte ich mir irgendwann verzeihen.

Wieder hörte ich sie lächeln, sah ihr liebes Gesicht vor mir. Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen, um die Tränen wegzuwischen, und zog meine Knie hoch. Inzwischen war es ganz dunkel und ich spürte die nächtliche Kälte.

„Jetzt geh, leg dich hin und schlaf. Und denk daran, dass ich immer bei dir bin.“

Ich spürte so etwas wie einen sanften Kuss auf meiner Stirn, dann nichts mehr. Sie war wieder weg, und doch ließ sie mich mit dem Wissen zurück, dass sie irgendwie immer bei mir war.

 

Langsam erhob ich mich und ging zu meinem Schlafplatz zurück. Mein Herz klopfte, ganz erfüllt von Mamas lieben Worten, und davon, wie glücklich ich trotz der Tränen war. Ich kroch in meinen Schlafsack, stellte fest, dass er eiskalt war und zerrte einen ebenfalls ziemlich kalten Pullover aus meiner Tasche, um ihn überzuziehen, damit mir wenigstens ein bisschen warm wurde.

Bevor ich mich wieder in meinem Schlafsack zusammenrollen konnte, fiel mein Blick auf meinen Nudelsuppen-Vorrat.

„… Und alles, was ich will, ist, dass du dein Leben so glücklich lebst, wie du nur kannst …“ Das waren Mamas Worte gewesen. Ich wusste ganz genau, was sie mir damit hatte sagen wollen.

 

Ich griff nach der erstbesten Packung Instantnudeln, riss sie auf und zerbrach den kleinen Block darin in zwei Hälften. Öffnete die Tüte mit dem Pulver und streute ein wenig davon auf die trockenen Nudeln. Der Geschmack war scharf, überwältigend, fast zu viel, doch ich zwang mich zum Schlucken und trank sofort einen Schluck kaltes Wasser hinterher. Mein Hals tat weh von der harten Konsistenz der ungekochten Nudeln und der Schärfe des Pulvers, doch dieses Mal kämpfte ich mit aller Kraft gegen den Drang an, alles wieder auszuspucken.

Nein! Jetzt war Schluss mit Heißhunger, Kotzen, Angst vorm Essen haben! Ich wollte das endgültig nicht mehr und fühlte mich endlich stark genug, dagegen anzukämpfen.

„Ich hab’s Mama jetzt versprochen“, dachte ich. „Und ich hab Meto. Mir reicht‘s, ich will doch auch glücklich werden!“

 

Mit diesem Gedanken schlief ich irgendwann ein und wachte nach einer traumlosen Nacht davon auf, dass eine vertraute Stimme über mir laut „Guten Morgen!“ sagte.

Ich drehte mich um, öffnete die Augen und blickte in Koichis hübsch geschminktes Gesicht.

„Morg’n …“

„Gut geschlafen?“

Ich setzte mich auf, streckte meinen Rücken und unterdrückte ein Gähnen.

 

Koichi schien allerbeste Laune zu haben, denn er strahlte mich an und verkündete: „Weißt du was, Tsuzuku? Iiiich hab was gefundeeen!“

„Was?“, fragte ich.

Er setzte sich neben mich auf den Boden und hielt mir einen Stapel gefalteter und abgegriffener Zettel hin. „Das sind Anzeigen für günstige Wohnungen und zu vermietende Zimmer. Ich hab die ganze Stadt abgesucht und da sind ein paar tolle Angebote dabei.“

Ich musste unwillkürlich grinsen. Koichi hatte sich jetzt doch nicht ernsthaft die Mühe gemacht, sämtliche Schwarzen Bretter der Gegend nach einer Bleibe für mich abzusuchen, die ich aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso nicht bezahlen konnte?!

 

„Du spinnst doch“, sagte ich.

„Weißt du, das ist noch nicht mal alles!“ Er klang wirklich begeistert und schien unheimlich stolz drauf zu sein, dass er potentielle Unterkünfte für mich gefunden hatte. Mir stellte sich nur die Frage, wie er sich das mit der Bezahlung vorstellte.

„Schau dir das mal an.“ Koichi hielt mir einen gefalteten Flyer hin, den ich entgegennahm und erkannte, dass es sich um das Informationsblatt eines buddhistischen Tempels handelte. „Die bieten kleine Zimmer und Hilfen für Obdachlose an, auch ganz unabhängig von Religion und so weiter.“

„Ein Tempel?“, fragte ich.

„Ja. Ich hab da gleich mal vorbeigeschaut und gefragt, wie das so im Einzelnen aussieht. Und die meinten, dass so ein Tempel für jemanden, der die Zustände in der städtischen Unterkunft nicht verträgt und dem es auch sonst nicht so gut geht, die ideale Alternative ist. Du würdest da dein Zimmer kriegen, was zu essen, und wenn du willst, so ‘ne Art Betreuung, mit der du drüber reden kannst, dass du eine eigene Wohnung willst und so weiter. Die machen einen total engagierten Eindruck.“

Das klang gut, viel zu gut. Zu schön, um wahr zu sein. Ich suchte den Haken an der Sache, den Punkt, der dafür sorgen würde, dass ich dieses wundervolle Angebot nicht annehmen konnte.

 

„Aber …“, sagte ich, „… wenn das da so toll ist, wieso sind dann alle in der Unterkunft und nicht dort? Und wieso hab ich davon noch nie gehört?“

„Es gibt eine Bedingung“, antwortete Koichi. „Das Ganze ist zwar ein echtes Hilfsprojekt, aber sie sagen, dass sie nur demjenigen helfen, der auch mitmacht und wirklich von der Straße weg will. Es gibt ein Aufnahmegespräch, bei dem entschieden wird, ob sie dich aufnehmen oder nicht, je nachdem, ob du genug guten Willen zeigst.“

Ich dachte an gestern Abend, an Mama und daran, was ich ihr versprochen hatte. Dass ich glücklich werden wollte und weg aus diesem tiefen dunklen Loch.

Mit einem Satz war ich aufgestanden, raus aus dem Schlafsack und zerrte meine Jacke aus meiner Tasche.

Koichi lächelte. „Da hat sich aber jemand entschieden!“

„Ich will da hin!“, sagte ich.

„Vorher sollten wir was frühstücken, meinst du nicht?“ Wie er das sagte, so ganz selbstverständlich.

 

Ich stellte mir das vor, warmen Kaffee, Brötchen, Butter, und bekam mit einem Mal einen solchen Appetit und Hunger, wie ich ihn seit zwei Jahren nicht mehr verspürt hatte. Ein Lächeln huschte über meine Lippen und ich nickte auf Koichis Frage hin.

„Dir geht’s grad richtig gut, oder?“, fragte er weiter.

Wieder nickte ich und überlegte, ob ich ihm erzählen sollte von Mama und davon, dass sie gestern Abend auf irgendeinem Weg mit mir gesprochen hatte. Einerseits wollte ich darüber sprechen, einfach um mein Versprechen zu festigen und mir selbst darüber klar zu werden, doch auf der anderen Seite hatte ich Angst, da ich Koichi dann die ganze Geschichte dessen, was vor zwei Jahren meinen Absturz verursacht hatte, nochmal erzählen und damit alles wieder nach vorn holen müsste. Und so entschied ich mich dagegen.

 

Als wir dann wieder bei Koichis Lieblings-Kaffeebude saßen, fragte er, mich beobachtend: „Was ist gestern passiert, Tsuzuku?“

„Hm?“

„Du hast wieder einen Schritt nach vorn gemacht, oder? Jedenfalls scheinst du diese Tasse Kaffee zu genießen.“

Ich nickte, lächelte, nahm noch einen Schluck und genoss, wie die warme Flüssigkeit das Innere meines Halses herabperlte. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit nahm ich das, was ich zu mir nahm, wieder ganz bewusst wahr und mir war klar, dass es gut für mich war. Ich trank langsam, versuchte, jeden einzelnen Schluck zu genießen und registrierte, dass Koichi mich dabei wohlwollend und ganz genau beobachtete.

„Sehr gut“, sagte er. „Ich bin stolz auf dich.“ Und dann: „Jetzt erzähl mal. Ich merk doch, dass du mir was sagen willst.“

 

Und wieder war es vollkommen egal, was ich entschieden hatte. Es war egal, dass ich eigentlich nicht darüber reden wollte, weil ich Angst hatte, weinen zu müssen. Wenn Koichi beschloss, dass ich ihm erzählen sollte, was mich diesen Schritt nach vorn hatte machen lassen, dann musste ich darüber reden, ob ich wollte oder nicht.

Nur wusste ich nicht recht, wo ich anfangen sollte. Koichi wusste ja nicht mal, dass meine Mutter tot war, geschweige denn, dass ich mir dafür die Schuld gab. Ich würde alles von Anfang an erzählen müssen und das kostete mich eine gewaltige Überwindung.

 

Ich trank den letzten Schluck, stellte den Becher auf die Mauer neben mir und sagte: „Ich … ich weiß nicht recht, wo ich anfangen soll …“

„Womit hat es denn zu tun?“

Ich atmete einmal tief durch und antwortete: „Mit meiner Mutter.“ Es war so lange her, dass ich zuletzt über sie gesprochen hatte.

„Was ist mit ihr?“

„Sie ist tot. Seit zwei Jahren.“ Seltsam, dass es auch nach so einer langen Zeit noch wehtat, das so auszusprechen.

„Oh“, kam es von Koichi. „Das tut mir leid. Wie …?“

„Sie war herzkrank. Und dann hatte sie diesen Anfall … Der Arzt konnte nicht mehr viel machen.“

Ich hörte meine eigene Stimme sprechen, versuchte, mich zu erinnern, doch alles, was nach unserem Streit und ihrem Anfall passiert war, war in meinem Kopf nur leere, schwarze Dunkelheit. Ich konnte mich nicht einmal an meine erste Reaktion auf Mamas Tod erinnern. Wahrscheinlich hatte ich geweint, geschrien, vielleicht hatte mich jemand festhalten müssen, doch da waren keine Bilder in meinen Gedanken, keine Erinnerung.

 

„Bist du deshalb auf der Straße gelandet?“, fragte Koichi mit einem vorsichtigen Klang in der Stimme.

Ich nickte. „Ich hab … nach ihrem Tod … den Boden unter den Füßen verloren …“ Und dann kamen die Worte ganz einfach heraus: „Weil ich mir die Schuld daran gebe. Ich hab mit ihr gestritten, wegen meinem Implantat und all dem, und das hat den Anfall ausgelöst.“

Mein Herz zitterte und auf einmal waren da doch Tränen, die meine Sicht verschwommen machten und sich in meinen Augen ganz heiß anfühlten. Aber da war auch Koichis Arm um mich, seine liebe Stimme und seine Schulter, an die ich mich anlehnen konnte.

„Shhh, Tsu, alles rausweinen, ist okay …“

 

Ich wollte nicht weinen. Eigentlich war heute doch ein glücklicher, guter Tag, an dem es nichts zu weinen gab! Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen, schluckte hart, versuchte mit all meiner Kraft, die Tränen zurückzudrängen.

„Gestern Abend, da … war sie auf einmal … irgendwie wieder da, … Mama. Sie hat mit mir gesprochen, ich habe sie ganz deutlich gehört. Ich weiß … das hört sich total verrückt an … aber ich hab sie gespürt, verstehst du?“

Und zu meiner Überraschung nickte Koichi. „Ja, versteh ich. Oder ich glaube zumindest, dass ich es verstehe. Und nein, es hört sich gar nicht verrückt an.“ Er lächelte mich an und fragte dann: „Und? Was hat sie gesagt?“

„Dass sie will, … dass ich glücklich werde.“

 

„Na, siehst du. Und wie geht’s dir damit?“

Ich fuhr mir wieder über die Augen und blinzelte. „Eigentlich sehr gut. Ich will ja auch weg von der Straße, wieder in eine richtige Wohnung, ein schönes Leben haben. Aber … diese Schuld, ich hab Angst, dass mich das immer wieder einholt.“

„Dass du deswegen am besten irgendwann mal zum Psychologen gehen solltest, ist dir aber klar, oder?“

Ich nickte, obwohl ich nicht recht daran glaubte, dass mir ‚jemand vom Fach‘ da helfen konnte.

 

„Meiner Meinung nach gibt es so was wie Schuld eigentlich gar nicht“, sagte Koichi nach einer Weile. „Dinge passieren nun mal und manchmal fallen furchtbare Umstände zusammen, die schreckliche Dinge auslösen können. Da ist nie einer alleine schuld.“

Seine Worte klangen so tröstend und zuerst schienen sie auch ihre Wirkung auf mich zu haben. Doch dann sah ich es wieder vor mir, wie Mama vor meinen Augen zusammengebrochen war. Hörte in meinem Kopf, was für furchtbare Dinge ich zu ihr gesagt hatte und sah die Überforderung und Traurigkeit in ihren Augen. Ich wusste, nie würde ich das wieder gut machen können. Sie war tot und ich war der festen Überzeugung, mit meinen Worten ihren Herzanfall ausgelöst zu haben.

Und da war er wieder, der Gedanke an mein Messer oder irgendeine andere Klinge, an den körperlichen Schmerz, der meine Trauer und Schuld für einen Moment erträglicher machen würde.

 

„Tsuzuku?!“, riss mich Koichi aus meiner schmerzhaften Innenwelt. Obwohl ich ja wach war, fühlte es sich an, als würde ich aus einem Albtraum gerissen.

Er sah mir in die Augen, brauchte wieder nur einen kurzen Blick, um zu wissen, was in mir los war.

„Weißt du, was wir machen?“, sagte er und stand auf. „Wir gehen jetzt zu dem Tempel hin und ich stell dich denen mal vor. Das kann mir grad echt nicht schnell genug gehen.“

Und da spürte ich zum ersten Mal wirklich, dass ich ihm mit meinen anscheinend offensichtlichen Gedanken an Selbstverletzung Angst machte. Dass er in diesem Moment Angst um mich hatte.

Und so erhob ich mich, nahm meine Tasche und ging mit ihm mit, ließ mich durch die halbe Stadt führen. In einer kleinen Altstadtstraße, umgeben von vielen kleinen Häusern, blieb er schließlich an einem unscheinbaren Holztor stehen und klopfte an.

 

Eine Frau im schlichten Kimono öffnete das Tor und fragte: „Ja, bitte?“

Mein Selbstbewusstsein, seit eben sowieso schon ziemlich weit unten, sank gegen null und ich überließ das Sprechen Koichi.

Er verbeugte sich kurz, zog dann den Flyer aus der Tasche und hielt ihn der Frau hin. „Wir sind wegen diesem Projekt hier. Ich möchte Tsuzuku gern dafür vorstellen.“

Die Frau sah mich an, mit einem warmen, freundlichen Blick, und fragte: „Sie möchten gern unsere Hilfe annehmen?“

Mein Herz klopfte aufgeregt, als ich nickte und antwortete: „Ja, möchte ich.“

 

„Wie ist denn Ihr vollständiger Name?“

„Aoba Genki“, sagte ich leise. Mein Name fühlte sich irgendwie seltsam fremd an, als gehörte er gar nicht zu mir. In den fast zwei Jahren, in denen mich jeder nur Tsuzuku genannt hatte, hatte ich meinen echten Namen beinahe vergessen.

„Ich bin Sato Asami. Na, dann kommen Sie mal mit“, sagte die Frau und führte Koichi und mich durch einen sehr traditionell wirkenden Garten zu dem alten, einstöckigen Holzgebäude, das sich in dessen Mitte befand. Alles sah genauso aus, wie man sich einen buddhistischen Tempel vorstellte, und ein bisschen wie eine Art Museum.

 

Dass es das nicht war, bekam ich dann im Inneren des Hauses zu sehen, das in einer Mischung aus modernen Möbeln und der alten Architektur eingerichtet war und, obwohl gerade niemand außer Frau Sato hier zu sein schien, sehr belebt wirkte.

„Sie sind leider ein paar Tage zu früh dran. Unsere Herbst- und Winterhilfe beginnt erst nächste Woche, aber ich kann Ihnen trotzdem gern schon einmal die Räume zeigen“, sagte Frau Sato, verbeugte sich nochmals und deutete auf ein niedriges Regal, in dem schon einige Paar Schuhe standen. Ich zog meine Stiefel aus, Koichi hatte mit seinen hohen Schuhen ein bisschen zu kämpfen, dann folgten wir Frau Sato, die uns einen langen Gang entlang voran ging.

„Hier ist die Küche und dort der Essraum.“

Essen. Ich sah die langen Tische, die Theke, stellte mir vor, wie es sein würde, hier zu sitzen mit all den anderen, und mich selbst zum Essen zu zwingen. Allein die Vorstellung verursachte mir Bauchschmerzen und ich konnte Frau Sato einen Moment lang nicht zuhören.

 

„… Im letzten Jahr waren nur sehr wenige Leute hier, aber wir wissen natürlich nicht, wie das diesen Winter sein wird. Es soll sehr kalt werden und wir nehmen Menschen aus der ganzen Präfektur auf.“

„Wie viele Leute kommen denn so auf ein Zimmer?“, fragte Koichi.

„Angedacht sind zwei Leute pro Zimmer, aber wenn es eben voller wird, können es auch mal drei oder vier sein“, antwortete Frau Sato. „Es gibt insgesamt siebzehn Schlafräume und bisher war es noch nie so, dass wir keinen Platz mehr hatten.“

Ich versuchte, mir das vorzustellen, in diesem Haus den kommenden Winter zu verbringen. So, wie das alles hier aussah, würde es um einiges ruhiger sein als in der städtischen Unterkunft und vielleicht würde ich hier Hilfen bekommen, die dort wegen der vielen Leute einfach nicht realisierbar waren.

 

Der Gedanke daran fühlte sich irgendwie seltsam an. Gerade in meinem ersten Jahr auf der Straße hatte sich kaum jemand um mich gekümmert und so hatte ich gelernt und mich mental darauf eingestellt, dass ich alles alleine hinbekommen musste.

Dann hatte ich Meto getroffen und durch seine Hilfsbereitschaft begonnen, mich auf ihn zu verlassen. Und lange Zeit war niemand außer ihm mir nahe genug gekommen, um mir helfen zu können. Jetzt waren da Haruna, Hanako und Koichi, ich war nicht mehr allein von Meto abhängig.

 

In diesem Moment wurde mir klar, was für eine gewaltige Verantwortung Meto trug, wenn er sich so um mich kümmerte. Besonders in der Zeit, als er der Einzige in meinem Leben und ich in schlimmen, labilen Zuständen gewesen war.

Ob das wohl sehr schwer für ihn gewesen war? Hatte ich ihn manchmal vielleicht zu sehr belastet? Und wenn ja, konnte ich das wieder gut machen?

 

„Tsu?“, riss Koichi mich wieder aus meinen Gedanken. „Alles okay?“

Ich blinzelte, nickte, sammelte mich wieder im Hier und Jetzt, oder versuchte es zumindest. Dass mir erst jetzt klar geworden war, wie sehr ich Meto möglicherweise belastet hatte, gab mir sehr zu denken und ich musste mich wirklich anstrengen, um keine Schuldgefühle zu bekommen.

 

„Hier sind die Schlafräume“, sagte Frau Sato und öffnete eine der abschließbaren Schiebetüren. Dahinter erstreckte sich ein Zimmer mit dunklem Holzboden und einem raumhohen Fenster, ich sah zwei Betten, zwei schmale Schränke und einen Tisch. Im Vergleich zur Unterkunft, wo pro Zimmer ganze vier Betten standen, war das hier ein Luxus-Zimmer.

„Sie können sich ruhig einmal umsehen. Rechts ist die Tür zum Bad.“ Frau Sato öffnete die Tür ganz und Koichi schob mich ins Zimmer. Das Ganze erinnerte mich entfernt an eine Jugendherberge, in der ich während meiner Schulzeit auf Klassenreise gewesen war.

Ich ging zu der Tür, die sich auf der rechten Seite neben dem einen Bett in der Wand befand und öffnete sie. Das Bad dahinter war winzig, Dusche, Toilette, Waschbecken, mehr nicht, aber immerhin war es ein Raum für sich, den ich mir anscheinend auch nur mit meinem Zimmergenossen würde teilen müssen.

 

Ich schloss die Tür wieder und sah Koichi an, der meinen Blick erwartend erwiderte.

„Und? Was sagst du?“, fragte er.

„Besser als die städtische Unterkunft ist es auf jeden Fall“, antwortete ich und lächelte leicht.

„Wie gesagt, das Projekt beginnt nächste Woche“, sagte Frau Sato. „Dann können Sie hier einziehen und den Winter über bleiben. Und dann wäre auch das richtige Aufnahmegespräch.“ Sie lächelte mich an und ich spürte, wie sie mich einschätzte und überlegte, ob ich dieses Gespräch bestehen würde. Hoffentlich merkte sie mir auch an, dass ich das hier, die Hilfe, von der Straße weg zu kommen, wirklich wollte und dass ich meinen ganzen Willen darauf gebündelt hatte, das zu schaffen.

 

Frau Sato zeigte uns noch weitere Räume, unter anderem eine große Gebetshalle, die neben dem Garten das einzige derzeitige Zeichen war, dass es sich hier um einen Tempel handelte. Ich trat der großen Buddha-Statue mit gemischten Gefühlen gegenüber, dachte dabei daran, wie wichtig mir der Nachthimmel mit den unendlich vielen Sternen war, und an früher, als ich, dumm wie ich damals gewesen war, mit knapp zwanzig Jahren eine solche Statue einmal als sinnlosen Stein beschimpft hatte. Diese Statue hier vor mir hatte dieses sanfte, weise Lächeln auf den Lippen und schien mir meine frühere Dummheit zu verzeihen. Ich verbeugte mich kurz und hoffte, dass mir die Götter, Buddha, oder wer auch immer meine alten Fehler verziehen und mir das schöne, entspannte Leben, das ich mir so sehr wünschte, zugestanden.

„Na dann“, sagte Frau Sato, als wir wieder am Tor standen, „Wir erwarten Sie nächste Woche. Auf Wiedersehen.“

 

„Geschafft!“ Koichi strahlte mich an, als wir wieder auf dem Weg zum Park waren. „Ich glaub, du hast einen guten Eindruck hinterlassen.“

„Meinst du?“

Er nickte. „Du bist ein bisschen zurechtgemacht, hast heile Klamotten an, benimmst dich anständig, was will man mehr? Außerdem zeigt es Initiative, wenn man schon vorher ankommt und fragt.“

„Ohne dich hätte ich das aber nicht geschafft, Koichi“, sagte ich, woraufhin er mich wiederum nur angrinste und „Mach ich ja gerne“ antwortete.

 

Bis Mittag saßen wir auf meinem Schlafplatz. Koichi hatte Kekse dabei und ließ es sich nicht nehmen, mich damit zu füttern und mit einem stolzen Lächeln zur Kenntnis zu nehmen, dass ich die halbe Packung leeraß. Ich hatte plötzlich so einen Hunger, auf Essen, Leben und Glück, dass Koichi mich irgendwann richtig stoppen musste.

„Hey, nicht übertreiben, ja? Sonst geht’s am Ende wieder nach hinten los“, sagte er und verstaute die verbliebenen Kekse wieder in seiner Tasche. „Ist ja schön, dass du essen willst, aber lass es langsam angehen.“

 

Ich nickte. Er hatte Recht, ich durfte nichts überstürzen. Schon spürte ich den altbekannten Druck im Bauch, dieses Gefühl, alles wieder loswerden zu wollen.

Nein! Nein, nein und nochmals nein!! Ich wollte das nicht mehr! Nie wieder! Damit sollte Schluss sein, ein für alle Mal! Mit aller Kraft kämpfte ich das in meinem Hals aufsteigende, widerliche Gefühl nieder, drückte die Hand auf meine Brust und schluckte mehrmals hart herunter.

„Gut so, kämpfen!“, sagte Koichi neben mir, doch ich nahm ihn kaum wahr. Meine ganze Aufmerksamkeit war nach innen gerichtet, auf den Kampf in mir, das Übel, dessen Wurzel ich deutlich sehen konnte. Und da waren sie wieder, Mamas Worte von einem guten Leben, und dass es ihr da, wo sie war, gut ging. Und Meto, der um jeden Preis wollte, dass ich glücklich wurde. 

Ich atmete tief ein und aus und streckte meinen Rücken, schluckte noch einmal und spürte, dass ich wieder einen Kampf gewonnen hatte.

„Gut gemacht!“ Koichi strahlte mich an. „Du wirst echt immer stärker.“

Als er kurz darauf ging, umarmte ich ihn zum Abschied.

 

Ich schlief weiterhin nicht besonders gut, war voll schlimmer Vorahnungen und machte mir viele, zu viele, Gedanken. Sawako entwickelte sich zu meinem lebenden Tagebuch, ich erzählte ihr mehr oder weniger alles, was mir durch den Kopf ging. Mit Mariko sprach ich nicht, erstens weil ich sowieso wusste, was sie dazu sagen würde, und zweitens weil ich mich von ihr irgendwie auch nicht richtig verstanden fühlte. Sie hatte doch schließlich angefangen, mir diese Eifersucht einzureden.

 

Zwei Tage nach meinem letzten Partyabend mit Meto rief Mariko mich nachmittags an und wollte wissen, was los war. Sie fragte, wie es mir ginge und ich antwortete zuerst, dass alles okay sei.

„Ich hab ein ganz mieses Gefühl“, sagte sie.

„Das sagtest du bereits“, erwiderte ich, hatte jetzt wirklich keine Lust, mein chaotisches Liebesleben mal wieder mit meinem angeblich so wissenden Fräulein Cousine durchzusprechen.

„MiA, man hört dir an, dass es dir nicht gut geht.“

„Weißt du, es ginge mir sicher bedeutend besser, wenn du mir nicht diese Sätze, von wegen da wäre was zwischen Tsuzuku und Meto, in den Kopf gesetzt hättest!“, fauchte ich.

„Entschuldige, dass ich mir Sorgen mache!“, antwortete sie, nicht weniger bissig.

„Dann sei dann da und lass so blöde Sprüche, wenn es wirklich schiefgeht!“ Kaum hatte ich es ausgesprochen, bereute ich es. Nicht, weil ich Mariko so anfauchte, sondern weil mir meine eigenen Worte wie ein schlechtes Zeichen vorkamen. Als würde ich damit das Unglück erst recht heraufbeschwören.

 

„Okay.“ Auf einmal klang Mari wesentlich ruhiger. „Ruf mich an, wenn was passiert ist und du jemanden zum Ausheulen brauchst, ja?“

„M-hm.“ Ich nickte, was sie natürlich nicht sehen konnte, dann legte ich auf.

Zuerst überlegte ich, ob ich jetzt Meto anrufen sollte. Ich wollte gern seine Stimme hören und einfach ein bisschen Kontakt mit ihm haben, mich am liebsten mit ihm verabreden und zu ihm nach Hause kommen. Doch nachdem er bei unserem letzten Treffen so komisch gewesen war, hatte ich fast ein bisschen Angst davor, ihn zu sehen.

Ich überlegte hin und her, befragte Sawako, die jedoch nur ein schwer zu deutendes „Miau“ von sich gab und schließlich beschloss ich, einfach nach Akayama zu gehen, wie zufällig bei Meto vorbei zu kommen und zu hoffen, dass er da war und mich sehen wollte.

 

Ich zog meine Jacke an, stellte dann fest, dass es in den letzten zwei Tagen ziemlich kalt geworden war und fragte mich kurz, was wohl die Leute im Akutagawa taten, wenn es langsam herbstlich und schließlich Winter wurde.

Auf dem Weg nach Akayama stellten sich meine Gedanken langsam auf Meto ein und ich hoffte immer mehr, dass er sich freute, mich zu sehen. Und als ich schließlich auf den glänzenden Klingelknopf neben der Tür der Villa drückte, schaute ich hoch zu Metos Zimmerfenster. Die Lampe im Fenster brannte, also war er wohl wirklich da.

Ich klingelte noch einmal, dann hörte ich seine Schritte von drinnen und er öffnete die Tür. Aus dem Haus schlug mir eine Welle aus Heizungswärme und Musik entgegen und Meto war entsprechend gekleidet, trug ein T-Shirt, Shorts und keine Socken. Sein Gesicht war ungeschminkt, seine Haare glatt und ungestylt und er schien bis eben mit irgendetwas sehr beschäftigt gewesen zu sein.

 

„MiA…“, sagte er. „Was… machst… hier…“

„Ich wollte dich sehen“, antwortete ich.

Er sah mich abwägend an. Anscheinend kam ich wirklich etwas ungelegen und er musste jetzt überlegen, ob er Zeit für mich hatte. Aber schließlich lächelte er und bat mich herein.

„Unordentlich… mein Zimmer…“, sagte er leise, als ich hinter ihm die Treppe raufging. Mir fiel auf, dass seine Sprache wieder stockender und ungeordneter geworden war.

„Bist du alleine zu Hause?“

Er nickte. „Meine Eltern… auf Arbeit…“

 

Sein Zimmer sah wirklich nicht besonders ordentlich aus. Überall lag verschiedenste Kleidung verstreut, hauptsächlich punkige Sachen, doch ich entdeckte auch ein niedliches Kleid, eine mädchenhafte schwarzweiße Bluse und eine türkisblaue, langhaarige Perücke. Dazwischen Hefte, Bücher, Manga, Zeitschriften und so weiter.

„Ich… aufräumen…“, sagte Meto. Seine Sprache war wirklich schlecht geworden und ich kam nicht umhin, mich zu fragen, was wohl der Grund dafür war.

„Das seh ich“, sagte ich und lächelte.

 

Er räumte ein paar Sachen vom Bett und bedeutete mir, mich dort zu setzen, während er begann, einige der herumliegenden Kleidungsstücke wieder in den weit geöffneten Schrank zu hängen. Dabei bückte er sich vor mir, sein T-Shirt verrutschte ein wenig und ich sah etwas an seiner Halsbeuge, das mich erst stutzig machte und mir dann vor Schreck den Atem stocken ließ: Auf seiner hellen Haut zeichnete sich ein rötlicher, runder Fleck ab, genau dort, wo er bei unserem letzten Partyabend immer versucht hatte, sein T-Shirt darüber zu ziehen.

 

Oh Gott! Das war doch nicht etwa …?! Nein …!

Mein Herz setzte gefühlt einen Schlag aus und ich sah das Bild meiner Albträume vor mir: Tsuzuku und Meto, zusammen, sich küssend.

„Meto …?“, fragte ich mit zitternder Stimme. „Was … hast du denn da am Hals?“

Er blickte auf, in seinen Augen stand der Schreck nur allzu deutlich geschrieben.

„Was ist das?“, fragte ich wieder, hörte dabei mein eigenes Blut durch meine Adern rauschen. Nein! Das durfte einfach nicht wahr sein! Bestimmt war das eine Art blauer Fleck, weil er sich gestoßen hatte, oder? Das konnte und durfte einfach kein Knutschfleck sein!

Meto blickte an mir vorbei, erhob sich, schaltete die Musikanlage aus und hängte weiter Kleidung in den Schrank. Doch ich sah, dass er zitterte, und als ich ihn kurz darauf schluchzen hörte, wusste ich, dass dieser Moment eine blanke Katastrophe war.

 

„Meto?“, fragte ich ängstlich. „Sag mir … Was ist los?“

Er drehte sich zu mir um, ich sah seine Tränen, seine Verzweiflung. Ich wusste, jetzt würde er nicht mehr lügen, nicht mehr ausweichen. Und seine Sprache war ganz klar, fast fehlerfrei, nur unterbrochen von Schluchzern, als er antwortete:

„MiA, ich … Du glaubst … mir nicht, wenn ich … dir sage, … dass ich mich da … nur gestoßen habe, oder …?“

Mein Herz zitterte, als ich sagte: „Nein, glaube ich dir nicht.“

Meto kam auf mich zu, setzte sich neben mich und ich spürte, dass er mir gleich etwas sagen würde, das sowohl mir als auch ihm furchtbar wehtun würde.

„Sag mir jetzt nicht“, kam es mir mehr ungewollt über die Lippen, „… dass das das ist, wonach es aussieht.“

Er sah mich nicht an, sondern blickte zu Boden. „Wonach… sieht es denn… für dich …aus?“

„Knutschfleck“, sagte ich leise, es tat weh.

 

Meto sagte nicht ja. Und er nickte auch nicht. Er schwieg, tat nichts, blickte weiter auf den Boden und ich sah die Tränen stumm über seine Wangen laufen. Und trotzdem kam seine Nicht-Reaktion einer Antwort gleich: Ja.

Die Welt zerbrach nicht. Und auch mein Herz blieb im ersten Moment ganz. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was das alles bedeutete. Ich war wie betäubt, hörte das Blut durch meinen Körper rauschen und war unfähig, zu verstehen.

 

„Wer …?“, hörte ich meine eigene Stimme fragen.

„Tsuzuku.“

„Was ist da zwischen euch?“, fragte ich, immer noch automatisch und leblos.

Meto hob den Kopf, sah mich aus seinen in Tränen schwimmenden Augen an, todtraurig, verzweifelt, und doch glaubte ich eine gewisse Erleichterung in ihnen zu erkennen.

„Ich liebe ihn. So richtig.“

„Seit wann?“, wollte ich wissen. Langsam kehrte das Leben in meinen Kopf zurück, das Begreifen.

„Seit ich mit ihm weg war. Er hat … wir haben …“

 

Und da begriff ich endlich. Meine Eifersucht, meine unguten Vorahnungen, mit einem Mal ergaben sie einen Sinn, bestätigten sich, erhielten festen Grund. Und dann erst tat es wirklich weh. Ich spürte einen furchtbaren Stich im Herzen, heiße Tränen in meinen Augen. Es fühlte sich an, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.

Zuerst war ich einfach unsäglich traurig. Ich wusste: Das mit Meto und mir, das konnte hier und jetzt vorbei sein. Doch dann kam die Wut. Wut auf ihn, weil er mich belogen und betrogen hatte, und Wut auf mich selbst, weil ich es nicht kapiert hatte.

 

Ich stand auf und sah auf ihn herunter, wie er da stumm weinend vor mir saß und offensichtlich darauf wartete, dass ich ausrastete.

Aber ich konnte nicht. Ich konnte ihn nicht anschreien, konnte ihm nicht zeigen, wie wütend und traurig ich war. War einfach nicht dazu imstande.

 

„MiA …“, begann er leise, kam jedoch nicht weiter, denn da konnte ich es auf einmal:

„Und als du sagtest, dass du mich liebst? Was ist damit? War das gelogen? Offenbar ja schon, wenn du es noch am selben Tag mit Tsuzuku treibst!“ Ich war selbst entsetzt, wie verächtlich und schwer enttäuscht meine Stimme klang. 

„Das war nicht gelogen, MiA!“ Er sprang auf, sah mich an, noch immer weinend. „Ich liebe dich! Aber … Tsuzuku … er ist einfach der wichtigste Mensch in meinem Leben, verstehst du?“

„Seit wann heißt ‚wichtigster Mensch‘ denn, dass man mit ihm Sex hat?!“, zischte ich wütend.

