Gleichmäßig fiel der Regen zu Boden. Der Himmel war dunkel. Die Wolken ließen das Mondlicht nicht durch sie hindurch scheinen. Das einzige Licht wurde von den Straßenlaternen gespendet. In den Häusern der Stadt waren die Lichter aus, denn die meisten Menschen schliefen schon. Nur sie nicht. Sie konnte nicht. Irgendetwas an diesem Regen faszinierte sie heute Nacht. Es war, als wollte er ihr etwas erzählen - eine Geschichte, die sie kannte. Innerlich war sie leer. Woran es lag? Sie wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Es gab Wichtigeres, den Regen zum Beispiel. Manchmal wünschte sie sich, sie wäre der Regen. Denn dieser verband den Himmel mit der Erde, ohne dass sie sich jemals wirklich berührten. Doch wenn sie der Regen war, dann brauchte sie auch eine Erde und einen Himmel. Vielleicht sollte der Himmel jemand sein, den sie liebte? Aber wer sollte dann die Erde sein? Jemand, den sie hasste? Nein, sie hasste niemanden. Eine andere Person, die sie liebte? Es gab keinen Grund zwei zu verbinden, die sie liebte, sich untereinander aber vielleicht nicht leiden konnten oder sich nicht kannten.
Obwohl, der Himmel und die Erde kannten sich eigentlich auch nicht und doch verband der Regen sie. Tat er es, um die beiden näher zu bringen? Oder um sie zu ärgern? Oder tat er es, weil er es für richtig hielt? Falls ja, dann musste sie das Richtige für sich entscheiden. Sie wollte der Regen sein.
Wortlos stand sie auf. Ihr Blick schweifte durch das Zimmer. Sie war alleine. Jede Nacht war sie alleine. Nur in der Schule war sie bei Freunden. So wie es war, war es in Ordnung - zumindest für sie. Langsam begab sie sich zu ihrem Kleiderschrank. Auch wenn es draußen dunkel und kalt war, wollte sie raus. Ein Spaziergang würde ihr helfen, ihrem Wunsch, der Regen zu sein, näher zu kommen, so dachte sie es sich. Ohne Hektik zog sie sich den Schlafanzug aus und schlüpfte in eine Hose und ein T-Shirt. Eigentlich trug sie lieber Röcke oder Kleider, doch momentan fühlte sie sich in einer Hose irgendwie wohler.
Sie schaltete das Licht aus und ging zur Tür. Bevor sie ihre Wohnung verließ, nahm sie noch ihre Regenjacke mit, die neben der Wohnungstür hing, und streifte sie sich über. Dann ging sie hinaus in den Regen, in die finstere Nacht.
Während sie schweigend ihren Weg ging, dachte sie nach. Sie dachte an die Vergangenheit. In ihr würde sie die Antwort auf ihre Frage finden. Die Antwort auf die Frage, wer der Himmel und wer die Erde war. Sie fing ganz von vorne an - mit ihrem Bruder.
Sie hatte ihren Bruder so sehr geliebt, wie keinen anderen. Er war für sie alles gewesen. Obwohl es schwer für ihn gewesen sein musste, sich um sie zu kümmern, hatte er immer alles für sie getan. Liebevoll hatte er sie großgezogen und sich um ihr Wohl gesorgt. Um ihm keine Sorgen zu bereiten, hatte sie ab und zu auch gelogen, auch wenn sie sich sicher war, dass er ihr nicht glaubte. Sie war noch nie gut im Lügen gewesen und sie würde es wohl auch niemals sein. Wahrscheinlich hatte er ihre Lügen nicht hinterfragt, weil er sie nicht verletzen wollte. Er hatte immer Rücksicht auf sie genommen. Ihre Haarspangen, die sie von ihm geschenkt bekommen hatte, trug sie Tag und Nacht, auch wenn sie damals meinte, sie wären zu kindisch für sie. Dabei hatte sie sich sogar sehr über sie gefreut. Sie freute sich über jedes seiner Geschenke. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt doch nur gewusst hätte, was geschehen würde, dann hätte sie ihm ihre Freude auch gezeigt. Vielleicht sollte dies aber auch alles genau so geschehen, den Grund sollte sie nur nie erfahren.
