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Ye Qius Leben war eintönig und er wusste das sehr gut. Wenn er wollte, könnte er das jeder Zeit ändern. Anders als viele seiner ehemaligen Mitschüler hatte er wohlhabende Eltern, die ihm einen Platz in ihrem Unternehmen boten. Solange er sich nicht wie der erste Mensch benahm, würde man ihn dort auch nicht feuern, somit hatte er seine Schäfchen im Trockenen. Ja, sein Vater war ein strenger Mann und bewertete Menschen danach, wie viel sie arbeiteten. Aber er war auch jemand der sportliche Aktivitäten schätze und auch viel davon hielt, wenn man sich kulturell einbrachte beziehungsweise weiter bildete. Zum Glück machte Ye Qiu gerne Sport und besuchte ebenso gerne Bibliotheken und Museen. Er musste seinem Vater nur nach etwas mehr Freizeit, um diesen Aktivitäten nachkommen zu können, fragen und schon hätte er etwas mehr Abwechslung und Zeit für sich selbst. Nichtsdestotrotz schwieg Ye Qiu und quälte sich jeden Montag bis Freitag morgens um halb fünf aus dem Bett – auch wenn er ein Frühaufsteher war, so war diese Uhrzeit auch für ihn zu früh –, schlürfte mit schlaffem Körper ins Bad, um sich herzurichten, und trottete dann, nach seiner morgendlichen Routine, zum Kleiderschrank und dann in die Küche. Da er sich schon so an diesen Ablauf gewöhnt hatte, kam es auch am Wochenende vor, dass er spätestens um sechs Uhr aus dem Bett sprang. Für ihn war das gleich zu setzen, mit anderen, die bis mittags im Bett blieben. So viel verschwendete Zeit – nicht dass er irgendwas Wichtiges vor gehabt hätte.
Der heutige Samstag war für ihn, trotz seines Geburtstages, ein ganz normaler Tag. Seine Eltern waren im Ausland, somit war er alleine. Unter anderen Umständen hätte er gemeinsam mit ihnen gefrühstückt bevor sie alle ihre eigenen Wege gegangen wären. So saß er nun alleine am viel zu großen Esstisch und kaute lustlos vor sich hin. Im Hintergrund liefen die Nachrichten.
Von Zeit zu Zeit wanderte sein Blick zu einem leeren Stuhl schräg gegenüber. Dort war einst Ye Xius Platz gewesen. Da sich dieser aber vor ein paar Jahren aus dem Staub gemacht hatte, war der Platz nun leer. Normalerweise überkam ihm dann die Wut – wie konnte es Ye Xiu nur wagen einfach ab zu hauen und sich nicht mehr blicken zu lassen –, doch an seinem Geburtstag, den er sich mit seinem Bruder teilte, überkam ihn Traurigkeit. Fünfzehn Jahre lang hatten sie zusammengefeiert und von Heut‘ auf Morgen war das alles vorbei.
So ein kurzer Geburtstagsgruß war doch schnell verfasst und tat niemanden weh – sollte man zumindest meinen.
Seine Ruhe und seine trüben Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sein Handy, das aus reiner Gewohnheit neben ihm auf dem Tisch lag, klingelte. Verwundert sah er sich die angezeigte Nummer an. Er hatte nur wenige Freunde und die paar, die er hatte, meldeten sich meistens nur, wenn es um etwas Geschäftliches ging – die Bezeichnung „Freunde“ war hier eine gigantische Übertreibung. Seine Eltern waren im Ausland und wenn er sich nicht verrechnet hatte, dann musste es bei ihnen nun mitten in der Nacht sein. Blieb eigentlich nur noch die Möglichkeit, dass ihn jemand aus der Firma anrief, doch dort gab es nicht einmal eine Handvoll an Leuten, die seine private Handynummer hatten. Zudem kam ihm die Nummer auch nicht bekannt vor. Vielleicht hatte sich jemand verwählt? Ye Qiu beschloss den Anruf zu ignorieren. Sollte es etwas Wichtiges sein und man hatte sich nicht verwählt, dann konnte man ihm auch auf den Anrufbeantworter sprechen. So praktisch das auch gedacht war, so wenig interessierte das den Anrufer. Kaum war das Handy wieder verstummt, ging das Geklingel von vorne los. Wieder dieselbe Nummer. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Ein sehr hartnäckiger Anrufer. Um dem ganzen ein Ende zu machen, nahm Ye Qiu den Anruf dann doch entgegen. Hoffentlich war es auch wirklich etwas Wichtiges. Seine Laune war bereits am Boden.
