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Verloren im Feuer

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04.07.20 12:49
18 Ab 18 Jahren
Heterosexualität
Homosexualität
Homosexualität
Bisexualität
Asexualität
In Arbeit

Autorennotiz

Verloren im Feuer ist ein Roman in Rohfassung und hat als solcher massive Macken und Fehler. Ich poste den Fortschritt online zur Selbstmotivation und um Feedback einzuholen, aber die Rohfassung wird sich noch einmal wesentlich verändern. Vielleicht habt ihr derweil trotzdem Spaß am Lesen und Feedback zur Verbesserung.

„Val. Es ist soweit.“


Valion wandte sich zu seiner Mutter um und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber dann brachte er doch nur ein Nicken zustande. Er griff nach dem kleinen Bündel, das einige wenige Dinge enthielt, die er besaß, vor allem Kleidung, und sah sich verloren in der winzigen  Kammer um, die er nun vielleicht nie wieder sehen würde. Die Nachmittagssonne, die schräg durch das kleine Fenster an Südseite des Hauses fiel, warf Streifen hellen, goldenen Lichts in den Raum, der nicht viel mehr enthielt als ein schmales Bett und einen alten Schrank. Jetzt, da er alles zurücklassen musste, konnte er sich kaum losreißen.


Seine Mutter, die bisher an den Türrahmen gelehnt hinter ihm gestanden hatte, trat einen Schritt auf ihn zu und ergriff sanft seinen Arm. Das Licht ließ ihr aschblondes Haar aufleuchten und gab ihr für einen Moment die Gestalt eines Engels, trotz ihrer schrecklichen Verletzungen und ihrer müden, verweinten Augen, die so besorgt blickten. Er hatte sie noch nie so gepeinigt gesehen, und trotzdem rang sie sich ein Lächeln ab, nur für ihn – in diesem Moment liebte er sie noch mehr als sonst. Er konnte nicht anders, er drückte sie fest an sich und vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter. Hilflos hob sie die Arme und umarmte ihren einzigen Sohn.


Valion fühlte wie Tränen in seinen Augen brannten, und am liebsten hätte er etwas gesagt, um sie zu trösten. Zum Beispiel, dass alles gut würde. Dass er nicht für immer fort war. Aber es waren Lügen, und deshalb tat er es nicht. Sie hatte schon genug geweint, während sein Vater getobt hatte. Aus voller Kehle hatte er geschrien, dass er ihn notfalls anketten würde wie einen tollen Hund, dass er ihm beide Beine brechen würde und ihm zum Krüppel machen würde, aber nicht gehen lassen. Natürlich hatte er es nicht wahr gemacht.


Seine Mutter schob ihn sanft von sich und strich über seine sommersprossigen Wangen und durch das dichte blonde Haar, das er ebenso von ihr geerbt hatte wie ihre ernsten, graublauen Augen. Sie lächelte unter Tränen und sagte: „Du bist so gewachsen in letzter Zeit... und so dünn geworden. Iss' ordentlich, verstanden? Sie werden dir bestimmt mehr zu Essen geben als wir das können.“ Einen Moment lang wollte er protestieren, aber dann entschied er sich anders. Sie versuchte ihn abzulenken, deshalb antwortete er nur gehorsam: „Ja, Mutter“, und küsste vorsichtig ihre geschwollene Wange.


„Los jetzt. Wir können es nicht länger hinauszögern.“, sagte sie und wandte sich zur Tür. Im Rahmen verharrte sie noch einmal kurz, blickte zu ihm zurück und sagte leise: „Was immer dein Vater sagt, ich bin stolz auf dich.“ Dann wandte sie sich schnell ab, straffte die Schultern und ging langsam und unsicher voraus, die alten, ausgetretenen Holzstufen hinunter ins Erdgeschoss und aus der bereits offenen Eingangstür hinaus. Er folgte ihr langsam, in Gedanken versunken, sein dürftiges Bündel geschultert.

Schaffst du es? fragte er sich selbst. Ja. Die Antwort aus seinem Inneren war selbstsicherer, als er sich eigentlich fühlte. Wenn ich muss, fügte ein zögerlicher Teil seiner selbst hinzu. Wenn es wirklich nicht anders geht.


Am Fuß der Treppe angekommen schweifte sein Blick über die karge Einrichtung ihrer Hütte; hinauf zu dem Dach, das eigentlich schon lange neu gedeckt gehörte, über die grob gezimmerten Möbel, bis zu dem Boden aus fest gestampfter Erde. Er wollte sich alles einprägen, nie vergessen, dass er von hier kam. Es hieß, dort wo er hinging würde unermesslicher Reichtum herrschen. Umso wichtiger schien es ihm, jetzt noch einmal alles genau zu betrachten. Er wusste, dass sie lange Zeit unter den Armen die Reichsten gewesen waren. Seine Familie war lange von Kummer und Leid verschont geblieben. Und doch waren sie alle, jeder in seinem kleinen Heimatdorf, nach den Maßstäben dieser anderen, reicheren, prachtvollen Welt die niedersten aller Menschen.
Ich bin hier zu hause, dachte Valion, egal wo ich jetzt hingehe.
Dann trat er durch die Tür hinaus in den Schein der tiefstehenden Sonne.


Das ganze Dorf war auf den Beinen, die Feldarbeit ruhte heute ungewöhnlich früh. Während Valion ohne Hast den schmalen Weg von ihrem Haus zur Mitte des Dorfes entlang schritt, wurde er unablässig beobachtet. Männer und Frauen standen in Gruppen beieinander oder starrten aus den Fenstern ihrer Häuser. Selbst die Kinder spürten, dass etwas Ungewöhnliches geschah; sie saßen bei ihren Eltern, klammerten sich an die Röcke ihrer Mütter, oder hatten sich in den Schatten der Hütten zurückgezogen. Auf dem großen Platz, umringt von Wächtern, standen die Wagen der Menschenhändler.


Alle warteten.


Wenn Valion ehrlich war, konnte er es niemandem verübeln. Die wandernden Menschenhändler, die niemand so zu nennen wagte, kamen nicht oft in diesen Teil der Welt. Seine Mutter hatte ihm in knappen Worten erklärt, warum: Zu viele schmutzige, hungrige Kinder. Zu viele Krankheiten, zu viele Unfälle bei der Arbeit. Alles, was die einfache Lebensart mit sich brachte war genau das, was diese Männer an einem Protegè nicht sehen wollten. Protegè war das Wort, das sie gebrauchten, wenn sie die Menschenmassen durchkämmten, mit einem taxierenden Blick, wenn sie nach einem schönen Gesicht, einem makellosen Körper suchten. Sklaven, das war das Wort, den sich die Menschen heimlich zuflüsterten. Sie suchen Sklaven.


Diese Gruppe von Menschenhändlern war vor einem Tag eingetroffen, in einem Zug von zwei Kutschen und mehreren Planwagen. Sie waren auf dem Heimweg, und ihre Gruppe war stark angewachsen, stärker, als sie erwartet hatten, und die Lebensmittel wurden knapp. Das alles erfuhr Valion, als seine Mutter Dasha aufgeregt aufs Feld gelaufen kam und heftig mit ihrem Mann zu diskutieren begann. Natürlich hatten sie sich von Valion entfernt, aber sie unterschätzen wie so oft, wie gut er hören konnte, wenn der Wind nur günstig stand. So hörte er mit, wie seine Mutter hastig auf seinen Vater einredete und ihm vorrechnete, wie viel Geld sie bekommen könnten, wenn sie die ersten waren, die den reichen Fremden etwas verkaufen konnten. „Sie werden gut zahlen, weil sie gar keine andere Wahl haben! Sie hätten niemals in unserem Dorf angehalten, wenn sie das nicht gemusst hätten!“ Valions Vater hatte eine mürrische Antwort gemurmelt und zum Feld hin gestikuliert, auf dem er und Valion schon den ganzen Tag gearbeitet hatten, aber seine Mutter stampfte mit dem Fuß auf, und er konnte hören, wie sie energisch befahl: „Zum Teufel mit deinem Stolz, Ebran! Es sind nur Feldfrüchte!“ Und wie immer, wenn Valions Mutter etwas wirklich wollte, wurde es auch durchgesetzt.


Der Rest des Tages verging wie im Flug. Sie rafften zusammen, was sie hatten, Obst, Eier und Gemüse, und luden es auf einen Karren, und jeder in der Familie packte mit an. Während Valion und sein Vater die schweren Körbe mit den frühen Äpfeln verluden, säuberten seine kleinen Schwestern Mila und Arinda die Waren, kratzen Dreck von den Eiern und zupften welke Blätter vom Kohl. Valions Mutter kontrollierte alles und half den Mädchen. Dann zogen sie los und reihten sich sich in einen regelrechten Zug zum Lagerplatz der Menschenhändler ein - natürlich wollte jeder ihnen etwas verkaufen.


Valion löste sich schon nach kurzer Zeit von seiner Familie und hielt Ausschau nach einem seiner Freunde. Hatte er nicht irgendwo Gevins roten Haarschopf gesehen? Er reckte sich gerade, um über die Menge zu spähen, als er über jemandes Füße stolperte, ausgerechnet die Witwe Melva. „Pass doch auf, Dummkopf!“, schimpfte sie und versetzte ihm mit dem großen Stock, den sie immer als Krücke benutzte, einen Stoß vor die Brust. Er stolperte rückwärts, rempelte jemand an, wurde zur Seite geschubst und rannte direkt in Gevin und ein riesiges Spektakel hinein.
„Val, du musst sie aufhalten!“, jammerte Gevin und versuchte mühselig, ein großes, fettes und entsetzlich streitlustiges Huhn daran zu hindern, aus dem Käfig auszubrechen, in dem er es herumtrug. Außerdem zerrte ein großer Sack Rüben an seinen ohnehin dürren Armen. Gleich darauf brachte das Huhn es fertig, seinen Kopf weit genug durch die Gitterstäbe zu schieben, um auf Gevins Hände einzuhacken. Valion packte geistesgegenwärtig den Käfig, als Gevin ihn gerade los lies und sich schmerzverzerrt die rechte Hand hielt. „Argh, du tolles Miestvieh!“, schrie er und wedelte theatralisch mit der verletzten Hand, während das Huhn versuchte, jetzt auch Valion zu hacken. „Oh mann, das Ding will uns fressen!“, sagte Valion und grinste. „Darauf kannst du wetten!“, schimpfte Gevin und hievte mühselig seinen Rübensack ein wenig höher, um ihn sich über die Schulter zu werfen. Er machte Anstalten, auch den Käfig wieder an sich zu nehmen, aber Valion wehrte ab. „Lass nur, ich trag das.“ Sie trabten weiter, immer im Strom der Leute, während sie sich unterhielten.


„Ich schätze, dein Vater hatte die gleiche Idee wie meiner?“ Valion schüttelte den Kopf. „Meine Mutter. Sie war völlig aus dem Häuschen, weil sie meint, dass die Händler uns viel Geld bezahlen werden.“ Gevin nickte, sah sich dann kurz um, ob jemand besonders nahe neben ihnen ging, und flüsterte Valion zu: „Glaubst du wirklich sie sind... naja, du weißt schon, Menschenhändler?“ Valion konnte nur mit den Achseln zucken und verlagerte den immer schwerer werdenden Käfig in seinen Armen. Das Huhn hatte sich inzwischen ein wenig beruhigt und starrte ihn nur misstrauisch aus funkelnden Knopfaugen an. „Keine Ahnung. Mutter hat etwas in der Richtung gesagt.“ Valion sah sich nach seinen Eltern um, die nur wenige Meter entfernt den Karren führten. Sein Vater ging neben ihrem Esel und trieb ihn freundlich, aber bestimmt an. Doch selbst aus dieser Entfernung konnte Valion sehen, dass er nicht glücklich war. Gevin folgte dem Blick seines Freundes und fragte zögernd: „Ist dein Vater wegen irgendwas wütend?“ „Keine Ahnung. Er war heute den ganzen Tag sehr still. Ich glaube, er mag die Me-... die Leute nicht.“ Mehr zu sich selbst fügte er hinzu: „Aber warum?“ Er verfiel in Schweigen und streichelte durch die Gitterstäbe geistesabwesend die Federn des Huhns, das sich anscheinend mit seinem Schicksal abgefunden hatte.


Gevin suchte nach Worten, um seinen Freund aufzuheitern, aber viel fiel ihm gerade nicht ein. Schließlich platze er heraus: „Naja, egal wer diese Händler sind, spannend wird es sicher allemal. Und wenn sie wirklich... na, du weiß ja. Also, dann haben sie bestimmt...!“ Er grinste und stieß Valion an, der nur verwirrt die Brauen zusammenzog. „Dann haben sie was?“ Gevin beugte sich zu ihm herüber und flüsterte: „Ich wette sie haben richtig große Käfige mit lauter Frauen!“ Valion sah ihn erstaunt an, während Gevin grinste. Ihm schien die Vorstellung zu gefallen, aber aus irgendeinem Grund jagte sie Valion einen Schauer über den Rücken.


Schließlich erreichten sie das Lager. Obwohl es gar nicht so weit außerhalb des Dorfes aufgeschlagen war, hatte die schiere Menge an Neugierigen und kurzentschlossenen Handelnden den Trampelpfad derartig verstopft, dass sie das Dreifache der Zeit benötigt hatten.
Es war nicht so exotisch, wie es sich Gevin ausgemalt hatte. Mehr noch, das Lager schien fast leer zu sein. Nur die Menschenhändler selbst, ihre Familien, wenige Wachleute und Arbeiter gingen im Lager umher, unterhielten sich oder ruhten sich im Schatten der Wagen aus. Hin und wieder zeigten sich jedoch neugierige Gesichter in den Eingängen der Zelte oder Planwagen, die schnell wieder verschwanden.


Die Dörfler sammelten sich, bis auf ein paar tuschelnde Leute ungewöhnlich still, am Rande des Lagers und warteten. Valion verabschiedete sich kurz von Gevin und kehrte an die Seite seines Vaters zurück, der ihm zunickte und dann seine Aufmerksamkeit wieder den Händlern zu wandte.
Als Erster trat Darvan vor, der angesehenste Mann im Dorf und Besitzer der einzigen Schenke, wobei Schenke bedeutete, dass er einen kleinen Raum mit ein paar Tischen zur Verfügung stellte und dort selbst gebrannten Schnaps ausschenkte. Er hätte vermutlich offizieller gewirkt, wenn er nicht so verschwitzt gewesen wäre und nicht eine tote Gans mit sich geschleppt hätte.
Nichtsdestotroz schien er bemüht zu sein, Würde an den Tag zu legen, als er in die Mitte des Lagers trat und zu den Männern sprach, die dort standen und das Eintreffen der Dörfler beobachtet hatten.


„Seid gegrüßt, werte Herren! Wir sind sehr erfreut, dass angesehene Händler wie ihr unser Dorf während eurer Reise besuchen. Wir haben gehört, dass ihr knapp an Speisen seid, und deshalb sind wir gekommen, um für ein paar wenige Münzen das anzubieten, was wir hier erwirtschaften! Und als Gastgeschenk“, deklamierte er und strahlte, „möchte ich euch diese prachtvolle Gans überreichen und euch auch recht herzlich in unsere Schenke einladen.“


Ein paar der Anwesenden Dörfler jubelten, während nun auch die Bewohner des Lagers zusammenströmten, jedoch eher gemächlich, als wollten sie zeigen, dass sie das Spektakel kalt ließ. Aus der Mitte der Männer, die Darvan angesprochen hatte, trat nun der größte und schritt nach einem kurzen geflüsterten Gespräch mit seinen Begleitern auf die Menge zu. Er war hochgewachsen, gut genährt und auf subtile Weise gutaussehend. Valion wunderte sich, dass das Haar des Mannes so lang, glatt und gepflegt war – im Dorf trugen fast alle, selbst die meisten Frauen, ihr Haar kurz. Und er bewunderte den schweren Mantel aus glänzendem Stoff und das so saubere, glatte Gesicht. Hätte Valion gewusst, dass es in den reicheren Vierteln der Hauptstadt ein strenges Modediktat gab, hätte er vermutlich erkannt, dass seine Erscheinung der neusten Mode folgte. So war er simpel von der Makellosigkeit überwältigt – keine Risse in den schweren, glänzenden Lederstiefeln, kein Flicken auf dem Hemd aus seidigem, tiefblauen Stoff. Dazu kam ein Lächeln, das reines, unverfälschtes Wohlwollen ausdrückte, als der Mann mit einem kurzen Nicken die Gans von Darvan entgegen nahm und sich dann an die Menge wandte.
„Danke, liebe Freunde, für diese Gastfreundschaft. Wir sind, wie ihr sicher alle wisst, ehrbare Händler auf der Durchreise und auf dem Weg zur Hauptstadt. Und es ist richtig, dass es uns an Vorräten mangelt, um die bevorstehende Reise abzuschließen. Deshalb sind wir sehr dankbar, dass ihr das wenige, das ihr habt, so großzügig mit uns teilen wollt.“ „Ha, das wenige, das wir haben. Im Vergleich zu was? Dem vielen, das ihr gestohlen habt?“


Valion fuhr erstaunt zu seinem Vater herum. Er hatte diese wenigen Worte nur gemurmelt, so leise, dass niemand sonst es hatte hören können. Ihre Blicke trafen sich, und es entsetzte Valion, dass er Hass in den Augen seines Vaters sah. „Dreh dich um, Junge. Sieh sie dir ruhig gut an, diese Verbrecher. Sieh dir an, wie sie allen Sand in die Augen streuen und wie wir uns darum reißen, ihnen zu Diensten zu sein, weil sie etwas haben, das wir so dringend benötigen.“ Grob drehte er Valion an der Schulter herum, richtete seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn auf den Händler und die Menge. Und Valion gab sich wirklich Mühe, weil er wusste, dass sein Vater ihm etwas zeigen wollte. Was das war, war ihm in diesem Moment nicht klar.


Aber etwas fiel ihm auf, ja. Jetzt, da er genau hinhörte und hinsah, spürte er plötzlich den hochmütigen Unterton in der Stimme des Händlers, als er fortfuhr, zu sprechen. „Denkt aber bitte daran, dass wir natürlich nur das Beste aus den Hauptstädten gewohnt sind. Gerne wollen wir euch alles abkaufen, was unseren Ansprüchen genügen wird. Und gern werden wir eurer Schenke,“ er nickte Darvan wohlwollend zu, „einen Besuch abstatten.“


Warum hat sein Mund dann kurz so gezuckt, als wollte er angewidert das Gesicht verziehen, fragte sich Valion plötzlich. Die Stimme in ihm, die das gesagt hatte, schien mit dem leisen, oft feinen Zynismus seines Vaters zu ihm zu sprechen. Warum lächelt sein Mund, aber nicht seine Augen? Das ist nicht schwer zu erraten, oder? Sie werden nie in unser Dorf kommen. Sie wollen allein sein. Weil sie nicht wollen dass wir die Sklaven sehen.


„Aber um eines müssen wir euch leider bitten – ihr dürft dieses Lager nicht eigenmächtig ohne unsere Erlaubnis aufsuchen, nicht allein, und nicht nach Einbruch der Nacht. Unsere Wachen sind es gewohnt, gegen Diebe und Rebellen vorzugehen, und sie können nicht immer Fragen stellen, bevor sie ihr Gewehr anlegen.“ Es gab kurz Getuschel unter den Dörflern, aber das strahlende Lächeln des Händlers und eine ausladende Geste zogen die Aufmerksamkeit zurück auf ihn, weg von dem Verbot und den Drohungen, die er ausgesprochen hatte. „Und nun: Lasst uns sehen, was wir miteinander verhandeln können!“


Damit war der Damm endgültig gebrochen und alle strömten auf den Platz zwischen den Zelten, um ihre Waren aufzubauen. Die Frauen und Bediensteten der Menschenhändler traten vor und begannen, umher zu schlendern, um sich alles anzusehen, während die Händler selbst sich in die Zelte zurückzuziehen schienen. Valion wunderte sich einen Moment darüber, warum sie offensichtlich den Dörflern aus dem Weg gehen wollten, aber er musste sich beeilen, um mit seiner Mutter einen guten Platz zu sichern. So schnell wie es ging breiteten sie das Gemüse aus, platzierten die Körbe einladend vor dem Wagen und fegten das Stroh von den Eiern, das sie zuvor noch zum Schutz darauf ausgebreitet hatten. Geld wechselte die Taschen, und Valions Mutter legte sich wirklich ins Zeug. „Das ist ganz frischer Kohl! Natürlich kenne ich die Sorte, Wirsing. Ihr wollt einen frischen Salat, dann könnt ihr ihn gleich essen. Oder ihr kocht ihn ein, er wird sich sehr lange halten und jedes eurer Gerichte bereichern. Mila, hilf mir beim Einpacken.“ Und während Mila oder Arinda mit ihren unschuldigen großen blauen Augen und den feinen, blonden Strubbelhaaren emsig etwas einpackten, vergingen die Frauen der Menschenhändler fast vor Entzücken. „Wie kleine Püppchen!“, sagten sie, und eine von ihnen fuhr den Mädchen sogar durch die Haare und gab ihnen ein Kupferstück extra.


Während einer kurzen Pause, als gerade niemand bei ihnen stand, zog Valions Mutter ihn zu sich und öffnete ihre Schürzentasche. Er war erstaunt, wie viele Münzen sich darin angesammelt hatten. Es musste inzwischen schwer zu tragen sein, aber seine Mutter strahlte und flüsterte ihm zu: „Sieh nur, Valion. Da drin ist ein Schwein, und vielleicht ein neues Dach, oder eine Aussteuer für Arinda!“ Und als er scherzhaft fragte: „Ist ein Schwein nicht zu groß für deine Schürzentasche?“, kicherte sie viel ausgelassener, als der Scherz es eigentlich verdiente. Valion freute sich – seine Mutter war diejenige, die oft spät abends bei Kerzenschein am Küchentisch saß und mühsam, mit was auch immer sie gerade als Rechenhilfe finden konnte, das wenige Geld zusammenzählte, das sie verdienten. Sein Vater war ein starker und aufmerksamer Mann, aber selbst das wenige an Rechenkunst, das seine Frau beherrschte, stellte ihn vor fast unlösbare Probleme. So saßen sie zusammen, und Valion hörte oft ihre Gespräche mit, wenn er im Bett lag und nicht einschlafen konnte. Manchmal wurden sie so laut in ihrem Streit darum, was sie wie bezahlen sollten, dass selbst die Mädchen davon aufwachten. Früher waren ihre Stimmen oft auch voller Optimismus gewesen, wenn es eine überreiche Ernte gegeben hatte. Aber in letzter Zeit war das seltener vorgekommen. Das Land litt, und die heftigen Streitgespräche waren häufiger geworden. Niemand hatte Geld, auch Valions Familie nicht. Wenn Valion am Morgen hinunter stieg und seiner Mutter beim Bereiten des Frühstücks half, sah sie in letzter Zeit oft müde und traurig aus. Und wenn sie mit einer Hand voll Wegkiesel gerechnet hatte, lagen sie ein oder zweimal auch verstreut auf dem Boden, als hätte sie sie in einem Anfall von Wut und Verzweiflung vom Tisch gefegt. Sie jetzt glücklich und lachend zu sehen war für ihn eine Erleichterung.


Schließlich, als der frühe in den späten Nachmittag überging, waren die meisten Handel abgeschlossen. Ein paar hartnäckige zankten sich noch um ein Schaf und zu welchem Preis es den Besitzer wechseln sollte, aber die meisten packen die wenigen Waren, die sie nicht hatten verkaufen können, ein und zogen davon. Während Valion dabei half, die leeren Körbe zusammenzustellen – erstaunlicherweise hatte ein Diener eine riesige Menge Äpfel gekauft – überblickte er den Lagerplatz. Alle sahen zufrieden aus, und da das Gedränge nachgelassen hatte, konnte Valion auch einen Blick hinüber zu Gevin und seiner Familie werfen. Offensichtlich waren sie auch das dicke Huhn losgeworden. Mila und Arinda halfen schon lange nicht mehr, sondern spielten versunken auf dem Boden miteinander.


Gerade, als Valion vom Karren zurückkehrte, um die letzten noch halb vollen Körbe zu holen und aufzuladen, bemerkte er, dass die Menschenhändler aus ihrem Zelt zurück auf den Platz getreten waren. Unter ihnen war auch der große, elegante Mann, der die Ansprache gehalten hatte. Die Männer unterhielten sich kurz, bevor sie begannen zu ihren jeweiligen Bediensteten oder Ehefrauen zu schlendern oder sich, in Einzelfällen, mit den Dörflern zu unterhalten. Valion beobachtete sie eine Weile, aber als er gerade zu dem hochgewachsenen eleganten Mann hinüber sah, trafen sich ihre Blicke.Valion wurde plötzlich so eindringlich gemustert, dass er schnell den Kopf senkte und sich wieder seiner Arbeit zu wandte. Hoffentlich denkt er nicht ich hätte ihn angestarrt, dachte er unbehaglich, während er nach den Waren griff. In diesem Moment schloss sich eine Hand um sein Handgelenk und er wurde herumgedreht.


„He, du.“ Überrumpelt blickte er in das Gesicht des hochgewachsenen Mannes, der ihn fest hielt. Aus der Nähe sah Valion, dass er älter sein musste, als er ihn zunächst geschätzt hatte, vermutlich fast vierzig Jahre alt. Seine Augen waren von einem kalten Grau und musterten ihn eindringlich. Schließlich ließ der Mann Valions Hand los, packte ihn aber gleich darauf grob am Kinn und drehte sein Gesicht nachdenklich erst nach links, dann nach rechts. Valion war viel zu überrascht, um zu reagieren, aber seine Mutter nicht.


„Mein Herr, was tut ihr da? Bitte lasst meinen Sohn los!“, rief sie und ging mit energischen Schritten auf die beiden zu. Der Mann hielt Valion jedoch noch einen Moment länger fest, bevor er ihn schließlich freigab und sich geistesabwesend die Hand an seinem Mantel abrieb, als hätte er etwas Widerwärtiges angefasst. Trotzdem ließ er die Augen nicht von Valion, als er in gelangweiltem Tonfall fragte: „Sohn, was? Er ist nicht besonders groß. Hübsch. Wie alt ist der Junge?“ „Fünfzehn“, antwortete Valions Mutter sofort. Die Lüge war offensichtlich, denn obwohl er klein und sehr dünn war, sah man Valion an, dass er inzwischen schon siebzehn war. Seine Schultern waren in den letzten Jahren breiter geworden, sein Adamsapfel weiter nach vorn getreten, und auch sein Stimmbruch lag hinter ihm. Trotzdem nickte er hastig. Doch auf dem Gesicht des Mannes zeigte sich keine Enttäuschung, nur heitere Gelassenheit. „Fünfzehn, hm? Zu schade. Denn wie jeder weiß,“ er lächelte kalt, „dürfen Menschenhändler keine Knaben und Mädchen kaufen, die jünger sind als sechzehn Jahre. Das erzählt man sich zumindest.“
Nicht, dass ihn das interessieren würde, schoss es Valion durch den Kopf. Seine Miene musste sich unmerklich verzogen haben, denn der Mann zwinkerte ihm zu – nicht freundlich, sondern wissend. Du weißt was ich weiß, sollte die Geste bedeuten. Und Valion überlief eiskalt die Erkenntnis, dass er, wenn er die Sklaven, die versteckt in den Planwagen warteten aufgesucht hätte, alle Altersgruppen gesehen hätte. Nicht nur junge Frauen und Männer, sondern auch Kinder. Nicht viele, nicht die Mehrzahl... Und wenn jemand unerwartet in das Lager kommen würde... denk ja nicht daran.


Sie hätten sich vermutlich noch länger gegenseitig angestarrt, während die verbliebenen Dörfler und die umstehenden Lagerbewohner unruhig wurden, aber aus der Gruppe der Händler trat nun ein weniger imposanter Mann von kräftiger Statur und mit einem rötlich braunen Bart vor und legte seinem Freund eine beschwichtigende Hand auf die Schulter. „Ansin, wir wollen die restlichen Stationen bis zur Hauptstadt planen. Der Wirt kennt sich etwas in der Gegend aus. Kommst du?“ Der hochgewachsene Mann riss die kameradschaftliche Hand unwirsch von seiner Schulter, machte aber kehrt und stolzierte mit einem letzten, durchdringenden Blick auf Valion zurück zu dem Zelt der Händler. Und damit war es vorbei.


Valion merkte erst, dass seine Mutter den Atem angehalten hatte, als sie die Luft mit einem zittrigen Seufzer entweichen ließ. Immer noch verwirrt von den letzten Geschehnissen fragte er leise: „Wollte er mich kaufen?“ Zu seinem Entsetzen holte seine Mutter aus und gab ihm eine so saftige Ohrfeige, dass ihm der Kopf dröhnte, und zischte: „Kein Wort davon, zu niemandem! Und wenn dein Vater davon erfährt, schwöre ich bei Gott, du wirst den Tag verfluchen an dem ich dich geboren habe! Ist das klar?!“ Ihr Gesicht war so von Angst und böser Ahnung erfüllt, dass er es nicht wagte, zu widersprechen.


Und tatsächlich erfuhr Valions Vater nie von seinem Sohn selbst, was geschehen war. Valion war verwirrt und mit hochrotem Kopf zum Wagen zurück getrabt, und als sein Vater misstrauisch fragte, was passiert war, wer ihn geschlagen hatte, hatte er gelogen. Er sagte, er hätte zwei Eier fallen lassen, und Mutter sei die Hand ausgerutscht. Sein Vater nickte und brummte etwas darüber, dass es für alle ein langer Tag gewesen sein, und damit war das Thema erledigt.
Doch schlechte Nachrichten brauchen keinen Boten – jeder gab einen Fetzen von dem weiter, was er gehört oder gesehen hatte, und wenn sich diese vielen kleinen Brocken von Information schließlich trafen, ergaben sie letztendlich das ganze Bild. Später dachte Valion darüber nach, ob es eine Rolle gespielt hatte, dass sein Vater schließlich versucht hatte, die Sklaven zu befreien. Ob er davon gekommen wäre, hätte sein Vater nie eingegriffen oder versucht, mehr herauszufinden. Aber schlussendlich kam er zu dem Ergebnis, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Der große, gutaussehende Mann, der ihn entdeckt hatte und schließlich mit einem Lächeln, das eine obszöne Freude an seinem Tun zeigte, seine Schulter brandmarkte, war niemand anders als Ansin Eravier, und er bekam alles, was er sich wünschte.


Eravier, der Name, den man nur flüsterte. Kaum jemand im Dorf wusste Genaues über diesen Sklavenhändler, aber Gerüchte gab es genug. Es hieß, es spiele keine Rolle, ob man seine Sohn oder seine Tochter verkaufen wolle – er fand einen Weg, sie abzukaufen. Seine Proteges, so flüsterte man sich hinter vorgehaltener Hand zu, waren die verruchtesten Sklaven der ganzen Hauptstadt. Er belieferte Grafen und angeblich sogar den König, sein Auge für Schönheit war legendär, und wen er für würdig befand, verwandelte er in eine Schönheit gleich einem Engel. Aber gab es einen ruchloseren, einen gefürchteteren, einen mitleidloseren Händler als ihn? Es hieß, im Zorn über eine junge Frau, die er nicht hatte kaufen können, hätte er ein ganzes Dorf nieder gebrannt, und der König, der selbst zwei von Eraviers schönsten Knaben besaß, hatte ihn gewähren lassen.


Manche zweifelten – wie kam es, dass Eravier so tief im Landesinneren unterwegs war? Dass er, der schon so viele Jahre Menschen kaufte, sich angeblich in seinem Urteil verschätzt hatte und in einem der kleinen Dörfchen sein Lager aufschlagen musste, das so weit unter seiner Würde war?
Valions Vater konnte über diese Einfalt nur lachen. Denn anders als die meisten Händler, die die kleinen dreckigen Dörfer mieden, suchte Eravier die Schwachen und die Wehrlosen. Unter den Geschlagenen und Ausgestoßenen suchte er die Perlen, die ein Leben voller Leid und Schmerz nicht beugen konnte, und aus dem Schmutz, der Angst, den Schmerzen und den Tränen eines ganzen geschundenen Volkes schmiedete er die perfekten Sklaven – bereit, alles zu ertragen, was ihnen angetan wurde.


Das alles erfuhr Valion nur allzubald, auch wenn er nicht damit gerechnet hatte. Vielleicht war es Schicksal, dass Wer auch immer den Namen des Händlers aufgeschnappt hatte, ihn im Dorf verbreitet hatte, und so erfuhr Valions Vater spät abends, als er vor dem Haus Holz hackte, den Namen von ihrem nächsten Nachbarn.


Als Valion von seiner Mutter nach draußen geschickt wurde, um seinen Vater zum Essen hereinzuholen, lag der Hauklotz verlassen da, die Axt achtlos fortgeworfen daneben. Verwundert runzelte Valion die Stirn und ging den ausgetretenen Pfad um die Scheune herum, zum Rande des Feldes. Dort, im Schutz der drei Apfelbäume, saß sein Vater im Gras, die Beine angewinkelt, die Arme darauf abgelegt und aufs Feld hinaus starrend. Valion konnte sein Gesicht nicht sehen, aber etwas an der Art wie er da saß – die Hände kraftlos herab hängend, den Rücken krumm gebeugt wie ein Greis, das Haar zerzaust, als hätte er es sich verzweifelt gerauft – machte Valion noch mehr Angst als die verwirrende Ohrfeige am Nachmittag und die Nervosität seiner Mutter. „Vater?“
Seine Vater wandte sich nicht einmal zu ihm um, starrte weiter auf das Feld. „Was ist?“ „Mutter sagt, ich soll dich zum Essen holen.“ Ein Brummen, man wusste nicht, ob es zustimmend oder verneinend sein sollte, war die einzige Antwort.


Valion haderte mit sich. Es gab Zeiten, da ließ man seinen Vater besser in Ruhe. War dies so ein Moment? Er wusste es nicht. Von einem Moment auf den anderen war die Welt, die gestern noch so völlig gewöhnlich gewesen war, in eine beängstigende Schräglage gekippt, und er konnte nur vage erahnen, warum. Schließlich gab er sich einen Ruck und ging hinüber zu seinem Vater, um sich neben ihm im Gras niederzulassen, und nahm, ganz unbewusst, die selbe Haltung ein – die Beine angewinkelt, die Arme auf den Knien abgelegt. Für einen Moment waren sie ein und derselbe Person, einmal als ein Junge, einmal als ein gestandener Mann, Seite an Seite auf das Feld hinaus blickend, das sie Tag für Tag zusammen bearbeiteten, während die Sonne im Westen den Horizont berührte und den Himmel rot und violett färbte. Dann sah der Vater auf seinen Sohn herab, den er immer noch um einen Kopf überragte. Liebevoll strich er ihm durchs Haar, mit einem traurigen Lächeln, das ihm die meisten im Dorf nicht zugetraut hätten, und Valion legte für einen Augenblick dankbar seinen Kopf auf die Schulter seines Vaters. Es war einer der wenigen, mit den Jahren immer seltener werdenden Momente, in dem sie so beieinander waren, und es kam Valion im Nachhinein unfair vor, dass er in diesem Moment nicht gewusst hatte, dass es das letzte Mal war, dass er seinem Vater so nahe war.


Hätte es diesen Moment nicht gegeben, hätte er niemals gewagt, eine zögerliche Frage zu stellen:
„Was ist passiert?“ Die Antwort war ein Seufzer, tief und unglücklich.
„Es hat wohl keinen Sinn, dir nichts davon zu erzählen“, begann sein Vater mit Widerwillen, „denn du wirst jetzt erwachsen. Meist kommst du mir immer noch wie der kleine Junge vor, der rotznasig herumgelaufen ist und im Dreck gewühlt hat, um mir beim Säen und Ernten zu helfen. Aber du wirst bald eine Frau finden, ein eigenes Feld bestellen...“ Er machte eine Pause, und als er weiter sprach, war seine Stimme plötzlich voller hilfloser Wut. „Die Göttern sollen mich verdammen wenn ich zulasse, dass so ein Dämon aus der Unterwelt hierher gekrochen kommt und nicht zahlt für das, was er uns antut.“ „Meinst du die... Händler?“


Valions Vater schnaubte leise, bitter amüsiert. „Oh Junge, du kannst sie ruhig bei dem nennen, was sie sind. Menschenhändler, Sklavenverkäufer! Abschaum, der sich von den Schwachen nährt und ihre Körper an die Reichen verkauft!“ Seine Stimme war immer lauter geworden, bis sie fast bei einem Brüllen angelangt war, und seine großen Hände gruben sich zornig ins Gras und die darunterliegende Erde. „Glaub mir, ich bin zwar nur ein dummer Bauer, aber ich kenne ein paar Leute, und die kennen Leute, und die haben all ihre Missetaten, den Raub, die Morde, alles haben sie verfolgt! Das Land blutet aus, Valion! Es ist fruchtbar, oh ja, fruchtbar und reich gesegnet mit braven Männern und Frauen, die alles geben, damit es blüht und wächst! Aber alles, was wir säen, alles was wir ernten, das bleibt uns nicht allein. Du weißt, was wir jedes Jahr abgeben müssen, nicht wahr?“ Valion nickte, eingeschüchtert von diesem mächtigen, wütenden Monolog. „Zahlen wir wirklich so viele Steuern?“ „Früher, als du noch ein kleiner Junge warst, da war es nicht so viel“, erklärte sein Vater und macht eine wegwerfende Handgeste, „aber dann, mit jedem Jahr, ist es mehr geworden! Und frag mich mal, wofür?“ Valion dachte einen Moment, er solle antworten, und ihm wurde zum ersten Mal völlig bewusst, dass es mehr gab, als nur ihr kleines Dorf. Da draußen, irgendwo, gab es eine Hauptstadt, ein Heer, einen König.


Sein Vater wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr von selbst fort: „Ich sage dir, wofür! Für die Prunkschlösser des Königs und nichts anderes! Für die rauschenden Feste der Adeligen, die Huren und Spiele und den Wein! Wir sind nicht im Krieg, nicht mehr, schon seit zehn Jahren nicht! Es gab keinen Hunger, keine Dürren, keine Fluten. Und dennoch haben wir schon vor vier Jahren zwei Silberstücke mehr gezahlt, und seit letztem Jahr noch einmal eines dazu! Das sind, allein den letzten vier Jahren...“ „9 Silberstücke mehr?!“, hauchte Valion ungläubig. Die Summe kam ihm unbeschreiblich vor. Sein Vater schmunzelte einen Moment und klopfte ihm kräftig auf die Schulter. „Sehr gut, Junge. Du kannst schon so fix rechnen wie deine Mutter!“ Valion hätte sich gern über das Kompliment gefreut, aber die 9 Silberstücke brummten in seinem Kopf wie ein Schwarm Bienen. Das war ein Vermögen, selbst gerechnet auf die Jahre. In seinem Kopf fügten sich Teile eines großen Bildes zusammen, die bisher nicht zusammen gepasst hatten. Die wachsenden Sorgen seiner Eltern, die wütend verstreuten Kiesel, die seine Mutter zum Rechnen verwendete. Die Debatten der Nachbarn, die Tatsache, dass immer größere Anteile ihrer Ernte manchmal still und leise verschwanden, einer im Dorf heimlich in der Nacht Korn mahlte und ein anderer heimlich Brot buk, dass keiner der Steuereintreiber je zu Gesicht bekam oder auf seiner kleinen Schiefertafel festhalten konnte.


„Jetzt begreifst du, nicht wahr?“, knurrte sein Vater, halb wütend, halb stolz über die schnelle Auffassungsgabe seines Sohnes. „So geht es seit Jahren, und die, die ihre Abgaben nicht zahlen können, was meinst du, geschieht mit denen? Hier, ha, hier ist es noch nicht einmal besonders schlimm. Wir haben Glück! Diese Felder sind seit Generationen so fruchtbar wie kein zweiter Landstrich im Königreich. Aber in den kahleren Gegenden, dort, wo die Wälder beginnen... dort sieht es immer düsterer aus. Die Menschen könnten leben, ganz sicher, wenn sie nicht diese verfluchten neuen Abgaben zahlen müssten! Und weil sie kaum genug haben zum Leben, da haben sie erst recht nicht genug, um anderen etwas abzugeben. Und das Geld, dass sich der König und die adligen Herren nehmen, wo geht’s hin? Wein, aus den warmen Ländern, feine Trauben, die bei uns nicht wachsen. Stoffe aus noch ferneren Gegenden, goldgewebtes Was-weiß-ich, und feines Geschirr. Und... Sklaven. Ja, das ist eines der wenigen Güter, das dieses Land noch ohne Zahl hervorbringt.“


Er machte eine Pause, und man konnte fast sehen, wie er sich vorwärmte, um einem Drache gleich seinen Hass, seine Wut und Abneigung heraus zu speien wie Feuer. „Ich hab dich vorhin gefragt, ob du weißt, was mit denen passiert, die nicht mehr zahlen können. Kannst du es dir denken?“ Valion antwortete unbehaglich: „Sie werden... alle solche Sklaven?“ „Nicht alle, zumindest nicht... solche.“ Er schnaubte verächtlich. „Die feinen Sklaven, die sie in ihre Betten mitnehmen, nein, dafür sind nicht alle brauchbar. Die meisten werden unfrei, dann gehört nichts mehr ihnen, gar nichts. Sie bestellen ihr Feld nur noch für ihren Herren, und weniger als einen Hungerlohn können sie sich nie mehr erhoffen, wenn sie nicht völlig vertrieben werden und das Land und ihr Anspruch ihnen für immer genommen werden, sodass sie bettelnd umherziehen! Aber dann gibt es auch die feineren Sklaven, und Leute wie die Männer, die hierher gekommen sind – die handeln mit denen, und sie können nur so viele von ihnen mitnehmen, weil es der einzige Weg ist, in diesem Land noch zu Geld zu kommen, wenn man nicht schon vorher unermesslich reich war! Es gab sie schon früher, in geringer Zahl, aber jetzt, jetzt sind es viele geworden. Ein Menschenleben ist inzwischen so wenig wert, dass Menschen gekauft werden statt ihre Zeit und ihre Fähigkeiten.“

Sein Blick wanderte jetzt die Straße entlang, in Richtung des Lagers, das in dieser Richtung ausgebreitet lag und wo, verborgen von den Augen der Dorfbewohner, in diesem Moment Menschen in Ketten lagen. Es wäre kaum zu sehen gewesen, nur eine Ansammlung von unkenntlichen Konturen im schwindenden Tageslicht, wären nicht die Feuer und Fackeln gewesen, die alles in rötliches Licht tauchten. Gestalten bewegten sich zielstrebig durch das Lager.

„Sie sind alle Verbrecher“, fuhr Valions Vater schließlich fort, „aber dieser Mann, Ansin Eravier ist sein Name, der ist einer der Schlimmsten! Wenn du wüsstest, was für Greueltaten er begangen hat! Die Leute flüstern sich nur Gerüchte über ihn, aber sie kennen nicht die Wahrheit, und die ist schlimmer als jeder Alptraum! Morde, Raub, Folter...“ Es schien, als wollte er noch mehr sagen, aber er schwieg und ballte wieder grimmig die Fäuste. „Aber für solche Geschichten bist du nun doch noch ein bisschen zu jung. Selbst das zu wissen, was ich dir gerade gesagt habt, ist ein bisschen viel. Später.“ Er sah zu Valion, dem deutlich ein Protest auf den Lippen lag, und winkte ab. „Später, wenn du eine Frau und ein eigenes Haus hast, und weißt wie es ist verantwortlich zu sein für andere Menschen.“

Aber Valion wollte mehr wissen, und jetzt war vielleicht seine einzige Chance, alles zu erfahren, bevor die Menschenhändler weiter zogen und alles in Vergessenheit geraten würde. Er wusste, wenn er jetzt nicht nachfragte, würde sein Vater das Thema für lange Zeit wieder begraben, denn das war seine Art. Er sprach nie, nicht einmal in guter Stimmung, so viel, wie er heute erzählt und erklärt hatte. Deshalb fragte Valion: „Aber wer hat dir davon erzählt? Weiß noch jemand im Dorf so viel darüber wie du? Oder hast du das alles selbst herausgefunden?“


Bevor Valion auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, kam seine Mutter aus der Dunkelheit hervor gestürmt, die inzwischen über dem Hof hereingebrochen war, in einer Hand eine Laterne. Es hätte nicht schrecklicher sein können, wenn ein Racheengel begleitet von Blitz und Donner vom Himmel gestiegen wäre. Erst als sie Valion und ihren Mann unter dem Apfelbaum erblickte, zog sich tiefe Erleichterung über ihr Gesicht, nur um gleich darauf von frischem Zorn ersetzt zu werden. „Was denkt ihr zwei euch eigentlich dabei?! Ich rufe euch zum Abendessen, keiner von euch beiden kommt zurück, der Hackklotz verlassen, keine Spur von euch?! Ich dachte, euch wäre etwas zugestoßen!“, tobte sie. „Ab ins Haus, alle beide!“ Valion sprang schuldbewusst auf und klopfte seine Sachen, schmutzig vom Sitzen auf der bloßen Erde, hastig mit den Händen ab. „Mutter, wir haben nur...“, begann er, aber sie warf ihm nur einen missbilligenden Blick zu und machte auf dem Absatz kehrt. Kurz darauf war nur noch das Licht der Laterne zu sehen, das wütend in Richtung Haus davon tanzte.


Auch sein Vater rappelte sich jetzt auf und legt Valion kurz seine Hand auf die Schulter, um sie zu drücken, und sein Blick glitt noch einmal hinauf auf den Hügel. Das Lager sah von fern friedlich aus, warmer Feuerschein und anmutige Zelte unter einem klaren Sternenhimmel. „Es erscheint einem in der Dunkelheit sehr nahe, nicht wahr?“, sagte sein Vater düster, und ein Windstoß, der Vorbote einer kalten Nacht, traf die beiden.


Valion fröstelte, und für einen Moment fragte er sich, wie weit man vom Lager gehen musste, über ihr Feld, bis zu dem Hackklotz, an dem er seinen Vater nicht gefunden hatte. Wie schnell und leise man einen Mann, der arglos Holz vor seinem Haus hackte, hinterrücks ermorden konnte. Was eine fallen gelassene Axt, ein spurlos verschwundener Mann oder Sohn in einer kalten Nacht bedeuten konnte, jetzt, da er wusste, dass die Welt nicht unschuldig war. Wenn er gezweifelt hatte, dass sein Vater die Wahrheit gesagt hatte, jetzt konnte er nicht mehr zweifeln.


