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„Victor Trevor.“
Sherlocks Kopf schnellte zu John, der in seinem Sessel saß und von dort aus dem Fenster blickte. Obwohl er den Blick seines Mitbewohners auf sich spürte, drehte er sich nicht zu ihm. Er konnte auch so mit Gewissheit sagen, dass der Detektiv über das neue Gesprächsthema nicht erfreut war, schließlich saßen die Wunden, die die Geschehnisse in Musgrave und Sherrinford wieder aufgerissen hatten, noch zu tief.
„Was hast du gesagt“, kam es flüsternd von Sherlock, der mitten im Raum und seiner Bewegung stehen geblieben war und nun zu seinem Freund sah. John erhob sich seufzend. „Ich sagte ‚Victor Trevor‘, Sherlock.“ Er blieb vor dem Lockenkopf stehen und musterte ihn neugierig.
In den letzten sieben Monaten hatte niemand von ihnen Eurus oder Victor auch nur gedanklich erwähnt und das trotz Johns Wissen, dass es Sherlock immer noch quälte. Er hatte seiner Schwester und auch Mycroft versprochen, sie gelegentlich zu besuchen, obwohl es dem Lockenkopf missfiel. Eurus war schließlich für den Tod von Sherlocks Kindheitsfreund verantwortlich. Seine eigene Schwester war der Grund, wieso der jüngste Holmes-Spross sein Leben lang dachte, er und Mycroft wären die Einzigen. Wieso er dachte, sie hätten einen Hund gehabt. Redbeard. Sherlock konnte noch immer nicht verstehen, wieso sein Unterbewusstsein ihm eine komplett andere Geschichte vorgegaukelt hatte. Wollte er wirklich all diese Geschehnisse nicht wahrhaben? Wollte er wirklich nie wahrhaben, dass sie Victor in jener Nacht vor so vielen Jahren nicht gefunden hatten?
„Wieso musst du jetzt wieder damit anfangen, John?“ Sherlocks Stimme war brüchig und kaum mehr als ein Flüstern, weswegen John Mühe hatte, seine Worte zu verstehen. In seinem Blick lag Traurigkeit und Wut und es tat dem Arzt leid, dieses Thema angesprochen zu haben, doch er wollte endlich darüber reden. Es würde ihnen beiden irgendwann nicht mehr guttun, wenn sie darüber ständig nur schwiegen.
„Er war damals dein einziger Freund. Dein bester Freund.“ Noch während der Arzt dies sagte, schüttelte Sherlock krampfhaft seinen Körper durch. Er wollte das nicht hören. Er wollte nichts davon hören. Niemals! „Hör‘ auf“, flehte der Lockenkopf, doch John erwiderte nichts darauf. „Dieses Rätsel von Eurus … dieses Lied …“ „Hör‘ auf, John.“ Seine Stimme war lauter geworden, lauter als beabsichtigt, doch es war dem Lockenkopf egal. Er wollte, dass der Blondschopf dieses Thema fallen ließ, doch dieser dachte nicht daran. „Eurus kriegt uns alle am Ende …“
„Hör‘ endlich auf!“
Die beiden Männer standen sich gegenüber und blickten einander an. Sherlock atmete schwer und John erkannte, dass es seinem Freund mehr zusetzte, als dieser auch nur ahnte. Was hatte der Detektiv über Mycroft gesagt, als Greg erwähnte, wo der älteste Holmes abgeblieben war? „Du bist nicht so stark, wie du denkst …“
Johns Gesicht war gen Boden gerichtet, seine Augen hatte er geschlossen. Sherlock sah ihn verwirrt an, antwortete aber wütend: „Ich bin stärker, als du denkst, John.“ Der Angesprochene richtete sich wieder auf. „Nein, Sherlock, das bist du nicht, sonst würdest du mit mir darüber sprechen können. Oder wenigstens mit Mycroft.“ „Ich will aber nicht darüber sprechen“, erwiderte der Lockenkopf schreiend, woraufhin wenige Sekunden später Babygeschrei zu hören war.