Kaum hatte er seinen Namen gesagt, wurde er auch schon von einer weiblichen Stimme zu getextet. Zum Glück sprach die Frau nicht besonders schnell, so dass er, nach einem Moment der Verwirrung und gedanklichen Abwesenheit, verstand, was sie ihm da erzählte. Je länger er zuhörte, umso überraschter war er – auch wenn man ihm das äußerlich nicht ansah.
„Hallo? Hallo? Ye Qiu, bist du noch dran? Hallo?“
„Ja, ja, ich bin noch dran, Xiao Lien.“
„Dann sag doch was.“
„Du hast mich ja nicht gelassen. Was hättest du eigentlich gemacht, wenn nicht ich, sondern jemand anderes ran gegangen wäre? Wie bist du überhaupt an meine Nummer gekommen?“
„Onkel hat mir die Nummer besorgt.“
Ye Qiu musste seufzen. Sie hatte sich in den letzten Jahren wohl kein Stück verändert.
Ein kurzer Moment des Schweigens trat zwischen ihnen auf, der Ye Qiu daran erinnerte, dass die angezeigte Nummer keine ausländische war. War sie gerade in China? Er hatte sich die Nummer nicht eingeprägt, daher konnte er nicht sagen, aus welchem Teil Chinas sie kam.
„Bist du gerade in China?“
„Ja. In Beijing.“
Und wieso kam sie dann nicht vorbei? Sie hatte doch noch seine Adresse?
„Deswegen rufe ich auch an. Ich bin gerade am Flughafen und da mein Chinesisch ein wenig eingerostet ist, trau ich mich nicht, mich alleine auf dem Weg zu euch zu machen.“
„Und?“
„Und daher wollte ich die fragen, ob du mich vielleicht abholen könntest. Du musst aber nicht, wenn du nicht willst oder keine Zeit hast.“
Er sah bildlich vor sich, wie sie unsicher von einem Fuß auf den anderen wippte und mit ihren Haaren spielte – das hatte sie zumindest als kleines Kind immer gemacht.
„Hach, bleib wo du bist. Ich komm dich holen, kann aber etwas dauern.“
„Geht klar. Aber wenn du in zwei Stunden nicht da bist, dann rufe ich wieder an!“
„In Ordnung.“
In zwei Stunden sollte er auf jeden Fall am Flughafen sein.
Was Ye Qiu nicht bedacht hatte, als er das Haus verlassen hatte, war der Verkehr. Er war zähen Verkehr gewohnt, aber heute schien jeder, der ein Auto hatte unterwegs zu sein und alle anderen, meinte, sie müssten durch die Stadt wandern. Was war denn heute los? Wenn das so weiter ging, dann würde er noch fünf Stunden brauchen, um an seinem Ziel an zu kommen.
Genervt holte er sein Handy aus der Tasche und fing an darauf herum zu tippen. Vielleicht verging die Zeit dann etwas schneller? Er war auch froh, dass er nicht am Steuer sitzen musste. Zwar hatte er einen Führerschein und war eigentlich auch ein recht guter Fahrer, aber er mochte es nicht. Seine Geduld wurde dabei viel zu sehr auf die Probe gestellt. Und mit dem nötigen Kleingeld konnte er sich auch ein Taxi leisten.
Auch wenn man es nicht glauben mochte, Ye Qiu spielte gerne Spiele auf seinem Handy. Ein paar kleine Spielchen für zwischendurch. Wahrscheinlich wusste nur seine Sekretärin davon. Selbst seine Eltern schienen davon nichts zu wissen, was wohl auch daran lag, dass sie sich recht wenig für sein Privatleben interessierten. Es ging immer nur um die Arbeit und den Erfolg. Zwischenmenschliche Momente mit ihnen waren selten – sein Geburtstag war einer davon.