Als er sich erinnerte, wie seine Mutter durch die Dunkelheit heran gelaufen kam, die eine Hand eisern die Laterne umklammernd, die andere in der Schürzentasche verborgen, hatte er den Beweis bekommen. Er hatte die Furcht und den Hass in ihren Augen, die er vor wenigen Tagen noch nicht zu deuten gewusst hätte, aus der Stimme seines Vaters wieder erkannt.

[Warnung: physische und psychische Gewalt, Knochenbrüche, Verbrennungen]



Was als nächstes geschah, war für Valion eine der wirrsten und bizarrsten Erinnerungen seines ganzen Lebens. Nicht nur, dass alles in den frühen Morgenstunden geschah, er hatte tief und fest geschlafen, als der Schrei vor dem Haus ertönte. 
Er fuhr von seinem schmalen Bett hoch, von einer Sekunde auf die andere wach, aber völlig desorientiert, und sein Herz raste in seiner Brust. Das nächste, was seine Aufmerksamkeit völlig beanspruchte, waren zwei Dinge – das Weinen seiner zwei Schwestern, die ebenfalls aus dem Schlaf hochgeschreckt waren, und drei schwere Aufschläge auf der Holztreppe vor ihrem Zimmer, die er zuerst überhaupt nicht einordnen konnte. Viel später, als er versuchte Ordnung in das Chaos seiner Erinnerungen zu bringen, konnte er sich vorstellen, was er gehört hatte – seine Mutter musste los gesprintet und mit drei einzelnen waghalsigen Sprüngen die elf Stufen hinunter ins Erdgeschoss gerannt sein. Sie war es jedenfalls, die Valion aus dem Haus stürmen sah, als er sich blitzschnell aufrappelte und an das kleine Fenster stürzte, das nahe seines Bettes in die Südwand eingelassen war. Ihr weißes, schäbiges Nachtgewand flatterte um ihren dünnen Körper wie ein Sturmbanner, und sie hielt irgendeine Art von Waffe in der rechten Hand, die Valion später als den Schürhaken vom Küchenherd identifizierte. Dann fegte der Wind, der am Abend aufgekommen war, die Schleierwolken vom Mond, und blendend hell lag plötzlich ihr Hof vor Valion. Er erkannte beinahe zeitgleich mit seiner Mutter, wer gekommen war, um ihnen einen Besuch abzustatten. Eravier trat vor.

Er war nicht allein, in seinem Rücken scharte sich ein Dutzend Männer. Sie trugen keine Waffen, aber ihre Größe und ihre grimmigen Gesichter ließen keinen Zweifel zu, zu welchem Zweck sie hier waren. Was, oder besser, wen sie zwischen sich hatten, gab den Ausschlag - Valions Mutter blieb wie vom Donner gerührt stehen, und Valion setzte in wenigen Sprüngen die Treppe des Hauses hinunter, stieß die Tür auf und rannte auf den Hof. „Ebran!“ „Vater!“

„Kommt nicht näher!“, krächzte er mühsam. Es war grauenerregend, wie wenig die gebückte Gestalt, die auf dem Boden kauerte, mit dem aufrechten Mann von vor wenigen Stunden zu tun hatte. Sein Gesicht war eine Maske aus Blut, das aus einer großen Platzwunde am Kopf über sein ganzes Gesicht geronnen war. Seine Hände waren in hinter seinem Rücken gefesselt, und obwohl die Dunkelheit nicht viel offenbarte, war einer seiner Arme in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt. Aber das Schlimmste waren die Augen – in ihnen stand nur Angst, als Ebran zu Valion und seiner Frau aufsah und den Kopf schüttelte, zum Zeichen, dass sie zurückbleiben sollte. Eravier stieß ihn mit der Schuhspitze an, und er kroch mühselig etwas weiter auf seinen Familie zu.

Angst und Entsetzen verbündeten sich in Sekunden zu einem roten Nebel aus rasender Wut, als Valion direkt auf den Pulk von Männern zu stürmte und auf Eravier losging. Seine Mutter, eben noch wie gelähmt vor Entsetzen, stieß einen wütenden Schrei aus und folgte kurz hinter ihm. Die Wolken begannen wieder vor den Mond zu ziehen und warfen unruhige Muster auf den Hof und die versteinerten, unbeteiligten Gesichter der Männer, die ohne zu zögern vortraten um ihren Anführer zu verteidigen. Valion war ihre Übermacht in diesem Moment egal, sein Zorn verbrannte jeden Zweifel. Er versetzte einem der Männer einen harten Stoß, Dasha holte mit dem Schürhaken aus und versetzte einem anderen einen Schlag in den Magen, duckte sich unter einer Hand weg, versetzte einem anderen mit einer Rückhand eine Ohrfeige, die ihn zurückfahren ließ. Valion hatte gar keine Zeit, sich zu fragen, woher sie gelernt hatte sich so zu verteidigen, er trat nach einem weiteren der Schläger, der nach ihm griff, doch in diesem Moment wurde er von einem wahren Hüne an seinem rechten Arm gepackt und so mühelos herum geworfen, als wäre er ein Spielzeug. Eine weitere Faust traf ihn am Kiefer, er verlor das Gleichgewicht und landete mit einem schmerzerfüllten Aufschrei auf dem Rücken. 
Wie ein Wurm lag er für einen Moment im Staub und wand sich, die Hände auf den schmerzenden Kiefer gepresst. Dasha machte den Fehler, sich nach ihm umzudrehen, ein Tritt gegen ihr Schienbein brachte sie ins Straucheln. Sie schaffte es das Gleichgewicht mit einem Ausholschritt zurückzufinden, verpasst einem weiteren Schläger einen Schlag mit dem Schürhaken, diesmal ohne Rücksicht auf Verluste ins Gesicht, doch die Überzahl der Männer achtete nicht mehr darauf, Distanz zu halten, sie kesselten sie nur mit der Masse ihrer Körper ein. 
Valion versuchte sich auf die Füße zu kämpfen und wurde mit einem Tritt in den Magen zurück in den Staub geschickt. Eine Sekunde lang verschwammen der vom Mond erleuchtete Himmel und der Hof, der sich jetzt mit bizarren Schatten zu füllen schien, vor seinen Augen. Irgendwo über ihm hörte er seine Mutter wütend aufschreien, dann landete sie neben ihm auf dem Boden. Instinktiv griff er nach ihrer Hand und versuchte sich aufzurichten, aber Dasha hielt ihn zurück. „Nicht Valion, es sind zu viele“, keuchte sie und schrie im gleichen Moment auf, als jemand ihr mit aller Gewalt den Schürhaken aus der Hand trat, den sie bis zu diesem Moment eisern umklammert gehalten hatte. Eravier, der das Schauspiel mit verschränkten Armen verfolgt hatte, trat neben seine Opfer und lächelte zu ihnen herunter.

„Genug, mein junger Freund! Wir wollen doch nicht, dass jemand verletzt wird.“ „Du Bastard!“, fluchte Valion wutentbrannt, und trotz der Warnung seiner Mutter rappelte er sich auf und wollte Eravier zu Fall bringen. Seine Belohnung war ein gezielter Tritt gegen den Oberschenkel, der ihn in die Knie zwang, und dann, ohne eine Miene zu verziehen, schmetterte Eravier seinen Stiefel in Dashas Gesicht. Sie kreischte schrill auf, krümmte sich zur Seite, und irgendwo hinter ihnen, verborgen im Pulk der Männer, hörte Valion seinen Vater gequält aufschreien.

„Jetzt solltest du ein klareres Bild davon haben was ich meine, wenn ich davon spreche, dass jemand verletzt wird“, versetzte Eravier. Die Gleichgültigkeit und milde Heiterkeit in seiner Stimme  und das gönnerhafte Lächeln ließen Valion frösteln. Er griff verzweifelt nach der Schulter seiner Mutter, die sich immer noch wand und schmerzerfüllt weinte. Blut floß zwischen ihren Händen hindurch, schwarz glänzend im fahlen Mondlicht. Er spürte wie sich Tränen in seinen Augen sammelten, und er schrie Eravier an: „Warum seid ihr hier?! Wir haben euch nichts getan! Lasst uns in Ruhe!“

„Wie gern ich das täte, mein junger Freund. Valion, nicht wahr? Nun, Valion, leider ergibt sich bei deiner Bitte ein Problem – dein Vater ist in unser Lager geschlichen und hat uns bestohlen.“ Valion schüttelte verzweifelt den Kopf. „Das ist nicht wahr! Er würde so etwas niemals tun!“  Es musste eine Lüge sein, es konnte nichts geben, das diese Gewalt rechtfertigte. Eravier breitete die Arme aus, eine Geste, die Bedauern ausdrücken sollte, aber jetzt nur höhnisch wirkte. „Ich fürchte doch, mein Junge. Dein Vater hat einige unserer Waren von ihren Ketten befreit und sie dazu ermuntert, das Lager zu verlassen. Ich kann mir kaum vorstellen, was er damit bezweckte.“ Wie beiläufig versetzte er Dasha einen kurzen Tritt mit der Schuhspitze, der sie gequält aufstöhnen ließ, und fügte hinzu: „Obwohl ich fast annehme, dass deine liebe Frau Mutter auch etwas zu ihrer Beteiligung zu sagen hätte, wenn sie nicht gerade so unpässlich wäre.“

Valion kroch auf Knien zwischen Eravier und seine Mutter, brachte sich als lebende Barrikade zwischen sie und ihren Peiniger. Er war sich sicher, dass Eravier nicht zögern würde, sie zu töten, wenn er nur die Lust dazu verspürte. Allein der Gedanke daran erfüllte ihn mit nie gekannter Angst. Tränen brannten in seinen Augenwinkeln und er musste darum kämpfen, dass seine Stimme nicht kippte, als er fragte: „Was wollt ihr von uns?!“
Eravier gab seinen Männern einen Wink, die daraufhin zurücktraten und wie zuvor Valions Vater zwischen sich einkesselten. Gelassen erklärte er: „Ich dachte an eine Entschädigung. Eine Wiedergutmachung für unseren Schaden, wenn du verstehst.“ Valion zuckte hilflos mit den Schultern. „Wir haben nicht viel Geld! Nur das, was wir heute verdient haben. Vielleicht... vielleicht zehn Silberstücke! Sie gehören euch! Und alles was ihr mitnehmen wollt“, fügte er hinzu. Er hasste den flehenden Unterton in seiner Stimme und wie er sich demütig duckte. Die hasserfüllten Worte seines Vaters geisterte durch seinen Kopf; Das wenige, das wir haben. Im Vergleich zu was? Dem vielen, das ihr gestohlen habt. Wie konnten ein Mann wie Eravier hierher kommen und sie so behandeln? Auf wen oder was berief er sich? Wenn er seinem Vater glauben konnte, den König. Wusste er davon? Und wenn ja, wie konnte er so etwas zulassen?

Eravier betrachtete Valion, wie er vor ihm kniete, und lachte. Es war ein durch und durch ehrliches Lachen, was alles nur noch schlimmer machte. „Ach, Valion, ich glaube du machst dir keine Vorstellung davon, was ein Sklave kostet. Zehn Silberstücke und ein Schaf? Dafür bekommst du die Beine eines Sklaven. Aber gut, ich bin großzügig. Ich denke, ich werde mir etwas von diesem Hof aneignen und dann meiner Wege ziehen.“ Er sah sich spielerisch um, und sein Blick blieb an etwas hinter Valion und seiner Mutter hängen. Er deutete hin zum Haus. „Sieh an. Wie wäre es damit?“ 

Bevor Valion begreifen konnte, was er meinte, hatte Eravier zwei seiner Helfer einen Wink gegeben, und die grobschlächtigen Männer gingen ungerührt auf das Haus zu, rissen die Tür auf und packten, was sich dahinter befand. Dasha, die sofort begriff, rappelte sich mit schmerzverzerrten Gesicht auf und stieß dabei Valion zur Seite. „Nein, nein, nicht meine Mädchen!“ Sie wollte los rennen, aber Valion packte ihr Handgelenk und riss sie herum. Er wusste nicht, was er mehr fürchtete: ihr den Arm auszukugeln, oder dass sie sich losriss und von Eravier dafür niedergestreckt wurde.
Mila und Arinda, die hinter der Tür versteckt nach draußen gespäht hatten, wurden grob über den Hof gezerrt. Mila weinte laut und brüllend, während Arinda darum kämpfte ihr näher zu kommen und es schließlich schaffte die Hand ihrer kleinen Schwester zu greifen, bevor sie ihre Mutter sah und selbst in Tränen ausbrach. Sie brachte nicht mehr als ein gequältes „Mama!“ hervor, dann wurden sie und Mila neben ihrem Vater zu Boden geworfen. Valions Herz hämmerte wie verrückt in seiner Brust, er versuchte seiner Mutter nicht weh zu tun, die jetzt ohne Rücksicht auf Verluste an ihm zerrte und tobte: „Das könnt ihr nicht machen, das sind meine Kinder! Lasst meine Kinder in Ruhe!“ Jetzt begann sie wieder zu weinen, gab jeden Widerstand auf und sank in sich zusammen. „Bitte nicht“, bettelte sie und fiel zurück auf die Knie. Der Schmerz in ihrer Stimme war wie ein Schlag in Valions Magen. Er kam auf die Füße, strauchelte und fürchtete einen schrecklichen Moment, erneut zu stürzen, aber dann blieb er doch stehen und schaffte es sogar, sich ein wenig aufzurichten. „Das geht nicht“, sagte er langsam, aber völlig klar. 
Eravier, der die beiden Mädchen nachdenklich betrachtet hatte wie ein Züchter ein besonders dickes Schwein, wandte seiner Aufmerksamkeit wieder Valion zu. 
„Oh Valion, du enttäuschst mich. Ich dachte, das wäre eine einvernehmliche Abmachung, mit der beide Seiten leben können!“ „Sie sind einfach nicht genug wert“, erwiderte Valion knapp.

Er wusste, dass es ein Schuss ins Blaue war. Vielleicht irrte er sich. Er war erst siebzehn, und oft hatte er das Gefühl, das Manches, was er eigentlich schon verstehen sollte, in seinem Kopf keinen Sinn ergab. Aber da war eine Frage, die er sich gestellt hatte, seit Eravier aufgetaucht war. Sein Verstand arbeitete jetzt so schnell wie noch nie in seinem Leben, zog Verbindung um Verbindung. 

Warum war Eravier mitten in der Nacht aufgetaucht, wenn das Verbrechen seines Vaters doch so offensichtlich war? Er hätte warten können, bis die Sonne aufgegangen war, es hätte ein ordentliches Gericht geben können. Warum hatten sie seinen Vater so schrecklich verletzt, aber am Leben gelassen? Warum drohte er, seine Schwestern zu verschleppen, aber hatte sie am Nachmittag keines Blickes gewürdigt? 
Er erinnerte sich, wie er am Kinn gepackt worden war, herumgedreht und betrachtet wie ein Apfel. Nicht besonders groß. Hübsch. Wie alt. Das alles geschah nicht, weil Eravier irgendeine Entschädigung wollte. Es geschah, weil er etwas erwerben wollte und nur nach einem Weg gesucht hatte, es möglichst einfach zu bekommen. Er sah in Eraviers freundliches, humorvolles Gesicht, und er sah nur eine Maske. 
Es war ein Trick, alles hier war ein Trick. Vermutlich spielte es nicht einmal eine Rolle, ob sein Vater unwissentlich zu dieser Situation beigetragen hatte. Vielleicht hatte er mit seiner Tat von Valion ablenken wollen, aber hätte er das überhaupt gekonnt? Eravier hätte einen anderen Weg gefunden, dieser war nur der Naheliegendste. 
Was konnte er tun? Er wusste es nicht, nicht genau. Er musste gleichzeitig Ware und Händler sein und den ersten Schritt machen, denn wenn er jetzt ausharrte, wenn er zuließ, dass Eravier so weiter machte, dann würden sie alle verlieren, das spürte er. Er konnte es nicht zulassen, nicht wenn es dabei um seine Familie ging.

„Ich glaube kaum, dass du den Wert eines Sklaven einschätzen kannst, mein Junge“; erklärte Eravier voller Gleichmut. Er winkte einen der Hünen zu sich, der Arinda am Arm mit sich zu den Beiden hin zerrte. Sie weinte stumm, den Blick zwischen ihrem großen Bruder und ihrer Mutter hin und her schweifend, aber sie machte keine Anstalten, zu fliehen. Sie zuckte zusammen, als Eravier ihr eine Hand auf den Kopf legte, aber sie blieb stumm wie ein Fisch. „Gut machst du das, Kleines.“ Eraviers Lächeln wurde breiter. In diesem Moment wirkte er wie ein Raubtier, das die Zähne bleckt.
Zu Valion gewandt sagte er: „Sieh sie dir an. Was für niedliche kleine Gesichtchen, und so hübsches blondes Haar. Stell dir vor, was deine zwei niedlichen Schwestern in zehn bis zwölf Jahren wert sein werden! Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, mit ihrer Ausbildung zu beginnen.“

Hass und Ekel wallten in Valion auf, aber er zwang seine Emotionen nieder. Er sollte aus der Fassung gebracht werden, er wusste es. Er musste die Angst und die Zweifel einschließen, innerlich kalt werden, ruhig wie Eravier. Auf alles herabsehen, alles als wertlos betrachten. Das Gesicht eines Menschen ergreifen und betrachten wie den Kopf eines Schweins. Eravier, das erkannte Valion jetzt, sah Menschen an wie Tiere, nützliche und nutzlose. 
Was war nützlich an einem Sklaven? Er betrachtete Arinda, den stumm flehenden Blick, das nass geweinte Gesicht, die zitternden Lippen, die von der Kälte der Nacht langsam blau wurden. Er betrachtete sie wie eine Fremde, sah über die Zuneigung, die er für sie empfand hinaus.

„Sie ähneln meinem Vater. Jetzt sehen sie vielleicht niedlich aus, und vielleicht würde sie sogar jemand kaufen. Aber in zehn Jahren? Sie haben jetzt schon kräftige Knochen. Sie werden groß und klobig“, erklärte er kalt. „Und das Haar haben sie nicht von meiner Mutter geerbt. Jetzt sind sie blond, aber spätestens mit zwanzig werden ihre Haare dunkel und stumpf sein.“ Seine Schwester starrte ihn an. Sie war erst neun, aber sie wusste, was er da sagte. Frische, dicke Tränen rannen ihr übers Gesicht. „Val?“, piepste sie. Sie brachte nicht mehr heraus, er sah es, sie konnte nicht fragen, warum er das tat. Seine Mutter konnte es. „Valion, was sagst du da?“, hörte er sie flüstern, und er wagte es nicht sie anzusehen, er musste den Blick von ihr und seiner Schwester abwenden. Er fühlte sich innerlich hohl.

Eravier betrachtete das Schauspiel mit heiterer Gelassenheit. Das Lächeln, das er zur Schau trug, blieb unveränderlich. „Da magst du recht haben. Das ändert aber nichts daran, dass ich nach wie vor eine Entschädigung erwarte.“ Valion rieb sich die Augen, die ihn verraten und sich mit Tränen füllen wollten, und schluckte trocken. Also gut.

„Ich werde freiwillig mitgehen. Ich werde ein Sklave.“

„Nein, Valion!“, rief seine Mutter und schüttelte abwehrend den Kopf, „das darfst du nicht!“ Valion beachtete sie nicht, sein Blick war starr auf Eravier fixiert.
Er lachte. Es war ein lautes, melodisches Auflachen, das überrascht klang und von dem Valion sicher war, dass völlig falsch war. Es sollte ihn verwirren. Alles hier sollte ihn verwirren, das Weinen seiner Schwestern, die stete Bedrohung der Männer um ihn, die Schmerzen seiner Eltern. 
„Du? Du willst dich als Entschädigung zur Verfügung stellen? Valion, wie kommst du auf die Idee, dass ein Bauernlümmel mehr wert ist als zwei goldige kleine Mädchen?“ Valion wandte den Blick nicht ab, sah starr geradeaus. „Ich weiß es.“

Etwas in seinem Gesicht musste Eravier gesagt haben, dass Valion entweder ahnte, dass es die Wahrheit war, oder tatsächlich Bescheid wusste. Für einen winzigen Moment glaubte Valion, Unsicherheit in seinen Augen zu sehen, aber in der nächsten Sekunde war sie verschwunden. „Lass uns das bereden“, erklärte er jovial, trat auf Valion zu und legte ihm freundlich einen Arm um die Schultern, um ihn von seiner Mutter fortzuziehen. Er erhaschte einen flehenden Blick von ihr, dann wurde er fortgezogen, in Richtung ihres Hauses, und beinahe durch die Tür gestoßen. 

Es war dunkel im Haus, und automatisch griff Valion nach der kleinen Öllampe in der Nische neben der Eingangstür und machte Licht. Er hatte das Bedürfnis, seine Hände an der kärglichen Flamme zu wärmen, er fühlte sich eiskalt und wie in einem Alptraum gefangen. Er war jetzt allein mit einem Monster. Die Öllampe umklammernd lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Eingangstür. 
Eravier schritt durch den Raum und betrachtete die kärgliche Einrichtung, den rohen Boden, das vom täglichen Feuer geschwärzte Gebälk. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. „Erbärmlich, nicht wahr?“ Es war aus Valions Mund gekommen, obwohl er nicht für möglich hielt, dass er das tatsächlich sagte. Das hier war sein Heim, der Ort, an dem er aufgewachsen war und den er mehr liebte als jeden anderen auf der Welt. Aber er zwang sich emotionslos und kalt zu sein, und er spürte, wie diese Art zu Denken alles mit Gift füllte. Er hasste es, aber er musste jetzt sein wie Eravier, der sich gerade zu ihm umwandte, ein wenig erstaunt, ein wenig amüsiert. „Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.“ Er betrachtete Valion einen Moment, die Arme verschränkt, und erklärte dann: „Du lässt mich nicht gut aussehen da draußen, Valion. Wir sind gekommen, um etwas mitzunehmen, und nicht, um zu diskutieren.“ „Ihr seid gekommen um mich mitzunehmen.“ Er hob die Hand, als Eravier protestieren wollte, und wollte gleich darauf laut auflachen, dass er das tatsächlich wagte. Er gebot einem Monster, still zu sein! 

„Ich weiß, was das alles soll“, behauptete er. Währenddessen legte Eravier gelassen seinen Mantel ab und ließ sich auf der Holzbank vor dem Küchentisch nieder, um seine Aufmerksamkeit dann zurück auf Valion zu richten. „Tatsächlich, mein junger Freund? Da bist du mir wohl voraus. Nun, was soll das alles?“ „Meine Schwestern sind für euch völlig uninteressant. Niemand hat sie gestern nachmittag beachtet. Ich bin derjenige, der mitkommen soll.“ Valion hatte seine Worte triumphierend aussprechen wollen, aber jetzt, konfrontiert mit dem immer noch gelassenen Eravier, schienen sie ihre Macht eingebüßt zu haben.
Für einen Moment sah es aus als wollte Eravier dennoch widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren. „Du hast völlig Recht, gut erkannt“ Er lachte leise, die Augen weiterhin auf Valion fixiert. „Ich sollte bei der Auswahl meiner Anschaffungen vorsichtiger vorgehen. Subtiler. Aber du hast mich überrascht. Ich hätte nicht erwartet, jemand wie dich hier zu finden... Sag mir, Valion, willst du wirklich in diesem Dorf leben, wenn es eine Welt der Schönheit und des Reichtums gibt, an der du teilhaben könntest?“

Für einen Moment wusste Valion nicht, was er sagen sollte. Das hatte wie eine ehrliche, freundliche Frage geklungen, und das traf ihn unvorbereitet. „I-ich weiß nicht...“, stammelte er und fuhr sich nervös durch das Haar. Er bemerkte nicht einmal, wie die Emotionslosigkeit, die er versucht hatte aufrecht zu erhalten, ihn verließ und nur Verwirrung zurückblieb. „Ich meine, ich... kenne überhaupt nichts vom Rest der Welt und...“ Er zuckte hilflos mit den Schultern. Eraviers Ton blieb freundlich, als er sagte: „Ich könnte dir ermöglichen, all dies“, er umfasste mit einer Armbewegung den ganzen Raum, „hinter dir zu lassen. Du könntest ein viel besseres Leben führen, Valion. Du könntest deine Familie unterstützen, sie müssten niemals hungern.“
Valion war sprachlos. Von einem Moment auf den anderen wurde er nicht mehr bedroht und eingeschüchtert, sondern mit einem Angebot gelockt? Frischer Zorn wallte in ihm auf, und er schrie Eravier an: „Mein Vater hat einen gebrochenen Arm, meiner Mutter habt ihr ins Gesicht getreten, und meine Schwestern aus dem Bett gezerrt! Und jetzt sprecht ihr davon mir ein besseres Leben zu bieten, als wäre all das nicht passiert?! Ich bin nicht dumm! Ich weiß, dass das eine Lüge ist!“
Er stapfte zum Esstisch, stellte die kleine Öllampe so heftig ab, dass es klirrte, und baute sich vor Eravier auf. Sein ganzer Körper bebte vor Wut, und was seinen Zorn noch zusätzlich anstachelte war die Tatsache, dass Eravier sich überhaupt nicht von seinem Gefühlsausbruch beeindrucken ließ. Er hob nur beschwichtigend die Hand. „Setz dich. Wir wollen doch jetzt nicht handgreiflich werden und ein gutes Geschäft ruinieren.“  Valions Geduldfaden riss. Er packte Eravier am Kragen und schrie ihm entgegen: „Sonst was?!“

Er sah es überhaupt nicht kommen, obwohl er zornig und wachsam war. In einem Augenblick stand er fest mit beiden Beinen auf dem Boden, im nächsten Moment wurde er gepackt und nach hinten gestoßen, ein heftiger, schmerzhafter Tritt gegen den Knöchel brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er stürzte auf den kalten, harten Boden der Hütte. Er schrie auf, als er sich den Hinterkopf anschlug, und dann noch einmal, als ihn Eraviers Stiefel auf seiner Schulter ihn in den Boden rammte. Er versuchte, sich aufzurichten, aber ließ es sofort bleiben, als der Stiefel sich noch tiefer und schmerzhafter in sein Schlüsselbein grub und ihm die Tränen in die Augen trieb. Hatte er wirklich für einen Moment geglaubt, er hätte hier die Überhand? Jetzt war ihm bewusst, wie wenig er die Situation unter Kontrolle hatte. 
Selbst durch seinen Tränenschleier konnte er sehen, dass Eraviers Gesicht wutverzerrt war. Zum ersten Mal sah es nicht so aus, als würde er seine Emotionen nur wie eine Maske tragen, das Problem war, dass Valion sich wünschte er hätte nie gesehen, wer Eravier wirklich wahr. Über sich sah er den Gesichtsausdruck eines Mörders.

„Sonst? Junge, ich glaube du begreifst nicht, in welcher Lage du dich befindest. Wir könnten nachsehen, wie zerbrechlich die Nase deines Vaters ist oder die Schulter deiner Mutter. Danach könnten wir ein kleines Experiment durchführen. Es lautet: Wie schnell brennt ein Hof in einer windigen Nacht ab, und wie hoch wird das Feuer lodern? Wollen wir es herausfinden?“
Was stimmte nicht mit diesem Mann? Von einer Sekunde zur anderen wechselten sich Freundlichkeit und Drohung nahtlos ab. Die Angst kehrte zurück, mächtiger als zuvor. Er hatte versucht, mit jemand zu verhandeln, mit dem man nicht verhandeln konnte, und es zu weit getrieben. Vielleicht hatte er dadurch seine Familie zum Tode verurteilt. Die Erkenntnis ließ ihn in Tränen ausbrechen. Schniefend stammelte er: „Was wollt ihr von mir? Was soll ich tun?“

Seine Tränen retteten ihn. Eraviers Freundlichkeit kehrte zurück, auf einen Schlag, als wäre nie etwas gewesen. Der Stiefel wurde von seiner Schulter genommen, Eravier ergriff seine Hand, zog ihn auf die Füße und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. Valion schrie innerlich auf, aber zitternd ließ er ihn gewähren. Er hatte zu viel Angst, etwas anderes zu tun als dazustehen, Tränen überströmt und benommen, und es über sicher ergehen zu lassen. Eravier lächelte ihn mitleidig an.

„Oh Valion, warum sind es immer nur die hübschesten von euch, die so viel Widerstand leisten? Mittelmäßige Proteges, die sich für wenig Geld verkaufen, habe ich im Überfluss, aber sie sind nichts im Vergleich zu einer Schönheit wie dir. Du weißt gar nicht, was du alles erreichen kannst, wenn du dich nur von mir führen lässt.“ Er strich sanft über die Valions Wange, sprach zu ihm wie zu einem Kind. Valion hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. 
Was er sagen wollte war: Fass mich nicht an. Fass mich niemals wieder an!
Was er tatsächlich sagte war: „Ich tue alles, was ihr wollt. Ich will nur nicht, dass meine Familie...“ 

Eravier gebot ihm zu Schweigen. „Shhhh, schon gut. Lassen wir das hinter uns. Ich war verärgert, verständlicherweise. Einem jungen Mann kann man es nicht recht machen, nicht wahr? Ist man freundlich, denkt er plötzlich, er wäre der Herr der Lage und könne Forderungen stellen, und wird man zornig, ist er wieder ein kleiner, weinender Junge. Aber keine Sorge, ich bin nicht mehr wütend. Alles, was du tun musst, ist mit mir zu kommen, aus freien Stücken.“

Für einen Moment glaubte Valion, sich verhört zu haben, und er musste gegen den übermächtigen Drang ankämpfen, loszulachen. Aus freien Stücken? Wirklich? Wenigstens wusste er jetzt, was seine Mutter meinte, wenn sie sagte dass sie nicht wisse, ob sie lachen oder weinen sollte. 

Aber er war nicht mehr in der Position, irgendetwas dazu zu sagen, es gab kein Zurück mehr. Er kämpfte den Drang zu lachen nieder, obwohl seine Mundwinkel ihn vermutlich verrieten, und fragte: „Und weiter?“ „Du wirst einen Vertrag unterzeichnen, der deinen Erwerb und die Entlohnung deiner Eltern betrifft. So lange du unter meiner Obhut bist und tust, was man von dir verlangt, werden sie eine Entschädigung von mir erhalten. Wenn alles so geschieht, wie ich es erwarte, wirst du nach einem Jahr verkauft werden, an jemand, der mehr als bereit sein wird die entsprechende Summe an deine Eltern auszubezahlen. Kurzum, wenn du klug bist, sind sie für immer ihre Sorgen los. Was sagst du, Valion?“

Das irre Lachen, das so unbedingt aus ihm heraus wollte, war wieder da, und diesmal konnte er es nicht aufhalten. Er lachte laut heraus, und fürchtete gleichzeitig, dass er dafür sofort bestraft werden würde. Glücklicherweise schien Eravier sich von Irrsinn nicht weiter beeindrucken zu lassen, er trat einen Schritt von Valion zurück, wofür dieser absurd dankbar war, und schmunzelte mit, während Valion unter Tränen lachte.
Erst als er sich ein wenig beruhigt hatte, keuchte er: „Habe ich denn überhaupt eine Wahl?“ Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen, und plötzlich wurde alle Heiterkeit durch stumpfe Hoffnungslosigkeit ersetzt. Wie viele Emotionen würde er heute noch durchleiden müssen? Er hielt das nicht mehr lange durch. Es war mitten in der Nacht, draußen wurde seine Familie gefangen gehalten, und er war dabei, sein bisher gekanntes Leben wegzuwerfen.
Die Wahrheit war, dass er tatsächlich die Wahl hatte. Er konnte jetzt mit seiner Familie sterben, oder er konnte ihnen allen dieses Schicksal ersparen und in eine ungewisse Zukunft gehen. Er sah zu Boden, nicht in das verhasste Gesicht von Eravier vor ihm, als er sagte: „Ich werde mitkommen.“


Der Morgen begann langsam zu grauen, als sie nach draußen traten, obwohl es Valion so vorkam, als wären Stunden vergangen, seitdem er die Hütte betreten hatte. Er hatte das Gefühl, in helles Tageslicht treten zu müssen, doch jetzt, da der Mond sich hinter Wolken verbarg, schien der Hof noch dunkler zu sein als vorher.
Seine Familie wartete nun zusammengepfercht an der westlichen Hofseite, während nahe bei ihnen ein Feuer brannte. Valion machte sofort alarmiert einen Satz nach vorn, doch Eravier packte ihn am Arm und beruhigte ihn: „Keine Angst, dieses Feuer ist nicht dafür gedacht, irgendetwas niederzubrennen. Komm.“ „Wofür dann?“ Eravier antwortete nicht, sondern gebot ihm nur, ihm zu folgen. Aus den Augenwinkel erhaschte Valion einen Blick auf das Feuer, aber er konnte sich nicht zusammenreimen, wofür es dienen sollte. Er vergaß es sofort, als sie sich seiner Familie näherten und Valion erkannte, dass Arinda und Malia nicht mehr da waren. Hilflos sah er zu seiner Mutter. Dasha flüsterte beruhigend: „Sie haben sie in die Scheune gebracht, mach dir keine Sorgen, es geht ihnen gut.“ Ebran machte Anstalten, sich zu erheben und seinem Sohn entgegen zu gehen, aber einer der Wächter stieß ihn grob zurück auf den Boden. „Valion! Geht es dir gut?“, rief er aufgebracht. „Aber natürlich“, erklärte Eravier gelassen lächelnd, „Valion hat sich entschlossen, euer Vergehen wieder gut zu machen und als Ausgleich seine Arbeit angeboten.“ 
Dasha und Ebran wechselten einen Blick voller Entsetzen, und Valion wandte den Blick zu Boden. Was würden sie dazu sagen? Er wusste jetzt, was sein Vater von Eravier hielt, und sein Sohn schloss sich diesem Monster auch noch an, scheinbar freiwillig. Er konnte seinen Eltern jetzt nicht in die Augen sehen. Eravier fuhr gelassen fort: „Es gibt nur noch einen Vertrag zu unterzeichnen, und schon ist alle Schuld abgegolten. Wenn ihr so freundlich wäret..?“ „Damit kommt ihr niemals durch, Eravier!“ Valions Vater rappelte sich auf, die Augen sprühend vor Zorn. Erneut wurde er zurückgehalten, aber dass er seinem Zorn mit Worten Luft machte, konnten sie nicht verhindern. „Das ist mein Sohn, du Ausgeburt der Hölle! Ich lasse nicht zu, dass ihm etwas geschieht! Lieber kette ich ihn an wie einen tollen Hund!“ Dasha schüttelte verzweifelt den Kopf. „Hör auf Ebran, wir haben keinen Wahl, er wird...“ Doch Valions Vater hörte nicht auf sie. „Lieber breche ich ihm beide Beine und mache ihn zum Krüppel, als dass ich ihm das antue! Er ist kein Sklave! Das ist kein Leben für ihn! Er wird euch niemals...“ Eravier gab seinen Wächtern einen Wink, und einer der Männer stopfte Ebran einen Lappen in den Mund, und ein zweiter zerrte ihn weg von Valion und seiner Mutter, hin zur Scheune, vermutlich um dort mit Mila und Arinda festgehalten zu werden.
Einer von Eraviers Gefolgsleuten reichte diesem ein Papier und eine vorbereitete Schreibfeder, und er übergab beides Dasha. „Unterschreibt doch bitte für euren Sohn.“

Dasha sah nur Valion an, der immer noch den Blick abwandte. „Valion“, sagte sie leise, und er konnte nicht anders, als in ihr armes, geschundenes Gesicht zu sehen. Sie schien todtraurig und verzweifelt, aber auch voller Liebe zu ihm. „Schaffst du das?“, fragte sie mit zitternder Stimme, und er wusste, dass sie kurz davor war, zu weinen. Ihre blaugrauen, sanften Augen schwammen in Tränen. „Du musst ehrlich sein, Valion, hörst du? Du darfst mich jetzt nicht anlügen. Denn wenn du das tust, dann wirst du dich dein ganzes Leben lang unglücklich machen. Wenn du es nicht kannst, dann finden wir einen Weg. Irgendeinen! Sag mir was du denkst. Bitte.“

Er atmete tief ein und aus. Sein zukünftiges Leben lag vor ihm, eine große, schwarze Leere ohne einen Hinweis darauf, was er sehen, erleben oder tun würde. Die Hölle für ihn, oder der Himmel für sie alle. Nein, er konnte es nicht. Er konnte sie nicht im Stich lassen. „Ich schaffe das.“ Die Antwort klang selbstsicherer, als er sich eigentlich fühlte. Wenn ich muss, fügte ein zögerlicher Teil seiner selbst heimlich hinzu. Wenn es wirklich nicht anders geht. 

Dasha nickte, ihre Lippen zitterten. Sie warf Eravier einen eiskalten, hasserfüllten Blick zu, und unterzeichnete das Dokument mit ihrem Namen, das einzige, was sie jemals gelernt hatte zu schreiben. Dann hustete sie, und mit eiskalter Miene spuckte sie Blut auf das Pergament. 

Eravier lachte und klatschte erfreut in die Hände. „Wunderbar, sehr rührend. Und dann auch noch eine persönliche Note in der Unterschrift, wie reizend. Nun, da wir das hinter uns hätten, können wir den Vertrag besiegeln. Wenn du bitte dein Hemd ablegen würdest?“ 
Valion riss seinen Blick von seiner Mutter los und sah ihn versteinert an, er verstand kein Wort. „Was?“, fragte er benommen. Plötzlich fiel ihm siedend heiß ein, dass in seinem Rücken immer noch ein großes Feuer brannte. Er hatte es nur kurz gesehen, aber jetzt fiel ihm ein, was daran ihn beunruhigt hatte. Eine Stück Metall, das im Feuer lag. Jetzt wusste er, warum es ihm bekannt vorgekommen war: es war ein Brandzeichen.
Einer der Männer hob es gerade aus dem Feuer, glühend rot. Natürlich war es ein verziertes, kunstvolles „E“. Er würde gebrandmarkt werden wie ein Stück Vieh, als Zeichen, dass er einen Besitzer hatte. 
Eravier legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er wollte sie am liebsten weg schlagen, er konnte es nicht ertragen, dass dieser Mann ihn berührte, egal, wie harmlos die Geste war. „Sei unbesorgt, es ist nur die Schulter. Nach wenigen Wochen wird es sicher verheilt sein. Vorher erreichen wir die Hauptstadt nicht. Du hast doch nicht etwa Angst?“ Valion zog sich stumm und trotzig das Leinenhemd aus, das er zum Schlafen getragen hatte, und reichte es seiner Mutter. Er sah die Angst in ihren Augen, aber er sah auch, dass sie gewusst hatte was kommen würde. Er hatte ihr versprochen, dass er es schaffen würde. Er durfte sie jetzt nicht enttäuschen.

Eravier nickte einem bärtigen Mann in der Menge zu, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. „Tarn, bereite alles vor.“ Der Angesprochene trat mit einem weißen Tuch vor, das streng nach Alkohol und Kräutern roch, und rieb Valions linke Schulter schnell, aber gründlich ab. Valion registrierte, dass seine Berührung in ihm nicht die übermächtige Abscheu auslöste, die er verspürte, wenn Eravier auch nur in seine Nähe kam. Nachdem seine Schulter zufriedenstellend sauber zu sein schien, wurde er grob auf den Boden gestoßen, und er warf einen Blick auf das Brandeisen, das wieder im Feuer lag. Der glühende Buchstabe schien ihn zu verhöhnen. 
Tarn schnippte mit den Fingern, um Valions Aufmerksamkeit zu bekommen, und gab ihm einen Lederriemen. Seine tiefe, brummende Stimme klang nicht unfreundlich, als er sagte: „Hier, nimm das zwischen die Zähne. Das wird nicht hübsch, aber fall' mir bloß nicht rückwärts um. Ich kann dir jetzt schon sagen, das wirst du ziemlich sicher bereuen. Wenn dir schwindelig wird, geh in die Knie und neig' dich nach vorn, so wie jetzt. Hat den Vorteil, dass du im Ernstfall nicht deine Zunge verschluckst.“ Valion nickte und schob sich wie befohlen das Leder zwischen die Zähne. Das hatte er schon einmal gemacht, damals, als er vom Heuboden gefallen war und sich die Schulter ausgekugelt hatte. Das Einrenken war der schlimmste Schmerz gewesen, den er je gekannt hatte. Bis heute zumindest.

Tarn griff das Eisen aus dem Feuer, und für einen Moment musste Valion lächeln. Eravier stand nur mit verschränkten Armen da und sah wachsam zu. Valion hätte es nicht ertragen, von ihm gebrandmarkt zu werden. Tarn war nur irgendjemand, er führte nur einen Befehl aus, ohne bösen Willen. Er würde nur das tun, was verlangt wurde, und wenn Valion ihn richtig einschätzte war ihm Folter fremd. Es ist gleich vorbei, sagte er sich, und schloss die Augen. 

Nichts geschah.

Er öffnete die Augen erneut und sah auf zu Tarn, doch der hatte das Brandeisen sinken lassen. Eravier hatte ihm mit einer Handbewegung Einhalt geboten.

Valions Herz sank ins Bodenlose. Nein. Alles, nur das nicht.

Eravier streckte die Hand aus, und Tarn übergab ihm zögernd das Eisen. Valion schüttelte stumm den Kopf. Nein. Bitte nicht. Er wusste nicht, ob er das ertragen konnte.
Eravier sah ihn an. Er lächelte. Er wusste genau, was er tat, er wusste genau wie sehr sich Valion fürchtete, und nur deshalb würde er es selbst tun. Er trat hinter Valion. „Du hast doch nicht geglaubt, dass ich mir diese Gelegenheit entgehen lasse“, sagte er leise. Er strich ihm zärtlich über das blonde Haar, und Valion krümmte sich. Lass es vorbei sein, lass es einfach vorbei sein, bitte lass es jetzt einfach... 

„Du brauchst eine bleibende Erinnerung daran, wer dein neuer Gebieter sein wird“, sagte Eravier, und mit einem Ruck drückte er ihm das Eisen auf die Schulter.

Es gab nichts, überhaupt nichts, was sich mit dem Schmerz, den Valion in diesem Moment fühlte, vergleichen ließ. Für einen Moment war es heiß, dann war es zu heiß, und dann war es nur noch reiner, unverfälschter, alles zermalmender Schmerz. Die Luft füllte sich mit dem Gestank von verschmorter Haut. Wie durch Nebel nahm er wahr, dass er mit zusammengebissenen Zähnen schrie. Es schien nicht aufzuhören und eine Ewigkeit zu dauern, bis das Eisen plötzlich von seiner Haut gerissen wurde. Polternd rollte es über den feuchten Erdboden, der bei der Berührung zischte. Verschwommen, betäubt durch unendlichen Schmerz nahm er wahr, dass Eravier Tarn anschrie. Tarn musste ihm das Eisen aus der Hand gerissen haben. Über seine Schreie und seine Tränen hörte er nur Fetzen des Gesprächs. „... hast das Eisen zu lange auf der Haut... sterben können wenn...“ Eravier brüllte ihn weiter an. 

Der Schmerz bleib, aber die Welt schien sich zurück zu drehen an ihren ursprünglichen Ort. Valion stand auf, spuckte das Leder aus und keuchte, es war das einzige, was er in diesem Moment überhaupt fertig brachte. „Langsam, Junge!“, warnte Tarn. Hinter sich hörte Valion seine Mutter schluchzen: „Oh Gott, was habt ihr im angetan? Sein Rücken...!“ „Er wird es überleben“, sagte Eravier kalt. Zu Tarn gewandt fügte er hinzu: „Bei anderen wiederum bin ich mir nicht so sicher. Versorg endlich seine Wunde!“ 
Tarn tat, was ihm befohlen wurde, langsam und sorgfältig. Er ließ sich ein weiteres sauberes, feuchtes Tuch reichen und deckte Valions Wunde vorsichtig ab. Es schmerze immer noch höllisch, und Valion konnte nicht anders, als aufzuschluchzen, wenn die Wunde berührt wurde. Ihm war schlecht, und er war wütend, dass die Schmerzenstränen nicht aufhören wollten, seine Wangen hinunter zu fließen. „Das wird schon“, brummte Tarn kaum hörbar neben ihm, und jetzt weinte Valion nicht nur wegen seiner Wunde, sondern auch weil sich jemand um ihn kümmerte und ihm helfen wollte. Aber er wagte es nicht einmal, sich zu bedanken. Tarn steckte in genug Schwierigkeiten, das war ihm klar.

Eravier schien das alles schon nicht mehr zu interessieren. Er hatte bekommen, was er wollte, alles andere war für ihn nur noch Formalität.
Endlich entließ Tarn Valion aus seiner Obhut, und er stolperte zu Eravier. Die Sonne warf ihre ersten, zaghaften Strahlen über den Rand der Welt, und der Himmel färbte sich rot und lila. „Was jetzt?“, fragte Valion. „Schlaf dich aus. Du wirst morgen Nachmittag mit uns aufbrechen.“ 
Etwas kratzte an dem letzten Rest wachen Verstandes, der noch in Valion war. Etwas, das er in der Aufregung vergessen hatte, oder übersehen. Jetzt fiel es ihm ein. „Was ist mit den Sklaven, die mein Vater freigelassen hat? Wollt ihr sie nicht verfolgen?“

Eravier wandte sich zu ihm um und lächelte. 

Das kann nicht wahr sein, dachte Valion. Er hatte es nicht bemerkt. Er hätte sich selbst schlagen wollen. Auf diese Weise war er ausgespielt worden, er und sein Vater und seine Mutter. Weil es nie einen Zweifel an den Taten seines Vaters gegeben hatte, sodass sie nie innegehalten hatten, um sich zu fragen, ob die Auswirkungen der Wahrheit entsprachen. Als klar war, dass Ebran wirklich versucht hatte, Sklaven zu befreien, hatten sie akzeptiert, dass sie auch wirklich erfolgreich geflohen waren. Das war es, was Eravier von Anfang an gewollt hatte. Ebran hatte seine Täuschung wirklich erst ermöglicht.

„Sag du es mir, Valion“, forderte Eravier ihn auf. 