John seufzte und marschierte an seinem Mitbewohner vorbei in dessen Schlafzimmer, das im Moment zum Kinderzimmer umfunktioniert worden war. Dort angekommen schloss er leise die Tür und setzte sich seufzend auf das Bett. Er nahm Rosie auf den Arm und robbte mit ihr in die Mitte des Bettes, wo er sich gegen die Wand lehnte. Wieder entwich ihm ein Seufzer, weswegen seine Tochter die Augen auf ihn richtete.
„Du bist noch zu jung, um das alles hier zu verstehen, Prinzessin“, murmelte er und strich der Kleinen über die blonden Haare. „Deine Mutter wüsste, was zu tun wäre, nur ich nicht.“ Rosie, die die Worte ihres Vaters noch nicht verstand, ließ sich auf den Bauch fallen und krallte ihre Hände in dessen Hemd. „Manchmal wünschte ich mir, es wäre einfacher mit ihm. Dass er ein normaler Mensch wäre und nicht so ist, wie er nun mal ist.“
Er rutschte ein Stück über das Bett und legte sich auf den Rücken, darauf achtend, Rosie nicht versehentlich von sich zu stoßen. Mit einer Hand unter seinem Kopf, mit der anderen auf dem Rücken seiner Tochter, lag er da und starrte an die Decke. John wusste, dass es falsch war mit diesem Thema anzufangen. Es war auch nicht der passende Augenblick gewesen, doch hätte er noch länger gewartet, wäre es ihm umso schwerer gefallen. Je länger ein Geschehnis in der Vergangenheit lag, umso schwerer war es, dieses wieder auszugraben und darüber zu reden. Er hatte jetzt schon viel zu lange mitangesehen, wie Sherlocks Vergangenheit ihn von innen heraus auffraß. Diese Geschehnisse von damals und auch von vor sieben Monaten … John hatte viel zu lange zugelassen, dass Sherlock diese an sich heran ließ.
„Bin ich ein schlechter Freund, Rosie“, fragte er in die Stille hinein an seine Tochter gewandt, die wieder selig auf Johns Brust schlief. „Ich hätte von Anfang an mit ihm darüber reden sollen, trotz Mycrofts Widerworte. Ich bin der Arzt, ich sollte am besten wissen, was gut für ihn ist und was nicht. Ich hätte das niemals zulassen dürfen.“
Durch die Wände drang leise Geigenmusik an Johns Ohren, weswegen er wieder seufzte. Es war ein Stück von Bach, das wusste er, doch welches genau konnte der Arzt beim besten Willen nicht sagen. Dafür konnte Sherlock einfach zu viele Stücke spielen. Wieder entkam ihm ein Seufzer, doch dieses Mal klang er gequält. Sie mussten darüber reden, doch würde er den Lockenkopf jetzt wieder dazu zwingen, würde er verschwinden und dann wäre er wieder alleine in der Baker Street, wie schon so oft in letzter Zeit.
John legte seine Tochter, die leise murrte, als er ihre kleinen Hände von seinem Hemd löste, neben sich auf die andere Seite des Bettes und deckte sie zu. Die Kissen, die als Gitter dienten, legte er ebenfalls wieder neben sie an den Rand des Bettes. Danach stand er leise auf, zog sich Hemd und Hose aus und ein weißes T-Shirt an. Während er so da stand, lauschte er Sherlocks Geigenspiel, doch als dieses nach und nach schneller wurde, entschloss er, dass dieses Gespräch nicht länger aufgeschoben werden durfte. Der Arzt schnappte sich eine Jogginghose, die über der Stuhllehne hing und zog sich diese beim Hinausgehen an. Als er im Wohnzimmer ankam, hatte Sherlock sein Spiel unterbrochen und stand nur noch regungslos am Fenster.
