Die Dunkelheit begleitet mich;
ich grinse sie weg,
doch sie bleibt.
Zum Glückt sieht es niemand;
nur du siehst ganz genau hin.
Du schlägst die Dunkelheit weg,
doch sie kommt immer wieder.
Niemand sieht deine verzweifelten Versuche mir zu helfen;
nicht einmal ich sehe hin.
Danke für das, was du getan hast,
aber die Dunkelheit wird bleiben
und sie wird uns beide verschlingen!
Hell schien der Mond vom Himmel auf die Erde. Die Menschen lagen in ihren Betten und schliefen friedlich vor sich hin und bemerkten nicht die Dunkelheit, die sich über ihnen und der Welt ausbreitete. Sie sahen nicht, wie er mit gequältem Gesicht auf einem der vielen Hausdächer saß und in die Nacht sah. Keiner bemerkte ihn. Seine Freunde waren nicht hier, sie waren irgendwo in der Stadt unterwegs. Heute war er bei ihrem Versteck geblieben. Es war zwar sehr unwahrscheinlich, dass jemand herkam und es ihnen wegnahm, doch sicher war nun mal sicher. Wenn man aufpasste, dann hatte man viel Zeit für sich. Niemand störte einen. Nur die Nacht, der Mond und die Dunkelheit, die zur Einsamkeit führte.
Ein kleines schwarzes Kätzchen saß neben ihm und leckte aus einer flachen Schüssel ihre Milch. Er selbst mochte keine Milch, er kaufte diese nur für die Mieze. Sanft strich er ihr über den kleinen zerbrechlichen Kopf. Sie war ein so kleines und zerbrechliches Wesen und doch lebte sie hier, in dieser grausamen Welt, die um so vieles größer war als sie.
Gedankenverloren sah er in den Sternenhimmel. Sterne - sie waren auch nur irgendwelche Steinbrocken im All. Sie waren nicht schön und erfüllten keine Wünsche. So oft hatte er sich schon etwas gewünscht, doch nie wurde es wahr. Er hatte keine Zeit mehr. Bald war es Zeit, diese, doch recht heile Welt, zu verlassen. Jemand wie er hatte nicht das Recht, hier zu sein. Seine bloße Existenz war eine Sünde.
Wann hatte er zum ersten Mal festgestellt, dass sie alle ohne ihn besser dran waren? War es nachdem oder bevor sie alle einen Teil ihrer Menschlichkeit verloren hatten? War es nachdem oder bevor er bemerkte, dass er zu schwach war?
Warum hatte er nicht viel früher etwas dagegen unternommen? Jetzt war es zu spät!
Er stand auf, die Katze sah fragend zu ihm hoch. In den letzten Jahren war sie so etwas wie seine beste Freundin geworden. Ihr konnte er alles erzählen, sie hörte zu und verriet keinem etwas. Gut, wer redete, außer ihm, schon mit einer Katze? Vor allem wer verstand schon "Miau, miau"? Eben, keiner.
Seine Trauer spiegelte sich in seinen Augen wider, die er schloss, um sich wieder zu beruhigen. Immer wenn er sich bewegte, wurde er unruhig. Die Angst in ihm packte ihn und zog ihn tief in die Finsternis, die ihn nicht so schnell wieder loslassen wollte.
Am Tag konnte er ihr entkommen, denn sie fürchtete sich vor dem Licht, doch des Nachts war er ihr hilf- und schutzlos ausgeliefert.
Er war der Anführer, er hatte sie alle dazu gebracht, an ihrem Leben festzuhalten und weiter zu kämpfen und ausgerechnet er versagte nun. Er war so erbärmlich. Am liebsten würde er sich dafür selbst verprügeln, doch helfen würde es nichts. Dieses Handeln würde nur zeigen, wie tief er schon gesunken war und die anderen würden ihn fragen, was los sei. Sie sollten nicht fragen, sie sollten nichts bemerken.
Leise würde er verschwinden. Leise würde er in die Dunkelheit sinken. Leise würde er ihr Herz mit sich nehmen. Leise, ganz leise. Ob sie ihn hassen würde? Würde sie weinen? Sie weinte nie, warum sollte sie also dann weinen. Nicht seinetwegen. Er würde ihr die Tränen verbieten.
"Es wird Zeit, dem ganzen ein Ende zu setzen."
Er sprach zu sich selbst. So etwas sollte angeblich dagegen helfen, verrückt zu werden. Bei ihm war es dafür schon zu spät. Er war schon verrückt.
Welcher normale Mensch würde schon so gelassen bleiben, wenn er wusste, dass er bald verschwinden würde?
"Dabei habe ich ihr doch versprochen, dass ich all diese menschlichen Bräuche mit ihr einmal ausführe."
Wartend wurde er von der schwarzen Katze gemustert. Sie hörte ihm zu, doch sie konnte nicht antworten. Sie blieb stumm. Worte hätten eh keinen Sinn, weder die Worte eines Menschen noch die eines Tieres.
Das Lebewesen vor ihm, welches in den Himmel sah und zu ihm und sich selbst sprach, war kein Mensch und auch kein Tier. Es war irgendetwas dazwischen. Sie hatte keine Angst vor ihm, aber sie spürte die Gefahr, sie spürte seine Angst.
"Na dann, pass' auf dich auf, Kleine."
