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Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 532 | |
Wörter: | 9.853 | |
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„Wenn du es lange mit dem aushältst, wäre das ein Wunder!“ hatte Mike noch gemurmelt, als John ihm erzählt hatte, dass er nun wirklich mit Sherlock zusammen gezogen war. Zwar hatte er es mit einem neckischen Augenbraue-Hochziehen als Scherz gekennzeichnet, schließlich hatte er die Wohngemeinschaft ja vermittelt, doch John hatte vermutet, dass sein Gegenüber bestimmt schon längst Wetten abgeschlossen hatte, wie lange er es mit Sherlock Holmes aushalten würde.
Er hatte beschlossen, vorurteilsfrei an die Zweckgemeinschaft heranzugehen. Er war ja selbst kein einfacher Mitbewohner. Seine posttraumatische Störung ließ ihn ab und an in Flashbacks versunken kurzzeitig den Kontakt zur Realität verlieren und ins Leere starren, sein Bein machte seine Fortbewegung umständlich und für einen ständig hastig herumeilenden Sherlock oft nervig. In vielen Nächten war er schon aufgeschreckt, als Sherlock aus unerfindlichen Gründen mitten in der Nacht Türen knallen oder Dinge zu Boden fallen ließ. Ja, zu Anfang hatte es wirklich nach einer Mitbewohnsituation der problematischen Art ausgesehen. Zu Anfang?
Inzwischen teilte er schon einige Wochen das Zuhause mit Sherlock, und noch immer hatte sich die Situation nicht gebessert. Oder er hatte sich noch nicht an sie gewöhnt. Wie auch immer man es sehen wollte, und John wusste nicht genau, wie er es sah. Mal war er wütend auf sich selbst. Auf die verdammte Schreckhaftigkeit bei plötzlichen Geräuschen und Bewegungen, die ihn aus dem Krieg begleitet hatte. Die Verwirrung und das Gefühl des Überfordert-Seins, das auf Schreckmomente folgte. Laut seinen Ärzten war all das „normal“, aber was war an Krieg schon normal, was war überhaupt normal? Laut seinen Ärzten brauchte er Verständnis und Rücksicht, doch diese Worte waren für Sherlock Fremdworte, und John würde nicht mehr darum bitten, nein. Manchmal wollte er ausziehen, dann wieder verfluchte er sich selbst und seine Unfähigkeit, sich zusammenzureissen. Und dann schreckte er wieder des Nachts auf weil Sherlock anscheinend nie schlief, aber immer Geräusche machte. Dann verfluchte er den seltsamen Mitbewohner.
Es war ein seltener Nachmittag an dem sie sich gleichzeitig in der Küche aufhielten und Tee tranken. John saß da, seine Krücke neben sich an den Tisch gelehnt. Sherlock konnte nicht still sitzen und lehnte am Küchentisch, das ständige klirrende Geräusch, mit dem er fortlaufend in seiner Teetasse rührte, zerrte an Johns Nerven. Er fasste so etwas wie Mut, vielleicht sammelte er auch nur genug Genervtheit zusammen: „Als du mich vor nächtlichen Geigenklängen gewarnt hast, hast du ganz vergessen, dass du nie zu schlafen scheinst.“ Das klang eher ironisch gemeint als wirklich wütend und so verzog Sherlock auch nur den Mund zu einem schmalen Lächeln. „Ich schlafe nur, wenn nichts Spannenderes meine Aufmerksamkeit gefangen nimmt“, entgegnete er, ohne auch nur zu versuchen, entschuldigend zu wirken. John nippte an seinem Tee, überlegte. Er wollte dem Mitbewohner nicht Gelegenheit geben, in seiner arroganten Stimmlage zu dozieren, aber ach, was sollte es schon. „Und was nimmt zur Zeit deine Aufmerksamkeit gefangen?“
Statt eine Antwort zu geben lief Sherlock zum Fenster und zeigte hinaus. „Was ist da?“ fragte John, mäßig interessiert, doch als Sherlock immer noch nichts sagte, wurde die Neugierde immer stärker, bis er schließlich auch, auf seine Krücke gestützt, zum Fenster humpelte. Was er sah war die gegenüberliegende Häuserreihe in der Baker Street. Sherlock bemerkte seine Ratlosigkeit und deutete noch ein Mal, vehementer, diesmal in Richtung Himmel, oder nein, in Richtung der Dächer. „Aha, Vögel.“ John konnte sich kaum zurückhalten, die Augen zu verdrehen. „Du betreibst also Vogelbeobachtung, sehr britisch.“
Sherlock hatte für Scherze und Spott nicht viel übrig - in einer Manier, die man schon zickig nennen konnte, wandte er sich wieder vom Fenster und von John ab. „Wenn dich die außergewöhnlichen Vorkommnisse hier in dieser Gegend so wenig interessieren und du sie gar als ‚typisch britisch‘ abstempelst, wo du doch einen Bilderbuch über Großbritannien entnommen sein könntest, dann werde ich mich ganz bestimmt nicht damit aufhalten, dir zu erklären, was mich daran so fesselt.“
Nur mit Mühe unterdrückte John ein Seufzen. Was für ein aufgeblasener, arroganter Mensch Sherlock doch war. Da konnte er noch so intelligent sein, daran bestand ja keinen Zweifel, aber mit einer derartigen Unhöflichkeit behandelt zu werden brauchte John sich nicht gefallen zu lassen. Allerdings … irgendwie interessierte es ihn doch, was Sherlock an den Vögeln so faszinierte. Dass sein neuer Mitbewohner ungemein talentiert darin war, in nur scheinbar alltäglichen Situationen die vielsagendsten Details herauszupicken, das hatte John rasch gemerkt, und ein bisschen weniger Alltag käme ihm sehr gelegen. „Also gut. Erklär‘ es mir: Was ist denn mit den Vögeln?“
Er musste gar nicht darum bitten, Sherlock hatte offensichtlich nur darauf gewartet, dass er Interesse zeigte. Wie aufgezogen hüpfte er aus seiner vorgespielten Lethargie und begann heftig gestikulierend auf John einzureden: „Schau doch mal genauer hin, und wenn du hingesehen hast, dann überlege dir – nein, schließ am besten sogar die Augen und erinnere dich daran, wie der Anblick, der sich dir aus diesem Fenster bietet, sonst so aussieht.“
Auch wenn er sich dabei etwas dämlich vorkam, tat John wie geheißen. Er schloss die Augen, überlegte kurz: „Gerade sind hier unglaublich viele Vögel, sehr, sehr viel mehr als sonst!“
Sherlock nickte und John durchfuhr, auch wenn seine Beobachtung ihm wohl nicht gerade den Nobelpreis einbringen würde, ein Gefühl von Stolz. „Ja, aber was bedeutet denn das?“ fragte er sogleich. „Ich meine, du wolltest nicht als Vogelbeobachter dastehen, doch hat das außer einer potentiellen ornithologischen noch irgendeine andere Bedeutung?“
„Ja.“ Sherlock machte eine dramatische Pause. „Eine okkulte.“
„Eine was?“ John konnte es nicht glauben, wollte das Wort nicht einmal wiederholen.
„Okkult. Okkult bedeutet so etwas wie ‚paranormal‘, ‚übersinnlich‘, im allgemeinen Sprachgebrauch wird es auch degradierend für ‚esoterisch‘ verwendet.“
Nur schwerlich konnte John seine Ungeduld unterdrücken. „Ja, was das Wort bedeutet weiß ich doch. Aber was haben die Vögel damit zu tun? Und vor allem, was hast du damit zu tun? Ich dachte, du währest wissenschaftlich interessiert und strikt rational.“
Sherlock zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Du machst es dir hier sehr einfach. Was deiner Einschätzung meiner Person und die der Welt an sich betrifft. Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden als eure Schulweisheit sich träumen lässt“, zitierte der Detektiv.
„Oh, ein Shakespeare-Kenner bist du auch noch“, murmelte John. „Jetzt sag‘ mir doch einfach, was es mit den Vögeln auf sich hat, okkult oder nicht!“
„Das werde ich. Aber ich kann dir schon mal versprechen, dass es dein Gehirn und deine Vorstellung der Realität auf die Probe stellen wird. Mach‘ lieber noch mal einen Tee!“
Und das tat John. Wenn sich schon sein Bild von der Welt von Grund auf ändern sollte, mit einer Tasse heißen Schwarztees in den Händen war das doch halb so schlimm.