„Sherlock“, fragte John, doch er bekam keine Antwort, weswegen er näher an seinen besten Freund trat. Von hinten legte der Arzt eine Hand auf die Schulter des Lockenkopfs, der seinen Kopf langsam nach hinten drehte. Als John in dessen Gesicht sah, wusste er nicht, was er denken sollte. Sherlock weinte. Tränen liefen nach und nach über seine Wangen. Der Arzt versuchte den Detektiv zu sich umzudrehen, was dieser gewährte. Er ließ die Hand, in der er die Geige hielt, langsam sinken, bis das Musikinstrument letztendlich mit einem leisen Klirren auf dem Boden landete. Mit beiden Händen krallte sich Sherlock in das Shirt seines Mitbewohners und begann lauthals zu schluchzen.
John, der einerseits erfreut über diese Reaktion war, seufzte leise und drückte seinen besten Freund noch enger an sich. „Es ist alles gut, Sherlock.“ Beruhigend strich er dem Lockenkopf über den Rücken und flüsterte immer wieder leise Worte, in der Hoffnung, es würde Sherlock zeigen, dass er in dieser schweren Zeit nicht alleine war. Er war bei ihm und das würde er auch immer sein. Er würde den Detektiv nicht mehr alleine lassen. Die Zeit, in der er Sherlock aus dem Weg gegangen war, hatte dem Arzt gezeigt, wie wichtig dieser ihm doch eigentlich war.
Es war gemein von ihm gewesen, das gab er zu, doch was hätte er tun sollen? Es tat John im Herzen weh, dass er Sherlock für Marys Tod verantwortlich gemacht hatte, obwohl dieser doch kaum etwas dafür konnte. Auch wenn Sherlock versprochen hatte, auf Mary und auf ihn und auf Rosie aufzupassen … es gab Dinge, die kann man nicht verhindern. Außerdem, Sherlock war auch nur ein Mensch, auch wenn er sich manchmal nicht so verhielt. Aber auch John selbst war nur ein Mensch, weswegen er aus blinder Wut und aus Trauer gehandelt hatte, als er Sherlock für alles verantwortlich machte. Als er ihn von sich weggestoßen hatte. Als er all seine Anrufe und Nachrichten ignoriert hatte. Er hatte sogar seine eigene Tochter von sich weggestoßen, weil sie John einfach zu sehr an Mary erinnerte.
Sherlocks Tränen waren versiegt und er hatte sich weitgehend beruhigt, weswegen John ihn vorsichtig von sich wegdrückte, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Vorsichtig nahm der Arzt sein Gesicht in die Hände und zog ihn ein Stück zu sich runter. Danach flüsterte er leise: „Egal, was noch kommen mag, Sherlock, du bist nicht allein und du wirst es auch niemals sein. Es wird immer jemanden geben, der dir zur Seite steht. Mycroft, deine Eltern, Greg, Mrs Hudson … ich.“ Der Lockenkopf schniefte kurz, während John ihm die restlichen Tränen aus dem Gesicht wischte. „Wir werden dich nicht alleine lassen. Niemals!“
„Ich wünschte nur …“ Sherlock stoppte und holte tief Luft. Es kostete ihn einiges an Stärke, weiterzusprechen, das wusste John, aber es würde gut so sein. Es würde ihn nicht mehr so quälen. „Ich wünschte nur, … ich hätte es gewusst. All die Jahre über … das mit Victor.“ „Wenn du von Anfang an über Eurus und Victor Bescheid gewusst hättest, Sherlock, dann wäre all das niemals passiert“, entgegnete John leise, immer noch gegen Sherlocks Stirn gelehnt. „Dann wäre auch Mary noch am Leben.“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Nein, Sherlock. Das mit Mary hätte sich nicht geändert. Ihre Vergangenheit hätte sie irgendwann eingeholt, so wie dich deine Vergangenheit vor sieben Monaten eingeholt hat. Es gibt Dinge, die kann man nicht verhindern. So auch nicht Marys Tod, Sherlock. Außerdem ist sie gestorben, um dich zu retten.“