Wer hätte gedacht, dass er dieses Jahr seinen Geburtstag mit einer alten Freundin feiern würde. Als seine Eltern ihm von ihrer geplanten Geschäftsreise erzählt hatten, hatte er sich darauf eingestellt, dass sein Geburtstag in der Tat, wie jeder andere Tag ablaufen würde. Aber der heutige Tag war alles andere als normal. Wann bekam man denn schon aus heiterem Himmel einen Anruf von jemanden, den man jahrelang nicht mehr gesehen oder gesprochen hatte? Also eine Alltäglichkeit war es jedenfalls nicht.
Irgendwann hatte er es irgendwie an den Flughafen geschafft. Und auch das Auffinden seiner alten Bekannten war leichter, als Anfangs gedacht. Er konnte nicht sagen was es war, aber als er sie da so am Straßenrand stehen sah, war für ihn klar, dass sie es war und niemand anderes. Vielleicht war es ihre Art sich um zu schauen? Oder ihre Art auf ihrem Handy herum zu tippen? Oder vielleicht einfach ihre Ausstrahlung?
Nach einem etwas holprigen Start, weil beide nicht so recht wussten, was sie sagen oder tun sollten, saßen sie auch schon wieder im Taxi auf dem Weg zurück. Die Fahrt verlief ruhig. Lien war zu schüchtern, um in Gegenwart des Taxifahrers zu sprechen und Qiu wollte nicht auf Englisch reden. Auch wenn er sehr gut auf Englisch Schreiben und Sprechen konnte, so bevorzugte er es genau das lieber nicht zu tun. Sobald sie wieder bei ihm Zuhause waren, konnte sie sich in Ruhe unterhalten – und niemand würde mitbekommen, dass sie irgendein Wort falsch aussprachen oder zwischen Chinesisch und Englisch hin und her sprangen.
Und so kam es, wie es kommen musste; kaum war die Haustür ins Schloss gefallen, ging das Geschnatter los. Während sie sich unterhielten, bezog Lien das Gästezimmer und breitete sich dann in Ye Qius Schlafzimmer aus. Jenen störte das nicht sonderlich. So lange sie sich nicht durch seinen Kleiderschrank oder Schreibtisch wühlte hatte er kein Problem damit. Sein Bett schien ihr besonders gut zu gefallen.
Leider erfuhr er einige traurige Dinge während ihres Gespräches. Vor einigen Jahre – noch bevor Ye Xiu weggelaufen war – war sie mit ihrer Schwester und ihrem Bruder einfach verschwunden. Ein Jahr später hatte er einen Brief von ihr bekommen – Ye Xiu eigentlich auch, aber dieses war zu diesem Zeitpunkt bereits weggelaufen – durch den er erfuhr, warum sie einfach verschwunden waren und wo sie sich nun befanden. Heute konnte er sich nicht mehr erinnern, warum er nicht auf den Brief geantwortet hatte und es waren auch keine weiteren Briefe von ihr gekommen. Man hatte sich aus den Augen verloren. Zu erfahren, dass sowohl ihre Schwester als auch ihr Bruder kürzlich verstorben waren, tat trotzdem weh. Er hatte beide sehr gemocht. Liens großer Bruder hatte sich oft um seine beiden Schwestern und auch Ye Xiu und Ye Qiu gekümmert. Er war ein liebevoller Mensch gewesen, den man gerne um sich hatte.
Natürlich erzählte Ye Qiu von Ye Xius Verrat! Liens Reaktion, auch wenn er sie sich verhofft hatte, überraschte ihn dann aber doch. Sie war eigentlich immer auf Ye Xius Seite und schien ihn auch lieber zu haben, als Ye Qiu, aber als sie hörte, dass Ye Xiu sich den Koffer seines jüngeren Zwillings geschnappt hatte und abgehauen war, sah sie aus, als wolle sie jemanden eine gewaltige Ohrfeige verpassen – und dieser jemand war nicht Ye Qiu.