Wenn sie an ihren Bruder dachte, dann dachte sie auch daran, dass er ihretwegen zu einem Hollow wurde. Es war ihre Schuld. Sie hatte ihm Sorgen bereitet. Eines Tages würde sie ihn wiedersehen und dann würde sie sich bei ihm entschuldigen. Doch bis dahin war es wohl noch eine lange Zeit. Sie war noch jung und hatte nicht vor, frühzeitig aus dieser Welt zu verschwinden.
Bei dem Gedanken an ihren Bruder wurde ihr warm ums Herz, doch sobald sie daran dachte, was aus ihm - ihretwegen -geworden war, wurde ihr wieder kalt.
Sollte ihr Bruder der Himmel oder die Erde sein?
Unbewusst wurden ihre Schritte schneller.
Einmal hatte sie ihren Bruder angelogen, weil ein paar Mädchen aus der Oberstufe ihr ihre langen, orangefarbenen Haare abgeschnitten hatten. Er mochte ihre Haare. Sie haben so eine wunderbar warme Farbe, hatte er ihr gesagt. Sie meinte, sie wolle die Haare so kurz haben. Dank Tatsuki hatte sie wieder lange Haare.
Tatsuki... Sie hatten sich in der Grundschule kennen gelernt und waren Freunde geworden. Durch sie hatte sie gelernt, sich zu wehren, auch wenn sie es nicht leiden konnte, anderen weh zu tun. Ihr war es zu verdanken, dass sie ohne weitere Probleme zur Schule gehen konnte, dass sie nicht mehr alleine war. Ihr Bruder war bereits tot. Einfach so. Ein Unfall. Tatsuki hatte ihr geholfen, darüber mehr oder weniger hinweg zu kommen. Für sie war Tatsuki weit mehr als nur eine gute Freundin. Sie war so etwas wie ihre Familie. Eine wunderbare Familie. Durch sie hatte sie auch Ichigo kennen gelernt und hatte durch sie viele Freunde gefunden. Sie war ihr dankbar.
Oft hatte Tatsuki sie vor anderen beschützt. Vor allem, als sie anfing, eine Oberweite zu bekommen. Leider reduzierten viele Jungs sie nur noch auf diese, was nicht gerecht war. Doch das interessierte sie nicht mehr. Sie hatten viel erlebt. So viel Schönes, doch der Gedanke an das, was damals passiert war, versetzte ihr einen Stich ins Herz. Die Espada, Yammy und Ulquiorra, hatten ihre beste Freundin fast getötet und sie selbst konnte nicht helfen. Selbst als sie ihre Kräfte entdeckt hatte, hatte sie nicht wirklich helfen können. Sie kam sich so nutzlos vor. Als sie Tatsuki damals gerettet hatte, dachte sie nicht daran, dass sie es war, die dies getan hatte, sondern die kleinen Feenwesen. Doch diese kleinen Dinger waren ihre Kraft und mit dieser hatte sie ihre Freunde beschützt. Das war das erste und letzte Mal, dass sie das tat. Der Feind wurde stärker und sie blieb schwach. Niemand fand es schlimm, zumindest sagte es niemand. War sie vielleicht die Einzige, die sich dadurch als Hindernis sah? Tatsuki würde sie immer beschützen, egal wie stark sie sein würde, denn das war es, was Tatsuki wollte.
War Tatsuki nun ihr Himmel oder ihre Erde? Oder keins von beidem?
Der Regen hatte sie bereits durchnässt. Die Regenjacke hatte nichts gebracht, aber es interessierte sie nicht. Ihr machte der Regen nichts aus, sie genoss ihn eigentlich sogar. Sie wollte doch wie er sein.
Inzwischen ging sie noch schneller, jedoch lief sie nicht. Sie wüsste gar nicht, wohin sie laufen sollte oder warum. Ihr Spaziergang hatte kein bestimmtes Ziel. Wenn sie ankam, würde sie schon sehen, wohin sie gegangen war. Vielleicht wusste sie dann auch, wer der Himmel und wer die Erde war. Aber nur vielleicht.
Angst davor, dass jemand sie ausrauben könnte, hatte sie nicht. Für den Fall der Fälle könnte sie sich wehren. Tatsuki hatte ihr einige Dinge gezeigt, die sie einsetzen konnte, um sich zur Wehr zu setzen. Darüber machte sie sich auch keine weiteren Gedanken.