Der Lockenkopf presste die Augen zusammen und gab einen erstickten Schluchzer von sich. Der Arzt legte eine Hand in die Haare seines Mitbewohners und drückte ihn enger an sich, sodass ihre Nasenspitzen nur noch wenige Millimeter voneinander entfernt waren. „Es tut mir leid, Sherlock, dass ich dich für Marys Tod verantwortlich gemacht habe.“ Nach diesen Worten rannten wieder ein paar einzelne Tränen über das Gesicht des Detektivs, dennoch öffnete er erneut die Augen. John konnte Wut und Trauer, aber auch eine unendliche Erleichterung in seinem Blick sehen, was ihn seufzen ließ. „Ich war so ein Idiot, Sherlock, und ich kann es nicht mehr wieder gutmachen.“ Er spürte, wie Sherlock leicht den Kopf schüttelte. „Du hast aus Trauer gehandelt, John. Das ist menschlich.“ „Aber ich hab es auch aus blinden Hass und Wut getan. Ich hab dich von mir weggestoßen. Ich hab dir die Schuld gegeben.“ „Menschen suchen sich einen Sündenbock, wenn etwas geschieht.“ Der Arzt sah wieder in die blaugrauen Augen seines Gegenübers. „Aber nicht seinen besten Freund, Sherlock. Verzeih‘ mir bitte!“
Nun war es der Detektiv, der seufzte und John enger an sich drückte. Dieser vergrub sein Gesicht in Sherlocks Halsbeuge und sog dessen Geruch in sich auf. „Ich bin dir nicht böse deswegen und es gibt auch nichts zu verzeihen.“ Der Blondschopf krallte seine Hände in Sherlocks Seiten und schluchzte tränenlos auf. Na super, dachte sich John und begann leicht zu lächeln. Eine Sondertherapiesitzung bei der nicht nur der Patient, sondern auch der Arzt anfängt zu heulen.
„Wieso lachst du“, kam es verwirrt von Sherlock, der den Arzt irritiert musterte. „Ich hab nur …“ Er schüttelte lächelnd und mit geschlossenen Augen den Kopf. „Ich hab nur gerade an etwas gedacht“, beendete er seinen Satz, während er seine Augen wieder öffnete. Der Lockenkopf zog einen Mundwinkel leicht nach oben und richtete seinen Blick gen Boden. Da jetzt offenbar der richtige Augenblick war, wagte John, eine weitere Frage in den Raum zu stellen.
„Sherlock … was ist mit Molly?“ Der Detektiv richtete sich auf und trat einen Schritt von John zurück. Jedoch nicht, weil es die falsche Frage war, sondern nur, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Molly … und ich … wir haben geredet, kurz nachdem das in Musgrave passiert ist.“ John stockte. Davon wusste er gar nichts. Wieso wusste er davon nichts? „Wieso weiß ich davon nichts?“ Sherlock lächelte leicht. „Weil dieses Gespräch zu einer Zeit stattfand, in der wir beide uns nur gestritten haben. Da war es leicht für mich zu gehen. Du hast mein Verschwinden nicht hinterfragt.“ Der Arzt atmete tief ein. „Und was ist dabei rausgekommen? Ist zwischen euch wieder alles in Ordnung?“ Sherlock nickte und erwiderte: „Ich hab ihr erzählt, was geschehen ist. Ich hab ihr auch alles über Eurus und Redbeard, oder besser gesagt Victor, erzählt. Ich hab ihr auch gesagt, dass ich sie immer lieben werde …“
John sah seinen Mitbewohner verwundert an. „Du … du hast was?“ Wieder lächelte sein Gegenüber. „Ich habe ihr gesagt, dass ich sie immer lieben werde, aber nicht auf diese Art und Weise, wie sie es sich wünscht und wie sie es verdient hat.“ „Wie meinst du das?“ Der Arzt legte den Kopf schief und trat wieder einen Schritt zurück, damit er dem Detektiv besser ins Gesicht sehen konnte. „Sie wusste es. Sie wusste es von Anfang an, John.“ „Sie wusste was …?“
Sherlocks Lächeln war noch immer nicht verblasst, was John nur noch mehr verunsicherte. „Sherlock …?“ „Sie wusste es noch vor mir, John.“ „Ich verstehe dich nicht“, kam es nun nur noch verwirrter von dem Arzt, der noch einen Schritt zurück tat. Was wollte Sherlock ihm sagen? Was wusste Molly schon von Anfang an? Wenn sie das wusste – was wusste? – wieso war sie dann trotz allem in Sherlock verliebt? Wieso hatte sie es ihm nie gesagt?