Die Verbrennung auf seiner Schulter hämmerte und brannte, und der anbrechende Tag kroch blutend über den Horizont. „Ihr habt sie schon alle zurückgeholt“, krächzte Valion und wünschte sich etwas, an dem er sich festhalten konnte. „Und wohin sollen sie auch gehen, wenn sie gebrandmarkt sind? Jeder kann sie erkennen.“
Eravier lachte und klatschte Beifall, eine groteske Darbietung, getaucht in grelles, orangerotes Licht. Er hätte einen guten Höllendämon abgegeben, dachte Valion, während die Welt verschwamm. „Wir machen noch einen richtigen Händler aus dir. Nein, warte, streich das. Ich glaube, du bist anderweitig verpflichtet. Ich würde empfehlen, dass du jetzt schläfst und dann deine Sachen packst. Wir werden sehr bald aufbrechen. Unser Aufenthalt hier ist beendet.“

Der Schmerz war zu viel. Wenigstens erinnerte sich Valion noch daran, was Tarn gesagt hatte. Statt rückwärts zu taumeln, fiel er vorwärts auf die Knie, krümmte sich zusammen und übergab sich. Wenigstens würde er nicht seine Zunge verschlucken, das war vielleicht ein Anfang.
Seine Mutter rief seinen Namen, jemand packte seinen Arm, aber er wusste nicht mehr wer. Er schaffte es gerade noch, sich flach auf den Bauch zu legen, dann fiel alles aus den Fugen, rot versank in schwarz, und für einige Stunden war die Welt für Valion gnädig ausgelöscht.

„Singend öffnet der Sieg uns das Tor. Die Freiheit lenkt unsere Schritte. Und von Nord nach Süd hat die Kriegstompete...“ Jemand sang. Es war eine leise, aber kräftige Mädchenstimme, und eine Hand berührte ihn an der Wange. Valion stöhnte und erwachte aus einer wirren Abfolge von Träumen. Seine Schulter schmerzte, und er wollte nach der Stelle tasten, aber der Gesang endete abrupt und seine Hand wurde festgehalten. Er sah auf zu Arinda, die heftig den Kopf schüttelte. „Nicht, Val!“, sagte sie ernst. „Mama hat gesagt du darfst sie nicht anfassen!“


Schlagartig kam alles zurück, was in der Nacht geschehen war. Seine Schulter schmerzte, weil er gebrandmarkt worden war, und danach war er ohnmächtig geworden. Jemand musste ihn in sein Bett gebracht haben. Valion blinzelte und versuchte seine Augen an das Licht zu gewöhnen. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Kälte der Nacht war verflogen, es musste fast Mittag sein.
„Ist er aufgewacht?“, fragte Mila ihre große Schwester und kam zu seinem Bett. Ihre kleine, immer schmutzige Hand tastete vorsichtig nach Valion und strich über sein Haar, und er umschloss sie mit seiner eigenen, viel größeren Hand und nickte. „Ja, das Lied hat mich geweckt“, murmelte er und gähnte. „Was hast du da gesungen?“ Arinda zuckte nur mit den Schultern, ein bisschen trotzig. „Mama singt es manchmal wenn sie denkt, dass niemand da ist der zuhört. Sie hat gesagt wir sollen dich aufwecken, aber vorsichtig, also nicht auf dir herum springen oder so.“ Valion schmunzelte, obwohl ihm gar nicht danach war. Arinda konnte ein echtes Raubein sein. Sie weckte schlafende Menschen am liebsten schnell und gründlich durch energisches Zerren an der Bettdecke oder im Zweifelsfall der schlafenden Person selbst.

„Es heißt aber Trompete, nicht Tompete“, erklärte er und rappelte sich in den Sitz auf. Irgendjemand hatte seine Schulter komplett verbunden, nachdem er ohnmächtig geworden war. Prüfend fuhr er mit der Hand über die sauberen Binden und bewegte vorsichtig die Schultern, aber das ließ er schnell wieder sein. Der Schmerz, der beim Erwachen noch erträglich gewesen war, flammte jetzt wieder auf, und als Dreingabe zu dem heißen Brennen schien auch jeder einzelne Muskel in seinem Körper wund. Er fragte sich einen Moment, ob all das nur eine Folge seiner Verbrennung war, aber dann fiel ihm ein, dass er schon vor seiner Brandmarkung einiges abbekommen hatte, beim Kampf gegen Eraviers Schläger. 

Valion erwog für einen Moment, die Binden abzunehmen, aber vermutlich war das eine schlechte Idee. Der Verband war außerdem beweglich genug, dass er ihn problemlos unter der Kleidung tragen konnte. Es war sicher besser, wenn er einfach aufstand und sich gleich anzog.
Arinda schien zu erraten, was er vorhatte und reichte ihm ein Hemd. „Das hat Mama bereit gelegt, als du rein getragen wurdest. Sie sagt, mehr sollst du erstmal nicht anziehen“, erklärte sie. Vorsichtig erhob Valion sich vom Bett. „Was ist eine Trompete?“, fragte Mila unvermittelt, ein eindeutiges Indiz dafür, dass sie wieder einmal in ihren Grübeleien versunken gewesen war. Es fiel ihr immer schwer ein Thema fallen zu lassen, wenn es sie interessierte. „Keine Ahnung, irgend so ein Gewehr bestimmt.“, sagte Arinda im Brustton der Überzeugung, dann sang sie: „Und von Nord nach Süd hat die Kriegstrompete das Signal zum Kampfe geschmettert!“ Valion schüttelte den Kopf und streifte sich sein Hemd langsam über. „Nein, eine Trompete ist ein Musikinstrument“, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen.


Warum sang seine Mutter solche Lieder? Hatte er irgendetwas nicht bemerkt, das hier schon seit langem vor sich ging? Wenn er darüber nachdachte, wie sorglos er noch vor zwei Tagen gewesen war, wie wenig er von der Welt gewusst hatte und wie wenig ihn alles kümmerte, gestand er sich ein, dass das gut sein konnte. Es war, als wäre er eingeschlafen und an einem anderen Ort, in einem anderen Land aufgewacht.

Mila unterbrach seine Grübeleien, als sie fragte: „Hat jemand im Dorf eine Tom... Trompete?“ Valion lachte, obwohl es weh tat. „Ich glaube nicht. Aber Grinar hat sich mal eine Art Tröte selbst gebaut...“ Er brach ab, er konnte nicht sprechen und sich aufs Anziehen konzentrieren. Jede Bewegung jagte neue, pochende Schmerzen durch seinen Arm und den Oberkörper, aber das durfte er nicht zeigen, nicht gegenüber Mila und Arinda. An ihren besorgen Blicken sah er jedoch, dass er sie kaum täuschen konnte, und er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis die vielen kleinen Notlügen und Vereinfachungen, die man Kindern erzählte, bei ihnen nicht mehr wirken würden.


In diesem Moment konnte er seine Mutter gut verstehen, die ihn manchmal wehmütig anblickte und mit einem Seufzen verkündete, dass er erwachsen wurde. Dieses Gefühl beschlich ihn immer öfter, wenn er er seine Schwestern beobachtete. Dabei hatte er beide als Kleinkinder zwar hin und wieder gehalten und gefüttert, aber damals waren sie ihm noch unendlich langweilig vorgekommen. Bei Milas Geburt war elf Jahre alt, und wenn er auf seine Schwestern aufpassen musste, opferte er die Zeit, die er sonst draußen mit seinen Freunden beim Spielen und Raufen verbracht hätte. Erst als die beiden nicht mehr ständig am Rockzipfel seiner Mutter hingen, hatte er begonnen eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Das Erstaunen und die Ehrfurcht, mit der sie ihn und seinen Vater betrachteten, war ihm zunächst lästig gewesen, aber irgendwie war er mit der Zeit in die Rolle des großen Bruders hinein gewachsen. Jetzt sah er sich damit konfrontiert, dass die Mädchen eines Tages aus dieser Beziehung herauswachsen würden. Die beiden würden nicht immer einen Beschützer brauchen, der ihre aufgeschlagenen Knie versorgte oder sie abends zu Bett brachte. Eine Andeutung davon sah er bereits jetzt, in der Art, wie sie ihn betrachteten, und gleichzeitig zeigte es, wie unterschiedlich sie trotz der identischen blonden Wuschelhaare und Stupsnasen waren.

Arinda runzelte die Stirn und sah bekümmert, aber auch wütend aus. Sie war neun und der Überzeugung, jetzt erwachsen zu sein und über alles Bescheid zu wissen. „Es tut weh, oder?“, fragte sie streng und fügte hinzu: „Mama hat mir alles erzählt, aber vor Mila sollen wir nicht darüber reden, weil sie zu klein ist!“ Valion unterdrückte ein Schmunzeln und widersprach nicht, obwohl er genau wusste, dass seine Mutter natürlich nur einen Bruchteil von dem erzählt hatte, was vorgefallen war. Aber es war einfacher, Arinda das Gefühl zu geben Mila einen Schritt vorraus zu sein, es bestätigte sie in ihrer Rolle als große Schwester. Vor Mila wiederum blieb einfach nichts verborgen. Ihr wohnte eine Wissbegier und Auffassungsgabe inne, die jeden in Verlegenheit bringen konnte, und dazu machte sie gern lange Ohren. Auch diesmal schien sie wieder mitgehört zu haben, denn sie piepste empört: „Bin ich nicht! Und außerdem war ich ja selbst dabei! Und dass dieser Eravier in seinem komischen Lager-“ Arinda unterbrach sie an Valion gewandt: „Siehst du, das darf sie gar nicht wissen!” Sie fixierte Mila böse, die unbehaglich einen kleinen Schritt rückwärts machte, und fragte drohend: „Hast du etwa wieder gelauscht? Mama hat’s dir verboten! Und das erzähle ich ihr auch!“ „Petze!“ „Schnüffelnase!“ „Selber Nase!“

„Ich gehe jetzt nach unten“, sagte Valion deutlich, was die erhoffte Wirkung hatte, denn die Mädchen unterbrachen ihr Wortgefecht. Arinda sagte: „Aber Mama redet noch mit den anderen, und wir dürfen sie nicht stören, hat sie gesagt! Wir sollen erst kommen, wenn sie ruft.“ Valion stutzte. „Welche anderen? Worüber reden sie?“ „Sie sagen, dass du fortgehen musst, weil Eravier uns sonst mitnimmt.“, platzte Mila heraus, „Musst du wirklich mit ihm mitgehen?“

Valion starrte sie sprachlos an. Was sollte er dazu sagen? Er konnte kaum widersprechen, ohne dabei wie ein Lügner zu wirken, dazu hatten die zwei viel zu viel gehört und sich selbst zusammengereimt, doch gleichzeitig sträubte sich alles in ihm, ihr zuzustimmen. Vielleicht, weil er es selbst noch nicht verinnerlicht hatte?


Ja, er musste fort, schon heute. Er musste alles zurück lassen. Und zum ersten Mal wurde ihm wirklich bewusst, dass er nicht nur dieses Haus verlassen würde, sondern auch die Menschen, die darin lebten. Seine Mutter, die in guter Stimmung alle zum Lachen bringen konnte. Seinen Vater, der seine Schwester manchmal beide gleichzeitig hochhob um zu beweisen, wie stark er war, und niemals jemand im Stich ließ. Arindas naseweise Ratschläge und dass sie sich manchmal so sehr mit ihm raufte, bis sie beide blaue Flecke hatten und wie verrückt lachten. Oder Mila, deren Kopf ein großer, schillernd bunter Irrgarten voller seltsamer Ideen und Vorstellung war und die immer alles wissen musste. Er wollte nicht gehen, er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, seine Familie nicht bei sich zu haben. Der Gedanke schnürte ihm die Kehle zu, nahm ihm jegliche Atemluft. 

Er wollte nicht weinen, nicht vor seinen kleinen Schwestern. Er wollte nicht, dass sie sich fürchteten, oder dass sie sich Sorgen darum machten, was aus ihm wurde. Irgendwann, wenn sie alt genug waren, würden sie erfahren, was wirklich passiert war, was aus ihm geworden war, und das würde schwer genug sein. Aber er konnte weder seine Tränen aufhalten, noch den Schmerz verbergen.


Milas Gesicht wurde sofort schuldbewusst, und Arinda rief ärgerlich: „Oooh Mila, du bist so blöd! Ich hab dir gesagt, dass du das nicht fragen sollst!“ „Aber ich dachte doch nicht, dass er w-weint!“, schniefte Mila jetzt selbst. Sie konnte niemand weinen sehen, ohne selbst in Tränen auszubrechen, noch nie. „Es tut mir Leid!“, heulte sie und tappte auf ihren Bruder zu, der sich zurück auf sein Bett setzte und sie bereitwillig in den Arm nahm. Natürlich füllten sich Arindas Augen jetzt auch mit Tränen, obwohl sie wie immer versuchte die große, erwachsene Schwester zu sein. Aber Valion streckte die Hand aus und nahm sie einfach mit in den Arm, und sie da gab auch sie ihren Widerstand auf.
„Ich will nicht, dass du weg gehst, Val“, schluchzte Mila und krallte ihre Hand in sein Hemd. „Ich auch nicht“, sagte Valion heißer und streichelte ihren Kopf. Arinda weinte stumm, den Kopf an seine Schulter gebettet, und umklammerte seinen Arm. Ihr Schmerz war lautlos, sie hatte die Augen schlossen, und nur ihr Gesicht zeigte, dass sie litt. Er streichelte ihre nasse Wange und wünschte, dass er etwas hätte sagen können, das ihr half damit fertig zu werden. Aber das konnte er ja noch nicht einmal selbst.

Es dauerte eine Weile, bis er sich besser fühlte, aber es war auch gut so. Er wusste, dass es ein Abschied von vielen war, und umso fester hielt er die beiden in seinen Armen und versuchte, sich diesen Moment einzuprägen. Die Art, wie die Sonne durch das Fenster schien und ihr Haar zum Leuchten brachte. Die großen, blauen Augen. Die kleinen, dünnen Arme, die ihn festhielten, und die bedingungslose Liebe. Und das Wissen, dass sie ihn vermissen würden, so schmerzhaft es auch war.


Als die Tränen versiegten, fühlte er sich sauberer, mehr wie er selbst. Der Schrecken des letzten Tages hatte ihn gelähmt, aber seinen Kummer zu teilen hatten den Schatten der über ihnen lag zumindest für einen Moment vertrieben.
Er trocknete Milas nasses Gesicht sanft mit seinem Ärmel, etwas, das er schon oft getan hatte, und musste lächeln. Es gab ihm das Gefühl von Stärke und Handlungsfähigkeit zurück, sich so um sie zu kümmern. Mila ließ es sich gefallen, während sich Arinda selbst energisch das Gesicht rubbelte, als wollte sie die Traurigkeit abreiben. Ihre Nase wurde davon ganz rot. 

„Mama hat gesagt, dass wir uns keine Sorgen machen sollen“, erklärte Mila mit wässriger Stimme, während sie sich abtrocknen ließ, „Aber mache ich mir auch nicht.“ „Warum?“, fragte Valion. „Weil“, sie unterbrach sich und holte tief und schluchzend Luft, „... du doch zurück kommst. Zu Besuch, oder?“ Valion nickte, obwohl er nicht wusste, ob das überhaupt möglich war. „Aber bald!“, forderte Mila. „Wie soll er das denn versprechen, wenn er gar nicht weiß, wo er hingeht?“, fragte Arinda und suchte wie so oft ihre Zuflucht lieber in Ärger als in Traurigkeit, „Er könnte ja sonst wohin fahren mit diesem Eravier! Bis... bis in ein anderes Land!“ Mila stutzte. „Stimmt“, gestand sie, brauchte aber nicht lange, um sich von diesem Schlag zu erholen. „Aber der wohnt gar nicht in einem anderen Land! Mama hat gesagt sie fahren in die Stadt!“ „Weißt du denn, wie weit das weg ist?“ „Nein! Du etwa?“

Das konnte noch eine Weile so weitergehen, wenn sich die beiden erst einmal an einem Thema festgebissen hatten. Valion entschied, sie jetzt allein zu lassen. „Bleibt hier oben. Ich rede jetzt mit Mutter“, sagte er und erhob sich vom Bett. „Aber wir sollten doch-“, wandte Arinda ein, doch Valion unterbrach sie: „Ich kann nicht länger warten. Ihr bleibt hier.“ Mila nickte und setzte sich folgsam auf sein Bett. Arinda wollte erst widersprechen, verschränkte aber dann trotzig die dünnen Arme und sah aus dem Fenster, normalerweise das Signal dafür, dass sie sich widerwillig mit etwas abfand. Valion warf den beiden einen letzten Blick zu, dann verließ er leise den Raum.

Er war kaum aus der Tür getreten, da hörte er schon die Stimmen. Jemand schien zu diskutieren, leise, aber energisch. Von seiner Position aus konnte er allerdings nichts sehen, dazu hätte er zwei Schritte in Richtung der Treppe machen müssen, um in den Hauptraum ihrer Hütte hinab spähen zu können. Er beschloss, sich ausnahmsweise ein Beispiel an Mila zu nehmen und zu lauschen.
Was ging dort unten vor? Er erkannte die Stimmen seiner Mutter und seines Vaters, aber es schienen zwei Männer bei ihnen zu sein, die er nicht einordnen konnte, außerdem eine alte Frau und ein Mann aus dem Dorf, deren Stimmen er wegen des Flüstertons nicht erkannte. „Aber was haben wir davon, ihn im Unklaren zu lassen?“, fragte seine Mutter gerade. Eine dunkle Stimme, die er nicht kannte und die ihm dennoch vage bekannt vorkam, murmelte: „Ich bin der selben Ansicht. Er würde damit zurecht kommen, er ist zäh.“


Die alte Frau schnaufte abfällig, und die dunkle Stimme fügte versöhnlich hinzu: „Auch wenn er ohnmächtig geworden ist, ja. Im Grunde ist es ein Wunder, dass er die Brandmarkung überhaupt überlebt hat.“ Valion begriff, dass es um ihn ging. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt“, gab eine fremde, junge Männerstimme zu bedenken. „Eravier ist misstrauisch, erst Recht seit Glivant. Er weiß, dass die Rebellion die Sklaven erreicht hat. Der kleinste Hinweis, dass euer Sohn eingeweiht ist, könnte ihn das Leben kosten. Wir sollten abwarten, bis Eraviers Verfolgungswahn nachlässt.“ „Warum können wir ihn nicht einfach aus allem heraus halten?“ Das war die müde Stimme seines Vaters. Auch diese Worte quittierte die alte Frau mit einem Schnaufen. „Du hast deine Bitten verwirkt, Ebran. Wir haben versucht, von ihm abzulenken, aber eure eigene Dummheit hat diesen Vorteil zunichte gemacht. Jegliche Gegenmaßnahme wäre zu gefährlich, für uns, und für die anderen“, schalt sie ihn leise, und jetzt konnte Valion die Stimme zuordnen. Sie gehörte zu Melva, der Witwe, die zurückgezogen am Rande des Dorfes lebte. 
Alle, selbst versöhnliche Menschen wie Valions Mutter, nannten sie ein böses altes Weib. Es war bekannt, dass sie für niemand ein gutes Wort hatte außer für ihre wenigen Hühner und ihren alten, zahnlosen Hund. Wenn sie mit ihrem großen, schweren Stock durch das Dorf humpelte, wich ihr jeder der klug genug war sofort aus, sonst setzte es Stöße und böse Worte. Warum war sie dort unten? Alles wurde immer rätselhafter.


Valion verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und hätte am liebsten geflucht, als die alten Bodendielen laut knarrten. Sofort herrschte Totenstille im Raum unter ihm. „Was war das?“, fragte jemand leise, und Valion beschloss, dass er seinen Lauschposten jetzt aufgeben musste, wenn er nicht schrecklichen Ärger bekommen wollte. Er ging zur Treppe und stieg sie langsam hinunter, wobei er sich bemühte nicht den Eindruck zu machen, herum zu schleichen. „Ich bin es nur“, sagte er leise, und trat von der letzten Stufe hinab. Seine Mutter antwortete ebenso leise: „Ja, bitte komm hierher.“ „Er sollte nicht hier sein“, schalt Melva sie, aber sie zuckte nur mit den Schultern.

Sie waren tatsächlich zu sechst. Seine Mutter und sein Vater saßen blass und abgespannt auf der Holzbank vor dem Küchentisch. Das Gesicht seiner Mutter war stark angeschwollen, aber jemand schien ihre Nase gerichtet und den Arm seines Vaters geschient zu haben. Neben ihnen saß Melva auf einem Schemel, den Stock vor sich aufgestützt. Sie wirkte weniger griesgrämig als sonst und musterte ihn mit einem wachen, abschätzenden Blick. Neben ihr stand Grinar, der Schmied des Dorfes, und hob stumm die Hand zum Gruß. Die zwei Fremden, die nahe der Tür standen und immer wieder Blicke durch die Fenster warfen, trugen Kapuzenmäntel, die das Meiste ihres Gesichts und ihrer Kleidung verbargen. Einer der beiden war von schmalem Wuchs, vermutlich gehörte die jüngere Stimme zu ihm. Er hatte den Blick abgewandt, schien den Augenkontakt mit Valion bewusst zu meiden und zog die Kapuze noch weiter ins Gesicht. Valion wandte sich dem anderen zu, ein großer, bärtiger Mann. Er stand mit verschränkten Armen da und betrachtete Valion genau, und dabei schien sein Blick auffällig auf seiner Schulter zu ruhen. Valion beschlich ein Verdacht, die Stimme des Mannes war ihm bekannt vorgekommen.


„Tarn?“, fragte er leise, und Tarn nickte bestätigend. Sein Begleiter zuckte zusammen. „Woher weiß er deinen Namen?“, verlangte er zu wissen, aber Tarn winkte ab. „Von Eravier. Und ich habe Valion für die Brandmarkung vorbereitet. Danach würdest du mich auch kennen.“ „Du hättest etwas sagen sollen“, erklärte der andere gereizt, „Es ist ein Risiko, dass du jetzt mit uns hier bist.“ „Eravier hat mir schon gestern befohlen mich weiter um ihn zu kümmern, also beruhige dich“, sagte Tarn und wandte sich wieder Valion zu. „Wenn wir schon beim Thema sind, wie geht's der Schulter?“, fragte er. „Nicht besonders“, antwortete Valion wahrheitsgemäß. Für einen herrlichen Moment, während er konzentriert gelauscht hatte, hatte er sie ganz vergessen, aber jetzt, nachdem er daran erinnert worden war, waren die Schmerzen zurück. „Es war nicht geplant, dass Eravier dich selbst brandmarkt, das kannst du mir glauben. Der Idiot hätte dich fast umgebracht“, erklärte Tarn grimmig.


„Geschwätz, Geschwätz“, schalt Melva die beiden, und schlug mit dem Stock ungeduldig auf den Boden. „Wir sind nicht hier, um Höflichkeiten auszutauschen! Unsere Zeit ist fast abgelaufen, das wisst ihr alle. Wir stimmen ab, der Grünschnabel natürlich nicht.“ Valion wollte fragen, was das alles sollte, aber seine Mutter trat zu ihm, zog ihn zu sich auf die Küchenbank und gebot ihm zu Schweigen. „Bleibt es bei dem, was wir zuerst besprochen haben? Hand hoch.“ Grinar und der Fremde unter der Kapuze hoben die Hand, Melva ebenso. Tarn schien zu zögern, hob dann aber ebenfalls die Hand. „Bis auf weiteres zumindest”, erklärte er, was ihm einen grimmigen Blick von Melva einbrachte, bevor sie verkündete: „Dann ist es beschlossen!“ 
„Wir können ihn nicht völlig im Unklaren lassen“, sagte Valions Mutter leise, doch die Alte schüttelte nur unwillig den Kopf. „Es ist beschlossen, und dieses Treffen ist hiermit beendet. Wer in diesem Haus nichts zu suchen hat, sollte es so schnell wie möglich verlassen. Wir sind in ständiger Gefahr entdeckt zu werden, das sollte euch doch klar sein.“ Damit erhob sie sich ächzend und humpelte zur Tür, warf einen prüfenden Blick durch alle Fenster und verließ dann das Haus. Grinar und der andere Fremde folgten ihr auf dem Fuße.

Nur noch Tarn und seine Eltern blieben zurück. Valion wandte sich Hilfe suchend zuerst seiner Mutter und dann seinem Vater zu, doch ihre Gesichter blieben verschlossen. „Was sollte das alles?“, fragte Valion verwirrt, „Warum waren sie hier?“ Seine Mutter schüttelte nur den Kopf. „Lass dich von Tarn untersuchen, dann pack’ deine Sache zusammen. Du hast nicht mehr viel Zeit.“ „Mutter...“ „Hörst du nicht, was ich gesagt habe?“, unterbrach sie ihn wütend, stand auf und lief aus dem Haus. Sein Vater erhob sich schwerfällig, seufzend. „Ich werde ihr nachgehen.“ An Tarn gewandt sagte er, mit deutlichem Ärger und Resignation in der Stimme: „Tut, was getan werden muss, und dann verschwindet. Ihr seid in meinem Haus nicht mehr willkommen. Niemand von euch. Ihr habt versagt.“ Dann schlurfte er, müde und gebeugt, den gebrochenen Arm haltend, aus der Tür.

Valion ließ sich schwer zurück auf die Holzbank sinken und verbarg sein Gesicht in den aufgestützten Händen. Alles um ihn drehte sich. Was war hier gerade passiert? Menschen, von denen er die meisten nur oberflächlich oder gar nicht kannte, hatten gerade über etwas abgestimmt, das vermutlich auch ihn betraf und das er nicht begriff. Es bestand eine Verbindung zwischen Melva, Grinar, seinen Eltern und den Menschenhändlern, aber er verstand überhaupt nicht, welche das sein sollte.

„Valion.“ Er erinnerte sich, dass Tarn immer noch im Raum war. Er hatte seinen Mantel abgelegt, und die Ärmel seines Hemdes hoch gerollt. Verzweifelt sah Valion zu ihm auf, öffnete den Mund um eine Frage zu formulieren, und hielt sich dann selbst zurück. „Ich bekomme sowieso keine Antworten, oder?“, fragte er stattdessen verzweifelt. „Das kommt darauf an, welche Fragen du stellst“, antwortete Tarn gleichmütig, während er ein sauberes Tuch aus seiner Tasche nahm, auf dem Küchentisch ausbreitete und dann begann, ein paar Büschel Kräuter und einige Gegenstände bereitzulegen. „Aber ich muss deine Schulter untersuchen. Zieh’ dein Hemd aus.“

Es kam Valion wie eine große Ironie vor, dass er das Hemd, in das er sich so mühsam hinein gequält hatte, wieder ausziehen musste. Er schälte sich langsam und vorsichtig heraus, während Tarn heißes Wasser, das Valions Mutter vermutlich schon eher auf dem Herd bereitet hatte, in eine Schale goss und einige getrocknete Pflanzenteile beimengte. Als letztes holte er eine tönerne Flasche hervor und goss eine Flüssigkeit hinzu, die nach Alkohol und scharfen Kräutern roch. Valion erinnerte sich an den Geruch, und er jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Seine Schulter war damit abgerieben worden, kurz vor seiner Brandmarkung.
„Was ist das?“, fragte er skeptisch, endlich von seinem Hemd befreit, und Tarn lachte. „Das ist also deine erste Frage? Medizin, ein Familienrezept. Mein Vater hatte die Verantwortung für ein paar wirklich schöne, wertvolle Pferde, weil er den Stall eines Fürsten führte, und für sie kam nur das Beste in Frage.“ Er begann mit geübter Hand, den Verband um Valions Schulter abzunehmen. Vermutlich war er derjenige gewesen, der ihn zuerst angelegt hatte. Dabei sprach er ruhig und freundlich weiter, und Valion konzentrierte sich auf das Zuhören, weil es den Schmerz ausblendete.


„Diese Pferde hatten nicht viel auszustehen außer ein paar Ausritte und Jagden, aber wenn sie sich verletzten und die Wunde sich entzündete, dann rührte mein Vater dieses Zeug zusammen, und alles verheilte innerhalb von Tagen.“ Valion verzog das Gesicht. „Ich bin aber kein Pferd.“ Tarn schmunzelte und erklärte: „Egal ob Pferd oder Mensch, die Wirkung ist bei beiden fast gleich. Und keine Angst, es wurden schon viele vor dir damit behandelt, natürlich auch Menschen. Mein Vater verkaufte alles, was er übrig behielt, an die Diener des Fürsten und die Leute aus dem Dorf. Das Zeug war ziemlich beliebt, für alles Mögliche. Manche behandelten Verbrennungen und Schnitte damit. Manche gurgelten damit um einen wunden Hals zu kurieren. Obwohl ich nicht empfehlen kann, etwas davon zu trinken.“ „Warum?“, fragte Valion, der bisher nur Erfahrung mit sehr schwachem Bier und hin und wieder Wein gemacht hatte. „Der Rauschzustand ist ziemlich stark, und ein paar Leute meinen, sie hätten danach komische Dinge gesehen, was mich bei der Liste an Zutaten nicht wundert. Aber manche wollten es nur deshalb trinken, bis jemand im Wahn vom Heuboden fiel. Das war's dann für ihn, und ich glaube das hat die meisten von dieser Idee kuriert. So, lass uns das ansehen.“


Er hatte alle Binden gelöst und entfernte vorsichtig die inzwischen trockene Wundauflage. Valion sog scharf die Luft ein, als sich der Stoff von der Haut löste und kühle Luft darüber strich, aber der Schmerz ließ schnell wieder nach und kehrte zurück zu dem anhaltenden Brennen.

Tarn schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Dachte ich mir“, brummte er, „gestern im Dunkeln war es nicht so gut zu sehen, aber er hat das Eisen eindeutig zu lange auf deiner Haut gelassen. Du hast Glück, dass du noch lebst. Ein paar Momente mehr, und die Verbrennung wäre vielleicht zu tief geworden.“ „So schlimm sind die Schmerzen gar nicht“, erklärte Valion verwirrt. „Ja, weil ich die Verbrennung ziemlich großzügig betäubt habe“, stellte Tarn sachlich fest. „Es wird lange dauern, bis das ausheilt, und ziemlich scheußlich aussehen.“ „Was soll das heißen?“, fragte Valion, mühsam die Aufregung unterdrückend. Bedeutete es das, was er dachte?
Tarn tränkte ein frisches Tuch in dem Sud und begann methodisch, Valions Wunde abzutupfen und betrachtete sie dabei von allen Seiten. Er war vorsichtig, und trotzdem zuckte Valion bei jeder Berührung zusammen. Dann sagte er mit Bestimmtheit: „Niemand wird hier jemals ein E erkennen können. Das wird eine große, unförmige Narbe.“ Er schien überrascht, als Valion erlöst auflachte. „Der Gedanke gefällt dir? Eravier wird ziemlich wütend sein. Und egal ob gebrandmarkt oder nicht, bist du jetzt sein Eigentum.“

Wie sollte Valion das erklären? Es erschien ihm wie Gerechtigkeit. Er hatte an diesem Abend Qualen gelitten, die er nie gekannt hatte, und für einen Moment war es ihm erschienen als hätte die Brandmarkung sein früheres Leben unwiderruflich von ihm getrennt. Das war schließlich Eraviers Absicht, Valion sollte ein Sklave werden und ihn als seinen Besitzer akzeptieren. Dass ein Teil dieses Vorhabens fehlgeschlagen war, egal, welche Narben er davon trug, schien wie ein Zeichen, dass es nicht so einfach sein würde, ihn aus seinem alten Leben heraus zu reißen und in jemand völlig neuen zu verwandeln.
Aber all diese Gedanken ließen sich unmöglich ausdrücken, nicht hier, vor einem völlig Fremden. Dazu fehlten ihm jetzt die Worte. Er sah nur zu Tarn auf, der ein anderes Stück Stoff tränkte und sorgfältig auf die Wunde auflegte. „Schon gut“, sagte Tarn sanft, „Ich kann mir schon denken, dass es dich erleichtert. Halte das Gefühl fest. Noch bist du nicht besiegt.“

Das war nicht das, was Valion erwartet hatte zu hören, und er betrachtete Tarn nachdenklich und zum ersten Mal genauer. In der Masse der Männer, die sie gestern Abend umringt hatten war er wegen seiner Statur nicht aufgefallen. Er war groß und auch muskulös, und sein dichter, dunkler Bart ließ ihn älter und bedrohlicher wirken, als er wirklich war. Deshalb war Valions erster Eindruck von ihm der eines Schlägers gewesen, ein bloßer Handlanger, genauso grob und feindselig wie alle anderen. Aber die Situation und das kalte graue Mondlicht mussten ihn getäuscht haben. Valion war sich inzwischen sicher, dass Tarn an diesem Abend gegen niemand die Hand erhoben hatte und vermutlich nur anwesend gewesen war, um die Brandmarkung auszuführen. Der freundliche Ton, der wachsame Gesichtsausdruck, die hoch gerollten Ärmel und der geschickte Umgang mit seinem Werkzeug brachten Valion zu der Überzeugung, dass er die meiste Zeit als Arzt, vielleicht auch als Veterinär arbeiten musste.
Je mehr er ihn betrachtete, desto weniger konnte er seine Person mit der Tatsache in Einklang bringen, dass er ein Gehilfe Eraviers war. Er schien ein guter Mensch zu sein.

„Warum arbeitet ihr für Eravier?“ Valion überraschte nicht nur Tarn mit der plötzlichen Frage, sondern auch sich selbst. Tarn schwieg kurz, dann fragte er: „Spielt das eine Rolle?“ Er griff nach frischen Binden, um das getränkte Stofftuch über der Wunde zu fixieren, aber Valion hielt seine Hand fest und zwang ihn damit, zuzuhören.
„Für mich schon! Ich weiß überhaupt nicht mehr, wem ich trauen soll! Meine Eltern und Melva und Grinar wissen irgendetwas, und sie haben euch und dem anderen vertraut, aber wieso? Sie sollten euch hassen, euch nicht einmal ins Haus lassen, wenn ihr für Eravier arbeitet! Das ergibt alles keinen Sinn! Ihr habt über Pläne gesprochen und über Dinge abgestimmt als … ich weiß nicht, als wärt ihr eine Gemeinschaft? Ich will wissen was hier vor sich geht!“
Tarn seufzte. „Es gibt einen guten Grund, warum man beschlossen hat, dich nicht einzuweihen“, sagte er. Valion wollte protestieren, doch Tarn schnitt ihm das Wort ab: „Du denkst vielleicht, dass es wie früher nur darum geht, dass du zu jung bist. Glaub mir, ich kenne dieses Gefühl, und du liegst falsch, verstanden? Es geht hier um dein Leben, und um das vieler anderer Menschen. Ich kann dir nur einen Bruchteil von dem sagen, was ich weiß. Du kannst jetzt zuhören, oder du kannst stur bleiben und wirst gar nichts erfahren.“ Er pausierte, abwartend, ob Valion fortfahren würde, ihm Fragen zu stellen, aber der hielt wohlweislich den Mund. Er erkannte ein Ultimatum, wenn es ihm gestellt wurde.

Tarn nahm seine Arbeit wieder auf, verband für eine Weile nur stumm Valions Schulter. Unvermittelt begann er: „Die Bedingungen verschlechtern sich für alle hier im Land, das weißt du vielleicht.“ Valion wollte etwas sagen, erinnerte sich dann aber daran, dass er ja keine weiteren Fragen stellen durfte. Das letzte was er wollte war Tarn wütend zu machen, doch entgegen seiner Erwartungen sagte der nachsichtig: „Ich habe dir nicht generell verboten zu sprechen, Valion. Du scheinst darüber schon Bescheid zu wissen.“ „Mein Vater hat mir davon erzählt. Erst...“ Er stolperte über die Zeitangabe. Das war gestern gewesen, obwohl in der Zwischenzeit so viel passiert war, dass es ihm wie Jahre vorkam. „... erst gestern hat er mir erklärt, dass wir immer mehr Abgaben zahlen, und dass viele zu arm sind dafür und alles verlieren“, begann er noch einmal. Tarn nickte und fragte: „Wie viele, denkst du, finden sich damit ab?“ Valion dachte darüber nach, auch über den Zorn, den er gestern empfunden hatte, als er die Verletzungen seines Vaters gesehen hatte. Die Ungerechtigkeit ihres Schicksals hatte ihn rasend gemacht. „Ich könnte es nicht“, gab er zu. „Du, und viele andere. Alle, die heute hier waren, sind sich darüber einig, dass etwas geschehen muss. Deshalb sind wir Rebellen, im Verborgenen, und wir sind nicht die Einzigen. Es ist nicht einfach gegen diejenigen vorzugehen, die das Land am schlimmsten schinden, aber wir bekämpfen sie im Verborgenen. Menschen wie Eravier. Und als eine Gemeinschaft unterstützen wir uns auch gegenseitig, wenn es nötig wird. Deshalb waren wir hier. Deine Eltern haben uns um Hilfe gebeten und versucht Eravier von dir abzulenken.“ Er machte eine Pause, dann fügte er leise hinzu: „Ich sage es nicht gern, aber dein Vater hat Recht: wir sind daran gescheitert.“

Valion hoffte, dass Tarn noch mehr sagen würde, und wenn es nur ein Anhaltspunkt war, was man mit ihm vorhatte und wie es weitergehen sollte, doch Tarn vollendete nur sein Werk und trat einen Schritt zurück. „Gestern konnte ich nicht fragen, aber heute machen wir es richtig: Beweg' deine Schulter, ganz langsam. Schneidet der Verband ein, hast du das Gefühl, keine Luft zu kriegen?“ Valion hob vorsichtig den Arm, beugte danach den Rücken. Es brannte nach wie vor, aber der Verband bereitete ihm keine zusätzlichen Schmerzen und beschränkte auch nicht seine Bewegungen. „Nein, es ist in Ordnung.“ Tarn nickte und wusch seine Hände mit den Resten des warmen Wassers, als jemand dreimal an die Holztür der Hütte klopfte. Niemand trat ein, sie hörten nur Schritte, die sich rasch wieder entfernten. Tarn seufzte. „Das war mein Zeichen, ich muss weg. Ich hab noch einiges zu tun, ehe wir aufbrechen.“ Valion konnte nur stumm nicken und half ihm beim Einsammeln seiner Ausrüstung. Schließlich war alles verstaut, und Tarn warf sich seinen Umhang über, zog die Kapuze ins Gesicht und wandte sich zum Gehen. Wie zuvor Melva spähte er durch die Fenster, bevor er die Tür aufstieß.


Unvermittelt überfiel Valion der Wunsch, dass er nicht gehen würde. Vielleicht lag es daran, dass er der einzige war, der offen zu ihm gewesen war. Tarn hatte ihn bisher nur freundlich behandelt, nie über seinen Kopf hinweg geredet, und jetzt da er gehen wollte, fielen ihm tausend Fragen ein, die er noch nicht gestellt hatte. „Wann sehen wir uns?“, fragte er hastig. Tarn wandte sich zu ihm um. „Heute nicht mehr. Jemand anders wird kommen, um dich abzuholen, das wurde schon heute morgen entschieden“, erklärte er. Er sah Valions beunruhigten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Keine Sorge, ich habe ein Auge auf dich, und du wirst das durchstehen. Du hast kaum eine andere Wahl.“ Er strich sich müde über die Augen, als hätte er an etwas gedacht, das er schnell wieder vergessen wollte. Valion nickte, aber gleichzeitig fiel ihm eine letzte Frage ein, und schnell stellte er sie, bevor es zu spät war: „Ihr habt mir immer noch nicht gesagt warum ihr-“
Tarn unterbrach ihn: „Warum ich für Eravier arbeite, trotz allem?“ Valion konnte nur stumm nicken. Etwas sagte ihm, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte, auch wenn er nicht wusste, wieso. Da war wieder dieser Ausdruck, eine sorgsam hinter dem neutralen Ausdruck verborgene Gefühlsregung, als er sagte: „Junge, ich glaube du hast noch nicht ganz begriffen, wie weit der Handel mit Menschen um sich gegriffen hat. Was denkst du, was du auf meiner Schulter findest?“ Valion klappte der Mund auf. Er hatte keine Sekunde damit gerechnet, aber Tarn nickte nur. „Richtig, ich bin ein Sklave, so wie du. Der Unterschied besteht nur darin, welche Aufgaben wir zu erfüllen haben.“ Das war alles, was er noch sagte, er wandte sich ab und verließ die Hütte.

Wie betäubt ging Valion hinauf in sein Zimmer. Es war leer, Mila und Arinda mussten sich irgendwann an einen anderen Ort geschlichen haben. Er war zu müde, um herauszufinden wo sie sich herumtreiben mochten. Der Schlafmangel der letzten Nacht, die Wunde und alles was er gehört hatte zehrten an seiner Kraft. Er packte einige Kleidungsstücke in ein kärgliches Bündel zusammen, dann legte er sich auf sein Bett und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.

Die Sonne stand tiefer, als er aufwachte, und er war allein. Er richtete sich auf und stöhnte gequält, als er unbedacht seine Schulter belastete. Wo waren alle geblieben? Es war still, nur der Wind rauschte in den Bäumen, und ein paar Grillen zirpten vor dem Fenster.

Er stand auf und warf noch einmal einen Blick auf das Bündel, das er zusammengepackt hatte, doch er fand nichts, was er hätte hinzufügen können. Im Grunde besaß er nicht viel außer den täglichen Gebrauchsgegenständen, und musste er die überhaupt mitnehmen? War es nicht wahrscheinlicher, dass er Kleidung, Essen und alles weitere von seinem Besitzer erhalten würde? Er wusste es nicht.


Unruhig lief er in seinem Zimmer hin und her, überlegte, ob er dieses oder jenes mitnehmen oder hier lassen sollte. Kurzentschlossen öffnete er seinen Schrank, der ohne die bereits eingepackten Kleidungsstücke seltsam leer wirkte, holte eine kleine Holzkiste hervor, in der er seine wenigen Besitztümer aufbewahrte und öffnete sie.


Da waren die zwei Holzfiguren, die sein Großvater geschnitzt hatte, ein paar gepresste Blumen, die wunderschöne Kohlezeichnung eines Vogels, die ein fahrender Händler auf der Rückseite eines Briefes hinterlassen und Valion geschenkt hatte, als er sie mit großen Augen bewunderte, und ein paar andere Dinge. Beim Betrachten der Gegenstände gestand er sich ein, dass die meisten im Grunde nichts wert waren und nur für ihn eine Bedeutung hatten. Manches hätte er gern mitgenommen, entschied sich aber dagegen. Im besten Fall hätte er die Sachen nur mitgeschleppt, im schlimmsten Fall hätte sie jemand in die Finger bekommen, der sie nicht zu schätzen wusste und vielleicht wegwarf.


Er grub weiter in der kleinen Kiste herum. Einiges, stellte er fest, gehörte ihm gar nicht, sondern war ihm von Mila und Arinda zur Aufbewahrung anvertraut worden. Zum Beispiel der teure Kamm mit den eingelegten rosafarbenen Steinsplittern, den Arinda von ihrer Großmutter vererbt bekommen hatte und jetzt noch nicht benutzen durfte, weil seine Mutter Angst hatte, sie würde ihn zerbrechen. Gleiches galt für den winzigen Spiegel, der Mila gehörte und in einem kunstvoll geschnitzten Holzrahmen steckte.

Valion nahm den Spiegel und betrachtete ihn, fuhr mit den Fingern die geschnitzten Vögel und Blüten nach, die ihn schmückten. Sein Spiegelbild beobachtete ihn dabei, sah ihn mit fragenden graublauen Augen an. Er sah blass aus, stellte er fest, müde und traurig. Wie oft hatte er sein Spiegelbild schon betrachtet? Er konnte sich vielleicht an vier, fünf Mal in seinem Leben erinnern. Es schien nicht notwendig zu sein, Zeitverschwendung. Er hatte eine Vorstellung von sich selbst, und egal wie akkurat oder nicht akkurat, er hatte kein Bedürfnis dieses Bild zu bestätigen oder zu korrigieren. Er fuhr sich durch das strubbelige, blonde Haare, das seine Mutter immer kurz schnitt, wenn es wieder begann seine Augen zu verdecken. Es war ihm egal, wie es aussah, er wollte, dass es ihm nicht die Sicht versperrte und im Winter seine Ohren wärmte, mehr erwartete er nicht.
Unwillkommen flüsterte die Stimme von Eravier in seinem Geist: Warum sind es immer nur die hübschesten von euch, die so viel Widerstand leisten?

Er krümmte sich innerlich. Hübsch? Er wusste nicht, ob das auf ihn zutraf. Er bestätigte gern, wie hübsch ein Mädchen oder ein Junge war, wenn einer seiner Freunde ihm davon vorschwärmte. Er bewunderte die Schönheit der Mädchen, wenn sie sich beim Dorffest die Haare mit Blumen schmückten oder flochten. Leuchtende Augen, ein fröhliches Lachen, sanfte weiche Hände, es gab vieles was er an anderen schön fand. Aber es hatte nichts mit ihm zu tun. Warum? Er wusste es nicht.


Vorsichtig legte er die Gegenstände in die Truhe zurück und stellte diese dann gut sichtbar auf sein Bett. Seine Schwestern würden sie sehen und verstehen, dass sie jetzt dafür verantwortlich waren, alles aufzubewahren. Vielleicht würde Arinda irgendwann sein Bett bekommen, oder sie würden einen Arbeiter aufnehmen, der Valions fehlende Arbeitskraft ersetzte und in seinem Bett schlafen durfte. Wenn Eravier Wort hielt, hatten sie bald genug Geld dafür. Der Gedanke, dass er ersetzt werden würde tat weh, aber was hatten seine Eltern für eine Wahl?

Er hätte vermutlich noch lange weiter gegrübelt, aber die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich und seine Mutter trat ein. „Val. Es ist soweit.“ Valion wandte sich zu ihr um und öffnete den Mund um etwas zu sagen, aber dann brachte er doch nur ein Nicken zustande. Alles ging zu schnell, zu viele Fragen waren noch ungeklärt, aber er würde darauf vertrauen müssen, dass sich einfach alles fügte.

Als er aus der Tür trat, sah er die beiden Wächter, die gekommen waren um ihn abzuholen. Er wünschte sich Tarn herbei, es wäre einfacher gewesen, sich von ihm begleiten zu lassen. Die zwei, die jetzt vor dem Haus standen, waren grobschlächtige Kerle mit gemeinen Gesichtern.
Ein Stück entfernt von ihnen standen Mila und Arinda und wirkten verschüchtert, aber sie liefen zu Valion und umarmten ihn. „He, dafür ist keine Zeit mehr“, schnauzte einer der beiden Wächter, aber Valion ließ sich davon nicht beeindrucken. Er streichelte noch einmal über die Haare seiner Schwestern. „Wir dürfen nicht weiter mitgehen“, sagte Arinda und schien bitter enttäuscht. „Das ist auch besser so, glaub mir das“, sagte Valion, „Pass gut auf euch auf, verstanden? Wenn ich kann, dann besuche ich euch.“ Der andere Wächter, ein unfassbar hässlicher Kerl, lachte bei diesem Satz, und Valion überlegte für einen Moment eiskalt, ob er es darauf ankommen lassen und ihn schlagen sollte. Er war sich ziemlich sicher, dass die zwei den Befehl hatten, ihn nicht zu verletzen. Dann fiel ihm ein, dass dieser Befehl nicht für seine zwei Schwestern galt, und hielt den Mund. Widerwillig wandte er sich ab, umarmte auch seine Mutter noch einmal stumm, schulterte sein Bündel und ging los. Die zwei Wächter folgten ihm.