Ein letztes Mal streichelte er ihr durch das Fell. Ein letztes Mal sah er sie an. Ein letztes Mal lächelte er nur für sie. Ein letztes Mal...
Bald war es zu Ende. Niemand würde ihn aufhalten können. Wie auch? Keiner sah ihn. Das Lächeln, welches er als Maske trug, war schon längst verschwunden. Er hatte es irgendwo auf dem Weg verloren und es nicht wiedergefunden. Eigentlich war es auch nicht wichtig. Da gab es noch eine Ersatzmaske, die glaubte man ihm auch. Niemand sah ganz genau hin, um den Unterschied zu erkennen. Warum auch? Nicht hin zu sehen war einfacher. Man konnte sagen, dass man nichts wusste, dass man nichts bemerkt hatte. Man musste sich keine Vorwürfe machen, weil man nicht gehandelt hatte. Keiner sollte sich seinetwegen Vorwürfe machen. Es war alles seine eigene Schuld. Er allein hatte versagt!
Die Bäume wiegten sich im Wind. Schaukeln quietschten. Die Katzen miauten und die Hunde antworteten mit einem lauten Bellen. Alles ganz normal.
Nur er war fehl am Platz. Sein Platz war auf dem Dach des Verstecks, nicht hier auf der Straße. Seine eigenen Schritte kamen ihm so unnatürlich laut vor. Die Angst kroch in ihm hoch. Vernebelte seinen Verstand und trieb ihn voran. Er musste sich beeilen, sonst würde er verlieren. In seinem langen Leben hatte er viele Schlachten geschlagen. Immer wieder hatte er überlebt und wofür? Für nichts? Für jetzt? Für sie? Wer wusste das schon... Jeder fand irgendwann sein Ende, niemand konnte ewig leben, auch ein Geist nicht. Irgendwann ging jeder an einen anderen Ort. Seine Zeit war nun gekommen. Es gab nichts, das er zu bereuen hätte. Die Worte, die zu sprechen waren, waren gesprochen. Die Gedanken, die zu denken waren, waren gedacht. Die Handlungen, die ausgeführt werden sollten, waren ausgeführt worden. Der Feind, der zu bezwingen war, war bezwungen worden. Feinde wurden Freunde - Freunde wurden Feinde. Verbündete kamen und gingen. Irgendwann war Schluss.
Tapfer flackerten die Straßenlaternen. Obwohl kein normaler Mensch jetzt noch wach war, schienen sie weiter. Leuchteten ihm alleine den Weg. Den Weg zum Ende. Diesen Weg wollte er eigentlich nicht sehen. Mit geschlossenen Augen ging er weiter. Die Angst wurde größer, trieb ihn immer schneller vorwärts. Seine Maske fing an zu bröckeln. Nicht mehr lange und sie wäre vollkommen verschwunden, dann wäre es zu spät. Für ihn oder für die anderen? Wer weiß?
Ein leises Miauen ließ ihn aufschrecken. Das Herz schlug schneller. Hämmerte gegen seine Brust, drohte heraus zu springen.
Beruhigen!
Er musste sich sofort beruhigen!
Etwas Weiches drückte sich an sein Bein.
Er war stehen geblieben.
Erschrocken sah er zu Boden.
Sie war ihm gefolgt. Sah ihn mit ihren grünen Katzenaugen an. Sie wollte in den Arm genommen werden - von ihm!
Allmählich wurde das Herz langsamer. Schlug nicht mehr so stark gegen die Brust, die dies dankend zur Kenntnis nahm und aufhörte zu schmerzen.
Sanft hob er sie hoch.
"Erschreck' mich doch nicht so. Ich dachte, ich würde hier mein Ende finden", flüstere er zärtlich in ihr kleines Ohr.
"Ich hab' dir noch keinen Namen gegeben."
Frei von der Angst, die ihn noch vor kurzem in die Finsternis gezogen hatte, setzte er seinen Weg fort. Das weiche, warme Fell war angenehm. Es wärmte seine kalten Arme. Obwohl es Nacht war, obwohl es fast Winter war, obwohl er wusste, dass er sich wärmer hätte anziehen sollen, trug er nur ein dunkelblaues Hemd und eine weiße Hose. Nicht einmal Schuhe oder Socken hatte er angezogen, dazu war er zu faul gewesen. Einen Sinn hätte es eh nicht gemacht. Rein theoretisch hätte er auch komplett ohne Kleider herumlaufen können. Doch diesen Anblick wollte er den Kreaturen der Nacht ersparen. Wer wollte schon einen Spinner wie ihn nackt durch die Gegend latschen sehen? Niemand, der halbwegs bei Verstand war.
"Ich werde dir ihren Namen geben."
Fragend wurde er angesehen.
"Das ist schon in Ordnung so. Es muss ja keiner wissen, oder?"
Bald würde er zum Ende der Straße, zum Ende der Stadt, zu seinem Ende gelangen.
Wenn er dort ankam, musste er nur noch die Treppenstufen hinab in sein Verlies. In das Verlies, welches er heimlich erschaffen hatte, um leise und unbemerkt zu verschwinden. Wahrscheinlich wussten schon ein paar davon, schwiegen aber. In dieser Welt konnte man keine Geheimnisse haben. Wer eins hatte, log. Selbst wenn man es für sich behielt. Irgendwer wusste früher oder später Bescheid. Auch sein Geheimnis war schon von einer Person aufgedeckt worden. Doch diese Person schwieg.