Da der Lockenkopf weder etwas sagte, noch sich bewegte, drehte John sich um und fing an, im Wohnzimmer auf und ab zu tigern. Hatte er all die Jahre über etwas übersehen, was Sherlock betraf? War er vielleicht in jemanden verliebt? All die Jahre über? Aber wenn ja … in wen? Wenn es nicht Molly war, wer war es dann?
„Die Frau …“ John blieb abrupt stehen. „Irene Adler.“ Er wandte sich zu Sherlock um, der nur den Kopf schüttelte. „Was“, flüsterte er so leise, dass Sherlock es unmöglich gehört haben konnte, doch wie schon so oft seit ihrem Kennenlernen wurde er eines Besseren belehrt. „Es ist nicht Irene Adler, … John.“
Die Frau also auch nicht, dachte sich John, während sein Blick weiterhin an Sherlock hängen blieb. Wer konnte es sonst sein? Molly und Adler waren doch die einzigen Frauen in Sherlocks Bekanntenkreis. Es sei denn … nein, Mary konnte es auch nicht gewesen sein. Das würde der Detektiv ihm nicht antun. Aber was wenn …
Langsam dämmerte es John, weswegen er sich von Sherlock abwandte und verzweifelt in die Hocke ging. Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Der Arzt musste sich selbst daran erinnern, dass er Rosie aufwecken würde, würde er jetzt losschreien. Wie konnte er das all die Jahre nur übersehen? Selbst Molly hatte es noch vor ihm herausgefunden. Gott, ja! Sie hatte es sogar noch vor Sherlock selbst herausgefunden. Ein gebrochenes Schluchzen kam von John, der selbst, als er sich fragend an Sherlock wandte, nicht aus seiner Position erhob.
„Wieso …“ Seine Stimme brach ab und er spürte, wie sich langsam Tränen in seinen Augen bildeten. „Wieso … wieso hast du all die Jahre nie etwas gesagt, … Sherlock?“ „Weil ich nicht konnte“, erklang eine leise Antwort und John wusste genau, dass es die Wahrheit war.
Er konnte es nicht sagen. Nie. Wie denn auch? Er, John Watson, hatte doch ständig abgestritten, schwul zu sein und etwas mit Sherlock Holmes zu haben. Jetzt im Nachhinein fiel ihm auf, dass er nie daran gedacht hatte, wie es Sherlock dabei ergangen war. Und selbst wenn … hätte es etwas geändert? John schüttelte den Kopf, jedoch so, dass der Detektiv es nicht sehen konnte. Wenn er es gewusst hätte, wenn er es auch nur geahnt hätte … Gott, er hätte sich nie auf die ganzen Frauen eingelassen. Er hätte Mary nie kennengelernt. Er wäre nicht Vater geworden. Er hätte Marys Tod nicht verkraften müssen. Aber allen voran … er hätte Sherlock nie verloren.
„Verflucht nochmal!“
Er sprang auf, griff nach dem erstbesten Teil, das er sehen konnte und schleuderte es mit ganzer Kraft gegen die Wand. Die Fensterscheiben klirrten leicht, wegen der Erschütterung, doch das war dem Arzt jetzt auch egal. Es war ihm auch egal, dass Sherlocks Totenschädel daran glauben musste. Es war ihm gerade alles egal. Selbst die Tatsache, dass Mrs Hudson ein Stockwerk tiefer schlief und auch, dass Rosie in Sherlocks Zimmer am Ende des Flurs lag.