„Er fühlt schon länger so und ich … er hat mich geküsst und da wusste ich es … dass ich ihn auch liebe. Aber … das hat nichts daran geändert, dass ich dich lieb habe, MiA!“

 

Ich wollte nur noch weg. Weg von Meto, weg aus diesem Haus, dieser Situation, die so furchtbar wehtat.

„Schön für dich!“, fauchte ich, öffnete die Tür und wollte verschwinden, doch Meto packte meine Hand und hielt mich fest. 

„Geh nicht“, flehte er, schluchzte, während ihm immer mehr Tränen über die Wangen liefen.

Ich schüttelte seine Hand ab, stieß ihn weg und das letzte, was ich sah, bevor ich die Tür hinter mir zuschlug, war Metos todtrauriges, tränenüberströmtes Gesicht.

 

Ich rannte die Treppe hinunter, raus aus der Villa, und stieß an der Gartentür fast mit Metos Mutter zusammen.

„Hallo, Mia“, sagte sie, doch ich antwortete nicht und beschleunigte meine Schritte immer weiter, bis ich rannte, weg, nur weg.

Als ich völlig außer Atem an irgendeiner Straßenkreuzung stehen blieb, fiel mir Mariko ein. Ich sah mich kurz um, ihre Wohnung war hier ganz in der Nähe. Ich dachte an unser Telefonat heute, daran, dass sie mir angeboten hatte, für mich da zu sein, wenn ich eine Schulter zum Ausweinen brauchte. Und die brauchte ich jetzt.  

 

„Hey, MiA!“, begrüßte mich meine Cousine, als sie mir die Tür öffnete. Dann sah sie, dass ich bis eben geweint hatte und ihr entfuhr ein leises „Oh.“

„Mari, du hattest so Recht.“  

„Jetzt komm erst mal rein. Ich mach uns Tee und dann reden wir.“ Sie legte ihren Arm um mich und nahm mich mit in ihre Wohnung. Mariko hatte ebenfalls eine Katze, einen orangefarben getigerten Kater, der mir sofort gurrend entgegenkam und um meine Beine strich.

Nachdem Mari Tee gemacht und mich auf die Couch verfrachtet hatte, setzte sie sich neben mich und sah mich abwartend an. Ich war völlig durcheinander, wusste nicht, wo ich anfangen sollte, bis sie leise fragte: „Ist es passiert?“

 

Ich nickte. „Er hat mich betrogen.“ Und fing wieder an zu weinen. „Es … es ist ganz genau so, wie du gesagt hast, und ich … ich hab’s einfach nicht sehen wollen … Und jetzt ist Schluss …“ Beim Gedanken daran, Meto verloren zu haben, musste ich noch mehr weinen. Ich war unendlich traurig darüber, noch viel trauriger als ich hätte wütend sein können. Mein Herz tat weh und die Tränen brannten in meinen Augen.

Mariko sagte nichts, sondern nahm mich einfach in ihre Arme, wartete, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte und streichelte meinen Rücken.

„Tut mir leid, dass ich dich heute so angefaucht habe“, sagte ich leise.

„Schon okay.“ Sie lächelte und drückte mich an sich. In diesem Moment war ich trotz meiner Traurigkeit so glücklich, sie zu haben und mit ihr über das alles reden zu können.

 

„Wenn du willst, kannst du hier übernachten“, sagte Mari nach einer Weile. „Ich kann mir vorstellen, dass du jetzt nicht alleine in deiner Wohnung sein willst.“

Da hatte sie Recht. Ich konnte jetzt nicht alleine sein. Allein die Vorstellung, alleine in meinem Bett zu liegen und an Meto denken zu müssen, machte mir Angst.

„Das ist lieb, danke“, erwiderte ich.

Mariko stand auf, ging in ihr Schlafzimmer und kam mit Kissen und Decken zurück, die sie auf der Couch ausbreitete und mich währenddessen fragte: „Magst du was essen?“

Ich schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck Tee. Mir war jetzt absolut nicht nach Essen.

 

Mari saß den ganzen Abend mit mir auf dem Sofa, wir schauten eine DVD nach der anderen an und irgendwann nahm ich mir auch von den Crackern, die sie hingestellt hatte.

Irgendwann musste ich dann wohl eingeschlafen sein, denn als ich mitten in der Nacht aufwachte und erst nicht wusste, wo ich war, war der Fernseher aus, die leere Cracker-Schüssel stand auf dem Couchtisch und Marikos Kater lag schlafend neben mir.

 

Langsam fiel mir wieder ein, was gestern passiert war und augenblicklich spürte ich wieder einen Stich im Herzen, als mir das, was ich Meto an den Kopf geworfen hatte, wieder durch den Kopf ging. Ich sah ihn im Geiste vor mir, weinend, verzweifelt. Kurz tat es mir leid, was ich gesagt hatte, doch dann war da wieder meine Wut auf ihn. Ich fühlte mich so belogen, betrogen, und unsagbar traurig.

Und doch: Ich konnte ihn nicht hassen. Ein Teil von mir war immer noch verliebt in ihn und versuchte, ihm zu verzeihen. Und dieser Teil war es, wegen dem ich jetzt, mitten in der Nacht, wieder in Tränen ausbrach, mein Gesicht im Kissen vergrub und hoffte, dass Mariko nicht aufwachte und mich hörte.

 

Doch als ich kurz darauf ihre Schritte hörte und ihre Hand auf meiner Schulter spürte, war ich doch froh, dass sie da war.

„Ach MiA …“, sagte sie leise. „Verdammte scheiß Liebe, ne?“

Ich schniefte, nickte, drehte mich zu ihr um und setzte mich auf.

„Was wirst du morgen machen?“, fragte Mariko.

„Ich weiß nicht …“, antwortete ich. „Verstehst du, … einerseits will ich ihn nicht sehen, erst mal Abstand zu ihm … Aber andererseits will ich auch mit ihm reden. Er bedeutet mir so viel …“

Mariko sah mich eine Weile nachdenklich an, dann fragte sie: „Soll ich ehrlich sein?“

„Kann ich dich schmerzlos dran hindern?“, fragte ich rhetorisch zurück.

„Ich glaube nicht, dass das mit Meto und dir noch mal so was wie ‘ne Beziehung wird. Wenn er was mit Tsuzuku hat und nicht vorhat, das zu beenden, dann solltest du dich an den Gedanken gewöhnen, dass er für dich in der Hinsicht nicht zu haben ist.“

„Aber … warum hat er mir dann gesagt, dass er mich liebt? Warum hat er mich geküsst, wenn er doch Tsuzuku liebt?“

„Das kann nur er dir sagen. Reden solltet ihr auf jeden Fall noch mal. Aber gib dir Zeit, erst mal mit seinem Betrug klar zu kommen.“

 

Danach brauchte ich lange, um wieder einzuschlafen. Meine Gedanken drehten sich, ob ich es wollte oder nicht, weiter um Meto. Immer, wenn ich die Augen schließen wollte, war da sein Gesicht vor meinem inneren Auge, weinend und todtraurig.

Ich war zu müde, um wirklich nachdenken zu können, und zu wach, um einzuschlafen, also schaltete ich den Fernseher an. Da dort jedoch zu dieser Zeit auf fast allen Kanälen nur Mist lief, gab ich schließlich auf, ging zu Marikos Schlafzimmer und weckte sie erneut, diesmal, um nach einer Schlaftablette zu fragen.

Sie hatte tatsächlich welche da und ich schluckte die weiße Tablette mit einem Schluck Wasser herunter. Es dauerte eine Weile, aber dann wurde ich wirklich müde, legte mich wieder hin und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

[nachdem MiA gegangen war]

 

Eine Weile stand ich nur da und starrte auf meine Zimmertür, die MiA wütend zugeschlagen hatte. Seine Worte hallten in meinem Kopf wider, taten furchtbar weh und ließen meine Tränen weiter fließen. Ich drehte mich um, warf mich auf mein Bett und weinte, bis mein Kopfkissen ganz nass und meine Augen schmerzhaft trocken waren.

 

Irgendwann hörte ich Schritte, dann ein leises Klopfen an meiner Tür und Mamas Stimme: „Yuu?“

Ich antwortete zuerst nicht, wollte niemanden sehen, mit niemandem reden, doch als Mama nachdrücklicher klopfte und ihre Stimme wirklich besorgt klang, rang ich mich zu einem leisen, schwachen „Ja…“ durch.

„Kann ich reinkommen?“

Es dauerte eine Weile, bis ich soweit war, mich zu erheben, die drei Schritte von meinem Bett zur Tür zu gehen und sie zu öffnen. Mama sah sofort, dass ich mir die Augen ausgeheult hatte, und fragte: „Was ist denn los? Ich hab MiA weglaufen sehen. Hattet ihr Streit?“

„Es ist vorbei“, sagte ich leise. „Er hat Schluss gemacht.“ Meine Stimme klang so müde und erschöpft.

„Aber wieso denn? Ihr habt euch doch so gut verstanden!“

 

Ich öffnete die Tür ganz und Mama betrat mein Zimmer, das immer noch schrecklich unaufgeräumt war. Sie setzte sich auf mein Bett, ich mich neben sie und sie nahm mich in den Arm. Es tat unheimlich gut, ohne Vorbehalte und Geheimnisse gehalten zu werden.

„Jetzt erzähl mal, was passiert ist.“

Ich wusste, Mama würde es nicht verstehen, wenn ich ihr nicht die ganze Geschichte erzählte. Und so beschloss ich, ihr mehr oder weniger alles zu erzählen und zwar von Anfang an. Ich redete endlich mit ihr. Über Tsuzuku und seine Probleme, über meine Partynächte, mein Leben im Park, über MiA und mein gespaltenes Gefühlsleben.

 

Als ich fertig war, war ich vollkommen erschöpft. Sprechen war unglaublich anstrengend und über all das zu reden fühlte sich in diesem Moment furchtbar an.

„Warum hast du denn nicht früher mit mir darüber gesprochen?“, fragte Mama und strich mir durchs Haar.

„Ich dachte… das geht nicht…“

„Waren Papa und ich zu distanziert zu dir?“

„Ich hab… mich ja selbst… so abgekapselt…“

Mama sah mich eine Weile an, dann sagte sie: „Aber ab jetzt machen wir’s besser, okay? Wir werden wieder ‘ne richtige Familie.“

Ich dachte: ‚Ich glaub nicht, dass das noch geht‘, sagte aber nichts. Sie meinte es so gut und ich wollte auch selbst ein bisschen daran glauben.

 

„Und egal, mit wem du dann letztendlich fest zusammen bist, du kannst ihn immer mit hierher bringen.“ Mama lächelte. „Schließlich möchte ich doch meinen So-was-wie-Schwiegersohn gern näher kennen lernen.“  

Ein winziges Lächeln huschte über meine Lippen, als ich mir vorstellte, Tsuzuku mit hier her zu bringen und ihn meinen Eltern endlich vorzustellen. Vorher würde ich ihn so richtig schön machen und er würde über Nacht bleiben.

 

Ich stand auf und begann, meine Klamotten wieder in den Schrank zu räumen.

„Soll ich uns beiden Abendessen machen?“, fragte Mama. „Dein Vater kommt heute erst sehr spät heim.“

Ich nickte und Mama verschwand aus meinem Zimmer. Irgendwie hatte ich fast vergessen gehabt, was für ein wundervoller Mensch sie war und wie lieb ich sie hatte.

Als ich mit Aufräumen fertig war, ging ich runter zum Abendessen und setzte mich danach vor den Fernseher. Es lief zwar nichts wirklich Spannendes, aber es reichte aus, um mich abzulenken und MiA ein bisschen zu vergessen.

 

Als ich mich dann schließlich schlafen legte, dauerte es, erschöpft wie ich war, nicht lange, bis ich einschlief. Ich schlief jedoch wie zu erwarten nicht besonders gut. Albträume quälten mich, in denen ich Tsuzuku küsste, mich dann umschaute und sah, dass MiA uns beobachtete. In denen er mitbekam, was zwischen Tsu und mir war und wie sehr ich meinen vormals besten Freund liebte. Ich sah MiA weinen, sah seine Wut, und konnte nichts tun, weil Tsuzuku mich festhielt.

 

Und als ich mitten in der Nacht aufwachte, glaubte ich zuerst, dass einer von beiden neben mir lag. Ich tastete vorsichtig über meine Bettdecke, doch da war niemand, nur meine kleine Ruana, deren weiches, plüschiges Fell ich unter meinen Fingern spürte. Ich nahm sie in meine Arme und drückte sie an mich, einen Moment lang kam sie mir vor wie ein lebendiges Tier, eine Katze oder so.

 

Katze. Sofort dachte ich an MiAs weiße Katze, daran, wie ich in seiner Wohnung gewesen war. Damals war es um meine Geheimniskrämerei wegen meiner Herkunft gegangen. Eine winzige, unbedeutende Nebensächlichkeit im Vergleich zu jetzt.

Ich zog die Knie hoch, rollte mich so klein es ging zusammen und vergrub mein Gesicht im Kissen, während ich Ruana weiter an mich drückte und sich in meinem Kopf die Bilder und Gedanken drehten. Und irgendwann, da verspürte ich eine merkwürdige Erleichterung. In dem Moment, als mir klar wurde, dass ich jetzt wenigstens keine Geheimnisse mehr vor MiA hatte.

Dafür hatte ich ihn verloren. Mit jeder Minute, die ich so da lag und versuchte, wieder einzuschlafen, war ich mir sicherer, dass er mich jetzt nicht mehr wollte. Ich hatte ihn betrogen, konnte selbst gut verstehen, dass er unendlich wütend auf mich war und nichts mehr von mir wissen wollte.

 

Meine Tränen flossen wieder, ungehindert. Es war ja niemand hier, vor dem ich sie hätte verstecken wollen. Nur Ruana, und vor ihr schämte ich mich nicht.

Auf einmal wollte ich, dass Tsuzuku da war, meine Tränen wegküsste und mir das Gefühl gab, dass MiA und die Gefühle für ihn weit, weit weg waren. Wollte mich an seinen Körper schmiegen, seine Wärme spüren, seine Stimme hören, und fühlen, dass er mich liebte. Und morgens in seinen Armen aufwachen.

 

Ich geriet ins Träumen, in Gedanken davon, wie es sein würde, wenn Tsuzuku es schaffte, von der Straße wegzukommen. Er würde wieder eine Wohnung haben, ein richtiges Leben. Wo würde mein Platz in diesem neuen Leben sein? An seiner Seite, ja, aber wie genau?

Mit einem Mal hatte ich das dringende Bedürfnis, mit ihm über diese Zukunft zu reden. Jetzt. Sofort.

Ich stand auf, schaltete das Licht an und sah auf die Uhr. Es war halb ein Uhr nachts. Eigentlich vollkommen bescheuert, jetzt aufzustehen und zu ihm zu gehen, doch dieser Gedanke hatte mich fest im Griff.

 

Ich zog mich an, nahm dann Ruana und steckte sie kurzentschlossen in meine Umhängetasche. Aus irgendeinem Gefühl heraus wollte ich sie jetzt bei mir haben. Dann schlich ich mich aus dem Haus und hinaus in die nächtliche Stadt.

Nachts draußen zu sein, das hatte für mich, obwohl ich nach Partys und den Sommerabenden im Akutagawa-Park schon oft zu dieser Zeit durch die Stadt gelaufen war, immer noch einen gewissen Zauber, etwas Besonderes an sich. Die Stille, die über meinem Viertel lag, die Dunkelheit und das Sich-heimlich-rausschleichen gaben mir ein geheimnisvolles, gutes Gefühl, obwohl es doch schon ziemlich kalt war.

Straßenlaternen und Ampeln in den Vierteln waren längst ausgeschaltet und wohl auch gar nicht mehr notwendig, denn ich begegnete auf dem Weg in Richtung Fluss nur ganz vereinzelten Autos und noch weniger Menschen.

 

Im Park war alles still. Selbst diejenigen, die oft die ganze Nacht hindurch herumhingen und tranken, schienen heute lieber schlafen zu wollen. Ich ging direkt zur Brücke und zu Tsuzukus Schlafplatz. Von ihm selbst war nicht viel zu sehen, er hatte sich zum Schutz vor der nächtlichen Kälte fast völlig in seinem Schlafsack verkrochen.

Zuerst stand ich eine Weile neben ihm, überlegte, ob ich ihn wirklich wecken sollte. Schließlich kniete ich mich hin und berührte ihn an der Schulter. Es dauerte eine ganze Weile, bis er aufwachte, halbwegs aus seinem Schlafsack herauskam und mich erkannte.

 

„Meto?“, fragte er verwirrt. „Was los?“

Ich musste mich erst ein wenig sammeln, bevor ich antworten konnte: „Ich kann nicht schlafen. Und ich wollte dich sehen.“

„Ist was passiert?“

Ich nickte.

„Was denn?“

„MiA. Ich hab mit ihm … gestritten.“ Ich wollte jetzt nicht daran denken, also wechselte ich das Thema: „Tsu, ich will dir gern zeigen, wo ich wohne. Möchtest du vielleicht … bei mir übernachten?“

Tsuzuku lachte auf. „Das fragst du? Als ob ich bei dieser Kälte Nein dazu sagen würde, wenn du mich in eine Villa, die auch noch dein Zuhause ist, einlädst!“

 

Er stand auf, zog seine Schuhe an und begann, seinen Schlafsack zusammen zu packen. Ich half ihm und dabei fiel mir auf, dass sich sein Instantnudelvorrat auffällig dezimiert hatte. Anscheinend aß er in letzter Zeit besser und da ich das Koichi zuschrieb, dankte ich allen mir bekannten Göttern dafür, dass Tsuzuku einen so wundervollen neuen Freund gefunden hatte.

 

„Wer ist das denn?“, fragte Tsu grinsend und deutete auf Ruana, deren Kopf aus meiner Tasche herausschaute.

„Ruana“, sagte ich. „Sie ist … so was wie meine beste Freundin.“ Ich wurde ein bisschen rot, weil sich das so kindisch anhörte, aber Tsu lächelte nur.

„Sie ist süß.“

 

Durch die nächtliche Stadt liefen wir in Richtung Akayama. Mein Herz klopfte wie verrückt, zum einen, weil Tsuzuku meine Hand hielt, und zum anderen, weil mir mit jedem Schritt mehr bewusst wurde, dass ich gerade dabei war, ihm zum ersten Mal die andere Seite meines Lebens zu zeigen.

„Warum bist du denn so aufgeregt?“, fragte er.

„Ich weiß nicht …“, antwortete ich, wusste es nicht in Worte zu fassen.

„Brauchst du doch nicht sein.“ Tsuzuku ließ meine Hand los und legte stattdessen einen Arm um mich, sodass ich stehen blieb. „Oder denkst du wirklich, dass ich es nicht verkrafte, zu sehen, dass du in einer schicken Villa lebst.“

„Das hab ich wirklich mal gedacht“, antwortete ich.

„So ein Quatsch.“ Er lachte auf. „So instabil bin ich nicht, dass mir das zusetzen würde.“

 

Das letzte Stück bis zu meinem Zuhause gingen wir eng zusammen, wie ein richtiges Liebespaar. Als ich vor dem Haus stehen blieb und meinen Schlüssel hervorholte, hörte ich, wie Tsu ein leises „Wow…“ entfuhr, angesichts der Ausmaße der Villa.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dieses riesige, weiße Haus mit den Marmorsäulen am Eingang war mein Zuhause, und Tsuzuku gegenüber, der auch früher wohl eher in einfacheren Verhältnissen gelebt hatte, war es mir immer noch ein wenig unangenehm, so reich zu sein.

 

Wir zogen unsere Schuhe aus, ich nahm seine Hand und führte ihn durch die Dunkelheit zur Treppe, rauf in mein Zimmer.

„Sag mal, wissen deine Eltern eigentlich von mir?“, fragte er.

„Nur meine Mam, seit heute Abend. Weißt du … ich hab hier genauso alles geheim gehalten wie bei dir und den anderen im Park“, antwortete ich, schloss die Zimmertür hinter uns und schaltete das Licht an. Dabei fiel mir wieder ein, warum genau ich Tsuzuku so mitten in der Nacht geweckt und hergebracht hatte.

„Sag mal …“, begann ich, setzte mich auf mein Bett und bedeutete ihm, sich neben mich zu setzen, „… wie stellst du dir eigentlich die Zukunft vor?“

„So jetzt die nächste Zeit oder für länger?“, fragte er und setzte sich nah neben mich.

Unsere Zukunft“, präzisierte ich.

 

Tsuzuku nahm meine Hand, strich mit dem Daumen nachdenklich über meinen Handrücken und sah mich an. „Den Winter werde ich im Tempel verbringen, davon hab ich dir ja vorgestern erzählt. Vielleicht hab ich dann schon nächstes Frühjahr wieder eine Wohnung.“ Er ließ seine Hand meinen Arm hinauf wandern, strich über meine Schulter und berührte meinen Hals. „Und am liebsten … würde ich mit dir zusammen leben. Ich will dich abends im Arm halten, nachts lieben und morgens neben dir aufwachen, jeden Tag.“ Seine Hand war an meinem Kinn angekommen und hob es leicht an, sodass er mir in die Augen sah. „Meto, ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen.“

Ich wurde rot, mein Herz fing an, aufgeregt gegen meine Rippen zu klopfen. Tsuzuku schaffte es immer wieder mit seinen liebevollen Worten, mich aus der Fassung zu bringen.

 

„Und tagsüber?“, fragte ich.

„Irgendwie werden wir schon Arbeit finden. Von dem Geld bezahlen wir die Wohnung, kaufen schöne Kleider und gutes Essen und bauen uns ein eigenes Leben auf.“ In Tsuzukus dunklen Augen lag ein träumerischer, warmer Glanz.

So positiv gestimmt kannte ich ihn erst, seit wir zusammen verreist gewesen waren. Er schien wirklich daran zu glauben und das machte mich glücklich. Dass er so locker von gutem Essen sprach, zeigte mir, dass sich bei ihm wirklich etwas zum Guten verändert hatte.

 

Tsuzuku beugte sich vor, nahm mein Gesicht in seine Hände und legte seine Lippen auf meine. Ganz zärtlich und weich und vorsichtig, so als wäre ich eine wertvolle, zerbrechliche Porzellanpuppe.

„Ich liebe dich, Meto.“ Seine Stimme klang so sanft und schön, dass mir ein kleiner Schauer über den Rücken lief.

 

Er hatte es tatsächlich geschafft, dass ich MiA für eine Weile vollkommen vergessen hatte. Doch als Tsu seine Hände wieder nach unten wandern ließ und versuchte, mir meine Jacke, welche ich noch immer trug, auszuziehen, und ich spürte, dass er mehr wollte als Küssen, da war der schmerzhafte Gedanke an MiA auf einmal wieder da.

Zuerst versuchte ich noch, ihn zu verdrängen, ließ mich auf den Rücken sinken und ließ zu, dass Tsuzuku mir die Jacke auszog und meinen Pullover hochschob, um meinen Oberkörper zu streicheln, doch als ich seine Fingerkuppen an meinen Nippeln spürte, da konnte ich nicht anders, als heftig den Kopf zu schütteln.

„Nein …“, kam es viel zu leise über meine Lippen, doch er hörte es und stoppte.

„Was ist?“, fragte er.

„Tsu … mir ist jetzt nicht … nach so was …“, sagte ich leise und wich seinem Blick aus.

„Warum denn nicht?“

Ich zögerte. Wenn ich Tsuzuku jetzt sagte, dass ich wegen MiA nicht wollte, würde er weiter fragen und aus mir herauskriegen, dass ich kurzzeitig sowohl mit ihm, als auch mit MiA zusammen gewesen war, und ich wusste, dass würde ihn aufregen, wahrscheinlich sogar wütend machen.  Und so kamen mir (fast ein Wunder, dass ich noch welche hatte) wieder die Tränen.

 

„Hey, was hast du denn?“, fragte er besorgt. Vielleicht dachte er jetzt an den zweiten Abend unserer Reise, als ich ebenfalls wegen MiA geweint hatte. Damals hatte Tsuzuku mich schlussendlich ja doch noch rumgekriegt, aber auch nur, weil ich ihm nicht gesagt hatte, was los war.

Schnell legte ich mir im Kopf eine Version des Verhältnisses zwischen MiA und mir zurecht, von der ich glaubte, dass Tsuzuku sie akzeptieren würde: „MiA … Er hat mir gestern Abend die Freundschaft gekündigt.“

„Und warum?“

„Na ja …“, begann ich, mein Herz klopfte ängstlich. „Bevor du mir gesagt hast, dass du mich liebst … da war ich mit ihm zusammen. Das weißt du ja auch, oder?“

Tsuzuku zuckte kurz zurück, kaum merklich, und ich sah die Eifersucht in seinen Augen aufblitzen.

„Und nach unserer Reise … Ich hab’s nicht geschafft, gleich mit ihm Schluss zu machen. Das ist irgendwie so weiter gelaufen.“ Ich beobachtete, wie es in Tsus Augen arbeitete, hatte Angst, dass er gleich ausrasten und mich dann allein lassen würde.

„Aber … du hast nicht … mit ihm …“, fragte er mit zitternder Stimme.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

Er atmete erleichtert aus.

„Du warst mein Erster“, sagte ich leise.

 

„Wie … wie hat MiA das denn rausbekommen?“, fragte Tsuzuku nach einer Weile.

Ich hob die Hand, zog den Kragen meines Pullovers beiseite und deutete auf die Reste des Knutschflecks an meiner Schulter.

„Also bin ich schuld?“

„Nein“, beeilte ich mich zu sagen. „Ich hätte MiA einfach … eher sagen müssen, dass ich … mit dir zusammen bin … Er hat sich … Hoffnungen gemacht und so …“

Zuerst befürchtete ich noch Tsuzukus Reaktion, doch langsam beruhigte ich mich wieder. Er schien mich verstanden zu haben und solange er bei mir war, spürte ich meine Gefühle für MiA kaum.

„Tsu?“, fragte ich leise. „Kann ich … einfach in deinen Armen schlafen?“

„Klar.“ Er lächelte, doch ich sah eine Spur von Eifersucht und Schmerz in seinen Augen.

 

Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus, er ebenfalls, und schließlich kuschelten wir uns unter meiner Bettdecke eng aneinander. Ich spürte, dass Tsuzuku auch mehr gewollt hätte, sich aber beherrschte. Er beließ es dabei, mich im Arm zu halten, zu streicheln, und ab und zu küsste er mich, betont vorsichtig, liebevoll und nicht-fordernd.

Ich dachte an seine Worte von eben, das, was er sich von unserer Zukunft erträumte. Er wollte wirklich sein Leben mit mir verbringen. So, wie er das gesagt hatte, klang es fast wie ein Verlobungsversprechen. So sehr von diesem wunderbaren, liebevollen, leidenschaftlichen Menschen geliebt zu werden, rührte mich beinahe zu Tränen.

Tsuzuku strich mit der Hand über meine Wange, drückte mich mit dem anderen Arm an sich und flüsterte: „Schlaf jetzt, Meto.“

„Tsuzuku, aufstehen.“

Noch mit geschlossenen Augen, hörte ich Metos Stimme. Sonnenlicht leuchtete durch meine Lider und ich spürte daran, dass ich weich lag, dass ich mich in einem Bett befand. Langsam öffnete ich die Augen und sah, dass Meto neben mir auf dem recht großen Bett kniete. Er hatte einen Teddybären mit Knopfauge in der Hand und ließ diesen mir zuwinken.

Ich drehte mich ein Stück, sah mich um und da fiel mir wieder ein, wo ich war. Ja, stimmte ja, Meto hatte mich ja mitten in der Nacht geweckt und zu sich nach Hause eingeladen. Wir hatten von der Zukunft gesprochen.  

 

„Komm schon, Tsu, Ruana will, dass du aufstehst!“, sprach Meto mit kindlich verstellter Stimme.

Ich streckte die Hand aus und tippte dem Teddybären auf die Nase. Große Lust, aufzustehen, hatte ich nicht, denn das Bett war wahnsinnig gemütlich und die Bettdecke roch nach Meto.

„Will nicht aufstehen …“, brummte ich und kuschelte mich tiefer unter die Decke.

„Es ist halb zehn“, informierte mich mein Liebster über die Uhrzeit, doch das beeindruckte mich nicht wirklich. Früher hatte es Zeiten gegeben, in denen ich erst um zwölf Uhr mittags aus dem Bett gekommen war, besonders natürlich am Wochenende.

Und jetzt hatte ich, statt aufs Aufstehen, vor allem auf zwei Dinge Lust: Meto und dieses Bett.

 

Ich setzte mich auf, jedoch nur, um meine Arme um Metos Nacken zu legen, ihn zu mir runter zu ziehen und den Überraschungseffekt zu nutzen, um ihm einen liebevollen Kuss auf die Lippen zu drücken.

„Tsu…!“, wagte Meto es, zu protestieren, was ich umgehend ‚bestrafte‘, indem ich ihn ganz zu mir unter die Decke zog, eng an mich drückte und begann, kleine Küsse auf seinem Hals zu verteilen. Ich atmete seinen Duft ein, der in mir sofort einen Hunger auf mehr weckte, vollkommen ungeachtet der Uhrzeit und der Tatsache, dass Metos Eltern keine Ahnung davon hatten, dass ich hier war.

„Du willst aber nicht … jetzt …?“, fragte mein Schatz mich wenig begeistert, doch ich antwortete schlicht: „Doch.“

 

Und erst da erinnerte ich mich auf einmal daran, was in der Nacht noch gewesen war. Dass Meto von MiA gesprochen, dieser ihm die Freundschaft gekündigt hatte. Und dass Meto das, was ich auch jetzt vorhatte, nicht gewollt hatte.

Sofort ging ich auf Abstand, wieder wurde mir klar, dass ich fast zu weit gegangen wäre.

„Tut mir leid“, brachte ich mit zitternder Stimme heraus. Ich spürte meine Leidenschaft, und dann die Eifersucht, als mir wieder einfiel, dass zwischen meinem Liebsten und MiA zwischenzeitlich mehr gewesen war als einfache Freundschaft.

Meto streckte die Hand aus und strich mir durchs Haar. „Gib mir … ein bisschen Zeit, okay?“

„Wenn du mir versprichst, dass wir das nachholen“, erwiderte ich.

Er nickte, schmiegte sich kurz an mich, aber dann stand er auf, setzte Ruana auf den Nachttisch und sagte noch einmal: „Aufstehen, Tsu.“

 

Langsam erhob ich mich, entdeckte, dass meine Tasche neben der Zimmertür lag, stand auf und wollte meine Kulturtasche herausholen, da sagte Meto: „Mein Badezimmer ist hier gleich die nächste Tür. Da hast du alles.“ Ich hörte hinter diesen Worten das Angebot meines Liebsten, den Luxus seines Zuhauses voll auszukosten und so folgte ich dem, verließ sein Zimmer und wagte mich auf den Flur hinaus, hoffend, dass Metos Eltern nicht da waren oder mich zumindest nicht jetzt bemerkten.

 

Das Badezimmer war ziemlich groß und noch luxuriöser als das im Hotel. Ich sah, an den herumliegenden Kleidern und der Art, wie die Sachen hier herumstanden, dass Meto es offenbar wirklich alleine nutzte, und dachte kurz an früher, an das im Vergleich hierzu winzige Bad, das ich mir mit Mama geteilt hatte. Dieser kurze Gedanke an Mama tat überraschenderweise kaum weh und verflog auch schnell wieder.

 

Ich zog mich aus und stellte mich unter die geräumige Dusche, ließ mich von dem heißen Wasser beregnen und sah dann an mir runter. In den letzten beiden Tagen hatte Koichi meine Nahrungspalette von Nudeln, Keksen und Kaffee um Suppe und Kuchen erweitert und auch, wenn es wahrscheinlich nur Einbildung war, glaubte ich nun doch zu sehen, dass ich ein wenig zugenommen hatte. Zumindest in meinem Gefühl machte sich langsam wieder so etwas wie echter Hunger breit und das stimmte mich ziemlich zufrieden, auch wenn ich wusste, dass ich erst am Anfang stand und es sicher noch mal schwer werden würde.

 

Ich ließ die Gedanken an Essen vorbeiziehen, seifte mich ein und dachte an Meto, stellte mir vor, wie es wäre, mit ihm zusammen zu duschen. Das Gefühl, von ihm liebevoll berührt zu werden, war derzeit so ziemlich das Schönste, was ich mir vorstellen konnte, und allein der Gedanke daran ließ ein Lächeln über meine Lippen huschen. Ich liebte es, so verliebt in ihn zu sein, obwohl ich wusste, dass ich ihn manchmal wohl ganz schön bedrängte. Aber so war ich eben und hatte gerade erst wieder gelernt, dazu zu stehen.

 

Ich war gerade fertig mit Haare waschen, als ich ein Klopfen an der Tür und Metos leise Stimme hörte: „Tsu? Kann ich reinkommen?“

„Ja, klar“, antwortete ich. „Bin aber noch nicht fertig.“

Meto betrat das Badezimmer, er war schon fertig angezogen, ging zum Spiegel und begann, sich die Haare zu kämmen und sein Gesicht zu waschen, wobei ich ihn selbstvergessen beobachtete. Als mir schließlich kalt wurde, fiel mir wieder ein, dass ich mich mal abtrocknen sollte, also stieg ich nackt aus der Dusche und nahm mir eines der herumliegenden Handtücher.

 

Ich sah einen feinen Rotschimmer auf Metos Wangen, als er mich durch den Spiegel unbekleidet hinter sich stehen sah, und musste grinsen. Kurzentschlossen wickelte ich mir das Handtuch um die Hüfte und umarmte meinen Liebsten von hinten, was ihn noch röter werden ließ.

„Du bist noch ganz nass“, sagte er.

„Na und?“, erwiderte ich und hauchte einen Kuss auf seinen Hals.

Ihm entfuhr ein leises Seufzen, hörbar angetan, und so küsste ich ihn weiter, zog den Ausschnitt seines Shirts beiseite und dehnte mein Tun auf seine Schulter aus, was ihm auch zu gefallen schien, denn er schmiegte sich enger an mich.

„Sind deine Eltern überhaupt da?“, fragte ich.

„Meine Mutter schon“, antwortete er.

„Schade …“, sagte ich mit einem leisen Grinsen.

„Tsu!“

„Ja, ja, schon gut.“

 

Ich löste mich wieder von ihm, damit er sich weiter zurechtmachen konnte, nahm mir seinen Bademantel und ging, mit diesem bekleidet, wieder auf den Flur raus, um in sein Zimmer zurück zu gehen und mir meine Klamotten zu holen.

Der Flur war eigentlich mehr eine Galerie, von der aus man ins hallenartige Wohnzimmer herunterblicken konnte, und gerade, als ich in Metos Zimmer verschwinden wollte, kam eine Frau im schicken Kostüm aus einem Raum unten, bei dem es sich vielleicht um die Küche handelte, blickte hoch und sah mich.

Ach du Schreck. Ich blieb wie angewachsen stehen, starrte sie einen Moment an und sie blickte nicht minder verwundert und irritiert zurück. Auf die Entfernung erkannte ich recht volle Lippen und große Augen, zwei Dinge, die sie eindeutig als Metos Mama auswiesen.

„Guten Morgen!“, sagte sie laut, ging zur Treppe und kam mir entgegen.

Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Was sagte man denn auch bitte, wenn einen die zukünftige Sowas-wie-Schwiegermutter auf dem Flur ihres Hauses erwischte und man selbst den Bademantel ihres Sohnes trug?

„Du bist Tsuzuku, oder?“, nahm sie mir das Erwidern ab.

Ich nickte mechanisch und versuchte so etwas wie ein Lächeln. „Ja …“, sagte ich und fügte eilig hinzu: „Sorry, ich bin erst heute Nacht hergekommen.“

Sie überging das und deutete eine leichte Verbeugung an. „Schön, dich kennen zu lernen.“

Jetzt komplett irritiert, nickte ich nur und beeilte mich, in Metos Zimmer zu verschwinden. Von dort hörte ich, wie Metos Mutter „Yuu?“ rief, er mit „Ja…?“ antwortete und sie ihn dann darüber informierte, soeben meine Bekanntschaft gemacht zu haben.

 

Ich hatte geglaubt, dass mir so schnell nichts mehr allzu peinlich sein würde. Dass ich mir das in den zwei Jahren auf der Straße abgewöhnt hatte. Doch diese kurze Episode eben war genau das gewesen: Peinlich. Ich hatte mir gestern Abend auf dem Weg hier her Gedanken gemacht wegen des ersten Eindrucks und mir vorgenommen, bei Metos Eltern einen guten Start hinzulegen, aber das war jetzt ja wohl gründlich schief gegangen. Frau Asakawa musste sich jetzt ja sonst was von mir denken!

 

Ich zog mich hastig an und war fertig damit, als Meto, perfekt geschminkt und zurechtgemacht, ins Zimmer kam und mich fragte, ob ich vor dem Frühstück nochmal ins Bad wollte. Ich nickte, schließlich wollte ich mich auch noch schminken und meine Haare machen.

„Geht das mit dem Frühstück?“, fragte er dann.

„Ja“, sagte ich. „Alles gut.“

Meto lächelte mich an. „Weißt du, Tsuzuku, dass mich das glücklich macht?“

 

Ich lächelte und verschwand dann noch mal ins Bad. Als ich zwanzig Minuten später geschminkt und ein bisschen zurechtgemacht wieder rauskam, hörte ich von unten Tellerklappern und Reden.

Langsam ging ich die Treppe runter und durch die offene Tür in die Küche. Dabei wurde mir bewusst, dass es das erste Mal seit langer Zeit war, dass ich mich in einem Wohnhaus aufhielt. Ich fühlte mich ein wenig fremd, doch gleichzeitig war es längst nicht so ungewohnt, wie ich mir vorgestellt hatte. Schließlich war das hier das Zuhause meines Liebsten.

 

Ich hatte jedoch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn in dem Moment stieg mir der Duft des Frühstücks in die Nase. Ich hielt automatisch kurz die Luft an und schluckte. Metos Mutter hatte Rührei mit Bacon gemacht, was einfach viel zu stark nach Essen roch, und die ganze Küche war erfüllt von diesem Geruch. Mir wurde schwindlig.

„Tsu?“, fragte Meto. „Was ist?“

„Nichts …“, brachte ich heraus. „Geht gleich wieder …“

Na toll. Jetzt bekam meine zukünftige Schwiegermutter also gleich noch mit, dass ich krank war. Das mit dem guten ersten Eindruck konnte ich wohl vergessen.

„Alles okay?“, fragte sie auch gleich.

Ich nickte, versuchte ein Lächeln, wusste nicht, was ich sagen sollte.

 

„Tsu, ich hab meiner Mama erzählt, dass du … diese Probleme hast und so …“, sagte Meto leise. 

„Wieso das denn?“, entfuhr es mir.

„Ich … musste einfach drüber reden.“ Er schaute runter auf den Tisch, als erwartete er, dass ich ihn jetzt zur Schnecke machte.

Ich atmete ein paar Mal ein und aus, versuchte, mich an den Geruch des Essens zu gewöhnen und dieses Zeug von einem guten Eindruck einfach zu vergessen. Metos Mutter lächelte mich an und hielt mir einen Korb mit Brot hin. Anscheinend gab sie entweder nichts auf den ersten Eindruck oder ich hatte, trotz der Situation vorhin und dem jetzt, doch irgendwie ein gutes Bild abgegeben. Sie schien sich jedenfalls vorgenommen zu haben, mich zu mögen.

 

Gottseidank schaffte ich es, halbwegs normal zu essen, wenn auch nicht viel. Zwischendurch spürte ich unter dem Tisch kurz Metos Hand auf meinem Bein und er lächelte mich immer wieder ermutigend an. Leider ließ er damit in meinem Bauch einen Schwarm wild flatternder Schmetterlinge los, was mir das Essen noch mal schwerer machte. Aber das ließ ich ihn nicht wissen.

 

„Was habt ihr denn heute vor?“, fragte die Mutter meines Liebsten nach dem Frühstück.

„Eigentlich… nichts…“, antwortete er und sah mich dann fragend an: „Oder?“

Ich hob die Schultern, wusste auch nichts mit dem Tag heute anzufangen. Am liebsten wollte ich zurück in dieses warme, weiche, gemütliche Bett, zusammen mit Meto, und einfach seine Nähe genießen. Oder mit ihm Filme anschauen, damit den Tag irgendwie rumkriegen und dann, heute Abend, Haut an Haut mit ihm liegen und ihn spüren lassen, wie sehr ich ihn liebte. Allein beim Gedanken darin flatterte der Schmetterlingsschwarm in meinem Bauch wie verrückt und mein Herz klopfte schneller.

Meto schien irgendwie zu bemerken, wie schwebend ich mich fühlte, streichelte unter dem Tisch über mein Bein und lächelte mich an. Mein Körper bewegte sich wie von selbst, ich beugte mich vor und drückte meine Lippen auf Metos. Er errötete und sah etwas unsicher zu seiner Mutter, die jedoch nur lächelte.

 

„Ihr müsst ja nichts unternehmen“, sagte sie. „Meinetwegen könnt ihr auch den ganzen Tag im Haus bleiben und DVDs anschauen oder so. Macht es euch einfach gemütlich, ich muss nachher sowieso noch mal weg.“

Meto nickte. „Ich… möchte heute… auch gar nicht …so gern in die Stadt.“

„Wegen Mia?“, fragte seiner Mutter vorsichtig.

„M-hm… Es könnte ja sein… dass ich ihm …begegne… und das… will ich nicht…“

 

Er wollte ihn also wirklich nicht sehen. Ich wusste, es war nicht sonderlich nett, so zu denken, aber ich war irgendwie sehr froh darüber. Immerhin bedeutete das, dass mein Liebster sich jetzt für mich entschieden hatte. Dass da nichts mehr war zwischen ihm und MiA. Ich spürte meine eigene, besitzergreifende Art und genoss einen Augenblick lang das erhebende Gefühl, dass Meto jetzt zu mir gehörte. Er war mein und das machte mich unbeschreiblich glücklich. Doch in diesem Moment durfte ich es nicht zeigen, denn ich sah eine deutliche Spur Traurigkeit in seinen Augen. Ich wusste, ganz war er noch nicht über MiA hinweg und er würde noch ein bisschen Zeit brauchen, bis er sich mir ganz würde hingeben können. Doch solange ich sicher sein konnte, dass er bei mir blieb, war ich bereit, noch ein bisschen zu warten.

 

„Also schaut ihr euch Filme an?“, fragte Frau Asakawa.

Meto nickte, stand auf, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her aus der Küche nach oben in sein Zimmer. Dort angekommen suchte er aus einem Regal, dass mit Filmen, CDs, Büchern und Manga gefüllt war, eine DVD aus und hielt sie mir entgegen. „Der Tanz der Toten“ stand auf dem Cover und ich erinnerte mich, dass ich diesen Titel von früher kannte. Ich nahm die DVD entgegen und sah mir die Rückseite an. Es ging um Vampire und ruhelose Geister, ein alter Horrorfilm, an dessen Handlung ich mich jedoch kaum erinnern konnte.

Ich warf einen Blick auf die anderen DVD-Hüllen im Regal. Es war eine umfangreiche Sammlung verschiedenster Filme, auch Liebesfilme und dergleichen, doch der Anteil an gruseligen und dunkel gefärbten Streifen überwog. So ähnlich hatte auch meine Sammlung früher ausgesehen.

 

Meto nahm mir den Film wieder aus der Hand, hockte sich vor den Fernseher und legte die DVD in den Spieler ein. Wir machten es uns auf dem Bett gemütlich, unter der Decke, und mein Liebster lehnte seinen Kopf an meine Brust.

„Ich hör dein Herz“, sagte er leise, während der Titel des Films über den Bildschirm flimmerte und die typische Horrorfilm-Anfangsmusik einsetzte.

Ich hatte den Film tatsächlich früher schon einmal gesehen, was aber der Spannung, da ich mich kaum noch erinnerte, kaum einen Abbruch tat. Was mich eher daran hinderte, richtig mit zu fiebern, war, dass Meto die ganze Zeit über eng an mich gekuschelt neben mir lag und hin und wieder meine Fantasie vom Film ablenkte und in ganz anderen Sphären abtauchen ließ. Ich hoffte, liebestrunken wie ich war, dass er heute Abend zu mehr als nur Küssen bereit sein würde und ich die Wünsche, die seine Nähe in mir weckte, ausleben durfte. Diese Wünsche beschrieben nichts Besonderes, nichts Ausgefallenes, sondern ich wollte mit Meto einfach das tun, was verliebte Paare nun einmal taten, wenn sie allein waren.

 

Als der Film vorbei war, war es kurz nach Mittag.

„Ich hab Hunger“, sagte Meto, stand langsam auf und fragte dann mit einer gewissen Vorsicht in der Stimme: „Willst du auch was essen?“

Ich hatte das Thema Essen nach dem Frühstück, bei dem ich nicht allzu viel zu mir genommen hatte, komplett verdrängt und vergessen. Doch jetzt, wo Meto mich wieder daran erinnerte, spürte ich, dass ich Hunger hatte. Allerdings fühlte sich der Gedanke daran, etwas zu essen, nicht sonderlich gut an und ich war nicht sicher, ob ich, sollten wir uns jetzt etwas kochen, es auch runterkriegen würde.

„Ich seh mal nach, was wir da haben, und du schaust, ob du’s magst oder nicht, okay?“, sagte Meto.

Ich nickte und dachte daran, dass ich essen wollen musste. Dass es die einzige Möglichkeit war, ein bisschen zuzunehmen und gesund zu werden.

 

Schließlich standen wir unten in der Küche vor dem Gefrierschrank und Meto kramte darin herum.

„Magst du Baguette? Oder Pizza?“

„Ich glaube, ich schaffe keine ganze …“, sagte ich ehrlich.

„Dann teilen wir uns eine.“ Er nahm eine gefrorene Pizza aus dem Eisfach, riss die Folie auf und schaltete den Backofen ein.

Während wir dann warteten, dass die Pizza fertig wurde, sah Meto mich aufmerksam an.

„Geht’s jetzt mit dem Essen?“, fragte er schließlich.

„War ja schon mal schlechter“, antwortete ich und dachte daran, dass es schon einige Wochen her war, dass ich zuletzt gebrochen hatte.

„Hast du denn Hunger?“

Ich nickte. Hunger hatte ich schon, mir fehlten nur der Appetit und der Mut zum Essen, weshalb ich mir nicht zutraute, eine ganze Pizza zu essen. Koichi hatte mich zwar gestern und vorgestern Mittag erfolgreich mit Suppe und Kuchen gefüttert, aber in diesem Moment fühlte ich mich wieder weniger stark, jedenfalls wenn es um Nahrung ging.

„Und was ist das für ein Hunger?“, fragte Meto.

„Er ist gut. Aber ich … ich fühl mich noch so … unsicher, verstehst du?“

„M-hm.“

 

Als die Pizza schließlich fertig war, nahmen wir sie mit nach oben und stellten den nächsten Film ein. Diesen kannte ich nicht und während ich langsam meine Hälfte der Pizza aß, verfolgte ich um einiges gespannter als beim letzten Film, wie die Charaktere des Films in einer dunklen Welt um ihr Leben kämpften. Natürlich nahm die Geschichte ein schlechtes Ende, wobei mir auffiel, dass ich das früher gut gefunden hatte und jetzt, wo ich selbst so oft am Abgrund gestanden hatte, mit weit weniger Begeisterung aufnahm.

 

Als auch dieser Film vorbei war, schaute ich aus dem Fenster und stellte fest, dass das Wetter umgeschlagen war und es sehr zu regnen angefangen hatte. Ich war wirklich froh, bei diesem Wetter nicht draußen oder in der städtischen Unterkunft sein zu müssen.

Ob die andern im Park sich wohl fragten, wo ich war? Oder konnten sie sich denken, dass ich mich bei Meto aufhielt? Ich hatte mich ja nicht wirklich abmelden können. In dieser Situation hätte mir ein Handy sicher gute Dienste geleistet, aber natürlich besaß ich keines. 

 

Ich drehte mich vom Fenster weg, zu Meto, der auf dem Bett saß und mich anschaute. Wenn ich ihn so ansah, wollte ich ihn am liebsten umarmen und küssen. Doch ich wusste, dass ich, würde ich es jetzt tun, ihn auch wieder zu mehr drängen würde und das wollte ich nicht. Er hatte mich um Zeit gebeten und ich gab sie ihm, auch wenn es mir schwer fiel. Jedoch musste ich einfach darüber reden.

„Meto?“

„Hm?“

Ich setzte mich neben ihn aufs Bett und sah ihn eine Weile nur an, bevor ich fragte: „Kann ich … heute Abend wieder hier schlafen?“

„Ja, klar. Wenn es so weiter regnet …“

Ich nahm seine Hände, sah ihm in die Augen. „Meto, du weißt, was ich will. Ich verstehe, dass du wegen MiA Zeit brauchst, aber … weißt du, ich hab diese starken Gefühle, diesen Wunsch, dir so nah zu sein, wie es nur geht. Ich kann ein bisschen warten, aber ich will, dass du weißt, wie es in mir aussieht und was ich fühle.“

 

Er erwiderte meinen Blick und antwortete: „Ich weiß. Und es fühlt sich unglaublich toll an, dass du mich so liebst. Aber, weißt du, ich hatte MiA sehr gern und … ich muss erst mal über ihn hinweg kommen. Wenn ich so weit bin, sag ich’s dir, okay?“

„Okay.“ Ich nickte und ließ mich nach hinten aufs Bett sinken. Es war noch um einiges weicher und gemütlicher als das im Hotel und wahrscheinlich wahnsinnig teuer. Warum Meto allerdings ein Doppelbett in seinem Zimmer stehen hatte, wusste ich nicht.

„Sag mal“, fragte ich lächelnd. „Wieso hast du eigentlich so ein riesiges Bett?“

Meto zuckte mit den Schultern. „Ich durfte mir eins aussuchen und fand das hier am schönsten.“

‚Muss toll sein, dieses Luxusleben‘, dachte ich. In meiner Lage erschien mir der Gedanke, reich zu sein, natürlicherweise sehr verlockend.

 

Jedoch natürlich nicht halb so verlockend wie jener türkishaarige Junge, der mit dem Rücken zu mir vor mir auf dem Bett saß und aus dem Fenster schaute. Am liebsten hätte ich ihn von hinten umarmt, an mich gezogen und geküsst, doch ich nahm mich zusammen und ließ es. Stattdessen betrachtete ich einfach seine Gestalt und ließ meine Gedanken sich um ihn drehen und um Dinge, die uns beide betrafen.

 

Zum Beispiel um den Altersunterschied zwischen uns. Ich vierundzwanzig, er neunzehn, das waren fünf Jahre, sogar ziemlich genau fünf. Manche Menschen meinten ja, dass eine Beziehung mit einem solchen Unterschied nicht funktionieren konnte, doch ich glaubte das nicht. Schließlich hatte unsere Freundschaft bisher auch mehr oder weniger problemlos funktioniert, wir stritten selten und fühlten uns einander wirklich nahe.

 

Natürlich hatten wir jetzt eine gewisse Rollenverteilung, aber die war eben so entstanden, weil ich nun einmal eher offensiv war, während Meto anscheinend kein Problem damit hatte, den eher passiven Part zu übernehmen. Hätte man mich gefragt, ob ich auch bereit war, die Positionen zu tauschen, hätte ich mit Ja geantwortet. Zum einen, weil ich der Meinung war, dass so ein Wechsel die Beziehung lebendig hielt, und auch, weil ich zu gewissen Zeitpunkten Gefallen daran gefunden hatte, selbst mal der Passivere zu sein.

 

Meto drehte sich zu mir um und sah mich fragend an. „Woran denkst du gerade?“

„An dich“, antwortete ich ehrlich. „… Sag mal, würdest du … eigentlich auch mal gerne der aktive Part sein?“

„War ich doch schon mal“, sagte er und lächelte. „Weißt du das schon nicht mehr?“

„Doch“, antwortete ich. Natürlich wusste ich das noch. „Ich dachte nur, wenn du mal richtig willst … dann kannst du das ruhig sagen und wir machen das.“

Er sah mich nachdenklich an, dann beugte er sich vor, überbrückte die kurze Distanz zwischen uns und drückte seine Lippen auf meine. „Ich sag’s dir dann, okay?“

 

Ich nickte und warf dann einen Blick auf die Uhr: Es war halb vier, und ich hatte keine Lust auf noch einen Film. Draußen regnete es immer noch und es sah auch nicht danach aus, als würde es in nächster Zeit aufhören.

„Was machen wir jetzt noch bis heute Abend?“, fragte ich.

Meto hob die Schultern. „Weiß nicht. Na ja, ich könnte dir noch das Haus zeigen.“

Da mir auch nichts Besseres einfallen wollte, nickte ich und wir verließen Metos Zimmer. Er führte mich die Galerie entlang und öffnete eine Tür nach der anderen, erklärte kurz und ich stellte fest, dass dieses Haus eher wenige, dafür aber samt und sonders ziemlich große Zimmer hatte. Es wirkte alles sehr viel moderner als die äußere Fassade mit den Säulen und dem Marmor vermuten ließ.

 

„Das Haus hat früher meinen Großeltern gehört“, erzählte Meto, als er die Tür zu einem Gästezimmer wieder schloss. „Die leben jetzt schon lange auf Kyushu, schon seit ich klein war. Wir sind hier eingezogen, da war ich fünf.“

Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Meine Mutter war mit mir einige Male umgezogen, zum ersten Mal, als wir meinen Vater verlassen hatten (da war ich acht gewesen), und dann noch drei Mal. Weil Mamas Job, auch wegen ihrer Krankheit, nie besonders viel Geld abgeworfen hatte, waren unsere Wohnungen immer klein und sehr durchschnittlich gewesen.

Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, nicht mit meinem Freund und dessen edlen Verhältnissen mithalten zu können, doch als er, mir vielleicht meine Gedanken ansehend, mich anlächelte, verflog dieser Gedanke schnell wieder.

 

Vielleicht hatte Meto genau das vermutet, als er mir seine Herkunft verschwiegen hatte. Ich musste auf ihn wirklich labil gewirkt haben und da hatte er mir einfach nicht zugetraut, dass ich damit fertigwurde. Jetzt war ich stärker und konnte mir schon kaum mehr vorstellen, wie es gewesen war, als es mir so schlecht gegangen war.

 

Als wir wieder in Metos Zimmer waren, war erst eine Dreiviertelstunde vergangen und wir mussten uns etwas Neues überlegen, womit wir die Zeit herumbekamen.

„Kannst du zocken?“, fragte Meto und deutete auf eine ziemlich in der Ecke stehende und leicht verstaubte Spielekonsole.

Ich nickte, obwohl es wirklich schon Ewigkeiten her war, länger als drei Jahre, dass ich zuletzt wirklich gespielt hatte. „Was hast du denn für Spiele da?“

„So Fantasy-Zeug“, antwortete er und holte einen kleinen Stapel Spiele aus dem Regal. Er überließ mir die Auswahl und ich tippte wahllos auf eine der Hüllen. Er zog die Konsole aus der Ecke heraus vor den Fernseher, schloss sie an und nahm mir das Spiel ab, um den Chip herauszunehmen und in die Konsole einzustecken.

 

Entgegen meiner doch eher skeptischen Erwartung machte es überraschend viel Spaß, wieder mal an der Spielekonsole zu sitzen und handelnd in eine virtuelle Traumwelt einzutauchen. Ich spielte weder besonders ehrgeizig noch erfolgreich, aber es war trotzdem irgendwie toll und vor allem verging die Zeit wie im Flug.

Ehe wir uns versahen, war es draußen dunkel und ich so müde, dass ich beim Spielen immer mehr blöde Fehler machte.

„Wollen wir aufhören und schlafen gehen?“, fragte Meto.

„M-hm.“

 

Er stand auf, begann, alles wieder zurück zu räumen und fragte dann: „Willst du zuerst ins Bad?“

Ich bejahte, woraufhin Meto sich an einer großen Schublade unter seinem Bett zu schaffen machte. Darin erkannte ich meine neuen Visual-Sachen, sowie einige andere Dinge, die Meto mir mal gekauft hatte, die aber nicht in meine Tasche passten. Er hielt mir ein T-Shirt und Schlafshorts hin, ich nahm beides und verschwand im Bad.

Ich beeilte mich mit dem Abschminken und bettfertig machen, da ich so schnell wie möglich ins Bett wollte. Es war einfach so weich und gemütlich und ich würde mit Meto zusammen darin liegen, was für mich Grund genug war.

 

Mein Liebster hielt sich ebenfalls ran und so lagen wir wenig später zusammen in seinem Bett. Er rückte nah an mich heran, gab mir einen Kuss auf die Wange und sagte leise: „Schlaf gut, hab dich lieb, Tsuzuku.“

Ich kuschelte mich tief unter die Decke und eng an Metos warmen Körper, er legte einen Arm um mich und ich schlief, umgeben von seinem süßen Duft und seiner Wärme, bald ein.

 

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Zuerst wusste ich nicht genau, was mich geweckt hatte, doch dann spürte ich weiche, gepiercte Lippen an meinem Hals und hörte Metos leise Stimme: „Ich liebe dich, Tsu.“

Ein wenig überrascht von seiner Initiative gab ich einen leisen Laut von mir und verriet so, dass ich wach war. Meto zuckte zurück, seine Lippen verschwanden von meinem Hals.

„Ich … ich bin aufgewacht, und jetzt … kann ich nicht mehr einschlafen … und du … ich …“, stotterte er verlegen.

Ich lächelte. „Ist doch okay. Mach weiter.“

 

Aber ich schien ihn damit, dass ich aufgewacht war, aus dem Konzept gebracht zu haben. Er sah mich unsicher an, das konnte ich im Dunkel gerade so erkennen. Und so setzte ich mich halb auf, streckte meine Hand aus und berührte vorsichtig seine Wange, um sein Gesicht an meines zu bringen und ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen zu drücken.

„Wovor hast du Angst?“, fragte ich leise.

„… Wegen MiA …“, antwortete er. „Ich will ihn vergessen, weißt du, weil es weh tut, an ihn zu denken. Aber ich … hab ihn immer noch … irgendwie gern …“

Sofort kam meine Eifersucht hoch, doch ich schluckte sie mit aller Kraft herunter. Meto litt offensichtlich und hatte auch sichtlich Angst vor meiner Reaktion, da war es denkbar falsch und unsensibel, wenn ich ihm jetzt mit meiner besitzergreifenden Ader kam.

 

„Kann ich … denn was tun?“, fragte ich.

Er sah mich einen Moment lang abwägend an, oder nachdenklich, so genau konnte ich das in der Dunkelheit nicht erkennen. „Sei … einfach du“, sagte er schließlich. „Du bist so anders als er und … ich will ihn jetzt gerade einfach nur vergessen.“

„Und was genau soll ich machen?“

„Das, was du willst. Ich brauch das jetzt.“

Jetzt auf einmal doch? Irgendwie war ich nicht ganz sicher, ob er wusste, was er da sagte. Er hatte mich um Zeit gebeten, um mit MiAs Trennung fertig zu werden, doch jetzt schien er mich wieder auch auf diese Weise zu wollen. Einerseits machte mich das natürlich unheimlich glücklich, doch auf der anderen Seite zweifelte ich daran, dass Meto in diesem Moment wirklich wusste, was er wollte.

 

„Bist du sicher? Ich meine …“, begann ich, doch er unterbrach mich: „Ich hab den ganzen Tag und jetzt eben die ganze Zeit darüber nachgedacht. Und, weißt du, ich hab auch Sehnsucht nach dir, genau wie du nach mir.“ Meto sah mir fest in die Augen und ich erkannte trotz der Dunkelheit deutlich, dass es ihm ernst war. Er streckte die Hand aus, berührte mich am Hals und beugte sich vor, um seine Lippen auf meine zu legen und mich leidenschaftlich zu küssen.

„Tsuzuku, nimm mich. Oder versuch’s wenigstens. Wenn mein Körper echt nicht mitspielt, machen wir was anderes, aber versuch es.“

War er mir gegenüber je so deutlich geworden? Ich konnte mich nicht erinnern, dass er vor den letzten Malen, die wir intim geworden waren, so direkt davon gesprochen hatte.

 

Ich beobachtete, wie er sich das Schlafshirt über den Kopf zog, sich dann wieder neben mich legte und sich die Hose vom Körper streifte. Und ich sah keine Unsicherheit mehr. Er wollte das wirklich.

Langsam erhob ich mich, verließ das Bett und ging zu meiner Tasche, in deren Seitenfach sich immer noch die kleine Packung Gleitmittel und das Kondom befanden. Bei zweiterem glaubte ich zwar nicht wirklich, dass ich es brauchen würde, doch ich nahm es sicherheitshalber mit. Vielleicht war Metos Körper ja jetzt wirklich bereit dafür.

Als ich mich wieder neben ihn legte, wurde ich sofort umarmt und an seinen nackten Körper gezogen, was mich augenblicklich einstimmte und heiß machte. So schnell ich konnte, zerrte ich mir die wenige Kleidung vom Leib und schmiegte mich an ihn, genoss einen Moment seine Nähe, seine Hände auf meinem Körper und seine Lippen, die ihren Weg von meinem Hals über meine Wangen hin zu den meinen fanden und sie zu einem so liebevollen Kuss verschlossen, dass mir fast ein bisschen schwindlig wurde.

 

Ich hatte mich unterbewusst den ganzen Tag über danach gesehnt, aber nicht erwartet, dass sich diese Sehnsucht so bald erfüllen würde. Meto ließ mir jedoch keine Zeit, irgendwelchen Gedanken darüber nachzuhängen, sondern drückte sich fester an mich und ließ seine Hände über meinen nackten Körper wandern. Schon lösten sich erste Seufzer von seinen Lippen und allein der Klang seiner leicht erregten Stimme machte, dass meine Atmung sich beschleunigte.

 

„Fass mich an“, flüsterte er in mein Ohr.

Eine Aufforderung, der ich nur zu gern nachkam. Ihn weiter küssend, ließ ich meine Hand zwischen unseren Körpern herunterwandern und berührte schließlich seine sich langsam härtende Erregung.

Er seufzte in den Kuss und löste sich dann ein Stück weit von mir, damit ich besser an ihn herankam.

Zuerst noch vorsichtig, aber dann, als ich seine Hand ebenfalls an meiner Körpermitte spürte, immer fordernder, massierte ich seine Männlichkeit, fuhr mit dem Daumen zärtlich über die empfindliche Spitze und lauschte seinem immer lauter werdenden Seufzen, während sich meine eigene Atmung dadurch, dass Meto dasselbe mit mir machte, ebenfalls in Seufzen und Stöhnen verwandelte.

 

Oh Gott, war das gut! Ich hatte das Gefühl, den besten Sex meines Lebens zu haben, besser als all meine Affären früher und überhaupt. So, wie ich auch glaubte, nie zuvor jemanden so geliebt zu haben wie Meto. Das mit ihm und mir, das war so unbeschreiblich schön!

 

Schon spürte ich, dass ich dem Höhepunkt immer näher kam, da die Hand meines Liebsten meine Härte ebenso fordernd massierte wie ich seine. Es machte mich unheimlich an, dass er jetzt so viel Initiative zeigte, doch so schnell wollte ich noch nicht kommen.

„Warte … mal!“, keuchte ich und ließ ihn los, was bewirkte, dass er seine Hand von mir wegnahm und mich überrascht ansah.

„Was ist?“

„Wenn ich gleich komme, ist erst mal Ende für heute Nacht“, erklärte ich mein plötzliches Stoppen und drehte mich auf den Rücken. „Wenn du also willst, dass ich es noch mal mit dem Eindringen versuche, dann gib mir ‘nen Moment, okay?“

„Okay.“ Er nickte, blieb so liegen, auf der Seite, schob aber die störende Bettdecke weg.

Ich brauchte einen Moment, bis ich mich wieder ein wenig runtergekühlt hatte und als ich soweit war, wandte ich mich ihm wieder zu und rückte so weit runter, dass ich mit den Lippen an seinen Körper herankam.

 

Ich verteilte kleine Küsse auf seiner Brust, ließ meine Lippen zärtlich über das große Tattoo wandern und küsste schließlich seine süßen, weichen Nippel, während ich meine Hand langsam seinen Rücken hinab in Richtung seines Hinterns wandern ließ. Mein vorsichtiges Saugen an der zarten, so irgendwie besonderen Haut seiner Brustwarzen ließ Metos Atmung schnell und ruckartig werden, ich spürte, wie sich sein Brustkorb unter meinen Lippen hastig hob und senkte.

 

„Du magst das sehr, oder?“, fragte ich.

„M-hm“ kam es zurück, es folgte ein schon recht lautes Stöhnen, als ich begann, vorsichtig an seinen Nippeln zu knabbern und schließlich mit meiner Zunge darüber leckte.

Ich spürte seine Reaktion, wie seine Erregung gegen meinen Unterleib drückte. Und ich liebte seine samtige, süße Haut, seinen ganzen Körper, seinen Herzschlag, sein Stöhnen.

 

Langsam schob ich meine Finger zwischen seine Pobacken und ertastete seinen Eingang. Zuerst schien alles gut, doch als ich vorsichtig dagegen drückte, verspannte Metos ganzer Körper wieder.

„Hör … nicht auf!“, hörte ich ihn stöhnen.

„Ich will dir nicht wehtun.“

„Mach weiter, ich will das!“

Mit klopfendem Herzen griff ich nach dem Gleitmittel, riss die Packung auf und begann, das glitschige Zeug um seinen Eingang zu verteilen. Meto atmete aufgeregt und hektisch, als ich wieder mit der Fingerkuppe gegen den Muskelring drückte, und als ich fragte: „Bereit?“, da nickte er nur, sagte nichts.

„Bist du so weit?“, fragte ich noch einmal, um ganz sicher zu sein.

„Ja“, antwortete er, „Jetzt mach!“

 

Zuerst wollte ich noch vorsichtig sein, doch erregt wie ich war und mit dem Gedanken, dass er in unserer ersten Nacht leichte Schmerzen gemocht hatte, stieß ich etwas härter mit dem Finger gegen seinen Eingang und drang ein kleines Stück weit in ihn vor. Doch weit kam ich nicht, da verkrampfte er wieder und stieß mich aus.

„Entspann dich“, flüsterte ich mit verführerisch rauer Stimme und küsste die erstbeste Hautpartie, an die ich herankam: Seine Nippel. Meto gab ein flaches Stöhnen von sich und drückte sich an mich, ich nutzte diesen kurzen Moment und drängte meinen Finger wieder in ihn, ertastete zum ersten Mal sein Inneres und spürte seinen aufgeregten Herzschlag. Solange meine Lippen sich mit seinen Brustwarzen befassten, blieb er relativ entspannt und sein Körper ließ mich einen Moment bleiben, doch als ich sie von der erregt gefestigten Haut löste, verspannte er gleich wieder.

 

Die Muskeln um seinen Eingang herum kamen mir auch ungewöhnlich fest vor, als ließen sie sich kaum von außen dehnen und das schien auch der Fall zu sein, denn als ich versuchte, einen zweiten Finger dazu zu nehmen, musste ich feststellen, dass das in diesem Zustand praktisch unmöglich war. Und solange ich nicht wusste, was überhaupt der Grund war, wusste ich auch nicht, wie ich das ändern sollte.

„Meto, hast du … irgendwann mal … was erlebt oder so, was der Grund sein könnte, dass es jetzt so schwer geht?“, fragte ich, leise und vorsichtig.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht …“

„Und uneigentlich?“

„Auch nicht, ich … ich weiß wirklich nicht.“ Er drückte sich wieder an mich und stöhnte: „Mach … weiter, … hör nicht auf!“

 

Geil wie ich war, konnte ich auch gar nicht mehr wirklich aufhören. Jetzt, wo ich einmal sein Inneres gespürt hatte, wollte ich mehr. Und er schien sich wirklich sicher zu sein, das auch zu wollen. Also machte ich weiter, küsste seine Nippel und drängte gleichzeitig meinen Finger in ihn. Er stöhnte laut, schrie schon beinahe, und seine Hände wanderten fahrig über meinen Körper, reizten zuerst meine gepiercten Brustwarzen und krallten dann in meinen Rücken, was mich ebenfalls tief aufstöhnen ließ.

 

Noch immer auf der Seite liegend, schob er sein oberes Bein über meine Hüfte, sodass ich noch ein wenig tiefer in ihn konnte und einen weiteren, erfolgreicheren Versuch machte, ihn mit zwei Fingern ein wenig zu dehnen. Er schrie auf, ob vor Schmerz oder vor Lust, konnte ich nicht sagen. Eine Mischung aus beidem. Dadurch vergaß ich jede Hemmung, drängte immer tiefer und fester in ihn und berührte dabei mehr zufällig jenen süßen Punkt in ihm, der ihn wieder schreien ließ, diesmal deutlich lustvoll.

Ich spürte, dass der eben noch so feste Muskelring sich langsam aber sicher erweichte und sich leichter dehnen ließ, nutzte das und machte weiter, immer weiter, was meinen Liebsten hemmungslos stöhnen ließ.

 

Ouh, ich wollte ihn, mehr als je zuvor! Vergaß, dass ich mich eigentlich damit abgefunden hatte, nicht in ihn eindringen zu können, und dass ich vorsichtig mit ihm hatte umgehen wollen. Ich wollte, dass er sich unter mir wand vor Lust, wollte sein Inneres erobern und seine Stimme meinen Namen schreien hören. Dieses Machtgefühl spüren, das mich so wahnsinnig anmachte.

Nur schwer löste ich meinen Finger aus ihm, schob sein Bein weg, richtete mich mit einem Ruck auf und drehte meinen durch diese plötzliche Bewegung überraschten Freund auf den Bauch. Meine Hand tastete über das Bett, bis ich Gleitmittel und Kondom fand, was Meto trotz der Dunkelheit sah und beobachtete, wie ich Zweiteres öffnete und mir überstreifte.

 

„Tsuzuku?“, fragte er. „Was … wird das?“

Ich wusste meine Absicht, meine mich in diesem Moment überwältigenden Gefühle, ihm gegenüber nicht in Worte zu fassen. Um ihm trotzdem deutlich zu verstehen zu geben, was ich wollte, ließ ich mich auf ihn sinken und begann, meine Härte an seiner Kehrseite zu reiben.