Die grauen Häuser, Mauern und die grünen Wiesen und Bäume zogen an ihr vorbei. Sie nahm sie kaum wahr, immerhin kannte sie die Gegend - ihre Heimat. Hier war sie groß geworden und hier wollte sie eine Familie gründen und irgendwann sterben. Ob sich dieser Wunsch erfüllen wird? Jetzt sollte sie noch nicht an so etwas denken.
Ihre Haut war kalt, doch sie fror noch nicht. Sie merkte die Kälte kaum, so sehr war sie in Gedanken. Als ein Auto an ihr vorbeifuhr und sie nass spritzte, musste sie unwillkürlich daran denken, wie ihr Bruder sie gerettet hatte, obwohl er bereits ein Hollow war.
Dadurch, dass ihr geliebter Bruder zu einem Hollow wurde, hatte sie Ichigo besser kennen gelernt. Seit dem Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, fing sie an, Gefühle für ihn zu entwickeln. Auch wenn sie gestehen musste, dass sie erst ein wenig Angst vor ihm hatte, aber er war mit Tatsuki befreundet und die würde nicht mit irgendwelchen Rüpeln Freundschaft schließen. Sein ernstes Gesicht hatte sie zu Beginn verschreckt, aber inzwischen wusste sie, warum er immer so ernst in die Gegend blickte. Sie konnte ihn verstehen. Von ihrer Freundin hatte sie erfahren, dass seine Mutter früh gestorben war. Er selbst hatte nie ein Wort darüber verloren. Sollte sie deswegen traurig sein? Ob Sado davon wusste? Immerhin waren die beiden doch beste Freunde, oder?
Es war schon komisch, wie wenig sie im Grunde doch von Ichigo wusste, dabei hatten sie so viel gemeinsam durchgemacht. Vielleicht würde sie ihm näher kommen, wenn sie aufhören würde, ihn "Kurosaki-kun" zu nennen? Sie sollte ihn einfach bei seinem Vornamen nennen, so wie es richtige Freunde eigentlich auch taten. Wobei, Ichigo nannte Sado auch nicht beim Vornamen. Waren sie also keine besten Freunde? Ishida wurde auch nur bei seinem Nachnamen genannt, aber das lag wohl auch daran, dass er es so wollte. Zumindest erweckte es den Eindruck.
Ihr wurde warm ums Herz. Ichigo hatte sich sehr verändert, seitdem er ein Shinigami war. Ihr war klar gewesen, dass er jemand war, der seine Freunde niemals im Stich ließ, aber dass er sich dafür sogar in Lebensgefahr brachte, hätte sie nicht gedacht. War sie ihm wegen seiner Entschlossenheit in die Soul Society gefolgt? Oder weil sie sich um ihn und Rukia gesorgt hatte? Vielleicht sogar wegen beidem? Im nachhinein musste sie sagen, dass sie es nicht wusste. Hätte man sie damals gefragt, hätte sie wohl gesagt, dass sie ihre Freundin retten wollte. Genauso wie die anderen. Oder wollten die anderen gar nicht und waren nur aus einem gewissen Pflichtgefühl mitgekommen?
Ichigo wollte Rukia retten, weil sie Freunde waren.
Ichigo wollte Rukia retten, weil sie sein Leben verändert hatte.
Und sie wollte Rukia retten, weil sie an Ichigos Seite sein wollte.
Sie war bei der Rettung von Rukia nutzlos gewesen. Nichts hatte sie ausrichten können. Rein gar nichts.
Und als Tatsuki von Yammy und Ulquiorra angegriffen wurde, konnte sie ebenfalls nichts ausrichten. Sado hatte seinen Arm verloren, nur um sie zu beschützen. Doch sie war so dämlich gewesen und war nicht geflohen. Ihre eigene Unfähigkeit hatte sie bleiben lassen. Sie wollte helfen. Deshalb heilte sie den Arm ihres Freundes und versuchte sogar, die Espada anzugreifen. Doch wie so oft konnte sie nichts ausrichten. Tsubaki zerbrach und verschwand. Er war weg. Nur dank des Vizards kam er wieder zurück.