Sherlocks Blick war während dieser Aktion auf den Boden gerichtet. Er wusste, dass es seine Schuld war. Zumindest redete er sich das ein. Wenn er von Anfang an ehrlich zu sich selbst und zu John gewesen wäre … wer weiß, wo sie jetzt stehen würden.
„Ein Wort, Sherlock.“ Der Blondschopf hatte sich wieder seinem Mitbewohner zugewandt und nun war er derjenige, dem die Tränen über das Gesicht flossen. „Nur ein einziges Wort … von dir!“ „Was hätte das geändert“, kam es flüstern von Sherlock, der die Augen geschlossen hatte. „Was das geändert hätte? Es hätte alles geändert!“ Während er sprach, hatte er seine Arme von sich weggestreckt, um ‚alles‘ zu beschreiben. „Ich hätte mich nie auf diese Frauen eingelassen, Sherlock. Ich hätte Mary nie kennengelernt und ich hätte ihren Tod nie verkraften müssen. Verdammt! Es hätte alles geändert. Nur ein Wort von dir …“
„Du wärst nie Vater geworden“, entgegnete der Detektiv nun in seiner üblichen Haltung, jedoch den Blick immer noch gen Boden gerichtet. Seine Stimme war vollkommen emotionslos, was John nur noch mehr auf die Palme brachte. „Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich irgendwann jemals Vater werden würde, hätte ich prima damit leben können. Selbst, wenn ich es gewusst hätte, Sherlock, es wäre mir egal gewesen.“ Der Lockenkopf sah geschockt auf, direkt in Johns graue Augen.
„Mir wäre alles egal gewesen, Sherlock. Alles.“ Er kam langsam wieder näher. „Mir wäre auch das mit Mary und Rosie egal gewesen.“ Einen Meter vor ihm blieb John stehen und sah zu ihm auf. „Ich hätte dich auch niemals verloren.“ „Du lügst, wenn du sagst, dass dir das mit Rosie egal gewesen wäre. Das weißt du auch selbst. Über Mary wärst du hinweg gekommen, wenn du es gewusst hättest, aber nicht über Rosie“, erwiderte Sherlock und John seufzte. „Ja, vielleicht hast du da recht, aber wer weiß das jetzt schon? Es gibt schließlich kein ‚was wäre wenn‘. Es gibt jetzt nur ein ‚verdammt nochmal, Sherlock‘.“
Sie standen sich wieder gegenüber und John konnte seine Gedanken momentan einfach nicht ordnen. Er drückte zwei Finger gegen die Nasenwurzel. „Sie hat es geahnt …“ „Wer hat was geahnt?“ „Mary … sie hat es geahnt.“ John sah wieder auf. „Mary hat es all die Jahre über geahnt, Sherlock.“ „Wegen dieser Videobotschaft …?“ Der Arzt nickte langsam und ließ den Kopf wieder hängen.
Eine Stille trat ein, die nicht einmal Sherlock zerstören wollte, obwohl sie alles andere als angenehm war. Nein, im Gegenteil. Diese Stille war erdrückend. Erdrückend und verwirrend, besonders für John, denn … was geschah jetzt mit ihnen? Was erwartete Sherlock jetzt, wo er es wusste, von ihm? Er fühlte etwas für Sherlock, ja. Er hatte Gefühle für ihn, doch wie weit reichten diese?
„John, ich …“ „Nein, Sherlock“, unterbrach ihn der Arzt, woraufhin er Sherlocks Blick auf sich spürte. „Weißt du, … wenn du es mir nur früher gesagt hättest, … wir hätten so viele Jahre zusammen verbringen können. Ich meine … richtig zusammen. Nicht nur so als Freunde.“ „Du hast doch immer abgestritten schwul zu sein, wieso sagst du dann jetzt auf einmal so etwas?“ Der Arzt schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, … ich weiß, dass ich Gefühle für dich habe, Sherlock, und sie reichen auch weit über normale Freundschaft hinaus.“
Er sagte das, obwohl er sich seiner eigenen Worte nicht sicher war. Wollte er tatsächlich mehr mit Sherlock? Mit Sherlock Holmes, dem weltweit einzigen Consulting Detective und dem wohl größten Arschloch der Welt?