„Nun gut, nach dem wir nun alle traurigen Dinge geklärt haben, lass uns zu etwas angenehmeren kommen. Heute ist schließlich dein Geburtstag! Also, alles Gute zum Geburtstag!“
Mit einem breiten Grinsen im Gesicht holte sie aus ihrer Umhängetasche, die sich aus irgendwelchen Gründen nicht abgelegt hatte, ein kleines quadratisches Päckchen. Wahrscheinlich hatte sie die Tasche genau deswegen noch bei sich.
„Danke.“
Es war lange her, dass er ein richtiges Geschenk bekommen hatte. Seine Eltern gaben ihm einfach Geld, damit er sich davon kaufte, was er wollte. Von seinen Großeltern gab es meistens auch nur Geld, manchmal auch noch ein Packet mit Süßkram.
„Und was hast du für heute noch so geplant?“
„Nichts.“
„Wie, nichts?“
„Naja, nichts halt. Auch wenn es mein Geburtstags ist, ist es trotzdem ein ganz normaler Samstag.“
„Und was machst du an ganz normalen Samstagen?“
„Das entscheide ich immer spontan.“
„Dann entscheide ich jetzt spontan, dass wir einen Geburtstagskuchen besorgen und mal so richtig feiern. Gibt es eigentlich noch die kleine Eisdiele?“
„Ja, die gibt es noch. Wenn du willst können wir da vorbei schauen und wenn ich mich nicht irre, dann ist dort in der Nähe auch eine Konditorei.“
„Dann auf!“
Lien verabschiedete sich zuvor aber noch schnell in ihr Zimmer, um sich etwas auf zu frischen. Der stundenlange Flug hatte sich doch etwas mitgenommen.
Ihr Aufenthalt in der Eisdiele verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse, dafür war der Kuchenkauf eine Katastrophe – zumindest aus Ye Qius Sicht. Während Lien voller Begeisterung die Kuchen begutachtete und am Liebsten jeden einzelnen einpacken wollte, stand er wie bestellt und nicht abgeholt in einer unscheinbaren Ecke des Ladens. Hatte sie nicht gemeint, ihr Chinesisch wäre eingerostet? Für ihn klang das alles sehr flüssig. Und wieso musste er eigentlich zahlen? Sie hatte doch entschieden, dass sie drei verschiedene – nicht gerade kleine – Kuchen mitnahmen. Ihr Argument, dass sie ja noch kein Konto in China hatte und sie ihr Geld noch nicht hatte wechseln lassen, war mehr Schein als Sein. Zwar war alles wahr, aber das hatte sie vorher auch schon gewusst und sich nicht weiter dafür interessiert. Er kam sich ausgenutzt vor. War es nicht sein Geburtstag und sollte es nicht daher er sein, der den Kuchen auswählte?
„Sei nicht so knausrig! Ich kann dir das Geld geben, sobald alle Formalitäten geklärt sind beziehungsweise bis ich zum Wechseln gekommen bin.“
„Schon gut. War nicht so gemeint. Aber drei Kuchen sind trotzdem übertrieben.“
„Sorge dich nicht, ich werde schon dafür sorgen, dass kein Krümel übrig bleibt.“
Das glaubte er ihr aufs Wort! Schon als kleines Kind konnte sie tonnenweise Süßkram in sich hinein stopfen, ohne dass ihr davon schlecht wurde.
„Anderes Thema. Gibt es hier gute Orte, die wir heute Abend besuchen könnten? Ein Kino vielleicht?“
„Ja, es gibt sicherlich gute Orte. Aber ich geh meistens nur in Museen oder die Bibliothek. Kino ist nicht so meines, zumindest nicht bei den Filmen, die einem in letzter Zeit geboten werden.“
„Was ist mit dieser Veranstaltung, die hier so angepriesen wird?“
In der gesamten Stadt wurde immer und immer wieder durch Werbebanner und durch Nachrichten mitgeteilt, dass im Beijing National Stadium heute Abend irgendein wichtiges Match stattfand. So ganz verstand sie nicht, um was es genau ging, dafür redeten ihr die Leute einfach zu schnell.