Er verstand, natürlich, und einen Moment lang spürte ich seine Angst. Doch auch die konnte mich nicht mehr aufhalten. Das konnte ich selbst nicht mehr.

 

„Sei … bitte lieb zu mir“, war das Letzte, was er sagte, bevor ich seine Beine auseinander drängte, ihn noch einmal kurz vorbereitete und dann, an seine Worte denkend mich mühsam kontrollierend, langsam in ihn eindrang. Sein ganzer Körper erzitterte und er schrie laut auf, drückte sich in die weiche Matratze. Ich legte die Hände auf seine Schulterblätter, was mir ein Gefühl der Kontrolle über ihn gab, und hielt mein Becken erst einmal einen Moment still.

 

Als ich dann das Gefühl hatte, er habe sich daran gewöhnt, zog ich mich ein Stück zurück und stieß dann zum ersten Mal in seine heiße Enge. Es war so absolut überwältigend, dass ich einen Moment lang das Gefühl für oben und unten verlor und einen seltsamen Schwindel im Kopf spürte, der sich jedoch schnell verzog und dem besten, schönsten, geilsten Gefühl der Welt Platz machte.

Sofort stieß ich ein zweites Mal zu, was sich fast noch besser anfühlte, und spürte schon die ersten heißen Blitze, das Zeichen, dass das hier zwar sehr schön, aber nicht sehr lange werden würde.

Ich genoss jede Sekunde in vollen Zügen, fühlte Metos heißes Inneres, spürte die Macht, die ich in diesem Moment über ihn hatte, und hörte, wie er atemlos meinen Namen stöhnte.

 

Er war wirklich eng, und es trotz des Gleitmittels schwierig, doch das störte mich nicht im Geringsten. Alles in mir dachte nur daran, dass ich mir gerade einen meiner sehnlichsten Wünsche erfüllte und dass es einfach zum Schreien schön war. Und so schrie ich meine Lust heraus, ließ mich vollkommen gehen und stieß immer wieder in den geliebten Körper, der sich willig unter mir wand.

Ich spürte, dass es für Meto keine Rolle mehr spielte, ob es wehtat. Er wollte es genauso sehr wie ich und ihm war auch genauso egal wie mir, was morgen sein würde. Alles, was zählte, war dieser Moment, dass ich in ihm war und endlich wirklich mit ihm schlief.

 

Weiße Blitzlichter, wie Sterne, zuckten vor meinen Augen im Dunkel, ich stieß noch einmal fest in ihn und ergoss mich heftig in seiner heißen Tiefe.

Und als ich mich aus ihm zurückzog und mich auf ihn sinken ließ, spürte ich, wie sein Körper ebenfalls heftig erbebte.

 

Unsere Herzen hämmerten im selben Takt das Blut durch unsere heißen Körper, ich spürte Metos verschwitzte Haut unter meinen Lippen und kam langsam wieder zu klarem Bewusstsein.

„Tut’s sehr weh?“, fragte ich, als sich mein Verstand wieder soweit gesammelt hatte, dass ich mir darum Gedanken machen konnte.

Meto schüttelte den Kopf.

Ich erhob mich langsam und ließ mich dann wieder neben ihn auf die weiche Matratze fallen. „Und war’s auch schön für dich?“

„M-hm“

Anscheinend war er gerade zum Sprechen nicht in der Lage. Ich drehte ihn auf die Seite und zog ihn in meine Arme. Eine Weile blieben wir einfach so liegen.

„Tsu?“, fragte er dann leise.

„Hm?“

„Ich liebe dich.“

„Ich dich auch“, antwortete ich. „Sehr sogar.“

„Weiß ich doch.“

 

Einen Moment lang bereute ich fast, mich so völlig gehen lassen zu haben und brachte ein leises „Tut mir leid …“ heraus, doch Meto legte seine Lippen auf meine und flüsterte dann: „Ich wollte das. Es ist okay.“

Er war so süß, so lieb, und dass er mir den Schmerz, den ich ihm ganz sicher zugefügt hatte, verzieh, rührte mich, aufgewühlt wie ich war, beinahe zu Tränen. Aber nur beinahe, denn zum Weinen war ich viel zu glücklich.  

 

Tsuzuku war bald eingeschlafen, doch ich lag noch eine ganze Weile wach. Mein Hintern tat ziemlich weh und ich spürte leichte Kratzer auf meinen Schulterblättern, dort wo Tsu mich in die Matratze gedrückt hatte. Die Heftigkeit, mit der er mich genommen hatte, hatte mich, obwohl ich seine Leidenschaft kannte, überrascht und zuerst doch ein wenig erschreckt. Doch letztendlich hatte ich es genauso gewollt wie er und es war trotz der Schmerzen schön gewesen. Mein erstes Mal, mit dem Mann, der mich über alles liebte.

 

Ohne die Bettdecke wurde mir langsam kalt und so stand ich, sehr vorsichtig, auf und hob sie vom Boden auf. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich mich gerade wirklich kaum ohne Schmerzen bewegen konnte. Und dass ich mal ins Bad musste. Vorher breitete ich die Bettdecke über seinen nackten, schlafenden Körper, beugte mich über ihn und hauchte ihm einen sanften Kuss aufs Haar.

 

Ich zog mir meine Schlafshorts an, um nicht ganz nackt auf den Flur hinaus zu müssen, und wagte mich dann in mein Badezimmer.

Als ich von dort wieder kam, legte ich mich sofort wieder ins Bett und bemerkte erst jetzt wirklich, wie praktisch es war, dass ich mir damals ein Doppelbett ausgesucht hatte. Dabei fand ich das Kondom und die offene Packung Gleitgel, stand vorsichtig wieder auf und warf beides in den Mülleimer, um mich dann gleich wieder ins Bett zu legen.

Ich kuschelte mich eng an Tsuzukus warmen, schmalen Körper, legte den Kopf auf seine Brust und lauschte seinem ruhigen, kräftigen Herzschlag, bis ich schließlich eingeschlafen war.

 

 

„Meto?“

„Hmm?“

„Wach auf. Es ist Mittag.“

Ich öffnete die Augen und hob den Kopf, wurde dadurch langsam wach und das erste, was ich richtig spürte, war ein schmerzhaftes Unbehagen in meinem Hintern und leichter Schmerz an meinen Brustwarzen. Dadurch fiel mir wieder ein, was in der Nacht gewesen war und ich ließ den Kopf seufzend wieder sinken.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte Tsuzuku und sah mich liebevoll an. Er kniete, schon komplett angezogen, vor meinem Bett, sodass wir auf Augenhöhe waren.

„Ja“, antwortete ich, denn geschlafen hatte ich wirklich gut. Und abgesehen davon, dass ich die Folgen meines Ersten Males spürte, ging es mir auch prima.

 

Tsuzuku stand auf, beugte sich über mich und drückte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen. „Ich auch.“ Und dann: „Tut’s noch weh?“ Ich sah Sorge in seinen Augen, auch einen Anflug von Reue.

„Ein bisschen. Aber das macht mir nichts aus“, antwortete ich und lächelte.

„Wirklich nicht?“, fragte er und sah mich ernst an. „Du kannst das ruhig sagen. Ich weiß, dass ich nicht unbedingt lieb zu dir war.“

„Klar tut es weh“, sagte ich ehrlich. „Aber, weißt du, das macht mir wirklich nicht viel aus. Du bist eben so und ich liebe dich dafür. Mir ist es sehr viel lieber, von dir hart genommen zu werden, als dich weinen oder dich selbst verletzen zu sehen.“

„So siehst du das?“, fragte er ungläubig.

„Ja, so seh ich das. Denn seit wir so zusammen sind, sehe ich, dass es dir besser geht.“

Tsuzuku lächelte, dieses unglaublich süße Lächeln, und küsste mich wieder. „Meto, du bist so süß.“

 

„Ich geh dir trotzdem mal ‘ne Schmerztablette holen“, sagte er dann. „Wo habt ihr die?“

„Unten im Badezimmer“, antwortete ich. „Das ist die erste Tür links neben der Küche.“

Während ich dann darauf wartete, dass Tsuzuku mit besagter Schmerztablette wieder kam, blieb ich erst einmal liegen. Langsam kam die Erinnerung an die Nacht zurück und mir fiel wieder ein, dass ich ja im Grunde den Anfang gemacht hatte. Beim Gedanken daran spürte ich, dass mir das Blut in den Kopf stieg und ich sah unsicher zu Ruana, die auf ihrem Platz neben meinem Bett saß und das alles sicherlich mitbekommen hatte.

 

Wie kam es eigentlich, dass man sich, sobald es um Sex ging, so anders verhielt? Dass Tsuzuku, der sonst immer so lieb und vorsichtig mit mir umging, im Bett eine ganz andere Seite von sich zeigte? Nicht, dass mir das nicht gefiel (es gefiel mir sogar sehr), doch es verwunderte mich, wenn ich so näher darüber nachdachte, doch ein wenig.

Nachts war er heiß, leidenschaftlich, stand auf ein, wie er sagte, Machtgefühl, machte sich kaum noch Gedanken und zeigte nicht die geringste Scham, während er sich am Morgen danach in den liebevollen, vorsichtigen Tsuzuku zurückverwandelte, als den ich ihn kannte.

 

Es dauerte ziemlich lange, bis er zurückkam und als er langsam die Tür öffnete, sah ich auch, warum er so lange gebraucht hatte: Er hielt ein Tablett in den Händen, mit Brötchen, Kaffee und allem, was zu einem Frühstück im Bett dazugehörte.

„Wow“, entkam es mir.

„Ich dachte, damit du noch nicht aufstehen musst …“, sagte er.

Ich sah ihn mit einer Mischung aus Frage und Dankbarkeit an und er fügte hinzu: „Ich mach’s wieder gut.“

„Musst du nicht“, sagte ich leise.

„Will ich aber.“ Er stellte das Tablett vorsichtig auf meinem Bett ab und hielt mir dann ein Glas Wasser hin, in welchem sich die Reste einer fast aufgelösten Tablette befanden. Ich nahm es entgegen und trank es, obwohl es etwas bitter schmeckte, ganz aus.

 

Tsuzuku kroch zu mir unter die Decke und nahm sich einen der beiden Kaffeebecher. Das sah so selbstverständlich aus, als wäre er vollkommen gesund. Er bemerkte meinen Blick und lächelte. Mir erschien es so, als würde er immer stärker und glücklicher, je mehr wir zusammen waren.

Ich nahm eins der Brötchen, schnitt es auf, riss von der oberen Hälfte ein Stück ab und hielt es meinem Freund vor die Nase. „Mach nom nom!“

Er grinste und schnappte danach, ich lachte und zog es wieder weg, ein kleines Spiel, das er gewann und mir dann mit leuchtenden Augen einen kurzen Kuss stahl.

 

Ich musste mich, um an das Tablett heranzukommen und mir ein Brötchen zu schmieren, ganz aufsetzen, doch das tat ziemlich weh.

„Warte, lass mich das machen.“ Und schon hatte er mir das Brötchen und die Butter aus der Hand genommen.

„Musst du nicht, das geht schon“, log ich und versuchte, den Schmerz zu ignorieren. Irgendwie war es mir unangenehm, dass Tsuzuku mich so umsorgte. Vielleicht, weil es noch vor gar nicht langer Zeit andersherum gewesen war. Seit ich ihn kannte, hatte immer ich mich um ihn gekümmert, mir Sorgen gemacht und ihn gefüttert. Es fühlte sich einfach irgendwie komisch an, dass jetzt er mir Essen ans Bett brachte, mein Brötchen schmierte und so tat, als sei ich schwer verletzt.

Er ignorierte meinen Widerspruch, fragte stattdessen, was ich denn außer Butter noch auf dem Brötchen haben wollte. Ich zuckte nur mit den Schultern und so nahm er einfach Marmelade.

 

Ich achtete genau auf den Ausdruck in seinen Augen. Immer, wenn es um Essen ging, rechnete ich mit diesem traurigen, selbstverachtenden Blick, doch der war wirklich kaum noch zu sehen. Irgendwas musste passiert sein, etwas, das mit dem Grund für seine ganze Traurigkeit zusammenhing. Ich kannte ja den Grund, trotzdem verstand ich es nicht so ganz. Zuerst traute ich mich nicht zu fragen, doch dann nahm ich meinen Mut zusammen und fragte:

„Sag mal, das liegt doch nicht nur an mir, dass es dir jetzt so gut geht, oder?“

Er zuckte ein wenig zusammen und sah mich an. „Was meinst du?“

„Na ja … Bis vor ein paar Tagen hast du immer, wenn’s ums Essen ging, diesen Blick in den Augen gehabt, als würdest du das Essen und dich selbst hassen. Der ist jetzt fast weg und … mich interessiert, wieso.“

„Doch“, sagte er, „Das liegt an dir. … Jedenfalls unter anderem.“

„Und was ist der andere Grund?“

 

Tsuzuku legte das, was er gerade in der Hand hatte, auf dem Tablett ab und blickte auf seine Hände, während er sprach: „Ein Teil von meinen Schuldgefühlen ist weg.“

Schuldgefühle? Was für Schuldgefühle? Dieses Wort hörte ich so von ihm zum ersten Mal. Ich sah ihn fragend an.

 

„Wegen … meiner Mutter. Ich hab … mir die Schuld an ihrem Tod gegeben. Wir hatten Streit und dabei ist … es passiert.“ Ganz kurz schimmerten Tränen in seinen Augen, doch ebenso schnell waren sie weggeblinzelt. „Aber jetzt … fühlt es sich wirklich so an, als könnte ich mir das doch irgendwie verzeihen. Ich kann mich wieder selbst annehmen, kann wieder essen und denke kaum noch daran, mich zu verletzen.“

 

„Aber … warum hast du mir nie was davon gesagt?“, fragte ich.

„Ich wollte nicht, dass du das weißt, verstehst du? Sonst hättest du dir doch nur noch mehr Sorgen um mich gemacht. Und … ich hab mich so gehasst …“

„Jetzt nicht mehr?“

„Jetzt ist alles irgendwie … Es fühlt sich weiter weg an. Ich hatte, vor ein paar Tagen, so eine Art … Gespräch … mit meiner Mutter.“

Ich sah ihn fragend an.

„Hört sich verrückt an, oder? Mit ‘ner Toten reden … Aber … ich hab sie irgendwie gespürt, weißt du? Sie hat gesagt, dass es ihr da, wo sie jetzt ist, gut geht und … dass sie will, dass ich glücklich werde. Seitdem … komme ich irgendwie besser damit klar.“

 

Wieder sah ich, dass Tsuzuku Tränen in den Augen hatte und wieder, wie er sie wegblinzelte. Vorsichtig richtete ich mich noch etwas weiter auf und nahm ihn in meine Arme.

„Du wirst glücklich“, sagte ich und dachte an das, was er über seine Träume von unserer Zukunft gesagt hatte. „Weil ich nämlich immer bei dir sein werde. Ich pass auf, dass du nicht wieder so unglücklich wirst.“

Er sah mich an, schaute mir fest in die Augen. „Meinst du das ernst, Meto? Würdest du mit mir zusammenleben?“

 

Ich versuchte, mir das vorzustellen: Tsuzuku und ich, zusammen in einer Wohnung, vielleicht in einer anderen Stadt, ein neues Leben als Paar. Eine schöne Vorstellung, auch wenn ich so die Ahnung hatte, dass es nicht immer einfach sein würde. Aber ich liebte ihn und wenn ich daran dachte, jeden Morgen neben ihm aufzuwachen, dann war ich sofort ganz sicher, dass ich das wollte.

„Ja“, sagte ich. „Ich mein das ernst.“

Er hob den Kopf ein wenig, küsste meine Wange und flüsterte: „Du machst mich so glücklich, Meto.“

Und ich lächelte, froh darüber, ihn zu haben und ihn glücklich machen zu können.

 

Wir frühstückten noch zu Ende (wobei Tsu jedoch nicht mehr viel aß), dann versuchte ich, aufzustehen. Ich hatte ja gewusst, dass es auch nach dem Ersten Mal ganz schön wehtun konnte, doch irgendwie kam es mir so vor, als sei es bei mir schlimmer. Ich wusste nicht, was da mit mir nicht stimmte, nur, dass ich mich irgendwie verkrampft hatte.

„Willst du duschen gehen?“, fragte Tsuzuku.

Ich nickte, hob mein Schlafshirt und meine Shorts auf und zog beides ein wenig umständlich an. Nicht nur mein Hintern tat weh, auch in meinem Rücken spürte ich ein schmerzhaftes Ziehen. Obwohl die Schmerztablette langsam zu wirken begann, hoffte ich, dass das warme Wasser unter der Dusche die Unannehmlichkeiten ein bisschen lindern würde.

„Soll ich dir helfen?“, fragte mein Freund und sah mich dabei so lieb und hilfsbereit an, dass ich automatisch „Ja“ sagte.

 

Als wir rüber in mein Badezimmer gingen, hörte ich meine Eltern unten in der Küche reden. Anscheinend war Papa ausnahmsweise mal über Mittag da.

Und da fiel mir auf einmal etwas ein, das mich auf der Stelle erröten und stehen bleiben ließ.

Oh Gott! Was, wenn Mama und Papa mich und Tsuzuku letzte Nacht gehört hatten? Ich erinnerte mich an meine eigenen Schreie und an die meines Freundes, an unsere Hemmungslosigkeit, in der keiner von uns beiden daran gedacht hatte, dass wir nicht alleine im Haus waren.

Und Papa kannte Tsu nicht mal!

 

„Tsuzuku?“, fragte ich und packte ihn am Ärmel. „Als du vorhin das Frühstück geholt hast … war da auch mein Vater da?“

Er drehte sich zu mir um. „Ja, wieso?“

„Er kennt dich ja noch gar nicht …“

„Deine Mama hat mich ihm vorgestellt.“

Entweder verstand er nicht, worauf ich hinauswollte, oder meine Eltern hatten wirklich nichts gemerkt oder sich zumindest nichts anmerken lassen.

„Und haben die beiden … irgendwas gesagt, oder dich komisch angeschaut?“, fragte ich, nun etwas präziser.

 

Und Tsu verstand endlich. Allerdings reagierte er ziemlich schamlos: Er lachte.

„Du meinst, ob sie uns letzte Nacht gehört haben? Nein, also gesagt haben sie nichts. Würde dich das denn stören?“, fragte er dann.

„Hm…“, machte ich, wusste nicht, was ich sagen sollte. Irgendwie war mir der Gedanke, dass meine Eltern mich und meinem Freund bei unserem Ersten Mal gehört haben könnten, nicht recht und doch ziemlich peinlich.

„Hey, es ist nur Sex, was ganz natürliches, und du bist erwachsen!“ Tsuzuku grinste und nahm meine Hand. „Es ist okay, dass dir das peinlich ist, muss es aber nicht sein.“

Ich versuchte, den Gedanken daran, dass meine Eltern etwas von dem in der Nacht mitbekommen haben könnten, zu verdrängen, betrat hinter Tsu mein Badezimmer und zog mich langsam aus.

 

„Sollen wir zusammen duschen?“, fragte er. Ich hörte keinen zweideutigen Ton in seiner Stimme, kein solches Verlangen.

„Du willst das echt wieder gut machen, oder?“, bemerkte ich. „Bereust du’s?“

„Die Schmerzen, die ich dir zugefügt habe. Alles andere nicht.“ Tsuzuku lächelte und jetzt sah ich doch einen Funken Lust in seinen dunklen Augen. Er zog sich aus und wir stiegen zusammen in die Dusche, wo er gleich das Wasser einstellte, welches sofort schön warm auf uns herunterregnete.

 

Ich schlang meine Arme um seinen nackten, schmalen Körper, schmiegte mich an ihn und legte meine Lippen auf seine. Er erwiderte den Kuss, ganz sanft, und streichelte mit beiden Händen über meinen Rücken.

Schließlich löste er sich vorsichtig von mir, stellte das Wasser aus, nahm eine meiner auf dem Sideboard stehenden Duschgel-Flaschen und begann, etwas von deren Inhalt zu Schaum zu reiben und auf meinem Körper zu verteilen. Mir lief ein leichter, angenehmer Schauer über den Rücken und ich seufzte leise. Die Art, wie Tsuzuku mich berührte, tat unheimlich gut und ließ mich die Schmerzen, die sowieso inzwischen von der Tablette gelindert wurden, vergessen. Erst recht, als er seine Hand von meinem Rücken nach vorn wandern ließ und meine Körpermitte berührte, um mich dort zu waschen.

 

Ich wurde ein wenig rot und blickte zur Seite, was er bemerkte und leise sagte: „Das macht dich so süß, dass du so rot wirst.“

„Findest du?“

„Ja. Ich finde das sehr, sehr süß“, sprach er und stellte das Wasser wieder an, um mir den Schaum abzuwaschen. Als ich dann wieder ganz sauber war (und mich auch so fühlte), drückte er mir die Duschgel-Flasche in die Hand.

„Jetzt du.“

Ich wurde wieder rot. Bei Licht war es mir immer noch etwas unangenehm, meinen Freund so am ganzen Körper anzufassen. Er lächelte mich an, legte die Hände auf meine Schultern und küsste mich. „Du bist so süß, Meto.“

 

Ich spürte, dass er innerlich schwebte vor Verliebtheit, und ich fühlte mich bei ihm so gut aufgehoben und geliebt, dass ich meine Scheu vergaß und begann, bei ihm dasselbe zu tun wie er zuvor bei mir. Ließ meine Hände über seinen schmalen Körper wandern und spürte und sah wieder, wie furchtbar dünn er war. Doch trotzdem wirkte er irgendwie stärker als früher und fast kam es mir so vor, als hätte er in der letzten Zeit sogar ein bisschen zugenommen.

 

Tsuzuku seufzte angetan und ich sah ein Lächeln über seine Lippen huschen.

„Magst du das?“, fragte ich.

„Mmhhh…“ Er schloss die Augen und zog mich an sich. Mein Herz begann wild zu klopfen und ich spürte wieder leichte Schauer auf der Haut.

„Wenn du mich so festhältst, kann ich aber nicht weitermachen“, sagte ich und lächelte, woraufhin er mich losließ und ich fortfuhr, ihn in Schaum zu kleiden.

Das dunkle Blau seiner Tätowierungen schimmerte durch die weißen Seifenblasen und ich fand diese Bilder auf der Haut meines Freundes in diesem Moment so wunderschön und so perfekt zu ihm passend. Zärtlich strich ich mit den Fingerspitzen über das Implantat, spürte die feste Beschaffenheit und die besondere Ausstrahlung, die so etwas an sich hatte. 

 

Ihm schien das zu gefallen und so machte ich weiter, widmete mich seinen gepiercten Brustwarzen, die ich sehr vorsichtig berührte, wissend, dass ihn das ziemlich heiß machen konnte. Er sog scharf die Luft ein, stieß sie langsam wieder aus und keuchte leise: „Lass das …“

„Ist das so gut?“, fragte ich.

„Viel zu gut“, antwortete er und ging kurz ein bisschen auf Abstand.

„Okay.“ Ich ließ meine Hände weiter nach oben wandern, über seine Schultern bis zu seinem Hals. Spürte seinen Pulsschlag unter meinen Fingern und ein leichtes Zittern in seinem Innern. Ich fühlte mich ihm in diesem Moment so nah, war so glücklich ihn zu haben und hätte ihn am liebsten geküsst. Doch stattdessen stellte ich das Wasser wieder an und wusch ihm den Schaum ab.

 

Nachdem ich ihm dann, und anschließend er mir, die Haare gewaschen hatte, wickelten wir uns in große, flauschige Handtücher und gingen in mein Zimmer zurück. Tsuzuku wollte sich Klamotten aus seiner Tasche zusammensuchen, doch ich deutete auf die Schublade unter meinem Bett.

„Zieh doch mal was davon an.“ Ich zog die Schublade hervor und nahm eine helle Jeans und ein schwarzes, langärmliges T-Shirt heraus.

„Meinst du?“

Ich nickte. „Ich würde nachher gern mit dir in die Stadt gehen, zu den anderen.“

„Die fragen sich bestimmt schon, wo ich stecke“, sagte er.

 

Auf einmal schien ihm etwas einzufallen, er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und lachte auf.

„Was ist?“, fragte ich verwirrt.

„Verdammt, das hätte ich fast vergessen! Heute ist der Tag, an dem ich in die Unterkunft vom Tempel ziehen soll!“

„Das ist heute?!“

„Heute oder Morgen. Aber heute wäre besser.“

„Dann wäre es doch gut, wenn du schön aussiehst, oder?“, fragte ich, doch Tsuzuku hörte mir kaum zu. Er blickte geistesabwesend aus dem Fenster und sagte leise: „Nach anderthalb Jahren … heute also von der Straße weg …“

„Du hast es fast geschafft“, erwiderte ich und lächelte.

„Dann gehen wir heute nochmal in den Park, ich verabschiede mich von der Brücke und du begleitest mich zum Tempel.“ Er sah richtig euphorisch aus, hatte dieses hübsche Leuchten in den Augen.

 

Wir zogen uns an, gingen zusammen ins Bad zum Haare stylen und Schminken, und dann runter in die Küche, wo meine Eltern saßen und irgendwas berufliches diskutierten. Ich sah erst Mama, dann Papa etwas unsicher an, doch sie ließen sich, sofern sie etwas von letzter Nacht mitbekommen hatten, nichts anmerken, und so hoffte ich einfach mal, dass sie nichts gehört hatten.

„Geht ihr heute raus?“, fragte Mama und sah aus dem Fenster. „Es ist so schönes Wetter.“

Ich schaute ebenfalls nach draußen, wo alles nach einem sonnigen Herbsttag aussah, und nickte.

„Ich ziehe heute in den Hikuyama-Tempel“, sagte Tsu.

„Die haben da so ein Hilfsprojekt, nicht wahr?“, fragte Mama.

„Ja. Ich will wirklich weg von der Straße.“

„Dann wünschen wir dir viel Glück!“ Mama lächelte meinen Freund an und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass er jetzt irgendwie zu meiner Familie gehörte.

 

Kurz musste ich an MiA denken, verdrängte diesen Gedanken jedoch schnell wieder, indem ich hastig blinzelte und Tsuzuku ansah, der immer noch dieses hübsche Leuchten in den Augen hatte. Ich wusste jetzt, wen ich liebte, doch die Erinnerung an das, was ich davor für MiA empfunden hatte, war noch recht präsent und tat weh.

Mit aller Kraft dachte ich an die vergangene Nacht, versuchte, mich wieder ganz auf Tsuzuku zu konzentrieren, was allerdings zur Folge hatte, dass ich knallrot wurde.

 

„Meto? Alles okay?“ Tsu sah mich fragend an.

„Hm, ja … ja, alles gut“, brachte ich mit zitternder Stimme heraus.

„Woran denkst du denn gerade?“

Unter den Blicken meiner Eltern konnte ich unmöglich zugeben, dass ich an die vergangene Nacht gedacht hatte. Aber Tsu würde mir ein „Ach, gar nichts“ sicher nicht abnehmen. Und so wandte ich mich ihm ganz zu, legte meine Arme um seinen Hals und drückte schnell meine Lippen auf seine, flüsterte dann so, dass nur er es hören konnte: „Ich … hab an letzte Nacht denken müssen …“

Seine Antwort war ein süßes, breites Grinsen.

 

„Na dann, habt ihr zwei einen schönen Tag“, riss uns Mama aus unserer ‚Verliebten-Seifenblase‘. Ich drehte mich zu ihr und Papa um, der uns aufmerksam ansah, jedoch nichts dazu sagte.

Wir gingen noch mal rauf in mein Zimmer, Tsuzuku nahm seine Tasche und ich meinen Rucksack, dann gingen wir aus dem Haus und in Richtung Akutagawa-Park.

 

„Heey, ihr!“, rief Hanako, als sie uns sah. „Wo wart ihr denn?“

„Ich hab bei Meto übernachtet“, antwortete Tsuzuku und nahm meine Hand.

Hanako schaute hin, sah dann erst ihm, dann mir ins Gesicht und fragte: „Seid ihr jetzt so was wie ein Paar?“

Ich nickte. „Ja…“

„Und was ist mit MiA?“, fragte Hana weiter. „Ich dachte, du wärst mit ihm zusammen.“

„Das… ist vorbei…“, sagte ich leise, es tat immer noch ein bisschen weh. Ich wusste, so ganz weggesteckt hatte ich die ganze Sache noch nicht. Aber dass es definitiv vorbei war, weil ich jetzt richtig mit Tsuzuku zusammen war, machte es irgendwie ein wenig leichter.

 

Haruna kam dazu, küsste Hanako und fragte dann ebenfalls, wo Tsuzuku und ich gestern gewesen waren. Hana wiederholte das, was wir gesagt hatten und Haruna sah sich aus irgendeinem Grund genötigt, mich zu umarmen.

„Alles okay?“, fragte sie.

„Ja…“, antwortete ich, „…geht schon.“

„Koichi war gestern hier und hat dich gesucht, Tsuzuku“, sagte Hanako. „Wir haben uns aber schon gedacht, dass du wahrscheinlich bei Meto bist. Also ist er heute wieder gekommen und wartet jetzt da hinten auf dich.“

Tsu und ich gingen zusammen zu seinem Schlafplatz, wo Koichi auf einer Decke auf dem Boden saß und sich mit dem einzigen obdachlosen Mädchen unserer lockeren Gruppe unterhielt. Sie nannte sich Yami, hatte kurzes, schwarzes Haar und war meistens eher allein. Ihre Kleidung bestand aus abgetragenen VK-Sachen, die sie bei irgendwem lagerte, wo sie offenbar aber nicht übernachten konnte, denn sie schlief meistens hier unter der Brücke.

Als wir vor ihr standen, sah sie auf und grinste. „Tsu, du Verräter! Wo treibst du dich rum?“

„Er… war bei …mir“, sagte ich.

„In deinem schicken Akayama-Haus?“, fragte sie.

Ich nickte und dachte daran, dass die Leute hier das alles von MiA wussten.

 

„Ich werde der Straße untreu“, sagte Tsuzuku, woraufhin Yami ihn mit großen Augen anstarrte.

„Wie, was, untreu?!“

„Ich zieh in das Hilfsprojekt im Hikuyama-Tempel. Heute.“

„Wow, wie cool! Haben die dich aufgenommen?“

Jetzt mischte sich Koichi in unser Gespräch: „Ja, haben sie. Und ich hab auch schon ‘ne Wohnung für Tsu gefunden.“

„Noch eine?“, fragte Tsuzuku, „Du hast mir doch letztens erst die ganzen Wohnungsanzeigen vorgelegt.“

„Aber die, die ich jetzt gefunden hab, ist die beste von allen: Sie liegt am Meer, in der Nähe des VK-Clubs, wo du mit Meto warst, und sie wird erst Ende Februar frei. Ich war gestern noch da, diese Wohnung ist ein Traum. Und teuer ist sie auch nicht. Du könntest da also gleich einziehen, wenn du nächstes Frühjahr aus dem Tempel raus bist.“

 

Tsuzuku sah mich an und ich wusste, er dachte an seine Zukunftsträume. Daran, dass er mit mir zusammen leben wollte, wie ein richtiges Paar. In einer anderen Stadt, einer eigenen Wohnung.

Wie hatte er noch gesagt? „Ich will dich abends im Arm halten, nachts lieben und morgens neben dir aufwachen, jeden Tag.“ Allein beim Gedanken daran schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Das klang so schön, nach lauter Glück und Liebe!

Tsuzukus Hand umschloss meine, fühlte sich warm und liebevoll an.

„Ihr beiden seid echt süß“, sagte Koichi und lächelte. „Kommst du mit zum Tempel, Meto?“

Ich nickte enthusiastisch, fühlte mich schwebend, freute mich riesig, dass Tsuzuku endlich wegkam von der Straße. Wenn ich daran dachte, wie schlecht es ihm noch vor ein paar Wochen gegangen war und wie glücklich er jetzt wirkte, kam es mir fast wie ein kleines Wunder vor.

 

Yami erhob sich und lief zu Haruna und Hanako hinüber, erzählte den beiden anscheinend davon, woraufhin die Nachricht, dass Tsuzuku den Park verließ, offenbar schnell die Runde machte, denn als ich, inzwischen mit Koichi und Tsu auf seinem Schlafplatz sitzend, mich umdrehte, kam eine Gruppe von Leuten auf uns zu, diejenigen, mit denen er und ich uns im letzten Jahr mehr oder weniger angefreundet hatten. Haruna und Hanako, Yami, einer namens Akira und dessen Freundin Yuki, gefolgt von ein paar anderen, die ich nicht so gut kannte.

 

„Du willst also wirklich heute gehen, Tsuzuku?“, fragte Haruna.

Er nickte, lächelte sie an.

„Und nach dem Tempel? Nimmst du dir dann hier in der Stadt eine Wohnung?“, wollte Haruna weiter wissen.

Tsuzuku sah mich abwartend an und ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, dass ich mich jetzt entscheiden musste: Wollte ich wirklich mit ihm zusammen in die größere Stadt am Meer ziehen, mein Elternhaus verlassen und mit meinem Freund als Paar leben? Meine Eltern wussten ja nicht mal, dass ich überhaupt ans Ausziehen dachte, geschweige denn, dass ich mit Tsuzuku zusammen leben wollte.

Ich wusste, irgendwann würde ich mich sowieso dazu entschließen müssen, von zu Hause auszuziehen, und nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, war beschlossen, dass das jetzt der Moment dafür war. Ich nickte.

„Nein. Meto und ich ziehen weg, zusammen“, sagte Tsuzuku auf mein Nicken hin und lächelte.

„Wohin?“

Er nannte den Namen der Stadt, und Koichi fügte hinzu, dass er schon eine passende Wohnung gefunden hatte.

„Aber ihr kommt uns doch mal besuchen, oder?“, fragte Hanako.

„Mal sehen. Ich glaube, wir brauchen dann erst mal ein bisschen Abstand zu dieser Stadt. Meto wegen MiA, und ich … ich will nach vorn schauen, versteht ihr?“

„Na ja“, sagte Haruna, „Wir können euch ja auch besuchen.“

 

Ich fühlte mich ein wenig seltsam. Einerseits war ich glücklich, weil Tsuzuku glücklich und in Aufbruchsstimmung war, doch mir war auch klar, dass jetzt die Zeit, als wir fast jeden Tag alle zusammen hier im Park gewesen waren, vorbei ging, und das machte mich ein bisschen traurig. Im Winter war hier sehr viel weniger los und es war lange nicht dasselbe wie im Sommer, wenn alle hier zusammen saßen und diese Gemeinschaft bildeten, in der man sich einfach wohlfühlte.

 

Tsuzuku nahm meine Hand und drückte sie fest. ‚Nächstes Jahr, Meto, dann nur wir beide‘ hieß das und brachte mich dazu, mir vorzustellen, wie das wohl sein würde, mit Tsu zusammen zu wohnen.