„Naja, wohl eher bin ich gerade das Arschloch.“ „Bitte was?“ Der Arzt schrak hoch, lächelte aber leicht, als er realisierte, dass er dies gerade laut gesagt hatte. „Eine Antwort auf meine Gedanken.“
Da die Stille wieder drohte, Einzug zu halten, ergriff John nach einigen Sekunden wieder das Wort. „Was ich eigentlich sagen wollte, Sherlock …“ Er sah am Detektiv vorbei aus dem Fenster, in der Hoffnung, dort draußen die Lösung für diese Situation zu finden, doch natürlich war da draußen nur das Londoner Stadtleben zu sehen. „Was ich eigentlich sagen wollte, Sherlock … ist, dass … dass ich das hier … nicht kann …“ Er blickte zu Sherlock, der ihn ausdruckslos ansah. Er hat es falsch verstanden, schoss es John durch den Kopf, als der Blick seines Gegenübers langsam gen Boden sank.
„Sherlock“, flüsterte der Arzt wieder und hob dessen Kinn mit zwei Fingern an, sodass dieser ihn wieder ansah. „Ich kann dir nicht sagen, … dass ich … dass ich dich liebe, da ich nicht weiß, wie … wie ich diese Gefühle, die ich für dich empfinde, … wie ich diese Gefühle in Worte ausdrücken soll. Es ist … einfach … nicht möglich.“ Ihre Blicke trafen aufeinander und dieses Mal konnte John den Ausdruck in den graublauen Augen nicht deuten. Er hatte diesen Ausdruck noch nie gesehen. „Haben wir uns bis jetzt nicht immer alles gesagt?“ Eine verwirrte Miene zeichnete sich auf Johns Gesicht ab, als Sherlock diese Worte sagte. „Naja, soweit wir … soweit uns das möglich war.“ Der Lockenkopf lächelte. „Was hält dich dann jetzt zurück?“
Das war eine gute Frage, dachte sich John und ging einen Schritt auf das Fenster zu. Obwohl es bereits dunkel war, tummelten sich immer noch die Menschenmassen auf den Straßen. Autos hupten um die Wette und die Taxifahrer schrien sich gegenseitig an. „Ich weiß nicht, was mich zurückhält“, murmelte der Arzt leise und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Ich hab noch nie darüber nachgedacht, weißt du? Mary zu sagen, dass ich sie liebe, war immer … einfach gewesen, obwohl sie mich ständig nur angelogen hat. Gut, zugegeben…“
John stoppte. Sherlock stand noch immer an derselben Stelle, jedoch hatte er sich dem Blondschopf zugewandt. „Zugegeben, ich hab dich ebenfalls angelogen all die Jahre über.“ John drehte sich wieder seinem Mitbewohner zu, nachdem dieser angefangen hatte, zu sprechen. „Ja, aber du hast mir hinterher die Wahrheit gesagt.“ „Aber nicht immer“, entgegnete Sherlock mit einem leeren Blick, weswegen John sofort sagte: „Du musstest es tun. Du hattest deine Gründe dafür.“ „Es war trotzdem nicht richtig.“
Der Blondschopf ging wieder auf seinen besten Freund zu und legte die Arme um ihn. „Egal, wieso du es getan hast, es war notwendig. Klar, ich hätte vorher gerne gewusst, dass du nur für zwei Jahre verschwindest und nicht wirklich tot bist, aber ich war trotzdem unendlich froh, als du wieder vor mir standst.“ „Du musst zugeben, dass mein französischer Akzent echt toll ist.“ „Ach“, entkam es John, der sich ein Stück von Sherlock wegdrückte. „Das war Französisch? Ich dachte eher, dass das Italienisch war.“ Der Lockenkopf schüttelte grinsend den Kopf und legte seine Stirn danach wieder auf Johns.