Um sie und die anderen zu retten, hatte Kurosaki mal wieder ein Leben in Gefahr gebracht. Es sah so aus, als würde er ohne große Probleme mit den neuen Feinden kämpfen können, doch dann war er plötzlich so schwach.
Angst, sie konnte Angst in seinen Augen sehen. Sie wusste nicht, ob sie sich getäuscht hatte, aber es musste so sein. Doch wovor hatte er Angst? Sie hatte Angst davor, dass er starb. Und wieder versuchte sie, etwas zu unternehmen, doch erneut versagte sie. Ihretwegen machte sich Ichigo Sorgen. Ihretwegen zweifelte er an sich. Es war alles ihre Schuld, wäre sie doch einfach nur weggelaufen.
Sie wollte stärker werden, nur um niemandem zur Last zu fallen. Doch auch dies gelang ihr nicht. Um ihre Freunde zu beschützen, war sie zu Aizen gegangen, zumindest dachte sie, dass sie damit die anderen schützen konnte. Doch es war eine Falle gewesen und sie war hinein getappt. Niemand sollte kommen und sie retten, aber sie kamen. Ihre Freunde.
Nur weil sie dachte, sie würde so etwas erreichen können, wurde Rukia aufgespießt, Renji und Ishida hatte man die Eingeweide zerquetscht und Knochen gebrochen, Ichigo wurde getötet, Sado starb fast.
Irgendwie hatte sie es geschafft, Ichigo zu heilen. Unohana hatte Sado gerettet und Mayuri heilte Ishida und Renji. Rukia wurde von Isane und Hanataro gerettet. Alles in allem war es doch gut ausgegangen. Aber es war ihre Schuld, dass dies alles passiert war.
Sie lief. Tränen vermischten sich mit dem Regen. Sie merkte es nicht. Ihr war längst klar, dass sie für Ichigo nur eine Freundin war. Doch es tat weh. Die Erinnerung an ihn, wie er sie immer wieder rettet und sie ihn immer wieder in Gefahr bringt. Sie war so erbärmlich. Einfach nur erbärmlich. Vielleicht hatte Ulquiorra Recht, vielleicht war sie nur Müll - Abschaum. Ihr wurde wieder kalt. Sie wollte nicht, dass noch mehr Leute, nur weil sie so naiv und schwach war, verletzt wurden. Warum konnte sie nicht so stark sein wie die anderen. So wie Rukia, so wie Yoruichi, so wie Soi Fon, so wie Matsumoto und all die anderen?
Heilen, Abwehren und Angreifen, das konnte sie mit ihrem Shun Shun Rikka, doch ihr Angriff war schwach, ihre Verteidigung zerbrach schnell und ihre Heilfähigkeiten würden ihr nur nach dem Kampf nützen.
Wenn sie ehrlich war, dann war sie eifersüchtig auf Rukia. Nein, nicht auf Yoruichi, Soi Fon, Matsumoto oder jemand anderen. Sie war nur auf Rukia eifersüchtig. Warum? Weil sie Ichigo immer wieder aufmuntern konnte. Weil sie stark war und schön zugleich. Weil sie das Gegenteil von ihr war. Rukia hatte das Leben aller verändert und das wollte sie auch. Doch wie sollte sie dies schaffen? Bis jetzt hatte sie nicht viel ändern können und wie sollte sie das jetzt schaffen? War Ichigo ihr Himmel oder ihre Erde? War Rukia der Himmel oder die Erde? Wollte sie diese beide verbinden? Nein, sie waren schon verbunden, oder?
Matsumoto meinte, dass es in Ordnung wäre, wenn sie eifersüchtig wäre, doch sie selbst fühlte sich schlecht. Eifersucht konnte alles zerstören. Also schwieg sie und nahm alles hin. Niemand sollte sich wegen ihr Sorgen machen. Niemand!
Ihre Gedanken waren immer noch bei Rukia. Bei der Rukia, die sie alle auf eine seltsame Art und Weise zu Freunden gemacht hatte.
Als sie sie zum ersten Mal in der Schule gesehen hatte, fühlte sie, dass Rukia anders war. Es war komisch, wie vertraut Rukia und Ichigo vom ersten Moment an waren. Dabei hatten sich die beiden davor nie gesehen, zumindest behaupteten die beiden dies. Jetzt wusste sie es besser, aber damals hatte sie es nicht gewusst.