Während Valion ohne Hast den schmalen Weg von ihrem Haus zur Mitte des Dorfes entlang schritt, wurde er unablässig beobachtet. Er sah Nachbarn, Bekannte und Freunde seiner Eltern, alles Menschen, die er schon sein ganzes Leben lang kannte. Sie alle starrten, manche offen auf der Straße, andere aus dem Schatten ihrer Häuser oder aus den Fenstern. Valion konnte es ihnen nicht verübeln. Niemand machte ein schadenfrohes Gesicht oder lachte. Sie wussten vage was geschehen war, und vielleicht fragte sich manch einer von ihnen, ob sie einem ähnlichen Schicksal entkommen waren. Er sah wenige der hübschen Mädchen und jungen Männer aus dem Dorf, und die, die ihn beobachteten hielten den Blick meist gesenkt oder spähten nur aus den Fenstern ihrer Häuser. Viele der Mädchen trugen trotz der Wärme Kopftücher, einige von ihnen hatten ihre Mütter oder Väter an der Seite, die sie zu bewachen schienen, als fürchteten sie, ihre Kinder könnten unbedacht auf sich aufmerksam machen und plötzlich ebenfalls in Eraviers Fängen landen.
Er konnte sie verstehen, das konnte er wirklich, aber gleichzeitig wünschte er sich, dass irgendjemand etwas tun, etwas sagen, ein letztes Mal zu ihm sprechen würde. Doch alle zogen sich furchtsam vor ihm und seinen Bewachern zurück. Es war ein einsamer Marsch bis zum Dorfzentrum. Auf dem großen Platz, umringt von Wächtern, standen die Wagen der Menschenhändler. Alle warteten.

Eravier war nicht zu sehen, genauso wenig wie die anderen Händler. Die Gesichter, die er sah, gehörten den Dienern, Wächtern und Wagenführern, die seinen Blick mieden. Einer der Wagen, das Schlusslicht des Zuges, schien für ihn bereitzustehen. „Da rein“, wies ihn der Wächter an. Valion schluckte. Er versuchte noch einmal in der stummen Menge der Dorfbewohner seine Freunde oder seinen Vater auszumachen. Nichts. Nicht einmal Gevin oder Nisha waren da, was ihn unglaublich traf. Diejenigen, die er ansah, zuckten zurück als hätte man sie bei etwas ertappt. Manche drehten sich um und gingen. Niemand kam auf ihn zu.


Das war es also. Er ging auf den Wagen zu, langsam und schleppend.

„Valion!“ Das war Varas Stimme. Valions Herz machte einen Satz, und ungläubig sah er zurück. Sie war es tatsächlich, mit rotem Gesicht, außer Atem, und sie schob sich durch die anderen Dorfbewohner, die sich nicht einig wurden, ob sie Vara fest halten oder vor ihr zurückweichen wollten. In ihrem Windschatten folgten Gevin und Teron, der aus irgendeinem Grund ein blaues Auge hatte, und schoben aus dem Weg, wer ihnen nicht Platz machen oder sie abhalten wollte.
„He, was wird das?“, hörte er einen der Wächter brüllen, aber es war Valion egal. Er ließ seinen Bündel fallen und stürmte auf seine Freunde zu. Er rannte sie beinahe um, war plötzlich zwischen ihnen in einer großen Umarmung. „Ihr seid hier“, flüsterte Valion fassungslos. Gerade eben hatte er sich damit abgefunden, dass niemand sonst ihn verabschieden würde, und jetzt waren sie fast alle hier.


„Es tut mir so leid, Valion“, sagte Vara, als sie Valion los ließ. „Unsere Eltern wollten uns nicht zu dir lassen. Ich habe wirklich alles versucht, gebettelt, aber sie hatten Angst, dass…“ „Dass sie dich auch mitnehmen?” Vara nickte wütend. „Und ich hatte eigentlich vor mit Gevin los zu ziehen und jemand ganz furchtbar zusammen zu schlagen”, erklärte Teron gewohnt großspurig, „aber das war dann wiederum unseren Eltern nicht geheuer. Mein Alter hat mir sogar eine verpasst.” Er deutete auf sein frisches Veilchen und verzog das Gesicht. Gevin nickte und schien sich schuldig zu fühlen. „Wir hätten viel eher kommen sollen, und jetzt ist es vermutlich zu spät, aber können wir nicht irgendetwas tun?” Valion schüttelte den Kopf. „Bitte versucht es gar nicht erst. Ihr wollte nicht wissen, was sie mit meinem Vater angestellt haben.” „Ehrlich gesagt wissen wir das schon”, sagte Gevin etwas unbehaglich. „Wir sind nur wegen ihm überhaupt hier.” Damit hatte Valion nicht gerechnet, und er musste ein ziemlich verdutztes Gesicht machen. „Was hat er getan?” Teron grinste und sagte: „Er ist bei unseren Eltern aufgekreuzt und hat sie so lange angebrüllt und geflucht, bis sie nachgegeben haben und uns gehen ließen. Meinen Vater hat er eine feige Ratte und einen Bastard genannt, und ihm dann für mein blaues Auge noch einen mitgegeben, trotz seines Arms! Das nenne ich mal eine starke Leistung!” „Es war fast ein bisschen unheimlich”, fügte Gevin hinzu. „Vermutlich kriegen wir nachher trotzdem noch einen Haufen Ärger, aber das hat sich gelohnt, denke ich”, ergänzte Vara. „Danke“, sagte Valion und meinte es aus tiefstem Herzen.

Plötzlich wurde er am Arm gepackt. „Das reicht jetzt!“, schrie ihn einer der Wächter an, und zerrte Valion mit sich. „Genug der Rührseligkeiten, wir haben auch noch was anderes zu-“ Er schrie auf und ging zu Boden, als ihm jemand ins Gesicht schlug. Wie aus dem Nichts war Valions Vater aufgetaucht. Fluchend hielt er sich die gesunde Hand, er hatte sich die Knöchel am Kinn seines Widersachers aufgeschlagen, aber er sah zum ersten Mal seit der letzten Nacht wieder wie er selbst aus, entschlossen und mutig. „Vater!“ Valion wusste nicht, was er sagen sollte, und beinahe hätte er dazu auch keine Gelegenheit gehabt, denn der andere Wächter sprang vor und wollte seinen Vater zu Boden werfen, aber Gevin stellte sich ihm in den Weg und rang mit ihm. Valions Vater fasste ihn fest an der Schulter und sah ihm noch einmal ins Gesicht. „Ich sage nicht Lebewohl, mein Junge“, sagte er heißer, „Weil wir Himmel und Erde in Bewegung setzen werden um dich zurück zu holen!“ Er umarmte seinen Sohn, dann schob er ihn von sich und gab ihm einen Stoß in Richtung  seiner Freunde, und jetzt sah er auch, wen sein Vater in letzter Sekunde noch zu ihm gebracht hatte: Es war Nisha.

Sie hatte geweint, das sah man an ihrem geröteten Gesicht, und ihre wilden blonden Locken waren noch zerzauster als sonst, aber sie war genauso schön wie immer. Sie lief auf ihn zu und umarmte ihn so heftig, dass es weh tat, bevor sie sich von ihm löste und nach seinen Händen griff. Sie fanden beide kaum Worte, sich zu verabschieden, sahen sich nur an, bis Valion fragte: „Du gibst auf sie Acht, während ich weg bin?” Er nickte ihren Freunden zu, und das Beste war, dass er Nisha für diesen einen Moment noch einmal zum Lachen brachte. „Also für Teron würde ich keine Bürgschaft ablegen”, spottete sie, und so sah er sie am liebsten - fröhlich, ein bisschen bissig, sorglos, wenn auch nur für einen Augenblick. Er wollte etwas sagen, doch im nächsten Moment wurden die beiden getrennt. Weitere Wächter waren aus den Wagen gesprungen, sie zerrten Valion und Nisha auseinander, kesselten seine Freunde ein und drängten auch seinen Vater zurück, der nicht mehr widerstand, sondern nur seinen Sohn ansah.


Valion wurde regelrecht weg geschleift, er schaffte es gerade noch sein Bündel zu packen, dann wurde er in den Wagen gestoßen und dort zu Boden gedrückt. Ein Wächter, den er noch nicht gesehen hatte, schloss fluchend eine eiserne Schelle um sein Handgelenk und stürmte dann zurück nach draußen. Er erhaschte einen letzten Blick auf seine Freunde, die vor den Wächtern zurück wichen und wie Gevin seine blutende Lippe betaste. Valion glaubte, dass sich ihre Blicke einen Moment trafen und Gevin ihn tapfer angrinste, dann wurde die Plane des Wagens geschlossen und Valion sah nichts mehr. Er rappelte sich auf und versuchte einen Spalt zu finden, durch den er nach draußen spähen konnte, aber die Kette schränkte seinen Bewegungsradius zu stark ein. So hörte er nur noch einige unverständliche Rufe und das Knallen einer Peitsche, dann fuhr der Wagen mit einem Ruck an, und er ließ sein Heimatdorf hinter sich.

Lange Zeit saß Valion nur da und ließ die Zeit verstreichen, während das Tageslicht schwand. Er war hier völlig allein, und es gab im düsteren Innern des Wagens nichts Interessantes. Er sah nur hölzerne Streben, die die Stoffplanen trugen und weitere eiserne Fesseln, die an dem massiven Holzunterbau des Wagens befestigt waren. Außerdem stand ganz am Ende des Wagens ein Eimer, der zumindest so aussah als würde er täglich geleert werden. Das war alles.

Valion überlegte, ob es möglich war seine Fesseln zu lösen und untersuchte sie eine Zeit lang genau. Doch sowohl die Handschelle als auch die Kettenglieder bestanden aus massivem Eisen und boten keine Schwachstelle. Hätte er die Fähigkeit gehabt Schlösser zu knacken, hätte er vielleicht etwas ausrichten können, aber da er das nicht vermochte, war er hilflos. Zudem brach die Dunkelheit herein, er sah immer weniger und konnte bald nur noch Schemen erkennen.
Hin und wieder hörte er, wie jemand sich vor dem Wagen unterhielt, aber das Knirschen der Wagenräder und das Stampfen der Pferde ließen ihn meist nur einzelne Worte erkennen, denen er keinen Sinn entnehmen konnte. Das wenige, das er mithörte, waren belanglose Gespräche und Anweisungen.
Als die Nacht hereinbrach hielt der Wagenzug nicht an, es wurden nur ein paar Laternen angezündet. Unvermittelt sprang ein Diener auf den Wagen auf, reichte Valion kommentarlos ein Stück Brot, einen Holzbecher mit dünnem Wein und eine Decke herein, und verschwand wieder. Den Rest des Abends blieb Valion allein. Er hatte gehofft, dass Tarn nach ihm sehen würde, aber das geschah nicht. Mit einem Gefühl der unendlichen Einsamkeit legte er sich irgendwann auf den Boden, benutzte sein Bündel als Kopfkissen und breitete die Decke über sich aus.

Niemand kam um ihn zu wecken. Als er aufwachte schien die Sonne hell und freundlich durch die Ritzen zwischen den Stoffplanen und brachte den Staub in der Luft zum Funkeln. Wenn der Wagenzug in der Nacht angehalten hatte, hatte er es jedenfalls nicht bemerkt.
Verschlafen richtete er sich auf und rieb sich die Augen. Er fragte sich gerade, wo er etwas zum Frühstück herbekommen würde, als er einen Holznapf bemerkte, der neben ihm abgestellt worden war. Wie sich herausstellte war er mit kalt gewordenem Getreidebrei gefüllt.
Valion gönnte sich den Luxus, halb im Liegen zu essen, immer noch eingepackt in seine Decke. Er dachte an seine Mutter, die ihn die wenigen Tage, die er in seinem Leben krank gewesen war, kaum verhätschelt hatte. Auch sie hatte nur die Zeit gehabt, etwas neben sein Bett zu stellen und war dann verschwunden um die vielen, nicht enden wollenden Aufgaben auf dem Hof zu erfüllen. Aber wenn er so krank war, dass er den ganzen Tag nicht aufstehen konnte, war sie zur Mittagszeit an sein Bett gekommen und hatte ihm gut zugeredet. Er vermisste sie, und er wäre heute lieber von ihr geweckt worden und zeitig aufgestanden, um den Stall auszumisten, als hier angekettet zu liegen wie ein Wachhund. Geistesabwesend tastete er nach der Fessel, die begann, sein Handgelenk aufzuscheuern, und schob sie etwas höher.
Warum war er allein hier? Er war schließlich nicht der einzige Sklave. Auf der anderen Seite war die Unterbringung unwahrscheinlich karg, also war das vielleicht eine Strafe für seinen Widerstand? Oder war in einem der anderen Wagen einfach kein Platz mehr für ihn gewesen?

Er war gerade dabei, die letzten Reste aus der Schüssel zu kratzen, als er plötzlich hörte wie hinter ihm Ketten rasselten. Das Geräusch klang gedämpft, aber doch deutlich und nahe. Irritiert sah er sich um, ob er tatsächlich eine andere Person übersehen hatte, doch es war niemand anderes im Wagen. Das  Rasseln dauerte an, jetzt hustete jemand. „H-hallo?“, rief Valion verwirrt. Die Antwort war ein mürrisches Brummen, gefolgt von einem heißeren: „Ja, hallo. Was zum Teufel willst du?“ Valion sah sich immer noch irritiert um, doch sein Blick blieb an der Vorderseite des Wagens hängen. Die Wand war an dieser Seite massiv aus Holz gebaut, und oben, das sah er erst jetzt, waren Gitter eingelassen, durch die ein wenig Licht fiel. Valion versuchte, sich geistig ein Bild vom Innenaufbau des Wagen zu machen und kam zu dem Schluss, dass er länger sein musste als er anfangs gedacht hatte und hinter der Holzwand eine weitere Unterbringung für andere Sklaven sein musste. 
Unsicher fragte er: „Äh... bist du allein da drüben?“ Die Antwort war ein Schnauben, gefolgt von der abfälligen Frage: „Natürlich, was denn sonst?“ Es folgte explosiver Husten, der nicht enden wollte, dann spuckte der mysteriöse Mitreisende, den Valion immer noch nicht sehen konnte, hörbar aus. „Oh Mann, nicht das schon wieder“, kam es leise von drüben, dann herrschte Stille.
Valion wartete ab, ob sich das Gespräch fortsetzen würde, aber nichts geschah. „Warum bist du da drüben?“, begann er erneut. „Sag mal, bist du neu oder so?“, kam prompt die Gegenfrage zurück, und Valion nickte, nur um zu merken, dass das natürlich völlig sinnlos war. Er und sein Gesprächspartner konnten sich schließlich nicht sehen. Er brauchte aber auch gar nicht zu antworten, weil die Stimme fortfuhr: „Klar, du kannst ja nur neu sein, sonst wärst du ja nicht dort drüben. Na, dann willkommen im Pestwagen.“
„Pestwagen?“ Leichte Panik stieg in Valion auf, aber die Stimme auf der anderen Seite lachte nur, brach erneut in Husten aus, und fuhr dann leicht krächzend fort: „So nennen ihn alle. Keine Angst, das ist nur ein Spitzname. Eigentlich müsste er treffender der Läusewagen heißen. Alle Neulinge kommen erst einmal hier rein, zur Isolation.“ „Iso-was?“ Mit dem Wort konnte Valion überhaupt nichts anfangen. „Isolation. Die Neuen sollen von den anderen Sklaven ferngehalten werden, das ist damit gemeint. Lass mich raten, sie haben dich gestern in diesem Dorf von der Straße gekratzt und hierher gebracht?“ Langsam wurde Valion der Tonfall des Fremden eine Spur zu herablassend. Er überlegte gerade ob er nicht mehr antworten sollte, aber sein Gesprächspartner schien die Stille richtig zu interpretieren und fuhr etwas versöhnlicher fort: „He, nicht sauer sein, so war das nicht gemeint! Wie heißt du eigentlich? Ich bin Jan.“ 
Das klang schon etwas besser, und Valion hatte wohl keine Wahl. Es wäre dumm gewesen, sich gleich am ersten Tag einen Feind statt einen Freund zu machen, zumal sie beide in diesem Wagen allein waren. Solange nicht absehbar war, wann er hier heraus kommen würde, konnte er genauso gut versuchen das Beste daraus zu machen. Deshalb antwortete er: „Ich heiße Valion. Und ja, ich bin wirklich erst seit gestern hier.“ „Da hast du Glück, ich stecke schon etwas länger hier drin. Einzelunterbringung, ganz was Nobles.“, spottete Jan. „Warum habe ich dich eigentlich gestern Abend nicht gehört?“, fragte Valion, „Wenn du gestern schon hier warst, hätte ich das doch merken müssen.“ „Gestern bin ich früh schlafen gegangen, der ganze Krach am Abend davor hat mich wach gehalten. Da war was los, sag ich dir, Gewehrschüsse, Schreie! Keine Ahnung, was das sollte, aber ich konnte kein Auge zu tun und war hundemüde!“ Valion schwieg wohlweislich. Dass der Krach mit den Rebellen zusammenhing und er selbst etwas darüber wusste, wollte er Jan nicht gerade auf die Nase binden. Zumindest nicht, bis er wusste, dass er dem anderen trauen konnte. Er versuchte, vom Thema abzulenken, indem er sagte: „Ehrlich gesagt ist mir immer noch nicht ganz klar, was es mit diesem Wagen auf sich hat.“ 

„Pass auf, das ist so“, begann Jan, der sich in seiner Rolle als Aufklärer gut zu gefallen schien, „Wenn ein neuer Sklave dazu kommt, dann ist ja unklar, ob er vielleicht total verlaust ist, oder, was weiß ich, juckenden Ausschlag hat. Willst du mit so jemand wochenlang auf engstem Raum reisen? Die niederen Sklaven sitzen sich da drüben fast gegenseitig auf dem Schoß, wenn da einer krank ist, sind gleich alle krank.
Also kommt jeder, der neu ist, erst einmal hierher. Wenn ein Lager aufgeschlagen wird, werden alle Neuen – aber meist sind das nur zwei oder drei Leute – einmal komplett untersucht. Das bedeutet, du musst nur noch ein bisschen warten, und dann wirst du einem anderen Wagen zugewiesen. Aber du hast sowieso Glück, wir werden bald ankommen, länger als zwei Wochen sind wir vermutlich nicht mehr unterwegs. Die Plätze sind nämlich so gut wie voll.“ 
Valion lauschte aufmerksam. Jan schien ziemlich von sich selbst überzeugt, aber auch nicht unsympathisch. Er klang nicht viel älter als Valion, aber seine Stimme war rau und unregelmäßig. Er unterbrach sich immer wieder, um zu husten. „Warum bist du hier? Ich meine, warum bist du dort drüben? Du bist immerhin nicht mehr neu?“, fragte Valion schließlich. „Ich sehe einfach zu gut aus, man kann mich nicht auf die Menschheit loslassen.“, scherzte Jan, aber es klang angestrengt. „Nein, im Ernst!“, versuchte Valion es noch einmal, aber Jan antwortete nur: „Das war mein Ernst!“

Gut, wenn Jan es so wollte, würde Valion keine weiteren Fragen darüber stellen. Vermutlich hatte er sich schlicht und einfach erkältet und sollte nicht alle anderen anstecken. Valion wusste aus eigener Erfahrung, dass das schnell gehen konnte. Manchmal liefen auch in seinem Dorf alle mit laufender Nase herum, und der Gedanke, die Menschen, die besonders laut und penetrant niesten für eine Weile wegzusperren lag da nicht fern.
Valion stand auf und versuchte sich die Beine zu vertreten, und dabei fielen ihm weitere Fragen ein. „Wie lange wird es dauern, bis ich zu den anderen komme?“ Jan schien nachzudenken, dann antwortete er: „Vermutlich vier Tage, vielleicht auch fünf. Die Pferde bekommen zwar jede Nacht Zeit zum Ausruhen, aber wir schlagen nicht ständig ein Lager auf wie in deinem Heimatdorf, und nur dann dürfen wir aus dem Wagen raus.“ „Oh.“ So hatte Valion sich das nicht vorgestellt, als Jan sagte, dass er nur noch ein bisschen warten müsste. „Und so lange sitzen wir hier zu zweit fest?“ „Ja, und aus Erfahrung kann ich dir sagen, es wird verdammt langweilig. Hast du schon mal versucht »Ich sehe was, was du nicht siehst« zu spielen, wenn alles braun ist?“ Valion stutzte kurz, dann brachen sie beide in Gelächter aus.

„Ich sehe was, was du nicht siehst, und-“ „Das linke Gitter?“ „-und das ist-“ „Das rechte Gitter?“ „Du musst mich schon ausreden lassen“, sagte Valion etwas genervt. „Das Spiel war eine dumme Idee. Erzähl mir lieber eine Geschichte“, forderte Jan. Er klang so gelangweilt, wie Valion sich fühlte. Sie waren schon den dritten Tag unterwegs ohne längeren Halt. Nachts hielten sie zwar ihre Ruhepause ein, in denen die Pferde vermutlich versorgt wurden und schlafen durften, aber das war auch alles. Die restliche Zeit waren sie immer in Bewegung. Die Diener und Wächter schliefen laut Jan in Schichten, was Valion einleuchtete, da immer wieder andere Diener zum Frühstück und Abendbrot auftauchten um ihnen etwas zu essen zu bringen. Meist gab es sehr einfache, schnell zubereitete Kost, als Luxus obendrauf einmal einen Apfel. Valion dachte an die Äpfel, die seine Familie an Eravier verkauft hatte und fragte sich, ob er gerade einen davon aß.
Jan machte es nicht gerade leichter, indem er Valion vor phantasierte, was es erst alles zu essen geben würde, wenn sie ein Lager aufschlugen. „Wenn wir richtig Glück haben, schlachten sie dann eins der Tiere und braten es am Spieß, das können sie nicht, wenn wir ständig in Bewegung sind. Den Händlern bringen sie alles was sie wollen auf den Tisch, dafür reicht unsere Nachtruhe gerade so. Aber wir armen Schweine kriegen davon entweder nur die Reste oder das, was sich möglichst schnell zubereiten lässt, zum Beispiel diesen suppigen Getreidebrei.“ Valion hatte an dem Brei nichts auszusetzen, aber hier zeigte sich, wie unterschiedlich er und Jan aufgewachsen waren. Sie hatten sich schon nach kurzer Zeit gegenseitig von ihrer Familie, dann von ihren Freunden erzählt, von den Menschen die sie kannten und dem Ort, wo sie wohnten. Nur ein Thema mieden sie beide wie durch eine wortlose Abmachung – sie sprachen nie darüber, wie sie zu Sklaven geworden waren.

Jan war der dritte Sohn eines vermögenden Bauers. In einer Schenkung hatte sein Urgroßvater von seinem Fürst die Freiheit und eine große Menge Land bekommen, nachdem er bei einem Brand im Wohnsitz des Fürsten dessen Frau und Sohn aus den Flammen gerettet hatte. Jans Urgroßvater selbst war an den Folgen seiner Heldentat gestorben, doch sein Sohn und seine Frau nahmen das Geschenk an und mehrten ihren Besitz durch harte Arbeit.
Zwei Generationen später führte Jans Familie ein arbeitsames, aber sorgloses Leben. Sie hatten eine Schar von Knechten, die auf ihrem Hof arbeitete und sogar zwei Dienstmädchen, denen Jan anscheinend unermüdlich nachstellte, wenn man seinen Prahlereien glauben durfte. In den letzten Jahren hatten sie zudem einiges an Vieh angeschafft. Für Jan war es das Mindeste Brot, Milch oder Käse zum Frühstück zu bekommen, genauso stand bei seiner Familie regelmäßig Fleisch auf dem Speiseplan. Valion konnte von derartigem Luxus nur träumen.

Trotzdem mochte er Jan, denn er war trotz seiner manchmal vorlauten Art freundlich und immer zu Scherzen aufgelegt. Außerdem war er sowohl ein guter Erzähler als auch ein guter Zuhörer, obwohl Valion seine Begeisterung für alles was Mädchen betraf eher peinlich fand. Sein Lieblingsthema waren seine angeblichen Eroberungen und was er alles angestellt hatte, um sie für sich zu gewinnen. Valion hatte versucht mit ein paar Geschichten über seine Beziehung zu Nisha und Vara mitzuziehen, obwohl die meisten davon auf harmloses Hände halten und Sterne beobachten hinausliefen. Jan schien es egal zu sein, er wollte einfach nur etwas über die beiden Mädchen hören. Gerade jetzt forderte er: „Los, mir ist langweilig, ich brauche eine Geschichte, die mir die Seele wärmt. Erzähl mir von Nisha!“ Valion kramte in seinem Gedächtnis, um eine passende Geschichte zu finden. „Also, das war zu der Zeit als wir ungefähr elf Jahre alt waren. Da war dieser Ameisenhügel und Nisha-“ „Nein, erzähl mir nochmal wie du sie nackt gesehen hast!“ 

Valion seufzte. Diese Geschichte hatte es ihm besonders angetan, vor allem, nachdem Valion ihm im Detail geschildert hatte, wie sie aussah. Hätte er nur nie davon angefangen! 
Es war erst gestern gewesen, und Jan hatte zu dem Zeitpunkt gerade erzählt, wie er seine Mutter davor bewahrt hatte von einem erschrockenen Pferd totgetrampelt zu werden. Sein Schrecken und die Angst um seine Mutter hatten so lebendig aus seiner Schilderung gesprochen, dass Valion sich an eine ähnliche Geschichte erinnert hatte. Er hatte einfach begonnen zu erzählen. Dass Nisha am Ende der Geschichte völlig durchnässt und nackt war fiel ihm erst ein, als er an der Stelle angelangte und Jan bewundernd pfiff. Danach wollte er alles über Nisha und vor allem ihr Aussehen erfahren.
„Komm schon, tu mir den Gefallen!“, bettelte Jan, „Ich sterbe wenn ich nicht an irgendetwas Angenehmeres als dieses Loch denken kann. Ganz sicher wird mich die Langeweile noch heute hinwegraffen!“ Er lachte und brach wieder in seinen scheinbar nie endenden Husten aus.
„Schon gut“, lenkte Valion ein und erzählte: 
„Nisha und Vara gehen gern an den großen Fluss, er fließt nicht weit von unserem Dorf. Dort wächst das ganze Jahr über eine Menge Brunnenkresse. Wenn man etwas Glück und Zeit hat fängt man dort auch ein paar Fische, aber meistens sind sie klein und nicht der Rede wert. Jedenfalls haben wir fünf uns verabredet. Nisha und Vara wollten Brunnenkresse sammeln, Teron und Gevin wollten angeln, und ich musste wohl oder übel mit den Mädchen pflücken gehen. Meine Mutter liebt Brunnenkresse, und wenn ich nach so einem Ausflug ohne auftauche, gibt es Ärger. Die Abmachung war, dass wir uns alle flussaufwärts treffen würden, wenn wir mit dem Sammeln fertig waren.
Nisha war damals meistens traurig. Ihre Mutter hatte ein totes Kind zur Welt gebracht und war seit dem Tag krank, und alle machten sich große Sorgen. Vara versuchte an dem Tag mit Nisha zu reden, aber Teron machte ein paar dumme Witze, und da hatte sie wohl genug und lief einfach voraus. Teron und Gevin bogen dann ab, um etwas weiter flussaufwärts zu angeln, und wir waren nur noch zu dritt.“ 
„Ich verstehe nicht, warum du dir so eine Gelegenheit nicht zu nutze gemacht hast“, unterbrach Jan, „Allein mit zwei hübschen Mädchen! Die Möglichkeiten! Sag mir nicht, dass du daran nie gedacht hast!“ „Ich bin immer mit Nisha und Vara zusammen“, wehrte Valion ab, „wir kennen uns schon Jahre lang. Ich dachte eher daran, dass ich möglichst schnell zum Angeln wollte. Jedenfalls kamen wir ans Ufer und fingen an zu sammeln, an unterschiedlichen Enden. Und Nisha... sie hatte eine  karge Stelle erwischt. Sie setzte es sich irgendwie in den Kopf, ans andere Ufer zu waten, weil sie meinte, dass wir dort nie sammelten und dass sie ihren Korb sonst nie voll bekäme.
Der Fluss ist nicht tief, aber die Strömung ist in der Mitte sehr stark. Es gibt ein paar Sandbänke, aber auch ein paar große, überwachsene Steine, auf denen man leicht ausrutscht. Vara rief noch, dass es zu gefährlich sei, aber Nisha wollte nicht umkehren, sie ging einfach weiter.“ 

Valion hielt einen Moment inne. Er erinnerte sich gut daran wie sie immer weiter gewatet war. Ihre Entschlossenheit hatte etwas an sich gehabt, das er kaum beschreiben konnte. Es war, als hätte sie die Welt herausgefordert, ihr das Schlimmste anzutun, dass der Fluss nur versuchen sollte, sie mit  sich fortzureißen. Sie hatte sich nicht umgedreht, hatte niemand zugehört, sie war einfach nur stumm durch das Wasser gegangen, mit geradem Rücken und ohne Zögern.
„Und dann... in einem Moment stand sie da, im nächsten Augenblick strauchelte sie und war weg. Die Strömung hatte sie umgerissen und sie wurde einfach weg getragen. Vara wollte ihr sofort nach springen, sie hätte es auch getan wenn ich sie nicht festgehalten hätte! Sie kann nicht besonders gut schwimmen. Ich ...“ Valion stockte. 
So oft er die Geschichte auch erzählte, dieser Moment kehrte jedes Mal viel zu bildlich zu ihm zurück. Nisha, verschwunden im Wasser. Vara zerrte an ihm. Tausende Möglichkeiten, eine schrecklicher als die andere, hatten ihn gelähmt und für einen Moment jeden vernünftigen Gedanken verbannt. Alles in ihm hatte danach geschrien, sich umzudrehen und einfach wegzulaufen. Er entschied, dass er die Geschichte jetzt zum letzten Mal erzählt hatte. 
Etwas unwirsch fuhr er fort: „Ich hab Vara gesagt, dass sie laufen und Teron und Gevin holen soll, und dann bin ich ins Wasser und los geschwommen... getaucht... es dauerte ewig bis ich sie fand. Oder vielleicht kam es mir nur ewig vor. Ich sah erst gar nichts, überall war aufgewühlter Schlamm, Wasserpflanzen, ein paar Fische, aber dann war da ihr Unterrock. Er war weiß, verstehst du, und ich konnte ihn im Wasser schimmern sehen. 
Irgendwie griff ich sie und zog sie nach oben, und zerrte sie zurück an den Rand. Sie spuckte Wasser, aber ich glaube sie hatte es trotz des Schrecks geschafft die Luft anzuhalten, als die Strömung sie mitriss, sonst wäre sie vermutlich bewusstlos gewesen. Sie konnte aus eigener Kraft aufstehen, und sie sagte immer wieder, dass sie nicht mehr gewusst hatte wo die Oberfläche war. 
Ich half ihr das Ufer hochzusteigen, und ich fragte sie ob es ihr gut ging. Sie wusste es selbst nicht genau, aber sie hatte Schmerzen und zog ihr Oberkleid aus. Dann sahen wir, dass ihr Unterrock und ihr Hemd an der Hüfte völlig rot war. Ich glaube, wir waren beide völlig in Panik. Sie zog sich sofort das Hemd und den Rock aus. Im Grunde war es gar nicht so schlimm, wie es aussah. Sie hatte einen riesigen blauen Fleck quer über den Bauch und die Hüfte, dort muss die Strömung sie gegen einen der Steine geworfen haben. Sie hatte sich überall die Haut aufgeschürft, aber die Verletzungen waren nicht tief und bluteten gar nicht so sehr. Aber es sah nach viel mehr Blut aus, durch das Wasser verlief alles. Ich dachte im ersten Moment sie würde verbluten! Also band ich ihren Unterrock als Verband darum, so straff wie ich konnte, weil mir einfach gar nichts anderes einfiel, und dann... naja, standen wir da, pitschnass, völlig allein.“ Um jeglichen Kommentar vorzubeugen, fügte Valion hinzu: „Und ja, sie war also komplett nackt, obwohl mir das in dem Moment herzlich egal war!“
Jan seufzte. „Und jetzt kommt die Stelle, die mich auf ewig traurig stimmen wird. Komm schon, zerstör' meine Träume, Valion! Was geschah dann?“ „Vara und Gevin kamen einen Moment später angelaufen, und Vara zog als Allererstes ihren eigenen Unterrock aus und Gevin sein Hemd, damit Nisha überhaupt irgendetwas Trockenes hatte, und dann sind wir gemeinsam zurück gegangen. Zum Glück kamen uns auf halbem Weg Teron und Nishas Vater mit Decken entgegen. Nisha wurde gleich doppelt eingewickelt, und ihr Vater trug sie dann nach Hause, und zwei Tage später ging es ihr schon besser, obwohl sie noch wochenlang Bauchschmerzen hatte.
Und das war die Geschichte, wie ich Nisha gerettet habe.“ 

Er war froh, dass die Geschichte hier endete, zumindest hatte er sie abgebrochen, als Jan begann ihn über Nisha auszufragen. Er hätte noch viel mehr erzählen können. Über die Dinge, die Nisha zu ihm gesagt hatte. Der Grund, warum sie losgelaufen war. Vielleicht, ein anderes Mal, würde er den fehlenden Teil hinzufügen, aber nicht jetzt. Nicht so.
„Ich mag die Geschichte“, meinte Jan, „Heldenmut, eine Dame in Nöten... so einfach müsste die Welt immer sein, wie ein Märchen mit einem guten Ende.“ „Unsinn“, wehrte Valion ärgerlich ab, „Wir hatten nur Glück! Nisha hätte sich viel schwerer verletzen können. Wir hätten beide ertrinken können! Das wäre nicht besonders märchenhaft gewesen.“ Leiser fügte er hinzu: „Das war es von Anfang an nicht.“ Wenn Jan ihn gehört hatte, dann zeigte er es nicht, denn er antwortete nicht mehr. 
Für eine ganze Weile schwiegen sie, jeder versunken in die eigenen Gedanken. 

Nachdem die Wagen an diesem Abend still standen, hielt die Langeweile wieder Einzug. Jan und Valion waren zwischendurch die Gesprächsthemen ausgegangen, und Valion wünschte sich irgendeine Ablenkung. Er erwog ernsthaft, Jan darum zu bitten eine Geschichte zu wiederholen, selbst wenn sie sich nur um Mädchen drehte, als jemand auf ihren Wagen zukam. Das Abendessen, kalte Suppe und ein Stück Brot, hatten sie schon vor einer Weile bekommen. Valion war zunächst überzeugt, dass es sich um einen Diener handelte, der nur zufällig auf den Wagen zu kam und gleich einen anderen Weg einschlagen würde, aber die Schritte kamen beharrlich näher.
Im ersten Moment fiel Valion nur eine Person ein, und der Gedanke brachte ihn zum Lächeln: Tarn! Er hatte ihn seit dem Abreisetag nicht mehr gesehen. Ob er endlich vorbei kam, um nach ihm zu sehen? Erwartungsvoll setzte Valion sich auf und beobachtete den Eingang des Wagens, bis ihm siedend heiß einfiel, dass es genauso gut Eravier sein könnte, denn auch der hatte sich bisher nicht blicken lassen. Gleich darauf verwünschte er sich für den Gedanken. Wenn er eins nicht wollte, dann an Eravier denken, geschweige denn ihn durch einen Gedanken herbei zu zaubern.

Zum Glück war es tatsächlich Tarn, der mit einer Laterne und seiner Tasche den Wagen betrat. Er sah müde aus, lächelte aber als er Valion sah. „Hallo Valion, lange nicht gesehen. Wie geht’s der Schulter?“ Valion bewegte sie vorsichtig. Die Schmerzen waren zwar sein täglicher Begleiter, aber gleichzeitig wurden sie zu einem Murmeln im Hintergrund, wie das Rauschen von Bäumen oder der Gesang der Vögel. Wenn er seine Schulter nicht in einem unbedachten Moment falsch belastete, konnte er sie die meiste Zeit ignorieren. Und in der Aufregung, Tarn wiederzusehen und  Neues zu erfahren hatte er sie einen Moment sogar völlig vergessen. „Es ist besser... ein wenig zumindest. Eigentlich brennt es die ganze Zeit über.“ Scherzhaft ergänzte er: „Aber da ich hier kaum wild durch die Gegend springen kann, weiß ich nicht wie schlimm es sein könnte.“ Tarn schmunzelte. „Anscheinend färbt Jan auf dich ab“, stellte er fest und wies mit einem Kopfnicken auf die Wand am Ende des Wagens, „Das ist doch ganz sein Umgangston.“ „Kein bisschen, Tarn! Er war schon immer so! Ich war ein leuchtendes Vorbild der Tugend, wirklich!“, schallte es aus dem anderen Wagenteil herüber, und Tarn lachte. 
Valion schaute etwas verdutzt, bis ihm klar wurde, wie dumm er war. Natürlich musste Jan und Tarn sich kennen. Jan schien schon länger mitzureisen, und vermutlich wurde sein Gesundheitszustand überwacht, damit er, sobald er wieder gesund war, zu den anderen Sklaven zurückkehren konnte.

Tarn legte inzwischen alles bereit, und Valion zog soweit es ging das Hemd aus, das er seit Tagen nicht hatte wechseln können. Er hatte eigentlich ein weiteres Hemd bei sich, aber wie sollte er es anziehen, wenn er eine Fessel ums Handgelenk trug? Er konnte das Hemd nur über den Kopf ziehen und dann am gefesselten Arm entlang schieben. Vermutlich begann er schon zu stinken, und er hätte Tarn beinahe gesagt, dass er lieber ein anderes Mal wiederkommen sollte. Doch Tarn schien es nicht zu stören, er nahm die Binden mit der gleichen ruhigen Gelassenheit wie zuvor ab, prüfte die Wunde, tupfte sie vorsichtig ab. „Wie sieht es aus?“, fragte Valion. „Die Heilung verläuft gut. Ich werde keinen Verband mehr auflegen, es ist besser, wenn die Wunde sich jetzt von selbst schließt. Es wird vermutlich eine ganze Weile jucken. Wenn du klug bist, lässt du die Finger davon, sonst könnte es sich entzünden.“ Valion nickte. Er brannte darauf, Tarn nach Details über den Wagenzug auszufragen oder mehr über die Rebellion zu erfahren, doch ihm war bewusst, dass Jan die ganze Zeit in Hörweite war. Tarn schien zu verstehen, was ihn bekümmerte, denn er sagte leise: „Morgen werden wir uns unterhalten. Ich habe etwas ausgehandelt, um dich für einen Moment hier heraus zu holen.“ Valion nickte lächelnd. Er konnte es jetzt schon kaum erwarten, endlich für einen Moment an die frische Luft und ins Sonnenlicht zu kommen. Lauter erklärte Tarn, während er alles zusammenpackte: „Für heute bin ich bei dir fertig. Ich werde noch nach Jan sehen, dann muss ich weiter. Ich wollte schon eher kommen, aber eine Stute hat sich am Fuhrwerk verletzt und brauchte meine Betreuung. Außerdem habe ich mich beinahe ununterbrochen mit Karvash streiten müssen, der unbedingt wollte, dass das arme Ding sofort wieder Karren zieht. Ich bin ziemlich erledigt.“ Tarn nickte ihm noch einmal zu, dann sprang er vom Wagen und war aus seinem Sichtfeld verschwunden.

Valion lauschte Tarns schweren Schritten, als dieser ihr Quartier umrundete und dann eine hölzerne Tür aufschloss, die wohl zu Jans Zelle führen musste. Sie begannen sich ungezwungen zu unterhalten, und Valion beneidete Jan erneut um dessen Ungewzungenheit, denn der begrüße Tarn  frech mit: „Na, alter Quacksalber, endlich Zeit für die Armen und Kranken?“ „Was tut man nicht alles, um sich beliebt zu machen.“ Valion lächelte, er konnte sich Tarns Schmunzeln bei dieser Erwiderung bildlich vorstellen. Ernster fuhr Tarn fort: „Wie geht es dir, Jan? Irgendeine Verbesserung?“ „Nicht wirklich, hört man ja vielleicht. Ich huste mir die schwarze Seele aus dem Leib.“ Jan versuchte unbekümmert zu wirken, doch in seiner Stimme schwang plötzlich Angst mit. „Das Fieber und die Schwäche halten an?“ „Ja.“ „Weniger Auswurf?“ „Leider nein. Ehrlich gesagt...“ Den nächsten Satz murmelte er nur. Es entstand Stille, dann sagte Tarn ernst: „Ich muss dir wahrscheinlich nicht sagen, dass das kein gutes Zeichen ist.“ „Ich gebe mir wirklich Mühe gesund zu werden! Ich brauche-“, begann Jan verzweifelt, aber Tarn unterbrach ihn. „Schon gut. Zieh dein Hemd aus, ich werde deine Lunge abhören. Vielleicht bist du auch schon auf dem Weg der Besserung, das Blut kann auch eine einmalige Sache sein.“
Valion stockte der Atem. Bluthusten? Er hatte gewusst, dass Jan krank war, aber er hatte bisher nicht gedacht, dass es so schlimm um ihn stand. Ein weiterer, herzloser Gedanke folgte gleich darauf: War es möglich, dass Jan ihn, selbst über diese Entfernung, mit seiner Krankheit ansteckte? Er verwarf den Gedanken sofort. Tarn war dort drüben und redete mit ihm, demzufolge konnte was auch immer er hatte nicht derartig ansteckend sein. Und selbst wenn, es war jetzt zu spät.

Valion hätte fast nicht reagiert, als Jan „He, Valion!“ zu ihm herüber rief. „Was ist denn?“, fragte er und versuchte, unbekümmert zu klingen. „Kennst du irgendjemand, der stricken kann? Dieser Mann hat kalte Ohren, jemand sollte ihm eine Mütze schenken! Bis dahin sollte man ihm verbieten, Menschen abzuhören! Kälteschocks sind nicht förderlich für die Gesundheit!“ Valion musste trotz seiner Sorge lachen. „Du sollst ruhig und gleichmäßig atmen, nicht schwatzen und die Temperatur meiner Ohren messen“, kommentierte Tarn trocken, was Valion nur noch mehr zum Lachen brachte, aber gleichzeitig fühlte er einen Stich unwillkommener Eifersucht. 
Es war unbegründet und er schämte sich dafür – vermutlich hatte Jan einen Freund genauso dringend nötig wie Valion. Sie waren beide erst seit kurzem von ihrer Heimat und ihren Verwandten getrennt, und es gab niemand, dem sie vertrauen konnten. Jeder, der Valion bis jetzt begegnet war, war entweder furchteinflößend wie Eravier, oder gleichgültig wie die endlose Schar von Dienern und Knechten, die um sie herum arbeitete und sie nicht einmal wahrzunehmen schien. Die einzige Ausnahme bisher war Tarn, und umso mehr wünschte Valion sich, dass seine Aufmerksamkeit nur ihm selbst galt. Er brauchte selbst eine Schulter zum Anlehnen, er wollte sie nicht mit dem viel charmanteren, witzigeren Jan teilen, der es mühelos schaffte Tarn zum Lachen zu bringen. Das Gefühl war ihm nicht fremd, er hatte es zweimal gespürt, als Mila und Arinda auf die Welt gekommen waren und alle Aufmerksamkeit beanspruchten, aber jetzt, auf sich allein gestellt, war es heftiger und schwerer zu ertragen.
Diese Eifersucht verfolgte ihn noch, als Tarn sich verabschiedet hatte, und er war froh, dass auch Jan den Rest des Abends einsilbig war. Er hätte nicht gewusst, was er sagen sollte, wenn Jan ihn fragte, warum er keine Lust auf Unterhaltungen hatte.
Schließlich fielen sie beide in einen unruhigen Schlaf.

Es war früher Morgen, als Valion aufwachte. Irgendjemand hustete ununterbrochen, gequält und keuchend. Valion rappelte sich auf, noch nicht ganz wach, aber im nächsten Moment wusste er, dass es natürlich nur Jan sein konnte. Er hatte schon öfter Hustenanfälle gehabt, aber dieser war besonders schlimm. Seine Lungen schienen sich nicht beruhigen zu können, und wenn er Luft holte, klang es wie das gequälte Luftholen eines Ertrinkenden. Valion sprang auf, wobei seine Schulter aufheulte und die Handschelle sich in seinen Arm grub, und rief entsetzt herüber: „Jan? Jan! Alles in Ordnung?“ Das Husten und Keuchen dauerte an, und Valion überlegte fieberhaft, wie er Tarn herbei rufen könnte. Wenn es überhaupt jemand gab, der Jan helfen konnte, dann er. Nur dass Valion keine Ahnung hatte, wo er jetzt war und ob er nicht gerade schlief. Valion murmelte einen Fluch und schrie dann aus vollem Hals: „He! Wir brauchen Hilfe!“ Niemand antwortete, die Räder knirschten einfach monoton über den Boden und der Wagen fuhr weiter. Valion wollte zu einem weiteren Ruf ansetzen, aber Jan keuchte plötzlich „Halt bloß die Klappe!“, bevor er in einen neuen Hustenanfall verfiel. Das Keuchen und Husten schien abzunehmen, trotzdem fragte Valion besorgt nach: „Bist du ganz sicher?“ Die Antwort war nur ein genervtes Schnauben.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Jan wieder sprechen konnte. „Verdammt“, fluchte er endlich leise, und Valion hörte wie seine Schlafpritsche knarrte, als er sich erhob. „Jan? Geht es dir besser?“, fragte Valion besorgt. „Ja ja, halbwegs. Bitte ruf niemand her, verstanden?“ „Aber du klangst als würdest du gleich ersticken!“, wandte Valion irritiert ein, „Ich wollte doch nur nicht-“
„Völlig egal!“, schnitt Jan ihm das Wort ab, und er klang gleichzeitig wütend und panisch. Seine Stimme wurde immer lauter und heftiger, als er sagte: „Hol. Niemand. Her. Nie! Ich kann mir nicht leisten, dass Tarn her kommt und mir endgültig bescheinigt, dass ich zu krank zum Reisen bin! Ich bin jetzt schon kurz vor einem Rauswurf!“ Valion schüttelte nur verwirrt den Kopf. „Aber warum denn? Sie müssen dich doch mitgenommen haben, und-“ „Nein! Ich weiß nicht, was bei dir los war, bei dem ganzen Lärm, den du verursacht hast, aber bei mir war es anders! Sie haben mich nicht einfach mitgenommen, verstehst du? Ich habe bezahlt, um hier zu sein, und zwar einen ganzen Haufen Geld!“ 
Valion lauschte mit offenem Mund und kam sich vor wie ein Idiot. Das ergab keinen Sinn. Warum sollte jemand hier sein wollen? Und warum ausgerechnet Jan, mit seinem sorglosen Leben, seinen Liebeleien, seiner Familie? „Aber... aber es ging dir doch gut. Euer großer Hof, eure ganzen Knechte... warum wolltest du das aufgeben?“, stammelte er. Jan lachte nur, hustete, und lachte weiter. „Sie sind alle krank geworden, noch vor mir“, erklärte er lachend, aber es klang gleichzeitig, als wäre er den Tränen nahe. „Wir haben Vieh gekauft, von dem wir dachten es wäre gesund, aber dann... zuerst wurden die Kühe krank. Dann wurde mein Bruder krank und starb, und dann wurden fast alle Knechte krank und niemand wollte mehr zu unserem Hof... und alles lag brach.“ Das Gelächter brach um in Schluchzen, und Valion wünschte sich, er könnte die Wand zwischen ihnen nieder reißen. Wie sollte er Jan trösten, wenn er nur seine Stimme hören konnte? „Jan...“, begann er, aber die Stimme versagte ihm. Vielleicht gab es jemand, der wortgewandt genug war, allein mit Worten das zu tun, wofür man eigentlich eine Umarmung benötigte. Aber Valion war es nicht.