So saßen sie sich die beiden Männer wieder am Küchentisch gegenüber, diesmal jedoch nicht in aufgeladenem Schweigen, sondern in ein Gespräch vertieft. Das heißt, Sherlock war in einen ausufernden Monolog übergegangen und John hing an seinen Lippen, ab und an einen Schluck Tee nehmend, und nicht einmal merkend, dass er sich die Zunge verbrannte. Denn was Sherlock erzählte, zog ihn so in seinen Bann, dass er den Mitbewohner plötzlich nicht mehr als einen arroganten Schnösel wahrnahm, der ihn wahlweise ignorierte oder rumkommandierte, sondern für einen exzentrischen Mann, der leidenschaftlich für etwas brannte. Und dieses Etwas war ein Sachverhalt, der über alle Vorstellungen hinausging, die sich John je über die Welt im Allgemeinen und London im Besonderen gemacht hatte.
Zunächst war John voller Bewunderung davon gefesselt, wie sachlich Sherlock sich gebärdete, während er die ganze abstruse Geschichte entfaltete. Doch gerade Sherlocks vollkommen ernsthafte – und ja, immer noch überhebliche – Aufrichtigkeit, war es, die jeden Zweifel an seiner Erzählung nahezu im Keim erstickte. Nahezu.
„Es begann alles mit den Vögeln. Sie sind mir zu Beginn des Monats zum ersten Mal aufgefallen. Selbstverständlich sind auch in einer Großstadt wie London Vögel unterwegs, doch zumindest im Stadtinneren sind das meistens Tauben. Und auch, wenn man gerade in den Parks auch auf Raben stößt, nicht in diesem Ausmaß, wie sie gerade uns gegenüber auf den Dächern lauern. Zunächst dachte ich noch, es beträfe vielleicht ganz London oder sogar die ganze Insel. Aber da ich weder in Zeitungen noch in den eher verschwörungstheoretisch angehauchten Ecken des Internets entsprechende Hinweise fand, genauso wenig, wie ich oder Leute, die ich damit beauftragte, Ausschau zu halten, an irgendeiner anderen Stelle dieser Stadt solche Mengen dieser Vögel entdeckten, erkannte ich, dass es wirklich etwas sein muss, das spezifisch mit der Baker Street zu tun hat.“
„Naja“, John zuckte mit den Schultern um gleichsam auch das unheimliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte, abzuschütteln. „Vielleicht wohnt in der Gegend ein Vogelfreund, der sie auch füttert. Das wäre doch eine naheliegende Erklärung!“
Sherlock rollte mit den Augen, doch ausnahmsweise war John von seiner herablassenden Art nicht genervt, zu sehr fesselte ihn das seltsame Vogelphänomen. „Das habe ich natürlich auch zunächst vermutet, aber so ist es nicht. Die Vögel werden hier nicht gefüttert, nähern sich auch keinem spezifischen Gebäude. Sie sitzen einfach nur da und schauen unsere Seite der Baker Street an. Sie beginnen sich immer gegen drei Uhr nachmittags zu versammeln, dann werden es immer mehr. Gegen sechs ist die Dunkelheit zwar schon hereingebrochen, doch habe ich mit meinem Nachtsichtgerät grob einschätzen können, dass sich ihre Zahl bis dahin ungefähr verdoppelt hat. Um neun Uhr abends ist das Bild, das sich mir durch die Gläser bietet zwar viel zu gedrängt, noch viel erkennen zu können, doch würde ich darauf wetten, dass es sich um dreimal so viele Vögel handelt, wie sich am Nachmittag eingefunden haben. Dann beginnt sich die mysteriöse Versammlung wieder aufzulösen, gegen Mitternacht ist wieder alles wie gewohnt. Keine Vogelschwärme, nur ab und an eine vereinzelte Taube auf den Dächern.“
John stand auf und humpelte wieder auf das Fenster zu. Tatsächlich, die Anzahl der Vögel schien sich inzwischen beträchtlich erhöht zu haben; in der einbrechenden Dunkelheit wirkten die schwarzen Tiere bedrohlich. Wenn er sich anstrengte, konnte er auch über den Straßenlärm hinweg ihr Krächzen durch die Fenster dringen hören. Eine Unbestimmte Furcht stieg in ihm hoch und er umklammerte seine Krücke fester als er sich wieder zu Sherlock herumdrehte. „Und du sagst, das geht schon den ganzen Monat so?“
„Ja – wie passend für den Oktober. Es würde mich nicht wundern, wenn alles am 31. auf eine Ende oder einen Klimax irgendeiner Art zustrebt.“
„An Halloween, also?“
„An Samhain.“
Das seltsame alte Wort klang bedrohend und viel zu real in Sherlocks tiefer, rauer Stimme.
In dieser Nacht schlief John mal wieder schlecht – aber es war ein besseres ‚schlecht‘ als zuvor. Während ihn bisher immer Albträume an Afghanistan geplagt hatten und ihn jedes Geräusch, das von Sherlocks nächtlichen Aktivitäten herrührte, in hysterische Hyperventilation stürzte, schauten nun in seinem Traum unzählige starre Vogeläuglein auf ihn herab, und als er schweißgebadet und heftig atmend erwachte, nahm er Sherlocks Violinenspiel nicht als Störung, sondern als Trost wahr.
Sie hatten am Abend zuvor noch lange geredet. John hatte zwischen Unglauben und Furcht geschwankt. Einerseits hielt er Sherlock nicht für einen Phantasten, andererseits, die Dinge, von denen er sprach … Magie, die Beschwörung und Gefügig-Machung von Tieren, all dies waren Sachen, die er noch nie ernsthaft in Betracht gezogen hatte. Er konnte aber nicht leugnen, dass die Belagerungssituation mit den Raben keineswegs normal war, und, wenn man die flatternde Masse genau betrachtete, nahmen sie nicht deutlich die Baker Street 221B ins Visier? Von der steigenden Nervosität, vor allem angesichts der Tatsache, dass Halloween, nein, Samhain, nun nur noch eine Woche entfernt war, hatte ihn nur Sherlocks Versicherung, er wüsste, wer ihnen helfen konnte, ein wenig erlösen können. Woher kam nur dieses plötzliche Vertrauen in den Mitbewohner?
Er schwang beide Beine aus dem Bett und atmete die kalte Morgenluft ein. Er schob sich hoch, um eine warme Dusche zu nehmen, und zum ersten Mal seit langem war er zu abgelenkt, beim Aufstehen als erstes nach seiner Krücke zu greifen.
Als John die Küche betrat registrierte er mit Verwunderung, dass Sherlock am Tisch auf ihn wartete. Augenscheinlich, wie der krümelige und mit Marmelade beschmierte Teller vor ihm verhieß, hatte er schon gefrühstückt, aber abgesehen davon hatte er gewartet.
Ohne ein „guten Morgen“ oder eine andere Begrüßung begann er gleich damit, zu reden. „Hör zu – wir müssen heute einiges erledigen. Aber wenn alles klar geht, werden wir uns diese Woche optimal auf das vorbereiten, was uns Samhain erwartet.“ In der Erwartung eines längeren Vortrags hatte John damit beginnen wollen, sich Tee aus der Kanne, die noch auf dem Herd stand, einzuschenken, doch ohne sich zu ihm umzuwenden unterbrach Sherlock ihn: „Den Tee hab‘ ich getrunken, bis du endlich aufgewacht bist, und Milch ist auch keine mehr da. Komm‘ jetzt, du kannst im Taxi frühstücken!“
Mehr Informationen hatte Sherlock ihm nicht gegeben und man hatte ihm die Ungeduld angemerkt, als John sich bei Speedy’s noch schnell ein Sandwich kaufte. Nun saßen die beiden im Taxi, John essend und Sherlock herumhibbelnd. John wusste immer noch nicht, wo es hinging, doch das ihm, wie er vor sich selbst widerwillig zugeben musste, irgendwie auch egal. Hauptsache, er hatte etwas zu tun, an diesem Samstagvormittag, den er sonst wohl in seinem Zimmer und in trübe Gedanken versunken verbracht hätte.
Die Gebäude, die an den Taxifenstern vorbeizogen, wurden immer beeindruckender und man hatte sich nicht einmal bemüht die hochmodernen Überwachungskameras zu verstecken. Vor einem besonders imposanten Bauwerk, das über eine ordentlich gestutzte Hecke hinwegragte, hielt das Taxi an. Sherlock sprang heraus, kaum, dass das Auto stehen geblieben war, John folgte etwas langsamer, mal wieder innerlich die schwer aus dem Inneren zu manövrierende Krücke verfluchend. An ein schmiedeisernes Tor gelehnt stand ein schlanker Mann in einem sichtlich teuren Anzug, der mit nur schwerlich unterdrückter Nervosität an einer Zigarette zog. Sherlock verlangsamte seinen Schritt, als er sich ihm näherte, und lächelte süffisant. „Mycroft! Meine Nachricht muss dich ja wirklich sehr aufgewühlt haben, wenn du uns hier draußen erwartest. Hättest du die Spannung ohne eine Beruhigungszigarette nicht ertragen?“ Der so Angesprochene neigte grüßend den Kopf und ließ den aufgerauchten Stummel zu Boden fallen, wo er ihn nachdrücklicher als nötig austrat.