„Sag mir nicht, du interessierst dich für eSport oder wie auch immer das heißt.“
„ESport? Ist das nicht das, was Ye Xiu jetzt macht?“
„Ja, genau das ist es. Und es ist auch sein Team, das da antritt.“
„Tiny Herb?“
„Excellent Era.“
„Verstehe.“
Was auch immer sie verstand. Jetzt mussten sie erst einmal nach Hause kommen und sich um den Kuchen kümmern. Mittag stand auch vor der Tür. Sollte er etwas kochen? Auf der anderen Seite waren sie gerade erst in einer Eisdiele gewesen, Lien hatte sicherlich so schnell keinen Hunger mehr, auch wenn man Eis nicht unbedingt als sättigend bezeichnen konnte. Ye Qiu hasste es, wenn er keinen Plan hatte. Wenn er alleine war, störte ihn das weniger, weil er immer etwas für sich fand und sich nur nach sich richten musste. Wollte er etwas Bestimmtes tun, tat er es einfach ohne groß darüber nach zu denken und meistens führte dann das eine zum anderen. Er freute sich, dass Lien hier war und sie nach so vielen Jahren auch gut miteinander auskamen, aber es verunsicherte ihn auch, weil er eben keinen Plan hatte.
Wieder Zuhause angekommen verstaute Ye Qiu ihre Einkäufe in der Küche und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück, in dem sich Lien an ihrem Laptop zu schaffen machte. Ye Qiu schaltete derweilen den Fernseher an. Es liefen mal wieder Nachrichten.
Auch wenn sie nicht miteinander sprachen und jeder sein eigenes Ding machte, fühlte sich die Zeit, die sich gemeinsam in Wohnzimmer verbachten, gut an. Es war angenehm. Wenn es nach ihm ginge, könnte es auch noch lange so weiter gehen.
Genau genommen konnte es auch wirklich noch eine Weile so weiter gehen, immerhin hatte Lien keinen Ort an dem sie bleiben konnte – ja, es gab Hotels und sie könnte auch in ihr Elternhause, das inzwischen leer stand, gehen, aber dort war es nicht so schön wie hier bei Ye Qiu.
„Ach, das ist doch alles Kacke, ist doch das!“, schimpfte Lien mit einem Mal lauthals.
„Was ist los?“, fragte Ye Qiu verwundert nach.
„Für das Match heute Abend sind schon alle Tickets ausverkauft! Beziehungsweise, die einzigen die man noch kriegen kann, sind von Privatleuten, die sie zu vollkommen überteuerten Preisen weiter verkaufen. Das ist doch doof!“
„Lass mal sehen.“
Eigentlich war es Ye Qiu ziemlich egal, ob sie noch ein Ticket für das Spiele bekamen oder nicht. Ihn ging eSport sonst wo vorbei, aber Lien wollte hin.
„Hm, scheint als wäre das Spiel wichtig. Playoffs und so ein Zeug.“
„Und?“
Ja, was und? Es war egal, wie wichtig oder nicht das Spiel war. Ausverkaufte Tickets waren nun Mal ausverkauft.
„Überlass das mal mir. Vielleicht finde ich ja doch noch ein paar Tickets für uns ohne dabei mein ganzes Vermögen auszugeben.“
„Gut, ich verlasse mich auf dich. Ich werde dafür jetzt doch ein wenig schlafen. Irgendwie bin ich jetzt richtig ausgelaugt. Wenn ich wieder aufwache, will ich eine Tasse Schokomilch mit Kuchen.“
„Wird erlegt, Boss.“
„Gut so. Gute Nacht.“
Mit einem Kuss auf die Wange begab sich Lien in ihr temporäres Zimmer, während Ye Qiu vor ihrem Laptop zur Höchstform auflief. Auch wenn er es nicht gerne zu gab, wollte er Lien ein wenig beeindrucken. Es war offensichtlich, dass sie Ye Xiu noch immer lieber hatte als ihn und den anderen wohl auch als ihm überlegen ansah. Wirklich verübeln konnte er es ihr nicht, immerhin kannte sie nur den jungen Ye Xiu, der ihr immer und immer wieder aus der Patsche geholfen hatte und dem sie immer dabei zugesehen hatte, wie er seine Gegner in irgendwelchen Spielen vernichtend schlug. Da konnte jemand wie Ye Qiu, der keine besonderen Talente besaß, nicht viel ausrichten. Aber heute würde er ihr zeigen, wie gut er darin war an ausverkaufte Sachen preisgünstig heran zu kommen!