„Stell‘ dir mal vor, hätte Mike mich damals nicht erkannt, hätten wir uns vermutlich nie kennengelernt“, kam es beinahe flüsternd von John. „Unvorstellbar.“ „Es ist tatsächlich unvorstellbar, dass ich es so lange mit dir ausgehalten habe.“ „So schlimm bin ich auch wieder nicht“, konterte Sherlock gespielt empört, woraufhin beide leise lachten. „Du bist furchtbar.“ „Du bist noch viel furchtbarer.“ „Niemand ist so furchtbar wie du. Furchtbar arrogant, furchtbar intelligent, furchtbar eingebildet, furchtbar … übertrieben.“ Der Detektiv legte den Kopf schief. „Und das war jetzt gerade auch alles furchtbar gelogen.“ „Ich lüge nicht, das weißt du“, nuschelte John gegen Sherlocks Brust und seufzte.
Nach einer kurzen Stille, die eingekehrt war, öffnete Sherlock seine Augen, die er geschlossen hatte, als er seinen Kopf auf Johns abgelegt hatte. „Ich hab geschworen, euch zu beschützen. Euch drei.“ „Man kann seine Versprechen nicht immer halten, auch wenn man es will, Sherlock.“ Der Lockenkopf vergrub sein Gesicht wieder in die blonden Haare seines Mitbewohners und sog dessen Geruch ein. „Außerdem ist sie gestorben, um dich zu retten.“ „Ich weiß.“ „Dann belass‘ es dabei, Sherlock.“
Es verstrichen einige Minuten, in denen keiner der beiden etwas sagte, obwohl es so viel zu sagen gab. Sie standen einfach nur da, Arm in Arm, und lauschten dem Atem des jeweils anderen. Selbst als leise Schritte auf der Treppe hörbar wurden und Mrs Hudsons Kopf wenige Sekunden später durch einen Spalt in der Tür zum Vorschein kam, unterbrachen die beiden Männer ihre Umarmung nicht. Sherlock öffnete dennoch die Augen und deutete seiner Vermieterin wortlos, dass es momentan ein schlechter Augenblick war, weswegen sie auch sofort wieder verschwand. der Lockenkopf seufzte leise.
„Hast du heute noch etwas vor“, flüsterte er in Johns Ohr, woraufhin dieser den Kopf schüttelte. „Es ist schon fast Mitternacht, was sollte ich denn heute noch vorhaben?“ Darauf erwiderte der Detektiv nichts, sondern nahm Johns Gesicht einfach nur in seine Hände. Er sah seinem Mitbewohner in die Augen. Ein unbekanntes Strahlen lag in ihnen.
John, der erkannte, was der Lockenkopf vorhatte, sich aber nicht traute, krallte seine Hände in Sherlocks Hemd und stellte sich auf Zehenspitzen. Der Detektiv lächelte leicht, als die Lippen des Arztes sich leicht gegen die seine drückten und erwiderte den Kuss, wenn auch ein wenig unbeholfen, doch es genügte John vollkommen. Er hatte schließlich nicht vor, heute noch wie wild mit Sherlock rumzumachen.
Nachdem John sich wieder einige Millimeter zurückgezogen hatte, zeichnete sich ein Lächeln auf dessen Lippen ab. Sherlock erwiderte dieses und seufzte.
„Ich werde immer für dich da sein. Für dich und Rosie. Egal, was passieren wird.“ Der Arzt drückte sich wieder gegen Sherlocks Brust und sog dessen Duft ein. „Ich war in der Vergangenheit nicht immer für dich da, doch ich werde es für die Zukunft immer sein. Für heute, für morgen und für immer.“
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Sätze: | 357 | |
Wörter: | 4.558 | |
Zeichen: | 26.219 |
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