„Dein Begleiter ist dieser Watson, mit dem du nun zusammen wohnst, nehme ich an. Kann man ihm vertrauen?“ – „Natürlich. Sonst hätte ich ihn nicht mitgebracht.“
Wut darüber, dass so über seinen Kopf hinweg über ihn gesprochen wurde, schoss wie eine Stichflamme durch Johns Körper. „Hey, kein Grund unhöflich zu werden! Wer sind Sie denn überhaupt? Mich scheinen Sie ja schon zu kennen …“
Nun streckte der Fremde ihm ausgesucht höflich die Hand entgegen. „Mycroft Holmes mein Name, Sherlocks Bruder. Erfreut, Sie kennen zu lernen, John Watson.“ Perplex von der ernsthaften Seriösität dieser Begrüßung schüttelte John die dargebotene Hand.
„Ich wusste gar nicht, dass Sherlock einen Bruder hat!“, rutschte es ihm heraus, bevor ihm einfiel, dass dieser Kommentar vielleicht kränkend für den älteren Holmes sein könnte. Der lächelte jedoch nur.
„Sherlock erzählt seinen Mitmenschen gerne genauso viel, wie sie wissen müssen, nicht mehr und nicht weniger. Eine Angewohnheit, die auch ich sehr befürworte.“ Damit wandte er sich auch schon wieder an Sherlock. „Weiß er genug?“
Sherlock nickte. „Ja. Wir können ihm vertrauen. Er ist interessiert und noch skeptisch, letzteres aber nicht mehr lange.“
„Um was geht es denn bitte? Hat es was mit den Vögeln zu tun?“
„Natürlich,“, entgegnete Sherlock fast schon genervt. „Was soll uns denn sonst gerade umtreiben?“
Mit diesen Worten ging er auf das große Gebäude zu, das nun, da es nicht mehr von einer Hecke verdeckt wurde, noch viel beeindruckender aussah. Mycroft nickte dem Portier grüßend zu und sie wurden durchgewunken. Bevor sie eintraten, drehte er sich noch einmal zu John um: „Sie sagen kein Wort, bis ich es ihnen erlaube, verstanden?“
John war viel zu perplex um seine Empörung zu zeigen, so nickte er nur.
Im Gebäude war es so totenstill, dass er sich des leisen Klackens, das seine Krücke trotz des Gummiaufsatzes von sich gab, überdeutlich bewusst wurde. Die Blicke, die der kleinen Gruppe zugeworfen wurden, waren dennoch nicht unhöflich – es war klar, dass Mycroft einen Ruf genoss, der ihm allseits Respekt entgegen brachte. Zunächst wirkte das Innere des Hauses wie ein ganz normaler Club im Herzen Londons – reich, und elitär, ja, aber ansonsten war hier nichts Besonderes, und John fragte sich, weshalb Sherlock und Mycroft so geheimnisvoll getan hatten. Dann jedoch blieben sie in einem kleinen, leeren Raum stehen, vor einem Zeitschriftenständer, der die letzten Jahrgänge literarischer und kultureller Magazine enthielt. Zunächst wunderte sich John darüber, ob Mycroft ihnen einfach nur einen Artikel in einer Zeitschrift zeigen wollte, den man doch sicher auch hätte einscannen können, doch als er sah, wie der elegante Mann am an der Wand befestigten Ständer zu schieben begann, besann er sich eines Besseren, als nachzufragen. Als der hölzerne Ständer schließlich Mycrofts Schieben nachgab und in der Wand verschwand erfuhr John ein kurzer Laut des Schreckens.
Die drei standen vor einer rechteckigen Öffnung in der Wand. Fast hätte John gekichert. Ein Geheimgang in einem alten, englischen Haus, er fühlte sich wie in einem Gothic Novel. Allerdings sah der Gang überhaupt nicht aus, wie man sich einen solchen vorstellte – statt dunkel und dreckig war er, auch wenn man sah, dass er alt war, äußerst sauber, und die Lampen an den Wänden leuchteten unpassend modern vor sich hin. „Du glaubst doch nicht, mein Bruder würde durch einen dunklen, funzelig beleuchteten Gang kriechen?“, kommentierte Sherlock, als hätte er Johns Gedanken erraten.
Mycroft schnaubte. „Geht ihr beide vor, ich darf euch nicht sehen lassen, wie ich die Tür von innen schließe“, erklärte er und für ihn ganz ungewohnt gehorchte Sherlock ohne einen weiteren Kommentar.
Der Gang, der zunächst geradeaus wegführte, machte schon bald einen Knick und führte in einem stetigen Abfall unter das Gebäude zurück. Sherlock ging rasch voran, John bemühte sich, mitzukommen, und hinter sich hörte er, wie Mycroft sich näherte. Trotz der guten Beleuchtung fühlte der Gang sich beengend und luftleer an, und John war erleichtert, als sie vor einer Tür Halt machten, die so groß war, dass sie dem Eingang oberhalb der Erde Konkurrenz machte. Jetzt musste Mycroft sich wieder an den anderen beiden vorbei drängen, um die Tür zu öffnen.
Nach Mycroft betraten beide den Raum, der sich ihnen nun auftat. Die trockene Luft roch muffig, doch erlöste der überwältigende, großartige Anblick, der sich ihm bot, John von sämtlichen klaustrophobischen Anwandlungen. Er stand in der größten Bibliothek, die er je gesehen hatte – und das unteriridisch! „Wow“, flüsterte er und der ältere der Holmes-Brüder ließ ein stolzes Lächeln erkennen. „In der Tat, ‚wow‘ ist eine angemessene Reaktion.“
„Kommt, wir müssen ins Zentrum.“ Sherlock hatte keine Zeit für Andächtigkeit sondern lief voraus, die Art, wie er seinen Weg zwischen den nach keinem erkennbaren System mal parallel mal senkrecht zueinander verlaufenden Regalen fand, zeigte, dass er schon häufiger hier gewesen war. Mycroft zwinkerte John zu. „Mein kleiner Bruder denkt, er hat das Labyrinth durchschaut. Ich denke, ich sollte ihm zeigen, dass es immer noch ich bin, der sich in dieser Bibliothek am besten auskennt. Folgen Sie mir.“ Und sie liefen in den Gang hinein, der dem, den Sherlock gewählt hatte, direkt gegenüber lag. Obwohl sie nicht besonders schnell liefen – John bemerkte, wie er unwillkürlich sein Humpeln betonte, als wolle er dem Mitbewohner eine größere Chance geben – gelangten sie einige Minuten früher an einen runden Tisch, der wohl in der Mitte der Bücherei stand. Als Sherlock schließlich zwischen den Regalen hervortrat bemühte er sich, seinen Ärger nicht zu zeigen, aber John konnte sehen, wie er hinter dem ausdruckslosen Gesicht die Zähne zusammenbiss. Es war klar, dass Sherlock es hasste, sich seinem Bruder unterlegen zu fühlen, und John schwebte in einer Mischung aus Mitleid und Faszination – einerseits tat es ihm Leid, dass Sherlocks Selbstbewusstsein durch das Zusammensein mit seinem Bruder einen Dämpfer erfuhr, andererseits fand er es ungemein spannend, dass Mycroft scheinbar noch intelligenter war, als das ‚verrückte Genie‘, als das er Sherlock schon längst respektvoll aber befremdet eingestuft hatte.
„Also dann, setzt euch, und ich erkläre euch, was zu tun ist.“ Mit einer herrschaftlichen Geste deutete Mycroft auf die Stühle, und es war unschwer zu erkennen, dass er seinen Heimvorteil gegenüber Sherlock einfach noch ein wenig ausspielen wollte. Wortlos nahm der Platz und John tat es ihm gleich. „Als Sherlock mir von den Raben erzählte, dachte ich zunächst, es sei einer von uns,“, begann Mycroft und trotz der Beklemmung, die John im unterirdischen überkommen hatte, nahm er seinen Mut zusammen und unterbrach sofort, da er schon ahnte, dass Mycroft genau wie sein jüngerer Bruder einen Hang zu langen Reden die wenig erklärten hatte. „Was heißt ‚einer von uns‘? Wer seid ihr? Wo bin ich hier? Und sagt jetzt nicht, dass ich das nicht wissen muss – ich bin euch durch einen verdammten Geheimgang gefolgt, ich habe jedes Recht, zu erfahren, was hier eigentlich los ist!“ Aufgewühlt war John ausgesprungen, als die Brüder jedoch nicht sonderlich beeindruckt wirkten und sich nur mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zuwarfen, ließ er sich etwas beschämt wieder niedersinken.