Als sie in der Soul Society war, um sie zu retten, war sie irgendwie auch stolz auf sich. Sie würde jemanden retten. Schlussendlich hatte sie aber nichts getan. Rukia war ihr trotzdem dankbar. Das hatte sie wirklich sehr gefreut. Es hatte ihr das Gefühl gegeben, doch nicht so nutzlos zu sein. Rukia blieb danach bei ihrem Bruder Byakuya. Sie konnte sie verstehen. Am liebsten wäre sie auch bei ihrem Bruder. Als sie sich wieder trafen, munterte Rukia Ichigo mit nur ein paar Worten wieder auf, weil er so niedergeschlagen war, da er sie nicht beschützen konnte - wäre sie doch nur weg gelaufen, so wie es Sado ihr gesagt hatte.
Und als sie in Hueco Mundo war, kam Rukia mit, um sie zu retten und wurde fast getötet. Ihr Bruder hatte sie gerettet. Kaum war sie wieder auf den Beinen, machte sie sich wieder auf den Weg, sie zu befreien. Und auf diese nette Person, die nichts Böses wollte, war sie eifersüchtig.
Das war doch nicht fair. Sie war erbärmlich.
Ihr Atem ging schneller. Die Beine taten ihr weh, doch sie hielt nicht an. Das Laufen tat irgendwie gut. Ihre ganze Energie ging dabei drauf und machte sie müde. Salzige Tropfen vermischten sich immer mehr mit dem kühlen Wasser, welches vom Himmel fiel. Sie wollte der Regen sein und den Himmel mit der Erde verbinden!
Sie hatte viele Freunde, sie war nicht dumm und sie war auf ihre eigene Art und Weise stark, auch wenn sie es nicht wirklich wahrnahm. Dass sie schön war, konnte man nicht bestreiten, aber Schönheit war nebensächlich und sowieso vergänglich. Es war nicht wichtig.
Zunehmend wurde ihre Umgebung grüner. Sie näherte sich einem der kleinen Parks. Es war der, in dem sie den Espada zum ersten Mal begegnet war. Aizen, Ulquiorra, Grimmjow, Nnoitra, Neliel und all die anderen waren auch ein Teil ihrer Erinnerungen. Ob einer von ihnen eventuell sogar ihr Himmel beziehungsweise ihre Erde war? Sie musste jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Aizen strich sie von ihrer Liste. Dieser Mensch, Shinigami oder was auch immer er letztendlich auch gewesen war, gehörte zu den Leuten, die sie nie wieder in ihrem Leben sehen wollte. Allein der Gedanke an ihn ließ sie erschaudern. Er wollte sie alle tötet. Einfach jeden. Er war so unmenschlich, so grausam, so anders...
Schnell hatte sie Aizen verdrängt. Ulquiorra... Vielleicht wollte sie ihn mit jemand anderen verbinden? Der vierte Espada war immer so ruhig. Er gehörte eher zu den schweigsamen Personen, aber sie fand das nicht weiter schlimm. Eigentlich war sie froh, dass er nicht zu viel gesagt hatte. Sie mochte es, wenn er mit ihr redete. In diesen Momenten fühlte sie sich nicht so alleine. Leider sagte er nie die Dinge, die sie hören wollte. Jedes Wort, das nicht die Hoffnung in ihr verstärkte, schmerzte. Zum Glück hatte er nie recht gehabt. Alle lebten noch. Wie der traurig drein blickende Espada wohl als Mensch gewesen war? Zu gerne hätte sie ihn richtig kennen gelernt. Unwillkürlich musste sie an die Hand denken, die er nach ihr ausgestreckt hatte. Warum hatte sie nicht früher danach gegriffen? Es hätte ihn nicht gerettet, aber es hätte ihn vielleicht gefreut. Auch wenn ein Hollow kein Herz hat, sehnen sie sich bestimmt nach Wärme. Hätte sie doch nur ihre Heilkräfte benutzt, dann hätte sie ihn retten können. Dann wäre er nicht zerfallen. Auf eine verrückte Art und Weise mochte sie ihn. Er war nicht von Grund auf böse, er war nur an den Falschen geraten.
