»Man sagt, in den Rauhnächten, der Zeit zwischen den Jahren, stehen die Tore zwischen den Welten offen. Dann reitet die Wilde Jagd aus, ein Zug voller Geister und Gespenster und den Seelen der Verlorenen, derer, die vor ihrer Zeit gestorben sind. In dieser Zeit soll keine Wäsche gewaschen werden, denn die Jagd kann sich in den Wäscheleinen verfangen, und auch die Spindeln sollen still stehen. Eine der Jägerinnen ist Perchta oder Frau Holle. Egal, wie sie nun genannt wird, sie bestraft die Faulen und belohnt die Fleißigen, deren Spulen voll sind.«
In jenen kalten Winternächten saßen sie alle dicht gedrängt in ihrem Heim am Kamin, dicke Decken um die Schultern geschlungen und warmen Gewürzwein in den Händen. Der Wein war ein Luxus, den sie sich nur selten leisten konnten, also wurde er für besondere Begebenheiten aufgehoben, wenn die Nächte am längsten waren und die Dunkelheit voller Dämonen aus anderen Welten.
»Du sollst den Kindern keine Ammenmärchen erzählen«, brummte Tajima. Er mochte es nicht, wenn Fuyuko ihren Kindern derlei Geschichten erzählte, doch Madara und seine Brüder lauschten gespannt.
»Es sind keine Ammenmärchen«, widersprach Fuyuko. »Du weißt das. Oder warum bleibst du in den Rauhnächten im Haus? Es ist bekannt, dass die Wilde Jagd mit den Nordlichtern kommt, und wer sie erblickt, ist dazu verdammt, mit ihnen zu reiten.«
»Wer führt die Jagd an?«, fragte Izuna dazwischen.
Tajima warf ihnen einen finsteren Blick zu und runzelte die Stirn, blieb aber dennoch still.
»Der Schimmelreiter«, antwortete Fuyuko dennoch. »Die Jagd sind allesamt wilde Gesellen, doch ihr Anführer ist der wildeste von ihnen. Nicht nur ist er der Anführer eines Dämonenheeres, sondern er hat auch Macht über Natur und Bestien und kann ihnen befehlen, seinen Willen auszuführen.«
Izuna sah sie mit großen Augen an. »Es kann doch sicher nicht schaden, einen winzigen Blick auf die Jagd zu werfen, wenn sie durch die Dörfer zieht, oder? Ganz heimlich, damit sie es nicht merken.«
Fuyuko lächelte und strich ihm über den Kopf. »Ich an deiner Stelle würde es nicht riskieren. Du wärest sicher nicht der erste, der das probieren will.«
Die Kinder drängten sich näher an ihre Mutter, selbst Kou, der älteste, der eigentlich kein Kind mehr war. Die Zwillinge Kuro und Togakushi hatten der Erzählung ihrer Mutter mit angstgeweiteten Augen gelauscht. Mit Sicherheit würde Tajima sie am nächsten Tag für ihre abergläubische Furcht schelten, sie waren doch in einem Alter, in dem sie reif genug waren, sich kindlichen Ängsten zu stellen und sie zu überwinden. Doch an diesem Abend durften sie Kind sein.
Tajima mochte den Aberglauben und die alten Bräuche verleumden. Dennoch räucherten sie die Stube mit Weihrauch ein, bevor sie zu Bett gingen. Die Kinder kuschelten sich in ihrer Bettkammer aneinander, auch wenn es mit Kou und Madara, der selbst beinahe schon als Erwachsener galt, mittlerweile eng wurde. Aber jetzt im Winter waren sie froh um jedes bisschen Wärme, das sie erhaschen konnten.
Draußen pfiff der Wind und die frostige Winterluft kroch durch die Ritzen zwischen den Holzplanken ins Haus. Der Winter war früh gekommen und der Schnee lag bereits hoch. Die Nächte waren jetzt besonders finster.
»Kou-nii-san, weißt du mehr von Perchta?«, wisperte Izuna in die Dunkelheit ihrer Kammer. »Ich will mehr von ihr hören.«
»Sie reitet mit der Wilden Jagd«, sagte Kou ebenso leise. »Manche sagen gar, sie sei die eigentliche Anführerin der Jagd. Sie ist eine alte Göttin, eine Muttergottheit, die über die Natur wacht, Schutzpatronin der Frauen und Kinder. Man sagt ihr nach, sie nehme sich der Seelen der vor ihrer Zeit Verstorbenen an und führe sie zur Jagd, wodurch das Heer von Jahr zu Jahr anwächst.«
»Ist das wirklich wahr?«, flüsterte Kuro. Togakushi schwieg und kuschelte sich nur enger an seinen Zwilling.