„Na gut,“, seufzte Mycroft dann. „Wenn er dir nicht vertrauen würde, hätte dich Sherlock nicht zu mir gebracht, und Zeit genug für eine kleine Geschichtsstunde haben wir auch. Wir sind nicht in Eile, bis zum 31. werden wir bereit sein.“ Zufrieden lehnte John sich zurück. Was auch immer diese beiden offensichtlich hochintelligenten aber doch so seltsamen Brüder für ein Geheimnis hatten, er würde es jetzt erfahren und könnte dann immer noch entscheiden, was er davon hielt.
„Wahrscheinlich hast du die Räumlichkeiten, durch die ich dich gerade noch oberirdisch führte nicht erkannt“, nahm Mycroft an. John war gekränkt, widersprechen konnte er jedoch nicht. „Es handelt sich hier um den Sitz des Diogenes-Clubs, eines Gentleman-Clubs der schon im 19. Jahrhundert existierte. Männer der gehobenen Gesellschaft treffen sich hier in aller Stille um zu lesen, zu trinken, abzuschalten. Außer in bestimmten dafür ausgezeichneten Räumlichkeiten ist das Reden nicht gestattet, was mich besonders freut. Natürlich wäre es Naivität, den Club nur als Entspannungsresort für die Oberschicht zu sehen. Es geht um mehr. Auf einer Ebene reicht schon das Sehen und Gesehen-Werden, doch werden hier auch mehr politische und wirtschaftliche Vereinbarungen getroffen als irgendwo sonst in London. Doch auch das ist nur die Oberfläche – im wörtlichsten Sinne. Worum es wirklich geht, das siehst du hier.“
John blickte sich um. „Um Bücher?“
Mycroft lachte. „Die Bücher sind wichtig, ja, aber es geht um den Kern der Sache, das, was die Bücher enthalten. Auch wenn ich seit meiner späten Jugend mit dieser Sicht auf die Welt umzugehen gelernt habe, fällt es mir immer noch schwer, es auszusprechen, aber was soll’s: Es geht um Magie.“
John schluckte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Klar, Sherlock hatte schon derartiges angedeutet, doch hier, in einem verborgenen unterirdischen Raum, umgeben von all den alten Büchern, die nach Staub und Leder rochen, fühlte sich alles noch einmal ganz anders an.
„Ja, so wie du gerade aussiehst habe ich mich damals auch gefühlt. Ich hatte gerade begonnen, in London zu studieren. Die Großstadt mit ihren Menschenmassen war mir geliebt und verhasst zugleich. So viele Menschen, so wenig Ruhe, es war unerträglich nervig – doch genauso spannend war es auch. Doch während ich so die Menschen beobachtete, war mir nicht klar, dass auch ich beobachtet wurde. Bis mich eines Abends in einem Pub ein Mann ansprach, dessen Namen zu erfahren sich für dich noch nicht schickt. Er erzählte mir, dass er mich schon lange beobachtete, und glaubte, dass ich der Richtige sei, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden. Zunächst ging ich noch von einer allzu plumpen Anmache aus, und als der vollkommen nüchterne Mann Dinge über mich wusste, meinen Namen, Informationen über meine Familie und mein Studium, fürchtete ich schon, in das Visier eines Stalkers geraten zu sein. Mit einem Selbstbewusstsein, das fast schon an Selbstüberschätzung grenzte, wie ich gestehen muss, willigte ich jedoch ein, ihn in die Räumlichkeiten des bekannten Diogenes-Clubs zu begleiten. Ich war mir sicher, mich im Falle eines körperlichen Übergriffes wehren zu können, außerdem war meine Neugierde darauf, mich dort aufzuhalten, wo sich die Größten der britischen und internationalen Politik herumtrieben, größer als jegliche Vorsicht. Hier begann mein Begleiter dann, mir die Geschichte des Diogenes-Clubs zu erzählen – des wahren Diogenes-Clubs! In Hinterzimmern betriebene Politik ist die glänzende Oberfläche einer noch viel machtvolleren Unterwelt. Hier wird ein Wissen bewahrt, das sich seit jeher durch die Geschichte und Geographie Londons zieht. London ist eine Stadt der Finsternis und des Verborgenen. Eine dunkle Stadt, eine untergründige Stadt. Sie ist weltbekannt für ihr Untergrundbahnsystem, das man auf jeglichem touristischen Kitsch, von Kühlschrankmagneten bis T-Shirts, kaufen kann. Das ist nicht verwunderlich – auch solche Menschen, die wenig davon wissen, was sich hinter Londons bunter Fassade verbirgt, spüren instinktiv, dass die wichtigen Dinge im Untergrund geschehen. Doch haben sie keine Ahnung, was unterhalb Londons wirklich vor sich geht. Du bist vielleicht beeindruckt, von dem was du hier siehst, der riesigen Bibliothek, den unzähligen Büchern,“ – er beobachtete Johns Gesicht genau, sprach erst weiter, als er ein zufriedenstellendes Maß an Bewunderung registriert hatte – „doch dies ist nur ein Bruchteil des Wissens, das an geheimen Orten Londons versammelt ist. Die wirklich Eingeweihten des Diogenes-Clubs verwahren das Wissen um den Zugang zu magischen Städten, zu Ritualen, die die Grenzen zwischen den Jahrhunderten oder den Universen der Lebenden und Toten verschwimmen lassen. Wir wissen von Bauwerken in London, die durch jahrtausendealte Energielinien verbunden sind, von Straßenecken, die einen, sollte man zur falschen Uhrzeit um die Ecke biegen, in Shakespeares Zeit zurück schicken.“ Das war zu absurd. John konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen, das in dem stillen altehrwürdigen Raum fehl am Platz und furchtbar laut klang.
„Ja, so habe ich auch reagiert.“ Mycroft verzog spöttisch die Lippen. „Bis ich es selbst erlebte.“
„Halt, warte, heißt das – du … du hast eine Zeitreise gemacht?“ John strengte sich an, nicht zu lachen, doch es war schwer. Waren die Holmes-Geschwister verrückt?
„Ja – nicht freiwillig. Sherlock hat es verschuldet. Es hätte mir klar sein müssen, dass ich in meinem neuen Leben in London nicht in etwas Geheimnisvolles verwickelt sein könnte, ohne, dass mein kleiner Bruder davon Wind bekäme. Auch wenn er, wie ich nicht müde werde, zu betonen, nicht für den Diogenes-Club außerwählt worden ist.“
Jetzt war es an Sherlock, zu lachen. „Wobei ich mir immer noch sehr sicher bin, ich hätte mich nicht so in Gefahr gebracht, wenn du mir mehr Informationen gegeben hättest. Dann hätte ich mich wohl nicht einfach auf die Suche gemacht, um dann Hals über Kopf im viktorianischen Zeitalter zu landen …“
Auf Mycrofts Gesicht schlich sich ein Lächeln, das ihn fast freundlich aussehen ließ. „Nun, hätte ich dich nicht zurückholen müssen, hätte ich Oscar nicht kennengelernt, und unsere gemeinsamen Augenblicke möchte ich keinesfalls vermissen … Allerdings hätte mich deine Neugierde fast sämtlichen erarbeiteten Respekt der langjährigen Clubmitglieder gekostet!“
„Äh, ist ja schön, dass ihr so in Erinnerungen schwelgt, aber“, unterbrach John, „nehmen wir einfach mal an, ich glaube euch. Es gibt Magie. London ist … verzaubert. Oder so. Egal. Ich sag‘ jetzt einfach mal, dass ich euch galube – was hat es denn nun mit den Vogelschwärmen auf sich, die täglich durch unser Fenster starren?“
„Die Raben … ja, die Raben hätten mir eigentlich von Anfang an verraten sollen, mit wem wir es zu tun haben.“ Sherlock seufzte. Man sah ihm an, dass er sich darüber ärgerte, etwas scheinbar Offensichtliches übersehen zu haben.
„Du konntest ja nicht ahnen, dass er nochmal Kontakt aufnehmen würde. Ich habe es auch nicht geahnt“, gab Mycroft zu. Auch er sah etwas beschämt aus.
John sitzt sprachlos da. Keinem der Brüder hätte er einfach so zugetraut, einen Fehler zuzugeben, und jetzt taten es beide zur gleichen Zeit? Das war ja fast noch unglaubwürdiger als die Sache mit der Magie!