Sein Blick war so suchend gewesen und so leer. Seine Haut so weiß, so unnatürlich weiß. Ungesund. Die Striche, die sich über seine Wangen zogen, erinnerten sie an Tränen, doch er weinte nicht. Standen die Tränen nicht für die, die er vergossen hat, sondern für die, die andere seinetwegen vergossen hatten? Galten sie dann ihm oder einem anderen, der durch seine Hand gestorben war? War es so wie bei Ichigo und ihr gewesen? Sie hatte um Ichigo geweint, aber nicht um den Espada. Ob jemand um ihn geweint hatte, als er das erste Mal gestorben war? Sie hoffte es. Jeder hatte es verdient, dass man um ihn trauerte. Wenn sie ehrlich war, so musste sie sagen, dass sie um ihn getrauert hatte - stumm. Er war nicht nett, aber er war auch nicht gemein oder Ähnliches. Das Einzige, was er war, war abweisend. Das war seine Art, um sich vor dem, was man ihm antun könnte, zu schützen. Gerne hätte sie es von ihm gelernt. So oft hatte man ihr - unbewusst, ungewollt - wehgetan. Immer wieder nahm sie sich aufs Neue vor, sich Dinge nicht so schnell zu Herzen zu nehmen, doch es half alles nichts.
Wäre er ihr Himmel oder ihre Erde?
Grimmjow und Nnoitra konnte sie sich nicht als einen dieser beiden Dinge vorstellen. Der sechste Espada war einfach zu brutal. Nicht unfair, einfach nur beängstigend. Aus Dankbarkeit hatte er sie vor den beiden weiblichen Arrancar gerettet, doch zwang er sie kurz darauf Ichigo zu heilen, nur um dann gleich gegen diesen zu kämpfen. Einerseits fair, andererseits grausam. Sie verstand sein Handeln nicht. Es tat ihr weh, zu sehen, wie ihr Freund verletzt wurde und es tat ihr weh, zu sehen wie Nnoitra Grimmjow hinterhältig angriff, auch wenn beide ihre Feinde waren.
Nnoitra gehörte wie Aizen zu den Leuten über die sie nicht nachdenken wollte. Sein Name löste ein Gefühl in ihr aus, das Tränen in ihr aufkommen ließ und sie zum Weiterlaufen zwang. Sie wollte weg laufen. Einfach nur weg von diesem Wesen, welches ihrer Meinung nach gefährlicher und grausamer war als der sechste Espada. Er war brutaler als der andere. Er war unfair. Ohne mit der Wimper zu zucken, griff er jemanden an, der bereits am Ende war und wollte sogar seinen eigenen Verbündeten niederstrecken. Nein, so jemanden konnte sie mit niemanden verbinden und sie wollte es auch gar nicht. Außerdem war es auch fraglich, ob so jemand überhaupt mit anderen verbunden werden wollte.
Neben den genannten Espada gab es auch solche, die sie liebend gerne mit anderen Lebewesen verbinden würde, zum Beispiel Neliel. Sie war freundlich. Etwas tollpatschig, aber ein Hollow mit Herz. Genau wie sie selbst wollte Neliel nicht töten. In einer Welt, in der es so schien, als wäre der Kampf der einzige Weg zu überleben, wirkte dies wie eine verrückte Idee, aber sie war nicht verrückt, nicht merkwürdig. Zu gerne würde sie die Gute noch einmal sehen, noch einmal mit ihr reden. Ein wenig war sie auch auf Neliel eifersüchtig. Immerhin war sie schön, stark, mutig und stand nicht im Weg, wenn es zum Kampf ging - anders als sie.
Trotz all der schönen Erinnerung wollten die Tränen nicht aufhören, ihr über die nun leicht geröteten Wangen zu laufen. Sie bedeuteten so viel.
Tränen für all das Wunderbare, das sie erleben durfte.
Tränen für all das Grausame, das sie gesehen hatte.
Tränen für all die Opfer, die gebracht wurden.
Tränen für all die Schmerzen, die sie alle spüren mussten.
Tränen für all die Momente voller Glück, die ihnen immer wieder Mut machten.
Tränen für all die Toten, die der Krieg forderte.