So, wie er zurzeit drauf war, würde das sicher schön werden, doch ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es nicht so bleiben würde. Er hatte manchmal gute, dann wieder sehr schlechte Zeiten, ich kannte seine Stimmungsschwankungen und wusste, dass er immer noch, auch wenn es im Augenblick vielleicht nicht so sichtbar war, diese Tendenzen zur Selbstschädigung hatte. Zwar hoffte ich, dass er irgendwann damit aufhörte, doch ich ahnte, dass das ein sehr langer, steiniger Weg sein würde, davon loszukommen.

 

Auf einmal ließ Tsuzuku meine Hand wieder los und stand auf. Nahm seine Tasche und seinen Schlafsack und sagte: „So, ich gehe jetzt. Meto, Koichi, kommt ihr mit?“

Ich erhob mich, Koichi stand ebenfalls auf und wir verließen nach einem doch recht kurzen Abschied den Park in Richtung Fluss, wo wir an der Bank vorbeikamen, auf der Tsu und ich oft zusammen gesessen hatten. Er blieb stehen, strich mit der Hand über das dunkle Holz und blickte hoch zum Himmel.

„Jetzt wird alles anders“, hörte ich ihn leise sagen. „Ich hab ein bisschen Angst.“

„Brauchst du nicht haben“, erwiderte Koichi. „Du schaffst das schon. Wir helfen dir ja.“

Tsuzuku sah mich an und ich nickte.

„Ich besuch dich, wann immer ich kann. Vielleicht kannst du auch zwischendurch mal zu mir kommen?“, sagte ich.

„Ich weiß nicht, ob das vom Tempel her okay ist …“

„Das erlauben die bestimmt“, sagte Koichi. „Schließlich wollen sie doch, dass es dir gut geht.“

 

Ich wusste nur ungefähr, wo der Tempel war, aber Tsu und Koichi waren ja schon einmal dort gewesen und so ging ich einfach mit, hielt die Hand meines Freundes und hoffte, dass er das, was jetzt vor ihm lag, anpackte und schaffte. Er wirkte so motiviert und glücklich, dass es eigentlich keinen Grund zum Zweifeln gab, doch ich hatte ihn schon so anders erlebt, dass ich doch nicht ganz sicher war.

Er bemerkte meine Unsicherheit und sah mich an.

„Meto, du musst dir keine Sorgen machen. Ich schaff das“, sagte er und lächelte selbstsicher.

Und als wir den Tempel erreichten, spürte ich, dass er es kaum noch erwarten konnte, dort hineinzugehen und den Winter über da zu bleiben.

 

Am Tor stand eine Frau im schlichten, eleganten Kimono. Sie lächelte freundlich, als sie uns sah, und öffnete uns die Tür.

„Aoba Genki-san, richtig?“, fragte sie.

Tsuzuku bejahte, verbeugte sich leicht.

Genki Aoba. Das war also sein richtiger Name. Irgendwie merkwürdig, dass ich den bisher noch nicht kannte. Wir hatten schon alles zusammen gemacht, sogar miteinander geschlafen, und das alles, ohne dass ich seinen wahren Namen gewusst hatte. Namen waren eben doch irgendwie Schall und Rauch. Ich kannte ihn als Tsuzuku, er mich als Meto, wir hatten unsere Taufnamen bisher nicht gebraucht, also würden wir sie auch weiterhin nicht brauchen.

 

Wir betraten den Tempel und die Frau führte uns gleich durch einen langen Gang zu einem Zimmer.

„Sie sind der Erste heute“, sagte sie zu Tsuzuku und öffnete die Tür, an der eine kleine, goldene 10 befestigt war. „Das Zimmer kennen Sie ja, Essen ist in einer halben Stunde.“

„Ich habe eine Frage“, erwiderte Tsu. „Kann ich, während ich hier bin, auch mal woanders schlafen?“ Er legte einen Arm um mich, was mich erröten ließ, und fügte auf den fragenden Blick der Dame hin hinzu: „Meto ist mein fester Freund und ich würde gern ab und zu die Nacht bei ihm verbringen.“

Die Dame lächelte etwas verlegen, sah uns beide einen Moment lang einschätzend an und lächelte dann wieder. „Wenn Sie sich vorher hier abmelden, wird das schon in Ordnung sein. Wir bräuchten aber die Adresse, damit wir Sie erreichen können.“

„Kann… ich nachher ….aufschreiben“, antwortete ich leise und stockend.

 

„In Ordnung. Das Aufnahmegespräch findet auch gleich statt. Sie können Ihre Sachen hier im Zimmer lassen“, sagte die Dame dann.

Ich spürte, dass Tsuzuku jetzt doch ziemlich aufgeregt war, und legte meinen Arm um seine Taille, um ihn wissen zu lassen, dass ich da war und es keinen Grund zur Angst gab. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie ihn aufnehmen würden. Ob er es letztendlich durchhielt, war etwas anderes, doch auch dessen war ich mir jetzt sicherer.

„Und Sie beide können gern im Garten warten“, wandte sich die Dame an Koichi und mich.

 

Tsuzuku folgte ihr zu einem Raum am unteren Ende des Ganges. Koichi und ich gingen derweil raus in den Tempelgarten und setzten uns auf eine der Bänke am Rand des grauweißen Kiesfeldes, auf dem jemand, vielleicht einer der Mönche, mit einer Harke gleichmäßige Kreise um Steine und Bäume gezogen hatte.

 

„Und, wie geht’s dir?“, fragte Koichi und lächelte mich an. „Ich kenn dich ja bis jetzt noch gar nicht richtig.“

„…Gut“, antwortete ich automatisch.

„Tsu war jetzt ja zwei Nächte bei dir, ne?“

Ich nickte.

„Reden ist nicht deins, oder?“

Ich schüttelte den Kopf. „Hab… nen… Sprachfehler.“

Koichi lächelte wieder. „Ich hab den Eindruck, dass du mit Tsuzuku aber ganz gut reden kannst.“

„Kann… ich …auch. Aber … nur bei… ihm…“

„Wie süß!“, kam es von dem Rosahaarigen.

Ich sah ihn überrascht an.

„Nee wirklich, ich finde das total niedlich, euch beide! Wie ihr euch lieb habt und so.“ Er lachte, wurde dann aber mit einem Mal ernst. „Sag mal, was ist denn jetzt eigentlich mit MiA?“

 

MiA. Mein Herz machte einen schmerzhaften Satz.

„Er hat’s … rausbekommen, … das mit Tsu …und mir, …und hat… mich… verlassen“, antwortete ich, sah zu Boden und spürte schon die Tränen in meinen Augen. „Ich weiß, …dass ich mich… total mies… verhalten habe…, aber“ Meine Stimme zitterte, verriet meinem Gegenüber, dass ich kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Der kramte kurz in seiner Handtasche und hielt mir dann ein Taschentuch hin. „Hier, nimm, Meto-chan, sonst verschmiert doch dein ganzes Make-up.“

Ich legte den Kopf in den Nacken und versuchte, die Tränen möglichst vorsichtig daran zu hindern, mein Make-up in eine Panda-artige Schmiererei zu verwandeln. Meine Kontaktlinsen wollten ebenfalls davonschwimmen und so blinzelte ich wie wild, um sie an ihrem Platz zu halten.

Wieder suchte Koichi in seiner Tasche herum und hielt mir dann einen kleinen Spiegel hin.

„…Danke“, sagte ich leise und dachte: ‚Koichi ist wirklich toll. Tsu hat so ein Glück mit ihm…‘

 

Nachdem ich mein Make-up für’s erste gerettet hatte, sagte er: „Ich glaube, es tut euch beiden, dir und Tsuzuku, ganz gut, wenn ihr nächstes Frühjahr zusammen weggeht. Ich behalte die Wohnung, die ich für euch gefunden habe, im Auge, und dann zieht ihr da ein, sobald Tsu hier fertig ist.“

Ich nickte. Bisher hatte ich mich erst zwei, drei Mal mit dem Gedanken beschäftigt, von zu Hause auszuziehen und mir ein eigenes Leben aufzubauen, doch je mehr ich darüber nachdachte, umso besser gefiel mir der Gedanke und ich gewöhnte mich irgendwie daran. Mit meinen neunzehn Jahren wurde es langsam Zeit, dass ich flügge wurde.

Einziges Problem bei der Sache war: Ich hatte keinen sonderlich guten Schulabschluss gemacht und nie irgendeinen Beruf gelernt. Nach dem Ende der Oberschule war ich einfach zu Hause geblieben, unentschlossen und mit Sprachfehler. Ich hatte keine Vorstellung davon, was und wie ich arbeiten sollte, wusste aber, dass ich irgendetwas tun musste.

 

„…Koichi…?“, fragte ich leise, „… Was …arbeitest du …eigentlich…?“

„In der Großstadt gibt es so ein Café, das ist so ähnlich wie ein ‚Anna Millers‘. Da arbeite ich als Kellner“, antwortete er. „Wieso fragst du?“

„Ich … ich hab nie… einen Beruf… gelernt… oder so…“, sagte ich. „Aber… wenn… ich… mit Tsu zusammen… leben will … Ich will …ihn… nicht… das ganze Geld …alleine verdienen… lassen.“

Koichi lächelte. „Du findest bestimmt auch irgendwas. In so einer großen Stadt gibt es noch mal ganz andere Möglichkeiten als hier und bestimmt ist da auch was dabei, wo du ohne viel Ausbildung und so, wie du bist, was tun kannst. Ich kann mich auch gerne mal ein bisschen umhören.“

Ich sah ihn dankbar an.

 

In dem Moment kam eine junge Frau im Kimono um die Ecke. Sie hatte ein Klemmbrett und eine Stift in der Hand und als sie vor uns stand, hielt sie mir beides hin. „Ihren Namen, ihre Adresse und die Telefonnummer bitte“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln und ich schrieb alles drei auf.

„Und? Wie läuft das Aufnahmegespräch?“, fragte Koichi sie.

„Aoba-san hat gute Chancen. Ich denke, wir werden ihm hier sehr gut helfen können. Hat er noch irgendwelche Angehörigen, die wissen sollten, dass er hier ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Hat… keinen Kontakt… mehr… zu… Familie.“

„Also sind Sie beide zurzeit seine einzigen Bezugspersonen?“

„Ja, so in der Art“, sagte Koichi.

„Es ist gut, dass er jemanden hat, der ihn hier besuchen kann“, sagte die Frau. „Das stärkt in den meisten Fällen die Motivation.“ Sie wandte sich wieder zum Gehen und verschwand um die Ecke.

 

Koichi stellte mir noch ein paar mehr oder weniger belanglose Fragen, alltägliche Dinge, die ihn aus irgendeinem Grund interessierten, und ich antwortete, so gut ich konnte.

Irgendwann gingen wir zurück in Richtung des Zimmers, in dem Tsuzuku wohl von jetzt an leben würde. Er war schon wieder da, saß auf dem Bett und lächelte, als wir hereinkamen.

„Und?“, fragte Koichi, „Wie ist es gelaufen?“

Tsu hob die Schultern. „Ganz gut, glaube ich. Musste halt viel erzählen.“ Er wirkte ziemlich erschöpft, na klar, so ein Gespräch konnte ja auch ganz schön anstrengend sein.

„Bist du … müde?“, fragte ich.

„Ja, ich … ich glaub, ich leg mich gleich erst mal hin. Nachher, wenn derjenige kommt, der auch hier schläft, muss ich ja halbwegs fit sein.“

 

Ich ging zum Bett, setzte mich neben Tsuzuku und nahm ihn in meine Arme.

„Ich komm dich besuchen, wann immer ich kann“, sagte ich und küsste ihn, wobei ich allerdings ein bisschen rot wurde, da Koichi ja auch noch zugegen war. Tsuzuku nahm den Rotschimmer auf meinen Wangen mit einem leisen Lächeln zur Kenntnis und drückte mich noch einmal fest an sich, bevor ich aufstand und zusammen mit Koichi, der Tsu noch einmal zuwinkte, das Zimmer verließ.

 

Koichi begleitete mich noch nach Hause, dann ging er und Mama, die mich an der Tür empfing, fragte: „Wer ist das denn?“

„Bester Freund… von Tsu“, antwortete ich. Es fühlte sich immer noch ein bisschen seltsam an, dass ich Koichi als den besten Freund meines ehemals besten und jetzt mich eben liebenden Freundes bezeichnete, doch ich wusste, irgendwann würde ich mich sicher daran gewöhnt haben, dass Tsuzuku und ich jetzt keine bloßen Freunde mehr, sondern ein Liebespaar waren.

 

„Yuu …?“, fragte Mama, als ich mich in der Küche hinsetzte, um mir eine Kleinigkeit zum Essen zu machen. Sie sah mich ein bisschen verlegen an und ich brauchte einen Moment, bis ich aus dieser Verlegenheit lesen konnte.

„Hm?“, fragte ich und tat erst mal noch so, als wüsste ich nicht, worauf sie hinauswollte.

Mama setzte sich mir gegenüber an den Tisch und begann leise: „Heute Nacht … so gegen eins … da bin ich aufgewacht.“ Sie blickte auf ihre Hände, schwieg einen Moment und sagte dann: „Ich hab … dich schreien gehört …“

 

Hatte ich eben noch versucht, so zu tun, als wäre nichts, so wurde ich jetzt knallrot. Oh Gott, sie hatte es doch mitbekommen! Hatte ich wirklich so laut geschrien, dass sie es im Schlafzimmer am anderen Ende des Hauses gehört hatte?! In einem mehr impulsgesteuerten als sinnvollen Versuch, die Röte auf meinen Wangen zu verdecken, hielt ich mir die Hände vors Gesicht. Eigentlich war ich nicht der Typ ‚schüchterner Bottom, dem alles peinlich ist‘, aber vor meinen Eltern war es mir doch unangenehm, auf mein Sexualleben angesprochen zu werden.

„War alles … in Ordnung?“, fragte Mama. Vermutlich konnte sie noch nicht so recht glauben, dass ich, ihr einziger Sohn, schon alt genug für Sex war.

„J-ja…“, brachte ich mit vor Verlegenheit zitternder Stimme heraus. Ich atmete einmal tief durch und sagte: „Alles … okay. Tsu und ich … hatten Sex, aber … alles gut …“

Jetzt war es Mama, die die Hände vors Gesicht schlug und ein leises Jammern von sich gab. „Du meine Güte … Mein kleiner Junge ist erwachsen … Die Zeit vergeht so schnell …“

 

Ich wusste nun wirklich nicht, was ich darauf antworten sollte, also verließ ich die Küche und verzog mich auf mein Zimmer, wo ich den Rest des Tages vor der Spielekonsole verbrachte.

Die Tage nach der Trennung verbrachte ich größtenteils bei Mariko. Ich bat meine Nachbarin, sich um Sawako zu kümmern, und ließ mich dann von meiner Cousine bekochen, ablenken und mir immer wieder klar machen, dass ich mir, was Meto betraf, besser keine Hoffnungen mehr machen sollte. Das war zwar wahnsinnig schwer und ich war unendlich traurig, doch nach drei, vier Tagen gewann ich etwas emotionalen Abstand zu ihm und konnte die ganze Situation langsam ein wenig von außen betrachten.

 

Während ich mich damit beschäftigte, Mari im Haushalt zu helfen, fernzusehen und ihren Kater zu bespaßen, fand ich Stück für Stück zu dem Leben zurück, das ich geführt hatte, bevor ich Meto kennen gelernt hatte. Ich zwang mich, nicht an ihn zu denken und wenn er doch einmal in meinen Gedanken auftauchte, dann versuchte ich, ihn mit Abstand zu betrachten und mir immer wieder deutlich zu machen, dass er jetzt ganz sicher mit Tsuzuku zusammen war.

 

Ja, ich brachte mich sogar so weit, dass ich mich fragte, ob die beiden nicht schon eine Art Paar gewesen waren, bevor ich in Metos Leben aufgetaucht war. In dem Fall hätte ich von Anfang an keine Chance gehabt und irgendwie machte es mir dieser Gedanke etwas leichter, die ganze Geschichte als vergangen zu verzeichnen und mir klar zu machen, dass es für mich auch ein Leben ohne Meto gab.

 

Mariko war derselben Meinung, und wie sie eben war, benutzte sie recht deutliche Worte, als ich dann doch wieder in Tränen ausbrach und um meinen verlorenen Traummann trauerte.

„Atsushi“, sagte sie, „Sieh ein, dass die beiden zusammen gehören. Metos Gefühle für Tsuzuku sind ganz offensichtlich stärker als die für dich, da kannst du nichts dran ändern. Weißt du, ich hab gleich gesehen, dass das mit den beiden mehr als Freundschaft ist.“

„Jaah, mach’s schlimmer!“, schluchzte ich.

„Je früher du das einsiehst, umso besser. Für dich ist jemand anderes wie geschaffen.“

„Ich … ich will einfach noch mal mit ihm reden.“

„Klärendes Gespräch, oder was? MiA, so was funktioniert nicht. Das einzige, was du bei so einem Gespräch tun kannst, ist, dich von ihm zu verabschieden.“ Mari stand auf, nahm einen Topf von der Küchenarbeitsplatte und drückte ihn mir zusammen mit einem Geschirrtuch in die Hand. „Und jetzt denk nicht mehr an ihn, sondern hilf mir abtrocknen.“

 

Am Tag darauf ging ich wieder nach Hause. Ich fühlte mich halbwegs stabil und in der Lage, wieder alleine zu sein und Sawako freute sich riesig, dass ich wieder den ganzen Tag bei ihr war. Auf der Arbeit hatte ich mich krank gemeldet, hatte behauptet, Grippe zu haben und meine Chefin hatte diese Ausrede am Telefon ohne viele Fragen geglaubt.

Ich ging also wieder arbeiten und auf dem Heimweg kam ich am Akutagawa-Park vorbei. Es waren nicht viele Leute da und ich erkannte schon von weitem, dass da, wo sonst Tsuzukus Sachen gelegen hatten, ein leerer Platz war. Er und Meto waren nirgends zu sehen, also ging ich auf Haruna zu, die allein auf der Bank rund um den größten Baum saß und sich die Fingernägel lackierte.

 

„Hey“, sagte ich und es kam mir so vor, als hätte ich sie noch nie gesehen.

Sie blickte auf, erkannte mich und sagte: „MiA. Du, Meto ist nicht hier. Und ich glaube auch nicht, dass er dich sehen will.“

„Ich will auch nur wissen, wo die beiden sind“, antwortete ich.

„Tsuzuku ist vor zwei Tagen in den Hikuyama-Tempel gezogen, die haben da so ein Programm für Obdachlose und er wird den Winter dort verbringen. Ich denk mal, Meto ist bei ihm. Aber geh da nicht hin.“

„Schon klar, ich wollt’s nur wissen“, sagte ich.

„Tut mir auch leid, dass ihr euch getrennt habt. Aber weißt du, das mit Meto und Tsuzuku, das ist schon von Anfang an was ganz Besonderes. Vielleicht hätte einer von uns dir etwas eher sagen sollen, dass du da keine Chance hattest.“

Ich nickte nur. „Hab ich inzwischen auch eingesehen.“

 

„Darf ich dir was erzählen?“, fragte Haruna und schloss ihr Nagellackfläschchen.

„Was denn?“

„Du weißt ja, dass Tsuzuku … psychisch nicht ganz okay ist. Wir hatten das öfter hier, dass er völlig durchgedreht ist, sich selbst verletzt hat und so. Keiner von uns weiß genau, was mit ihm los ist, aber was wir in solchen Situationen immer gesehen haben, war, dass Meto dann als Einziger einen Zugang zu ihm bekommen hat. Ganz extrem war es vor ‘nem dreiviertel Jahr. Da kanntest du Meto noch nicht, oder?“

„Nein.“

„Damals war das mit der Bulimie bei Tsuzuku richtig schlimm. Er hat sich von uns massenweise Essen zusammengebettelt und dann alles wieder ausgekotzt. Die meisten von uns wussten nicht, wie wir damit umgehen sollten, weil er echt niemanden außer Meto an sich rangelassen hat. Wir sind Straßenleute, keine Psychologen, obwohl viele von uns so was auch ein bisschen kennen. Aber wir konnten ihm nicht helfen. Doch zu irgendeinem Zeitpunkt hat das aufgehört. Er hatte auf einmal Angst vorm Kotzen und hat fast nichts mehr gegessen, stattdessen ist er Meto immer näher gekommen. Seitdem geht es ihm immer besser. Verstehst du?“

 

Ich nickte wieder. Weil ich jetzt wirklich verstand, was das zwischen Tsuzuku und Meto war. Diese tiefe Verbindung, die ich anfangs hatte verstehen wollen und die mich später so eifersüchtig gemacht hatte. Und mir zuckten zwei Worte durch den Kopf, die zwar wehtaten, aber doch eine irgendwie auch erleichternde Wahrheit bedeuteten: Wahre Liebe.

 

„So was wie die beiden gibt es nicht oft“, sagte Haruna. „Selbst ich und Hana, die wir uns seit Ewigkeiten kennen, sind nicht so eng zusammen. Tsuzuku ist, soweit ich ihn kenne, ziemlich besitzergreifend und ich glaube, Meto ist wirklich der absolute Mittelpunkt seines Lebens. Es wäre deshalb einfach gut, wenn du die beiden in Ruhe lässt.“

„Mach ich“, versprach ich.

„Wenn Meto noch mal mit dir reden will, wird er auf dich zukommen.“

 

Ich ging nach Hause, setzte mich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein. Doch irgendwie interessierte es mich überhaupt nicht und so beschloss ich, heute Abend auszugehen. In einen neuen Club, auf eine Party, wo ich niemanden kannte.

Ich machte mich hübsch, hielt das Ganze jedoch eher dezent und zog eher einfache Kleidung an, Sachen, die weniger aufreizend waren als das, was ich zu den Abenden mit Meto getragen hatte. Heute wollte ich niemanden kennen lernen, sondern nur tanzen.

Als ich im Internet nach Clubs suchte, fiel mir einer ins Auge, der hier ganz in der Nähe, mir jedoch bis jetzt nicht aufgefallen war. Auf der Webseite stand etwas von Symphonic Metal und Visual Kei und es schien ein eher kleiner Laden zu sein, doch das Layout und die Beschreibung gefielen mir so gut, dass ich diesen Club für den heutigen Abend auswählte.

 

Ich zog mich dann doch noch um, wählte aber wieder ein hochgeschlossenes Outfit und eine lange Hose, nur mit ein paar leicht an klassische Musik erinnernden Details. Ich wollte einfach etwas komplett anderes machten, etwas, das mich nicht an den Technoclub und an Meto erinnerte.  

 

Der Club lag in entgegengesetzter Richtung zum anderen, was ich als gutes Zeichen sah, und auf dem Weg dahin fragte ich mich, wie die Leute da wohl waren.

Von außen wirkte der Laden komplett schlicht und unauffällig, es standen keine Leute draußen herum, und als ich das Haus betrat, schallte mir, wesentlich leiser als Techno, ein auf E-Gitarre getrimmtes Stück klassischer Musik entgegen. Die Einrichtung war dunkel, wirkte sehr edel und ließ mich an Gruppen wie Malice Mizer denken.

 

Alles sah nach Geheimtipp aus und als eine Dame im Kostüm auf mich zu kam und mich fragte: „Guten Abend, mein Herr. Möchten Sie ihre Jacke bei mir abgeben?“, wurde mir endgültig klar, dass das hier erstens ein echter Geheimtipp und zweitens anscheinend auch ein ziemlich in sich geschlossener, exklusiver Club war. Ich zog meine Jacke aus und sie hängte sie an einem Kleiderbügel in die Garderobe.

„Waren Sie schon einmal bei uns?“

Ich verneinte.

„Dann haben Sie Glück. Heute ist offener Abend. An anderen Tagen ist unser Etablissement nur Mitgliedern zugänglich.“ Sie zog einen Stempel aus einer Gürteltasche wie sie Kellnerinnen trugen und drückte ihn mir vorsichtig auf den Handrücken.

„Genießen Sie ihren Aufenthalt. Aber bitte bedenken Sie, dass gewisse Dinge, sie verstehen sicher, bei uns nicht erwünscht sind.“

„Was für Dinge?“

„Die Toiletten sind keine Liebesnester, bitte trinken Sie nicht zu viel und achten Sie auf Ihr Benehmen.“

„In Ordnung“, sagte ich und dachte: ‚Das scheint wirklich ein besonderer Club zu sein …‘

 

Ich betrat den Hauptraum und wurde nicht, wie erwartet, von lauter Musik erschlagen. Auf der Webseite hatte ja etwas von Symphonic Metal gestanden und offensichtlich lag dabei die Betonung auf dem ersten Wort, denn das Stück, das gerade gespielt wurde, klang viel eher nach Symphonie als nach Metal oder Hard Rock.

 

Ich fand die Bar, setzte mich und bestellte, an die Worte der Vorzimmerdame denkend, ein Glas Wein. Hier war nichts mit Malibu und Kaluha Milk.

Anschließend beobachtete ich die Tanzfläche. Anscheinend hatte ich mit meiner Einschätzung ‚Malice Mizer‘ recht gehabt und es gab hier einen Dresscode, denn die Leute auf der von einem Kronleuchter beleuchteten Tanzfläche trugen fast ausnahmslos aufwändige, an Barock und Rokoko erinnernde Kostüme. Eine ganze Weile saß ich nur da, nahm hin und wieder einen Schluck Wein und ließ die besondere Stimmung, die hier herrschte, auf mich wirken. Es war so ganz anders als alles, was ich bisher in Clubs gesehen hatte, aber ich mochte es hier.

 

„Hey, du bist neu hier, oder?“ vernahm ich plötzlich eine Stimme neben mir und wandte mich um. Dort hatte sich soeben jemand an die Bar gesetzt, bei dem ich auf den ersten Blick nicht sagen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

Er oder sie trug ein bodenlanges, barockes Kleid, hochgeschlossen und mit unzähligen Perlen, Rüschen und Schleifen verziert, dazu langes, hellbraunes Haar, das in wunderschöne, lange Korkenzieherlocken gedreht und zu einer echten Prinzessinnenfrisur aufgesteckt war. Große Augen mit langen, schwarzen Wimpern blickten mich aus einem puppenhaften Gesicht an und schmale Lippen verzogen sich zu einem hübschen Lächeln.

 

„Ja“, antwortete ich auf die Frage dieser Schönheit hin.

„Herzlich Willkommen“, sprach die melodische Stimme, die zwar sehr sanft klang, jedoch jetzt von mir einwandfrei einem männlichen Wesen zugeordnet werden konnte. „Wie heißt du denn?“

„MiA“, antwortete ich und versuchte ein Lächeln.

„Nenn mich Hizaya“, sagte er und lächelte ebenfalls, jedoch wesentlich offenherziger als ich.

Ich nahm einen Schluck Wein und fragte dann: „Woran sieht man denn, das ich neu bin?“

„Ich hab dich hier noch nie gesehen. Und deine Kleidung ist ein bisschen … zu unauffällig für jemanden von uns.“

Ich sah an mir runter. Tatsächlich war mein Outfit im Vergleich zu dem atemberaubenden Kleid, das mein Gegenüber trug, absolut underdressed. Aber ich hatte sonst nur meine Alltagskleidung und das knappe Lackzeug gehabt.

Hizaya stand auf, hielt mir die Hand hin und fragte: „Magst du Tanzen?“

 

Eigentlich hatte ich ja niemand neues kennen lernen und, wenn schon, allein tanzen wollen, doch Hizaya lächelte mich so liebenswürdig an, dass ich gar nicht anders konnte, als „Ja“ zu sagen. Ich dachte an das, was die Dame im Vorzimmer gesagt hatte, dass das hier ein sehr edler und vor allem sehr anständiger Club war und dann, dass ich mich jetzt wieder um mich selbst kümmern wollte.

 

Hizaya tanzte hervorragend, wie eine echte Prinzessin. Er schien ein richtiger Stammgast hier zu sein und offensichtlich kannte er so gut wie jeden, der hierherkam. Viele der anderen auf der Tanzfläche warfen ihm freundliche Blicke zu, sahen mich fragend an und er erwiderte alles mit einem Lächeln. Ich spürte, dass er mir sympathisch war, doch ich hielt mein Herz erst einmal fest verschlossen, war noch nicht bereit, so schnell wieder jemanden hineinzulassen.

 

Als die Musik wechselte, nun etwas lauter und rockiger wurde, verließen wir die Tanzfläche und Hizaya führte mich in einen hinteren Teil des Clubs, wo er mir bedeutete, auf ihn zu warten, während er durch eine Tür verschwand, auf der in großen, goldenen Buchstaben „Privat“ stand.

Als er eine Weile später wiederkam, hatte er ein Kärtchen von der Art einer Kreditkarte in der Hand und einen Bogen Papier mit Stift.

„Wenn du öfter herkommen willst, kannst du unserem Club beitreten“, erklärte er. „Das kostet nur einen kleinen Betrag, du musst das hier unterschreiben und dann stehen dir unsere Türen an jedem Abend offen.“

 

Ich sah mir das, was auf dem Papier stand, genau an. Es handelte sich um eine Art Regelwerk, in dem etwas von gutem Benehmen, Exklusivität und Dresscode stand.

„Das Outfit, was du gerade trägst, ist in Ordnung. Wenn du was Auffälligeres haben willst, kann ich dir ein paar Läden aufschreiben, die solche Sachen haben.“ Er lächelte wieder.

Ich nahm die Karte in die Hand, es war eine sehr hübsch bedruckte Mitgliedskarte und mein Name stand schon darauf.

„Ich hab deinen Namen schon draufgeschrieben“, sagte Hizaya. „Es gefällt dir hier, oder?“

Ich nickte und hatte in diesem Moment das Gefühl, eine Art neues Leben anzufangen. Denn nachdem Meto die letzten Wochen über in meinen Gedanken dauerpräsent gewesen war, hatte ich, seit ich diesen Club betreten hatte, nicht ein einziges Mal in ihn gedacht.

Und so unterschrieb ich das Regelwerk, nahm die Mitgliedskarte an und ließ mich dann von Hizaya wieder zur Tanzfläche führen.

 

Es wurde ein zwar etwas ungewohnt ruhiger, doch sehr schöner Abend.

Hizaya stellte mich ein paar Leuten vor und ich erfuhr, dass in diesem Club wirklich jeder jeden irgendwie kannte und dass Hizaya der Clique um den Besitzer des Clubs, der sich mir als Kamiki vorstellte, angehörte. Offenbar hatte ich Glück und war ausgerechnet der ‚Prinzessin‘ dieser kleinen Szene aufgefallen. Ich lernte einen ganz zauberhaften Mann namens Yasu kennen, der nicht weniger feminin zurechtgemacht war als Hizaya, einen Taru, der als Einziger Hotpants und ein bauchfreies Oberteil trug, und einen Yukiya, der etwas unauffälliger, jedoch nicht weniger freundlich als die anderen war.

 

Hier wurde eine gewisse Distanz gewahrt, man ging freundlich, sehr höflich miteinander um, doch offensichtliches Flirten und dergleichen schienen durch ein ungeschriebenes Gesetz untersagt zu sein. Doch gerade das kam mir, der ich gerade eine Trennung hinter sich hatte, sehr entgegen und so ließ ich mich in der besonderen Atmosphäre dieses Clubs fallen. Ich wollte neue Freundschaften, nichts, was irgendetwas in Richtung Liebe bedeutete, und das bekam ich.

Hizaya schien sich ein wenig verantwortlich für mich zu fühlen und forderte mich mehrmals zum Tanzen auf. Mir fiel auf, dass Kamiki ihn aufmerksam beobachtete, konnte jedoch nicht einordnen, ob er das als Sittenwächter tat oder deshalb, weil zwischen den beiden irgendwas war. Unter der hier herrschenden Etikette war so etwas nicht zu erkennen.

 

„Gefällt es dir hier, MiA?“, fragte Kamiki mich, als ich wieder an der Bar saß und mir ein zweites Glas Wein bestellt hatte.

„Ja“, antwortete ich.

Kamiki war eine beeindruckende Erscheinung. Er war relativ groß, hatte hellbraunes, etwa kinnlanges gewelltes Haar und trug ein Outfit, das an herrschaftlicher, barocker Ausstrahlung die Kleidung der meisten anderen noch übertraf. Dazu kam seine Aura, die etwas von einem europäischen König hatte und bei der man sich fast ein bisschen vorkam wie in Schloss Neuschwanstein. Er war ganz offensichtlich ein Anführer-Typ und dieser Club so etwas wie sein Königreich.

„Das ist schön“, sagte er und lächelte. „Wenn du Fragen hast, wende dich einfach an Hizaya.“

Die ‚Prinzessin‘, die wieder neben mir saß, lachte verhalten.

„Wie hast du uns denn eigentlich gefunden?“, fragte Taru.

„Im Internet, über eure Seite“, antwortete ich.

„Dann ist es ja gut, dass wir die Seite eingerichtet haben. Das hab ich nämlich erst vorgestern gemacht“, sagte Yasu.

Dann war es ja nicht verwunderlich, dass ich nicht schon früher auf diesen Laden aufmerksam geworden war. Wenn die erst seit ein paar Tagen überhaupt einen Internetauftritt hatten.

 

Ich ging noch ein paar Mal tanzen, noch einmal mit Hizaya, einmal mit Yasu, und einmal forderte mich sogar Kamiki auf, um mich, wie er sagte, in ihrer Gemeinschaft willkommen zu heißen. Ich wusste nicht genau, wie ich es geschafft hatte, so plötzlich Anschluss an eine so offensichtlich elitäre Clique gefunden zu haben, doch ich hatte ja nichts dagegen und schob es einfach mal auf die Tatsache, dass ich ja schon seit einigen Jahren Visual Kei mochte und mich möglicherweise ganz gekonnt verhielt.

 

Als ich mich dann spät in der Nacht auf den Heimweg machte, hatte ich Hizayas und Yasus Handynummern und war so gut gelaunt wie schon seit Tagen nicht mehr.

Zu Hause begrüßte mich Sawako mit einem verschlafenen Gurren und als ich mich abgeschminkt und ausgezogen hatte und mich ins Bett legen wollte, sprang sie auf die Matratze und gab mir so deutlich zu verstehen, dass sie in meinem Bett schlafen wollte.

Ich ließ sie und schlief selbst bald ein.

Ich saß im Essraum des Tempels, zusammen mit den anderen und doch allein für mich, und starrte das Essen an, das sich auf dem lackierten Tablett vor mir befand. Die anderen um mich herum waren längst mit Essen beschäftigt, weswegen es bis auf ab und an ertönendes Stäbchen- und Tellerklappern still im Raum war, doch ich fühlte mich absolut nicht danach, das, was da vor mir lag, zu mir zu nehmen.

Mir war nicht übel oder so, sondern ich erkannte den Reis, das Gemüse und den Seetang irgendwie … nicht als etwas Essbares. Als hätte ich verlernt, was ‚Nahrung‘ bedeutete.

 

„Tsuzuku?“, sprach mich eine von den anderen, eine junge Frau namens Hitomi, mit meinem Pseudonym an. Ich hatte, bei der obligatorischen Vorstellungsrunde am ersten Tag, es nicht geschafft, den anderen meinen wahren Namen zu nennen und war dabei geblieben, dass mich alle weiterhin, so wie auch im Akutagawa-Park, mit ‚Tsuzuku‘ ansprechen sollten.