»Natürlich, wenn du nur ganz fest daran glaubst«, erwiderte Kou. »Deswegen sind wir auch alle gut darin beraten, an den alten Gebräuchen festzuhalten, das Jahr über fleißig zu sein und jetzt, in den Rauhnächten, zu ruhen und keine Wäsche zu waschen, besonders keine weiße.«
»Warum ausgerechnet keine weiße?«, wollte Izuna wissen.
»Mutter sagte es bereits, die Jagd kann sich in den Wäscheleinen verfangen und dann nehmen sie die weißen Hemden von den Leinen und verwenden sie als Leichentücher für ihre Besitzer, wenn die Jagd sie holen kommt.«
Izuna und die Zwillinge schnappten nach Luft. Kuro und Togakushi klammerten sich aneinander. Madara schnaubte. Es war zu spät für die Kinder für Geistergeschichten.
»Madara-nii-san, du bist so still«, stellte Izuna fest. »Findest du das nicht unheimlich?«
Kuro kicherte. »Großer Bruder tut immer so tapfer, aber ich wette, er hat genauso Angst vor Gespenstern wie alle.«
Togakushi zappelte unter der Bettdecke, um sich zu Madara umzudrehen, und stemmte sich auf den Ellbogen hoch. Ein kalter Zug kroch unter die Decke. »Besser ist’s für dich! Die Wilde Jagd ist gefährlich.«
Madara zerrte ihn wieder nach unten. »Leg dich hin, es ist kalt. Und außerdem ist es spät, ihr sollt schlafen.«
Seine Brüder maulten natürlich, doch als auch Kou sich dafür aussprach, dass sie jetzt genug Geschichten gehört hatten, gaben sie doch Ruhe. Stille senkte sich über sie und alsbald konnte Madara die tiefen, ruhigen Atemzüge seiner Brüder vernehmen, die anzeigten, dass sie eingeschlafen waren. Er selbst jedoch fand lange keine Ruhe.
Der Wind pfiff um das Haus.
In der Schwärze der Kammer meinte Madara, schemenhafte Gestalten auszumachen. Die Legende der Wilden Jagd war eine alte und Jahr um Jahr gab es Gerüchte, dass da vielleicht etwas dran sei. Es gab Geschichte von wilden Jagdzügen, die in den Rauhnächten durch die Siedlungen zogen, mit lautem Johlen und Geschrei, und jene bestraften, die sie erblickten.
Es war ein Hauch Magie in ihrem alltäglichen Leben. Tajima sah es genau deswegen nicht gern. Er wollte, dass all seine Söhne Krieger wurden, so wie er. Also trainierten sie hart, Tag um Tag, Monat um Monat. Aber Madara hatte das Gefühl, dass da mehr im Leben war, als sein Vater für sie im Sinn hatte. Er wollte es nicht zugeben, aber die Geschichten von der Wilden Jagd entfachten einen Funken Hoffnung in ihm, der seine ansonsten graue, triste Welt mit ein wenig Farbe versah.
Vielleicht … vielleicht war ja doch etwas daran.
Kou hielt das alles natürlich selbst für für abergläubisches Geschwätz. Er spielte dennoch mit, weil diese Geschichten seinen Brüdern so viel Freude bereiteten. Izuna liebte Geheimnisse, die er erkunden konnte, und Kuro und Togakushi konnten ebenfalls etwas Abwechslung in ihrem Alltag gebrauchen. Madara aber, nun …
Er wollte es vor seinen Brüdern nicht zugeben, aber ein wenig glaubte er durchaus an die Wilde Jagd.
Noch immer pfiff der Wind um das Haus, und dieses Mal meinte Madara, Stimmen im Heulen des Windes zu vernehmen. Er versicherte sich rasch, dass seine Brüder noch immer schliefen. Alles war still im Haus. Der schwere Geruch von Weihrauch sickerte unter dem Türspalt hindurch von der Stube in die Kammer.
Es war die sechste der Rauhnächte. Die Zeit der Jagd.
Madara fasste einen Entschluss, und bevor er es sich anders überlegen konnte, schlich er aus dem Bett. Rasch richtete er die Decke wieder, damit seine Seite nicht allzu bald auskühlen würde, dann schlich er fröstelnd aus der Kammer. In der Stube hatte sich noch die Wärme des Kamins gehalten. Er trat an das sterbende Feuer und rieb sich die Hände. Dann griff er nach seiner Winterkleidung und seinen Stiefeln, legte sich den schweren Stoff um die Schultern und schlüpfte mit der letzten Erinnerung an die Wärme nach draußen in die Nacht.