„Wie auch immer. Was geschehen ist, ist geschehen, und wenn er es noch einmal mit dir aufnehmen möchte, bist nicht du es, der sich fürchten muss“, fasst Mycroft sich wieder und zeigt zum ersten Mal an diesem Tag tiefen und ehrlichen Respekt vor seinem Bruder. „Jim Moriarty ist ein überragender Zauberer, aber er ist zu sehr von sich eingenommen und zu überschwänglich. Du bist planvoller. Ganz abgesehen davon, stehen ich und den Rest des Clubs hinter dir – Jim arbeitet, nach dem was ich so höre, immer noch alleine. Verkauft seine Dienste an Kriminelle, die mit Magie spielen, sich ihr jedoch nicht wirklich verpflichten wollen.“ Die Verachtung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Wer ist denn dieser Jim?“ Vor Spannung war John bis an die Stuhlkante gerutscht, konnte seine Ungeduld nicht verbergen als die Brüder mal wieder über seine Kopf hinweg über Dinge redeten, die sie ihm nicht erklärten.
„Jim wurde, einige Zeit nach dem ich mich als Clubmitglied etabliert hatte, ebenfalls angeworben. Er ist Intelligent, an allem scheinbar unerklärlichen interessiert, aber auch, wie soll ich sagen … absolut ohne jegliche Moral“, erklärte Mycroft. „Damit meine ich nicht, dass er im herkömmlichen Sinne ‚böse‘ ist. Das würde ja eine Fähigkeit zumindest zur groben Unterscheidung der Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ voraussetzen, diese fehlt ihm aber vollkommen. Er tut, was ihm in den Sinn kommt, was gerade interessanter erscheint. Und interessanter für ihn ist eben oft das, was anderen Menschen schadet. Als offensichtlich wurde, dass er seine beeindruckenden Fähigkeiten in den Dienst der Kriminalität stellt, wurde er noch vor Ablauf seiner Bewährungsphase aus dem Diogenes-Club verbannt, was ihn wohl mehr gekränkt hat, als wir damals ahnten.“
„Hm. Okay. Es erleichtert mich ja schon, dass ihr zumindest in diesem Club keine schwarze Magie zu betreiben scheint …“ Nervös tippte John die Fingerspitzen der rechten Hand aneinander, eine Angewohnheit die er sich während unangenehmer Schweigephasen in seinen Therapiesitzungen angewöhnt hatte. „Doch wenn sein Problem ja mit dem Diogenes-Club besteht, wieso lässt er dann Sherlocks und meine Wohnung von seinen Vögeln beschatten? Glaubst du, er möchte über Sherlock an dich herankommen?“
Auflachend schüttelte Mycroft den Kopf. „Ich glaube nicht, dass Jim Moriarty den Fehler machen würde, meine Sentimentalität zu überschätzen. Nein, sein Zwist mit Sherlock liegt darin-“
„… dass ich es war, der sein kriminelles Treiben überhaupt erst erkannte und dem Club offenbarte!“, unterbrach ihn Sherlock. „Mycroft war damals vollkommen in die okkulten Zusammenhänge Londons versunken und hatte für die profane Alltagswelt keine Aufmerksamkeit mehr übrig. Ich hingegen hatte begonnen, mich der Aufklärung von Verbrechen zu widmen und bin auf dieses Weise auf Jim aufmerksam geworden. Zu schade, dass wir auf verschiedenen Seiten des Gesetzes stehen – er ist ein enorm kluger Mann der enorm dumme Entscheidungen trifft“, stellte er mit ehrlicher Bewunderung fest und John spürte zu seinem Ärger wie ihn eine plötzliche schmerzhafte Eifersucht durchzog. Wer könnte das nur sein, der Mann, der von Sherlock Holmes als „enorm klug“ bezeichnet wurde?
„Und weil Sherlock, indem er ihn als Verbrecher offenbarte, seine Mitgliedschaft im Diogenes-Club vereitelte, möchte Moriarty sich nun anscheinend an ihm rächen“, fasste Mycroft die Lage zusammen.
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Noch bis in die Nacht waren die drei im unterirdischen Bereich des Clubs gesessen und hatten Pläne geschmiedet. Eigentlich waren es nur Sherlock und Mycroft, die geredet und Bücher gewälzt hatten. John hatte, immer noch zwischen Unglauben und einem unerklärlichen tiefen Vertrauen schwankend, den Gesprächen gelauscht. Hätten die beiden über gewöhnliche Dinge geredet, wäre es schon schwer gewesen, ihnen zu folgen, so rasch war das Redetempo der Brüder, so plötzlich und komplex die Verbindungen, die sie schlugen, doch da es bei dieser Unterhaltung um fremde Worte, Konzepte und Rituale ging, hatte sich John teils wie in einem surrealen Traum gefangen gefühlt, bis er endlich wirklich weggedämmert war. Und, zu seiner Überraschung, endlich einmal albtraumlos geschlafen hatte, bis Sherlock ihn geweckt hatte und sie sich ein Taxi zur Baker Street zurück genommen hatten.
Die Woche bis zum 31. Oktober verging wie in einem Fiebertraum. Im Auftrag Sherlocks eilte John durch die Stadt, holte Päckchen mit Kräutern, Steinen und nicht näher definierbaren Gegenständen an allen möglichen Orten ab; er hinterfragte Sherlocks Anweisungen auch dann nicht, wenn sie so unerklärlich waren, wie, dass er sich zu bestimmten Uhrzeiten an bestimmte Plätze in London begeben sollte und lateinische Zitate vor sich hin murmeln, was ihm verwirrte Blicke einiger Touristen einbrachte. Sich unter dem skeptischen Blick vom Securitypersonal unglaublich unauffällig gebend versteckte er in der British Library Botschaften an ausgewählten Exponaten. All dies nur, weil Sherlock es sagte. Auch wenn er sich immer noch nicht sicher war, inwieweit er die seltsamen Erzählungen der Geschwister Holmes glauben konnte, hatte er gemerkt, dass Sherlock ihm, indem er ihn mit zu seinem Bruder genommen hatte, sein Vertrauen gezeigt hatte, und instinktiv konnte er dieses Vertrauen nur erwidern. Und, wie er sich täglich bei der Rückkehr in die Wohnung einzureden pflegte, war der Vogelschwarm auf dem Dach durchaus ausgedünnt.
Als er am Morgen des 31. Oktober durch Sherlocks Klopfen an seiner Zimmertür erwachte, bemerkte John mit Erstaunen, dass er wirklich eine ganze Nacht durchgeschlafen hatte, seit Gott-weiß-wie-lange. Lange konnte er sich nicht wundern, dann ging die Zimmertür schon auf und ein hellwacher Sherlock stand vor ihm. „Süßes oder Saures!“ begrüßte er John. „Bereit, meinem alten Erzfeind und seinen Vogelfreunden zu zeigen, dass wir uns durch seine Tricks nicht einschüchtern lassen?“
Langsam richtete John sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Äh, ich schätze schon.“ Er war von Sherlocks unverhohlener Freude ein bisschen verwirrt, aber schließlich hatte er dessen Abneigung gegen jegliche Art von Langeweile inzwischen zur Genüge kennen gelernt. Sherlock nahm es wohl lieber mit einem bösen Magier auf, als sich dem Alltagstrott hinzugeben, und John hätte lügen müssen, wenn er leugnen sollte, das nicht irgendwie verstehen zu können. Seitdem er Sherlocks Aufträgen gefolgt und vollkommen in der Vorbereitung auf Samhain aufgegangen war, waren seine Flashbacks seltener geworden, so sehr ging er in der okkulten Ablenkung auf.
Als er registrierte, dass Sherlock, der aufgedreht in seinem Türrahmen stand, schon angekleidet war, wollte er, aus Angst, verschlafen zu haben, sofort aus dem Bett springen, doch dann musste er erst Mal starren. Sherlock trug ein eng anliegendes dunkel-lila Seidenhemd, das seinen schmalen Körper betonte und mit seiner hellen Haut und den dunklen Haaren wahlweise Kontrast und Konvergenz bildete. Natürlich bemerkte Sherlock seinen Blick und sein Grinsen wurde noch breiter. „Schönes Hemd, oder? Steht mir ziemlich gut“, sagte er jetzt auch noch, als wäre John die Situation nicht peinlich genug. „Ich habe es mir extra für diesen großen Tag gekauft – nach allem, was ich über die Realität weiß, nehme ich auch die Kräfte der Farben sehr ernst. Violett verheißt spirituelle Einsichten, so kitschig das auch klingt, und ich denke, dass wir das heute durchaus nötig haben.“ Mit diesen Worten verließ er Johns Schlafzimmer und ließ diesen errötend und verwirrt zurück.