Warum?
War er es nicht wert, dass man sich um ihn sorgte?
Warum wollte er plötzlich, dass man sich um ihn sorgte?
Das Ende vor Augen zu haben ließ einen Dinge denken, die man nicht denken wollte, weil man wusste, dass sie Recht hatten.
Er hatte Angst vor dem Ende.
Er wollte, dass jemand kam und ihn rettete, ihn aufhielt.
Er wollte weiterleben!
Warum kam niemand?
Die Kälte, die von den Zehenspitzen aus zu seinem Gehirn hinaufkroch, ließ die Angst erfrieren. Dämmte seine Gedanken und Gefühle ein. Machten seinen Körper, seine Augen und Ohren, taub. Verschleierten seinen Blick und ließen den Weg angenehmer erscheinen, als er eigentlich war.
Niemand hatte ihn gesehen.
Niemand sah ihn.
Niemand würde ihn sehen.
Oder täuschte er sich?
War er der, der blind war?
Blind vor Furcht?
Blind vor Angst?
Angst vor dem Ende?
Angst vor dem, was sein könnte?
Hätte man all dies verhindern können?
Sollte er dankbar sein, dass sein Leben damals gerettet worden war?
Was wäre, wenn nicht?
Was wäre, wenn er den Befehl verweigert hätte?
Er hatte sich doch nie etwas aus Befehlen und Autoritätspersonen gemacht.
Warum hatte er, trotz der Bedenken, den Auftrag angenommen?
Von Anfang an hatte er gegenüber dieser fragwürdigen Person seine Bedenken gehabt.
Hatte versucht, ihn zu durchschauen.
Hatte versagt.
Keiner hatte ihm geglaubt. Warum sollten sie auch?
Um keinen unnötigen Ärger zu bekommen, schwieg er einfach.
Sollten sie doch selbst sehen, was sie davon hatten, irgendwann würden sie schon sehen, dass er Recht hatte.
Er hoffte, dass sie es rechtzeitig bemerken würden, doch dies taten sie nicht. Erst als fast alles zu spät war, wachten sie aus ihren Träumen auf und zogen einen Unschuldigen mit in den Kampf.
Kurosaki Ichigo war nur gekommen, um Kuchiki Rukia zu retten.
Nur weil die Soul Society versagt hatte, musste dieser Junge so viel Leid ertragen. Das war doch nicht gerecht. Die Gesetze der Soul Society waren dazu da, die Seelen der Menschen zu beschützen. Ein Shinigami entschied sich dazu, dies zu tun und dabei sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Eine einfache menschliche Seele hatte diese Aufgabe dann übernommen. Warum gab es kein Gesetz, welches diese Seele schützte? Die Unfähigkeit der Shinigami hatte sie alle, sowohl die Menschen in dieser Welt als auch die Menschen in der anderen Welt, in große Gefahr gebracht. Vor dieser Gefahr musste man sie nun beschützen. Man musste sie vor etwas bewahren, das man hätte verhindern können, wenn man nicht so leichtgläubig und naiv gewesen wäre. Wenn man auf ihn gehört hätte! Doch dafür war es nun einfach zu spät. Jetzt musste man sich mit der herrschenden Situation abfinden und versuchen, das Beste aus all dem zu machen. Doch wie sollte man dies tun? Gab es überhaupt eine Möglichkeit, das Beste aus all dem hier zu machen?
Auch wenn man es noch nicht wahrnahm, auch wenn die Menschen es niemals erfahren würden, es herrschte Krieg und diese Stadt war das Schlachtfeld. Vielleicht klang es merkwürdig, wenn er sagte, er wäre gerne dabei. Lieber wollte er den Krieg gegen diesen Mann führen, als einfach zu verschwinden. Ob er etwas gegen ihn ausrichten könnte, war eine andere Frage, die man ihm nicht im Voraus beantworten konnte.
So gerne hätte er gesehen, wie dieses Wesen, das für all die Qualen und das Leiden seiner Kameraden verantwortlich war, zu Grunde ging. Wer weiß, vielleicht war es auch gut, wenn er es nicht sah.
Ob man an ihn denken würde, wenn er jetzt schon "auf Wiedersehen" sagte? Wäre man wütend auf ihn, weil er sich so feige aus dem Staub machte? Er war es immerhin gewesen, der alle vorangetrieben hatte, damit sie in der kommenden Schlacht gewinnen würden. All sein Handeln war darauf ausgerichtet gewesen, diesen Kampf zu bestreiten und zu siegen, doch jetzt soll alles für ihn umsonst gewesen sein. Das war doch nicht fair. Fraglich wann das Leben denn einmal fair war.
Jedes Glück hatte einen Haken!
Jede Entscheidung hatte ihre Schattenseite!
Jeder Schritt führte näher an einen Abgrund!
Welchen Abgrund man wählte, lag bei einem selbst und den Entscheidungen, die man traf.
Nichts war dem Zufall überlassen, auch wenn es so schien. Man konnte sich manche Dinge nur einfach nicht erklären. Nicht einmal, wenn etwas Unerklärliches vor den eigenen Augen geschah, musste man es auch glauben. Man leugnete es einfach. Auch er leugnete oft das, was mit ihm geschah. Negative Dinge wollte man nicht wahrhaben, doch sie blieben einem länger im Gedächtnis, als etwas Gutes, das einem irgendwann einmal zugestoßen war. Traurig.