„Hm?“

„Magst du nichts essen?“ Sie rückte ein Stück näher zu mir und blickte fragend auf mein Tablett und dann mich an.  

„Ich kann nicht …“, antwortete ich leise.

Hitomi sah mich einen Moment lang einfach nur an und ich blickte zurück, sah, dass sie ziemlich dünn war, vielleicht noch weniger wog als ich. Ihre knapp kinnlangen, schwarzen Haare waren stumpf und ihre Arme in dem langärmligen Shirt so schmal, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob sie nicht zerbrachen. 

 

„Du … hast es auch nicht so … mit dem Essen, nicht wahr?“, fragte sie schließlich mit leiser Stimme.

Ich blickte auf den Teller, auf die salzig eingelegten Pflaumen, etwas, das ich nun wirklich überhaupt nicht mochte, und antwortete: „Wenn du damit Bulimie meinst …“

Sie nickte, sah mich an, blickte dann auf meine tätowierten Arme und die blassen Narben dazwischen und schaute mir mit einem ganz merkwürdigen Blick in die Augen. Einen Moment lang sah es aus, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann wandte sie sich von mir ab und wieder ihrem Teller zu, aß langsam das Gemüse und den Reis und tat so, als hätten wir eben gar nicht miteinander gesprochen.

 

Ich machte keinen Versuch, sie wieder anzusprechen, dafür war dieser Moment eben zu seltsam gewesen. Stattdessen versuchte ich nun ebenfalls, etwas zu essen. Nur Reis, alles andere hatte einen zu starken Geschmack. Ich aß sehr langsam und vorsichtig und musste zwischendurch immer wieder kurze Pausen machen, damit mir nicht wieder übel wurde. Ab und zu schaute ich zu Hitomi, doch sie blickte unablässig auf ihren Teller und machte keinerlei Anstalten, noch einmal Kontakt zu mir aufzunehmen. Warum sie mich wohl angesprochen hatte?

 

Als ich nach dem Essen aufstand (ich hatte fast alles einfach auf meinem Teller liegen gelassen), und zurück in mein Zimmer wollte, stand Hitomi ebenfalls auf. Auf dem Weg in mein Zimmer hörte ich Schritte hinter mir, sah mich jedoch nicht um, obwohl, oder vielleicht gerade weil ich mir sicher war, dass sie es war, die mir folgte.

Irgendwie hatte mich der Moment, als sie auf meine Tattoos und die Narben geschaut hatte, ziemlich beunruhigt. Und wie sie mich danach angesehen hatte. Als wüsste sie etwas über mich, ohne mich zu kennen.

 

Komori, mein Zimmergenosse, lag auf dem Bett und hob den Kopf, als ich hereinkam.

„Wieso warst du nicht beim Essen?“, fragte ich.

„Mir ist nicht gut“, antwortete er. „Hab Kopfschmerzen.“

Dann war es wohl besser, wenn ich ihn alleine ließ. Also verließ ich das Zimmer wieder und ging in den Tempelgarten, setzte mich auf eine der Bänke dort und blickte auf den Zen-Garten vor mir, in dem sich gerade ein einzelner Mönch befand, der mit einer Harke unablässig Kreise in den grauen Sand malte. Ich wusste, das war irgendeine meditative Übung, keine Gartenarbeit, und so beobachtete ich ihn aufmerksam dabei, um vielleicht von ihm zu lernen. Ich wollte ein bisschen was von der Ruhe und Gelassenheit dieser Mönche abhaben, bewunderte sie für ihre innere Stärke und Geduld.

 

Und so bemerkte ich zuerst nicht, dass sich jemand auf die Bank neben meiner gesetzt hatte und ebenfalls dem Mönch zusah. Erst, als ich einen schweren, gedehnten Seufzer vernahm, blickte ich zur Seite und sah Hitomi dort sitzen.

Sie sah mich an, stand auf und setzte sich neben mich.

„Dieser Junge mit den hellblauen Haaren, der gestern bei dir war, wer war das?“, fragte sie unvermittelt und sah mich wieder mit diesem seltsamen Blick an. Irgendetwas daran kam mir bekannt vor, doch ich konnte nicht sagen, was es war, oder woher.

„Mein Freund. Meto“, antwortete ich.

„Dein Freund? Also, fester Freund?“, fragte sie und sah mich etwas verwundert an.

Ich nickte.

Hitomi lächelte, ein kleines, scheues Lächeln, dann stand sie auf und wandte sich zum Gehen. Doch als sie schon ein paar Schritte weit weg war, drehte sie sich noch einmal um und kam zurück. Sie blieb direkt vor mir stehen, beugte sich vor und sagte leise: „Dann hast du ja einen Grund, von der Grenze wegzubleiben.“

Und noch ehe ich sie fragen konnte, was sie damit meinte, lief sie davon, verschwand irgendwo im Tempelgebäude und ließ mich allein.

 

Kurz darauf stand ich ebenfalls auf und ging wieder hinein. Komori war nicht im Zimmer, als ich es wieder betrat, und ich vermutete, dass er wegen seiner Kopfschmerzen die hier arbeitende Krankenschwester aufgesucht hatte.

Ich legte mich auf mein Bett, blickte hoch an die hölzerne Decke und fragte mich, was Hitomi mir wohl hatte sagen wollen. Ihr ganzes Verhalten ergab für mich die Botschaft, dass sie mir irgendetwas mitteilen wollte, es aber aus irgendeinem Grund nicht auf den Punkt bringen konnte oder wollte. Die Art, wie sie mich ansah, und das, was sie zu mir gesagt hatte: Da war etwas, was mich hatte aufhorchen lassen und mir jetzt nicht mehr aus dem Kopf ging. Was hatte sie mit ‚Grenze‘ gemeint?

 

Ich blieb eine ganze Weile so liegen, hing meinen Gedanken nach und lauschte dem entfernten, gleichförmigen Gesang der Mönche in der Gebetshalle. Fast wäre ich davon eingeschlafen, doch ich schreckte immer wieder auf, fand keine wirkliche Ruhe, wusste jedoch nicht, was mich wach hielt.

Komori kam wieder ins Zimmer, legte sich ebenfalls hin und sagte erst einmal nichts.

Als er mich dann doch ansprach, wäre ich fast schon wieder eingeschlafen gewesen.

„Tsuzuku?“

„Mh?“

„Du warst doch immer im Akutagawa-Park, oder?“

„Ja. Wieso fragst du?“

„Ich glaub, ich hab dich da ein paar Mal gesehen.“

„Kann sein“, antwortete ich und fragte dann, weniger aus Interesse, als mehr um das Gespräch anstandshalber in Gang zu halten: „Wo hattest du denn deinen Schlafplatz?“

„Im Park hinter der Einkaufspassage. Manchmal war ich auch in dem Waldstück auf der anderen Seite vom Fluss.“

 

Den Park kannte ich. Dort war ich doch vor ein paar Wochen erst gewesen, hatte mich betrunken, zu viel geraucht und dann gebrochen, bevor Meto mich dann gefunden hatte.

Aber natürlich hatte ich Komori damals nicht bemerkt, ich kannte ihn ja erst, seit ich hier war.

„Die Leute im Akutagawa, das ist ‘ne richtige kleine Gemeinschaft, ne?“, fragte er nach einer Weile und fügte dann noch hinzu: „Ich hätte da auch gern dazu gehört, aber irgendwie bin ich so gar nicht geeignet für Gruppen.“

„Ich auch nicht“, sagte ich. „Aber ich kann auch nicht gut alleine sein.“

„Wieso, was passiert, wenn du alleine bist?“ Komori setzte sich auf und sah mich an, ich spürte sein Interesse und dass es mich ein bisschen nervös machte.

Zuerst wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Schließlich kannte ich ihn kaum und hatte ja so meine Schwierigkeiten, jemandem so etwas Privates wie den Grund, warum ich nicht gern allein war, zu erzählen. Doch dann dachte ich daran, dass ich die nächsten drei Monate hier mit ihm auf diesem Zimmer wohnen würde und dass es vielleicht besser war, wenn er wusste, was mit mir los war.

Und so antwortete ich: „Dann ist niemand da, der aufpassen kann, dass ich mich nicht verletze.“

 

„Wie, dass du dich nicht verletzt? Hast du … ein Selbstverletzungsproblem?“, fragte er und sah mich erschrocken an.

Ich nickte. „Im Moment ist es nicht so schlimm, du musst dir keine Sorgen machen.“

„Wie lange hast du das denn schon?“

Gute Frage. Eigentlich war ich schon immer ein bisschen so gewesen. Meine Tattoos und Piercings, das Implantat, der Spalt in meiner Zunge, das kam nicht von ungefähr. Doch dass ich mich selbst schnitt, das war erst nach Mamas Tod gekommen, genauso wie die Bulimie.

 

„In der Form erst seit zwei Jahren“, antwortete ich. „Seit ich auf der Straße lebe.“

„Dann warst du deshalb nie in Behandlung?“, fragte Komori.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich war in meinem Leben erst ein einziges Mal bei ‘nem Psychologen.“

„Weswegen?“

„Ich hab, als ich noch zur Schule ging, mal eine Fensterscheibe zerschlagen, und bin deswegen beim Schulpsychologen gelandet. Der hat irgendwas von ADHS gesagt, aber da kam nichts nach.“

„Und du glaubst auch nicht, dass das stimmt?“

„Ich weiß nicht. Hat mich damals auch nicht interessiert.“

„Hm …“ Komori sah mich einen Moment lang nachdenklich an, dann sagte er: „Ich finde auch, man muss das gar nicht unbedingt wissen, wie man ein Problem nennt. Das macht’s manchmal nur schwerer.“

 

Einen Moment hatte ich das Gefühl, ihm vielleicht ein bisschen zu viel erzählt zu haben. Es war nicht ganz einfach für mich, so offen zu sein. Doch auf der anderen Seite wusste ich, dass es besser war, wenn mein Zimmergenosse hier ein bisschen was über mich und mein Problem wusste. Schließlich musste er wissen, was zu tun war, sollte ich hier einen Absturz erleben.

 

„Gibt’s was, was ich tun kann, wenn du … dich wieder verletzt?“, fragte er.

„Ich hab mein Messer nicht mehr, das ist bei meinem Freund. Es kann also zurzeit nicht viel passieren. Aber, wenn ich mies drauf bin, dann lass mich einfach in Ruhe.“

„Okay.“ Komori stand auf, machte einen Schritt auf mich zu und lächelte dann. „Und? Wollen wir jetzt hier rumsitzen oder gehen wir irgendwo hin?“

Ich hob die Schultern, wusste auch nicht, was noch mit dem Tag anzufangen war. Zum Schlafen gehen war es noch zu früh und ich war auch nicht mehr müde.

 

„Wir können uns ja mal die Buddha-Halle ansehen, ich glaube, die Mönche sind fertig mit ihren Gebeten“, schlug Komori vor.

Und da mir auch nichts Besseres einfiel, stimmte ich zu und wir verließen das Zimmer in Richtung der Halle. Kaum hatten wir diesen Ort betreten, der irgendwie wirklich eine ganz besondere Ausstrahlung hatte, spürte ich eine ähnliche Ruhe wie die, die mir bisher der nächtliche Sternenhimmel hatte geben können.

 

Vor der großen Buddha-Statue kniete jemand und ich musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um Hitomi handelte, die mit gesenktem Kopf auf dem Boden saß und leise vor sich hin murmelte. Sie hatte etwas in der Hand, doch ich konnte nicht sehen, was es war.

Als sie uns hörte, verstummte sie, hob sie den Kopf und drehte sich halb zu uns um. Ihr Blick war dunkel und schmerzerfüllt, ihre Augen leicht gerötet, und ihre rechte Wange sah aus, als hätte ihr jemand eine Ohrfeige versetzt. Einen Moment starrte sie Komori und mich nur an, dann fauchte sie: „Haut ab! Verschwindet! Kann man denn hier nirgendwo alleine sein?!“

„Alles … okay bei dir?“, fragte Komori.

„Geht euch nichts an!“ Hitomi sprang auf, kam auf uns zu und sah mich kurz ganz direkt an, mit demselben seltsamen Blick wie heute Mittag. Wieder kam mir etwas daran seltsam vertraut vor, doch wieder verstand ich nicht, was sie mir mitteilen wollte. Dann rauschte sie an uns vorbei und schlug die Tür hinter sich zu.

 

Komori und ich blieben noch etwas in der Halle, schließlich hatten wir sie uns genauer ansehen wollen, und ich versuchte, ein bisschen was von dem ruhigen Gefühl, das ich dem Buddha gegenüber hatte, festzuhalten und mir einzuprägen. Ich wollte meine Zeit hier nutzen, um mich ein wenig weiter zu entwickeln und vielleicht etwas zu finden, das mir, sollten meine Schuldgefühle wieder stärker werden, helfen konnte. Wo, wenn nicht hier, sollte es so etwas geben?

 

„Glaubst du daran?“, fragte Komori.

„Woran?“

„Daran, dass das hier funktioniert. Dass Buddha zu einem glücklichen Leben helfen kann.“

„Ich hoffe es“, antwortete ich. „Ich fände es aber auch schön, wenn es einen Gott und einen Himmel gäbe.“

Kaum hatte ich es ausgesprochen, war er wieder da, der Gedanke an Mama. Daran, wie ich mit ihr, ihrem Geist, gesprochen hatte. Ich biss mir auf die Lippe, blickte den Buddha an und versuchte, es niederzuringen. Ich wollte nicht weinen, nicht hier und nicht jetzt, wo Meto nicht da war, um mich im Arm zu halten. Versuchend, die schon meine Sicht verschwommen machenden Tränen am Fließen zu hindern, fuhr ich mir mit den Händen über die Augen und blinzelte heftig, was Komori, der neben mir stand, natürlich bemerkte.

 

„Alles okay, Tsuzuku?“, fragte er, klang besorgt.

„… Geht gleich wieder …“, brachte ich mit zitternder Stimme heraus, spürte im selben Moment, wie die erste Träne über meine Wange lief. „Kannst du … wieder ins Zimmer gehen … und mich hier … ein bisschen allein lassen?“

„Ja, natürlich“, antwortete er und ging hinaus.

Ich schaute mich noch einmal um, um sicher zu sein, dass mich niemand sah, und ließ mich dann vor der Buddha-Statue auf die Knie sinken. Beim Gedanken an Mama flossen meine Tränen, fast stumm, ich schluchzte kaum. Es war die Art von Weinen, die sich zwar sehr traurig, aber auch irgendwie erleichternd anfühlte. Und es war viel mehr Trauer darum, dass Mama nicht mehr da war, als Schuldgefühle wegen dem, was ich damals zu ihr gesagt hatte. Der Wunsch, mich zu bestrafen, blieb beinahe aus, war nichts weiter als ein blasser, wirkungsloser Gedanke, den ich leicht beiseiteschieben konnte.

Und irgendwann, es waren vielleicht ein paar Minuten vergangen, trockneten meine Tränen wieder, ich stand auf, verbeugte mich kurz vor dem Buddha und ging zurück aufs Zimmer.

 

„Geht’s dir wieder gut?“, fragte Komori. Er lag auf dem Bett und rauchte, sicherlich wohl wissend, dass das eigentlich hier nicht erlaubt war.

Ich hatte seit gestern keine Zigarette mehr gehabt und so bat ich ihn um eine, die er auch sofort grinsend rausrückte. Im Gegensatz zu ihm setzte ich mich zum Rauchen ans offene Fenster und ließ den Rauch nach draußen, was sicher besser war, als wenn es hier drinnen danach roch. Obwohl ich gern rauchte, konnte ich den Geruch von kaltem Zigarettenrauch in geschlossenen Räumen nicht ausstehen und hatte auch schon früher immer genau darauf geachtet, zumindest das Fenster zu öffnen.

 

Ein anderer Grund war, dass ich es mir wegen Mama einfach angewöhnt hatte, draußen zu rauchen und so Rücksicht auf ihre Konstitution zu nehmen. Ich hatte mit sechzehn damit angefangen, im Bewusstsein, dass es ungesund war, doch das hatte mich nicht wirklich davon abhalten können. Das Wort ‚ungesund‘ schien mich noch nie besonders beeindruckt zu haben und wenn ich mein Leben rückblickend so betrachtete, hatte ich schon immer einen Hang dazu gehabt, Dinge zu tun, die weder gesund noch besonders klug waren. Und ich hatte das auch längst als einen Teil von mir akzeptiert.

 

Den Rest des Tages hingen wir wirklich mehr oder weniger nur herum. Es gab ja nichts zu tun und so etwas wie Bücher hatte ich nicht, um mir die Zeit zu vertreiben. Irgendwann gingen wir noch mal raus in den Garten, schauten den Mönchen bei ihren Übungen zu, und ab und an stellte Komori mir eine Frage, die ich beantwortete, wenn ich wollte, oder schwieg, wenn mir nicht nach Reden war.

Hitomi sah ich nicht mehr und als ich einmal kurz an sie dachte, vermutete ich, dass sie in ihrem Zimmer war und hoffte, dass es ihr einigermaßen gut ging.

 

Als Komori und ich wieder auf die Leute im Akutagawa-Park zu sprechen kamen, stellte ich fest, dass ich diese Gemeinschaft schon jetzt, an meinem dritten Tag hier, vermisste. Nicht nur Meto und Koichi fehlten mir, obwohl sie mich ja gestern besucht hatten, sondern auch Haruna, Hanako und Yami, die ganzen Leute, selbst die, mit denen ich eigentlich gar nicht viel zu tun gehabt hatte. Aber ich war nun einmal Teil dieser Gruppe gewesen und hatte meine leeren Tage damit zugebracht, die anderen zu beobachten.

 

Als es langsam dunkel wurde, gingen Komori und ich wieder ins Zimmer. Er kramte in seiner Tasche und zog eine Schachtel Zigaretten hervor, die er mir zuwarf.

„Hier, ich hab noch mehr davon.“ Er grinste mich an und ich hatte das Gefühl, dass wir uns ein bisschen angefreundet hatten. Dass es mir tatsächlich gelungen war, etwas sozialer zu werden. Und das fühlte sich ziemlich gut an.

Ich verstaute die Zigaretten in meiner Tasche, die ich immer noch nicht ausgeräumt hatte, obwohl es hier im Zimmer ja einen Schrank gab. Aber irgendwie kam es mir wie eine große Sache vor, meine schwarze Reisetasche, in der ich seit fast zwei Jahren mein Leben mit mir herumtrug, ganz auszupacken und die Sachen in einen Schrank zu tun.

 

Gerade, als ich mich soweit hatte und sie doch ausräumen wollte, klopfte es an der Tür.

„Aoba-san, sind Sie da?“, hörte ich von draußen die Stimme der Psychologin, bei der ich das Aufnahmegespräch gehabt hatte, Frau Watanabe.

„Ja“, antwortete ich. „Was gibt’s?“  

Sie öffnete die Tür und sagte: „Ich würde gern kurz den Hilfeplan mit Ihnen besprechen. Kommen sie mit in mein Büro?“

„Ja, klar.“ Ich warf Komori noch einen Blick zu, dann folgte ich Frau Watanabe aus dem Zimmer, den Gang in Richtung ihres Büros hinunter.

 

„Wir haben Gruppen, aber auch Einzeltermine“, sagte sie, als ich ihr im Büro gegenüber saß. „Sie können wählen oder beides in Anspruch nehmen, wie Sie möchten. Was ist Ihnen denn derzeit lieber?“

„Ich hätte lieber Einzelgespräche“, antwortete ich nach kurzem Nachdenken. Ich hatte zwar keine Ahnung von Therapiegruppen, doch allein wenn ich das Wort schon hörte, spürte ich, dass mir nicht danach war, meine Probleme mit mehr als einer Person auf einmal durchzusprechen.  

„In welchen Abständen denn? Zweimal, dreimal in der Woche?“, fragte Frau Watanabe.

Darauf wusste ich so schnell keine Antwort. Zwar war ich ja hier, weil ich Hilfe wollte, doch ich wusste, dass diese Hilfe auch mit harter Arbeit verbunden war und davor hatte ich ein wenig Angst.

Sie sah, dass ich zögerte, lächelte und bot mir an: „Machen wir erst mal zwei Termine pro Woche. Und wenn Sie doch in eine Gruppe wollen, einfach sagen, okay?“

Ich nickte.

Sie trug etwas in eine Tabelle am Computer ein, vermutlich ein Zeitplan, und schrieb mir dann eine kurze Reihe an Tagen und Uhrzeiten auf einen Zettel. Den reichte sie mir, ich faltete ihn zusammen und verstaute ihn in meiner Hosentasche.

 

Als ich wieder ins Zimmer kam, hatte Komori sich schon ausgezogen und ins Bett gelegt, schlief aber noch nicht.

„Hat sie mit dir auch schon gesprochen?“, fragte ich.

„Nein, das kommt dann wohl morgen. Was hat sie denn gesagt?“

„Dass es Gruppen und Einzeltermine gibt. Würdest du in so eine Gruppe gehen?“

„Weiß nicht, vielleicht schon. Wenn’s hilft …“ Er drehte sich zur Wand und fügte noch ein „Gute Nacht“ hinzu, dann war von ihm nichts mehr zu hören.

 

Meine Tasche stand immer noch vor dem offenen Schrank, doch ich war jetzt nicht mehr in der Stimmung, sie auszuräumen. Stattdessen zog ich mich bis auf die Unterwäsche aus, legte mich ins Bett und war innerhalb von ein paar Minuten eingeschlafen.

 

Mitten in der Nacht wachte ich auf. Ich hörte schnelle Schritte auf dem Gang, lautes Rufen und sah ein blaues Licht durchs Fenster blitzen. Irgendetwas stimmte nicht.

Komori war nicht aufgewacht, ich hörte seine schlafenden Atemzüge. Leise stand ich auf, ging zum Fenster und sah, wie zwei Männer in neonorangener Krankenwagenkleidung eine Trage aus diesem Gebäude schoben, auf der auch jemand lag. Im Dunkel, das nur von dem blitzenden Blaulicht durchbrochen wurde, konnte ich nicht erkennen, wer es war, den sie da in den Krankenwagen hinter dem geöffneten Gartentor schoben, doch ich hatte irgendwie ein sehr, sehr mieses Gefühl.

 

Eigentlich war ich niemand, der bei einem Unglück hinlief und nachfragte, doch trotzdem zog ich mich hastig an und trat dann auf den Gang hinaus. Auf der Seite, wo sich die Zimmer der Frauen befanden, standen einige von ihnen herum und redeten aufgeregt. Frau Sato war auch da und ich erinnerte mich, dass ich ihren Namen am Morgen auf der Liste für den Nachtdienst gesehen hatte.

„Was ist denn los?“, fragte ich, als ich die Gruppe erreicht hatte.

Maya, eine der jüngeren Frauen, fast noch ein Mädchen, sah mich mit vom Weinen geröteten Augen an und antwortete: „Es ist Hitomi.“

 

Hitomi. Ich spürte, wie mir der Schreck in die Knochen fuhr. Ausgerechnet sie, und das gerade heute!

„Was ist mit ihr?“, fragte ich.

„Sie hat sich die Arme aufgeschnitten.“

Ich konnte förmlich fühlen, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Der Schreck hatte eine seltsame Gänsehaut auf meinen Armen ausgebreitet und ich verspürte ein fast schon schmerzhaftes Zittern.

„Warum … ich meine …“, stotterte ich, „Ist irgendwas … passiert, was sie dazu …“

Frau Sato, die mich nun auch gesehen hatte, kam dazu und sagte leise: „Ich glaube, Hitomi brauchte keinen äußeren Grund mehr.“

 

„Ich … ich hab heute doch noch mit ihr gesprochen“, sagte ich. Zuerst dachte ich daran, wie sie neben mir auf der Bank im Garten gesessen hatte. Doch dann fiel mir wieder ein, wie Komori und ich sie in der Gebetshalle gesehen hatten. Da war sie in keinem guten Zustand gewesen. Doch hätte ich ahnen können, dass sie so etwas tun würde? Nur, weil ich selbst Erfahrung damit hatte, mich selbst zu verletzen?

In diesem Licht ergab es einen Sinn, dass sie mich beim Mittagessen angesprochen und mit diesem Blick auf meine Narben geschaut hatte. Weil sie das selbst kannte. Und vertraut kam sie mir deshalb vor, weil sie war wie ich.

‚Wie ich … wie ich … wie ich …‘ hallte es in meinem Kopf wider.

 

„Schafft sie’s? Kommt sie durch?“, fragte ich, um dieses Widerhallen in meinem Kopf zu übertönen.

„Wir haben sie noch rechtzeitig gefunden. Die Chancen stehen gut, dass sie diese … Attacke überlebt“, antwortete Frau Sato. Sie sprach es nicht in Worten aus, doch in ihrem Tonfall lag ein unüberhörbares ‚Aber psychisch gesund wird sie nur schwer werden‘.

Als ich hörte, wie der Krankenwagen mit Sirenengeheul davonfuhr, wandte ich mich zum Gehen. Ich wusste, jetzt würde ich lange brauchen, um wieder einschlafen zu können, doch ich wollte allein sein, nicht noch mehr hören.

 

Ich war schon fast an meiner Zimmertür angekommen, da hörte ich es: Maya, die schon wieder zu weinen anfing, sagte irgendwas, das ich wegen ihrer Schluchzer nicht verstand, und Frau Sato antwortete: „Das ist Borderline.“

Es war, als würde mich eine unsichtbare Hand mitten ins Gesicht schlagen. Oder einen Eimer eisig kalten Wassers über mir auskippen. Ich stolperte, wäre fast gefallen, fing mich nur gerade so, riss die Tür zum Zimmer auf, stürzte hinein und fand gerade noch rechtzeitig zu meinem Bett, um hinein zu fallen und mich tief unter der Decke zu vergraben.

Es kostete mich meine ganze, gesamte Kraft, die Tür in meinen Gedanken, hinter der tausende Fragen und noch mehr Schmerz lauerten, geschlossen zu halten und über nichts nachzudenken, keinen Gedanken in dieser Richtung zuzulassen.

 

Irgendwann war ich eingeschlafen, doch dieser Schlaf war alles andere als erholsam und ich wachte am Morgen wie gerädert auf. Mein Kopf tat weh, ich hatte Bauchschmerzen und spürte einen unheilvollen Druck im Herzen, während ich mich anzog und zum Frühstück ging, mehr um nicht allein auf dem Zimmer zu sitzen, als um etwas zu essen. Komori war schon aufgestanden und saß am Frühstückstisch im Essraum.

Zuerst wusste ich nicht mehr, was in der Nacht passiert war. Doch dann sah ich Hitomis leeren Platz und es fiel mir wieder ein: Sie hatte sich die Arme aufgeschnitten, war aber noch rechtzeitig gefunden und ins Krankenhaus gebracht worden.

Doch an dem Punkt, als Frau Sato gesagt hatte, dass Hitomi wohl durchkommen würde, endete meine Erinnerung. Ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder ins Bett gekommen war und woher meine plötzlichen Kopfschmerzen kamen.

Beim Frühstück aß ich wegen meiner ziemlich starken Bauchschmerzen so gut wie nichts, hatte aber auch absolut keinen Appetit. Immer wieder blickte ich zu Hitomis leerem Platz und dachte daran, wie sie gestern mit mir gesprochen hatte.

 

Als ich nach dem Frühstück in mein Zimmer zurückwollte, ertönte hinter mir, aus der Richtung des Empfangsraumes, ein lautes „Hey!“. Ich drehte mich um und sah Koichi und Meto über den Gang auf mich zu kommen. Augenblicklich fühlte ich mich um einiges besser, der Druck in meinem Herzen wurde weniger und ich spürte die Bauchschmerzen kaum noch.

Ich lief auf Meto zu, der überrascht stehen blieb, und schloss ihn in meine Arme, drückte ihn an mich und küsste ihn.

„Ich hab dich vermisst“, sagte ich leise.

„Schon? Ich war doch vorgestern erst da.“

„Ich brauch dich aber jeden Tag.“

Meto hob eine Hand, strich mir durchs Haar und sagte: „Wenn der Winter vorbei ist, hast du mich immer, jeden Tag.“

„Das ist noch so lange hin …“

„Ja, vorher hast du noch Geburtstag.“

 

„Gott, seid ihr süß!“, mischte sich Koichi mit leuchtenden Augen in unsere Verliebten-Sphäre ein.

Ich lächelte, ließ Meto los und umarmte Koichi ebenfalls, wenn auch natürlich sehr viel weniger innig.

„Ist was passiert?“, fragte mein bester Freund (ja, das war er, definitiv).

Mit einem Mal waren die Bauchschmerzen wieder da. Einen Moment hatte ich Hitomi fast vergessen können, doch jetzt lief der Film von ihr, wie sie gestern mit mir gesprochen hatte und dann die Szene in der Gebetshalle, wieder durch meinen Kopf.

„Eine von den Frauen hier … ist letzte Nacht ins Krankenhaus gekommen“, sagte ich.

„Warum?“, fragte Koichi nichtsahnend.

„Sie … hat sich geschnitten. Absichtlich. Ich hatte gestern noch mit ihr gesprochen und …“ Ich konnte nicht mehr weitersprechen, spürte, wie mir die Tränen in die Augen sprangen. Ich wusste nicht, ob es Angst um Hitomi war, die mich weinen ließ, oder der Schock, dass sich zum ersten Mal jemand, den ich kannte, selbst verletzt hatte. Auf einmal sah ich mein eigenes Verhalten wie von außen an und das tat irgendwie ziemlich weh.

 

„Willst du aufs Zimmer gehen und dich hinlegen, oder sollen wir in die Stadt, dich ablenken?“, fragte Koichi, der meine Verzweiflung natürlich bemerkte.

Meto sagte nichts, sah mich jedoch sehr besorgt an und griff nach meiner Hand.

„In die Stadt“, sagte ich kurzentschlossen. „Ich muss hier raus.“

Tsuzuku ging nur kurz in sein Zimmer, um seine Zigaretten zu holen und sich bei seinem Zimmergenossen abzumelden, dann verließen wir zu dritt den Tempel und machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Wir kamen dabei auch am Park vorbei und sahen Haruna und Hanako, die auf der Bank um den Baum saßen und uns zuwinkten.

Unser Ziel war der große Brunnen mitten in der Stadt und als wir diesen erreichten, verschwand Koichi in Richtung des nächsten Supermarktes und kam wenig später mit einer Packung Kekse und drei Bechern Kaffee zurück. Tsuzuku und ich saßen derweil auf den Stufen vor dem Brunnen. Es war ein bisschen windig und ich spürte ab und zu kalte Tröpfchen im Nacken, wenn das Wasser aus dem Springbrunnen in unsere Richtung geweht wurde.

 

„Ich will gar nichts“, sagte Tsu, als Koichi den Kaffee vor ihm hinstellte.

„Hat dich das so geschockt?“, fragte der Rosahaarige. „Das mit der bei dir im Tempel?“

„Sie heißt Hitomi“, erwiderte Tsuzuku leise. „Wisst ihr, sie kam mir gleich … auf irgendeine Weise seltsam und vertraut vor. Aber ich hab einfach nicht kapiert, warum. Ich hätte mit ihr reden, sie davon abhalten müssen.“

„Du weißt doch selbst, dass man jemanden kaum von so was abhalten kann“, sagte ich und sah Tsuzuku an. Da war er wieder, dieser Schmerz in seinen Augen. Nur, dass es diesmal nicht von der Trauer über den Tod seiner Mutter herrührte, sondern vom Schock, dass jemand aus seiner direkten Umgebung sich selbst verletzt hatte.

 

Er stellte den Kaffeebecher neben sich und kramte die Zigaretten aus seiner Hosentasche, zündete sich eine an und blickte geistesabwesend auf die Steine, während er rauchte. Ihm war anzusehen, dass ihm der Vorfall mit dieser Hitomi einen ziemlichen Schlag versetzt hatte, und ich überlegte, was ich tun konnte, damit es ihm so schnell wie möglich wieder gut ging. Ich wollte auf jeden Fall verhindern, dass sich der Schmerz wieder in ihm festsetzte und ihn runterzog.

 

„Tsuzuku?“

„Hm?“ Er sah mich nicht mal an, sondern blickte weiter auf die glatten Steine zu seinen Füßen.

„Möchtest du vielleicht … heute wieder bei mir übernachten?“

Er sah mich an, seine Züge hellten sich augenblicklich auf und er beugte sich zu mir rüber, bis seine Lippen an meinem Ohr waren, und flüsterte: „Unser Zweites Mal?“

Ich nickte, lächelte ihn an, bemerkte, dass es ihm mit einem Mal wirklich besser ging.

Das war auch eine Seite seiner Schwankungen: Es ging auch in die andere Richtung, dass es ihm schlagartig gut ging und seine Traurigkeit wie weggepustet war.

 

„Na, dir geht’s ja wieder gut“, bemerkte Koichi zu Tsu und nahm einen Schluck Kaffee.

Tsuzuku drückte seine Zigarette auf einem der Steine aus und legte dann einen Arm um mich.

„Meto ist mein Allheilmittel.“

Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter, freute mich, dass er wieder glücklich war, und spürte, dass er mich liebte. Es war ein wunderschönes, tiefes, warmes Gefühl, vielleicht das Schönste, was ich je gefühlt hatte. Und allein der Gedanke daran, Tsuzuku heute Nacht bei mir zu haben, ließ mein Herz schneller schlagen und mich vor Vorfreude ein wenig erröten.

Eine Weile saßen wir einfach nur da, Koichi trank seinen Kaffee, Tsuzuku umarmte mich und ich beobachtete das Treiben auf dem Platz vor uns.

 

Auf einmal sah ich, wie aus einer Seitenstraße jemand auf den Platz kam, der mir sofort ins Auge fiel: Eine hübsche, junge Frau in einem bodenlangen, dunkelroten Barockkleid, das über und über mit Rosen, Schleifen und Perlen geschmückt war. Hellbraune Locken fielen weit über ihre Schultern, dazwischen schimmerte glitzernder Haarschmuck in der Sonne.

Sie trug zwei große, edel aussehende Einkaufstüten, von denen ich eine erkannte, weil ich mein einziges Kleid in demselben Laden gekauft hatte. Insgesamt sah sie aus wie eine Prinzessin auf Shoppingtour.

Neben ihr, von mir aus gesehen dahinter, ging noch jemand, von dem ich jedoch nicht viel sah. Erst, als die Prinzessin stehen blieb, sich zur Seite drehte und auf den Brunnen deutete, konnte ich die zweite Person sehen und bekam einen Schreck, der meine ganze gute Stimmung davonfegte:

 

MiA.

Und er sah ganz anders aus. Seine vor ein paar Tagen noch hellblonden Haare mit lila Strähnchen waren jetzt komplett gefärbt, in einem anderen, blasseren Lila, und er trug ähnlich edle, elegante Kleidung wie die Prinzessin neben ihm. Anscheinend waren die beiden auf Einkaufstour, denn er hatte ebenfalls zwei große Einkaufstüten dabei. Als er mich sah, blieb er stehen, starrte mich an, nicht minder erschrocken als ich.