Die Vögel, die sich in den vergangenen Tagen verstreut zu haben schienen, bevölkerten heute wieder in großer Zahl den Himmel über der Baker Street. „Dass das sonst niemandem auffällt …?“, murmelte John halblaut, während er sich, heute ohne Krücke, am Küchentisch nieder ließ.
Sherlock zuckte mit den Schultern. „Die meisten Menschen sehen nur, was sie zu sehen erwarten. Dir sind die Raben auch nicht aufgefallen, bevor ich dich darauf aufmerksam machte.“
Darauf konnte John nichts sagen, stattdessen warf er noch einen verstohlenen Blick auf Sherlock in seinem violetten Hemd. Dann wollte er noch einmal aufstehen und zum Kühlschrank gehen, und bemerkte mit Erstaunen, dass Sherlock eine Milchpackung auf den Tisch gestellt hatte, die sogar noch voll war, eine seltene aufmerksame Geste. Während er aß und trank erklärte Sherlock ihm den Plan für den Tag: „Wir haben die letzte Woche damit verbracht, uns gegen allgemeine magische Angriffe zu wappnen. Währenddessen war auch Mycroft nicht untätig, und durch seine Kontakte in der magischen Unterwelt Londons ist es ihm tatsächlich gelungen, nicht nur herauszufinden, wo Moriarty sich eingerichtet hat, sondern auch, welches Ritual er wahrscheinlich heute Abend durchführen möchte.“
Vor Aufregung fiel John die Toastscheibe aus der Hand und flatschte mit der Marmeladeseite voran auf den Boden. „Zum Glück ist das, soweit ich weiß, kein schlechtes Omen“, scherzte Sherlock, bevor er erläuterte, wie sie Moriartys Plan vereiteln konnten. „Heute Nacht sind die Grenzen zwischen der Welt der Lebenden und der Toten besonders durchlässig, und Mycroft vermutet, dass Moriarty gegen Mitternacht eine Beschwörung durchführen möchte, die die Geister derer, deren Tod ich verschuldet habe, auf meine Fährte schickt.“
„Halt – warte! Deren Tod du verschuldet hast? Ich dachte, du hilfst Menschen, ich dachte, du bist … gut.“ Das klang ein wenig jämmerlich, doch John fühlte sich auch mit einem Mal äußerst jämmerlich.
Sherlock machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich sorge dafür, dass Verbrechern das Handwerk gelegt wird. Kollateralschaden gibt es immer – Kleinkriminelle, die mir entwischten, die aber von ihrem Boss mit dem Tod bestraft sind. Mörder, die lieber zum Selbstmörder wurden, als der Justiz ins Auge zu sehen …“
John schluckte, sagte aber nichts. Er konnte nicht anders, als zu glauben, dass Sherlock nach bestem Wissen und Gewissen handelte und dass seine Mitleidslosigkeit sich auf wirklich schlechte Menschen beschränkte.
„Das Einzige, was wir nun tun müssen“, fuhr Sherlock fort, „ist es, Moriarty in seinem Versteck zu überraschen, bevor er bei Einbruch der Dunkelheit mit dem Ritual beginnen kann. Da er nicht weiß, dass wir wissen, wo er ist, halte ich das für ein relativ problemloses Unterfangen. Nicht vollkommen ungefährlich, aber das wäre ja auch langweilig, nicht wahr?“
John überlegte, auch wenn er wusste, dass die Frage eine rhetorische war. Dann lächelte er Sherlock an. „Ja, verdammt langweilig!“ Endlich passierte etwas in seinem Leben, auch wenn dieses etwas, das passierte, zum einen so unglaubwürdig war, dass er niemandem davon erzählen konnte, geschweige denn, davon bloggen könnte, ohne zum Gespött des Internets zu werden. Der andere Teil dieses „Etwas“ war, dass er, wie er sich nun eingestand, sich in seinen Mitbewohner verliebt hatte – doch darum könnte er sich kümmern, sobald sie Moriarty das Handwerk gelegt hatten.
Als sie mal wieder in einem Taxi saßen, stellte es für John immer noch eine große Anstrengung dar, Sherlock nicht ununterbrochen anzustarren. Die Aufregung, dass endlich etwas Spannendes geschah, bestimmt auch der Triumph, in das Gebiet seines Bruders einzudringen, indem er sich mit magischen Ritualen befasste, standen Sherlock gut zu Gesicht. Seine Augen leuchteten und die sonst fast krankhaft blasse Haut wirkte lebendiger. „Was ist eigentlich die Bedeutung der Raben?“, fragte John, um sich so von Sherlocks Erscheinung abzulenken, und der Angesprochene erklärte nur zu gerne.
„Jim hatte schon immer eine Affinität zu diesen Vögeln. Wie du sicher weißt, sind Raben eine der intelligentesten Vogelarten, es ist also kein Wunder, dass er sich in dieser Hinsicht mit ihnen identifiziert. Dazu kommt noch, dass seine Identifikation mit diesen Vögeln sich besonders auf die Tower-Raben beruft. Es ist in der Unterwelt, sowohl der okkulten als auch der schlicht kriminellen, kein Geheimnis, dass auf seiner To-Do-Liste ganz weit oben ein Eindringen in dieses gutbewachte Gebäude steht. Die Raben symbolisieren für ihn die Möglichkeit, überall ein und auszugehen … Dass diese Raben dank ihrer gestutzten Flügel nicht wirklich frei und nur glorifizierte Haustiere sind, stört ihn entweder nicht, oder seine Fähigkeiten, Metaphern zu bilden, ist deutlich schwächer ausgeprägt als sein magisches und verbrecherisches Talent.“ Sherlock lachte leise. „Auch der Diogenes-Club hat früher noch häufiger magische Experimente mit Raben betrieben, die ja seit jeher als mit Magie eng verbunden gesehen werden, und das nicht zu Unrecht. Vielleicht sieht man hier also auch Jims Versuch, ein Tier, das dem Club so nahe steht, zu dem seinen zu machen.“
John nickte. Ihm war, während Sherlock sprach, etwas anderes aufgefallen. Etwas, das so gar nichts mit Raben oder der aktuellen Bedrohung durch Moriarty zu tun hatte. Dennoch, bevor er es sich lange überlegen konnte, fragte er einfach: „Wieso nennst du ihn eigentlich beim Vornamen – also Jim Moriarty. Seid ihr euch so gut bekannt?“ Er bemühte sich, Nonchalance in seine Stimme zu legen, was bei jemandem, der Menschen so gut lesen konnte wie Sherlock, natürlich vergeblich war.
„Eigentlich nicht. Ich kann nicht leugnen, dass er mich fasziniert. Er ist, auf eine ganz eigene Weise, brillant. Und, du muss doch auch gemerkt haben, dass es ein seltenes Ereignis ist, dass ich und Mycroft auf jemanden stoßen, der es in dieser Hinsicht mit uns aufnehmen kann.“
John schwieg in verzweifelter Eifersucht.
Mit einer für ihn fast freundlich klingenden Stimme ergänzte Sherlock nach einigem Zögern: „Das heißt nicht, dass ich dich weniger schätze. Im Gegenteil. Moriarty ist immer noch mein Gegenspieler, und du … bist das nicht.“
John registrierte mit Verwunderung, dass ihr Taxi vor einem relativ günstigen Hostel in der Nähe des Hyde-Parks Halt machte. „Moriarty hat sich in einem Hostel eingerichtet? Kann er sich nicht einmal die Monatsmiete für ein noch so kleines Apartment leisten?“ Sherlock grinste. „Weder du noch ich sollten über den Wohnungsmarkt in London scherzen, schließlich haben wir uns ja nur durch die entsetzlichen Mietbedingungen kennengelernt … Aber nein, das ist nicht der Grund, warum Jim Moriarty hier haust. Laut Mycrofts Nachforschungen hat er alle paar Tage das Hotel oder Hostel gewechselt, immer den Eindruck erweckt, auf Durchreise zu sein. Wahrscheinlich war ihm klar, dass er immer in Gefahr lief, von mir oder dem Club durchschaut zu werden, er hatte nur unterschätzt, wie lange das dauern würde.“ Mit wehendem schwarzen Mantel eilte Sherlock durch die Glastüren am Eingang die sich automatisch aufschoben und John folgte ihm. Fast beiläufig registrierte er, seine Krücke in der Baker Street vergessen zu haben, doch jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken.