Vorsichtig stieg er die kalten Treppenstufen hinab. Die Wände waren voller Dreck. Kein Licht schien auf ihn herab. Nicht einmal Fackeln gab es hier, aber so etwas brauchte er nicht - wäre doch nur Verschwendung. Die kleine schwarze Katze hatte er immer noch auf dem Arm, sie hatte es sich so gut es ging gemütlich gemacht. Anscheinend wollte sie bis zum Schluss bleiben. Warum, wollte er sie fragen, doch er verstand die Katzensprache nicht. Schon erstaunlich, dass man so vieles im Leben lernte, aber gewisse Dinge, wie das erlernen der Tiersprache im Allgemeinen, als unwichtig angesehen wurde. Dabei war das meiste, das man lernte, unwichtig.
Atmen war wichtig. Laufen war wichtig. Sprechen war wichtig. Aber alles andere erschien ihm unwichtig. Der Mensch machte sich sein Leben so schwer, aber er hing an diesem. Er hing auch an seinem Leben. Sehr sogar. Manchmal gewann der Verstand, der einem sagte, dass es besser war, zu gehen, und mal gewann der Verstand, der einem sagte, dass man bleiben sollte. Bei ihm hatte der gewonnen, der es für besser hielt, wenn er verschwand. Sollte er vielleicht zur Abwechslung mal nicht auf seinen Verstand hören? Normalerweise sagten ihm sein Verstand und sein Bauchgefühl das Selbe, doch dieses Mal stritten sie sich und er hatte kein Mitspracherecht.
Mit geschlossenen Augen stieg er immer tiefer hinab. So oft hatte er weggesehen und nun sah er wieder weg. Feigling! Nichts anderes konnte ihn in diesem Moment am besten beschreiben. Er war ein gottverdammter Feigling! Eigentlich sollte er sich schämen, doch seltsamerweise war es ihm egal, dann war er halt ein Angsthase und lief davon.
Sachte strich der kühle Nachtwind über ihre freie Haut und jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Zum zwanzigsten Mal drehte sie sich schon in dieser Nacht um. Das Gefühl, dass ihr jemand folgte, machte ihr zu schaffen. Sie war kein Angsthase, sie lief nicht weg, doch sie hasste es, wenn sie alleine war. Ach, wäre sie doch auf das Angebot von Lisa eingegangen und mit ihr mitgegangen! Aber sie durfte nicht vergessen, warum sie es nicht angenommen hatte. Sie wollte alleine sein, um über etwas sehr Wichtiges nachzudenken. Auch wenn sie oft nicht den Eindruck erweckte, so war sie ein eher nachdenklicher Mensch. Sie dachte einfach nur schneller als andere! Leider dachte sie einige ihrer Handlungen nicht zu Ende und dann konnte es halt schon mal passieren, dass sie voreilig angriff oder Ähnliches. Dies kam ihrer Meinung nach sowieso nur selten vor. Wenn es zu oft passieren würde, dann wäre sie doch nie die Vizekommandantin der zwölften Einheit geworden. Sie hatte diesen Posten auch nur verloren, weil sie zur Hälfte in einen Hollow verwandelt wurde. Im ersten Augenblick war sie darüber extrem wütend. Wütend darüber, dass man ihr dies antat, und darüber, dass sie zu schwach gewesen war, um es zu verhindern. Jetzt, im Nachhinein, war sie irgendwie froh darüber, dass es passiert war. Nun hatte sie mehr Macht und mit dieser Macht würde sie den Verantwortlichen zur Strecke bringen! Gnade konnte er von ihr nicht erwarten. Niemand, der sie zwang, sich gegen ihre Freunde zu stellen, konnte Gnade erwarten.
Eigentlich würde in ihr jetzt der Hass aufkochen, doch der Hass wurde von der Sorge unterdrückt. Es gab etwas, das ihr so viele Sorgen bereitete, dass sie sich nicht einmal ungestört ihrem Hass auf die Vergangenheit hingeben konnte. Sie spürte sein Reiatsu kaum noch.
Jeden Tag bestimmten sie einen, der auf das Versteck aufpasste, damit sie sicher gehen konnte, dass es ihnen niemand weg nahm. Wer wollte seinen Schlafplatz schon mit streunenden Viechern teilen, die vermutlich noch mit Läusen und Ähnlichem verseucht waren? Sie jedenfalls nicht! So weit ging ihre Tierliebe nun auch wieder nicht.
Naja, jedenfalls hatte sich der heutige Aufpasser aus dem Staub gemacht beziehungsweise war gerade dabei. Was fiel diesem Volltrottel eigentlich ein? Er war es doch gewesen, der diese Regel oder was es auch immer sein sollte, ins Leben gerufen hatte. Wenn er in der Stadt rum laufen wollte, dann hätte er das auch sagen können und jemand anderes wäre dort geblieben.
Irgendwie fühlte es sich immer noch komisch an, wenn sie sich um ihn sorgte, wenn sie an ihn dachte. Es tat nicht weh oder war unangenehm, ganz im Gegenteil es freute sie irgendwie, doch es verwirrte sie auch.