So eine Schnäppchenjagd konnte schon Mal ein wenig dauern und so strichen die Stunden an ihm vorbei, bis Lien plötzlich wieder in der Tür stand und sich verschlafen die Augen rieb. Wortlos schmiss sie sich auf das freie Sofa und beobachtete dabei, wie er sich von einer Internetseite durch die nächste klickte und mal seufzte, mal leise fluchte und schlussendlich mit einem zufriedenen Lächeln den Laptop von sich schon.
„Was gefunden?“
„Ja.“
Schweigen.
„Möchtest du noch immer deine Tasse Schokomilch und ein Stück Kuchen?“
„Ja, was ist denn das für eine Frage?“, entgegnete Lien entrüstet.
Ja, wie konnte er diese Frage nur stellen? Es hätte ihm doch klar sein müssen, dass sie auch weiterhin ihre Zuckerration brauchte – Ticket hin oder her.
„Dann kümmere ich mich da Mal darum, auch wenn ich das Geburtstagskind bin, das eigentlich bedient werden sollte.“
„Dann werde ich mich um deinen Fernseher kümmern, nicht dass der sich ignoriert fühlt und so.“
Unglaublich, wie unwichtige er an seinem eigenen Geburtstag war. Wäre Lien nicht Lien und er nicht er, wäre er jetzt wohl beleidigt. Aber es störte ihn nicht, sie zu bedienen. Es war eine schöne Abwechslung, dass sie hier war und das reichte ihm schon, um diesen Tag zu einem großartigen Tag zu machen. So traurig es vielleicht auf andere wirkte, ihm reichte es. Es waren die kleinen Dinge im Leben, die es lebenswert machten.
Ye Qiu stapfte in die Küche, um sich einen Kaffee und Lien eine Tasse Schokomilch zu machen.
Die gekauften Kuchen fanden ihren Weg auf den Wohnzimmertisch und verschwanden auch recht schnell in den Mägen der beiden – überwiegend in ihrem.
Aus Nostalgiegründen sahen sie sich alte Kinderserien an – Ye Qiu hatte zudem eine große Sammlung an alten Filmen, die sie sich auch anschauen, zumindest so weit wie sie kamen.
Das Stadium war vielleicht halb voll. Als Ye Qiu und Lien eintraten, viel ihnen das sofort auf und ließ beide wundern, warum es keine Tickets mehr gab, wenn doch noch so viele Plätze frei waren. Schweigend setzen sie sich auf ihre Plätze und warteten darauf, dass das Spiel anfing. Lien sah sich dabei immer wieder nach jemandem, der wie Ye Qiu aussah um. Da Ye Xiu und Ye Qiu eineiige Zwillinge waren, sahen sie sich auch zum Verwechseln ähnlich, daher ging sie davon aus, dass Ye Xiu genau wie sein Bruder aussah. Leider konnte sie aufgrund der Beleuchtung kaum etwas erkennen und die Spieler, die auf der Bühne erschienen hatten alle anderen Namen. Ye Xius Name beziehungsweise sein Pseudonym tauchte zwar auch auf, aber man konnte ihn nicht auf der Bühne sehen. Schade.