Tränen für all die Überlebenden, die mit den Folgen klar zu kommen versuchten.
Tränen für all die Erinnerungen, die sie für immer in sich trug.
Ihre Schritte wurden schneller. Immer schneller. Sie weinte. Warum, wusste sie nicht, aber es tat gut. Alles sollte raus. Jedes noch so kleine Gefühl in ihr sollte hinaus. Sie wollte frei von ihnen sein, zumindest für ein paar kurze Augenblicke. Wohin sie ihr Weg führte, wusste sie nicht, es war auch egal. Irgendwie würde sie wieder Heim kommen. Obwohl, wollte sie eigentlich wieder nach Hause? Wollte sie zurück in die leere Wohnung? Ihr Bruder wartete dort auf sie, aber würde er sie sehr vermissen, wenn sie jetzt einfach irgendwo anders hinging? Nicht für immer, nur so lange, bis sie ihren Himmel und ihre Erde gefunden hatte.
Allmählich wurden ihre Schritte wieder langsamer. Ihr Himmel. Ihre Erde. Wie sollte sie die beiden nur finden? Wenn sie weiter laufen würde, dann würde sie doch eigentlich nur weglaufen. Egal wohin sie gehen würde, sie würde nur noch mehr Menschen kennen lernen, die einer von beiden sein könnten. Eine Antwort würde sie nicht in der Welt finden. Die Antwort konnte nur sie geben - nur sie alleine.
Sie wollte wie der Regen sein, der zwei Parteien miteinander verband, die sich selbst niemals berühren würden.
Sie kam zum Stehen. Ihr Atem ging schnell. Leicht erschöpft stützte sie sich auf ihren Knien ab. Der Kopf war auf den Boden gerichtet. Ebenmäßig prasselte der Regen auf sie herab. Langsam richtete sie sich wieder gerade auf. Prüfend wanderte ihr Blick über die dunkle Landschaft. Vor ihr lag ein Fluss, sie war also am Flussbett. Bis jetzt war sie hier noch nie so spät gewesen. Vor allem nicht, wenn es so stark regnete. Auf eine seltsame Weise kam ihr das Wasser bedrohlich vor, doch sie hatte keine Angst.
Aufmerksam sah sie sich weiter um. Da war jemand. Die orangenen Haare stachen aus der Eintönigkeit heraus. Sie leuchteten sie regelrecht an. Vorsichtig, um auf dem nassen Gras, welches neben dem Fluss wuchs, nicht auszurutschen, begab sie sich zu der Person.
Ichigo sah traurig aus. Normalerweise hatte er immer eine ernste Miene, doch jetzt sah es danach aus, als wäre ihm zum Weinen. Schüchtern nannte sie seinen Namen. Warum? Um ihn nicht zu erschrecken oder um sich sicher zu gehen, dass es wirklich Ichigo war?
Er drehte sich zu ihr. Aus Trauer wurde Ernst.
Erst schwiegen beide, dann fragte er, warum sie hier sei. Weil sie den Himmel und die Erde suche, wäre die richtige Antwort gewesen, aber sie klang komisch. Eine Lüge? Nein, sie wollte nicht lügen, nicht wegen so etwas Kleinem. Weil sie raus musste, hatte sie stattdessen nur gemeint und dann wieder geschwiegen. Jetzt war sie mit ihm alleine und sagte nichts. Es war doch erstaunlich, wie dämlich sie manchmal war.
Wie lange sie da gestanden hatten, wusste keiner von ihnen, aber als er sie fragte, ob er sie nach Hause bringen solle, kam es ihr wie das Erwachen aus einem kurzen Schlaf vor. Ob er das Selbe gefühlt hatte, konnte sie nicht sagen - sie war nicht er. Nur ein kurzes Nicken bejahte seine Frage. Ohne Eile schlenderten sie zu ihr nach Hause. Die nassen Tropfen, die vom Himmel fielen, ignorierten sie.
Während sie so stumm nebeneinander hergingen, versank sie noch einmal in ihren Gedanken. Ihr fiel ein, dass sie viele ihrer Freunde vergessen hatte. Dafür sollte sie sich schämen! Es hab so viele Leute, die die Erde sein und so viele, die der Himmel sein könnten. Und sie konnte sich nicht entscheiden. Wen konnte sie mit einem anderen verbinden?