„Wir haben... die Kühe getötet... verbrannt und einen Haufen Geld verloren... aber es war zu spät“, erklärte Jan abgehackt. „Am Ende flohen fast alle vom Hof... krank oder gesund.“ Er schniefte, atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, dann sagte er: „Zu dem Zeitpunkt war ich noch nicht krank. Aber ich sah keine andere Möglichkeit als wegzugehen, ich kratzte alles zusammen was noch da war und hab die Händler angebettelt, dass sie mich mitnehmen. Ich will das Geld zurück verdienen. Ich kenne den Preis für einen Sklaven, weißt du? Wenn mich irgendjemand kauft, kann ich das Geld meiner Familie schicken, und sie können den Schaden wieder gut machen. Sie könnten von vorn anfangen! Es kann doch nicht alles verloren sein, verstehst du? Das ist das Erbe meines Urgroßvaters... meines Großvaters...“ Jan atmete schluchzend aus, aber er schien jetzt ruhiger, so als hätte das Aussprechen seiner Geschichte ihm etwas Frieden gegeben. Aber kurz darauf setzte der bellende Husten wieder ein, tief aus der Brust. Er röchelte, spuckte und war einen Moment still.
Er jagte Valion einen Schauer über den Rücken, als er leise sagte: „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.“

Nach Jans Geständnis fand Valion keine Ruhe. Er lag flach auf dem Boden, fühlte den groben Holzboden des Wagens unter sich und die scheuernde, eiserne Fessel um seine Hand und versuchte Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Zum ersten Mal seit er Jan kennen gelernt hatte fühlte er sich wieder einsam und seltsam abgelöst von der Realität.
Jans Anwesenheit war ein Trost für ihn gewesen. Es war eine Ablenkung von dem, was ihn erwartete und eine Erinnerung daran, was er zurück gelassen hatte. Sie hatten sich gegenseitig von ihren Familien und Freunden erzählt und sich dadurch näher bei ihnen gefühlt. Doch die Wahrheit war, dass sie sich stattdessen mit jedem Tag weiter von ihnen entfernten und völlig machtlos dagegen waren.


Er war hilflos, in jeder Hinsicht. Hätte er die Chance gehabt, wäre Valion in diesem Moment weggelaufen. Das Gefühl, nicht an diesen Ort zu gehören und die Angst, niemals nach Hause zurück zu kehren, waren übermächtig. Er stellte sich vor, wie er ein Pferd stahl und sich irgendwo versteckte, vielleicht als Knecht bei einem Bauern, bis niemand mehr nach ihm suchte und er heimkehren konnte. Er wollte sich in dieser Vorstellung verlieren und alles um sich herum vergessen, aber er konnte es nicht. Es gab kein Entkommen, und seltsamerweise war die Verantwortung eine stärkere und schwerere Fessel als die Handschellen aus Eisen. Wenn er geflohen wäre, dann wäre Eravier verrückt genug gewesen seine ganze Familie dafür büßen zu lassen. Je länger er darüber nachdachte, desto lebhafter und schrecklicher wurde seine Vorstellung davon, was er ihnen antun konnte, und umso weiter rückten seine Fluchtpläne in die Ferne.


Gleichzeitig war er nicht bereit, aufzugeben. Vielleicht sah er jetzt noch keinen Weg zu entkommen, aber er würde nicht immer angekettet in einem Wagen liegen, abgeschnitten von Hilfe und ohne eine Ahnung, wo er sich befand. Tief in seinem Inneren war er sich sicher, dass der Moment kommen würde, an dem sich ihm eine echte Chance offenbarte.

Aber wenn er schon nicht fliehen konnte, konnte er denn wenigstens Jan helfen? Er dachte darüber nach, ob er es irgendwie schaffen würde Tarn davon zu überzeugen, dass Jan bei ihnen bleiben musste, und wusste doch, dass das nicht möglich war. Er wusste nicht wie Jan aussah, aber seine Stimme klang mit jedem Tag kraftloser und erschöpfter. Niemand würde sich davon überzeugen lassen, dass er dabei war seine Krankheit zu überwinden. Wenn sich keine Besserung einstellte, waren Jans Tage als Sklave vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hatten, und er hatte keine Chance, den Hof seiner Familie zu retten. 


Gleichzeitig war es für Valion unbegreiflich, dass Jan sich zu diesem Schritt entschlossen hatte. Er hatte sich freiwillig entschieden Sklave zu werden, aber wusste er, was ihn erwartete? Valion hatte keine Vorstellung davon, und er schaffte es nicht einmal, sich selbst zu zwingen darüber nachzudenken, geschweige denn mit jemand darüber zu sprechen. Er wusste, dass er einer der Sklaven war, die für sexuelle Dienste gekauft wurden, aber abseits davon ließ ihn jegliche Vorstellungskraft im Stich. Jan auf der anderen Seite hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er Erfahrungen mit Mädchen hatte, und Valion wünschte sich nichts mehr, als an seinen Erfahrungen teilzuhaben. Vielleicht war das ein egoistisches Gefühl, aber er wollte, dass Jan bei ihm blieb, mit ihm redete, ihn mit seinen Scherzen aufheiterte.

Er hätte gern mit Jan darüber gesprochen. Nicht nur das oberflächliche Geplauder, mit dem sie sich die Zeit vertrieben und sich gegenseitig ablenkten, sondern ein ernsthaftes Gespräch darüber, was er dachte und ob er eine Möglichkeit sah, dass sie zusammen blieben. Aber Jan schien zu schlafen, schon seit einer ganzen Weile. Manchmal hustete er leise im Schlaf, aber die schweren Anfälle blieben diesmal aus. Valion wagte zu hoffen, dass Tarn Recht behielt und Jan wirklich auf dem Weg der Besserung war. Vielleicht handelte es sich nur um ein letztes Aufflackern der Krankheit, und der Schlaf würde ihn heilen?

So lag Valion eine lange Zeit da und dachte nach, bis die Wagenkolonne auf einmal hielt. Irritiert setzte er sich auf und versuchte die Zeit einzuschätzen – wenn er sich nicht völlig täuschte würde es bis zum Sonnenuntergang noch eine Weile dauern. Warum hielten sie diesmal so früh? War das schon der geplante Ort, an dem sie ihr nächstes Lager aufschlagen wollten? Er wollte mit Jan darüber sprechen, dann fiel ihm ein, dass er schlief und beschloss, ihn jetzt nicht zu wecken. Stattdessen lauschte er noch aufmerksamer als sonst auf die Schritte rings um die Wagen, das Stampfen der Pferde und die anderen Geräusche der Diener und Wächter. Doch alle schienen ihrer normalen Arbeit nachzugehen.


Dann fiel ihm ein, dass Tarn ihm versprochen hatte, heute wiederzukommen und ihn aus dem Wagen herauszuholen. Von einem Moment auf den anderen war Valions trübsinnige Stimmung wie weggeblasen und wurde von Aufregung ersetzt. Er hatte keine Ahnung, was Tarn vorhatte, aber alles war besser, als tatenlos hier herum zu sitzen. Im Grunde war es sogar gut, dass Jan schlief, er würde sonst wohl für den Rest des Tages allein bleiben und sich langweilen, wenn Valion nach draußen ging. Sollte er schlafen und sich ausruhen, flüsterte ein kleiner und gemeiner Teil in ihm, dann konnte er auch nicht stören.

Endlich, nach endlosem nervösen Warten, näherten sich Schritte und Tarn betrat mit einem Wächter im Schlepptau den Wagen. Valion sprang sofort auf und streckte dem Wächter ungeduldig die Hand entgegen, ohne ihn auch nur anzusehen. Er wollte nur noch nach draußen. Der Wächter runzelte die Stirn und schnaubte ungehalten: „Nicht so schnell, Bürschchen“, aber Tarn warf ihm einen warnenden Blick zu. Für einen Moment schien es, als wolle der Wächter darauf beharren Valion nicht zu befreien, doch dann gab er nach und schloss die Handschelle mit einem verächtlichen Blick auf. Er ließ es sich jedoch nicht nehmen, Valion einen groben Stoß in den Rücken zu versetzen, der ihn Richtung Ausgang stolpern ließ. Doch im gleichen Moment fühlte Valion Tarns stützende Hand auf der Schulter, die ihn festhielt und sanft weiter nach draußen führte.

Obwohl es später Nachmittag war musste Valion seine Augen abschirmen, als er ins Licht trat.  Er wäre fast gestrauchelt, so desorientiert war er, und ihn beunruhigte das Wissen, dass nur zwei Tage in der Halbdunkelheit des Wagens einen solchen Einfluss auf ihn hatten. Doch Tarn verstärkte den Griff um seine Schulter und hielt ihn fest, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnten. Erst jetzt hatte er Gelegenheit, die Umgebung zu betrachten.
Vielleicht war es seiner langen Isolation im kargen Inneren des Wagens geschuldet, aber im ersten Moment war er von der Schönheit der Landschaft überwältigt. Vor ihm erstreckten sich, nur durchbrochen von der breiten, staubigen Landstraße, weite, satt grüne Wiesen, die vom Wind der Ebene in wogende Bewegung versetzt wurden. In der Nähe wurde die Szenerie von einem kleinen Wäldchen aufgelockert, hinter dem er eine gemächlich grasende Schafherde ausmachte. In weiter Ferne, dort wo die Hügel sich zu einem breiten Tal absenkten, sah er einen gewundenen Fluss, der im Schein der Nachmittagssonne funkelte. Eine sanfte Brise streichelte Valions Wangen und trug den Geruch von Gras und Sonnenschein zu ihm, und für einen Moment schloss er die Augen und atmete nur tief ein.


Er hätte endlos so dastehen können, aber natürlich war er nicht allein, und er ließ Tarn warten. Schnell öffnete er die Augen wieder und murmelte hastig: „Tut mir leid, ich wollte nur-“ „Schon gut.“ Tarn lächelte, aber er sah auch besorgt aus und griff nach Valions Arm, der jetzt im Sonnenlicht deutliche Spuren der Fesseln zeigte. Die Haut war gerötet und abgeschürft. „Darum sollten wir uns kümmern“, sagte Tarn, aber Valion schüttelte nur ungeduldig den Kopf. Nicht jetzt. Was auch immer sie vorhatten, er wollte gleich damit anfangen. „Können wir gehen?“, fragte er leise. Tarn zögerte, doch dann nickte er und gab die Richtung vor.

Der Zug der Wagen war zu einem großen Halbkreis aufgestellt. Im Schutz dieses Halbkreises herrschte der meiste Betrieb, Feuer wurden entzündet, Lampen bereitgestellt, und der Duft von Speisen und Kräutern wehte herüber. Valion hatte angenommen, dass sie in das Innere dieses Halbkreises vordringen würde, doch stattdessen entfernten sie sich davon. Er erhaschte nur einen kurzen Blick auf das geschäftige Treiben, dann verschwand alles aus seiner Sicht.
Sie überquerten eine der grünen Weiden und gingen geradewegs auf die Gruppe Zugpferde zu, die inzwischen abgespannt worden war.

Die Tiere wurden gerade trocken geführt, wie Valion erkannte. Es waren Kaltblüter, robust, gesund und mit gut gepflegtem Fell. Die Wiese, auf die sie geführt worden waren, war von dichtem weichen Gras bewachsen und wurden auf einer Seite von dem kleinen Waldstück begrenzt, dass er schon zuvor bemerkt hatte. Es bestand aus einer Reihe großer, alter Bäume und war unregelmäßig mit dichtem Gebüsch durchsetzt. Die Knechte nutzten den Schatten, um ihre Vorbereitungen zu treffen. Um die Pferde nach ihrer Abkühlung zu versorgen legten sie Striegel, Bürsten und Decken bereit.


Doch auch die Pferde selbst waren zunächst nicht ihr Ziel, sondern ein vierschrötiger Mann, um den sich der ganze Trubel konzentrierte. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt, hatte schütteres Haar, das grau oder auch braun sein konnte, ein vom Wetter gegerbtes Gesicht und ziemlich speckige Kleidung. Gelassen stand er im Schatten des größten Baumes wie ein General vor seiner Truppe und rief den Knechten immer wieder Anweisungen und Ermahnungen zu. Als er Tarn sah, grinste er zufrieden und rief: „Ah, der rechte Mann zur rechten Zeit! Ich will, dass du dir das Hinterbein von dem Dicken da hinten ansiehst!“ Er deutete auf einen großen, schwarzen Hengst, dessen Stirn und Flanken mit weißen Fellzeichnungen übersät waren, die ihn aussehen ließen, als hätte ihn jemand mit Mehl bestäubt. „Mati hat schon wieder einen unsicheren Tritt?“, fragte Tarn, und der Mann nickte bestätigend. „Ich weiß nicht, was das mit ihm noch werden soll! So ein robuster Gaul, er hat heute wieder den schwersten Wagen fast allein gezogen und keinen Mucks gemacht. Aber gleich als wir ihn auf die Weide führten hatte er wieder dieses Humpeln. Ich mache mir Sorgen, wie das weitergehen soll. Du hast wirklich nichts gefunden beim letzten Mal?“ „Nein, es gab keine Wärme und keine Schwellungen.“ „Na, wir werden das beobachten. Du schaust ihn dir erst einmal an. Wir spannen ihn morgen vor einen leichteren Wagen, da kann er sich etwas ausruhen, vielleicht hat es sich damit schon erledigt. So, wen bringst du mir hier eigentlich mit, Tarn?“, fragte der Mann und nickte Valion zu. Der hatte gar nicht damit gerechnet angesprochen zu werden und zuckte scheu zusammen. Er hatte den Ausführungen der beiden Männer gelauscht und eigentlich angenommen, dass sein Freigang bedeutete, dass er Tarn bei seiner Arbeit mit den Pferden beobachten durfte. Dass er zu einem bestimmten Zweck hier war, hatte er bisher nicht erwartet.


„Das ist Valion, unser Neuzugang“, stellte Tarn ihn vor, „Und Valion, das ist Jefrem. Er ist für die Pferde verantwortlich.“ „Ganz richtig, das ist meine Aufgabe, seit über zehn Jahren!“, bestätigte Jefrem stolz. „Alles hier hört auf mein Kommando, selbst die sturen Maulesel da drüben!“ Er wies mit einem gehässigen Grinsen auf die Knechte. „Also, was soll das junge Gemüse hier? Er wurde mir ja wohl kaum als neue Hand angeschafft, oder?“ „Nein, eigentlich wollte ich ihn nur für eine Weile aus dem Pestwagen herausholen“, erklärte Tarn, „Und Joshanna sollte doch eigentlich ausgeruht genug sein, um einen kurzen Ausritt zu wagen.“
Jefrem runzelte die Stirn, er schien damit überhaupt nicht einverstanden zu sein. „Das hier ist kein Zirkus und keine Mietstation, das sollte dir wohl klar sein“, brummte er, „Das kostet dich einen Gefallen!“ Tarn antwortete unbeeindruckt: „Von denen sollte ich inzwischen eine ganze Menge haben, oder?“ „Aber wir kommen ganz mit dem Zeitplan durcheinander! Du weißt, dass wir morgen noch eine Etappe vor uns haben, bevor wir das Lager aufschlagen!“, protestierte Jefrem weiter. „Ich... ich könnte auch aushelfen!“, warf Valion ein. 


Er hatte sich erst gar nicht einmischen wollen, aber die Aussicht, auch nur ein paar Minuten auf einem Pferd zu sitzen und in Ruhe die letzten Sonnenstrahlen zu genießen stachelten ihn an. „Nicht, Valion“, mahnte Tarn, aber Jefrem hob die Hand. „Moment, Moment, ich habe mich wohl verhört? Du Lümmel weißt, wie man mit Pferden umgeht?“


Eigentlich nur ein bisschen, hätte Valion am liebsten gesagt, aber tapfer erwiderte er stattdessen: „Ja.“ Jefrem betrachtete ihn nachdenklich mit schräg gelegtem Kopf. „Hm hm, hab mir schon gedacht, dass du kein fauler Aristokrat sein kannst. Könnte ja gut sein, dass du tatsächlich schon einmal ein Pferd versorgt hast.“ Tarn wollte etwas sagen, aber Jefrem brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und blieb auf Valion fixiert. „Na gut, dann sag’ mir mal, was ist denn jetzt mit den Pferden zu tun?“ Valion kramte verzweifelt in seinem Gedächtnis. „Nun, sie sind verschwitzt und staubig, man muss sie abreiben, striegeln... das Fell bürsten... die Hufe auskratzen und sehen, ob sie sich verletzt haben. Vielleicht haben sie geschwollene Beine, oder sich am Geschirr aufgerieben. Aber ich denke, das würde eher Tarn sich ansehen, oder?“ Das klang alles ziemlich vage, aber Valion hoffte, dass es reichte.


Jefrem nickte zumindest zustimmend und sagte: „Na, das war ja gar nicht so dumm. Pass auf Tarn, ich mache dir ein Angebot: Du schaust dir die Pferde an, während der Kleine hier ein bisschen mithilft, und danach gebe ich euch zwei Pferde und ihr könnt sie eine halbe Stunde mitnehmen.“ Tarn seufzte, dann sagte er: „Na gut, aber lass das Valion wenigstens nicht allein machen. Ich weiß doch, dass du irgendetwas vorhast.“ Jefrem zwinkerte grinsend und behauptete: „Wie könnte ich? Liegt mir völlig fern!“ Von seinen Gästen abgewandt brüllte er den Knechten zu: „Marceus! Sammle deinen Kram ein! Du hilfst heute unserem Gast Tjoma zu striegeln!“ Das Lachen der anderen Knechte sagte Valion alles, was er wissen musste.

„Tut mir Leid“, murmelte Valion bedrückt, als Tarn und er von einem Knecht weiter geführt wurden. Jefrem hatte sich mit dem Hinweis, dass er noch viel zu tun hatte, fürs Erste von ihnen verabschiedet. „Schon gut“, sagte Tarn und schmunzelte. „Er will dich ärgern, aber er würde dich auch niemals in Gefahr bringen. Hör zu, ich muss jetzt meinen Teil der Abmachung erfüllen. Wir sehen uns später wieder, wenn wir Glück haben und schnell arbeiten erwischen wir noch etwas Tageslicht.“ Damit schlängelte er sich zwischen den anderen Knechten hindurch und war gleich darauf aus Valions Blickfeld verschwunden. 
Valion wurde weitergewunken, und wenige Momente später stand er vor einem riesigen Hengst, der ruhig dastand und träge mit dem Schweif Fliegen verscheuchte. Sein braunes Fell und die schönen, cremeweißen Beine waren wie erwartet voller Staub und Schweiß von der harten Arbeit des Tages.


Bevor Valion auch nur ein Wort wechseln konnte, war sein Führer schon wieder verschwunden, als hatte es sich vermutlich nicht um Marceus gehandelt. Wer auch immer das war, er ließ auf sich warten, also beschloss Valion, sich zumindest mit dem Pferd vertraut zu machen; das konnte schließlich nicht schaden. Bisher konnte er jedenfalls noch keinen Haken an seiner Aufgabe erkennen, denn Tjoma schien ein friedliches Gemüt zu haben. Valion näherte sich langsam an, blieb unsicher stehen, doch der Hengst überbrückte die Distanz bereitwillig und trat einen Schritt auf ihn zu. Schnaufend näherte er sich und beschnupperte Valions Hand, gleich darauf ließ er sich am Hals streicheln. Vorsichtig kraulte Valion ihn zwischen den Ohren, was ihm ebenfalls gut zu gefallen schien.
Doch dann, gerade als Valion dachte, dass er mit Tjoma überhaupt kein übles Pferd erwischt hatte, schob der Hengst seinen Kopf mit Nachdruck gegen seine Schulter. Valion verlor das Gleichgewicht und fiel mit Schwung und einem vermutlich sehr amüsanten Aufschrei rückwärts auf den Hintern.

Das Gelächter der Knechte um ihn herum machte ihm deutlich, dass sie genau das hatten sehen wollen. Beschämt rappelte er sich auf und wäre beinahe wieder umgestoßen worden. „Ich sehe, du hast schon bemerkt, warum man dir Tjoma zugeteilt hat.“ Valion wandte sich zu dem Knecht um, der ihn angesprochen hatte und lächelte kläglich. „Er hat mich ganz schön erschrocken“, gab er zu und brachte sich außer Reichweite des Hengstes. „Tjoma ist kein Biest, aber ziemlich verzogen“, erklärte der Knecht mit einem breiten Lächeln, trat auf den Hengst zu und streichelte seine mächtige Flanke. „Jemand hat ihm als Fohlen beigebracht, dass Menschen es mögen wenn man sie anstupst. Dummerweise weiß Tjoma nicht, dass er kein Fohlen mehr ist, sondern ein riesiges Pferd und inzwischen eine halbe Tonne wiegt!“ „Beißt er auch?“, wollte Valion vorsichtshalber wissen. „Nein, er wird dich nur anknabbern, wenn du ihn lässt. Wir haben schon alles versucht, ihn besser zu erziehen, aber das Meiste bekommt man einfach nicht aus ihm heraus, zumindest nicht in der kurzen Zeit. Dafür ist er ein sehr gutes Zugpferd. Ich bin übrigens Marceus. Komm, ich helfe dir, wir werden Tjoma, den furchtbaren Schubser, schon bezwingen.“


Gemeinsam machten sie sich daran, den Kopf des Hengstes auf Abstand zu halten, während der jeweils andere ihn striegelte und bürstete. Dabei hatten sie Zeit genug, sich ein wenig zu unterhalten. „Jefrem meint es nicht böse, weißt du“, erklärte Marceus und brachte seinen Schopf rabenschwarzer Locken vor Tjoma in Sicherheit, der sich daran machen wollte ihn anzuknabbern. Marceus war vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Valion, groß, schlank, mit hellbrauner Haut. Er wirkte nicht sonderlich stark, bis man sah, wie er Tjoma sanft, aber mit Kraft zurückdrängte, damit er nicht wieder einen von beiden umstieß. „Er macht sich nur gerne einen Spaß daraus, Tjoma dem zuzuteilen, der Mist gebaut oder mal verschlafen hat. Es dauert einfach doppelt so lange ihn zu versorgen, weil man immer aufpassen muss. Zum Glück ist er nur gemietet und nicht eins unserer Pferde, nächstes Mal werden wir ihn nicht wieder mitnehmen. Wie kommt es eigentlich, dass du hier bist? Tarn bringt sonst eigentlich niemand zu uns.“ Valion zuckte mit den Schultern, aber er konnte sich auch das Grinsen nicht verkneifen. Dass er aus dem Wagen heraus durfte war also ein Privileg, das Tarn irgendwie für ihn arrangiert hatte. Er wusste noch nicht, was er damit bezweckte und ob sie überhaupt noch dazu kommen würden sich zu unterhalten, aber allein dass er bei den Pferden und in Gesellschaft der Knechte sein konnte heiterte ihn auf, auch wenn letztere ihn ständig misstrauisch musterten. 

Das alles konnte er kaum Marceus erklären, obwohl er ihn auf Anhieb sympathisch gefunden hatte, deshalb sagte er möglichst beiläufig: „Ich weiß nicht warum, aber vielleicht ist es besser für meine Schulter, nicht immer bewegungslos herum zu sitzen. Meine Brandmarkung ist nicht so gut verlaufen.“ Marceus nickte. „Ich habe gehört, dass einer der Sklaven diesmal nicht von Tarn gebrandmarkt wurde.“ Er lachte, als er Valions verdutzten Gesichtsausdruck sah. „Das kannst du nicht wissen, aber hier bleibt einfach nichts geheim. Gerüchte und Neuigkeiten verbreiten sich bei uns schnell. Aber eine Schande, dass Tarn dich nicht gebrandmarkt hat. Er kann das wirklich gut, wenn er ein neues Pferd brandmarkt, merken die fast gar nichts und alles heilt schnell ab. Hier, schau es dir an!“ Er deutete auf die Flanke eines anderen Pferdes einige Schritte von ihnen entfernt, auf der sich das selbe, verschnörkelte E deutlich abzeichnete. Selbst aus der Entfernung sah man, wie absolut sauber die Linien waren, und nicht einmal besonders tief. Valion nickte beeindruckt. „Dagegen kommt meine Schulter nicht an“, meinte er, was Marceus Neugier zu wecken schien. „Darf ich es mal sehen?“ Valion nickte, zog kurzerhand das Hemd über den Kopf und zeigte Marceus seinen Rücken. „Autsch!“ Vorsichtig, um ihn ja nicht zu verletzen, strich Marceus einige Haarsträhnen aus Valions Nacken beiseite, vermutlich um einen besseren Blick auf das Ausmaß der Wunde zu bekommen. Seine Stimme zitterte leicht, als er sagte: „Was für eine Schande... Kein Wunder, dass Tarn sich um dich kümmert.“
Valion schwieg, und Marceus verstand den Wink und stellte keine weiteren Fragen dazu. Stattdessen wartete er ab, bis Valion wieder angezogen war, streichelte dann noch einmal prüfend über Tjomas Fell und nickte zufrieden. „Gut, wir müssen die Hufe auskratzen und sehen, ob er sich einen Stein eingetreten hat. Willst du das machen oder soll ich?“, fragte Marceus. Valion warf einen besorgten Blick auf die kräftigen Beine und riesigen Hufe des Hengstes und antwortete: „Äh... mach du das lieber.“ „Dann sieh aber gut zu – wie Jefrem so gern sagt, was man heute durch Zufall lernt, braucht man eine Woche später plötzlich dringend.“ Valion dachte an das Wenige, das er über Pferde gewusst hatte und wie es ihm heute geholfen hatte Marceus kennenzulernen und nickte. Konzentriert sah er zu und lauschte den Erklärungen.

Als Tjoma versorgt war, gingen sie weiter zu den anderen Pferden, und sie versorgten jeder einen weiteren Hengst. Valion war es zunächst nicht geheuer, aber Marceus erklärte ihm geduldig alles Wesentliche, und so machte er nur kleine Fehler. Der Hengst hatte zum Glück ein sanftes Gemüt, blieb ruhig stehen und schnaufte nur dann und wann etwas unleidig, wenn Valion ihn falsch bürstete.
Die Arbeit machte Spaß, vor allem da Marceus ein geduldiger und einfühlsamer Lehrer war. Wenn Valion unsicher absetzte, unterbrach oder hilfesuchend zu ihm sah, verstand er sofort und sprang ein. Währenddessen genoss Valion nicht nur die neue Gesellschaft, sondern auch die Sonne und die frische Luft in vollen Zügen, selbst der starke Geruch der Pferde konnte ihn jetzt nicht stören. Der einzige Wermutstropfen war nach wie vor seine Schulter, die sich langsam bemerkbar macht. Die viele Ruhe hatte die Heilung beschleunigt, aber jetzt, da er die Arme bewegen und sich beugen und strecken musste, spannte die Haut und juckte, und der Schweiß brannte. Dazu kamen die Abschürfungen an seinem Handgelenk, die von Staub und Sonne gereizt wurden und ebenfalls begannen zu schmerzen. Trotzdem arbeitete er tapfer weiter, um Marceus weiter ausfragen zu können, nicht nur über die Pferde, sondern auch über Jefrem und die anderen Knechte.

„Sind die Knechte alle frei?“, wollte er jetzt wissen, während er die Flanken des Hengstes sorgfältig abbürstete. Marceus, der schon weiter war und gerade die Hufe seines Pferdes auskratzte, antwortete: „Manche, aber nicht alle. Im Grunde läuft es darauf hinaus, wer normalerweise in Lutejia im Hauptwohnsitz beschäftigt ist.“ „Hauptwohnsitz?“ „Ja, alle neuen Sklaven werden dort untergebracht, bevor sie weiterverkauft werden. Einige erhalten auch eine Ausbildung, aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wer und wieso. Jedenfalls, für eine Reise benötigt man viele Knechte und viele Pferde, aber wir sind nicht das ganze Jahr hindurch auf Reisen. Deshalb werden zusätzliche Knechte angeworben und für den Zeitraum bezahlt, und die sind alle frei. Die anderen sind wie ich Sklaven. Du kannst leicht herausfinden, wer was ist, wir sind alle gekennzeichnet.“

Zum Beweis zeigte er sein Handgelenk, auf dem ein kleineres, weniger elegantes E eingebrannt war. „Die Arbeitssklaven bekommen alle so eins, zusätzlich zu dem auf der Schulter, aber das sieht auch anders aus als deins. Und die besonders hochrangigen Sklaven, wie Jefrem, bekommen ein drittes, es steigert ihren Wert beim Wiederverkauf.” Mit einem Grinsen fügte Marceus hinzu: „Obwohl Jefrem sich schon wie ein König aufgeführt hat, bevor er sein Drittes hatte.“


Die Offenheit, mit der Marceus über seinen Sklavenstand sprach, war für Valion verwirrend. „Stört es dich nicht, ein Sklave zu sein?“, fragte er irritiert. Marceus ließ den Huf des Hengstes zu Boden gleiten, hielt in der Arbeit inne und überlegte. Es schien ein Teil seines Wesens zu sein, dass er erst gründlich überlegte, wenn er nicht sofort eine Antwort geben konnte. „Ich denke... nein, ehrlich gesagt stört es mich nicht“, erklärte er schließlich. Er nahm sich einen weiteren Huf vor und fuhr nachdenklich fort: „Versteh' das nicht falsch, ich denke auch oft darüber nach frei zu sein, aber ehrlich gesagt habe ich überhaupt kein Ziel. Ich bin Waise, also zu wem oder wohin sollte ich? Ich arbeite nur für mein Essen und meine Unterbringung, aber mehr würde ich als Knecht auch sonst nicht kriegen. Meine Freiheit ist im Grunde nicht viel Wert, und als Sklave ist es...“, er zuckte mit den Achseln, eine unentschlossene Geste, „.. ich schätze es ist sicherer?“

Valion hörte zu, aber verstehen konnte er es nicht, obwohl er sich darum bemühte. Wenn es darum ging, frei zu tun und zu lassen, was man wollte, oder sein ganzes Leben in die Hand eines Anderen zu geben, dann konnte er nicht verstehen, wie man das eine dem anderen vorziehen konnte.
Marceus sah seine Zweifel, doch zu Valions Erleichterung wurde er nicht wütend, nur ratlos. „Ich schätze ich bin nicht besonders gut im Erklären“, sagte er verlegen, „Ich meine, ich bin auch nicht diese Art von Sklave, wie du, ich meine...“ Er brach ab, noch verlegener als zuvor.

Diese Art von Sklave. Die Worte trafen Valion wie Schläge ins Gesicht, und er war gleichzeitig beschämt und wütend. Beschämt, dass er zu dieser Art von Sklaven gehören würde, und wütend, dass er auf diese Worte nicht vorbereitet war. Wie lange würde es dauern, bis er sich nicht mehr als Valion, der Bauernsohn, sondern als Sklave sah? 
Gleichzeitig kränkte es ihn, so beschrieben zu werden. Es klang herablassend, als wäre er kein normaler Mensch, sondern eine eigene Tierart. Hatte er sich wirklich so in Marceus getäuscht? Valion wusste, dass er Eravier unterschätzt hatte, und es ließ ihn an seinem Urteilsvermögen zweifeln. Sah Marceus heimlich, ohne dass Valion es merkte, auf ihn herab und war bisher nur zu höflich gewesen, es offen auszusprechen? Der Gedanke war unerträglich.
Er musste weg hier. Schnell, aber möglichst ordentlich, legte Valion alles beiseite, murmelte: „Ich muss jetzt gehen“ und machte auf dem Absatz kehrt, um Tarn zu finden. Doch bevor er davon stürmen konnte, hielt Marceus ihn zurück.
„Tut mir Leid, das war nicht meine Absicht! Ich wollte dich nicht verscheuchen!“

Zuerst wollte Valion ihn ignorieren und einfach flüchten, aber dann kam er sich dumm vor. Warum zweifelte er plötzlich an jemand, der die ganze Zeit nur freundlich und hilfsbereit zu ihm gewesen war? Es war nicht Marceus Schuld, dass Valion sich in seinem neuen Schicksal nicht zurechtfand. Die Formulierung war unbeholfen gewesen, aber im Grunde hatte er nichts Falsches gesagt. Valions Fantasie und die erlebten Strapazen hatten ihm nur einen Streich gespielt. 
In diesem Moment wurde Valion zum ersten Mal klar, dass Eravier vielleicht mehr getan hatte, als ihn nur körperlich zu verletzen, und stattdessen einen Teil seines Selbst beschädigt hatte. Er fühlte sich dünnhäutig und misstrauisch, Dinge, die er sonst nicht von sich kannte. Marceus sah betreten aus und schien zu begreifen, dass er Valion mit seinen Worten unabsichtlich verletzt hatte. Und genau wie bei Jan war Valion schmerzlich bewusst, dass Marceus vielleicht für lange Zeit die einzige freundliche Person bleiben würde, die er kannte.

Valion atmete tief durch und versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben. Es gelang ihm nicht ganz, aber er brachte ein schmales Lächeln zustande. „Du verscheuchst mich nicht, ich muss nur-“ „Ich weiß, du musst weg“, unterbrach Marceus ihn. „Ich meine nur, bevor du gehst, ich wollte fragen... kommst du vielleicht mal wieder vorbei? Es macht Spaß, wenn du dabei bist.“ Er lächelte verlegen und schien nicht recht weiter zu wissen. „Es ist so, ich habe nicht viele Freunde“, gestand er, „aber ich würde dich gern dazu zählen.“ „J-ja, warum nicht?“ Marceus Verlegenheit steckte Valion an, und das plötzliche und offene Freundschaftsangebot überraschte ihn, aber gleichzeitig war er froh. Für einen Moment hatte er befürchtet, Marceus würde ihn verachten, aber jetzt wurde ihm klar, dass diese Art von Überheblichkeit nicht zu ihm passte, im Gegenteil. Das Wissen darum ließ ihn lächeln, und er sagte: „Ich habe noch keine Ahnung, ob und wann ich wieder nach draußen darf, aber irgendwie wird das schon“, Jetzt lächelte auch Marceus und drückte seine Schulter noch einmal freundschaftlich. „Alles klar! Ich meine, wenn alle Stricke reißen, sehen wir uns wieder, wenn wir die Hauptstadt erreichen. Halt die Ohren steif!“ Damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, und Valion ging davon, um Tarn zu suchen.

Während er sich an den inzwischen versorgten Tieren vorbei bewegte dachte er darüber nach, ob Marceus wirklich so wenige Freunde hatten. Die meisten anderen Knechte waren älter als er, und weil sie keine Sklaven waren, schlossen sie vermutlich keine Freundschaften mit den anderen, denn sie waren nur für ein paar Monate ein Teil des Wagenzugs. Oder vielleicht mochten sie Marceus nachdenkliche Art nicht, schließlich wurde auch Valion öfter damit aufgezogen. Auf der anderen Seite konnte er sich nicht vorstellen, dass jemand Marceus nicht mögen konnte. Bisher waren Valion nur positive Eigenschaften an ihm aufgefallen. Wenn er ihn mit irgendjemand vergleichen müsste, dann wohl mit Tarn, und alle die er bisher kennen gelernt hatte mochten Tarn genauso gern wie er selbst.

Nachdem er sich eine Weile nach Tarn umgesehen hatte, entdeckte er ihn bei Jefrem. Sie hatten sich zu einem Gespräch in den Schutz der Bäume zurückgezogen und schienen völlig darin vertieft. Valion beschloss, sie jetzt nicht zu stören und stattdessen abzuwarten. Müßig schlenderte er auf das kleine Wäldchen aus Büschen und Bäumen zu. Einen Moment lang zögerte er, ob er weiter gehen sollte, denn hier würde Tarn ihn nicht sehen, da die tiefhängenden Äste der Bäume ihn verdeckten. Auf der anderen Seite war er neugierig und wollte er einen Blick auf die Weiden hinter der Baumgruppe werfen und sehen, ob er ein Dorf oder sogar eine Stadt in der Ferne erspähte. Schließlich trat er doch zwischen die Bäume, mit dem festen Entschluss, nur einen kurzen Blick zu riskieren und dann wieder umzukehren. Vielleicht konnte er dann ein paar Kräuter suchen, die Pferde gern fraßen. Er könnte sie Tjoma geben und einen halbherzigen Versuch machen, ihm das Schubsen abzugewöhnen.

Er vergaß seine Idee sofort, als er auf einmal Bewegung zwischen den Bäumen sah. Für einen Moment fragte er sich, ob er nur einen Schatten gesehen hatte, aber dann verwarf er den Gedanken. Irgendjemand hatte sich im Schutz der Bäume an ihm vorbei bewegt, in die Richtung, in der Tarn und Jefrem standen. Sein Misstrauen war sofort geweckt. Tarn war ein Teil der Rebellion - wenn jemand versuchte, ihn zu belauschen, dann musste es jemand sein, der entweder ihm schaden wollte, oder den Rebellen selbst.
Nervös sah Valion sich um, aber er war außer Sichtweite der Knechte. In den Büschen sah er keine Bewegung mehr, aber irgendein Instinkt sagte ihm, dass jemand dort war. Der Lauscher würde nicht damit rechnen, dass ihm jemand folgte…Kurz entschlossen sah sich Valion ein letztes Mal um, um sicherzugehen, dass niemand ihn sah, dann ging er in die Hocke und tauchte in dem Gewirr aus Blättern und Zweigen unter.

Das Problem beim Verstecken, das hatte er schon als Fünfjähriger beim Spielen festgestellt, war dass jedes Geräusch plötzlich wie Donnerschläge klang und der eigene Herzschlag einem so laut in den Ohren dröhnte, dass man meinte, jeder müsste ihn hören. Er versuchte, so flach wie möglich zu atmen und kroch vorwärts. Die Aufregung schärfte seine Sinne, und er nahm alles in seiner Umgebung überdeutlich war; den erdigen Geruch der alten Blätter auf dem Waldboden, der frische grüne Geruch der Büsche, der Gesang eines einsamen Vogels und das Rascheln einer Feldmaus, die ihm erschrocken auswich. Und dann war da der Schemen, der sich in einiger Entfernung vor ihm durch das Dickicht bewegte, langsam, lauernd. 


Was sollte er nun tun? Spontan entschied er sich das Wäldchen auf der anderen Seite zu verlassen. Die Sonne stand günstig und warf seinen Schatten nicht in diese Richtung, sondern auf die Weide. Er würde die Person umrunden und dann, wenn er ihr entgegen kroch, das Gesicht sehen können. Wenn jemand Tarn und Jefrem ausspionierte, würde er wissen wer.
Er bewegte sich schnell und leise weiter und war froh, dass sich auf der angrenzenden Weide Schafe befanden, die blökten und gemächlich über das Gras stapften, denn so wurden seine eigenen Schritte vermutlich unhörbar. Der große Baum diente ihm als sicherer Anhaltspunkt, und als er ihn umrundet hatte, tauchte er erneut in das Gebüsch ein, das an dieser Stelle sogar noch dichter war. Er war jetzt ganz in der Nähe des Baumstamms und konnte die Beine der Männer durch das Dickicht schimmern sehen.


Er hatte sich eigentlich vorgenommen, das Gespräch zwischen Jefrem und Tarn nicht zu belauschen, doch jetzt, so nahe vor ihnen, war es unmöglich sie zu überhören, denn sie schienen zu streiten.
„… nichts damit zu tun haben”, knurrte Jefrem wütend. „Ich weiß. Aber so ist es beschlossen worden.” „Seit wann kümmert dich, was von ihnen beschlossen wurde? Ein bisschen spät, um sich daran zu erinnern, wem deine Loyalität gehört.” Die nächsten Worte von Tarn konnte Valion nicht verstehen, obwohl er angestrengt lauschte, aber als Antwort darauf lachte Jefrem bitter. „Wegen ihm? Sag bloß, du hast plötzlich Mitleid bekommen! Das wäre ja mal etwas ganz Neues. Aber gut, ich will keinen Ärger, ich werde mich darum kümmern. Was sollte ich auch sonst tun? Die Frage ist aber doch, wie ich das anstellen soll, ohne dass es auffällig wird. Ich kann nicht einfach Sachen verschwinden lassen, und erst recht nicht so etwas Großes wie ein Pferd. Du müsstest von allen am besten wissen, dass Eravier nicht dumm ist, und auch weiter als bis drei zählen kann. Wir brauchen eine handfeste-”

Das Ende des Satzes hörte Valion nicht mehr. Eine Faust traf ihn fest in den Magen, und jemand riss ihn zu Boden. Im nächsten Moment hatte er einen Stoffknebel im Mund und lag auf dem Bauch, den Kopf zu Boden gedrückt und den Arm nach hinten verdreht. Valion bäumte sich auf, aber sein Angreifer packte sein Handgelenk fester, genau an der Stelle, an der die Haut von der Handfessel aufgeschürft war. Obwohl der Unbekannte weiche Handschuhe trug, war der Schmerz stark und beißend. Valion schrie innerlich auf, doch er wagte nicht die Stimme zu erheben. Er konnte jetzt schon kaum atmen, hätte er geschrien, hätte sein Angreifer den Knebel vermutlich noch fester gehalten, um sein Geschrei noch besser zu dämpfen. Valion hatte nicht vor, an diesem Tag noch elendig in einem Gebüsch zu ersticken. Innerlich verfluchte er sich, denn er war das Opfer seiner eigenen Taktik geworden. Derjenige, den er zu Umrunden gehofft hatte, hatten stattdessen ihn umrundet und sich von hinten an ihn heran geschlichen. Noch einmal versuchte Valion sich zu befreien, aber der Unbekannte griff sein Handgelenk so fest, dass Valion glaubte er wollte es brechen.

„Ah ah ah - das würde ich sein lassen”, flüsterte der Mann, und Valion erkannte die Stimme. Das war Tarns Begleiter gewesen, als er im Haus seiner Eltern gewesen war. Der, dessen Gesicht und Namen er nicht kannte. Was tat er hier? Warum spionierte er seine eigenen Verbündeten aus? Oder war er vielleicht ein Verräter?
Bevor er sich über seine Situation klar werden konnte, wurde er auf die Knie gezogen. Der unbekannte Spion hielt seinen Arm weiterhin fest, aber hielt mit der anderen Hand stattdessen den Knebel und damit Valions Kopf in Position. Valion würgte und versuchte seinen Kopf zu befreien, doch was er auch tat, er hatte keine Chance einen Blick auf sein Gesicht oder auch nur die Statur des Unbekannten zu werfen. Er spürte den Atem des Mannes im Nacken machte einen weiteren Versuch sich zu befreien. „Lass die Mätzchen”, flüsterte sein Angreifer gelangweilt, „Ich kann dir Mund und Nase zudrücken und dich innerhalb von Minuten ersticken lassen. Ich könnte dir auch deine verletzte Schulter aufreißen und zusehen, wie du vor Schmerzen schreist. Aber das ist völlig unnötig, weil wir auf der selben Seite sind.” Widerwillig hörte Valion auf, sich zu wehren, und deutete ein Nicken an. „Gut, sehr schön. Ich gebe zu, es war gerissen, dass du mich von der Gegenseite aus abfangen wolltest”, fuhr der Unbekannte fort, „und ich nehme an, deine Motive sind edel. Wer würde nicht den guten, alten Tarn beschützen wollen? Aber lass das Spionieren ab sofort sein. Verstanden?”

Valion nickte erneut. Er dachte nicht daran, dieses Versprechen einzuhalten, aber wenn er unbeschadet aus dieser Sache heraus wollte, dann hatte er wohl keine andere Wahl als zuzustimmen. “Ich weiß was du jetzt denkst”, meinte der Unbekannte und lachte verhalten. Valion wünschte sich, dass der Mann aufhören würde ihm in den Nacken zu atmen. „Du denkst, dass du jetzt zu allem nickst, und dann einfach weiter machst. Aber ich behalte dich im Auge, das solltest du wissen. Ich sehe dich, egal ob du schläfst oder wach bist. Und ich höre mir die kleinen Geschichten an, die du dir mit Jan erzählst. Denk einfach daran, wenn du das nächste Mal die Idee hast einen kleinen Ausflug zu unternehmen.”

Er schwieg und ließ diese Warnung wirken, und Valion hätte lügen müssen wenn er behauptet hätte, dass die Worte des Unbekannten ihm nicht einen Schauer über den Rücken jagten. Er konnte nur nicken, schon wieder. „Gut. Da du jetzt deine Lage begreifst, wie wäre es damit: Du wirst jetzt durch das Gebüsch dort hinaus kriechen, zu den Schafen. Du wirst die hübschen Schäfchen streicheln und so tun, als würde dir das Freude bereiten. Ich werde mich entfernen, und nach einer Weile werde ich Tarn sagen, wo er dich suchen soll. Und dann werdet ihr einen netten kleinen Ausritt machen. Du wirst ein bisschen mit Tarn plaudern, aber mich wirst du tunlichst nicht erwähnen. Besser noch, du solltest mich und diese Begegnung völlig vergessen. Ich lasse dich jetzt los. Dreh’ dich nicht um, verstanden? Sonst garantiere ich für nichts.”