Ye Qiu war das alles egal und eigentlich nervte ihn das alles. Er konnte einfach nicht verstehen, was daran so toll war, anderen beim Spielen zu zusehen. Genau genommen sah man ja noch nicht mal etwas vom Spiel außer das Kampfsystem. Seltsamerweise verging die Zeit trotzdem relativ schnell. Lien schien ihren Spaß gehabt zu haben, auch wenn sie wohl genauso ahnungslos war, wie er. Anders als er, mochte sie es aber anderen beim Spielen zu zusehen. Das hatte sie schon getan, als sie alle noch Kinder gewesen waren. Manchmal war sie stundenlang bei Ye Qiu und Ye Xiu gesessen und hatte dem älteren der Zwillinge beim Spielen zugesehen.
„Lass und schnell gehen. Vielleicht erwischen wir Ye Xiu bevor er sich aus dem Staub machen kann“, schlug Lien am Ende des Matches vor.
„Das bezweifle ich. Er ist wahrscheinlich im Teamraum und wartet bis es Zeit ist zum Hotel zurück zu kehren.“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir können es nur probieren. Also hoch mit dir.“
Widerwillig stand Ye Qiu auf und folgte Lien nach draußen. Ye Xiu zu treffen wäre in der Tat schön, aber die Chancen waren doch recht gering. Auch wenn niemand Ye Xius Gesicht – oder seinen richtigen Namen – kannte, gab es auch keine Fans, die ihn auflauern konnten, sofern er nicht mit seiner Teamuniform herum lief. Nichtsdestotrotz gab es für Ye Xiu auch keinen Grund sich momentan außerhalb des Stadiums aufzuhalten.
Man konnte es als Fluch oder Segen ansehen, dass sie Ye Xiu nicht viel aus Logik und Gründen machte. Während sein Teammitglieder sich mit den Reportern herum schlugen, stand Ye Xiu am Hintereingang und rauchte entspannt vor sich hin.
Die Entspannung verabschiedete sich aber alsbald Lien um die Ecke kam und Ye Xiu ungefragt in eine Umarmung zog. Es war nur Ye Qius Anwesenheit zu verdanken, dass der andere nicht gleich die Polizei rief. Plötzlich ungefragt umarmt zu werden konnte einen durchaus einen Schrecken einjagen, insbesondere wenn man eine „Berühmtheit“ war.
Verwundert sahen sich die beiden Brüder an. Keiner von ihnen wusste, was sie jetzt tun sollten, geschweigenden sagen. Lien auf der anderen Seite wusste ganz genau, was zu tun war. Ohne Rücksicht auf Verlust hake sie sich bei Ye Xiu und Ye Qiu ein und führte beide auf die andere Straßenseite.
„Da drüben gibt es ein gutes Restaurant. Ich finde, wir sollten euren Geburtstag gebührend feiern. Widerreden werden nicht akzeptiert!“
Widerrede kam für die beiden eh nicht in Frage, da Ye Xiu noch nicht so ganz mit kam, was eigentlich los war. Inzwischen hatte sein Verstand regestiert, dass die erst unbekannte Frau seine alte Kindheitsfreundin Fei Lien war, aber er begriff noch nicht warum sie hier war. War sie nicht ins Ausland verschwunden? Warum war sie plötzlich hier? Um ehrlich zu sein hatte Ye Xiu gerade erst wahrgenommen, dass er heute Geburtstag hatte. Seine Teamkollegen wusste nicht, wann er Geburtstag hatte und er hielt auch nicht viel von Feiern. Schickte ihm Ye Qiu nicht normalerweise einen Gruß, den er dann erwiderte? Ja, der sonst mit allen Wassern gewaschene Meisterstratege Ye Xiu war überrumpelt, sprachlos und auch ein wenig überfordert.
Die anderen Gäste in dem viel zu schicken Restaurant warfen den dreien seltsame Blicke zu und dachten sich sicherlich ihren Teil, was aber die kleine Gruppe nicht störte. Auch wenn Ye Qiu lieber zu Hause wäre und dort noch eine Runde Kindheitsfilme mit Lien schauen wollte und Ye Xiu eigentlich auf den Weg zurück ins Hotel sein sollte, genossen sie die Zeit zu dritt. Es war schon eine ganze Weile her, dass sie zu dritt an einem Tisch gesessen und gemeinsam gegessen und gelacht hatten.
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