Wenn sie diesen Idioten in die Finger bekam, dann würde sie ihm so lange ihre Sandale auf den Kopf hauen, bis dieser wieder bei klarem Verstand war! Bis jetzt hatte dies immer recht gut geklappt. Zwar beschwerte er sich dann immer, aber es half. Sie konnte es ihm ansehen, dass er eigentlich dankbar war. Wie konnten die anderen nur nicht sehen, dass mit ihrem Anführer irgendetwas nicht stimmte? Alles an ihm schrie doch gerade danach. Lag es daran, dass sie ihn besser kannte, als die anderen? Seit dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren, stritten sie. Immer wenn sie sich trafen, stritten sie, auch wenn sie nicht einmal in derselben Einheit waren. Er war zum Hauptmann ernannt worden und sie kurz darauf zum Vizehauptmann. In ihrer Einheit war sie die Kleinste gewesen, aber dies machte ihr nichts aus. Klein hin oder her, sie hatte Kraft und durch ihre Art schüchterte sie viele schon von ihrem bloßen Anblick ein. Dies war zwar nie ihre Absicht gewesen, doch es half ihr zu überleben. Niemand wagte es, sich mit ihr anzulegen. Leider war dies während der Akademiezeit anders gewesen, aber die lag schon Ewigkeiten zurück. Vergangenheit war Vergangenheit. Man musste sich auf die Zukunft konzentrieren, wenn man weiter kommen wollte. Daran hielt sie sich auch, nur dieses eine Erlebnis würde sie nicht einfach so vergessen und als vergangen hinnehmen. Das wäre ja fast so, als würde sie diesem Scheißkerl verzeihen. Nein, sie verzieh ihm nicht. Er war an allem schuld!
Ihr Blick wanderte in den Himmel, der sich langsam zuzog. Anscheinend war ein Gewitter im Anmarsch. Sollte sie zurück gehen?
Nein, sie musste sich beeilen und ihr Ziel erreichen, wer wusste schon, was sonst passierte. Sie wollte eine Antwort auf ihre Fragen! Kein Gewitter würde sie aufhalten! Immerhin war sie mal eine Vizekommandantin! Sie würde sich nicht von ein paar Regentropfen oder einem starken Lüftchen fertig machen lassen!
Ihre Schritte wurden schneller. Sie wusste, dass sie nicht viel Zeit hatte, um zu ihm zu gelangen. Wie viel Zeit genau sie hatte, wusste sie aber nicht. Es war zum Verrückt werden. Wie blöd konnte eigentlich ein einzelner Mensch nur sein? Solch eine Blödheit sollte verboten werden!
Die ersten Regentropfen fielen herab und trafen sie ins Gesicht. Mit jedem Tropfen wurden ihre Schritte schneller, bis sie anfing zu rennen. Anders als andere suchte sie keinen Schutz. Sie war ja nicht aus Zucker!
Ihr Herz fing an wie wild zu schlagen. Das Rennen war nicht schuld daran, sondern ihre Angst. Sie spürte ihn kaum noch. Es war, als würde sie durch eine Tür Schritte hören, die sich langsam von ihr fort bewegten. Die Tür hinderte sie daran, die Schritte aufzuhalten. Egal wie kräftig sie gegen die Tür schlug, sie ging nicht kaputt und die Schritte entfernten sich immer schneller. Es war zum Schreien. Würde er ihren Schrei hören?
Ihre Tür war die Entfernung zu ihm, die Tatsache, dass sie diese nicht zerstören konnte, war die Zeit, die ihr fehlte, und die Schritte, die immer weit weg gingen, war er.
Bereitete es ihm Freude, so mit ihr zu spielen? Hatten die anderen schon bemerkt, dass etwas nicht stimmte? Wenn ja, was würden sie jetzt tun? Wenn nicht, warum nicht? Wollten sie es überhaupt bemerken? Wieso dachte sie über so etwas überhaupt nach? Es war doch egal, was mit den anderen war. Irgendjemand, in diesem Fall wohl sie, musste diesen Volltrottel stoppen, bevor alles zu spät war.
Es lag in der menschlichen Natur, die Augen vor dem Schlechten zu verschließen, aber es gehörte doch auch zu der menschlichen Natur, sich selbst am Leben zu erhalten. Das Erste traf auf sie beide zu, das Zweite wohl nur auf sie, oder?
Rannte sie gerade nicht in ihren Untergang? Sie wusste, was sie erwarten würde und sie wusste, dass sie nicht stark genug sein würde, um zu bestehen. Konnte es sein, dass sie innerlich hoffte, dass sie alles ändern konnte und sie gemeinsam wieder nach "Hause" zurück kehren konnten? Was für eine unnötige Hoffnung. Sie kannte das Ende, sie wollte dieses nur etwas heraus zögern. Vielleicht weil sie ihr schlechtes Gewissen auf diese Art und Weise bereinigen wollte.
Auch sie hatte ihre Augen immer wieder verschlossen. Sie hatte gesehen, was langsam mit ihm passierte, aber sie hatte ihn nie darauf angesprochen und ihre Sorgen auch nie geäußert. Wie die anderen, hatte sie ihn allein gelassen. Wie feige sie doch in Wirklichkeit war. Aber dies würde sie natürlich niemals laut zugeben. Es ärgerte sie so schon genug. Wenn er sie jetzt so sehen würde und wissen würde, was sie dachte, dann würde er sie sicherlich damit aufziehen, so wie er es immer tat. Auch wenn ihr bewusst war, dass es nie böse gemeint war, regte es sie jedes Mal auf ein Neues auf. So war sie halt und daran würde sich so schnell auch nichts ändern. Er erwartete von ihr auch keine andere Reaktion.