Valion nickte, und langsam wurde sein Arm losgelassen. Danach wurde der Knebel von seinem Mund gezogen, und mit einem groben Stoß wurde er losgeschickt. Er wagte nicht sich umzusehen, nicht einmal aus den Augenwinkeln, bis der den Rand des Gebüschs erreichte und hinaus auf die Schafweide kroch. Erst jetzt sah er zurück, doch er war allein. Sowohl der Spion als auch Tarn und Jefrem waren verschwunden.

Langsam stand Valion auf und klopfte sich sorgsam die alten Blätter und die Erde von den Beinen ab, um keine Fragen von Tarn zu provozieren. Dann betrachtete er einen Moment nachdenklich sein Werk. Und nun? Schafe streicheln. Ja, das konnte er tun, und darauf warten, dass er „gefunden” wurde.
Aber er war einen Schritt weiter. Er hatte nicht viel aus dem Gespräch erfahren, das zwischen Tarn und Jefrem stattgefunden hatte, das stimmte. Und er hatte weder das Gesicht noch die Statur des Unbekannten gesehen. Aber trotzdem wusste er jetzt, wer der Unbekannte war, denn eines hatte dieser nicht verbergen können. Der Mann hatte Handschuhe getragen, und so hatte Valion keine Ringe und keine Narben an seinen Händen sehen können. Aber das Brandzeichen an seinem Handgelenk, das grobe, eingebrannte E, das er von Marceus kannte, das hatte er nicht übersehen. Er wusste nicht, wie viele Diener Sklaven Eraviers waren, aber einer von ihnen war der Unbekannte.

Es dauerte eine Weile, bis Tarn ihn fand. Während Valion wartete, versuchte er müßig näher an die Schafe heranzukommen, aber sie flohen lieber vor ihm oder wollten ihn mit gesenktem Kopf stoßen. Da sie saftiges Gras im Überfluss hatten, ließen sie sich damit natürlich auch nicht locken. Schließlich gab er es auf und setzte sich einfach nur an den Rand der Weide. Die Ruhe und der Gesang der Vögel ließen ihn schläfrig werden, und er musste sich zusammenreißen, nicht einfach einzunicken.


Er hörte Tarn gar nicht kommen, aber Valion wusste sofort, dass er es war, als ihn jemand sanft an der Schulter berührte. „Da bist du ja. Erschöpft?”, fragte Tarn freundlich. „Es geht schon”, behauptete Valion, obwohl seine Schulter sich inzwischen wie ein großes, glühendes Inferno anfühlte, und stand tapfer auf. „Dann lass uns gehen, wir haben uns lange genug aufgehalten.” Sie machten sich auf den Weg und durchquerten den Waldstreifen an einer weniger dichten Stelle. Trotzdem konnte Valion dem Drang nicht widerstehen, nervöse Blicke auf die Büsche um ihn herum zu werfen, und kämpfte gegen die Erwartung, einen Schemen zu sehen. Doch diesmal bemerkte er nichts Beunruhigendes.
Auf der Weide fraßen die Pferde inzwischen in Ruhe Gras, dösten im Stehen oder hatten sich bereits nieder gelegt. Obwohl die Betriebsamkeit nachgelassen hatte, waren die Knechte nach wie vor beschäftigt - sie hatten Laternen entzündet und nutzten den letzten Schein der Sonne für Reparaturarbeiten an den Geschirren und Fuhrwerken. Valion erhaschte einen Blick auf Marceus, aber er war in seine Arbeit vertieft und sah nicht auf. Von Jefrem fehlte jede Spur.

Valion beobachtete Tarn auf ihrem Weg möglichst unauffällig aus den Augenwinkeln. Er sah nicht besorgt aus, dass Jefrem nicht anwesend war, aber auch sein Streitgespräch von früher hatte seine Laune nicht verändert. Er war gelassen und ruhig und grüßte ein paar Männer im Vorbeigehen, die er übersehen hatte als sie angekommen waren. Auf gut Glück begann Valion: „Ist Jefrem wütend auf mich? Weil wir ihn so aufgehalten haben?” Tarn lachte und schüttelte den Kopf. „Jefrem behauptet gern von sich, dass er die Pferde und Knechte mit eiserner Hand führt, aber er hat ein weiches Herz. Dass du bereit warst etwas für deinen Ausritt zu tun hat ihn beeindruckt, auch wenn er das nicht zugeben würde. Außerdem fällt es ihm schwer, nachtragend zu sein.” 
Noch während er sprach kamen ihnen zwei Knechte entgegen und brachten ihnen ihre Pferde, eine kastanienbraune Stute und einen weiß-braun gescheckten Hengst, beide bereits gesattelt. „Weißt du wie man aufsteigt?”, fragte einer der Knechte Valion. „Ich könnte Hilfe gebrauchen”, gestand er, aber der befürchtete Lacher blieb aus. Stattdessen bot der Knecht seine gefalteten Hände als Aufstiegsmöglichkeit für Valion, und so gelang es ihm mühelos, auf die Stute aufzusteigen. „Sei vorsichtig mit Joshanna, sie hat sich die Haut aufgerieben”, mahnte er, und Valion nickte pflichtbewusst und betrachtete die Abschürfungen am tiefsten Punkt ihres Halses, die inzwischen schon dunkel verschorft waren und zu verheilen schienen. Das war also das Pferd, um das sich Tarn in den letzten Tagen gekümmert hatte. Er streichelte vorsichtig ihren Hals, wobei er darauf acht gab die Verletzungen nicht zu berühren, und fragte unsicher: „Es macht ihr nichts, wenn ich auf ihr reite, oder?” „Nein, aber gib Acht, wenn du auf- oder absteigst, und lasst es etwas langsam angehen. Kein wilder Galopp.” „Gut, ich passe auf”, versprach Valion, und zu seinem Erstaunen nickte der Knecht zustimmend und trat zurück.
Vielleicht hatte Tarn Recht, und Jefrem hatte wirklich einen guten Eindruck von ihm, denn auf subtile Weise schien sich das Verhalten der anderen Knechte ihm gegenüber geändert zu haben. Sie schienen plötzlich weniger misstrauisch, und er wurde weniger beobachtet. Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn sobald seine Stute die ersten Schritte machte, war er zu sehr damit beschäftigt sich im Sattel zu halten. Es war eben doch schon eine Weile her, dass er geritten war. Tarn, der gelassen auf seinen Hengst aufgestiegen war und völlig sicher im Sattel saß, behielt ihn im Auge. „Es geht schon”, kam Valion seiner Frage zuvor, ein wenig genervt. Er wünschte, er hätte sich öfter die Mühe gemacht, den betagten Ackergaul zu satteln und zu reiten, den seine Eltern zum Pflügen und für andere Lastarbeiten einsetzten, nur der Übung wegen.

Sie wandten sich vom Lager ab und ritten nach Osten, die tiefstehende Sonne im Rücken, während sie die Pferde erst nur im Schritt, dann im Trab gehen ließen. Um sie erstreckten sich über viele Kilometer nur grüne Weiden voller saftigem, wogenden Gras. Erst in weiter Ferne verwandelten sich die grünen Wiesen in goldgelbe Felder voller Getreide, und aus abgelegenen Schornsteinen stieg Rauch auf. Valion dachte daran, dass die Zeit der Ernte nicht mehr fern war und jetzt bald Hochbetrieb in seinem Dorf herrschen würde. Es war die betriebsamste und anstrengendste Zeit des Jahres, aber auch der letzte Hauch des Sommers vor dem Herbst. Der Gedanke, dass er nicht zur Stelle war um seiner Familie zu helfen, stimmte Valion traurig und nahm ihm die Lust an jeder Unterhaltung, obwohl er zuvor so viele Fragen gehabt hatte.

Schließlich stiegen sie ein ganzes Stück vom Wagenzug entfernt ab und führten die Pferde zu einem einsamen Baum, der seinen Wipfel als einziger im Umkreis dem Himmel entgegen streckte. Wind, Wetter und ein Blitzeinschlag hatten ihm übel mitgespielt, und so war der Stamm in der Mitte gespalten, krumm und verwachsen. Ein Teil der Krone war völlig abgestorben, dennoch streckte der Baum mehrere gesunde Äste tapfer in den Himmel. Während Tarn die Pferde festband, umrundete Valion den Stamm und staunte über die Kraft des Blitzes, die den Baumstamm vor langer Zeit regelrecht zerfetzt hatte. Witterung und Wachstum hatten dem Baum danach eine neue Form gegeben, aber selbst nach Jahren war unübersehbar, wie schwer er beschädigt gewesen war. Valion strich mit der Hand über die unregelmäßige Rinde und versuchte sich vorzustellen, wie es geschehen war, wie ein greller Lichtstreif vom Himmel gefahren war, den Stamm zerrissen und die Blätter in Brand gesetzt hatte, sodass die Vögel erschrocken aufflogen, und der Donner grollend applaudierte. 

Er war so vertieft in seine Vorstellung, dass er beinahe in Tarn hineingelaufen wäre, der sich bequem an den Stamm gelehnt hatte, die Arme vor dem Körper verschränkt, die Augen geschlossen. Valion blieb stehen, ein wenig erschrocken, und gleichzeitig etwas beschämt darüber, dass er schon wieder mit dem Kopf in den Wolken war. Wäre er bei Gevin oder Teron gewesen, hätten sie ihn jetzt damit aufgezogen, dass er immer mit den Gedanken woanders war.
Gleichzeitig registrierte er besorgt, dass Tarn aus der Nähe nicht nur müde, sondern völlig erschöpft wirkte. Seine täglichen Pflichten mussten ihn länger wach halten, als gut für ihn war. Er war blass und die Wangen leicht eingefallen, Anzeichen, die man wegen des dunklen Barts nicht sofort bemerkte, doch sie ließen ihn wesentlich älter wirken. Nicht zum ersten Mal fragte Valion sich, wie alt Tarn wirklich war. Seine Schätzung schwankte zwischen beinahe 40 und gerade erst 27 Jahren. Tarns Statur half ihm bei dieser Frage ebenfalls nicht weiter, denn obwohl er breitschultrig und kräftig war, wirkte viel wendiger und geschmeidiger als Valions Vater oder die Wächter des Wagenzugs. Er strahlte Autorität und Lebenserfahrung aus, aber nicht die Art, die Valion von den Männern aus dem Dorf kannte.

Plötzlich wurde Valion bewusst, dass er Tarn unverfroren und nur einen Schritt von ihm entfernt direkt anstarrte, und schlimmer noch, dass Tarn gerade die Augen geöffnet und es bemerkt hatte. Doch statt zurück zu zucken oder wütend zu werden schmunzelte er nur auf die Art, die Valion inzwischen so gut zu kennen schien, und fragte wie immer: „Alles in Ordnung?”
Valion nickte hastig und trat einen Schritt zurück, um Tarn nicht weiter zu bedrängen, aber gleichzeitig wurde ihm klar, dass er das nur aus Höflichkeit tat. Es machte ihm nichts aus bei Tarn zu sein, im Gegenteil, es beruhigte ihn und gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Entschuldigend murmelte er: „Ja, ich glaube, ich war für einen Moment nicht ganz da.” „Das Gefühl kenne ich”, entgegnete Tarn mit Humor in der Stimme und rieb sich die Augen und die Stirn, als versuche er leichte Kopfschmerzen zu vertreiben. „Die letzten Tage waren die Hölle, ich schätze, ich habe zu viel Schlaf versäumt. Dein Tag war sicher auch anstrengend?”


Valion nickte und sagte: „Ja, aber es war … eigentlich war es lustig.” Er hatte eigentlich gar nicht vorgehabt von seinen Erlebnissen zu erzählen, aber Tarn richtete sich etwas auf und schenkte ihm und seinen Worten seine ganze Aufmerksamkeit. Und so berichtete er ausgiebig von Tjoma, dem schubsenden Hengst, und wie er es mit Marceus Hilfe geschafft hatte ihn auf Abstand zu halten, und registrierte zufrieden, dass seine Erzählung Tarn amüsierte. Danach fuhr er einfach fort, berichtete von dem was er von Marceus erfahren hatte, von seinen Fortschritten bei der Pferdepflege, und wie er Tarn gesucht und im Gespräch vorgefunden hatte.
Schließlich brachte Valion seinen Bericht mit Details über die feinselige Natur der Schafe zu einem Ende. Zum Glück hatte er keine Probleme gehabt, die Entdeckung des Spions unerwähnt zu lassen, und er war heimlich stolz, dass sich in seiner Erzählung keine Lücke ergab. Wer auch immer der Unbekannte war, jetzt war noch nicht die Zeit, Tarn ins Vertrauen zu ziehen. Valion hatte fest vor, ihm alles zu berichten, wenn die Zeit dafür reif war, aber erst wollte er herausfinden, um wen es sich handelte, zumindest vom Namen oder vom Aussehen her. Bevor er das nicht wusste, wäre alles was er sagte eine Gefahr für ihn und Tarn gewesen. Als ihm das in den Sinn kam, wurde ihm bewusst, dass Tarns eigene Zurückhaltung beim Austausch von Informationen vermutlich einen guten Grund hatte.

Tarn hatte aufmerksam zugehört, doch während er die meiste Zeit gelächelt hatte, schien er jetzt wieder ernster zu werden. „Es ist gut, dass du etwas Zeit hattest dich zu erholen. Aber jetzt sollten wir uns Wichtigerem zuwenden.” Valion nickte. Darauf, dass sie wieder über die Rebellion sprachen, hatte er schon die ganze Zeit gewartet. „Der Tag hat sich gut entwickelt”, fuhr Tarn fort, „Besser als ich zunächst angenommen habe, was vermutlich ein Glück für uns beide ist.” „Was soll das heißen?”, fragte Valion irritiert nach. „Du bist nicht geflohen. Ich hatte  gehofft, dass du es nicht tun würdest, aber nicht fest damit gerechnet.” 


Was sollte das auf einmal? Valion wusste nicht, was ihn mehr störte: die Tatsache dass Tarn überhaupt in Erwägung gezogen hatte, dass Valion einen Fluchtversuch unternehmen würde, oder dass Valion anscheinend bewusst die Möglichkeit dazu erhalten hatte und getestet worden war. Irgendetwas war hier faul.


„Warum hätte ich fliehen sollen? Schön, ich hätte es gekonnt, aber-”, begann er, doch Tarn schnitt ihm das Wort ab. „Du warst unter ständiger Beobachtung. Es war ein Test, ob du es versuchen würdest. Eravier ging fest davon aus, dass du in der Sekunde, in der du frische Luft atmest, auf und davon wärst. Du wärst natürlich nie weit gekommen, dafür hat er gesorgt, aber glücklicherweise war es nicht nötig dich zurück zu holen. Das hat uns allen Zeit gespart.”

Valion wurde eiskalt. Jetzt war ihm klar, warum er sich nicht mehr beobachtet gefühlt hatte, nachdem er von der Schafweide zurückgekehrt war - er hatte die einmalige Chance gehabt, ungesehen zu verschwinden, und sie nicht genutzt. Damit war er ungefährlich geworden, und die Knechte waren froh darüber gewesen. Wäre er losgelaufen, hätten sie vermutlich die Pflicht gehabt ihn zu suchen und einzuholen. Sie hatten ihm nicht nur angerechnet, dass er geholfen hatte, sondern auch, dass er ihnen die Zeit und Mühe gespart hatte ihn zurück ins Wagenlager zu schleifen. Deshalb waren sie freundlicher zu ihm und entspannter gewesen.
Und noch etwas wurde ihm gerade klar. „Ich dachte meinen Freigang hättet ihr arrangiert und nicht Eravier”, sagte Valion leise. Tarn zuckte mit den Schultern und erklärte: „Beides ist richtig. Eravier befürchtete, dass du fliehen würdest, ich bot ihm an, diese Möglichkeit für ihn zu überprüfen, er befahl die Überwachung, und so kam alles zustande.”

Valion war fassungslos. Er suchte nach Worten, aber schließlich brachte er nur „Warum?!” heraus. Obwohl er versuchte ruhig zu bleiben war er sich ziemlich sicher, dass die Wut und Enttäuschung in seiner Stimme nicht zu überhören war. Was dem ganzen die Krone aufsetzte war, dass Tarn völlig gelassen blieb. „Ich weiß, du fühlst dich jetzt verraten.” „Ach was, wie kommt ihr auf die Idee?”, giftete Valion, obwohl ihm klar war, dass er sich für diesen ätzenden Sarkasmus schon wieder an Jans Repertoire bediente. „Vielleicht weil ich tatsächlich verraten wurde? Ich dachte, wenigstens…!” Er brach ab und wandte sich ab, und wütend stellte er fest, dass er mit den Tränen kämpfte. Natürlich fühlte er sich verraten. Er hatte darauf vertraut, dass Tarn auf seiner Seite war. Er kam sich so dumm vor, völlig idiotisch, dass er ausgerechnet einem von Eraviers Untergebenen vertraut hatte, völlig ohne Grunde und wider besseren Wissens. Er hatte gedacht, dass Tarn zu ihm halten und ihn unterstützen würde, statt Informationen an den Menschen weiterzutragen, den er gerade am meisten auf der Welt hasste.


„Valion, hör mir zu”, begann Tarn beschwichtigend, „Ich weiß, du denkst jetzt ich wäre auf Eraviers Seite. Da täuschst du dich, und ich werde dir auch erklären warum. Aber ich wollte dir etwas klar machen.” „Und was?”, fragte Valion und versuchte mühsam seine Stimme daran zu hinden, zu kippen. „Dass ich hier genauso wie du keine Macht habe. Ich muss Eraviers Befehle befolgen und mich für die Dinge die ich tue bei ihm rechtfertigen, so wie jeder andere der Sklaven. Nichts was wir tun wird unbemerkt bleiben, und deshalb musst du beginnen dich mit Eraviers Präsenz zu arrangieren. Außerdem darfst du niemand vorschnell vertrauen, und du darfst nicht jedem glauben, der auf Anhieb versucht dein Freund zu werden. Letztendlich laufen alle Fäden bei Eravier zusammen, und er weiß, was jeder einzelne von uns tut. Wenn du nicht aufpasst, könnte es sein, dass du eines Tages noch übler ausgespielt wirst, als ich es heute getan habe.”

Das ergab alles Sinn, und obwohl es nach einer schrecklich hoffnungslosen Lage klang, klang es auch stark nach der Wahrheit. Valion schluckte und versuchte seinen Ärger und Enttäuschung unter Kontrolle zu bringen. Er hatte eine harte Lektion erhalten, aber vermutlich eine, die er brauchte, und von jemand, der es gut mit ihm meinte. Wenn er nicht wollte, dass ihn jemand verriet oder gegen seine einzigen Verbündeten aufhetzte, dann musste er auf der Hut sein, wen er an sich heran ließ. Widerwillig wandte er sich wieder zu Tarn um und nickte gequält. Eines war damit aber noch nicht geklärt. 


„Wie kann ich dann euch vertrauen?” Tarn schüttelte den Kopf. „Das kannst du nicht. Noch nicht. Ich habe dir noch längst nicht bewiesen, dass ich vertrauenswürdig bin.” „Ich würde es aber gern”, antwortete Valion, und ihm war schmerzlich bewusst, wie ernst er das meinte. Er wollte sich nicht vorstellen, dass Tarn ihn nicht nur wie heute hintergehen, sondern tatsächlich verraten könnte. „Ich weiß”, antwortete Tarn nachsichtig. „Es gibt nichts Schlimmeres, als allein dazustehen. Und ich denke mit der Zeit wirst du besser lernen, den richtigen Menschen zu trauen und zu erkennen, wann du misstrauisch sein musst. Jetzt zum Beispiel sind wir völlig allein, deshalb kann ich ehrlich zu dir sein und dich in Verschiedenes einweihen, ohne dass die Gefahr besteht dass Eravier davon erfährt.”


Valion ging ein Licht auf. „Aber gestern nicht”, stellte er fest und erinnerte sich an die Drohung des Unbekannten. Er hatte gesagt, dass Valion die ganze Zeit über unter Beobachtung stand und dass alles, was er sagte oder tat bemerkt wurde. Ihm wurde erst jetzt bewusst, dass Tarn gestern tatsächlich kürzer angebunden gewesen war, dass er nur den vagen Hinweis darauf gegeben hatte, dass er Valion für eine Weile herausholen würde. „Das heißt, ihr konntet mir überhaupt nicht sagen, dass es auch ein Plan von Eravier war, denn das hätte jemand misstrauisch machen können”, schlussfolgerte er. Obwohl es eine schreckliche Erkenntnis war, dass er im Zug der Wagen niemals sicher sein konnte, war er auch erleichtert. Er kam besser mit der Vorstellung zurecht, dass Tarn ihn nur um seiner selbst Willen nicht eingeweiht hatte.

Tarn bestätigte Valions Vermutung mit einem Nicken und fuhrt fort: „Richtig. Wenn wir nicht unter uns sind musst du immer damit rechnen, dass ich dir nicht die volle Wahrheit sagen kann. Ich werde vielleicht anders mit dir umgehen, und du solltest erwägen ebenfalls anders mit mir oder anderen umzugehen, wenn du Zuschauer hast. Wo wir schon dabei sind - wenn wir allein sind, kannst du die Förmlichkeiten in der Ansprache fallen lassen.” 
Damit hatte Valion nicht gerechnet - erst empfahl Tarn ihm, niemandem, nicht einmal ihm selbst zu vertrauen, dann bot er plötzlich das “Du” an. Er hätte lügen müssen wenn er behauptet hätte, dass es ihn nicht glücklich machte, aber gleichzeitig war es unglaublich verwirrend. Tarn sah seinen irritierten Gesichtsausdruck und schmunzelte. „Ich bin noch nie ein Freund von ehrenvollen Anreden gewesen. Du kannst natürlich auch dabei bleiben, wenn du Angst hast, es im Beisein anderer Leute zu vergessen.” „Auf keinen Fall”, platzte es aus Valion heraus, und gleich darauf bekam er rote Ohren. „Ich meine, ich kriege das hin”, versuchte er abzulenken, aber natürlich hätte er in Wahrheit niemals die Chance verpasst, Tarn wie einen Freund statt wie eine Respektsperson anzusprechen.

„Gut, da das geklärt ist, noch einmal von vorn”, begann Tarn, „Da du heute nicht geflohen bist, gehe ich davon aus, dass Eravier darauf verzichten wird, dich weiter so stark beobachten zu lassen.” „Aber ich sollte mir vermutlich nicht anmerken lassen, dass ich das weiß?”, fragte Valion. „Ja, schon deshalb, weil du trotz allem nie völlig unbeobachtet sein wirst. Eraviers Wachsamkeit wird nur langsam nachlassen, und er wird nie vergessen, wie sehr du dich einer Gefangennahme widersetzt hast.” „Aber er hat meine Familie angegriffen!”, wandte Valion ein. „Ja, aber Eravier denkt nicht so. Er hält keine persönlichen Bindungen aufrecht und kann nicht verstehen, wenn es jemand tut. Dass du dich so für deine Familie eingesetzt hast war für ihn nur ein Zeichen - dass du Widerstand leistest, den er brechen muss. Wenn ich dir einen Rat geben kann, dann diesen: Versuche nicht, dich direkt gegen Eravier aufzulehnen, es sei denn, die Rebellion hat dir Unterstützung zugesagt.” „Aber was ist mit den anderen Sklaven?  Sollten sie nicht auch gegen Eravier kämpfen?” Tarn schüttelte betrübt den Kopf. „So einfach ist das nicht, Valion. Nicht alle sind gegen ihren Willen hier, manche sahen in der Sklaverei einen Ausweg aus ihrer Not oder haben ihr Schicksal akzeptiert. Und selbst wenn sie unzufrieden sind, sind nicht alle von ihnen bereit, mit anderen zusammenzuarbeiten. Du wirst hier und in der Hauptstadt viele Einzelkämpfer finden, denen jeder und alles egal ist. Nur ein Bruchteil der Sklaven ist ein Teil der Rebellion, und die anderen können zu einer Gefahr für dich werden und dich im Zweifelsfall noch übler ausspielen, weil sie auf niemand sonst Rücksicht nehmen.” 

Valion nickte widerwillig. Er konnte sich kaum an diese Vorstellung gewöhnen, aber andererseits dachte er an Marceus und die Sicherheit, die er seinem Sklavenstand zu finden glaubte. Er wollte sich nicht vorstellen, dass er oder irgendjemand sonst fähig war, eine gute Sache zu sabotieren, aber er musste es wohl als Tatsache akzeptieren. Was die Frage aufwarf, wie er andere Rebellen überhaupt erkennen sollte. Und nicht nur das, er wusste immer noch nicht, was es wirklich mit der Rebellion auf sich hatte. Ihm kamen eine Menge der Fragen in den Sinn, die er sich überlegt hatte, aber er wusste nicht, welche er zuerst stellen sollte, und stellte sie plötzlich alle gleichzeitig. „Wer sind die Rebellen, ich meine, außer dir? Wer führt sie an? Was haben sie überhaupt vor?”, sprudelte er hervor und musste sich selbst bremsen.


„Das sind viele Fragen, und die meisten lassen sich nicht in knappen Worten erklären”, sagte Tarn mit einem Schmunzeln. „Na gut, aber… was ist überhaupt das Ziel?”, fragte Valion. 
Tarn überlegte einen Moment, dann begann er: „Wir wollen die Entwicklung der letzten Jahre rückgängig machen, zumindest sehen es die meisten so.” „Die neuen Abgaben?”, fragte Valion nach. „Nicht nur das. Die Abgaben sind nur eine Auswirkung eines größeren Problems. Wir führen auf diesem Kontinent keine Kriege mehr, und oberflächlich sind wir mit den anderen Ländern verbündet oder befreundet. Aber auf dem anderen Kontinent kämpfen wir seit Jahren um die Vorherrschaft und die Kolonien, die wir aufgebaut haben. Diese Kriege, und die Aufrechterhaltung der Kolonien verschlingen große Mengen Geld, die der König durch immer höhere Abgaben gedeckt hat. Und der Einfluss der Kolonien… vieles, was wir hinzugewonnen haben war gut, aber was wir ebenfalls erhalten haben ist die Sklaverei.” „Das heißt es gab nicht immer Sklavenhändler?”, fragte Valion irritiert. Tarn schüttelte den Kopf. „Nein, und selbst als es begann nicht in diesem Ausmaß. In den Kolonien ist es viel üblicher, die Bewohner dort wurden zuerst nur eingefangen und zum Arbeiten gezwungen, später aber auch gehandelt, und diese Praktik blieb nicht in den Kolonien. Die ersten Sklaven kamen hierher, und irgendwie verselbstständigte sich alles, als der König, damals noch als Prinz, Gefallen daran fand, Sklaven zu besitzen und sie öffentlich vorführte. Ehe man es sich versah war es für einen Fürsten obligatorisch, Sklaven zu haben, je mehr, umso besser. Und mit dem steigenden Wert eines guten Sklaven kamen die Menschenhändler ins Spiel, und bald hatten sich die Gerissensten unter ihnen die Gunst des Prinzen erworben. Dann starb der alte König, der Prinz bestieg den Thron, und die Menschenhändler erhielten plötzlich Freiheiten, die kein Mensch besitzen sollte. Jegliche Anklagen gegen sie werden nur noch direkt vom königlichen Hof verhandelt, und in den meisten Fällen bedeutet das, dass die Anklage völlig fallen gelassen wird.


Die Menschenhändler begannen damals, das Land nach geeigneten Sklaven abzusuchen, die den Schönheitsvorstellungen ihrer Käufer entsprachen. Sklaven sollten hellhäutig sein, gesunde Haut und Haare haben, ebenmäßige Gesichter. Aber gleichzeitig führten die Abgaben zur Finanzierung der Kolonien zu mehr Armut, mehr Hunger und mehr Krankheiten, und es wurde schwieriger, geeignete Sklaven für die Fürsten zu finden. Viele trugen bereitwillig zum Sklavenhandel bei, weil es wie ein Ausweg schien, der Weg zu einem besseren Leben, oder weil sie keine Skrupel hatten selbst Menschen zu kaufen und zu verkaufen. Aber gleichzeitig stieg auch die Zahl der Männer und Frauen, die sich verschuldet hatten und denen nichts blieb, als ihr Leben zu verkaufen und Diener zu werden. Aus dem ersten Zweig der Sklaverei ergab sich also ein zweiter, und das Los des Arbeitssklaven war geboren.”


Tarn machte eine Pause, da er zu spüren schien, dass sein Gegenüber einen Moment brauchte um all diese Informationen zu verarbeiten. Valion war überwältigt davon, dass das, was er als normal kannte, nicht schon immer bestanden hatte. Er war mit dem vagen Wissen aufgewachsen, dass es Sklaven gab, dass Menschen unfrei sein konnte. Es spiegelte sich in Redensarten wieder, in Gerüchten, in der vagen Präsenz der Menschenhändler, die im Bewusstsein der Menschen herumgeisterte. Sie waren in seinem Dorf eine Art Mythos gewesen, bis sie tatsächlich aufgetaucht waren.
„Dann will die Rebellion nicht nur die Abgaben abschaffen, sondern auch die Sklaverei?”, fragte Valion. „Ja, wobei es scheint, dass der Wegfall der Abgaben generell viele Menschen davor bewahren wird, überhaupt Arbeitssklaven zu werden. Aber es geht auch um die Rechte derer, die jetzt Sklaven sind, und um eine Festlegung der Abgaben, damit eine so drastische Anhebung nicht erneut geschehen kann. Die Welt hat sich weiterbewegt - die einfachen Menschen nehmen jetzt Einfluss auf die Geschicke ihres Landes, nicht nur der König und der Adel.”

Tarn machte eine Pause, dann sagte er leise, als hätte er selbst jetzt noch Angst, dass ihn jemand hören könnte: „Manchen reicht nicht einmal das. Sie sprechen davon den König zu stürzen.” Valion klappte die Kinnlade herunter. „Aber… aber wir soll… ich meine, ohne König, kann das überhaupt…?” Er brach ab, weil die Vorstellung ihn überwältigte. Den König stürzen? Das war abwegig, völlig unmöglich! „Es wird als ein letzter Ausweg gesehen”, beschwichtigte Tarn ihn. „Bisher nehmen wir nur verborgenen Einfluss und sammeln Informationen, und wir helfen denen, die ungerecht behandelt werden, sofern wir es können. Die Menschenhändler sind vor allem deshalb das Ziel unserer Beobachtungen, weil sie gute Kontakte zum Königshaus haben. Ein Sklave, der bis dorthin vordringt, kann seinen Einfluss nutzen. Aber die Händler wissen das natürlich auch, vor allem Männer wie Eravier. Sie fürchten um ihren Einfluss und ihre Privilegien - wenn die Sklaverei zurückgeht, oder am Ende sogar verboten wird, dann wird alles was sie sich aufgebaut haben zusammenbrechen. Deshalb konzentrieren sich hier sowohl unsere Verbündeten als auch unsere Feinde.” 

Für einen Moment schwiegen sie beide, Tarn erschöpft vom Erklären, Valion überwältigt von dem Umfang und der Tragweite der Informationen, die er gerade erhalten hatte. Die Worte seines Vaters hatten ihn aufgerüttelt, doch jetzt füllte ihn all sein neues Wissen mit Hilflosigkeit. Die Rebellion plante nicht weniger als die Welt wie er sie kannte völlig zu verändern. Er verstand nun zumindest, warum seine Eltern Hilfe bei den Rebellen gesucht hatten, und wie es kam, dass die Rebellion ausgerechnet zu dem Zeitpunkt in seinem Dorf gewesen war, als Eravier auftauchte. Wenn sie sich an die Fersen der Menschenhändler geheftet hatten und ihm gefolgt waren, dann waren sie zwangsläufig auch mit Valions Schicksal in Berührung gekommen. Auf der anderen Seite änderte es aber nichts an der Situation, in der er feststeckte. Er hatte vage gehofft, dass die Rebellion ihm helfen konnte, doch jetzt wusste er, dass niemand einschreiten und ihn retten würde. Tarn hatte keine Macht, und die Rebellion hatte größere Pläne, als nur einen einzelnen Menschenhändler aufzuhalten, und selbst wenn sie das gekonnt hätten, war doch der König selbst gegen sie.

„Beantwortet das deine Fragen?”, fragte Tarn schließlich. Valion nickte und sagte bitter: „Ich wünschte, meine Eltern hätten schon früher etwas darüber erzählt. Ich wäre vorsichtiger gewesen, wenn ich gewusst hätte wie unangreifbar Eravier ist. Vielleicht wäre ich dann nicht hier.” Unglücklich wandte er sich von Tarn ab und ließ sich am Rand der Wiese ins Gras sinken. Die Schwermut und Hoffnungslosigkeit, die er so lange versucht hatte zu verdrängen, kehrten zurück. 
Bevor er ins Grübeln verfallen konnte, folgte Tarn ihm und setzte sich neben ihn. „Du bist jetzt aber hier, Valion. Du kannst davor nicht davon laufen und dich nicht in deine Gedanken zurückziehen. Du wirst nur unvorbereitet in dein Schicksal hineinlaufen”, sagte er ernst. „Was habe ich denn für eine Wahl?!”, fragte Valion verzweifelt. „Die Rebellion ist ja anscheinend nicht in der Lage, irgendetwas zu tun, oder?” „Doch, Valion. Aber es hängt auch von dir ab, und was du bereit bist zu tun. Wenn du willst, könntest du innerhalb von Tagen frei sein. Die Frage ist, ob du bereit bist den Preis dafür zu bezahlen.”

Diese Antwort hatte Valion nicht erwartet. Er sah Tarn prüfend an, ob es ein Scherz war, aber er blieb ernst, im Gegenteil, er schien jetzt noch ernster zu sein als zuvor. „Ich habe dich nicht aus reiner Sympathie und Höflichkeit eingeweiht, Valion. Deine Eltern haben die Rebellion seit Jahren mit allem was sie hatten unterstützt, und wir stehen in ihrer Schuld. Wir sind am Tag deiner Gefangennahme nicht eingeschritten, weil es zu einem Gemetzel gekommen wäre, und jedes Anzeichen, dass deine Eltern davon ausgingen dass du jemals zurückkehrst, hätte Eravier auf unsere Spur gebracht. Aber mit fortschreitender Zeit wird sein Misstrauen nachlassen, und dann können wir dich befreien.”

Valion starrte ihn nur an. Er war völlig überwältigt von der Möglichkeit, einfach in die Freiheit zurückzukehren. Es war wie der Tagtraum, den er gehabt hatte, nur plötzlich real und zum Greifen nah. „Aber wie soll das gehen? Wenn ich fliehe, dann werden sie bei meiner Familie nach mir suchen.” Tarn schüttelte den Kopf. „Die einzige Möglichkeit zu entkommen und deine Familie zu schützen ist, dass du sie niemals wiedersiehst. Wir werden deinen Tod vortäuschen, Valion.”
Er hätte es ahnen müssen. Es konnte nur einen Haken geben, und er hatte ihn gerade gefunden. „Das heißt, auch meine Familie wird mich für tot halten, oder?”, fragte Valion schwach, aber er kannte die Antwort schon, und sie war niederschmetternd. Natürlich durften sie nicht wissen, dass er noch lebte, er würde sie solange er und sie lebten immer in Gefahr bringen. Sie würden ihn ein zweites Mal verlieren, und diesmal für immer. Und er selbst? Wo würde er bleiben? Er nahm an, dass er dann ein Mitglied der Rebellion sein würde, versteckt vor dem Rest der Welt.

Tarn legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Du musst das nicht jetzt entscheiden, Valion. Es ist noch Zeit, bis deine Ausbildung zum Sklaven beginnt, und selbst dann können wir alles wie einen Unfall aussehen lassen. Es sei denn, du hast deine Wahl schon getroffen.” Valion zuckte mit den Schultern und fragte: „Was wäre die Alternative?” „Dass du ein Sklave wirst. Wenn du willst, könntest du der Rebellion trotzdem beitreten, und sie aus deiner Position heraus unterstützten. Aber ich denke du weißt, dass das nicht einfach wird.” 
Valion schüttelte stumm den Kopf. Als er weitersprach, sprach er mehr zu sich selbst. „Ich kann das nicht. Ich habe nie… ich meine, ja, aber… ich war verliebt.” Er sah zu Tarn, und bemerkte im selben Moment, was er da gerade freimütig preisgegeben hatte, und wünschte sich sofort an einen ganz anderen Ort. Er konnte regelrecht spüren, wie sich sein Kopf knallrot färbte, aber wenigstens lachte Tarn ihn nicht aus. Er schmunzelte, aber dann sagte er sanft: „Du wärst überrascht wie vielen Menschen es ähnlich geht.”
Damit ließ er das Thema fallen und sah stattdessen in den Himmel, wo der Abendstern bereits seit einer Weile leuchtete. „Es wird spät, wir müssen zurück. Jefrem bringt uns um, wenn den Pferden im Dunklen etwas passiert.” „Ja”, antwortete Valion abwesend, aber er sah nicht auf die Sterne oder die Pferde, sondern auf die Lichter des Wagenzuges. Jetzt, da die Dunkelheit hereinbrach, schienen die Laternen und Feuer immer heller und zahlreicher. Er hätte sich gern gefühlt als würde er in eine Art Zuhause zurückkehren, doch auf ihn wartete nur sein Gefängnis und eine grobe Eisenhandschelle. Tarn folgte seinem Blick und sagte nachdenklich. „Es erscheint einem in der Dunkelheit sehr nahe, nicht wahr?”

Für einen Moment wusste Valion nicht, warum ihm dieser Moment so vertraut vorkam. Dann dachte er an seinen Vater, und wie sie gemeinsam am Feldrand gesessen hatten, und der Schmerz überwältigte ihn. „Valion?” „Es ist nichts”, behauptete Valion schniefend, aber die großen Tränen, die seine Wangen hinunterliefen straften seine Worte Lügen. „Ist schon gut”, sagte Tarn besänftigend, aber Valion schüttelte wütend den Kopf, wütend über seine Tränen und wütend darüber, dass nichts gut war. Tarns beruhigende Hand fuhr sanft in seinen Nacken, zog ihn zu sich und bettete Valions Kopf an seine eigene Schulter, und er ließ es zu. Er ließ seinen Tränen freien Lauf, und obwohl es ein Trost war, dass er nicht allein war, war es nicht genug. Das war nicht seine Heimat, er sah hier nicht über den Acker, auf dem er von morgens bis abends arbeitete, und hinter ihm erhob sich nicht das Haus, das sein Urgroßvater gebaut hatte. Es war nicht gerecht, dass er hier war, dass sein Vater so unerreichbar für ihn war und nur das Echo seiner Worte ihn quälen konnte, jetzt, da er ihn so dringend brauchte. Und weil er kein Sklave werden konnte, um nichts in der Welt, weil er dafür zu feige und zu schwach war, würde er seinen Vater auch niemals wiedersehen.

Als sie schließlich den Weg zurück zum Pestwagen einschlugen, war die Dunkelheit endgültig hereingebrochen. Irgendwo auf dem Weg hatten sich ihnen zwei Wächter angeschlossen, und Valion erkannte schließlich, dass sie tatsächlich auf ihn und Tarn gewartet hatten. Er war versucht, Tarn einen vielsagenden Blick zu zuwerfen, aber dann verbot er es sich. Jede Andeutung, dass sie ein gemeinsames Geheimnis hatten, egal wie unauffällig, konnte jetzt gegen ihn verwendet werden. 
Valion nutzte stattdessen die Zeit, sich umzusehen und sich die Gesichter anderer Diener und Wächter einzuprägen, die ihrer Arbeit rund um den Wagenzug nachgingen. Die Wächter waren sämtlichst große, kräftige Männer. Sie trugen keine Abzeichen oder identifizierenden Kleidungsstücke, sondern stachen nur durch ihre Größe und Masse aus der Schar der Dienerschaft heraus, und teilweise durch eine beeindruckende Anzahl von Narben. Nicht alle von ihnen trugen Waffen, und Valion bemerkte, dass einige das Lager zielstrebig verließen und in die Dunkelheit außerhalb der Laternen und Kochfeuer eintauchten. Er zählte eins und eins zusammen und schloss daraus, dass einige der Wächter im Dunkeln, außerhalb des Lichtkreises, bewaffnet auf der Lauer lagen und sowohl Eindringlinge als auch Flüchtlinge überraschen konnten.
Die Dienerschaft setzte sich aus erwachsenen Männern und Frauen zusammen. Der Abend war für sie anscheinend die anstrengendste Zeit des Tages. Fast alle waren in ihre jeweiligen Aufgaben vertieft, kochten, reparierten, wuschen und prüften Vorräte, und viele warfen Valion nur einen desinteressierte Seitenblick zu und wandten sich dann ab. Doch einige starrten ihn auch unverhohlen neugierig an. Nach wie vor sah er keine anderen Sklaven, und auch die Menschenhändler und deren Familien waren nicht zu sehen. Er fragte sich, ob sie den nächtlichen Trubel einfach verschliefen und stattdessen die Tage nutzten, oder ob sie es vorzogen ungestört zu sein.

Er hätte sich gern weiter umgesehen, doch im nächsten Moment waren sie auch schon am Pestwagen angekommen. Valion betrachtete sein Gefängnis von außen. Zuvor, als er es verlassen hatte, hatte er sich nicht die Zeit genommen einen genaueren Blick darauf zu werfen. Es war tatsächlich der schlichteste unter den Wagen, und er war auch kleiner als die anderen, doch gleichzeitig mutete er massiv an, wie eine Festung aus Holz. Auch die gespannten Stoffplanen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er gebaut worden war um als Gefängnis zu dienen. 
Mit innerem Widerwillen kletterte Valion in den Wagen, hielt aber sogleich inne. Er registrierte erstaunt, dass bereits eine Laterne und Tarns Medizintasche im Inneren standen, und dass sein Kleidungsbündel nachlässig zur Seite gefegt worden war. Und noch eine Überraschung wartete auf ihn - seine Handfessel war getauscht worden gegen eine Fußfessel mit größerem Umfang. Für einen Moment fragte er sich verdutzt, wie das sein konnte - Tarn hatte sein aufgeschürftes Handgelenk bemerkt, bevor sie aufgebrochen waren und hatte keine Gelegenheit gehabt, diesen Austausch zu veranlassen. Die Erkenntnis, dass er von Beginn an genau beobachtet worden war und jemand sofort auf eine Verletzung reagiert hatte, die er selbst nicht einmal für wichtig nahm, bestätigte nur alle Warnungen, die Valion erhalten hatte. Jemand beobachtete ihn sehr genau und nahm von jedem Detail Notiz.


Tarn trat hinter Valion herein. Ein Blick auf sein Gesicht bestätigte, dass er die selben Schlüsse zog, doch er verbarg seine Überraschung besser. Er trat zur Seite und ließ den ersten Wächter gewähren, der ebenfalls hereingekommen war, Valion wortlos die Fußfessel umlegte und sie sorgfältig schloss. Damit schien seine Aufgabe schon erledigt zu sein, denn er verließ den Wagen ohne Gruß oder weiteren Blick.
Valion sah sich verloren im Wagen um und dachte daran, dass er etwas vermisste. Dann fiel ihm ein, dass er noch kein Wort von Jan gehört hatte, dabei hätte ein Kommentar oder Witz von ihm doch eigentlich das erste sein müssen, das er hörte. Er erwog für einen Moment, Jan aufzuwecken, aber dann hielt er sich zurück. Er hatte zwar eine Menge zu erzählen, aber das konnte auch bis zum nächsten Morgen warten. 


„Ich schätze Jan schläft schon”, flüsterte er Tarn zu, der sich vor seine Medizintasche gekniet hatte und einen sauberen Verband aussuchte. Er lächelte ein wenig bei Jans Erwähnung und flüsterte zurück: „Wer schläft sündigt nicht. In Jans Fall entgehen der Welt dadurch vermutlich eine ganze Menge Sünden.” Valion lachte leise auf und versuchte sich trotz Fußfessel bequem hinzusetzen, dann streckte er ungefragt seinen Arm aus und ließ sich verbinden. Sie sprachen nicht, und es war Valion recht. Er wollte Jan nicht wecken, und sie hatten heute genug besprochen. Auch so schwamm sein Kopf schon - er nahm sich fest vor, sich sofort hinzulegen. 
„Geht es so?”, fragte Tarn, als er fertig war. „Ja, danke. Vermutlich sollte ich dankbar sein, dass ich derartig überwacht werde, sonst hätte ich jetzt immer noch eine Handfessel”, scherzte Valion, doch Tarns ernster Blick ließ ihn das sofort bereuen. Niemand durfte wissen, dass er eingeweiht war, und selbst ein Scherz konnte ihn verraten. Wie konnte er sicher sein,  dass nicht gerade jetzt jemand mithörte? Plötzlich befiel ihn eine unheimliche Beklemmung, die gar nicht mehr von ihm weichen wollte, und er musste sich zusammenreißen, sich nicht hektisch umzusehen. Er dachte an seinen Zusammenstoß mit dem Spion, der ihn aus dem Hinterhalt überfallen und zu Boden geworfen hatte und meinte, einen Atemhauch im Nacken zu spüren. Unbehaglich verschränkte Valion die Arme. „Tut mir Leid”, murmelte er.

„Ich sollte jetzt gehen”, sagte Tarn kurz angebunden, „mich erwartet heute Nacht noch Arbeit.” Valion nickte eingeschüchtert, und Tarn tat es in diesem Moment Leid, dass er ihn schon so früh eingeweiht hatte. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Valion von selbst begriff wie er sich verhalten musste. Jetzt war er unnötig verunsichert und misstrauisch. Er würde darüber hinweg kommen, aber es würde Zeit brauchen.


Aber hätte er den eigenständigen Lernprozess auch unbeschadet überstanden? Tarn musste sich eingestehen, dass er davon nicht überzeugt war. Valion hatte etwas Seltenes, Wertvolles, eine ehrliche und naive Unvoreingenommenheit, die ihresgleichen suchte. Er ging auf Menschen zu, als wäre er völlig blind für ihre Fehler oder Schwächen. Es war eine rare und gefährliche Eigenheit - wie behütet musste der Junge aufgewachsen sein, dass diese Offenheit nie zerstört worden war? Rührte es wirklich daher, dass er einfach keinen Kummer kannte, oder war das ein unabänderlicher Wesenszug? Das fragte Tarn sich seit dem Moment, als er Valion im Haus seiner Eltern zum ersten Mal wirklich begegnet war. Valion hatte ihm von einem Moment auf den anderen völlig vertraut, ohne Fragen, ohne Wenn und Aber. Und das Merkwürdige war, dass es abfärbte. Er hatte das Gefühl ein besserer Zuhörer und aufmerksamerer Arzt zu sein, nur dadurch, dass Valion genau das von ihm erwartete. Vielleicht war es das, was Eravier an ihm aufgefallen war. Er suchte die Sklaven passend zu ihren angestrebten Käufern aus, und er musste eine vage Ahnung gehabt haben, wer Valions charakterliches Gegenstück war.