Sollte sie Ichigo mal danach fragen?
"Wen würdest du miteinander verbinden, wenn du die Möglichkeit dazu hättest?" Eine einfache und doch schwer zu beantwortende Frage. Lange sagte er nichts. Sie gab die Hoffnung auf, dass er etwas dazu sagte. "Man kann mehr als nur eine Person miteinander verbinden", meinte er nur. Das war es. Mehr sagte er nicht und sie auch nicht. Mehr als nur eine Person. Aber welche sollten dann der Himmel und welche die Erde sein? Sie konnte die Leute doch nicht einfach durcheinander werfen! Am Ende waren sie vielleicht nicht richtig miteinander verbunden.
Sie war so sehr mit ihren ganzen Gedanken beschäftigt, dass sie gar nicht mitbekam wie sie wieder vor ihrer Wohnungstür stand. Als er ihr zum Abschied die Hand auf den Kopf legte kam sie mehr oder weniger wieder zu sich. Vom Flussbett bis zu ihr war es ein weiter Weg, von diesem hatte sie aber so gut wie gar nichts mitbekommen.
Nach der kurzen Verabschiedung verschwand sie ins Trockene.
Beim Abtrocknen und Umziehen ließ sie sich viel Zeit. Niemand hetzte sie.
Wach lag sie in ihrem Bett. Der Schlaf wollte heute einfach nicht kommen.
Leise drang das Geräusch des Regens in ihre Ohren. Es beruhigte ihre wirren Gedanken. Ichigos Aussage hatte es ihr nicht leichter gemacht, aber auch nicht schwerer, nur anders. Die Lichter waren aus. Sie war alleine. Sie wollte der Regen sein.
Dachte der Regen darüber nach, wen er verband oder tat er es einfach so? Vielleicht machte sie sich einfach zu viele Gedanken. Könnte es sogar sein, dass sie niemanden verbinden konnte? Vielleicht wurde sie ja durch jemanden mit anderen verbunden.
Tatsuki hatte sie mit ihren Freunden verbunden. So kam es, dass sie nicht mehr alleine war. Und auch Ichigo war dank ihrer Freundin in ihr Leben gekommen.
Ichigo verband sie mit den Shinigamis, die er im Laufe seiner Aushilfsshinigamitätigkeit kennen gelernt hatte, die Vizard schloss sie da mit ein.
Wenn man so wollte, dann war Ichigo der Regen und sie die Erde. Tatsuki war der Himmel in dem sie und all die anderen warteten, dass sie sich endlich berührten. Ziemlich schnulzig, aber was soll man machen? Es war nach Mitternacht und sie konnte nicht schlafen, da kam man schon einmal auf extrem merkwürdige Dinge.
Als sie noch kleiner war, da hatte ihr Bruder ihr immer warme Milch gegeben, wenn sie nicht einschlafen konnte.
Müde tapste sie in die kleine Küche und machte die Milch warm. Bis jetzt hatte es immer geholfen, also musste es jetzt eigentlich auch funktionieren.
Mehr als nur eine Person kann der Himmel sein.
Mehr als nur eine Person kann die Erde sein.
Mehr als nur eine Person kann der Regen sein, oder?
Lange dachte sie nach. Die Milch hatte nicht geholfen, aber es war in Ordnung. Wenn sie jetzt schlafen würde, dann würde sie die Antwort vielleicht niemals finden. Am nächsten Tag war Schule, doch es war ihr egal. Momentan gab es Wichtigeres als Schule.
Die ganze Zeit über hatte sie sich die falschen Gedanken gemacht.
Auch wenn Personen sich kannten, hieß das nicht, dass sie auch verbunden waren.
Auch wenn Leute befreundet waren, hieß das nicht, dass sie auch verbunden waren.
Auch wenn Lebewesen gleich waren, hieß das nicht, dass sie auch verbunden waren.
Auch wenn sie nicht der Regen war, hieß das nicht, dass sie niemanden verbinden konnte.
Auch wenn es keinen Himmel und keine Erde gab, hieß das nicht, dass niemand verbunden werden konnte.
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Plötzlich war es ganz leicht. Auf einmal wusste sie wer Himmel und wer Erde war. Sie war der Regen!
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