Der Regen war zu einem Gewitter ausgeartet. Die dunklen Wolken verdeckten den Nachthimmel vollkommen, sodass das Mondlicht nicht mehr auf die Erde herab scheinen konnte. Die Straßenlaternen leuchteten nur schwach und ein paar von ihnen drohten zu erlöschen. Das Wasser des Flusses schlug mal kleine, dann wieder größere Wellen und fing an, über das Ufer zu treten. Die Strömung hatte sehr stark zugenommen und drohte alles und jeden, der es wagte, sich ihr in den Weg zu stellen, mit sich zu reißen. Die Tiere versteckten sich an allen möglichen Orten, um dem kräftigen Wind zu entgehen und versuchten nicht zu erfrieren. Auch wenn sie solch ein Wetter kannten, waren sie nicht vollkommen resistent dagegen. Niemand war es. Und am wenigsten der Mensch selbst. Aber die Menschen waren ja in ihren Häusern und schützten sich so vor der Außenwelt. Um nicht zu erfrieren, lief sie noch schneller. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie so schnell rennen konnte. Eigentlich wäre es klüger, wenn sie Shunpo einsetzen würde, aber sie hatte Angst, dass sie auf diese Weise seine Spur verlieren würde. Nur ein hauchdünnes Band verband sie noch mit ihrer Zielperson. Wohin um alles in der Welt ging er? Hatte er sich einen Ort zum Verschwinden ausgesucht, der sein Reiatsu komplett unterdrückte beziehungsweise für andere unauffindbar werden ließ? Oder war sie einfach nur zu langsam und er war kurz davor, sie und die anderen für immer zurück zu lassen? Diese verdammte nicht vorhandene Zeit!
Momentan kam sie sich wie in einem dieser schnulzigen Frauenfilme der Menschenwelt vor. Bei diesem Gedanken hätte sie sich am liebsten übergeben. Auch wenn sie eine Frau war, hieß das noch lange nicht, dass sie so einen Müll gut fand. Wie kam man nur auf so einen Blödsinn? Die Geschichten waren sowas von überhaupt nicht realitätsnah. Welche Frau würde schon einem Mann hinterher laufen und dabei alle Hindernisse überwinden? Sie jedenfalls nicht. Gut, in gewisser Weise tat sie das aber gerade, doch dies stand nun wirklich nicht zur Debatte. Hier ging es schließlich um Leben und Tod, wie man so schön sagte. Und überhaupt, sollte es nicht eher so sein, dass der Mann der Frau hinterher lief? Für was waren die denn bitte schön Männer, wenn sie nicht einmal diese einfache Männeraufgabe erledigen konnten? Möglicherweise hatte sie aber auch ein falsches Geschlechterbild in ihrer Vorstellung.
Inzwischen war sie vollkommen durchnässt. Da sie Sandalen trug, waren ihre Füße schon seit längerem eiskalt und sie spürte diese mittlerweile kaum noch. Durch das Wasser, welches von den Pfützen, durch die sie immer wieder lief, herauf spritzte, war der untere Teil ihre Hose unangenehm nass und klebte immer wieder kurzzeitig an ihren Beinen. Das Gefühl, das sie dabei empfand, verhalf ihr nicht zu einer besseren Laune. Es gab schöneres, wirklich! An all dem war nur er schuld! Der konnte was erleben, wenn sie ihn in die Finger bekam.
Abrupt blieb sie stehen. Ihr Atem ging schnell, logisch. Immerhin war sie eine sehr weite Strecke gelaufen, da kam jeder früher oder später aus der Puste. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und pumpte ihr Blut durch ihren Körper. Er war weg! Einfach weg! Sie fühlte ihn nicht mehr! War sie zu langsam gewesen? Hatte ihre Angst, dass sie ihn durch das Benutzen von Shunpo verlieren könnte, dazu geführt, dass sie ihn nicht retten konnte? Nein, so durfte sie nicht denken. Sein Reiatsu war einfach nur versteckt, mehr nicht. Genau, so war es! Sie kannte die Richtung, in die sie sich bewegen musste, ungefähr, jetzt könnte sie den Blitzschritt benutzen, um ihn schneller zu erreichen. Jede Sekunde zählte und sie würde keine von ihnen verschwenden. Sie würde sich nicht vom Gewitter und ihren Gedanken aufhalten lassen. Irgendwie würde sie ihren Kopf abstellen und nur noch laufen. Am besten noch ein letztes Mal tief durchatmen und dann los. Sich verrückt zu machen half keinem, weder ihm noch ihr noch sonst einem!
Gedacht - getan.
Die Häuser zogen rasend schnell an ihr vorbei. Sie sah nicht nach links oder rechts. Niemand war auf den Straßen unterwegs - niemand würde sich ihr in den Weg stellen. Wäre sie in einem Spielfilm, würde man vielleicht eine Uhr ticken hören oder irgendein Lied würde gespielt werden, um die Spannung zu erhöhen. Aber wer brauchte das schon? In ihrem Kopf tickte die Uhr auch so und die spannungsbringende Musik war der Klang des Gewitters. Unglaublich, wie viel Geld die Filmproduzenten immer ausgaben, dabei konnte man auf so einfache Art und Weise eindrucksvolle Effekte erschaffen. Vor allem war es viel realistischer. Achteten Menschen auf so etwa heutzutage überhaupt noch? Wahrscheinlich nicht. Nicht jeder konnte die Realität verkraften. Und sie würde diese Realität nicht verkraften, deswegen musste sie alles versuchen, um sie zu ändern. Schlussendlich war sie auch nur ein Mensch. Ein toter Mensch mit Hollowkräften.