An der Rezeption tuschelte Sherlock bereits mit der jungen Frau, die über die Schlüsselkarten wachte. Sie lauschte ihm mit ernstem Gesichtsausdruck und schob ihm dann einen Zettel zu. Mycrofts Einfluss, bestimmt, das wusste John. Er erinnerte sich an die erste Begegnung mit Sherlock, als dieser deduziert hatte, John wollte nicht die Hilfe seines Bruders – der ja eine Schwester war – in Anspruch nehmen. Zuerst hatte er dies als Vorwurf interpretiert, dann, als er gelernt hatte, dass Sherlock einen Bruder hatte, aber auch dessen Hilfe, was das Bezahlen einer Wohnung anging, nicht erbeten hatte, hatte er sich ihm verbundener gefühlt. Mit der Zeit erkannte er aber, dass Sherlocks und Mycrofts Verhältnis nicht alleine auf die trennenden Kräfte von Stolz und Konkurrenz zurückzuführen war, es war komplexer, genauso wie das zwischen ihm und Harriet. Und eigentlich alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Er seufzte und folgte Sherlock in den Fahrstuhl.
Der Aufzug war eng doch glücklicherweise war die Rückwand verspiegelt, sodass der rechteckige Raum etwas größer wirkte. Während Sherlock auf die Taste mit der Nummer Neun drückte besah sich John das Bild, das beide im Spiegel abgaben. Sherlock, groß und schlank in seinem Mantel, über dessen Kragen das lilafarbene Hemd hervorblitzte, sah vorfreudig aus und John musste erfreut zugeben, dass auch er gefasster aussah, als er sich fühlte. Nachdem er nun eine Woche lang Erzählungen über die Taten Jim Moriartys gehört hatte, war es eine Erleichterung, ihm in nur wenigen Sekunden persönlich gegenüber stehen zu können. Darauf warten, dass etwas passierte, war wohl doch immer schlimmer als es einfach passieren zu lassen. Er war Sherlock einen scheuen Blick zu, sich fragend, ob dieser gemerkt hatte … Aber dafür war jetzt keine Zeit. John atmete tief durch und nahm eine gefasste Haltung an. Es gab nur noch eines, auf das er sich jetzt konzentrieren durfte: den Feind.
Sie stiegen aus und liefen den mit einem gemusterten Teppichboden ausgelegten Gang entlang. Vor dem Zimmer mit der Nummer 936 blieb Sherlock stehen. Kurz zog er irritiert die Augenbrauen zusammen. „Soweit ich weiß, gibt es im neunten Stockwerk keine Einzelzimmer. Man hätte doch denken können, dass Jim so viel Privatsphäre wie nur möglich braucht …“ Ein Kommentar seitens John war nicht nötig. Gleich würden sie ja sehen, wie Moriarty es sich eingerichtet hatte.
Es wirkte, als wolle Sherlock die Tür einfach eintreten, doch dann besann er sich einer höflichen Herangehensweise. Er klopfte kurz aber kräftig. Zunächst blieb es hinter der Tür still, dann ertönte eine ölige Stimme, fragend, aber selbstbewusst: „Hallo? Ich erwarte niemanden.“ Ein Lächeln schlich sich auf Sherlocks Gesicht, es war ihm anzusehen, dass er den Moment genoss.
„Es ist wirklich wichtig – dürfte ich bitte eintreten?“ Sein Tonfall war ausgesucht höflich und die charakteristische tiefe Stimme konnte nicht verwechselt werden.
John rutschte das Herz in die Hose als die Tür vor ihnen ruckartig aufgerissen wurde.
Vor ihnen stand ein kleiner, schmaler Mann mit schwarzen Haaren und Augen, der Sherlock mit unverhohlener Wut ansah. Aus dem verdunkelten Zimmer stieg ihnen ein süßlicher, verrottender Duft entgegen.
„Hallo, Jim“, grüßte Sherlock, schob den Mann bei Seite und betrat das Zimmer. John beeilte sich, es ihm gleich zu tun und schloss die Tür sorgsam hinter sich. Kein Tourist sollte unnötig aufgeschreckt werden, bei was auch immer hier gleich vor sich gehen würde.
Als sie den Raum betreten hatten, mussten sich Sherlocks und Johns Augen erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Die Rollläden waren heruntergezogen, nur einzelne Strahlen des dumpfen Oktoberlichtes fanden ihren Weg hinein. Die an gegenüberliegenden Wänden stehenden Hochbetten boten Raum für vier Gäste, und auch wenn sie zunächst nur schemenhaft erkennbar waren, blinzelte John ein paar Mal und dann beantwortete sich auch seine Frage, warum ein Einzelzimmer für Moriarty nicht von Nöten war. In drei der vier Betten lag, nicht einmal von einer Decke verborgen, eine Leiche in einer Pfütze ihres eigenen Blutes. So viel Blut war ausgetreten, dass es sich durch die Matratzen gesogen hatte und die oberen Betten an ihrer Unterseite dunkle, widerliche Flecken aufwießen. John hatte entsetzliche Dinge gesehen, doch der Widerspruch zwischen einem lauten, hektischen Schlachtfeld voll von Leid und Tod und diesem düsteren, stillen Raum, der nach Verwesung roch, ließ ihn würgen. Doch er biss die Zähne zusammen und durchsuchte mit den Augen weiterhin den Raum, bis er erkannte, dass Moriarty sich in einer Zimmerecke einen kleinen Altar errichtet hatte.
Weder Sherlock noch Moriarty nahmen John noch zur Kenntnis. Sie standen einander nun gegenüber und hatten nur Augen für den jeweils anderen. Die Spannung, die zwischen ihnen stand, war fast greifbar, und wieder wurde John von einer unerklärlichen Eifersucht gepackt. Einerseits wusste er, dass Sherlock hier war um Moriartys Plan zu vereiteln – andererseits konnte er nur davon träumen, vom Detektiv mit einer solchen Faszination im Blick angesehen zu werden.
„Es hätte mir klar sein müssen, dass du nicht die Geduld besitzt, auf deine Samhain-Überraschung zu warten“, säuselte Moriarty nun und John stellten sich beim Anblick seines spielerischen Grinsen die Nackenhaare hoch.
Sherlock lachte den anderen nur aus, laut und selbstbewusst. „Dir hätte außerdem klar sein müssen, dass dir dein Hang zum Dramatischen zum Verhängnis wird. Du solltest lernen, dich zusammen zu reißen. Die Raben, ernsthaft? Wir waren seit Wochen vorgewarnt.“
Nur für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Moriarty als sei er aus dem Konzept gebracht, dann fasste er sich wieder und sein Grinsen wurde noch bereiter. John schien es im Dämmerlicht als habe er viel zu viele, viel zu kleine spitze Zähne, wie einer dieser Fische, die in den tiefsten Meeresgründen leben und ihre Opfer durch glänzende Lichter anlocken, um sie dann zu verschlingen.
„Nun ja. Man muss mit dem arbeiten, das man hat. Und wo ihr beide schon einmal hier seid, könnt ihr euch auch nützlich machen. Besonders auf deinen Mitbewohner bin ich sehr neugierig.“ Moriarty fletschte seine Raubtierzähne und John ballte die Fäuste. „Natürlich gibt es faktisch nichts, was ich über ihn nicht schön wüsste, aber es ist ganz schön aufregend, ihn auch persönlich kennen zu lernen.“ Er trat näher an John heran, und als der merkte, dass der andere ihn wirklich beschnupperte, wäre er fast zurück gewichen, konnte sich aber noch bremsen. Moriarty war das kurze Zucken jedoch nicht entgangen und er sah John mit einem triumphierenden Lächeln direkt in die Augen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein normaler – und damit meine ich minderwertiger – Mensch es so lange mit Sherlock in einer Wohnung aushält. Meinen Glückwunsch! Steckt in dir mehr, als ich bisher herauskriegen könnte, oder leidest du einfach gerne?“
John sah dies keiner Antwort wert und so war es Sherlock der verächtlich schnaubte. „Du hast schon immer dazu tendiert, andere Menschen zu unterschätzen, und das war auch schon einige Male dein Verhängnis, Jim, nicht zuletzt heute.“
Langsam, in einer nahezu zeitlupenhaften Bewegung wandte Moriarty sich wieder von John ab und zu Sherlock um. „Mein Verhängnis? Heute?“ Er dehnte die Worte in betontem Unglauben aus, und seine hohe, schmierige Stimme, die weder überrascht noch unsicher klang, bereitete John eine Gänsehaut. „Ich glaube nicht, dass heute für mich irgendetwas schief geht. Ich meine, hier stehst du, Sherlock, mein Seelenverwandter, und ein hilfloses Blutopfer hast du auch schon mitgebracht …“
Jetzt lachte Sherlock laut auf, ein Geräusch, das in dem stinkenden, düsteren Zimmer unglaublich fehl am Platz wirkte. „Dein Seelenverwandter? Jetzt werde nicht lächerlich. So etwas gibt es nicht – und wenn, wärest du nicht meiner. Abgesehen davon, dass John keineswegs hilflos ist, brauchst du auch kein Opfer mehr. Drei sind genug, und auch nur ein weiteres würde alles zerstören, das weißt du genauso wie ich. Also spar dir dein rhetorisches Selbstbeweihräuchern und lass‘ dich von uns zum Diogenes-Club führen, dort wirst du schon erwartet. Sie wissen am besten, wie man einen außer Kontrolle geratenen Magier handhabt.“
„Wir, keine Seelenverwandte? Bist du dir da ganz sicher, dass du mich nicht brauchst, wie ich dich brauche? Dass du nicht an mich denkst, auch wenn ich nichts von mir hören lasse, nicht das kleinste Massaker, dass dein Herz nicht schneller schlägt, wenn du an einem Mord meine Handschrift erkennst?“, säuselte Moriarty.