Einen Moment lang passierte gar nichts, dann spürte ich, wie Tsuzuku, der MiA wohl erst jetzt bemerkte, sich anspannte und seinen Arm noch ein wenig fester um meine Schulter legte.

 

Ich beobachtete, wie die Prinzessin MiA fragend ansah und hörte, wie er antwortete: „Der mit den blauen Haaren, das ist mein Exfreund.“

Ich spürte einen kleinen Stich. ‚Exfreund‘ hatte einfach so einen schmerzhaften Klang.

Und als MiA dann zusammen mit der Prinzessin auch noch auf mich zukam, wurde der Stich in meinem Herzen schlimmer.

MiA blieb genau vor mir stehen, sah mich einen Moment lang an und ich spürte, dass er ebenso wenig wusste, was er sagen sollte, wie ich.

 

„Ihr … seid jetzt zusammen, oder?“, fragte er schließlich mit einem deutlichen Zittern in der Stimme.

Ich nickte.

Ein winziges, mühsames Lächeln huschte über seine Lippen. „Na dann …“, sagte er leise. „Viel Glück euch beiden.“

Er drehte sich zum Gehen um, da sprang ich aus einem inneren Impuls heraus auf, wobei Tsuzukus Hand sich von meiner Schulter löste, und fasste MiA am Ärmel.

„MiA …“

Er sah mich an, sein Blick sagte: ‚Was denn noch?‘

„Dir auch … viel Glück. Ich hoffe, … du kommst klar ...“, stotterte ich, mein Herz raste.

„Ich hab was neues“, antwortete er mit ein wenig mehr Lächeln. „Keine Beziehung, aber was anderes.“

Ich dachte: ‚Ich hab dich wirklich geliebt‘, doch ich konnte es nicht aussprechen. Nicht jetzt, wo Tsuzuku dabei war und ich spürte, dass ihn mein Wiedersehen mit MiA eine gewaltige Menge an Kraft und Nerven kostete.

 

Ich ließ MiAs Arm los, er drehte sich um und ging zusammen mit der Prinzessin, die kein einziges Wort gesagt hatte, über den Platz hinweg davon. Ich sah ihm nach, bis er um die nächste Straßenecke verschwunden war, und wandte mich dann Tsuzuku zu. Ich spürte, dass seine Laune jetzt ebenso im Keller war wie meine, und dass ich ihm eine Erklärung schuldete.

„Jetzt ist es wirklich vorbei“, sagte ich leise und sah, dass Koichi seine Hand auf Tsuzukus gelegt hatte, in einem Versuch, ihn zu beruhigen.

„Meto, ich will nicht … dass du …“, begann mein Freund, brach dann ab.

„Ich werd ihn nicht wiedersehen. Er will nicht, ich will nicht, es ist vorbei.“

„Du liebst nur mich?“

Ich setzte mich wieder neben ihn, nahm sein Gesicht in meine Hände und küsste ihn. „Nur dich. Versprochen.“

Seine Lippen verzogen sich an meinen zu einem Lächeln, er legte seine Arme um mich und erwiderte den Kuss, völlig ungeachtet der Tatsache, dass wir uns mitten in der Öffentlichkeit befanden. Sobald ich daran dachte, dass uns hier gerade jeder sehen konnte, wurde ich wieder ein wenig rot, was Tsuzuku aber natürlich egal war. Na ja, die Straße war eben über die lange Zeit zu seinem Zuhause geworden und er war daran gewöhnt, kaum Privatsphäre zu haben.

 

„Und?“, fragte Koichi. „Was machen wir jetzt? Gehen wir shoppen oder irgendwo eine Kleinigkeit essen, oder was wollt ihr?“

„Ich hab keinen Hunger, wirklich nicht“, sagte Tsu.

„Aber du weißt doch, dass du was essen musst“, widersprach Koichi und hielt ihm Kaffee und Kekse nachdrücklich hin.

„Wieso denn keinen Hunger?“, fragte ich.

„Ich bin heute Morgen mit Bauchschmerzen aufgewacht und wenn ich was esse, wird mir bestimmt wieder schlecht.“

„Was hast du denn gestern Abend gegessen?“, wollte ich wissen.

„Nichts. Aber da ging es mir noch gut.“

Koichi nahm einen Keks aus der Packung und hielt ihn Tsuzuku hin. „Hier, wenigstens einen, für uns.“

Er nahm den Keks, aß ihn jedoch nur sehr langsam.

 

Währenddessen überlegte ich, was wir gleich machen könnten, und kam zu dem Schluss, dass ein kleiner Shoppingtrip wohl wirklich eine gute Idee war. Zwar brauchte ich nicht wirklich was neues, und Tsuzukus Sachen waren soweit ich wusste auch noch alle in Ordnung, aber gegen einen Einkaufsbummel mit Klamotten anprobieren und neue Läden entdecken hatte ich nichts einzuwenden.

„Einkaufen… klingt gut…“, sagte ich zu Koichi, der mich daraufhin anstrahlte und antwortete:

„Super! Ich weiß einen ganz süßen kleinen Laden, da wart ihr bestimmt noch nicht drin.“

Tsuzuku, der das Thema Kekse inzwischen erstmal abgehakt hatte, lachte und bemerkte: „Ja, weil er wahrscheinlich pink ist, oder?“

„Pink ist eine wunderschöne Farbe!“, widersprach Koichi, ebenfalls lachend. „Nee ehrlich, der Laden ist toll, ihr werdet den lieben!“

 

Koichi und ich tranken noch unseren Kaffee leer, Tsuzuku kippte seinen in den nächstgelegenen Abflussschacht, dann standen wir auf und machten uns, von Koichi geführt, auf den Weg zu jenem Laden, von dem der Rosahaarige schon auf dem Weg zu schwärmen begann:

„Die haben sogar Sachen von Vivienne Westwood, ich hab da meine absoluten Lieblingsschuhe her! Schwarzes Zeug gibt’s da auch massenweise. Und man kann fast alles bestellen.“

Ich beobachtete auf dem Weg, wie die Leute um uns herum auf Koichi reagierten. Er war wie immer perfekt geschminkt und zurechtgemacht, trug hohe Schuhe, eine figurbetonte, pastellfarbene Hose und eine niedliche Jacke, die er garantiert aus der Abteilung für junge Mädchen hatte. Und dass er beinahe ununterbrochen schnatterte, trug ebenfalls seinen Teil dazu bei, dass sich mehrmals Leute nach uns umdrehten und zuerst ihn, dann meine blauen Haare anstarrten.

 

„Lass mich raten, deine Lieblingsschuhe sind auch pink?“, fragte Tsuzuku leicht spöttisch und grinste.

„Du kennst die sogar. Ich hatte sie an, als wir uns kennen gelernt haben, Tsu.“

„Ich war nicht in der Stimmung, auf deine Schuhe zu achten.“, sagte mein Freund, woraufhin Koichi ihm die Schuhe ausführlich beschrieb und dann in einer kleinen Seitenstraße vor einem schmalen Schaufenster stehen blieb. „Da sind wir!“

Einen Moment blieben wir vor dem Laden stehen und schauten uns das randvoll gefüllte Schaufenster an, das mit seiner bunten, etwas merkwürdigen Mischung aus pastellfarbenen und dunklen Sachen , die die gesamte Palette von Kleidung, Schuhen und Schmuck abdeckten, schon recht vielversprechend wirkte.

 

„Der ist erst seit ‘nem Jahr hier, aber ich war bestimmt schon an die fünfzig Mal drin“, erklärte Koichi und öffnete die Tür. Augenblicklich schallte uns ein E-Gitarren-Instrumentalstück entgegen, dass ebenso gut aus meiner Musiksammlung hätte sein können, und ein gerufenes „Herzlich Willkommen“ war zu hören.

Wir betraten den Laden, der auf den ersten Blick genauso klein und vollgestopft wirkte wie das Schaufenster. Es schien sich um einen langen Gang zu handeln, an dessen Seitenwänden sich irgendwie alles befand, was abseits des normalen Klamottenstils lag. Bunt durcheinander standen pinkfarbene Pumps neben schwarzen Nietenstiefeln, hingen babyblaue Tutu-Kleider neben  Ledershorts und lagerten CDs von Mayu Watanabe neben welchen von MUCC. Koichi hatte Recht: Der Laden war toll!

 

Aus dem hinteren Teil des Ladens kam eine junge Frau auf uns zu, die genauso aussah, wie man es von einer Verkäuferin in so einem Laden erwartete: Sie trug eine bunte, aber durchaus hübsche Mischung beider Stile, die hier vertreten waren, hatte dieselbe Haarfarbe wie ich, und trug rosafarbene Kontaktlinsen, was ihrem Blick etwas gänzlich weltfremdes verlieh.

„Herzlich Willkommen“, sagte sie noch einmal und verbeugte sich leicht. „Sehen Sie sich ruhig um.“

 

Einkaufen mit Koichi war … ein wenig anstrengend. Er stürzte sich geradezu hinein ins Vergnügen und während Tsu sich derweil bei den schwarzen Sachen umsah, stand ich ein bisschen unschlüssig herum.

Nach hinten hin wurde der Gang etwas breiter und anscheinend gab es da noch viel mehr tolle Sachen, denn kaum war Koichi dorthin verschwunden, jubelte er „Vivienne, ich liebe dich!“ und kam kurz darauf strahlend mit hohen Schuhen, Schmuck und einer hübschen, wenn auch ziemlich knappen Kapuzenjacke zurück.

 

„Na, Meto-chan, was sagst du dazu?“, fragte er, als er die Schuhe anprobierte und mir zeigte.

Ich nickte, obwohl ich nicht ganz verstand, wie Koichi es fertig brachte, auf diesen extrem hohen Schuhen mit schmalen Absätzen zu stehen, geschweige denn zu laufen.

„Kannst du auf den Teilen überhaupt laufen?“, fragte Tsuzuku hinter mir und deutete auf die Schuhe.

„Ja, klar kann ich das! Ich übe schließlich schon seit Jahren!“ Koichi zog die Schuhe wieder aus und schaute auf das Preisschild, wobei sich wieder ein Strahlen auf seinem Gesicht ausbreitete. „Ich liebe solche Outlets.“

 

„Soll ich die Sachen schon mal zur Kasse nehmen?“, fragte die Verkäuferin, deren rosafarbener Blick mich aus irgendeinem Grund an Alice im Wunderland denken ließ. Koichi überreichte ihr alles, was er sich ausgesucht hatte, schaute sich dann wieder kurz um und hatte plötzlich ein hellblaues, rüschenbesetztes, weiß gepunktetes Lolitakleid in der Hand, das er mir entgegenhielt und mich abschätzend ansah.

 

„Tsu, was meinst du? Sähe Meto-chan darin nicht wahnsinnig süß aus?“, fragte er.

Tsuzuku hob eine Augenbraue. „Ich weiß nicht. Ich hab Meto noch nie in ‘nem Kleid gesehen.“

Koichi drückte mir das Kleid in die Hand, verschwand im hinteren Teil des Ladens und kam wenig später mit einer hellblauen Perücke zurück, ähnlich der, die ich selbst zuhause hatte.

Ab und zu mochte ich es, mich wie ein Mädchen anzuziehen und mich so richtig hübsch zu machen, doch in den letzten Monaten war das irgendwie seltener vorgekommen, weshalb mein einziges Kleid mit Zubehör die meiste Zeit über im Schrank hing.

 

„Komm, probier das mal an. Ich bin sicher, das steht dir.“

Ich sah fragend zu Tsuzuku, der ein kurzes „M-hm, ja“ verlauten ließ und dann lächelte.

Koichi zeigte mir die etwas versteckt gelegene Umkleide und ich zog den Vorhang hinter mir zu, ehe ich mich auszog und in das niedliche Kleid zwängte, das mir an den Schultern doch ein klein wenig eng war, weswegen ich den Reißverschluss nicht alleine zu bekam.

Ich setzte die Perücke auf und schaute mich im Spiegel an. Es war ein bisschen ungewohnt, weil ich ja lange kein Kleid mehr getragen hatte, doch ich fand mich schon irgendwie schön darin.

 

„Tsu?“, fragte ich, „Kannst du hinten zu machen?“

„Ja, klar.“ Er zog den Vorhang zurück, kam herein und ich drehte mich um, damit er an den Verschluss herankam. Ich sah durch den Spiegel hinter mir stehen und er sah mich an, lächelte.

„Du siehst schön aus, Meto“, sagte er leise, schob die Perückenhaare beiseite und küsste kurz meinen Nacken, bevor er den Reißverschluss langsam nach oben zog.

„Findest du, das steht mir?“, fragte ich.

„Ich bin etwas überrascht, aber ja, das steht dir sehr gut“, antwortete er und legte von hinten die Hände an meine Hüften, sodass ich mir vorkam wie ein junges Mädchen auf einem Ball.

Ich schmiegte mich an ihn und einen Moment blieben wir so stehen, so lange, bis Koichis Stimme von draußen uns wieder einmal aus unserer Zweisamkeit riss: „So, jetzt will ich’s aber auch mal sehen!“

 

„Oh mein Gott, das ist ja noch süßer, als ich dachte!“, rief der Rosahaarige aus, als ich aus der Kabine kam und ihm mein ungewohntes Outfit präsentierte.

Die Verkäuferin stand auch in der Nähe und nickte bestätigend. „Das sieht sehr hübsch aus.“

„Komm, kauf das“, versuchte Koichi mich schon zum nächsten Schritt zu überreden, doch ich war noch nicht so ganz sicher. Immerhin hatte ich schon ein solches Kleid und wusste auf die Schnelle keine Gelegenheit, dieses hier zu tragen.

 

Ich suchte nach dem Preisschildchen, welches mit einer Sicherheitsnadel am Rock befestigt war. Da ich nicht damit gerechnet hatte, einkaufen zu gehen und dann auch noch etwas zu finden, hatte ich nicht viel allzu Bargeld eingepackt und musste erst einmal rechnen, ob es reichte oder ich meine Karte nehmen musste. Siebentausend Yen kostete das Kleid, das war für so ein schickes Lolitakleid recht wenig, doch ich hatte nur fünftausend in bar eingesteckt. Also würde ich wohl mit Karte bezahlen müssen.

 

Zuerst einmal ging ich in die Kabine zurück und zog mich wieder um, wobei Tsuzuku mir half. Als ich wieder herauskam, hob ich meine Umhängetasche auf, suchte mein Portmonee hervor und zog die Karte heraus.

„Geht… das…?“, fragte ich die Verkäuferin, wobei mir selbst kaum auffiel, dass ich wieder, wie immer Fremden gegenüber, stockte.

„Ja, natürlich.“ Sie nahm mir das Kleid ab und legte es zu Koichis Sachen, verschwand dann wieder im hinteren Teil des Ladens, um die Perücke wieder an ihren Platz zu bringen. Damit war wohl entschieden, dass ich das Kleid kaufte, und wenn Tsu mich darin schön fand, hatte ich auch einen Grund.

 

„So, und jetzt kommst du dran“, sagte Koichi zu Tsuzuku.

„Im Gegensatz zu euch beiden hab ich aber kaum Geld in der Tasche“, antwortete mein Freund, blickte dabei jedoch sympathisierend auf ein Paar schwarzer Stiefel mit ein wenig Absatz.

„Gar nichts?“, fragte Koichi. „Nicht mal fünfhundert oder so?“

Tsuzuku zog seinen kleinen Geldbeutel aus der Hosentasche, klappte ihn auf und kippte den Inhalt auf seine Handfläche. Ich zählte zehn Einhundert-Yen-Münzen. „Das ist mein Taschengeld vom Tempel, für Zigaretten und so.“

„Okay, fünfhundert Yen kostet eine Packung. Dann hast du immer noch die andere Hälfte für was anderes“, rechnete Koichi aus. „Der Schmuck hier ist zum Beispiel teilweise echt nicht teuer, da finden wir schon was für dich.“ Er deutete auf ein Regal, das angefüllt war mit allem, was an Schmuck zu den dunklen Sachen im Laden passte.

 

Tsuzuku trat vor das Regal, sah sich die Sachen eine Weile lang an und nahm auch einiges in die Hand, um es jedoch nach einem Blick auf die Preisschildchen wieder zurück zu legen.

Doch schließlich schien er etwas gefunden zu haben, drehte sich zu uns um und hielt, mich fragend ansehend, ein breites, schwarzes Lederarmband in der Hand, das mit einer etwas schmaleren, silbernen Schnalle geschlossen wurde.

„Das ist schön“, sagte ich. „Passt zu dir.“

„Siebenhundert Yen“, erwiderte er. „Dann reicht‘s nicht mehr für Zigaretten.“

„Zweihundert Yen werd ich dir schon noch leihen können“, sagte ich.

 

„Probier’s mal an“, sagte Koichi, woraufhin Tsuzuku das Armband öffnete und sich ums Handgelenk legte. Es sah wirklich gut aus, harmonierte wunderbar mit seinen Tattoos und passte auch zu dem silbernen Ring, den er immer trug.

„Steht dir gut“, sprach Koichi aus, was wir beide dachten. „Ich würde es echt kaufen.“

„Wenn du meinst …“, sagte Tsuzuku, lächelte aber, und ihm war anzusehen, dass er dieses Armband wirklich haben wollte. Es schien eines von diesen Dingen zu sein, bei denen man gleich wusste: ‚Das will ich!‘

 

Nachdem dann zuerst Koichi, dann ich und dann Tsu unsere jeweiligen Sachen bezahlt hatte, verließen wir den Laden und wanderten erst mal ein wenig ziellos durch die Stadt, sahen uns Schaufenster an und Tsuzuku und ich hörten Koichi zu, dem irgendwie nie der Gesprächsstoff auszugehen schien.

„Immer, wenn ich in dem Laden war, hab ich danach kaum noch Geld im Portmonee. Der ist einfach so toll und weil die einzelnen Sachen weniger kosten als direkt vom Label, kaufe ich immer gleich so viel, dass es für keinen anderen Laden mehr reicht“, schnatterte der Rosahaarige in einer Tour und brachte damit Tsuzuku zum Lachen.

„Koi, du bist so ein Mädchen!“

„Ich weiß. Ich war schon immer so.“

„Was sagt denn deine Freundin dazu, falls du eine hast?“, fragte Tsu.

„Ich hab keine. Also nicht so eine.“ Koichi seufzte. „Irgendwie lande ich bei Frauen immer gleich in der Friendzone.“

„Kein Wunder, wenn du dich benimmst wie eine beste Freundin, statt wie ein Kerl.“

„Ey! Ich kann durchaus auch männlich sein! Ich hab nur meistens keine Lust drauf“, protestierte Koichi, lachte dann aber.

 

Ich hörte nur zu, beobachtete die beiden und freute mich einfach, dass sie sich so gut verstanden und dass Tsuzuku sich jetzt so lockern konnte. Und dachte an früher, daran, wie ich ihn kennen gelernt hatte und wie er damals gewesen war.

Es war auf dem Stadtfest gewesen, vor etwas über einem Jahr. Damals hatte ich, weil ich mich meines Sprachfehlers so sehr geschämt hatte, gar nicht mehr gesprochen und war vollkommen einsam gewesen. Außer meinen Eltern hatte ich niemanden gehabt und war an einem Punkt angekommen, an dem ich auch keine Lust mehr auf Menschen gehabt hatte.

Das Stadtfest hatte mein letzter Versuch sein sollen, noch einmal in Kontakt zu treten und der Welt noch eine Chance zu geben, anderenfalls hatte ich vorgehabt, fortan als Hikikomori zu leben.

Ziemlich gleichgültig war ich durch die Menge gelaufen, zwischen den vielen Ständen und Buden entlang, war in Gedanken versunken gewesen und hatte deshalb nicht darauf geachtet, was direkt vor mir war.

Bis ich mit jemandem zusammenstieß. Ich hörte Münzen klingend zu Boden fallen, ein leises „Ouh!“ und akustisch unverständliches Fluchen.

Meine Umhängetasche glitt mir von der Schulter, ich bückte mich, hob sie auf und sah erst jetzt, wen ich da umgerannt hatte. Sah tiefschwarzes, schulterlanges, strähniges Haar und tätowierte Arme. Eine schmale Gestalt, die vor mir auf dem Boden kniete und hastig die herumliegenden Münzen wieder einzusammeln versuchte. Zerrissene Jeans, ein abgewetztes T-Shirt und abgetragene, schwarze Schuhe.

Er sah mich an, mit dunkelbraunen Augen, in denen eine solche Dunkelheit und Einsamkeit herrschte, die so traurig und resigniert aussahen, dass mir, zum ersten Mal seit Monaten, ein einzelnes Wort entwich: „… Entschuldigung…“

Er antwortete nicht, sondern kroch weiter auf dem Boden herum und versuchte, trotz der vielen Leute um uns herum sein Geld wieder zusammen zu suchen. Anscheinend war er einer der Obdachlosen, die das Fest zum Betteln nutzten, und ich hatte durch meine Unachtsamkeit seine gesamten Einnahmen verstreut.

Ich kniete mich hin, stellte meine Tasche ab und versuchte, ihm zu helfen. Dabei sah ich wieder seine Augen und diese wahnsinnige Trauer und Einsamkeit in ihnen. Einsamkeit, das kannte ich auch, nur zu gut. Augenblicklich fühlte ich eine Art Verbindung zu diesem Mann, der anscheinend genauso am Rande der Gesellschaft stand wie ich, wenn auch auf andere Art.

Ich öffnete meine Tasche, nahm mein Portmonee heraus und zog daraus einen Eintausend-Yen-Schein hervor, den ich ihm hinhielt.

„… Hier, …bitte …“, sagte ich leise, es fühlte sich komisch an, wieder zu sprechen.

Er sah mich ungläubig an. „… So viel?“

„Ja… Jetzt… nimm schon…“ Ich lächelte ihn an, oder versuchte es zumindest.

Er streckte die Hand aus und ich drückte ihm den Schein in die Hand, die größer war als meine. Obwohl sie nicht sauber waren, Schmutz unter den Fingernägeln und dunkle Schrammen auf der Haut, hatten seine Hände etwas Schönes an sich, etwas, das mich dazu brachte, ihn wieder anzulächeln. Einen Moment lang blickten wir uns an, dann stand er auf, steckte den Geldschein in seine Hosentasche und sagte leise: „Danke.“ Er drehte sich um, wandte sich zum Gehen, doch aus einem inneren Impuls heraus packte ich ihn am Ärmel.

Er war der erste Mensch, mit dem ich seit langem ein paar Worte gewechselt hatte und allein deshalb konnte ich ihn nicht so einfach gehen lassen. Ich wollte zumindest seinen Namen wissen.

„Warte … mal“, stotterte ich, als er mich irritiert und fragend ansah. „Wie …heißt du…?“

Er sah mich einen Moment lang an, ohne etwas zu sagen, dann antwortete er: „Nenn mich Tsuzuku.“

Tsuzuku. Ein schöner, irgendwie besonderer Name.

„Ich… bin Meto…“, sagte ich leise und fügte automatisch ein „Freut mich, dich kennen zu lernen“ an, von dem mir erst Sekunden später auffiel, dass ich es ohne jedes Stocken herausgebracht hatte.

Tsuzuku lächelte, nur ein wenig und es erreichte seine Augen kaum, aber er tat es, und erwiderte: „Freut mich auch.“

„Wo … lebst du denn…?“, fragte ich.

„Akutagawa-Kouen, unten am Fluss, bei der Brücke.“

Ich ließ seinen Arm los, er drehte sich um und verschwand wieder in der Menge. Doch ich wusste, ich würde hingehen zu diesem Park, und ihn wiedersehen.

 

„Erde an Meto!“, riss mich eine Stimme aus meinen Erinnerungen. „Hey, du träumst ja mit offenen Augen!“

Ich schreckte auf, sah Koichi an, der mich von der Seite ansah und mit der Hand vor meinem Gesicht herumwischte. Während ich so in Gedanken gewesen war, hatten wir eine Parkbank am Rande der Innenstadt erreicht und ich saß zwischen Tsuzuku und Koichi, was ich jedoch zuerst gar nicht richtig bemerkt hatte, zu versunken war ich in meinen Erinnerungen gewesen.

„Woran hast du gedacht?“, fragte Tsuzuku mich.

„Daran, wie wir uns zum ersten Mal gesehen haben, auf dem Fest“, antwortete ich leise.

Tsuzuku lächelte, einen Moment lang trat ein abwesender Ausdruck in seine Augen, weil er sich ebenso daran erinnerte, dann sagte er: „Damals hätte ich nie gedacht, dass ich mich je noch einmal verlieben würde.“

Ich drehte mich ganz zur Seite, zu ihm, um, legte meine Hand auf sein Bein und küsste ihn. Mir war völlig egal, wer zu sah und was irgendwelche Leute von mir dachten. Alles, was ich wollte, war, Tsuzuku zu zeigen, wie gern ich ihn hatte. Er erwiderte den Kuss und flüsterte an meinen Lippen: „Ich freu mich schon so auf heute Nacht.“

„Ich auch“, hauchte ich.

„Ich werde ganz lieb zu dir sein, versprochen“, sagte er, sah mir in die Augen und ich erkannte ein warmes Leuchten in seinen. Ich lehnte mich an ihn, er legte seinen Arm um mich und küsste mich wieder, ganz sanft und vorsichtig.

 

Koichi neben uns kicherte verhalten und schaute dann auf seine Armbanduhr. „Ist erst vierzehn Uhr“, bemerkte er. „Wollen wir noch irgendwo hin oder …?“

„Noch ‘nen Laden?“, fragte Tsuzuku. „Hast du denn noch Geld?“

„Kein Bargeld mehr, aber meine Karten“, antwortete Koichi. „Zu meinen neuen Schuhen brauch ich doch noch ‘ne passende Hose, oder?“

„Muss das heute sein?“

„Hast du keine Lust mehr? Ich mein ja nur, weil es noch so früh ist und so, dass wir nicht nur hier rumsitzen …“

 

Auf einmal schien Tsu etwas einzufallen, denn ein kleines, spezielles Lächeln schlich sich auf seine Lippen und er blickte rüber auf die andere Straßenseite, wo sich ein großer Drogeriemarkt befand.

„Koi, was hälst du davon, wenn du dir deine Hose alleine kaufst und Meto und ich da drüben reingehen?“, fragte er.

Koichi grinste, nickte, stand auf und nahm seine Einkaufstasche. „Okay. Dann mal viel Spaß. In zwanzig Minuten am Brunnen?“

„Ja.“ Tsuzuku erhob sich ebenfalls und nahm meine Hand. „Komm, Meto, ich will dir was zeigen.“

 

Ich verstand erst nicht, was er meinte, doch als wir Hand in Hand die Straße überquert hatten und den Laden betraten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich wurde schlagartig rot. Tsuzuku hatte doch nicht wirklich vor, mich jetzt in diese eine, gewisse Abteilung zu schleppen, oder? Auch, wenn es mir inzwischen kaum mehr peinlich war, ihn in der Öffentlichkeit zu küssen, war es doch irgendwie etwas ganz anderes, solche Sachen zu kaufen.

 

Er drehte sich zu mir um und lächelte mich an.

„Dein Ernst?“, fragte ich.

„Natürlich. Ich will wirklich, dass das heute Abend richtig schön für dich wird, deshalb suchen wir jetzt alles aus, was wir dafür brauchen“, antwortete er. „Und wegen dem Geld: Ich hab Zigaretten von meinem Zimmernachbarn bekommen, die reichen noch ein paar Tage.“

Ich konnte nicht anders, als zurück zu lächeln und seine Hand ein wenig fester zu drücken. Tsuzuku konnte einfach so wahnsinnig süß sein, gerade wenn er so gut drauf und selbstbewusst war. Ich liebte diese offenherzige, selbstsichere Art an ihm, auch wenn er mich damit regelmäßig erröten ließ. Es gab mir unheimlich viel Sicherheit, zu spüren, dass es ihm, den ich schon in so schlimmen Zuständen erlebt hatte, gerade sehr gut ging, und dass ich etwas tun konnte, damit es auch so blieb.

 

Das Regal, zu dem Tsuzuku mich führte, befand sich im hinteren Teil der Körperhygieneabteilung und war auf den ersten Blick einfach nur ein Regal mit Waren darin. Als ich jedoch genauer hinsah und die einzelnen Dinge erkannte, schlug mein Herz sofort aufgeregt schneller. Zum einen, weil ich dieses Regal bisher nie so genau in Augenschein genommen hatte, aber auch, weil mich der Anblick mit einer gewissen Vorfreude auf heute Nacht erfüllte.

Während mein Freund sich ganz gezielt suchend umsah, stand ich mit klopfendem Herzen vor der Menge an Zeug, von dem ich bei manchen Sachen gar nicht so genau wissen wollte, wozu sie da waren, und versuchte, mir einzureden, dass das alles hier völlig normal war.

‚Ganz ruhig, Meto, das sind alles nur Sachen, die Sex noch schöner machen sollen …‘, sagte ich mir.

 

Ich hörte Tsuzuku neben mir leise lachen und sah ihn an. Er deutete auf eine auffällig geformte, pinkfarbene Flasche und fragte grinsend: „Magst du Zucker?“

„Was … ist das?“, fragte ich, als er die Flasche aus dem Regal nahm und sich genauer ansah. Ich sah nur, dass ‚Love Candy‘ darauf stand und das Etikett voller rosa Herzchen war.

„Das ist, glaube ich, zum auf die Haut tun und ablecken“, sagte er, senkte dann seine Stimme zu einem Flüstern ab und fügte hinzu: „Finde ich aber überflüssig. Ich schmecke lieber deine Haut als irgendwelches Zuckerzeug.“

Ich wusste nun wirklich nicht, was ich darauf antworten sollte, und blickte stattdessen umher, doch dabei fiel mein Blick nur wieder auf die Sachen um mich herum. Wenn ich mir vorstellte, wozu das alles gut war und wie sich das vielleicht anfühlen würde …

 

Tsu nahm derweil eine Packung Kondome und eine Tube Gleitmittel aus dem Regal, legte beides wie selbstverständlich in den Einkaufskorb und fragte dann, als wäre es das Normalste von der Welt: „Willst du irgendwas Besonderes?“

„Was Besonderes?“, fragte ich.

„Ja. Irgendwas, das du ausprobieren willst.“

Ich hob die Schultern, mir fiel nicht wirklich etwas ein, was ich ausprobieren wollte. Zumindest nichts, wofür ich etwas von den Sachen hier gebraucht hätte.

„Ich weiß nicht“, sagte ich. „Ich hab, ehrlich gesagt, noch nie wirklich darüber nachgedacht.“

„Ist ja okay. Ich dachte nur, falls dir was gefällt … Weißt du, ich will es wirklich schön für dich werden lassen und …“

„Vielleicht irgendwann später“, unterbrach ich ihn. „Ich will heute Nacht nur ganz normalen Sex mit dir. Es reicht mir, wenn du lieb zu mir bist.“

Tsuzuku lächelte leicht. „Das werde ich auf jeden Fall sein.“

 

Wir gingen die beiden Sachen im Korb bezahlen und als ich sah, dass Tsu jetzt wieder sein ganzes Geld ausgegeben hatte, dachte ich kurz daran, wie es wäre, wenn wir beide arbeiten würden und er genug Geld hätte. Anscheinend bekam er im Tempel ein wöchentliches Taschengeld von eintausend Yen und war auch an Zigaretten gekommen.

Ich war mir sicher, dass er, wenn er wieder arbeitsfähig sein würde, noch ein ganzes Stück selbstbewusster würde und darauf freute ich mich.

 

Die Kassiererin achtete gar nicht großartig auf das, was wir da kauften, und sah uns auch nicht komisch an. Vielleicht lag es daran, dass Tsuzuku so selbstbewusst und selbstverständlich auftrat, dass einem gar nicht einfiel, irgendwas an ihm und mir ungewöhnlich zu finden.

 

Wir gingen langsam in Richtung Stadtbrunnen, wo wir ja Koichi wieder treffen wollten. Als wir dort ankamen, war er noch nicht da und so setzten wir uns hin und warteten. Tsuzuku legte seinen Arm um mich und ich lehnte mich an seine Schulter, legte meine Hand auf sein Bein. Eine ganze Weile saßen wir einfach so da und beobachteten die Leute, die über den Platz vorbeieilten.

 

„Oh. Mein. Gott. Wie süß!“, hörte ich eine weibliche Stimme von der anderen Seite des Platzes, sah hin und erblickte eine Gruppe Mädchen in Schuluniformen, die zu uns herüberschauten.

„Ein echtes schwules Paar, ist das niedlich!“

Ich sah Tsu an, er hob eine Augenbraue und warf einen leicht genervten Blick in Richtung dieser Mädchen. Eine von ihnen hatte sich aus der Gruppe gelöst und kam auf uns zu.

„Ihr seid ein Paar, oder?“, fragte sie.

„Ja, sind wir. Aber ich wüsste nicht, was dich das angeht“, gab Tsuzuku zurück.

Das Mädchen ließ sich jedoch von seinem dezent genervten Ton nicht beeindrucken und antwortete: „Ihr seid süß.“

„…Danke“, sagte ich und versuchte so was wie ein Lächeln.

 

In dem Moment kam Koichi von der anderen Seite auf uns zu, winkte fröhlich und hielt drei große Einkaufstüten hoch. „Hey, habt ihr schon Fangirlies?“

Das Mädchen starrte Koichi einen Moment lang mit einem leuchtenden Blick an, wie kleine Mädchen Märchenprinzessinnen ansahen, dann quietschte sie etwas, das so ähnlich wie „Noch so ein Hübscher!“ klang und rannte daraufhin begeistert zu den anderen Mädchen zurück, die aufgeregt schnatterten und dann den Platz verließen, sich jedoch immer wieder nach uns umschauten.

 

Tsuzuku legte den Kopf in den Nacken, seufzte und verdrehte die Augen.

„Magst du keine Fangirlies?“, fragte Koichi.

„Entschuldigung, aber was geht es fremde Mädels an, ob ich ‘nen Freund habe?!“

„Mädchen finden so was eben niedlich“, sagte Koichi.

Ich wusste nicht recht, was ich von dieser kurzen Szene halten sollte. Mit Mädchen wie Haruna, Hanako oder Yami, die einfach locker, cool drauf und nett waren, kam ich ziemlich problemlos klar, aber solche wie diese Gruppe eben fand ich irgendwie … schwierig. Ich konnte sie nicht richtig einschätzen und ihr quietschendes Süß-Gehabe war mir ein bisschen unheimlich und unangenehm.

 

„Habt ihr alles, was ihr braucht?“, fragte Koichi.

Ich nickte, deutete mit einer unbestimmten Handbewegung auf die Tüte vom Drogeriemarkt.

Koichi schaute auf seine Armbanduhr. „Fast drei Uhr“, informierte er uns.

„Das ist ja immer noch viel zu früh“, seufzte Tsuzuku.

„Was kann man denn noch machen?“, überlegte Koichi laut.

 

„Meto hat ‘ne Menge gute Filme zu Hause“, sagte Tsuzuku nach einer Weile.

„Also machen wir einen Filmnachmittag bis heute Abend?“, fragte Koichi. „Meto, was meinst du?“

Ich nickte, da mir auch nichts Besseres einfiel und ich es mir ganz nett vorstellte, mit meinem Liebsten und seinem besten Freund zusammen Filme zu schauen.