Der kalte Wind schlug ihr den Regen in den freien Nacken und ließ sie kurzzeitig zittern. Sie war nass, ihr war kalt und an allem war nur er schuld. Ihr Ziel hatte sie mehr oder weniger erreicht. Vor einem großen alten Gebäude war sie zum Stehen gekommen und versuchte ihn ausfindig zu machen. Nur sehr schwach konnte sie sein Reiatsu spüren. Er war hier und versteckte sich. So ein Feigling. Zähneknirschend trat sie in das Innere des einbruchgefährdeten Hauses und sah sich aufmerksam um. Es war logisch, dass er sich nicht gleich im Eingangsbereich aufhalten würde, aber sie wollte sich auch versichern, dass sie alleine waren. In der Menschenwelt trieben sich nachts viele fragwürdige Gestalten herum. Einige von ihnen hatte sie schon kennen lernen dürfen und auf eine weitere Begegnung mit so einer Person hatte sie keine Lust.
Seine Anwesenheit wurde immer deutlicher. Irgendwo hier musste er sein. Soweit sie wusste, hatten Häuser auch einen Keller, welchen man mit einer Treppe, die nach unten führte, erreichte. Er könnte sich genauso gut auf dem Dachboden befinden, doch diesen gab es nicht mehr. Als sie das Haus bei ihrer Ankunft betrachtet hatte, hatte sie festgestellt, dass das Dach zusammen gefallen war und es nur noch das Erdgeschoss gab.
Da sie wusste, was sie suchte, konnte sie das Gesuchte auch schneller finden. Hinter einer halb heraus fallenden Tür befand sich eine Steintreppe, welche sehr steil hinab führte.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, dabei ließ sie ihre Hand an der Wand entlang gleiten, um sich im Notfall noch irgendwie an einer Einkerbung, so weit zu diesem Zeitpunkt denn vorhanden, fest zu halten. Es gab ihr Sicherheit und diese brauchte sie im Moment einfach. Licht gab es nicht. Sie sah also nichts. Ein gefährliches Unterfangen, aber wegen so einer Kleinigkeit konnte sie jetzt keinen Rückzieher machen. Das hier war sie ihm schuldig.
Sein Reiatsu, welches anscheinend wirklich von diesem Gemäuer von der Außenwelt abgegrenzt wurde, wurde immer deutlicher. Einerseits erleichterte sie diese Tatsache, doch auf der anderen machte sie sich nur noch mehr Sorgen. Es war doch menschlich, zu hoffen, dass man das Grauen nicht miterleben musste. Warum sollte sie anders sein?
Je näher sie ihm kam, umso klarer wurde ihr, dass sie zu spät war. Egal was sie nun tun würde, sie konnte das Ende weder verhindern noch hinaus zögern. Diese Erkenntnis schmerzte und am liebsten hätte sie ihrem Ärger darüber Luft gemacht, aber jedes Wort, das ihrer Kehle entfliehen wollte, kam nicht über ihre Lippen, sondern blieb auf der Zunge liegen.
Jetzt stand nur diese alte, hölzerne Tür der Wahrheit und dem Ende im Weg. Mit geschlossenen Augen öffnete sie diesen und begab sich in den dahinter liegenden Raum.
Vereinzelt brannten Kerzen und erhellten so den eigentlich dunklen Raum ein wenig. Viel konnte man dennoch nicht sehen.
Die Wände waren voller Dreck und der Schimmel breitete sich ungehindert aus. Es stank entsetzlich, doch in der jetzigen Situation war dies nebensächlich. Das Miauen einer Katze war zu hören und ließ die beiden Personen im Raum leicht zusammenzucken. Vor kurzem war es noch so unheimlich still gewesen. Das Gewitter war im Hintergrund zu hören.
Nur schwer konnte sie dem Impuls, ihm ihre Sandale über den Kopf zu hauen unterdrücken. Es hätte nichts gebracht.
Nur schwer konnte er den Impuls, sie zu verschlingen, unterdrücken.
Es blieb nicht mehr viel Zeit. Vielleicht noch ein paar letzte Worte. Sollte er sich bei ihr für ihre Mühen bedanken und sie weg schicken? Würde sie gehen? Wohl eher nicht, immerhin hatte sie den Weg bis hier her auf sich genommen und da würde sie nun wirklich nicht, bloß weil er es so wollte, wieder gehen. Eine Erklärung für all das hier war nicht nötig. Er war sich sicher, dass sie es bereits wusste. Vermutlich wussten es die anderen auch schon. Warum waren sie dann nicht gekommen? Hielten sie seine Situation für aussichtslos? Gut, sie war wirklich aussichtslos, aber warum hatte dann eine von ihnen die Hoffnung noch nicht aufgegeben?
Sie stand einfach nur da und sah ihn an. Ihr war klar, was er sagen wollte, was er tun wollte, aber egal was jetzt kommen würde, sie würde bleiben. Immerhin waren sie doch Freunde, auch wenn sie oft Streit hatten und so taten, als würden sie den anderen nicht leiden können. Diese Art mit einander umzugehen war nun mal bei ihnen so. In ihrer Welt war es einfach besser, wenn man nicht sofort seine Gefühle in den Himmel rief.