Doch es stellte sich die Frage, wie lange Valion seine Einstellung aufrecht erhalten konnte. Tarn fürchtete und war sich gleichzeitig sicher, dass seine neue Umgebung ihn unweigerlich zerbrechen würde, und gerade deshalb hatte er das Gefühl, Valion davor bewahren zu müssen. Selbst wenn es bedeutete, dass er lernen musste sich vor seiner Umgebung zu fürchten. 

Der Grundstein dafür war gelegt, das war das Wesentliche. Er musste aufhören zu versuchen, die Zukunft vorherzusehen, vor allem jetzt. Für heute war es genug. Beschwichtigend sagt er: „Schlaf jetzt, und mach dir nicht zu viele Sorgen. Morgen wird es anstrengend genug.” Valion nickte zur Antwort, nicht überzeugt, aber in dem offensichtlichen Versuch, tapfer zu sein. Es war anrührend, und er strich seinem Schützling durch die struppigen blonden Haare. „Kopf hoch.” Bevor er sich dazu hinreißen lassen konnte, noch mehr Sympathie zu zeigen, nahm er seine Tasche und die Laterne und verließ den Wagen.

Außerhalb des Wagens erwartete ihn nicht die Stille und Dunkelheit der Nacht, obwohl er sich gern ein paar Minuten Ruhe gegönnt hätte. Stattdessen tauchte er in die lärmende, fast taghelle Betriebsamkeit des Lagers ein. Kurz nach Sonnenuntergang erreichten die Vorbereitungen für den nächsten Tag ihren Höhepunkt. Die Feuer brannten jetzt besonders hell, und das Nachtmahl für die Händler war kurz vor der Fertigstellung. Aber bevor es so weit war und er selbst etwas essen konnte, hatte er noch zu tun.


Er sah sich um, ob er einen der anderen Händler ausmachen und nach Eraviers Verbleib fragen konnte. Zu seinem Ärger entdeckte er nur Karvash in Begleitung einer seiner Frauen, wie sie durch das Durcheinander flanierten und allen im Weg standen. Wo auch immer Karvash hinging, er wirkte als würde er in einem gepflegten Park spazieren gehen und Konversation machen. Leider erschöpften sich damit seine Talente. Seine Statur bewegte sich wie alles was er tat im absoluten Mittelmaß, er war weder groß noch klein und weder dick noch dünn. Er war Mitte dreißig und nicht unattraktiv, was ihm zu seinen drei Mätressen verholfen hatte, die er auch ohne kirchlichen Segen seine Ehefrauen nannte, und er hatte die Frechheit besessen sie alle auf diese wochenlange Reise mit zu schleppen. Er war ein kriecherischer Nichtsnutz, und eigentlich nur auf Zutun eines Gönners hier. Eravier hatte Karvash von Anfang an Tarns Fürsorge überantwortet, und Tarn hasste jede Minute, die er damit zubringen musste in Karvashs Nähe zu sein. 
Widerwillig steuerte Tarn auf ihn zu, mit der festen Absicht, sich nicht in ein Gespräch verwickeln zu lassen, und fragte ohne Umschweife: „Wo ist Eravier?” Karvash, der sich offensichtlich gestört fühlte, wandte sich mit einem Stirnrunzeln zu ihm um. „Tarn. Ich hoffe du kannst mir Gutes von den Pferden berichten? Ich denke nämlich, dass weitere Ausfälle unsere Reise nur unnötig verzögern werden.” Tarn verbiss sich eine Bemerkung. Karvash hatte sich recht früh im Verlauf ihrer Reise eine Aufgabe gesucht, oder besser gesagt, er beschäftigte sich mit Dingen, die nicht in seiner Verantwortung lagen und die Jefrem und er selbst bestens im Griff hatten, wie die Auslastung der Pferde.

Es war nicht kompliziert - die Pferde brauchten genügend Pausen, genügend Futter und Wasser und eine medizinische Versorgung, nichts, was ein Stallmeister und ein Arzt nicht koordinieren konnten. Einige Pferde fielen immer wegen Verletzungen aus, entweder für eine kurze Zeit, oder für den Rest der Reise - in diesem Fall wurden sie getauscht. Aber Karvash hatte sich in den Kopf gesetzt, den Ausfall jedes Pferdes und jede Einteilung der Tiere kritisch zu kommentieren, vor allem wenn er eine  »mangelnde Auslastung« vermutete. Im Fall der Stute, die sich am Geschirr verletzt hatte, hatte er besonderen Starrsinn bewiesen, und Tarn stritt sich seit Tagen mit ihm darüber, wann sie wieder ihre Last tragen konnte. „Ich denke, dass Joshanna für den Rest der Reise einsatzbereit ist. Wo ist Eravier?”, antwortete er knapp angebunden. „Ich denke, wir sollten schnellstmöglich darüber sprechen, was-”, setzte Karvash an, aber Tarn unterbrach ihn nachdrücklicher: „Wo ist Eravier? Er erwartet mich. Ich kann ihm natürlich gern sagen, dass du mich aufgehalten hast, Karvash, dann diskutierst du das mit ihm aus.” Für einen Moment herrschte empörte Stille, dann sagte Karvash verschnupft: „Er hat unser Gespräch heute etwas eher beendet und sich sofort in seinen Wagen zurückgezogen.”

Tarn nickte und ging ohne ein weiteres Wort davon, aber er hörte Karvashs Frau in seinem Rücken empört fragen: „Warum lässt du dir das immer wieder von diesem Diener gefallen, Gael?” Und auch Karvashs teils empörte, teils hämische Antwort darauf verstand er laut und deutlich: „Es gibt nur einen von dem er sich das Maul stopfen lässt, Schatz, und das ist Ansin Eravier. Aber der tut es gründlich.” Tarn überlegte, ob er zurück gehen und Karvash vor den Augen aller zusammenschlagen wollte, bis er nach seiner Mutter schrie, aber wie so oft zähmte er seine Wut. Karvash hielt sich für klug, aber das Offensichtliche auszusprechen war keine Kunst.


Valion hatte eigentlich vorgehabt, sich sofort schlafen zu legen. Er griff nach seinem Kleiderbündel und hob es an, wollte es unter seinen Kopf schieben, und hörte ein leises, mahlendes Knirschen und Klirren.


Verwirrt richtete er sich auf, sein Bündel immer noch in den Händen. Er bewegte es hin und her, und das selbe, leise Klirren erklang. Was war da drin? Hatte ihm jemand etwas zugesteckt, während er weggewesen war? Ungeduldig breitete er sein Bündel aus, und als erstes rieselten ihm kleine, silbrige Splitter entgegen. Er betastete sie vorsichtig, und prompt bohrten sich einer davon in seine Fingerkuppe, sodass er schmerzerfüllt aufzischte. Ein kleiner Blutstropfen bildete sich und rann seine Hand hinab, und ärgerlich steckte er den Finger in den Mund. Wer auch immer diesen Gegenstand in sein Gepäck gestopft hatte, würde Ärger kriegen. Vorsichtig schüttelte er die Splitter aus, und plötzlich fielen ihm größere Splitter entgegen und landeten klirrend auf dem groben Holzboden, und dann ein runder, glänzender Gegenstand. Er betrachtete ihn entgeistert, und sein Spiegelbild, durchzogen von geisterhaften, spinnwebgleichen Rissen, starrte zu ihm zurück. Milas Spiegel.


Wie war das möglich? Valion griff nach dem geschnitzten Rahmen und hob den Spiegel hoch, und weitere Splitter lösten sich und fielen leise klirrend zu Boden. Er musste ihn an dem Tag seiner Abreise geistesabwesend eingesteckt haben. Oder hatte jemand anders ihn zu seinem Gepäck gelegt, zum Beispiel seine Mutter? Er wusste es nicht, und sein Gedächtnis ließ ihn im Stich. Doch jetzt, da er ihn sah, befiel ihn schon wieder Heimweh. Das letzte Mal, als er hineingesehen hatte, war er zuhause gewesen und hatte gepackt. Jetzt saß er hier, und hatte einen wichtigen Wertgegenstand seiner Familie zerstört. Oder irgendjemand anders. Wer auch immer seine Sachen beiseite geräumt hatte, war dabei wohl nicht zimperlich gewesen.

Plötzlich befiel ihn Angst. Was war, wenn er seine Sachen verlor, oder nicht behalten durfte? Wenn sie jetzt schon nachlässig mit seinen Gebrauchsgegenständen umgingen, würden sie später nicht einfach damit aufhören. Er umklammerte den Spiegelrahmen fest. Er war zerbrochen, aber wer immer noch eine kostbare Erinnerung. Kurz entschlossen drehte er den Rahmen um, schüttelte ihn vorsichtig und ließ die Scherben herausfallen, die sich nicht mehr in der Einfassung hielten. Dann sah er sich um. Er musste den Spiegel verstecken, wer weiß für wie lange. Warum hatte er bisher nur nach einem Ausweg gesucht, und nicht nach einem Versteck? Er musste lernen besser zu planen. Verstecke waren so wichtig wie Fluchtwege, das musste er sich jetzt einprägen. 
Hastig sprang er auf, sah sich den Wagen erneut an, rüttelte an losen Brettern im Boden und an den Seiten des Wagens. Doch er fand keine losen Dielen, die er verschieben oder zur Seite biegen konnte. Stattdessen ertastete er zwischen einigen Brettern Hohlräume, wo sich das Holz im Lauf der Zeit zusammengezogen und Lücken hinterlassen hatte. Kurz entschlossen zog er sein Hemd aus, das er nun schon einige Tage trug, und warf es auf den Boden. Er wollte sich sowieso seit geraumer Zeit umziehen. Schnell schüttelte er die letzten Splitter aus seinem frischen Hemd und zog es hastig über, obwohl seine Schulter protestierte, dann versuchte er sein schmutziges Hemd mit bloßen Händen zu zerreißen. Aber er schien nicht stark genug zu sein, denn so sehr er auch zerrte, er schaffte es nicht den Stoff aufzutrennen. Er bewirkte nur, dass seine Schmerzen im Rücken und in den Schultern aufflammten.


Hilfesuchend sah er sich um, und sein Blick fiel auf einige der größeren Spiegelsplitter. Perfekt. Er fuhr aus seinem Hemdsärmel und benutzte ihn, um seine Hand gegen die scharfen Kanten der Scherbe zu schützen, dann begann er zu schneiden und zu reißen. Er betete, dass nicht gerade jetzt jemand kommen und seine Arbeit stören würde. Er hatte jetzt ein Versteck, zusätzlichen Stoff, ein Erinnerungsstück und eine provisorische Waffe, alles Dinge die er unbedingt sichern musste. Sein übermüdeter, hyperaktiver Verstand fragte sich während er arbeitete einen Moment, ob er jemand mit einem der Glassplitter töten könnte, und er entschied kurzerhand, dass er es im Hinterkopf behalten musste. Wenn schon nicht töten, so konnte er zumindest eine Menge Schaden anrichten, beispielsweise im Gesicht. Er hätte beinahe darüber gelacht, dass er tatsächlich erwog einen oder mehrere ausgewachsene Männer mit einer Glasscherbe anzugreifen, aber verkniff es sich. 


Endlich hatte er das Hemd in Fetzen zerlegt, und bettete den Spiegel darauf, dann begann er ihn einzuwickeln. Hastig ging er zu einem Spalt, der vermutlich auch tagsüber im Dunkeln liegen würde, nahe der Trennwand, und schob er den Spiegel in seinem Bett aus Stofffetzen in den Spalt, immer vorbereitet darauf, dass jemand hereinkommen würde. Seine Stirn war plötzlich schweißnass, und er wischte sie geistesabwesend ab, während er er den Spiegel Stück für Stück in seinem Versteck versenkte. Zwischendurch verhakten sich die Verzierungen immer wieder, und er musste rütteln und die Verkantung lösen, aber schließlich hatte er es endlich geschafft. Waren nur noch die Scherben übrig. Für sie hatte er einen einzelnen Stoffstreifen aufgespart. Er wickelte die größten Splitter schnell und sorgfältig ein, den Rest versuchte er so weit zu verstreuen, dass sie nicht mehr auffielen. Wenn er Glück hatte, würden sie bald in die zahlreichen Vertiefungen des Holzbohlenbodens fallen und dort unentdeckt bleiben. Alle Splitter bis auf einen versteckte er in einer weiteren Vertiefung, den letzten steckte er in eine Ritze in der Seitenwand, gleich neben der Stelle, an der er zu schlafen pflegte.


Erst jetzt lies er sich erschöpft fallen. Die Angst, dass sein Tun entdeckt werden könnte, hatte ihn völlig aufgepeitscht. Für einen Moment fürchtete er, dass er Jan mit seiner hektischen Arbeit aufgeweckt hatte, aber es war immer noch ruhig. 
Plötzlich kam ihm die Stille falsch vor. Das war nicht die Stille die entstand, wenn jemand nebenan schlief. Er lauschte, und hörte keinen Atem, kein leises Rascheln einer Decke. Er hatte sich getäuscht. Jan schlief nicht. Jan war überhaupt nicht da.

Ungehalten steuerte Tarn auf Eraviers Wagen zu, der wie immer ein wenig abseits aufgestellt war und so zumindest die Illusion von Privatsphäre gewährte. Eravier reiste nicht in einer Kutsche, auch nicht tagsüber, ganz im Gegensatz zu den anderen Händlern. Das war weniger seiner Bescheidenheit als seinem gesunden Menschenverstand geschuldet, zumindest wenn man so kühn war Worte wie gesund und Verstand mit Eravier in Verbindung zu bringen. Die Reise in den Wagen war weniger prunkvoll, aber weitaus bequemer, und gewährte einen gewissen Luxus, was die Bewegungsfreiheit anging.
Eraviers Wagen wirkte von außen bescheiden, aber er war nicht nur breiter gebaut als die meisten, sondern auch leichter, und bot deshalb Kapazität für zusätzliche Luxusgüter: eine echte Strohmatratze mit einer regelrecht pompös wirkende Ansammlung von Decken und Kissen als Schlafstätte, einen Platz zum Schreiben und Essen, eine Kiste voller Bücher für die Zerstreuung an regenverhangenen Tagen und eine ebenso große Truhe für eine umfangreiche Reisegarderobe. 

Betrat man den Wagen, so wie Tarn es jetzt tat, dann erkannte man sofort die Wohnstätte eines Kulturliebhabers. Der Innenraum war immer ordentlich und großzügig mit Laternen versehen, die es erlaubten sich an jedem beliebigen Ort niederzulassen und zu lesen. Allen Einrichtungsgegenständen haftete stets der angenehme Geruch von ätherischen Ölen an, eine willkommene Abwechslung zu dem sonst überall präsenten Geruch der Pferde.
Der positive Eindruck konnte natürlich schnell getrübt werden, beispielsweise durch zwei junge Männer auf dem Boden, die von jeweils zwei Wächtern eisern festgehalten wurden. Oder von frischen Blutspritzern auf dem Boden, dort wo der eine Junge, der jetzt leise schluchzte, vermutlich mit dem Kopf aufgeschlagen war. Oder von dem diabolischen Lächeln Eraviers, der an seinem Schreibplatz saß und von dort aus das Schauspiel beobachtete.
„Ah, Tarn”, sagte er einladend und winkte ihn herein. Er schien gute Laune zu haben, wie immer, wenn er die Oberhand hatte. „Komm doch herein.”


Tarn sammelte sich und trat über die Jungen hinweg und zu Eravier. Er warf nur einen flüchtigen Blick nach unten und erkannte keinen der beiden. Ihre Gesichter waren dem Boden zugewandt, sodass er nur sehen konnte, dass der schluchzende Junge dunkelhaarig war und der andere, der immer wieder verhalten hustete, hellblond. Eine vage Ahnung zerrte an ihm und seine Intuition sagte ihm, dass er einen der beiden kennen musste, aber er hatte keine Zeit darauf zu reagieren, deshalb schob er seine Gedanken schnell von sich und wandte sich ganz Eravier zu.
„Du wolltest mich sehen”, sagte er unverbindlich und nickte den Jungen zu. „Wegen ihnen?” „Nein nein, die sind nicht der Rede wert. Ich hatte nur das Bedürfnis nach etwas kultivierter Gesellschaft, nachdem ich mir eine geschlagene Stunde Gewäsch anhören musste, deshalb habe ich dich gerufen.” Tarn nickte. Eravier musste gerade aus der täglichen Besprechung mit den anderen Menschenhändlern kommen, und Tarn hätte lügen müssen wenn er behauptet hätte, dass er deren Gesellschaft schätzte. Karvash war eine Sache, er musste auf Eravier hören und seinen Befehlen Folge leisten, doch für Faure und Besnard galt das nicht. Sie akzeptierten Eraviers Führung der Reise nur widerwillig, auch wenn ihre Furcht ihnen einen gewissen Respekt gebot.


Das erklärte jedoch noch nicht, was die beiden Gefangenen bedeuteten. „Warum sind die beiden hier?”, fragte Tarn nach. „Ich hatte eine kleine Unterredung mit meinen Informanten. Du siehst hier meinen letzten gescheiterten Versuch, die Rebellion in meinen Reihen aufzuspüren”, erklärte Eravier im amüsierten Plauderton. „Gescheitert?” „In der Tat”, bestätigte Eravier mit der gleichen, heiterem Gelassenheit. „Ich habe das Gefühl, ich muss einige meiner Spione austauschen. Ich meine, stell dir das vor, ihn...”, sagte er und deutete auf den schluchzenden Jungen, „…hat man erwischt, wie er Nachrichten weitergab, und worum handelte es sich? Ein paar Liebesbriefchen an eine Sklavin.” „Nun, es ist verboten, dass Diener mit Sklaven Umgang haben. Du hast ihn überführt”, meinte Tarn mit einem Achselzucken. „Natürlich, aber ich bitte dich - das ist wohl kaum meine Zeit wert. Mein Spion war überzeugt, dass er die Verbindung zur Rebellion gefunden hätte. Wisst ihr was, schafft ihn raus.”, sagte er an zwei der Wachen gewandt, die den dunkelhaarigen Junge auf die zitternden Füße zogen. „Gebt ihm ein paar Peitschenhiebe, das sollte genügen. Moment, zeigt mir noch einmal sein Gesicht.” Die Wachen drehten den Jungen herum, und er starrte Tarn und Eravier aus großen, panischen Augen an. Tarn erkannte ihn, er war der Sohn eines älteren Dieners und Schuldsklave in zweiter Generation. Das war seine erste Reise im Wagenzug, und er war erst um die sechzehn Jahre alt. Tarn konnte sich gut vorstellen, dass Neugier und jugendlicher Übermut ihn dazu getrieben hatten die Regeln zu brechen. Jetzt erlebte er die kummervollen Auswirkungen einer unmöglichen und verbotenen Liebe und die postwendende Strafe dafür, was Mitleid in Tarn weckte. 


Doch zumindest in einem Punkt hatte er Glück; er hatte ein unauffälliges, rundes Gesicht und eine Reihe alter Pockenmale, und Eravier verlor augenblicklich das Interesse an ihm. Er winkte gelangweilt ab und sagte: „Nein, vergesst es. So wie er aussieht, würde es keinen Spaß machen zu zusehen.” Tarn sah in den Augen der Wachen den selben entsetzten Ekel, den auch er spürte, aber genau wie er waren sie zu lange dabei, um sich Irgendetwas anmerken zu lassen. Sie nickten nur und warteten darauf, endlich fortgeschickt zu werden, was Eravier nun mit einer Handbewegung tat. „Erledigt das, dann lasst euch für den Wachdienst einteilen.” Die zwei Wachen verschwanden, und zurück blieb der andere Junge und die zwei Wachen, die ihn nach wie vor festhielten.


„Und was ist mit ihm?”, fragte Tarn, der spürte dass Eravier genau das von ihm erwartete. „Der ist ein interessanterer Fall. Sein Name ist Jan…” Tarn fuhr zusammen und richtete seinen Blick auf den Jungen. Natürlich, der Husten hätte ihn sofort auf die Spur bringen müssen, aber er war so verflucht müde, dass er es ignoriert hatte. Jan lag völlig still, aber auf einen Wink von Eravier hin zerrte einer der Wächter ihn hoch. Er war jetzt um einige Schrammen, einen Schnitt im Gesicht und ein blaues Auge reicher, dennoch sah er heute wesentlich gesünder aus als sonst. Er schwieg, aber er starrte Tarn und Eravier mit einem vernichtenden Blick an. Tarn, der bisher fest davon ausgegangen war, dass Jan immer noch in seiner Zelle schlief, wurde sofort von einer üblen Vorahnung befallen. Jan und Valion standen sich von Beginn an recht nahe, eine Freundschaft aus heiterem Himmel. Wenn Valion ihm gegenüber auch nur ansatzweise die Rebellion erwähnt hatte, lagen sein und Valions Leben jetzt in Jans Händen. „Du kennst den Jungen?”, fragte Eravier lauernd, und Tarn riss sich zusammen. Was auch geschah, er durfte sich keine Blöße geben. „Er sitzt im Pestwagen ein. Ich habe mich mehrmals um ihn gekümmert.” „Dann hast du bestimmt schon Bekanntschaft mit seinem losen Mundwerk gemacht”, sagte Eravier heiter. „Ich musste ihn nicht nur schlagen, sondern auch noch drohen, ihm die Zunge herauszuschneiden und ihm das Messer direkt vor’s Gesicht halten, damit er wusste, dass ich es ernst meine.” Jan blickte nur trotzig drein, und Tarn bewunderte für einen Moment seine absolute Unverfrorenheit. Es gab nicht viele Menschen, die Eravier so weit herausforderten und das nicht nur überlebten, sondern ihren Widerstand auch noch aufrecht erhielten. Eravier fuhrt fort: „Mein Spion informierte mich, dass er und unser neuster Schützling einige intensive Gespräche geführt haben. Und du weißt, was ich von unserem kleinen Valion halte.” „Er steht möglicherweise mit der Rebellion in Verbindung”, sagte Tarn nüchtern. „Hinter diesem unschuldigen Gesicht verbirgt sich möglicherweise etwas außerordentlich Teuflisches, und ich bin äußerst daran interessiert es aus ihm heraus zu schälen. Gern auch wörtlich”, meinte Eravier, und das perverse Vergnügen in seiner Stimme jagte Tarn einen Schauder über den Rücken. Er würde Valion zu gegebener Zeit davor warnen müssen, dass Eravier auf dem besten Wege war, eine Obsession für ihn zu entwickeln. „Leider war unser kleiner Freund hier nicht sehr hilfreich dabei, das Geheimnis unserer Neuanschaffung ans Licht zu bringen”, fuhr Eravier bedauernd fort, und Tarn atmete innerlich auf. „Ihre Gespräche lassen sich auf vier sehr einfache Themen herunterbrechen: Freunde, Familie, Kindheitserlebnisse, und wie viele Schlampen unser kleiner Freund hier gefickt hat. Sehr fleißig, und sehr uninteressant.”, dozierte Eravier kalt, und Tarn verbiss sich einen scharfen Kommentar. Was auch immer Jan in seiner Freizeit getrieben hatte und was er davon Valion erzählt hatte, ging nur ihn etwas an. Doch genauso abrupt wie Eraviers Laune, so konnte auch seine Wortwahl unvermittelt ins Vulgäre und Verletztende abgleiten.

Jan schien es allerdings gelassen hinzunehmen, im Gegenteil, es gab ihm nur neue Munition für sein eigenes loses Mundwerk. „Da wir jetzt mein Liebesleben und meine Schlampen abgehakt haben, hätte ich eine Frage.” Eravier fixierte ihn und gab einer der Wächter einen Wink, und prompt bekam Jan eine Ohrfeige. Er lachte nur, brach in Husten aus, der sich aber schnell beruhigte, und ignorierte Tarns warnenden Blick, um Eravier weiter anzustarren. „Ich deute das mal als Sprecherlaubnis”, ätzte er und kassierte die nächste Ohrfeige, die wieder ihre Wirkung verfehlte. Verächtlich nickte er den Wärtern zu und sagte: „Das ist ein bisschen lasch. Wie war das vorhin, es gibt eine Peitsche?” „Jan!”, versuchte Tarn ihm Einhalt zu gebieten, aber Eravier brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen und betrachtete Jan nachdenklich. „Man kann sagen, was man will, aber er ist ein charmantes Kerlchen. Gut, stell’ deine Frage.” Jan nickte und fragte: „Ich wüsste gern, ob ich endlich aus dem Pestwagen heraus verlegt werden kann. Ich bin gesund. Tarn, sag’ ihm, dass ich gesund bin.”

Eravier runzelte die Stirn und wandte sich ebenfalls an Tarn: „Ich bin etwas verwirrt, was es mit ihm auf sich hat. Wer hat ihn gekauft?” „Faure”, gab Tarn pflichtschuldig Auskunft. „Es wurde Geld an uns gezahlt, damit er mitkommen kann, seine Familie wird bei seinem endgültigen Verkauf kompensiert.” Eravier seufzte. „Faure, Faure… warum treibt er nur solche Spielchen? Das ist doch viel zu kompliziert. Wozu der Aufwand? Er ist ein hübscher Junge, man wird sich um ihn reißen. Warum musste er zahlen?” „Zu dem Zeitpunkt waren er und seine ganze Familie krank. Es war ein zu großes Risiko, dass er stirbt.” Eravier lachte auf. „Und Faure hat ihn trotzdem mitgenommen? Er muss einen passenden Käufer im Auge haben, denn wenn nicht, dann Gnade ihm Gott. Und wie steht es jetzt um Jan? Du hast doch bestimmt eine Empfehlung für ihn, als Arzt”, sagte er mit unverhohlenem Hohn. Tarn ignorierte den Spott und sah zu Jan, der seinerseits nur ihn fixierte. Sein Blickwar flehentlich und voller vager Hoffnung, und Tarn war sich bewusst, dass er seine Pläne und Hoffnungen zerstören würde. Dennoch sagte er: „Ich bin überzeugt davon, dass er unter Schwindsucht leidet. Im Moment hat er die erste Phase der Krankheit überwunden. Es gab Fälle, in denen Menschen durch viel Pflege gesund wurden, aber wir werden nie wissen, ob er die Krankheit wirklich noch hat. Ich gehe nicht davon aus, dass Jan es schaffen kann. Die Belastung seiner Ausbildung wäre zu viel, und wir müssten ihn immer isolieren. Wir werden eventuell nie einen Käufer finden, und sollte er einen neuen Schub erleiden könnte er seinen Käufer infizieren. Eventuell wird er einfach sterben. Ich bezweifle, dass es sich lohnt abzuwarten.”
Tarn konnte beobachten, wie mit jedem seiner Worte mehr Farbe aus Jans ohnehin blassem Gesicht wich. Als er seine Diagnose beendete, war Jan völlig am Boden zerstört, das sah man auf den ersten Blick. Von seiner frechen und arroganten Art war nichts mehr übrig, keine Bemerkung und kein dummer Spruch folgten, er war sprachlos. Nach einem Moment ließ er den Kopf sinken und starrte nur noch den Boden des Wagens an. 


Eravier beobachtete Jan nachdenklich. Tarn kannte ihn schon lange genug um zu wissen, dass hinter seiner Stirn ein Plan Gestalt annahm. Eravier bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen, als er aufstand, die Wachen ein Stück von Jan abrücken ließ und sich väterlich neben ihm nieder kniete, um ihm eine Hand auf dessen Schulter zu legen. „Das muss jetzt ein ziemlicher Schlag für dich sein, nicht wahr, Jan?”, fragte er freundlich. Es war immer wieder unheimlich, diese Verwandlung zu sehen. Von einem Moment war das Gesicht des grausamen, desinteressierten Menschenhändlers wie ausgelöscht, und macht dem Gesicht eines besorgten, freundlichen Menschen Platz, der nur das Beste für alle wollte. „Deine Familie hat so viel Geld in deine Zukunft investiert.” Jan nickte vage, und Tarn hätte ihn am liebsten gewarnt, nicht darauf einzugehen, aber stattdessen konnte er nur mit versteinertem Gesicht dastehen und abwarten, wie Jan auf diese Behandlung reagieren würde. Das Problem war, dass die Sklaven, die zu ihnen kamen, fast immer jung waren. Sie wurden aus ihren Familien gerissen, und es war nicht ungewöhnlich, dass sie sich an die erste Vater- oder Mutterfigur klammerten, die sich ihnen anbot. Er selbst hatte das schon oft genug ausgenutzt, aber ein Raubtier wie Eravier dabei zu beobachten, wie er genau das selbe tat, war ekelhaft.


„Es muss schrecklich für dich sein, dass du sie jetzt so enttäuschst”, sprach Eravier weiter und riet offensichtlich ins Blaue hinein. „Das war meine letzte Chance, unseren Hof zu retten”, murmelte Jan. Er gab einen erstickten Laut von sich und unterdrückte ihn schnell mit seiner Hand, als wäre er kurz davor zu schluchzen. „Und man bedenke, wie sehr du um deinen Platz gekämpft hast. Nicht so wie andere, die einfach von der Straße mitgenommen werden und sofort ausgezahlt werden… Aber es ist noch nicht alles verloren Jan. Du bist nicht so weit gekommen, dass ich dich jetzt hinaus werfe. Egal, was Tarn sagt.” Er warf Tarn einen strengen Blick zu, der sich völlig automatisch verteidigte: „Ich will nur das Beste für-” „Für alle anderen, natürlich, aber müssen wir nicht auch das Wohlbefinden unserer einzelnen Sklaven garantieren? Jan, du gehst natürlich nicht. Wir werden abwarten und sehen, ob du vollständig gesund werden kannst”, fuhr Eravier völlig ernst fort, und Tarn fragte sich, wie er es schaffte nicht über seine eigenen Worte zu lachen. „Wirklich?” Jan hob den Kopf und starrte Eravier völlig fassungslos an. „Versprochen.” Tarn konnte es kaum fassen, aber Jan lächelte und sagte aus vollstem Herzen: „Danke! Das werdet ihr nicht bereuen! Ich tue alles, wirklich alles!” „Na na, du sollst nur deine Ausbildung zum Sklaven ernst nehmen. Etwas anderes verlange ich gar nicht von dir!”, sagte Eravier milde und tätschelte seine blonden Locken. Er erhob sich und half Jan, ebenfalls aufzustehen. „Ich denke, du solltest jetzt vorläufig in deinen Wagen zurückkehren, und morgen werden wir das übliche Prozedere hinter uns bringen und sehen, wo wir dich unterbringen.” Jan nickte eifrig, und ließ sich bereitwillig von den Wachen führen. Kurz bevor sie den Wagen verließen, gab Eravier ihnen jedoch dass Zeichen Halt zu machen und wandte sich noch einmal an Jan: „Aber du weißt natürlich, dass ein Sklave loyal sein muss, nicht wahr? Niemand, der nicht sehr dumm ist, beißt die Hand, die ihn füttert. Vielleicht solltest du dich fragen, wer deine Freunde sind, und wer hinter deinem Rücken dein Unglück plant. Oder meines. Menschen, die nicht so hart wie du um ihren Platz gekämpft haben und ihn gar nicht zu schätzen wissen.” Es war nicht schwer zu erraten, wen er meinte. Jan nickte ernst. „Ich verstehe.” Eravier nickte ebenfalls und sagte: „Sehr gut. Geh jetzt.”

Als die Wachen mit Jan im Schlepptau verschwunden waren, betrachtete Eravier konzentriert die Blutflecken auf dem Boden des Wagens. „Ärgerlich”, murmelte er und strich sich das blonde Haar aus der Stirn. Tarn stand nur da und wartete ab, was seine nächste Anweisung sein würde. Nach einem Moment wandte Eravier sich an ihn und fragte: „Na, war das nicht herzerfrischend?” Tarn zuckte vage mit den Schultern und sagte: „Darüber erlaube ich mir kein Urteil.” Eravier lachte und ließ sich ausgestreckt auf seine Schlafstätte sinken. „Ach Tarn, verschlossen wie immer. Ich hätte etwas mehr Bewunderung für den jungen Mann erwartet. Immerhin ist er fast so ein guter Lügner wie ich. Er hat mir natürlich kein Wort abgekauft, und ich ihm ebenfalls nicht.” Tarn war verwirrt. „Aber er schien-” „Natürlich war er am Boden zerstört - er wird vermutlich sterben, und das auch noch völlig umsonst. Ich wäre ebenfalls leicht konsterniert. Aber er hat keinen Moment angenommen, dass ich ihn aus reiner Herzensgüte hier behalten will. Ich habe es in seinem Blick gesehen - er wusste sofort, was ich von ihm erwarte. Ich denke, ich werde ihm etwas Zeit geben, um eventuelle Bedenken zu zerstreuen, was Verrat angeht. Und wer weiß, vielleicht ist er genau der Spion, den ich brauche, immer vorrausgesetzt, dass er nicht schnell und hässlich abkratzt. Er sieht so hübsch aus, wenn er einem direkt ins Gesicht lügt. Es ist dieses gewisse Etwas in den Augen.” Eravier streckte sich und schloss genießerisch die Augen. „Kann ich jetzt gehen?”, fragte Tarn unruhig nach. „Du hast zur Zeit viel zu tun, nicht wahr?”, fragte Eravier. „Nun, es tut mir Leid, aber ich bin nicht in der Stimmung dich zu schonen. Sei in einer Stunde wieder hier. Für den Moment kannst du verschwinden.”


Hatte er eine Wahl? Natürlich nicht. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ er den Wagen, wobei er einen Bogen um die verschmierten Blutflecken auf dem Boden machte. 

Während er sich durch den Trubel des Lagers schob, fragte er sich, wann er endlich dazu kommen würde länger als drei oder vier Stunden am Stück zu schlafen. Er hatte die Pferde am Hals, die Sklaven, Karvash und obendrein noch Eravier, der seit dem Überfall kaum Schlaf zu brauchen schien. Die Rebellion hatte ihn bis zu diesem Zeitpunkt nur marginal interessiert, aber jetzt schien er sie als sein neustes Spielzeug entdeckt zu haben, und er musste nicht einmal darauf achten, nichts zu beschädigen. In der übrigen Zeit ließ er seine überschüssige Energie an Tarn aus, oder zitierte ihn simpel hierhin und dahin, um ihm Zeit zu stehlen. Müde fuhr sich Tarn über die Stirn. Nur ein paar Stunden Schlaf… 

„Jan? Jan, bist du da?”, flüsterte Valion, aber natürlich war das sinnlos. Jan war verschwunden, das wusste er jetzt. Sein Kopf fühlte sich plötzlich völlig leer an, und sein Haut brannte. Pure Panik brach über ihn herein, ließ sein Herz hämmern und Übelkeit in seiner Kehle aufsteigen. Weg. Jan war weg. Hatte man ihn fortgejagt, während er weggewesen war? Hatte man ihn wegen seiner Krankheit an einen anderen Ort gebracht? War er geflohen oder sogar tot?
Dreh’ nicht durch, sagte er sich selbst, und konnte es doch nicht. So furchtbar hatte er sich nicht einmal gefühlt, als er gebrandmarkt worden war. Schmerzen waren real, aber diese überwältigende Furcht plötzlich allein zu sein war es nicht. Es war als wäre ein Bezugspunkt aus seiner inneren Landschaft verschwunden, einer der wenigen, die er überhaupt besaß. Er dachte an dröhnendes Wasser in seinen Ohren und das Gefühl, Oben nicht von Unten unterscheiden zu können, und kämpfte dagegen an.


Langsam. Langsam, er musste nachdenken. Konnte er herausfinden, wo Jan war? Zum Teufel, er wusste nicht einmal wie Jan aussah! Aber vielleicht würde er ihn trotzdem erkennen, wenn er ihn sah. 


Sehen. Er konnte hier nicht raus, aber vielleicht konnte er sich Sicht verschaffen. Er dachte an die einzelne Scherbe, die er versteckt hatte, schob seine Hand in den Ärmel und zog den einzelnen Glassplitter aus seinem Versteck heraus. Er überwand den übermächtigen Drang, einfach ein Loch in die Plane vor ihm zu fetzen und überlegte. Niemand durfte wissen, dass er einen scharfen Gegenstand hatte, geschweige denn etwas so gefährliches wie eine lange Glasscherbe. Sie würden alles durchsuchen, und natürlich auch alles finden, was er mühselig verborgen hatte. Denk’ nach, predigte er sich und rieb sich die Stirn. Es musste wie Abnutzung aussehen, wie das Werk eines Dornenbusches zum Beispiel, der den Wagen zufällig gestreift hatte. Im Halbdunkel ging er die Planen ab, soweit es die Fußfessel erlaubte, und suchte nach bereits vorhandenen Löchern. Er fand eine Stelle, an der der Stoff abgeschabt war und Fäden zog. Gut, durchatmen. Er würde mit anderen, wahllos verteilten Löchern beginnen. Sorgfältig ritzte und schabte er, zerfaserte den Stoff langsam zu einigen winzigen Rissen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber als er fertig war hatte er ein halbes Dutzend kleine, unterschiedlich große Löcher im Stoff. Endlich zufrieden mit seinem Werk konzentrierte er sich auf die ursprüngliche Stelle, die er genug verbreitern wollte um hindurchzusehen. In Millimeterarbeit trennte er Fäden durch, zog sie aus dem Stoffgeflecht, kreiertw einen Spalt, der wie zufällig aussah. Zunächst geriet er zu gerade, und er zog die Linie sorgfältig nach oben, sodass er schräg und unregelmäßig verlief. Endlich am Ziel angekommen zwang er sich dennoch, die Scherbe wieder sorgfältig zu verbergen, erst dann trat er an den schmalen Stoffspalt und zog ihn weit genug auseinander, um hindurchzusehen.

Er hatte Glück, sein Sichtradius war tatsächlich sehr umfangreich, dennoch war er enttäuscht. Er sah nur unbekannte Gesichter, abgesehen von einigen Dienern, die ihm von seinem Fußmarsch zurück zum Pestwagen vage bekannt vorkamen. Er sah einzelne Wächter, aber sie waren nicht in Begleitung von Gefangenen, sondern patrouillierten im Lager. Sklaven sah er nach wie vor keine. 
Er suchte Minuten lang die Umgebung ab, und seine Hoffnung sank immer mehr, bis er plötzlich Tarn sah. Er verließ einen Wagen, der etwas abseits stand. Valion konnte seine Miene nicht erkennen, aber für einen Moment blieb er stehen und rieb sich müde die Stirn. Obwohl Valion eigentlich nach Jan Ausschau hielt, beruhigte es ihn Tarn zu sehen. Er hätte ihn gern gefragt, ob er etwas über Jans Verschwinden wusste, aber er machte sich keine Hoffnungen, dass Tarn heute noch einmal zurückkehren würde, und vielleicht war das auch besser so. Er wirkte noch erschöpfter als zuvor. Besorgt verfolgte Valion, wie er das improvisierte Lager durchquerte. Er sprach kurz mit einer Dienerin, die davon eilte, warf einen Blick auf das Essen, das auf den Feuerstellen kochte, schien einen Moment darüber nachzusinnen ob er essen sollte, und wandte sich dann davon ab. Valion schüttelte unwillkürlich den Kopf und kam sich gleichzeitig wie seine eigene Mutter vor. Tarn musste etwas essen, er sah aus als könnte er kaum noch stehen. Hätte er es gekonnt, er hätte ihn gezwungen sich auf die nächstebeste Sitzgelegenheit niederzulassen und sich endlich auszuruhen. 


Stattdessen verfolgte er besorgt wie Tarn die Kochfeuer hinter sich ließ und eine andere Richtung einschlug. Er steuerte auf zwei Wächter zu, die gerade in Valions Blickfeld getreten waren. Sie hatte jemand zwischen sich, einen Jungen, der etwa in seinem Alter sein musste. Er war etwas kleiner als Valion und eher untersetzt, viel mehr ließ sich aus Valions Blickwinkel  nicht erkennen. Tarn schien mit den Wachen zu sprechen, dann mit ihrem Gefangenen, und der Junge gestikulierte ausladend, schien sich gegen Tarns Worte zu verteidigen. Wie ein Blitz traf Valion die Erkenntnis, dass es Jan sein musste. Er war also tatsächlich noch im Lager, aber irgendetwas war geschehen. Valion versuchte mehr zu erkennen, aber Jan war zwischen den Wachen eingekesselt, und wurde jetzt weggeführt, hinter den Wagen entlang, doch eindeutig in seine Richtung. Sie brachten ihn zurück, und es konnte sich nur um Minuten handeln, bis er wieder da war.
Valion wollte sich schon von seinem Beobachtungsposten zurückziehen, als sein Blick auf einen anderen Jungen fiel, der gerade von einem anderen Wächterpaar aus dem Schatten eines Wagens herausgezerrt wurde. Er gab Jan anscheinend ein erkennendes Kopfnicken, dann wurde er mit einem Stoß in seinen Rücken weiter geschickt. Von der ersten Sekunde an zog er Valions Blick wie magnetisch an. Er war sehr mager, aber er bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit durch die Welt, als würde ihm alles gehören. Er hatte wilde, leichte Locken, deren helle Farbe er im Schein der Feuer überhaupt nicht einschätzen konnte. Aber was Valion am meisten traf war, dass er genau wie Nisha aussah.


Es war keine zufällige Ähnlichkeit, obwohl er sich die Augen rieb und blinzelte, in der vagen Hoffnung, dass er sich das alles nur einbildete. Aber nein, er war ihr perfektes Ebenbild, der selbe lange Hals, die selben zierlichen Hände, die gerade Nase, die dichten dunklen Augenbrauen, die bei Nisha nur knapp an der Grenze zum Maskulinen vorbeischrammten. Und wie bei Nisha war Valion vom ersten Moment an völlig gefangen. Sein Herz begann zu hämmern, und er fragte sich sofort, wer dieser Gefangene war. Er wünschte, er hätte ihn länger im Blick behalten können, aber die Wachen zerrten ihn und Jan auseinander, und alle verschwanden aus seinem Blickfeld. Valion hätte am liebsten geflucht, aber stattdessen wandte er sich ab. Jan würde gleich zurück kommen, und wenn er den Jungen kannte, dann würde er ihm sagen können wer es war. Ungeduldig lief er auf und ab und lauschte auf Stimmen oder Schritte.

Nur wenige Minuten später schloss jemand die Tür zu Jans Quartier auf, und eine barsche Stimme befahl: „Los, rein da. Und wenn du mich nochmal trittst, wirst du den Tag bereuen an dem du geboren wurdest.” „Wie kommst du darauf, dass ich das nicht schon längst tue?”, fragte Jan gehässig, und Valion war unendlich froh, seine Stimme zu hören. Trotzdem verhielt er sich still, bis Jan angekettet worden war und die Wächter die Tür zu warfen, um diese ebenfalls zu verschließen. „Ich brauch’ jetzt erstmal eine Pause”, brummte eine der Wachen, und sie stapften davon, wohin auch immer sie ihre nächste Aufgabe führte.


Trotzdem wagte Valion erst nach einer längeren Wartezeit, Jan zu rufen. „He, Jan!” „Oh, du bist wach. Ich dachte du schläfst schon.” „Nein, noch nicht. Bist du in Ordnung?”, fragte Valion besorgt. „Na klar. Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch”, brummte Jan von der anderen Seite und seufzte. „Ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht, als du nicht da warst”, gab Valion offen zu. „Ich dachte erst du schläfst, und dann… ich hab schon befürchtet sie hätten dich rausgeschmissen.” Jan schwieg einen Moment, dann sagte er: „Du hast dir Sorgen gemacht?” Es klang ungewöhnlich gerührt, und Valion vermutete, dass es auch für Jan ein langer Tag gewesen sein musste. Es war untypisch für ihn, dass er nicht sofort mit einem starken Spruch antwortete. Dennoch beschloss er ehrlich zu sein und sagte: „Und was für welche! Ich wusste ja nicht, ob du noch kränker geworden bist, oder… keine Ahnung, ich war ziemlich in Panik.” Er musste jetzt selbst etwas darüber lachen, wie erschrocken er wirklich gewesen war. „Du hättest mich sehen sollen, ich war wie ein Huhn ohne Kopf.” Es folgte noch mehr ungewöhnliche Stille. „Jan? Geht es dir gut?” „Was? Ja, ja...”, antwortete Jan abwesend, aber seine Stimme schwankte, „Ist etwas ungewohnt, dieses Gefühl… dass es tatsächlich jemand kümmert, wenn ich nicht da bin.” Valion schwieg irritiert. Er hatte bisher immer den Eindruck gewonnen, dass Jan früher beliebt gewesen war, dass es viele Menschen gegeben hatte, die ihn mochten. Aber er wollte nicht ausgerechnet jetzt nachbohren, stattdessen fragte er: „Was wollten sie von dir?” Jan seufzte. „Sie behalten mich hier… vorerst. Das wollten sie mir sagen. Ich bin nicht so krank, dass ich unbedingt weiter hier drin sitzen muss, also werde ich genauso wie du morgen umquartiert werden. Aber sie sind nicht sicher, ob ich wieder gesund werde. Ich werde vorläufig bleiben, aber langfristig könnte das trotzdem das Aus bedeuten.” „Also gute und schlechte Nachrichten”, meinte Valion etwas bedrückt, und Jan stimmte zu: „Ja, kann man so sagen. Aber he, es ist ja nicht alles schlecht. Wir hatten heute beide Gelegenheit, uns etwas draußen umzusehen. Was hast du gesehen?” „Es ist ein bisschen spät, meinst du nicht? Wir sollten lieber versuchen zu schlafen.”, wandte Valion ein. „Kannst du nach der ganzen Aufregung denn schlafen?”, fragte Jan kläglich. „Ich hab eher das Gefühl, ich werde jeden Moment die Wand hier hoch laufen. Den einen Meter, den ich mit dieser Kette vorwärts komme, sollte ich wohl sagen.” Valion wollte protestieren, weil sie allen Schlaf brauchten, den sie bekommen konnten. Aber gleichzeitig war er selbst nervös, was der morgige Tag bringen würde, und die Aufregung Jan gesehen zu haben legte sich noch lange nicht. „Eigentlich nicht”, gab er zu. „Wir können uns genauso gut noch unterhalten. Aber ich lege mich trotzdem schon hin.” Valion schob sein Bündel zurecht und breitete seine Decke aus, und er hörte, wie Jan nebenan das selbe tat. Für einen Moment lagen sie beide still, und nur ihr Atem war zu hören. Valion starrte an die Decke des Wagens und dachte daran, dass darüber tausende Sterne am Himmel standen. Es wäre schon gewesen, wenn er sie mit Jan hätte betrachten können.