 

Wir machten uns auf den Weg zu mir nach Hause. Tsuzuku hielt die ganze Zeit über meine Hand und ich spürte seine Verliebtheit, wie sehr er sich auf heute Abend freute.

Zuhause angekommen fand ich auf dem Küchentisch eine Nachricht von Mama: „Yuu, Schatz, ich habe heute sehr, sehr viel zu tun und bleibe bis heute Nacht in der Kanzlei. Ich hab dir Essen zum Aufwärmen in den Kühlschrank gestellt. Mach dir einen schönen Abend. Hab dich lieb. Mama“

‚Sturmfrei‘, dachte ich und ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Papa war seit gestern wegen irgendeiner beruflichen Angelegenheit unterwegs und wenn jetzt auch Mama die Nacht über wegblieb, hatten Tsu und ich dann das Haus für uns.

 

„Hast du sturmfreie Bude?“, fragte Koichi.

Ich nickte strahlend. Tsuzuku stand hinter mir, legte die Hände an meine Seiten und ich schmiegte mich automatisch an ihn, angezogen von seiner Wärme.

„In einem hatten die Mädchen vorhin Recht“, sagte Koichi. „Ihr zwei seid wirklich sehr süß.“

 

Wir gingen rauf in mein Zimmer und ich suchte ein paar verschiedene Filme aus meinem Regal.

„Ich wär für einen Liebesfilm“, sagte Koichi. „Hast du so was richtig Süßes?“

„Du immer mit deinem Süßkram“, widersprach Tsuzuku. „Ich will ‘nen Actionfilm.“

Die beiden waren so verschieden, dass ich grinsen musste. Ich selbst wusste gar nicht, was für einen Film ich sehen wollte, entschied mich dann aber für einen Anime, bei dem der Text auf der Rückseite sowohl Romantik, als auch Action versprach.

 

„Ich hab irgendwie so gar keine Lust auf Anime“, sagte mein Freund und beharrte weiter auf seinem Actionfilm. Ich legte ihm sämtliche Filme dieser Art, die ich besaß, vor, und Koichi sah sich diese auch gleich mit an auf der Suche nach dem mit dem größten Romantikanteil. Mir war es irgendwie egal, ich kannte alle meine Filme und würde mich, wenn ich beim Anschauen neben Tsu auf meinem Bett lag, sowieso nicht recht auf die Handlung auf dem Bildschirm konzentrieren können.

 

Irgendwann hatten wir uns dann doch auf einen ‚Batman‘ geeinigt, was Koichi mit einem „Ihr schuldet mir jetzt aber noch ‘nen Filmabend mit Liebesfilmen!“ quittierte, es sich aber gleich daraufhin auf meinem Bett bequem machte. Ich ging, bevor der Film anfing, noch mal runter und holte Knabberzeug aus der Küche, welches Koichi gleich für sich beschlagnahmte.

„Hey, gib auch mal her, du bist hier nicht der einzige, der Hunger hat!“ Mit diesen Worten griff Tsuzuku nach der randvoll mit Chips gefüllten Schüssel und nahm sich eine Handvoll heraus.

„Keine Angst, mir geht’s gut“, sagte er auf meinen etwas besorgten Blick hin und lächelte. „Ich hab nur heute noch nichts außer Reis und Keksen gegessen.“

„Heute Morgen hattest du Bauchweh“, gab ich zu bedenken.

„Ist längst weg. Mir geht’s wirklich gut.“ Tsu lächelte und schob sich einen der Chips in den Mund.

 

Ich hatte den Film schon ein paar Mal gesehen und so war es mir weniger wichtig, jede Sekunde der Handlung mitzubekommen. Viel lieber beobachtete ich Tsuzuku, wie er neben mir auf meinem Bett saß und gespannt das verfolgte, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Ab und an griff er in die inzwischen halb leere Chipsschüssel, was so normal aussah, als wäre er völlig gesund.

Einen Moment lang ließ ich die Hoffnung zu, dass er vielleicht wirklich gesund war, doch wirklich glaubte ich es nicht, obwohl es ihm ja offensichtlich sehr viel besser ging. Bulimie oder Magersucht, beides heilte ja nicht einfach so und war dann weg.

Es war toll, wunderschön, dass es ihm gerade so gut ging, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass es mehr eine gute Phase als eine wirklich nachhaltige Besserung war.

 

Als der Film vorbei war, wurde es draußen schon langsam dunkel. Koichi stand auf, streckte sich und zog seine Jacke wieder an.

„Dann lass ich euch zwei Turteltäubchen mal alleine“, sagte er.

„Ich … bring dich noch zur Tür“, erwiderte ich und stand ebenfalls auf.

Tsuzuku blieb sitzen, sagte Koichi von da aus Tschüss.

 

„Du bist echt sein Ein und Alles“, sagte Koichi zu mir, als wir unten an der Tür standen.

„Ich …weiß“, antwortete ich. „Aber … er hat ja… auch noch dich…“

„Aber du bist es, wegen dem er in meinen Armen geweint hat. Den er jedes Mal vermisst. Meto, ich glaube, diese tiefe Liebe zwischen euch, das ist das Einzige, was ihm wirklich helfen kann, gesund zu werden.“

„Deshalb… will ich ja auch …mit ihm zusammen … leben…“, sagte ich. „Ich will …immer für ihn da sein und ich will ihn glücklich machen.“ Es war das erste Mal, dass ich das so jemand anderem gegenüber aussprach. Und ich brachte diese Worte fast ohne Stocken heraus.

„Wenn ihr Hilfe braucht, dann bin ich da, okay?“ Koichi lächelte.

Ich öffnete die Tür und er ging hinaus, winkte mir noch zu und ging dann davon.

 

Als ich wieder in mein Zimmer kam, hatte Tsu den Fernseher ausgestellt und die Schublade unter meinem Bett aufgezogen, in der ich ja einen Teil seiner Sachen aufbewahrte.

„Hattest du mir nicht mal ein Handtuch gekauft?“, fragte er, als er mich sah.

„Weiß nicht. Wieso?“

„Ich würde gern vorher mit dir duschen gehen.“

„Du kannst doch eins von meinen Handtüchern nehmen“, sagte ich und sah jetzt erst, was Tsu noch gemacht hatte, während ich unten gewesen war: Er hatte die bunten Teelichter, die ich sonst auf meiner Fensterbank stehen hatte, auf meinen Nachttisch geräumt, in Form eines kleinen Herzens aufgestellt und stattdessen Ruana auf die Fensterbank gesetzt, wo sie nach draußen schaute. Neben dem Teelicht-Herz befanden sich die Packung Kondome, die Tube mit dem Gleitmittel und eins meiner Halstücher, zu einer Art Binde zusammengefaltet, was mich augenblicklich an die Augenbinde im Love Hotel denken ließ.

„Tsu …“ entfuhr es mir. „Du bist so süß …“

„Ich wollte mal romantisch sein“, sagte er, lächelte kurz und öffnete dann die Tür, um in Richtung meines Badezimmers zu verschwinden.

 

Ich folgte ihm, erreichte ihn an der Badezimmertür und legte von hinten meine Arme um ihn, so, wie er es immer bei mir tat. Er drehte sich in meinen Armen zu mir um und ich knutschte ihn kurzentschlossen gegen die Tür, die jedoch nachgab, weil er sie im selben Moment öffnete, sodass wir fast hingefallen wären. Gerade noch so fing er sich und mich irgendwie auf, lachte, küsste mich und löste sich dann von mir, um sich das Shirt über den Kopf zu ziehen und seine Hose zu öffnen. Ich tat es ihm gleich, bis wir beide unbekleidet im Raum standen und dann zusammen unter die Dusche huschten, wo das warme Wasser auf uns niederregnete.

Es wurde keine lange Dusch-Session, sondern nur ein kurzes Waschen, bei dem nicht mal unsere Haare richtig nass wurden. Der einzige Zweck dieser Aktion war, uns ein bisschen anzuheizen und dafür zu sorgen, dass wir beide gut dufteten. Das richtige Duschen war morgen früh wieder dran.

 

Als wir damit fertig waren, sah Tsuzuku mich ein wenig geheimnisvoll an und sagte: „Warte mal einen Moment hier. Ich will noch eben was vorbereiten.“

„Was denn?“, fragte ich.

„Lass dich überraschen“, sagte er nur, zog sich meinen Bademantel über und verschwand in Richtung meines Zimmers.

Ich ging in der Zeit noch einmal auf die Toilette, dann hörte ich meinen Freund auch schon nach mir rufen. Mit vor Vorfreude klopfendem Herzen wickelte ich mir ein Handtuch um und ging zurück in mein Zimmer.

 

Das erste, was ich sah, waren die heruntergelassenen Rollläden und ein schimmerndes Licht, das von den Teelichtern ausging, die auf meinem Nachttisch brannten. Tsuzuku saß auf der Kante meines Bettes, seine dunklen Augen leuchteten vorfreudig und er deutete lächelnd neben sich, wo er eine wahnsinnig gemütlich aussehende Landschaft aus meinen Kissen und Decken aufgebaut hatte.

Er stand auf, kam auf mich zu und nahm meine Hand, führte mich zum Bett und drückte mich sanft darauf nieder, bevor er sich wieder neben mich setzte, seine Hand an meinen Hals legte und unsere Lippen zu einem liebevollen, weichen Kuss verschloss.

 

„Ich liebe dich, Meto“, sprach er, sah mir dabei in die Augen und so sah ich, wie ernst er diese Worte meinte, wie viel es ihm bedeutete. „Und ich werde alles tun, was ich kann, damit das hier nur schön für dich wird.“

„Mach dir keinen Druck“, sagte ich. „Sei einfach du selbst, das mag ich am liebsten.“

„Wirklich?“

„Ja.“ Hatte ich ihm eigentlich je gesagt, wie sehr ich seine selbstbewusste Seite liebte? „Ich mag das sehr, wenn du weißt, was du willst. Es gibt mir Sicherheit, wenn ich weiß, dass du dich gut und stark fühlst.“

„Warum eigentlich?“

„Ich hab dich so oft traurig und schwach erlebt, und manchmal hatte ich solche Angst um dich. Ich hatte Angst, dass du zerbrichst, deshalb macht es mich sehr glücklich, zu sehen, dass es dir jetzt besser geht und dass du wieder stärker geworden bist“, sprach ich ehrlich meine Gefühle aus und erntete dafür einen weiteren Kuss.

„Du bist wundervoll, Meto, weißt du das?“

 

Ich rutschte rückwärts Richtung Kopfende und ließ mich in die weichen Kissen sinken, schloss für einen Moment die Augen und spürte, wie Tsuzuku mir nachkam, sich über mich beugte und seine Lippen wiederum auf meine legte, mich lange und liebevoll küsste und dann sein Tun auf meinen Hals ausdehnte, wo er vorsichtig saugte und knabberte, was mir ein erstes leises Seufzen entlockte. 

 

Kurz verschwanden seine Lippen von meiner Haut, ich hörte Stoff rascheln, als er den Bademantel auszog und irgendwohin fallen ließ, dann spürte ich, wie er seine Lippen auf mein linkes Schlüsselbein tupfte und schließlich mein Tattoo küsste, bevor er mich einige Sekunden gespannt warten ließ und dann seine unendlich weichen, süßen Lippen auf meine Brustwarze drückte und wiederum vorsichtig saugte, was augenblicklich dafür sorgte, dass sich ein leises Stöhnen aus meiner Kehle löste und mein Blut sich in südlichere Gebiete aufmachte. Und dass sich jenes angenehme Ziehen in meinem Innern ausbreitete.

 

„Ich liebe es, wie du das liebst“, sprach Tsuzuku leise, seine Stimme klang sanft und dunkel.

„Mach … weiter…!“, forderte ich und bog ihm leicht meinen Oberkörper entgegen zum Zeichen, dass ich schon jetzt nicht genug von seinen Zärtlichkeiten bekam.

Tsuzuku rutschte ein Stückchen weit Richtung Fußende, beugte sich über meinen Bauch, wobei er sich mit der einen Hand auf der anderen Seite abstützte und die andere auf meine Brust legte, und küsste weiter meinen Körper, während seine Hand sich mit meiner rechten Brustwarze befasste, zuerst vorsichtig, doch langsam immer fester massierend, weil er wusste, wie sehr ich das mochte.

Seine Lippen tasteten über meine Bauchdecke und ich spürte, dass er jeden einzelnen kleinen Kuss mit Bedacht setzte, um genau herauszufinden, was ich mochte und womit er mich heiß machen konnte. Zwischendurch spürte ich immer wieder auch seine Zunge, die mal flink und mal langsam über meine Haut leckte und dafür sorgte, dass sich meine Atmung beschleunigte.

 

„Mmmhh, viel besser als so ein Zuckerzeug“, murmelte er, ich schaute ihn an, sah im Licht der Kerzen dieses eine, besondere Lächeln auf seinen Lippen. Er richtete sich auf, kletterte zwischen meine leicht angewinkelten, gespreizten Beine und fuhr von da aus fort, meinen Oberkörper nach allen Regeln der Kunst zu küssen, zu lecken und zu streicheln, bis er mich vollkommen heiß und kribbelig hatte.

Ich erinnerte mich, soweit mein von Tsuzukus unglaublichen Zärtlichkeiten benebeltes Gehirn noch dazu in der Lage war, daran, wie er in unserer ersten Nacht gesagt hatte, dass er mich am liebsten von oben bis unten abküssen hatte wollen. Diesen Wunsch schien er sich jetzt zu erfüllen und ich genoss es sehr, jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem ich ihn ebenfalls berühren wollte.

 

Er war inzwischen bei meinen Oberschenkeln angelangt, küsste und streichelte die empfindlichen Innenseiten und kam dabei meiner längst glühend heißen Körpermitte immer näher. Es war absolut wundervoll, so von ihm verwöhnt zu werden, doch jetzt wollte ich dasselbe mit ihm machen, wollte ihn lustvoll seufzen hören.

 

Und so setzte ich mich auf, stützte mich mit der einen Hand im Kissen ab und legte die andere an seine Brust, berührte erst das Implantat, dann Tsuzukus Nippel, die ich, sehr vorsichtig, zu massieren begann, was ihn aufstöhnen ließ. Schon die kleinste liebevolle Berührung dort schien ihn sehr zu erregen und so senkte ich den Kopf, bedeutete ihm, sich ein wenig zu strecken, und streifte dann, zum ersten Mal und immer noch sehr vorsichtig, mit meinen Lippen über diese hypererogenen Knospen, küsste dann etwas mutiger und lauschte seinem immer lauteren Stöhnen.

„Aahhh … Meto …! Oh Gott, … ist das schön …!“

Seine Worte ließen ein Lächeln über meine Lippen huschen, das jedoch einem lauten Seufzen wich, als ich seine Hand an meiner Erregung spürte, seine Fingerkuppen, die quälend langsam über die Spitze strichen, was das Ziehen in meinem Innern stärker werden ließ.

 

Kurzentschlossen streckte ich die Hand aus, berührte meinerseits seine Härte und spürte, wie erregt er schon war, seinen heißen Pulsschlag gegen meine Handfläche. Nicht mehr lange, und ich würde diese harte Hitze in mir spüren. Die Erinnerung daran und an das heiße Ziehen, der Gedanke daran, mit ihm, den ich so sehr liebte, eins zu werden, sorgte dafür, dass mir der oben verbliebene Teil meines Blutes in die Wangen stieg.

 

„Bist du soweit?“, fragte Tsuzuku leise und nahm seine Hand von meiner Erregung weg.

Ich ließ ihn ebenfalls los, fühlte in mich hinein, versuchte die Signale meines eigenen Körpers zu lesen und nickte dann. Ja, ich war soweit, bereit dafür, ihn mein Inneres ein zweites Mal erobern zu lassen. Mein Körper sehnte sich schon danach, eins mit seinem zu sein, und wieder dieses starke, heiße Ziehen zu spüren, das ich so liebte.

 

„Dann leg dich hin“, forderte mein Liebster mich auf, und ich ließ mich wieder in die Kissen sinken, sah im Schein der immer noch brennenden Teelichter, wie Tsu den Platz zwischen meinen Beinen verließ, sich das Gleitmittel vom Nachtschrank nahm und sich dann zu mir legte. Er legte seinen Arm um mich und zog mich auf die Seite, sodass ich sein Gesicht sehen konnte, rutschte dann ein bisschen runter und streichelte noch ein wenig meinen Rücken, bevor er seine Hand weiter herunterwandern ließ und seine Finger nach meinem Eingang tasteten. Und fast so wie bei unserem ersten Mal spürte ich, sobald sein Finger fand, was er suchte, und dagegen drückte, Tsuzukus Lippen auf meiner Brust, meinen Nippeln. Seine Hände hinter meinem Rücken öffneten mit einem leisen Klacken die Tube und ich wusste, dass er sich etwas von ihrem Inhalt auf die Finger tat, denn kurz darauf spürte ich das kühle Zeug zwischen meinen Pobacken.

 

Wissend, dass er mich damit vollkommen entspannen konnte, küsste, leckte, saugte er an meinen Nippeln, und drängte gleichzeitig vorsichtig seinen Finger in mich, suchend nach jenem süßen Punkt, dessen Berührung mich schreien ließ. Als er diesen fand und mit der Fingerkuppe darüber rieb, keuchte ich laut auf, drückte mich enger an ihn und krallte meine Hand in seinen Rücken.

 

„Du kannst gern schreien, wir sind doch allein im Haus“, sagte er. „Es hört niemand außer mir.“

Und rieb wieder über diese Stelle in mir. Dieses Mal konnte ich nicht anders, als zu schreien, und in dem Moment nahm er einen zweiten Finger dazu, begann, meinen Eingang zu dehnen, während sein Mund weiter meinen Nippeln Aufmerksamkeit schenkte und so dafür sorgte, dass sich mein Muskelring nicht wieder anspannte. Ich schrie, stöhnte, wand mich in seinen Armen, wusste kaum wohin mit meiner Lust, wäre am liebsten schon jetzt gekommen, doch ich beherrschte mich geradeso, wissend, dass das immer noch erst die Vorbereitung war.

 

Süße Folter, wie sie Tsuzukus leicht sadistischer Seite im Bett ähnlich sah. Einerseits war er so absolut lieb und vorsichtig zu mir, weil er mich über alles liebte, doch auf der anderen Seite war da seine Lust, das, was ihn geil machte und das war nun einmal diese Sache mit der Macht und dem Mich-Erobern, etwas, das mir jedoch nicht weniger gefiel als seine liebevolle Seite.

 

Je härter er seine Finger in mich drängte, umso stärker wurde das Ziehen und umso heißer wurde ich (falls das überhaupt noch möglich war), doch auf einmal erinnerte ich mich daran, dass er mir den ganzen Tag über immer wieder versprochen hatte, heute Abend, also jetzt, ganz lieb zu mir zu sein.

„Tsu …“, keuchte ich atemlos, „Weißt du noch, … was du … aahhh … mir heute versprochen hast…?“

Er stoppte augenblicklich, sah mich an, und ich hörte ein leises „Ja. Entschuldige bitte …“

„Alles gut“ erwiderte ich. „Ich dachte nur … heute vielleicht etwas sanfter …?“

„M-hm“, machte er, schien verstanden zu haben, dass ich damit keineswegs meinte, dass mir seine ‚härtere Tour‘ nicht gefiel oder so.

 

Er machte noch ein wenig weiter mit der Vorbereitung, jetzt um einiges sanfter und liebevoller. Und als er dann seine Finger aus mir zurückzog und seine Lippen von meinen Nippeln löste, die sich schon ganz geschwollen und glühheiß anfühlten, war ich absolut tiefenentspannt und hätte schnurren können wie eine rollige Katze.

„Meto, ich hab mir ein paar Gedanken gemacht, was die Stellung angeht. Ich würde gern hinter dir liegen und dich dabei im Arm halten, das wäre um einiges sanfter, als wenn ich’s so mache wie beim letzten Mal“, sprach Tsuzuku und rutschte wieder so weit hoch, dass wir auf Augenhöhe waren. „Du winkelst am besten die Beine ein wenig an, dann komme ich leichter rein, und ich würde mich nur bewegen, statt in dich zu stoßen.“

Wie machte er das, diese Sachen mit einer solchen Ruhe und so völlig schamlos auszusprechen? Nicht mal rot wurde er, soweit ich das bei diesen Lichtverhältnissen sehen konnte.

„M-hm …“, war das einzige, was mir zu sagen einfiel. Ich löste mich ein wenig von ihm, um mich auf die andere Seite zu drehen, und zog die Knie ein Stückchen weit hoch, so wie er gesagt hatte. Er setzte sich kurz auf, griff nach dem neben der Schachtel liegenden Kondom, packte es aus und rollte es über seine Härte ab, um sich dann wieder neben mich zu legen.

 

Tsuzuku schmiegte sich an meine Kehrseite, schob seinen rechten Arm unter meinen Hals, legte den linken um mich und streichelte zuerst einfach nur meinen Bauch, ehe er seine Hand herunter wandern ließ und meine Erregung berührte. Kurz nahm er seine Hand nach hinten, prüfte, ob ich noch entspannt genug war, und drang dann vorsichtig in mich ein.

Es spannte immer noch ein wenig, tat jedoch kaum weh und ging anscheinend ganz leicht, kein Wunder bei der Menge an Gleitmittel, die seine Finger zuvor in mir verteilt hatten. Es war ein wunderschönes Gefühl, so mit ihm vereint zu sein, ihn so nah bei mir zu wissen und seine Lust und Liebe beide auf einmal zu spüren.

Als er schließlich fast ganz in mir war, nahm er seine Hand wieder nach vorn, um sie an meine Körpermitte zu legen und mich dort zu berühren, nur ganz leicht, damit ich nicht zu früh kam.

 

„Ich liebe dich“, sagte er leise, bevor er langsam begann, sich zu bewegen, und gleichzeitig meinen Nacken zu küssen. „Oh Gott, Meto, ich liebe dich so wahnsinnig, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“

Mir entfuhr ein leises, ganz leichtes Kichern, so gerührt war ich von seinen Worten. Als er jedoch den Winkel seiner Bewegung nur ein wenig veränderte und meinen Lustpunkt traf, wurde dieses Kichern zu einem tiefen Stöhnen, von dem ich selbst ein wenig überrascht war, weil ich nicht damit gerechnet hatte, so plötzlich eine so heftige Lustwelle zu verspüren. Ich drängte meinen Hintern seiner Körpermitte entgegen, wodurch er noch tiefer in mich drang und ebenfalls aufstöhnte. Der hocherregte Klang seiner wunderschönen Stimme trieb mir einen heißen Schauer über den Körper und ließ mich leicht erzittern. Eine etwas eigenartige Empfindung ergriff mich, irgendetwas zwischen dem Verlangen, möglichst bald zum Höhepunkt zu kommen, und dem Wunsch, dass das hier nicht so bald enden sollte, weil es einfach so absolut wunderschön war.

 

Tsuzuku nahm mich vorsichtig und liebevoll, streichelte mit der oberen Hand immer wieder über meinen Oberkörper und drückte dann sanft auf meinen Bauch, genau dorthin, wo ich dieses heiße, inzwischen beinahe schmerzhaft schöne Ziehen verspürte. Woher er davon wusste, wusste ich nicht, nur, dass es sich unendlich gut anfühlte. Ich stöhnte erlöst, hatte mich unterbewusst die ganze Zeit danach gesehnt, dass er dieses Ziehen irgendwie bemerkte und darauf einging.

„Ist das noch was, was du magst?“, fragte er, und ich nickte.

Seine Hand blieb jetzt dort liegen und drückte vorsichtig, während er sich weiter in mir bewegte und ich meine eigene Erregung umfasste, nicht mehr länger fähig, den Höhepunkt hinauszuzögern.

 

Als die heißen Blitze durch meinen Körper schossen und es mich überrollte, wurde das Ziehen zu Feuer, und das letzte, was ich spürte, bevor ich für einen Moment ins Nichts voller leuchtender Sterne verschwand, war, dass sich mein Eingang um Tsuzukus Erregung zusammenzog, er mit einem Mal hart in mich stieß und laut aufschrie vor Lust. Ich spürte nicht, wie er sich aus mir zurückzog, doch als ich wieder halbwegs bei Sinnen und Verstand war, lag er schwer atmend neben mir und zog sich gerade das Kondom ab.

 

„Meto?“, fragte er, klang ein wenig besorgt. „Alles okay?“

Ich nickte, mein Sprechzentrum war noch nicht wieder einsatzbereit.

„Du hast so sehr gestöhnt, ich hab mich richtig ein bisschen erschrocken“, informierte er mich über etwas, das ich selbst im Moment meines Höhepunktes gar nicht selbst mitbekommen hatte. Augenblicklich wurden meine Wangen glühheiß und ich wandte den Blick ab.

„Hey, das muss dir nicht peinlich sein. Ich hab dir das nur … irgendwie nicht zugetraut.“ Er lachte leise, erhob sich dann und warf das Kondom in den Mülleimer neben meinem Bett. Dann nahm er eine Packung Taschentücher von meinem Schreibtisch und warf sie mir hin. „Mach dich sauber und dann geh am besten mal kurz auf die Toilette.“

„M-hm“, machte ich, bekam immer noch nicht mehr heraus.

 

Langsam und mit zitternden Beinen erhob ich mich und ging nackt über den Flur in mein Badezimmer, wo ich mich erst einmal im Spiegel betrachtete. Ich konnte keine Knutschflecken oder dergleichen feststellen, nur war ich nassgeschwitzt, meine Brustwarzen waren ziemlich gerötet und meine Haare sahen dezent furchtbar aus. Ich strich sie ein wenig glatt, dann setzte ich mich auf die Toilette.

 

Als ich dann schließlich wieder in mein Zimmer kam, hatte Tsuzuku die Kerzen ausgemacht und lag schon im Bett. Als er mich sah, lächelte er und schlug die Bettdecke beiseite, sodass ich mich neben ihn legte und mich an seinen warmen Körper schmiegte.

„Und hat es dir gefallen?“, fragte er leise und strich mir durchs Haar.

Ich sah ihn mit großen Augen an. Das fragte er noch, ob es mir gefallen hatte?! Nach dem heißesten, schönsten, liebevollsten Sex, den wir bisher gehabt hatten?

„Natürlich!“, antwortete ich, drehte mich auf die Seite, ihm zu, und küsste ihn. „Es war absolut wundervoll.“

 

Tsuzuku lächelte mich an, legte seinen Arm um mich und küsste mich seinerseits, ganz lieb und sanft und süß.

„Fand ich auch“, sagte er schließlich, seine Stimme klang schon müde.

Ich nahm ihn in meine Arme, er schlief irgendwann ein und kurz darauf war ich auch schon im Land der Träume.

1.

[MiA]

 

Ich sah Meto nicht mehr. Das kurze Wiedersehen am Stadtbrunnen hatte mir gezeigt, dass es für uns auch freundschaftlich keine Zukunft gab. Ich würde immer, wenn ich ihn sah, in ihn verliebt sein, und es würde nur wehtun, denn er gehörte nun einmal zu Tsuzuku. Ich sah es inzwischen als Tatsache an, dass die beiden schon ein Paar gewesen waren, bevor ich Meto kennen gelernt hatte. Vielleicht hatten sie es zuerst selbst nicht gewusst, doch Haruna, die ich noch einmal traf, schien ebenfalls davon überzeugt zu sein, und ich hatte, nachdem Hizaya ja am Brunnen dabei gewesen war, auch mit ihm darüber gesprochen und er war derselben Meinung.

 

Meine Tage verbrachte ich entweder auf der Arbeit, bei Mariko oder mit Hizaya und seiner Clique. Hizaya und Taru arbeiteten als Models für eine Szenezeitschrift und wenn die beiden keine Zeit hatten, traf ich mich mit Yasu oder Yukiya. Kamiki, dem, wie ich erfuhr, nicht nur der Club, sondern auch ein kleines Musiklabel gehörte, hatte weniger Zeit für Treffen, war aber einmal in der Woche in seinem Barock-Club, wo ich mich ebenfalls oft aufhielt und, seit ich das entsprechende Outfit besaß, immer eleganter und anstandsgetreuer verhielt, meinen neuen Freunden ähnlicher wurde. In den Techno-Club ging ich jedenfalls nicht mehr.

 

Es wurde Winter und mein Herz heilte langsam. Ob ich Meto jemals ganz würde vergessen können, wusste ich nicht, und irgendwo hoffte ich auch, dass er mich nicht völlig vergaß, doch ich hatte fest beschlossen, ihn nie wieder zu sehen. Es war besser für uns beide. Manchmal musste ich noch an ihn denken, doch das ließ ich vorbeiziehen.

 

Insgesamt konnte ich sagen, dass ich nun endlich, nachdem ich schon über ein Jahr in dieser Stadt lebte, endlich hier angekommen war, und auch, wenn schwierige, komplizierte Tage hinter mir lagen, so war ich doch glücklich.

 

 

2.

[meto]

 

Auf das zweite Mal Sex folgte ein drittes, ein paar Wochen später, und immer so weiter. Tsuzuku und ich sahen uns fast jeden Tag, wenn ich ihn im Tempel besuchte, doch er kam, entgegen meiner und auch seiner Erwartung, nicht so oft mit zu mir nach Hause, um mit mir zu schlafen, wie wir beide gedacht hatten.

Stattdessen saßen wir viele Stunden zusammen im Tempel, er erzählte er mir von der Therapie, von der Weisheit und Gelassenheit der Mönche und, zum ersten Mal, auch von einigen Dingen aus seinem alten Leben, davon, was seine Mutter für ein Mensch gewesen war und wie er mit ihr gelebt hatte. Er weinte oft, doch es war ein anderes, ein heilsames Weinen, das nie damit endete, dass er sich verletzte.

Mit dem Essen wurde es auch langsam besser. Koichi und ich gingen einige Male mit ihm zusammen Essen und jedes Mal schaffte er ein wenig mehr.

Einmal war sie wieder da, die Dunkelheit, doch ich hielt Tsuzukus Hand und führte ihn zurück ans Licht, ohne dass er sich schnitt oder erbrach.

 

Wir sprachen einige Male darüber, wie es sein würde, zusammen in die andere Stadt zu ziehen, und Koichi nahm mich einmal mit zu seiner Arbeit, damit ich sah, wie Arbeiten funktionierte. Ich stellte mich wohl trotz meines Sprachfehlers (den die Mädchen in dem Café seltsamerweise ‚süß‘ fanden) recht gut an und Koichi versprach, zu versuchen, dass ich in diesem oder einem anderen Café der Kette einen Job bekam.

 

Was meine Eltern und mich betraf: Sie gaben sich große Mühe, dass wir wieder eine Familie wurden. Wir machten Ausflüge (bei denen Tsuzuku zweimal auch mit dabei war), Mama redete viel mit mir und auch Papa versuchte, wieder mehr Kontakt zu mir zu finden. Als ich ihnen erzählte, dass ich ausziehen und mit Tsuzuku zusammen leben wollte, weinte Mama ein wenig, sagte dann jedoch, dass es wohl für mich und mein Erwachsenwerden das Beste sei, wenn ich lernte, auf eigenen Füßen zu stehen. Papa meinte, dass er nur hoffte, dass ich das mit dem Arbeiten hinbekam, und ich versprach ihm, mein Bestes zu geben.

 

Ein bisschen Angst vor der Zukunft hatte ich schon, weil ich ahnte, dass es nicht immer einfach sein würde, doch ich war überzeugt, dass Tsuzuku und ich das schon zusammen packen würden. Wir waren ja nicht allein auf der Welt.

 

 

3.

[Tsuzuku]

 

Hitomi kam nicht mehr in den Tempel zurück. Ich erfuhr, dass sie vom städtischen Krankenhaus sofort in die nächste Psychiatrische Klinik gebracht worden war und dort behandelt wurde.

Irgendwann fiel mir natürlich wieder ein, was Frau Sato in jener Nacht, als Hitomi sich verletzt hatte, gesagt hatte. Doch ich sprach nicht darüber, mit niemandem, das Wort ‚Borderline‘ kam mir nie über die Lippen. Und so trug ich den Verdacht, selbst unter dieser Störung zu leiden, hintergründig mit mir herum. Oft vergaß ich es wieder, dann, wenn es mir gut ging, doch wenn er wieder hochkam, verschloss ich alles, was damit zusammenhing, mit aller Kraft hinter dieser Tür in meiner Gedankenwelt, ließ nichts davon nach draußen.

 

An meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag ging ich mit Meto ins Kino und übernachtete danach bei ihm. Wir taten jedoch nicht viel zusammen, weil ich an diesem Tag irgendwie immerzu an Mama denken musste und mich deshalb auf nichts anderes wirklich konzentrieren konnte.

Weihnachten verbrachten wir ebenfalls zusammen, und an Silvester ging ich, weil Meto mit seinen Eltern auf eine Firmenfeier mitging, mit Koichi zum Schrein. Ich zog ein Glückslos mit der Botschaft ‚Achten Sie auf Ihr Glück, sonst zerbricht es‘ und band es an die Ungültigkeits-Stange, in der Hoffnung, dass mein Glück nicht zerbrach.

 

In der Therapie, während der mich Frau Watanabe doch noch überredete, ab und zu an der Gruppe teilzunehmen, versuchte ich, sozialer und in erster Linie wieder arbeitsfähig zu werden. Ich war ziemlich motiviert, schließlich wollte ich so gut arbeiten können, dass Meto und ich davon leben konnten. Und tatsächlich wurde ich besser, übernahm zusammen mit anderen kleine Aufgaben im Tempel und lernte, mich wieder auf eine Arbeit zu konzentrieren und meinen Tagesablauf zu regeln.

Einmal fuhr ich mit Koichi zusammen los in die Großstadt, suchte nach Jobs für die Zeit nach dem Tempel, und fand auch einiges, bei dem Koichi sich dann erkundigen wollte, wie die Bedingungen für jemanden wie mich aussahen.

 

Mein Leben war weiterhin ein ständiges Auf und Ab, doch irgendwie war es das schon immer gewesen und so akzeptierte ich es und versuchte, das Beste daraus zu machen. Und ich bat alle Götter, die ich kannte, dass dabei das Glück auf meiner Seite sein würde.

 

 

Muzukashii Sekai ENDE – Fortsetzung folgt in Yasashikunai Mirai

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Kapitel: 34
Sätze: 7.186
Wörter: 118.934
Zeichen: 675.996

Kurzbeschreibung

Teil 1: MiA und Meto lernen sich in einem Club kennen, tanzen, knutschen und stellen am Ende fest, dass da mehr ist als ein Partyflirt. Während MiA schon eine Beziehung vor sich sieht, hat Meto jedoch erst einmal ganz andere Probleme: Sein bester Freund Tsuzuku lebt auf der Straße, leidet an Bulimie, verletzt sich selbst und bürdet Meto teils unbewusst eine gewaltige Verantwortung auf. Je näher sich alle drei kommen, umso komplizierter werden ihre Beziehungen zueinander und auf einmal steht Meto zwischen zwei geliebten Menschen, trifft eine kopflose Entscheidung nach der anderen, bis ihm alles aus den Händen zu gleiten droht ...

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