Die eisige Luft schnitt in seine Haut und sogleich stand ihm der Atem in dicken Wolken vor dem Gesicht. Winzige Eiskristalle in der frostigen Winterluft trieben die Kälte unter seine Kleidung. Lange würde sie die Wärme nicht halten können. In Nächten wie diesen, wenn der Winter besonders unerbittlich und der Frühling so weit weg wie nie zuvor schien, war es besser, sich im Schutz der eigenen vier Wände zusammenzudrängen und zu hoffen, dass die Sonne vielleicht doch wieder an nächsten Tag aufgehen würde.
Der Himmel war so klar, wie Madara ihn selten gesehen hatte. Beinahe war es, als würde die Kälte den Himmel leerfegen und den Blick freigeben auf die schwarze Unendlichkeit. Unzählige Sterne funkelten am Himmel wie winzige Diamanten. Die Nordlichter tanzten.
Sie waren ein seltener Anblick. Madara wusste nicht, was sie verursachte, aber sie hatten in der Tat etwas Magisches an sich. Die langen Bänder aus waberndem grünen Licht zogen sich über den ganzen Horizont hinweg und wirkten in der Tat wie strömende Risse zwischen den Dimensionen. Ob die Geister sie wirklich nutzten, um dieser Welt einen Besuch abzustatten?
Die Stille der Winternacht wurde von einem einzelnen Wiehern unterbrochen.
Schnee hatte die Eigenschaft, jedes Geräusch zu schlucken. Die Stille des Winters war etwas gänzlich anderes als die Stille eines lauen Sommerabends. So kam es, als würde das Geräusch durch die ganze Siedlung donnern.
Madara hielt den Atem an.
Ein Pfiff.
Konnte es sein …?
Ein wildes Johlen brach los, ein Sturm aus Rufen, Bellen, Wiehern und dem Stampfen von Hufen, untermalt von lautem Kettenrasseln und dem Scheppern von Blech. Der Sturm fegte in einem wilden Treiben durch die Siedlung. Schnee stob auf. Madara hob geblendet einen Arm, um sein Gesicht vor den scharfen Eissplittern zu schützen, die von den Hufen aufgewirbelt wurden. Er verlor die Orientierung. Um ihn herum fegte der Sturm und er war das Zentrum. Das Scheppern des Metalls dröhnte ihm in den Ohren. Jemand oder etwas packte ihn und zerrte ihn quer über die Kruppe eines Pferdes.
Dann ritt der Geisterzug davon.
Madara sollte sich wehren. Er sollte gegen seine Entführer aufbegehren und sich aus ihrem Griff befreien, doch er war wie gelähmt. Er konnte keinen Muskel rühren, als er schlaff wie ein Sack Reis hinter dem Sattel über dem Pferd hing und die Augen zukniff im Schutz gegen den aufspritzenden Schnee.
Die Wilde Jagd. Es war alles wahr, was seine Mutter ihnen immer erzählt hatte. All die Geschichten über die geisterhaften Reiter, die des nächstens durch die Siedlungen fegten, sie stimmten!
Madara hatte sein Schicksal herausgefordert und war ihm entgegen getreten. Er hatte gefunden, was er gesucht hatte. Dennoch empfand er Furcht.
Mit lautem Johlen und donnernden Hufen fegten die Geister durch das Dorf, begleitet vom Bellen und Jaulen von wilden Wölfen. So schnell, wie sie gekommen waren, waren sie auch schon wieder davon. Über Stock und Stein ritten sie, im halsbrecherischen Tempo über Feld und Flur, über die Wiesen und Felder, die die Siedlung umgaben, bis sie weit, weit hinaus in der Wildnis verschwunden waren. Erst dann hielten sie.
Jemand zerrte ihm vom Pferd. Madara blinzelte, um den Schnee aus den Augen zu bekommen. Dann blinzelte er noch einmal, weil er seinen Augen nicht trauen konnte.