John hätte ihm am liebsten seine Faust ins Gesicht geschlagen, vor allem, als Sherlock nicht sofort verneinend antwortete, sondern sich die Worte des Anderen scheinbar ernsthaft durch den Kopf gehen ließ, bevor er entgegnete: „Ich denke an dich, so wie kleinere Geister an ihre liebste Fernsehserie denken, wenn die nächste Staffel auf sich warten lässt. Du bist ein Hobby, eine Unterhaltung, wenn das Leben mir sonst nichts bietet.“ Seine Stimme war kalt und Moriarty sah ihm entsetzt ins Gesicht. Er wirkte ernsthaft verletzt und gekränkt, weshalb es seiner sonst so unfehlbaren Aufmerksamkeit entging, dass John eine Hand in die Innentasche seiner Jacke gleiten ließ. Als er den Gegenstand berührte, der laut Sherlock und Mycroft dazu in der Lage war, Moriarty außer Gefecht zu setzen, erschauderte er vor Ekel unwillkürlich.
Moriarty sah Sherlock immer noch mit einem Blick an, der irgendwo zwischen Heiratsantrag und Mordversuch lag, weshalb John sich unbeobachtet fühlte. Mit schnellen Schritten hatte er das Zimmer durchquert, war auf den Altar zugegangen, und mit einem raschen Schwung platzierte er den toten Raben inmitten des Gebildes aus glänzenden Mineralien und einigen Tierknochen – jedenfalls hoffte John, dass es Tierknochen waren. „Nein! Wie kannst du es wagen-?“ Moriarty war herumgefahren, doch als er auf John zurennen wollte, packte Sherlock den Arm seines Gegenspielers und drehte ihn ihm auf den Rücken. Moriarty gab ein Mischung aus Zischen und Krächzen von sich, während er nach Sherlock trat und sich in seinem Griff wand. Nun zog John eine Pistole hervor und richtete sie auf ihn – ganz auf magische Hilfsmittel verlassen konnte er sich noch nicht. Als Moriarty klar wurde, was es war, das John auf seinen Altar gelegt hatte, wurde er in Sherlocks Händen ganz schlaff und nun trat eine unübersehbare Verzweiflung in seinen Blick. Fast schon liebevoll flüsterte Sherlock ihm ins Ohr: „Siehst du, es ist immer ein Fehler, sich für ein Ritual allzu fest an ein bestimmtes Tier zu binden, mag es auch zu noch so beeindruckenden Effekten führen.“
„Das werdet ihr bereuen. Ihr werdet dafür büßen, das verspreche ich euch. Du wirst dafür büßen. Wenn ich diese Nacht hier überstanden habe, schnappe ich mir deinen Freund hier und mache aus seinem Leben einen einzigen Albtraum der Schmerzen“, wisperte Moriarty mit monotoner Stimme und zeigte keine Regung mehr.
John zweifelte nicht daran, dass er es ernst meinte, doch die Pistole in seiner Hand zitterte nicht.
„Darum kümmern wir uns, wenn es soweit ist. Komm, John, wir gehen!“ Es war schwer zu sagen, ob Sherlock so gelassen war, wie er tat, doch gab er auf jeden Fall ein gefassteres Bild als Moriarty ab. Als er diesen losließ, sackte er zu Boden, als habe er alle Willenskraft verloren. Die Panik in seinem Gesicht war nicht zu leugnen. Dennoch hielt John die Waffe auf ihn gerichtet, als er an ihm vorbei wieder zur Tür lief. Kurz, bevor er und Sherlock das Hostelzimmer wieder verließen, wandte der Detektiv sich noch einmal um und gab lässig den Ratschlag: „Du weißt, dass deine Nacht entsetzlich wird. Das Ritual, das du für mich vorgesehen hast, richtet sich nun gegen dich, und ich denke, dir ist bewusst, dass du viel mehr, viel wütendere Tote auf dem Gewissen hast. Der einzige Ort, wo du dir Hilfe suchen könntest, ist der Diogenes-Club – ob du dich lieber dem Gerechtigkeitssinn der Clubmitglieder oder deiner ganz persönlichen Nacht der lebenden Toten stellen möchtest, bleibt dir überlassen.“
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Auf der Fahrt nach Hause sprachen sie nicht. John war noch vollkommen überwältigt von der blutigen Realität Jim Moriartys und auch Sherlock schien etwas zu beschäftigen.
Wieder in der Baker Street angekommen, sahen sie sich endlich an. Es war, als wartete jeder darauf, dass der andere etwas sagen würde. Schließlich ergriff Sherlock, für ihn sehr ungewohnt vorsichtig das Wort: „Nun also weißt du, mit was ich mich ab und an herumschlage – falls dich die gewöhnlichen Verbrechen noch nicht abgeschreckt haben, dann vielleicht dieses Erlebnis. Doch, ich muss sagen, du schienst mir nicht zu nervös.“
„Ich … nein. Als ich da stand, die Pistole in der Hand, wissend, dass einem schlechten Menschen das Handwerk gelegt wird … ich war in meinem Element. Ich habe seit langem nicht so gut geschlafen, wie in der letzten Woche.“ John zögerte. „Meine Therapeutin sagte mir schon, dass viele traumatisierte Menschen das vermissen, was ihnen das Trauma bescherte, und ob bewusst oder unbewusst, ähnliche Situationen aufsuchen. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass das auch bei mir so ist. Es ist nicht gesund, undsoweiter, das weiß ich ja. Aber ich brauche es. Die Spannung, die Lebensgefahr … ich möchte weiter mit dir Fälle aufklären.“
Sherlock lächelte. „Das dachte ich mir. Es freut mich. Zu einem gesunden Lebensstil verleiten kann ich dich nicht, aber zu einem interessanten. Und das ist es, was du brauchst.“
John nickte. Da war noch mehr zu sagen, aber sollte er …
„Oh, noch etwas“, Sherlocks Lächeln nahm etwas Eigenes an, das John noch nie an ihm gesehen hatte, „als Moriarty mir drohte, dir etwas anzutun, war das kein Schuss ins Blaue. Er hat sofort gesehen, was du scheinbar nicht sehen kannst: wie wichtig du mir bist.“
Johns Herz klopfte. Er war so nervös wie noch nie an diesem so gänzlich surrealen Tag. Sherlock stand da, die Wangen von der Aufregung gerötet, der oberste Knopf seines lilafarbenen Hemdes offen stehend, und ihn so offen und ehrlich und unverstellt ansehend wie nie zuvor. Jetzt war es ausnahmsweise John, der in seiner Unsicherheit nur mit Ironie reagieren konnte: „Ich bin dir wichtig? Ist das die spirituelle Erkenntnis, zu der dir dein violettes Hemd verhalf?“ Er lachte nervös und schluckte, als Sherlock näher trat, so nah, dass er seine Wimpern hätte zählen können, hätte er das gewollt.
„Das könnte man durchaus so sagen,“, flüsterte der Detektiv. „Und da ich ja nun meine Erkenntnis gewonnen habe, brauche ich das Hemd auch nicht mehr, oder was meinst du?“
Die letzten Worte murmelte er schon in Johns Mund, der sich Sherlock entgegen reckte und während dem ersten zarten, dann leidenschaftlicher werdenden Kuss begann, das besagte Hemd aufzuknöpfen.
Er dachte wieder daran, wie Mike gesagt hatte, es wäre ein Wunder, wenn er es lange mit Sherlock aushielt. Nun, auch Wunder brauchen ein bisschen Zeit - aber hier hatte sich das Warten definitiv mehr als gelohnt.
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Kapitel: | 3 | |
Sätze: | 532 | |
Wörter: | 9.853 | |
Zeichen: | 59.214 |
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