Etwas Weiches streifte ihr Bein und ließ sie nach untern sehen. Die schwarze Katze saß vor ihr und sah sie mit ihren großen Katzenaugen an. Etwas Trauriges lag in ihnen. Auch dieses Wesen wusste, was hier bald geschehen würde.
"Ich bleibe!"
Ihre eigene Stimme kam ihr so fremd vor. Fast so, als würde sie nur ihre Lippen bewegen und jemand anderes würde für sie sprechen.
"Ich weiß."
Zögerlich machte er einen Schritt auf sie zu. Zuerst bemerkte sie dies gar nicht, weil sie zu sehr mit ihrer "ich gehe hier nicht weg" Haltung beschäftigt war, aber sie realisierte, dass die Distanz zwischen ihnen allmählich kleiner wurde.
Ohne weiter nachzudenken, nahm sie ihn in den Arm. Die wenigen Meter zwischen ihnen hatte sie mit schnellen Schritten überwunden.
Es fühlte sich irgendwie seltsam an, von ihm in den Arm genommen zu werden. Er war ganz warm und sie fühlte sich so wohl. Hätte sie das doch nur früher gewusst...
"Bist du dir sicher, dass du bleiben willst?"
Seine Frage klang so, als würde er sie nur stellen, um sich keine Vorwürfe zu machen, wenn alles vorbei war. Auch wenn er sich dann nie wieder für irgendetwas Vorwürfe machen brauchte.
"Ja, du willst doch auch, dass ich bleibe."
Wann hatte sie diese Entscheidung eigentlich genau getroffen?
"Versprich mir etwas."
Ein Versprechen?
Warum jetzt?
Machte man das so, wenn man dem Ende ins Auge sah?
"Was denn?"
Wieso fragte sie nach? Jetzt würde sicherlich irgendein Blödsinn von ihm kommen.
"Sieh weg, wenn es so weit ist."
Wie bitte? Sie sollte weg sehen? So weit kommt es noch! Die ganzen Monate, Jahre, hatte sie weg gesehen - jetzt war Schluss damit.
"Egal was mich erwartet, ich sehe nicht weg, das habe ich schon viel zu lange getan!"
Sein Lächeln bestätigte ihren Verdacht, dass er ihre Antwort schon geahnt hatte. Er kannte sie einfach zu gut. Aber wie sollte es auch anders sein? Mehr als hundert Jahre haben sie zusammen verbracht, da war so etwas doch vollkommen normal.
Sie hielt ihr Wort.
Keiner von beiden sah weg.
Er nicht, weil er sie bis zum Schluss betrachten wollte, und sie, weil sie ihre Augen nicht mehr vor der Tatsache verschließen wollte.
Sie sah, wie die vertrauten Augen langsam ihren bekannten Glanz und ihre wundervolle Farbe verloren, wie diese durch das abscheuliche Rot der Wut ersetzt wurde und wie jegliche Menschlichkeit aus dem kostbaren Körper ihres Geliebten wich.
Er sah nur ihre Augen, ihr Gesicht. Es freute ihn, dass sie keine Angst hatte. Ihr kindlich wirkendes Gesicht sollte so, wie es nun war, in seinem Gedächtnis bleiben. Ihre Augen, die ihn ansahen, als wäre er ein ganz normaler Mensch, als wäre er jemand, der nicht von der Dunkelheit verschlungen wurde, durften nicht seinetwegen traurig glänzen. Zaghaft drückte er sie näher an sich. Sie würden beide hier ihr Ende finden, da war es doch umso schöner, wenn sie sich dabei nahe waren.
In Filmen flüsterten sich die beiden Protagonisten in solchen Momenten ein "Ich liebe dich" in die Ohren, doch keiner von ihnen wollte so etwas Bescheuertes sagen. Er konnte eh nichts mehr sagen, ohne dabei seine nicht mehr vorhandene Menschlichkeit vollständig preis zu geben und sie wollte einfach nichts sagen. Jedes Wort hätte alles zerstört. Dabei war es egal, wie gut dieses gemeint war. Wenn man einmal anfangen würde zu sprechen, würde man nicht mehr damit aufhören und am Ende würde man sich dafür hassen, dass man nicht alles gesagt hatte. Worte wurden sowieso total überbewertet.
Leise hatte sich das kleine schwarze Kätzchen aus dem Staub gemacht und war in die Freiheit entschlüpft. Sollte man sie dafür verurteilen? Wohl kaum. Das Tier besaß nur den Anstand, die zwei ihre letzten Minuten ungestört genießen zu lassen. Ihre Aufgabe war es nur gewesen, diesem Mann die Einsamkeit zu nehmen und das hatte sie. Nur würde dies nie jemand erfahren. Vermutlich hätte eh niemand danach gefragt.
Der erste rote Tropfen fiel zu Boden. Die Nächsten folgten unaufhörlich und auch die Kräfte, die die beiden Körper aufrecht hielten, schwanden zunehmend. Noch ein kurzer Augenblick, dann war Schluss. Keiner von ihnen verschwendete einen Gedanken an diese unumstößliche Tatsache, sondern konzentrierte sich darauf, den jeweils anderen nicht aus den Augen zu verlieren.
Was für eine Welt sie wohl nun erwartete?
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