Was er sah, waren keine Geister aus fremden Welten. Was er sah, war nichts weiter als eine wilde Bande von Leuten in abgerissener Kleidung und wilden Kostümen. Viele von ihnen trugen Felle und Masken geschmückt mit Federn und Knochen, und auch die Pferde waren ganz gewöhnliche, wenn auch ansehnliche Destrier, deren Geschirre mit klappernden Knochen geschmückt waren und die lange Netze hinter sich her zogen, an die Metall geknüpft worden war. Die Wölfe jedoch, die waren erschreckend echt, ein ganzes Rudel weißer Timberwölfe, die sich um Madara versammelt hatten und ihn durchdringend musterten.
»Was …?«
Einer der Reiter, jener, der Madara auf das Pferd, einem Schimmel, gezerrt hatte, trat vor ihn und hob die Vogelmaske von seinem Gesicht. Madara blinzelte erneut, weil er nun endgültig glaubte, seinen Augen nicht mehr trauen zu können.
»Das … Aber … Ich meine, wie kann das sein?«
»Willkommen bei der Wilden Jagd«, sagte Hashirama.
Madara starrte ihn sprachlos an. Lang, lang schon hatte er seinen verloren geglaubten Freund nicht mehr gesehen. Er hatte die Erinnerung an ihn tief in sich vergraben und nicht zu hoffen gewagt, ihm jemals wieder zu begegnen. Diese kurze Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, war verloren, so schön sie auch gewesen war. Sie war Madara verwehrt worden, und ihm war nichts weiter geblieben als Geschichten, Geschichten, Geschichten.
»Das … das ist absurd!«, spie Madara aus. »Die Geschichten sprechen von Geistern einer anderen Welt, nicht von einem Haufen abgerissener Waldläufer in albernen Kostümen! Das ist alles nichts weiter als eine eine Posse!«
Eine der umstehenden Personen lachte auf, dem Klang nach eine Frau. Knurrend griff Madara nach ihren Pelzen und starrte direkt in die Augenlöcher ihrer Rabenmaske.
»Und wer sollst du sein? Perchta? Dass ich nicht lache!«
Die Frau lachte erneut. »Hast du das gehört, Hashirama, für wen er mich hält?«
»Du solltest es als Ehre ansehen, Tōka«, sagte Hashirama. »Vielleicht nennen wir dich ab sofort so.«
Die Wölfe knurrten und rückten näher. Madara ließ von Tōka ab. Eine der anderen Personen pfiff kurz und durchdringend und die Wölfe zogen sich wieder zurück und begaben sich an die Seite ihres Meisters.
»Das ist mein Bruder Tobirama«, sagte Hashirama und deutete auf die noch immer maskierte Person, die gepfiffen hatte. »Und das meine beiden anderen Brüder, Kawarama und Itama.«
Er deutete nach und nach auf die letzten beiden Personen im Bunde. Der Größe nach zu urteilen schien Itama sogar noch ein Kind zu sein, etwa im Alter Kuros und Togakushis.
»Das ist ein Witz!«, rief Madara aufgebracht. »Nichts weiter als ein schlechter Witz!«
Tobirama ignorierte ihn und wandte sich Hashirama zu. »Die Regeln der Jagd sind eindeutig. Er hat sie gebrochen.«
Hashirama nickte. »Das stimmt.«
Madara schnaubte abfällig. »Und jetzt? Was wollt ihr jetzt machen? Mich an eure Pferde binden und durch die Straßen schleifen?«
Tōka beugte sich vor und musterte ihn durch ihre Maste hindurch. Er konnte ihre Augen nicht ausmachen, was in der Tat ein wenig unheimlich war.
»Warst du denn auch artig gewesen?«
»Warum macht ihr das?«, verlangte Madara zu wissen. »Warum zieht ihr wie Derwische durch die Straßen und veranstaltet dieses Theater?«
»Um den Glauben zu erhalten und mit ihm die Magie.«
Madara runzelte die Stirn. »Es gibt keine Magie. Nur Idioten in albernen Kostümen.«
»Bist du dir da sicher?«, wollte Hashirama wissen und streckte ihm die Hand entgegen. »Komm. Reite mit uns und finde es heraus.«
Madara starrte auf die ihm dargebotene Hand. Er konnte es nicht genau benennen, aber etwas war eigenartig an der ganzen Sache. Die Art, wie wilde Wölfe Tobirama aufs Wort folgten, wie der ganze Zug aus dem Nichts heraus aufgetaucht war. Nicht alles davon schien wirklich irdischen Ursprungs zu sein.
Irgendwie hatte Madara so seine Zweifel. Er hatte die Wilde Jagd gesucht und einen Haufen Waldläufer gefunden. Aber wenn er sich jetzt abwenden würde, würde er seine Zweifel nie stillen.
Er schlug ein.
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