„Erzähl’ mir was”, forderte Jan ihn auf, und seine Stimme klang plötzlich verloren. „Egal, was du heute gemacht hast. Ich will alles hören.” Valion sah hin zu der Wand, die ihn von Jan trennt, und er stellte sich vor, dass Jan in diesem Moment dasselbe tat, als er sagte: „Vielleicht kann ich einschlafen wenn ich deine Stimme höre.”

Wasser umspülte seine Beine, eiskalt und schneidend. Er hatte das Gefühl über Scherben zu laufen, aber er so sehr er sich auch bemühte, durch den aufgewirbelten Schlamm konnte er den Boden unter seinen Füßen nicht erkennen. Die Strömung war stark und wollte ihm das Gleichgewicht nehmen, aber er kämpfte dagegen an, weil er wusste, dass er sein Ziel unbedingt erreichen musste. Nisha wartete auf ihn.
Sie hatte die Hände hinter dem Rücken verborgen, sah ihm stumm entgegen. Fische zogen an seinen Füßen vorbei, leuchtend orange wie Feuer. Etwas stimmte nicht mit dem Himmel. Die Sonne schien, aber der Horizont war tiefschwarz, ohne Mond oder Sterne. Er erreichte Nisha und streckte ihr seine Hand hin. Aber sie schüttelte nur den Kopf. Er griff nach ihrem Arm, hob ihre Hand, um sie zu ergreifen. Doch als er sie ansah war sie blutig gespickt mit Spiegelsplittern. Er versuchte dennoch sie zu ergreifen ohne sich zu verletzten, doch die nadelspitzen Scherben durchdrangen seine Handflächen völlig ohne Widerstand. Es schmerzte und kribbelte. „Ich wollte dir nicht wehtun”, sagte Nisha bedauernd, und senkte den Blick. Valion tat es ihr gleich und sah nach unten, in die wirbelnden Abgründe des Wassers… 

Jemand rief seinen Namen und ließ ihn aus seinem Traum erwachen. Für einen Moment dachte Valion, Nisha spräche zu ihm, und automatisch fasste er nach seinen Händen, als erwarte er Blut und Glassplitter zu berühren. Aber er hatte nur auf seinem Arm gelegen und die Blutzufuhr zu seiner Hand behindert, die jetzt schmerzte und kribbelte. Noch im Halbschlaf drehte er sich um, ballte und streckte die betäubte Hand, um das lästige Gefühl darin zu verscheuchen. Er wäre dabei beinahe zurück in den Schlaf gedriftet, aber wer auch immer ihn geweckt hatte, blieb hartnäckig. „Val?” 
Natürlich war es Jan, der leise nach ihm rief. „Val? Bist du wach?” Jetzt schon, hätte Valion fast patzig geantwortet, aber es gab vermutlich einen guten Grund, dass Jan ihn weckte. „Hmm?”, brummte er, während er sich verschlafen aufsetzte und gähnte. Um ihn herum herrschte absolute Finsternis, so dicht, dass er nicht einmal die Hand vor Augen sehen konnte. Gleichzeitig lauschte er nach draußen, aber vor dem Wagen herrschte Grabesruhe. Keine Schritte bewegten sich durch das Lager, keine Vögel sangen, das Knistern der Feuer war fast erstorben. Es musste früher Morgen sein, noch Stunden entfernt vom Sonnenaufgang.
„Du hast im Schlaf gesprochen”, sagte Jan etwas entschuldigend, irgendwo aus der Dunkelheit. „Ich bin davon aufgewacht.” „Oh.” Viel mehr fiel Valion im ersten Moment nicht dazu ein. „Keine Sorge, du warst nicht so laut, dass du alle anderen aufgeweckt hast”, beschwichtigte Jan ihn, „Ich glaube außer mir wird dich überhaupt niemand gehört haben.” Valion war sich da nicht so sicher, aber er beließ es dabei und fragte stattdessen etwas verlegen: „Was hab ich gesagt?” „Ich habe nicht alles verstanden, aber es ging wohl um Nisha, den Himmel, Fische… war vermutlich einer von diesen erotischen Träumen”, erklärte Jan, und der Schalk sprach trotz der frühen Morgenstunden deutlich aus seiner Stimme. Valion zog eine Grimasse. „Würde es dich umbringen auch mal ernst zu sein? Ich will doch nur wissen, ob ich irgendetwas Merkwürdiges gesagt habe.” Zum Beispiel etwas über eine Rebellion, dachte Valion unbehaglich. „Merkwürdiger als dein Gefasel über Fische? Nicht, dass ich wüsste. Kann ja sein, dass mein frühzeitiges Erwachen meine Wahrnehmung getrübt hat und du noch andere interessante Dinge gesagt hast, aber davon habe ich nun einmal nichts mitbekommen. Weck’ mich bitte das nächste Mal, bevor du anfängst zu träumen, damit ich alles mithören kann, ja?” Klang da ein leiser Vorwurf mit? Valion war es im Moment herzlich egal. Er wollte einfach nur weiterschlafen. „Es tut mir Leid”, seufzte er pro forma und legte sich wieder hin, um sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Er war alles, aber kein Nacht- oder Morgenmensch, und vor der Zeit geweckt zu werden hasste er mehr als alles andere. „Lass uns einfach weiterschlafen, ja? Ich werde versuchen von irgendetwas weniger Lautem zu träumen.” „Was? Jetzt bin ich einmal wach”, maulte Jan, obwohl sein Gähnen seine Worte Lügen strafte. „Vorhin konnte ich so schön einschlafen, nach meiner Gutenachtgeschichte.” Valion verdrehte im Dunkeln die Augen. „Und jetzt soll ich wieder drei Stunden lang reden, nur damit du wieder einschlafen kannst? Kannst du nicht von irgendeinem deiner austauschbaren Mädchen träumen?”, fragte er gehässig.

Er wartete eine Antwort ab, aber es herrschte plötzlich eisige, feindseelige Stille, und sofort befiel ihn ein schlechtes Gewissen. Er hatte es nicht so bissig gemeint, wie es am Ende geklungen hatte. Nachts geweckt zu werden machte ihn oft reizbar und manchmal regelrecht gemein. Genau diese spezielle Gemeinheit ließ ihn für einen Moment erwägen, die Stille zu wahren und einfach weiter zu schlafen. Sollte Jan doch schmollen, er teilte immer selbst reichlich aus, dann konnte er auch einmal einstecken. Aber dann gestand Valion sich ein, dass er mit der Vorstellung, Jan ernsthaft gekränkt zu haben, nicht einschlafen konnte. 
Seufzend rappelte er sich auf, packte seine Decke und sein improvisiertes Kissen und tappte im Stockdunkeln so nahe wie möglich zu Jan hinüber, um sich dort im Schneidersitz niederzulassen. „He… ich… ich wollte nicht so grob sein. Ich bin nur müde,” Ein undeutliches Murmeln war die Antwort. „Bist du sauer?”, fragte Valion zaghaft. „Was denkst du denn?”, murmelte Jan von der anderen Seite und klang tatsächlich getroffen. „Denkst du es macht mir Spaß, ständig abserviert zu werden? Oder nie zurück geliebt zu werden? Ständig etwas Neues anzufangen, nur um dann zu sehen, dass es hoffnungslos ist? Du weißt gar nicht wie das ist, mit deiner kleinen, sauberen Romanze.” 
Valion hatte sich vorgenommen, nicht wütend zu werden, weil er den Streit provoziert hatte. Er musste mit seinen Worten wirklich einen wunden Punkt bei Jan getroffen haben, denn so deutliche Worte fand er selten. Aber musste er gleich so verletzend werden? Valion fühlte sich plötzlich kein bisschen verständnisvoll mehr. Hilflos ballte er die Fäuste und antwortete mühsam beherrscht: „Du weißt nichts über mich und Nisha.” Er hoffte, dass Jan es dabei belassen würde, doch der fing gerade erst an: „Ach komm schon, was gibt es da groß zu wissen?”, spottete Jan bitter, „Du bist seit Jahren zu feige, ihr einen Antrag zu machen, und sie ist vor Langeweile vermutlich schon vertrocknet, und für dich ist das alles ein großes Drama. Ich sage es ja nicht gern, aber dein lächerliches Problem ließe sich in fünf Minuten lösen, wenn du nur mal den Mund aufmachtest.”

Das saß. Valion wollte etwas sagen, aber ihm fielen nicht annähernd die richtigen Worte ein. Er wollte sich gleichzeitig verteidigen und Jan einfach nur zum Teufel wünschen, aber stattdessen fühlte er sich nur verletzt. Schweigend legte er sich hin und zog sich die Decke über dem Kopf. Stille herrschte, und er weigerte sich die Tränen wahrzunehmen, die in seinen Augenwinkeln brannten. Es dauerte ein wenig, aber schließlich rief Jan wieder seinen Namen. „Val? Schläfst du?” „Nein…”, antwortete Valion leise. „Hör mal, ich hab gerade einen riesigen Haufen Mist erzählt”, sagte Jan zerknirscht. „Bist du sauer?” Valion dachte darüber nach, aber er wusste nicht genau, wie er sich fühlte. Vor allem war er enttäuscht. „Hältst du mich wirklich für so lächerlich?”, fragte er nach. „Das ist nicht… So meinte ich das doch nicht”, sagte Jan bedrückt, „Ich meine, zum Teufel, die meiste Zeit steh’ ich mir ja auch nur selbst im Weg und bekomme nichts auf die Reihe! Wenn es wirklich drauf ankommt kriege ich keinen Ton heraus, und im dümmsten Moment reiße ich die Klappe so weit auf…” Er hielt inne, schien sich selbst unsicher, was er sagen sollte, fuhr dann aber fort: „Es kam mir nur unfair vor, verstehst du? Du kannst mit Nisha zusammen sein, ganz einfach so.” Er schnippte mit den Fingern, um seinen Punkt zu verdeutlichen. „Und was habe ich? Einen Haufen Enttäuschungen, mit dem man mich auch noch bequem aufziehen kann.” Valion schüttelte im Dunkeln nur den Kopf. „So einfach ist es nicht mit Nisha”, sagte er leise. „Wieso?”

Unter anderen Umständen hätte Valion die Frage abgewiegelt, vielleicht das Thema gewechselt. Lag es an der Einsamkeit dieser frühen Morgenstunden? Oder daran, dass es so dunkel war, dass er das Gefühl Jan direkt gegenüber zu sitzen, statt nur durch eine Wand mit ihm zu sprechen? 
Er richtete sich auf, starrte in die Schwärze und sagte leise, aber deutlich: „Weil Nisha nur mit Frauen zusammensein will.” „Was?”, fragte Jan völlig perplex, aber etwas Anderes schwang in seiner Stimme mit, das Valion nicht deuten konnte. Erkennen? Sympathie? Er konnte es nicht einordnen, aber die Worte flossen völlig von selbst aus ihm heraus.
„Sie ist mit Vara zusammen… ich glaube inzwischen sind es schon drei Jahre. Natürlich nur heimlich, ich war der Einzige, der Bescheid wusste. Na gut, vielleicht nicht ganz der Einzige, ich glaube, ihre Mutter hat etwas geahnt. Aber ihr Vater… er durfte es nie erfahren. Deshalb waren wir immer zusammen. Ich war ihre Notlüge.” Valion war darauf gefasst, dass Jan Fragen stellen würde, aber seine erste Frage war nicht die, die er erwartete. „Ihr habt das wirklich so lange verstecken können, drei Jahre? Wie habt ihr das gemacht?” Aus seiner Stimme sprach Faszination und… war das Neid? Valion zuckte hilflos mit den Achseln. „Ich habe Schmiere gestanden, dafür gesorgt, dass sie zusammen sein konnten. Zwei Mädchen allein, außerhalb des Dorfes, das ging nicht, aber zwei Mädchen und ein Junge, das war in Ordnung. Ich war ihr Beschützer, und man ging einfach davon aus, dass Nisha und Vara sich gegenseitig davon abhalten würden etwas Dummes mit einem Jungen anzustellen. Im Grunde haben sie das ja auch getan.” Jan lachte, wie Nisha und Vara es getan hatten, als Valion ihnen genau das selbe gesagt hatte. Er erinnerte sich gut daran, wie Nisha dabei auf Varas Schoß gesessen hatte, wie sie gelacht hatten. Das war gewesen, bevor alles schief gegangen war.
„Eigentlich hatten wir meistens nur Glück… aber das hat uns irgendwann unvorsichtig gemacht. Wir dachten irgendwann, wir würden einfach damit durchkommen. Und dann hat Nishas Vater es entdeckt. Damals habe ich Nisha fast verloren, und an dem Tag habe ich ihr gesagt, dass ich verliebt in sie bin.” „Moment mal, war das-”, begann Jan, doch Valion schnitt ihm das Wort ab. „Ja. Das war der Tag, als ich sie aus dem Wasser gezogen habe. Zwei Tage vorher hatte ihr Vater sie gesehen, und… es war schlimm.” Er schluckte trocken. „Sie hat es mit Absicht getan, verstehst du? Sie ist absichtlich in die Strömung gelaufen.”

Vielleicht war es nur Glück, oder Zufall, aber der Fluss ließ sie ziehen. Sie entkamen dem tückischen Sog des Wassers, fanden endlich wieder Grund und wateten husten und Wasser spuckend zum Ufer. Sie kletterten und krochen das sandige Ufer hinauf, bis sie endlich Gras unter ihren Füßen spürten und sich schwer atmend fallen ließen. 
Nisha rieb sich geistesabwesend die Hüfte, wandte sich dann Valion zu, wollte etwas sagen, aber schien dann nicht zu wissen was. Wie benebelt starrten sie sich an, dem Tod knapp entkommen. Stattdessen war es Valion, der als erster sprach, als er plötzlich, heftiger als er wollte Nisha anschrie: „Was zum Teufel war nur los mit dir?! Du hättest uns fast umgebracht!“ Nisha schreckte zurück, fasste sich aber erstaunlich schnell. „Du hättest mich nicht retten dürfen“, sagte sie mit abgewandtem Blick und strich sich Sand und Wasserpflanzen von ihrem Kleid. „Wieso, du willst mir doch nicht sagen, dass du mit Absicht in die Strömung geraten bist?!“, fragte Valion wütend, aber auch ungläubig. „Doch“, antwortete Nisha kalt. „Er hat es herausgefunden, verstehst du? Alles.“
Das traf Valion unvorbereitet. Sein Kopf war plötzlich völlig leer. Die Angst, dass Nishas Geheimnis eines Tages entdeckt werden würde war mit einem Schlag Wirklichkeit geworden. „Wie?“, war das einzige, das er im ersten Moment heraus brachte. „Er hat uns gesehen. Vorgestern.” Valion erinnerte sich gut daran. Sie waren zu dritt unterwegs gewesen, hatten Feuerholz und Reisig besorgt. Das Schneiden und Binden der Baumäste war eine ermüdende und langwierige Aufgabe, doch zusammen ging die Arbeit schneller, weil sie sich gegenseitig zur Hand gehen konnten, und so hatten sie die Erlaubnis von ihren Eltern bekommen, gemeinsam loszuziehen. 
Es war ein kühler, aber sonniger Tag gewesen, und obwohl sie hart anpackten, hatten sie trotzdem Zeit für Späße und Unterhaltungen gehabt. Vor allem Vara war übermütig  gewesen und hatte so völlig ungeniert mit Nisha geschäkert, dass Valion allein das Zusehen rote Ohren bescherte. Aber anscheinend waren sie dabei nicht unbeobachtet geblieben. „Warum war er überhaupt dort?”, fragte Valion, und Nisha lachte bitter auf. „Er dachte, dass Vara uns irgendwann allein lassen würde und wollte sichergehen, dass meine Ehre nicht in Gefahr ist. Ist das nicht zum Schreien?!” In ihren Augen sammelten sich Tränen, und Valion wusste nicht, ob er Nisha in den Arm nehmen sollte oder nicht. „Das einzig Gute ist, dass ihm völlig egal ist was aus Vara wird, weil er ihren Vater sowieso nicht leiden kann. Oh Gott, er hat mich so angeschrien…”, sagte sie völlig aufgelöst. „Ganz langsam”, versuchte Valion sie zu beruhigen, „Was hat dein Vater gesagt?” Doch wenn er gedacht hatte, dass er Nisha mit seinen sinnlosen Worten beschwichtigen konnte, hatte er sich getäuscht. „Kannst du dir das nicht denken?!”, brach es zornig aus Nisha heraus. „Er hat gesagt, ich wäre eine Schande, eine Ausgeburt der Hölle und dass der Himmel Mutter jetzt dafür bestrafen würde. Dass sie wegen mir krank ist und als Strafe für meine Sünden sterben wird!“

Für einen Moment blieb Valion der Mund offen stehen, und er wusste nicht was er sagen sollte. Konnte Nishas Vater wirklich so verletzend sein, die Krankheit von Nishas Muter gegen ihre eigene Tochter verwenden? Er wollte es nicht glauben, und wusste doch, dass Nisha ihn niemals darüber belügen würde. „Das stimmt nicht, Nisha“, protestierte er, aber er sah gleichzeitig, dass Nisha ihm nicht glaubte. Nicht jetzt. Der Schmerz und die Drohung ihres Vaters saßen zu tief. „Und was, wenn er Recht hat?”, fragte sie heftig. „Irgendetwas stimmt nicht mit mir, hat nie mit mir gestimmt! Vielleicht ist es ja so! Vielleicht bin ich an Mutters Unglück Schuld!” Ihr ganzer Körper bebte jetzt, und Valion wünschte er hätte irgendetwas sagen können um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er wusste, dass Nisha ihre Mutter liebte, und dass die Vorstellung ihr Unglück zu bringen für sie unerträglich war. Aber er wusste auch, dass Nishas Mutter ihre Tochter abgöttisch liebte. Nisha war das einzige, so tapfer erkämpfte Kind aus einer Reihe von totgeborenen Kindern, die ihrer Mutter so viel Kummer und Krankheit bescherten. 

Dann sah er den Blutfleck, der sich langsam, wie eine aufblühende Blume, auf Nishas Kleid zeigte. „Nisha…” Jetzt sah sie es auch, ihre Augen wurden groß und sie schwankte leicht. „Verdammt, verdammt”, fluchte sie leise. „Valion, hilf mir!” Er sprang auf und half ihr auf die Füße, obwohl er fürchtete, dass ihr schwindelig werden würde. Nisha hob ihren Arm zum Mund und biss einmal kurz und heftig hinein. „Es geht schon, es geht, hilf mir einfach das loszuwerden…!”, sagte sie, und Panik lag in ihrer Stimme, während sie unbeholfen ihre Jacke abstreifte. Vorsichtig kniete Valion sich hin, ergriff den nassen Saum von Nishas Kleid und zog es vorsichtig über ihren Kopf. Darunter klebte ihr Unterhemd dicht an ihrem Körper, nass und von der Hüfte an vollgesogen mit Blut. „Wie weh tut es?”, fragte er mit schwankender Stimme. Sein Puls hämmerte laut in seinen Ohren, und er musste sich zwingen langsam und gleichmäßig zu atmen. „Ich weiß nicht, es fühlt sich taub an, das Wasser war so kalt”, sagte Nisha. „Kannst du… kannst du versuchen mein Hemd auszuziehen? Langsam? Ich glaube mir wird gerade schlecht.” Sie klang abwesend und wie benebelt. „Was ist wenn jemand kommt?”, fragte Valion beunruhigt, aber Nisha schüttelte nur den Kopf. „Schlimmer kann es jetzt auch nicht mehr werden.” Vorsichtig, mit viel Fingerspitzengefühl, hob er ihr Unterhemd an und löste den Stoff, der auf der Haut klebte. Nisha sog gequält die Luft ein. Wenigstens trug sie heute keine Schnürbrust, aus der er sie heraus schälen musste. Er zwang sich durchzuatmen, zog ihr Hemd schnell über ihren Kopf und zerknüllte es zu einem Ballen, bereit den Blutfluss sofort zu stoppen. Dann sah er auf die Wunde. 
Er sah eine Menge aufgeriebene Haut, aus denen in dünnen Fäden Blut sickerte, und ihre ganze Körperseite war vom unteren Rippenbogen bis zu den Hüftknochen blau und violett angelaufen. Aber alles schien oberflächlich, und das Wasser, das aus ihrer Kleidung ran musste das Blut verdünnt haben, sonst hätte es sich nicht einmal so schnell ausgebreitet. „Wie schlimm ist es?”, fragte Nisha gepresst. „Du wirst lachen-” „Wollen wir wetten?!” „-aber es sieht gar nicht so schlimm aus. Hast du Schmerzen beim Atmen?” „Nein. Ich glaube wenn Rippen gebrochen wären, würde ich es merken.” „Ein Verband reicht vermutlich. Warte.” Er faltete das Unterhemd auseinander und legte es zu einem ordentlichen Streifen zusammen, dann schlang er es um ihre Hüfte und verknotete es, so gut es ging. Nisha sah ihm zu und betastete schließlich vorsichtig sein Werk. „Ich hoffe es hält ein bisschen”, sagte sie zweifelnd, und rieb sich dann fröstelnd die Arme. „Mir ist kalt.” „Du hast auch am ganzen Körper Gänsehaut”, stellte Valion fest.

Erst jetzt, mit reichlicher Verspätung, ging ihm plötzlich auf, dass Nisha bis auf einen Verband splitterfasernackt vor ihm stand. Ihr musste der selbe Gedanke gekommen sein, weil sie plötzlich einen roten Kopf bekam. Trotzdem drehte sie sich nicht schamhaft um, sondern verschränkte nur unsicher die Arme vor dem Körper. „Äh… wir sollten… ich meine, kannst du mir helfen, mich wieder anzuziehen?”, fragte sie unbehaglich, und Valion nickte. Schnell hob er ihr Oberkleid vom Boden auf und klopfte es ab, wobei er sich bemühte Nisha nicht anzustarren und den Blick gesenkt hielt. Sie war verletzt und verzweifelt, und das Letzte, was sie jetzt brauchte war die falsche Art von Aufmerksamkeit, deshalb reicht er ihr nur ihr Kleid, das sie sich schnell überzog.
So nass und schmutzig hing es wie ein Sack an ihr, und der Verband beulte die Taille aus. Es sah ziemlich abenteuerlich aus, und Nisha lächelte Valion zu. „Warte nur, bis Vara das sieht. Darüber lacht sie sich kaputt”, sagte sie. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, kehrten der Schmerz und die Verzweiflung in ihr Gesicht zurück, und frische Tränen liefen ihr über die Wangen. „Vielleicht sehe ich sie nachher zum letzten Mal. Vater hat gesagt, dass er mich am liebsten auf den Hof meines Onkels schicken würde, damit mir dort der Kopf zurecht gerückt wird”, schluchzte sie. „Wie soll ich das denn ohne sie aushalten, Val?! Ich liebe sie doch!” 
Unvermittelt fiel sie in seine Arme und klammerte sich an ihn, und zaghaft legte er eine Hand auf ihr nasses Haar und streichelte es. Sie weinte so heftig, dass es ihr schmaler Körper bebte, und er musste sich zusammenreißen, seine eigenen Tränen zurückzuhalten. In diesem Moment wurde ihm bewusst, wie sehr er sie wirklich liebte, und wie weh es tat, sie so verzweifelt zu sehen. Er musste etwas tun, sie irgendwie beschützen.
„Hast du irgendetwas zu deinem Vater gesagt?”, fragte er. „Nein”, schluchzte Nisha, „er hat mich ja überhaupt nicht zu Wort kommen lassen, als er mich zur Rede gestellt hat. Ich hatte viel zu viel Angst, ich hätte ja alles nur schlimmer gemacht!” „Vielleicht kann ich mit ihm reden”, sagte Valion, aber Nisha schüttelte nur den Kopf. „Er hat gesagt, dass er dich verprügelt, wenn er herausfindet, dass du etwas damit zu tun hast. Er hat mich direkt danach gefragt, ob du mich »angestiftet« hast, aber ich hab nicht geantwortet.”
„Genau, ich bin Schuld!”, sagte Valion, und er hätte beinahe aufgelacht. Die Lösung stand ihm plötzlich klar vor Augen, und es war beinahe lächerlich, wie simpel es war. Nisha sah irritiert zu ihm auf. „Woran bist du Schuld?”, fragte sie perplex und rieb sich Augen. „Ich habe dich dazu angestiftet, Vara zu küssen. Und du hast es getan, weil du mich beeindrucken wolltest. Weil du verliebt in mich bist. Verstehst du, wir können die Geschichte einfach so drehen, wie wir wollen.”
Nisha starrte ihn für einen Moment nur an, während die Gedanken in ihr arbeiteten, aber dann lächelte sie unsicher. „Vielleicht… vielleicht würde er das sogar glauben. Ich meine, er hat ja selbst gesagt…” Sie unterbrach sich, und fügte dann nicht ohne Sarkasmus in der Stimme hinzu: „Er hat ja sowieso gedacht, dass du mich entehren willst. Dann bekommt er eben genau das, was er erwartet.” Doch ihr Lächeln erlosch sofort wieder, und sie sah besorgt zu Valion. „Aber das geht nicht, du wirst riesigen Ärger kriegen! Mein Vater wird dich grün und blau schlagen dafür! Das können wir nicht machen.” Valion lächelte und zuckte mit den Schultern. „Das macht mir nichts aus. Ist ja nicht so, als könnte ich das nicht aushalten.” Er sah, dass Nisha damit überhaupt nicht glücklich war, aber sie schien es zu akzeptieren, weil sie keinen anderen Ausweg aus ihrer verzweifelten Lage wusste. „Dazu muss er dir aber erst einmal glauben”, wandte sie jetzt ein, “Wir müssten so tun, als wären wir ineinander verliebt. Schaffen wir das? Ich meine, wir sehen uns zwar andauernd, aber es gehört ja noch mehr dazu als sich nur zu kennen. Ich denke, ich könnte so tun als ob, aber schaffst du das auch?”

Sie hatte wirklich keine Ahnung. Und konnte er es ihr verübeln? Sie war verliebt. Ihre ganze  Welt drehte sich nur um einen einzigen Menschen, und das war nunmal nicht er. Machte Liebe wirklich so blind? Vielleicht ja. Und wer wusste schon, ob es jemand gab, der Valion betrachtete und sich wünschte, von ihm bemerkt zu werden, während er Tag und Nacht an niemand andere als Nisha denken konnte?

„Nisha, ich bin in dich verliebt. Schon sehr lange”, sagte er sanft. Er beobachtete ihren Gesichtsausdruck, wie er sich veränderte - Unglauben, Zweifel, Erkenntnis und Bedauern, jede Emotion zog völlig klar über ihr Gesicht, und es war fast schmerzhaft, wie sehr er sich darin wiedererkannte und wie sehr er alles an ihr liebte. Sie waren sich innerlich so unglaublich ähnlich.
„Das wusste ich nicht”, flüsterte sie erschrocken. Woran dachte sie jetzt? Daran, dass sie jahrelang vor seinen Augen Vara umarmt und geküsst hatte? Dass sie ihn gebeten hatte, für sie beide Schmiere zu stehen, und dass er immer da gewesen war, um sie zu unterstützen? Aber das wollte er nicht. Sie sollte nicht denken, dass er das alles nicht gern getan hatte. „Du kannst nichts dafür, ich habe ja nie etwas gesagt”, beschwichtigte er sie. „Ich hätte es merken müssen, ich dumme Kuh!”, sagte Nisha tonlos. Sie sah jetzt wütend aus, vermutlich wütend auf sich selbst, und wandte sich von ihm ab. Er wollte ihre eine Hand auf die Schulter legen, aber sie schüttelte sie unwirsch ab.
Wind kam auf, und trug Stimmen an ihre Ohren. Jemand rief ihre Namen, weiter flußaufwärts. Man suchte nach ihnen. Valion wandte sich in die Richtung und versuchte ihre Retter zu erspähen, aber noch war niemand in ihrer Nähe. „Sie werden bald hier sein”, sagte er beruhigend, aber Nisha achtete nicht darauf. Sein Geständnis hatte sie völlig aufgebracht, ohne dass er wusste warum. 
„Nisha, es ist nicht deine Schuld”, begann er erneut. „Ich wollte, dass du glücklich bist, verstehst du? Mir ist nichts wichtiger als das.” Sie wandte sich zu ihm um, die Arme vor dem Körper verschränkt, und schüttelte den Kopf, eine mitleidige Geste, die ihn irgendwie traf. „Tu das bitte nie wieder. Hilf mir nie mehr.” „Aber-”, wollte er protestieren, doch sie unterbrach ihn unerwartet heftig: „Das wird das letzte Mal sein, dass du mir einen Gefallen tust, verstanden? Danach nie wieder. Wir ziehen es mit dieser Geschichte durch, und danach sind wir keine Freunde mehr. So lange, bis du mich vergessen hast”, sagte sie fest. 
„Sie sind da drüben!”, schallte eine Stimme aus der Ferne zu ihnen herüber, aber sie beide beachteten sie nicht. „Warum?” Valion begriff es nicht. „Was habe ich falsch gemacht? Warum sollen wir keine Freunde mehr sein?”, fragte er ungläubig. Sie zögerte, ließ die Arme hilflos sinken, und er sah, dass sie etwas Wichtiges sagen wollte, aber nicht wusste wie. 

„Du bist zu weich, Val”, sagte sie schließlich, hob die Hand und streichelte über seine Wange. „Du lässt sich ausnutzen, und verletzt dich damit selbst. Ich hätte es merken müssen, aber ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Das muss aufhören. Wir dürfen das beide nicht mehr zulassen.” „Aber ich liebe dich, Nisha”, sagte Valion verletzt. „Ich dich doch auch, Val”, erwiderte Nisha traurig. „Denkst du, sonst würde es mir etwas ausmachen, dass ich dich so furchtbar ausgenutzt habe?”, fragte sie. Und dann küsste sie ihn, als Nishas Vater und ihre Freunde sie fanden, und Valion wusste nicht einmal, ob sie es getan hatte um ihren Vater zu täuschen, oder als letztes Zugeständnis an seine Gefühle.

Eine Weile, nachdem Valion seine Erzählung beendet hatte, schwiegen sie nur, aber es war Valion recht. Die Erinnerung an diesen einen Tag wühlte ihn immer noch auf, und er brauchte eine Weile, um sich zu sammeln. Doch jetzt fühlte er sich wieder ruhiger, und zudem war nicht nur seine eigene, sondern anscheinend auch Jans Wut verraucht.
„Was für eine Geschichte”, murmelte Jan schließlich. „Seid ihr damit durchgekommen?” „Ja, obwohl ich eine ziemliche Tracht Prügel dafür bezogen habe”, antwortete Valion. „Erst von Nishas Vater, und dann von meinem. Obwohl mein Vater mir eigentlich nur eine Ohrfeige gegeben und mich angebrüllt hat, was mir einfiele, so mit Mädchen umzuspringen.” Jan lachte leise. „Furchtbar, ein Mädchen dazu anzuhalten, ein anderes zu küssen! Du Wüstling!” Valion grinste ebenfalls, froh, dass sie wieder miteinander scherzten. „Es war ihnen vermutlich lieber, die Geschichte von dem Streich zu glauben als irgendetwas anderes.” „Das kenne ich irgendwoher”, murmelte Jan, doch bevor Valion darauf eingehen konnte, fragte er weiter: „Und danach? Hat Nisha dir wirklich die Freundschaft gekündigt?” „Für eine Weile, ja. Aber sie hatte Recht, ich lag ihr viel zu sehr zu Füßen. Ich meine, die erste Zeit war ziemlich hart und sie wird immer etwas Besonderes für mich sein, aber ich bin darüber hinweg.” Jan seufzte, und meinte dann zerknirscht: „Tut mir Leid, dass ich vorhin diesen ganzen Blödsinn geredet habe. Scheint so, als hättest du auch deinen Anteil an Enttäuschungen einstecken müssen. Ich war nur… ich meine, so kenne ich dich gar nicht.” „Ich glaube, ich komme ohne Schlaf nicht gut aus”, meinte Valion kleinlaut, „Vor allem nachts. Apropos Nacht… es wird schon Morgen.” „Was? Im Ernst?”, fragte Jan, aber dann stimmte er zu. „Ja, es ist gar nicht mehr so düster. Haben wir wirklich schon wieder so lange geredet?” „Scheint so”, meinte Valion und musste lächeln. „Du hörst mir eben wirklich gerne zu.” „Wenn es nur das wäre”, murmelte Jan kaum hörbar. „Was sagst du?”, fragte Valion irritiert nach, aber Jan raschelte nur mit seiner Decke und verkündete scheinbar aus dem Nichts: „Lass uns schlafen. Zumindest noch ein paar Stunden. Sonst werfen sie uns morgen beide raus, weil wir aussehen als wären wir in der Nacht gestorben.”
Merkwürdig, dachte Valion, aber erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, wie müde er eigentlich war, und wie wenig er Lust hatte, Jan auszufragen. Für den heutigen Tag und die heutige Nacht war wahrlich genug passiert. Also legte er sich sein Stoffbündel zurecht, breitete seine Decke erneut über sich aus und schloss die Augen. 

Aber der Schlaf ließ auf sich warten. Obwohl er müde war, ließ ihn seine eigene Geschichte nicht los. In Gedanken kehrte er immer wieder zu dem Moment zurück, an dem er Nisha im Arm gehalten hatte. Wie sie ihn unschuldig gefragt hatte, ob er jemand vorspielen könnte, dass er sie liebte. Ihr Blick ging ihm nicht aus dem Sinn - so fragend, so ahnungslos. Woran hatte er gedacht? Dass es vielleicht jemand gab, den ihn betrachtete und sich wünschte, von ihm zurückgeliebt zu werden. Oder dass er ihn zumindest bemerkte. Warum war Jan so schrecklich verletzt gewesen, als er ihm gesagt hatte, er solle an eines seiner Mädchen denken?

Du weißt gar nicht wie das ist, mit deiner kleinen, sauberen Romanze, sagte Jan in seinem Kopf. Denkst du es macht mir Spaß, nie zurück geliebt zu werden?
Er hatte Jan ungewollt verletzt. 
Du kannst mit Nisha zusammen sein, ganz einfach so.
Er hatte Jan verletzt, weil… 
Plötzlich setzte Valion sich gerade auf und starrte in die Dunkelheit.
Warum war er nur so ein Volltrottel? Er musste doch Wachs in den Ohren haben, und Stroh im Kopf. Warum hatte er eigentlich nie richtig zugehört? Hatte er sich wirklich nur von Jans Geschichten in die Irre führen lassen, obwohl sie überhaupt nichts bewiesen? Er musste sich eingestehen, dass das vermutlich stimmte. Und dann war da noch der Fakt, dass Jan immer den Eindruck erweckte, gerade heraus zu sprechen und keine Geheimnisse zu haben. Aber das war nur Fassade. Wenn es wirklich drauf ankommt kriege ich keinen Ton heraus, das hatte er doch selbst gesagt.

Langsam, leise, ließ Valion sich zurücksinken. Er hätte Jan gern gefragt, und gleichzeitig hatte er Angst davor. Was, wenn er sich irrte? Würde Jan ihn auslachen? Alles abstreiten? Und selbst wenn nicht, Valion selbst wusste überhaupt nicht, was er selbst darüber denken sollte. Er hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass ein geheimer Teil seines Lebens hier, völlig losgelöst von allem was er kannte, plötzlich so wichtig werden könnte. 

„Jan, schläfst du?”, flüsterte er leise. Es kam keine Antwort. Wenn Jan wach war, dann gab er es nicht zu erkennen. Wie auch immer die Antwort lautete, er würde sie erst morgen bekommen.
Aber was sollte er überhaupt fragen? Ob Jan jemand kannte, der so ähnlich war wie Nisha, in der Hoffnung, dass Jan die Chance nutzte um sich zu offenbaren? Oder sollte er gerade heraus fragen, ob Jan nicht nur Beziehungen mit Mädchen geführt hatte? Sollte er ihn nach einer der vielen, vielen Andeutungen fragen, die er gemacht hatte?
Oder konnte er wirklich den Mut aufbringen, die Frage direkt zu stellen?
 

Jan, bist du wie ich?


Er schloss die Augen und versuchte an nichts zu denken, aber seine Fragen verfolgten ihn bis in seine Träume.


Er verschlief den Morgen und den Mittag. Als er aufwachte, waren es nur noch wenige Stunden bis zum Sonnenuntergang, und er hatte einen Bärenhunger. Sein erster Gedanke, als er sich gähnend herum drehte und ins Licht blinzelte, war ein riesiges Mittagessen. Sein zweiter Gedanke war die Feststellung, dass der Wagen nicht mehr in Bewegung war. Wo auch immer sie ihr Lager aufschlagen wollten, dieser Ort schien erreicht zu sein, was auch bedeutete, dass sein Dasein als Sklave heute, mit seiner Zuteilung, erst richtig beginnen würde.
Sein dritter Gedanke galt zwangsläufig Jan, denn der hatte anscheinend schon darauf gelauert, dass Valion aufwachte. „Na, endlich ausgeschlafen?”, begrüßte er ihn gut gelaunt. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für dich - sie haben dein Frühstück zwar nicht wieder mitgenommen, aber es dürfte jetzt verdammt trocken sein. Und sie haben angedroht, dass es erst wieder was gibt, wenn wir neu zugeteilt wurden.” Valion stöhnte und rappelte sich auf. „Das geht ja gut los”, murmelte er mißmutig und griff sich sein Frühstück, eine Scheibe grobes Brot und einen schmalen Streifen getrocknetes Fleisch, beides tatsächlich schon ziemlich trocken. „Immer noch so mürrisch, nach so viel Schlaf?”, fragte Jan nach. „Zwischen dich und deinen Schlaf darf sich wohl wirklich niemand stellen. Vermutlich sollte ich mir das merken, vielleicht schlafen wir ja bald zusammen.”


Valion verschluckte sich bei diesem Kommentar an seinem Brot und brach in unkontrollierten Husten aus. Sein Verstand hatte, noch nicht ganz wach, eine abrupte und ziemlich direkte Verbindung gezogen und ihm prompt die passende Vorstellung von ihm und Jan zusammen in einem Bett geliefert. Am liebsten hätte Valion sich selbst geohrfeigt. Kaum hatte er einen wilden Verdacht, drehte seine Vorstellungskraft völlig frei. Dabei kamen ihm seine Überlegungen von gestern jetzt, am helllichten Tag, überhaupt nicht mehr so plausibel vor. Was hatte er schon, außer ein paar vagen Andeutungen von Jan? 


„Lebst du noch da drüben?”, fragte Jan lachend, während Valion versuchte, nicht an einem Brotkrümel zu ersticken. Schließlich brachte er ein krächzendes „So halbwegs” hervor. Er entschloss sich, erst sein Frühstück zu essen und sich danach zu unterhalten, und verschlang alles möglichst schnell. Erst dann sprach er weiter: „Wie lange denkst du dauert es, bis sie uns raus lassen?” „Wir stehen schon eine Weile. Kann eigentlich nicht mehr so lange dauern”, meinte Jan und schien aufgeregt zu sein. Valion wiederum passte das gar nicht. Er wollte mindestens eine seiner Glasscherben dabei haben, bevor er nach draußen ging, nur zur Sicherheit, und außerdem hatte er gehofft Zeit zu haben, sich an das Gespräch mit Jan heran zu tasten. Er wollte dieses Gespräch lieber jetzt führen, mit der Sicherheit, dass er sich im Zweifelsfall zu einem Ball zusammenrollen und vor Scham sterben konnte, ohne dass Jan ihn direkt dabei beobachtete. Schon jetzt hatte er das untrügliche Gefühl, dass er von Angesicht zu Angesicht keinen Mut haben würde, Jan danach zu fragen.
Deshalb sagte er nur neutral: „Verstehe”, und machte sich daran, das Versteck seiner Splitter zu suchen.


Jan ließ sich von seinem mangelnden Enthusiasmus indes nicht beeindrucken. „Ich kann es gar nicht erwarten, hier raus zu kommen, ganz zu schweigen davon, dich tatsächlich mal zu sehen.” „Warum?”, fragte Valion und zog schnell seine kleine Sammlung von Glassplittern aus ihrem Versteck. Die scharfkantigen Bruchstücke zu sehen gab ihm etwas Sicherheit. Was auch auf ihn zu kam, im Ernstfall war er nicht wehrlos. „Na, du musst mir doch deinen Buckel und deine schwarzen Zähne präsentieren”, ulkte Jan. „Nur, wenn du mir deine riesigen Warzen zeigst”, schoss Valion zurück, und Jan lachte auf. „Oh Mann, hoffentlich trennen sie uns nicht. Das würde ich nicht überleben”, sagte er, „Die anderen sind bestimmt alle Langweiler im Vergleich zu dir.”
Valion schluckte trocken. Zum Teufel, warum eigentlich nicht? Die Zeit lief ihm weg, und dieser Moment war so gut wie jeder andere.

„Jan? Kann ich dich was fragen?”, begann er. Jan stutzte hörbar, aber antwortete völlig sorglos: „Ja, na klar, was denn?” Valion holte tief Luft und wollte gerade seine Frage stellen, als sich auf einmal Schritte näherten. Wächter, wenn er es richtig deutete, zwei oder drei. „Ich glaube es geht los, Val”, sagte Jan hastig. „Verdammt”, fluchte Valion. Er stand mitten im Raum, mit einer Sammlung von Gegenständen, die man getrost als Waffen bezeichnen konnte, und hatte sich überhaupt noch nicht überlegt, wo er sie verstecken wollte. Er wollte die Splitter keinesfalls einfach so in die Hosentaschen oder am Ende in seine Schuhe schieben. Kurzentschlossen zog er die zwei kleinsten Scherben aus dem Stoffbündel, wickelte den Stoff komplett ab und schob die restlichen Scherben in sein Versteck zurück. „Wir sollen zuerst den hier holen”, hörte er eine Stimme sagen, und war sich sicher, dass er damit gemeint war. Er wickelte den Stoff um die Scherben, und schob sie sich in den Mund.


Es war eine völlig verrückte Idee, aber es war das Einzige, was ihm einfiel. Nur einen Moment später kam einer der Wächter herein. Er sah Valion nicht einmal an, und statt seine Fußfessel aufzuschließen, löste er die Kette aus ihrer Verankerung am Wagen. „Mitkommen”, knurrte er, und Valion trabte stumm hinter ihm her und schliff die lange Fußkette mit sich. 
Diesmal achtete er darauf wohin er trat, als er den Wagen verließ, und er schirmte die Augen ab, um sich möglichst schnell an das helle Licht zu gewöhnen. Wenn er fiel und nicht Acht gab… Alles in ihm sträubte sich bei dieser Vorstellung. 

Er erhielt einen groben Stoß von einem anderen Wächter, und für einen panischen Moment glaubte er, vor Schreck würde er die Glassplitter verschlucken. Doch er riss sich zusammen und ließ sich weiter treiben, zur Seite des Wagens, wo man ihn zu Boden stieß und erneut fest kettete. Valion atmete flach und wünschte sich, dass sie endlich verschwanden, aber einer der Hünen trat mit Handschellen auf ihn zu, packte grob seine Arme, ohne auf das immer noch verbundene Handgelenk zu achten, und verschloss sie. „Was ist mit dem anderen?”, fragte der zweite Wächter seine Kameraden und deutete auf die kleine Zellentür, hinter der Jan steckte. „Später”, meinte ein anderer. „Befehl, damit sie sich nicht gegenseitig helfen können und am Ende fliehen.” „Gut, dann machen wir jetzt Meldung” Die Wächter trabten ab, und Valion wartete mit klopfendem Herzen, bis sie sich entfernt hatten, dann spuckte er schnell die Splitter aus und steckte sie in die lockere Erde zu seinen Füßen. Nur zwei silbrige Spitzen erinnerten daran, dass sie dort waren, und er verbarg sie mit etwas loser Erde.
Erst jetzt wagte er es, sich umzusehen.
Die Umgebung hatte sich im Vergleich zu den Tagen zuvor nur ein wenig verändert. Die Landschaft war genauso grün und saftig, aber weniger hügelig. Neu war, dass in unmittelbarer Nähe lockere Buchenwälder begannen, die sich in einiger Entfernung zu einem dichten Mischwald verdichteten. Einige Gruppen aus Bäumen und Büschen rahmten den Lagerplatz ein und versperrten Valion nach Westen hin die Sicht. Ganz in der Nähe, in seinem Rücken, hörte er das stetige Rauschen eines Flusses. Ob es der selbe war den er zuvor gesehen hatte, vermochte er indes nicht zu sagen. Die Männer hatten ihn an der Seite des Wagens angekettet, die abgewandt vom Großteil des Lagers war. In seinem Rücken hörte er genau den selben geschäftigen Lärm wie immer, aber in seinem Sichtfeld fehlte jegliche Betriebsamkeit. Dabei war der Platz vorbereitet - zwei Feuer brannten, und eines davon erwärmte einen Kessel, der nur Wasser zu enthalten schien, denn er verströmte keinerlei Geruch. Es lagen Werkzeuge bereit, die er aus der Entfernung nicht identifizieren konnte, und auch einige Flaschen und Krüge mit undefinierbarem Inhalt. 

„Val? He, hörst du mich?” Jan rief nach ihm, und Valion stand schnell auf und versuchte, so nahe wie möglich zu der Tür seiner Zelle zu gelangen. Er kam erstaunlich weit, was er vermutlich seiner Fußkette zu verdanken hatte - sie bot ihm wesentlich mehr Spielraum als die Handschellen zuvor. Er schaffte es sogar, mit einem Fuß auf das Trittbrett des Wagens zu steigen, das zu der Tür gehörte. „Hier bin ich”, sagte er. „Was für eine Schweinerei, was? Da lassen sie dich raus, und mich trotzdem hier drin versauern”, nörgelte Jan, aber aus seiner Stimme klang Unsicherheit. Ob er sich heimlich Sorgen machte, doch noch zurückgelassen zu werden? „Keine Sorge, die holen dich noch. Sie haben gesagt, du kommst erst nach draußen, wenn es los geht”, sagte Val aufmunternd. „Na hoffentlich”, seufzte Jan. „Du klingst übrigens ziemlich nah.” „Ich stehe auch direkt vor deiner Tür”, meinte Valion und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als Jan verdutzt fragte: „Was, im Ernst? Meine Güte, so nahe waren wir uns ja noch nie, ich bekomme fast Angst! Nicht näher, Bandit!” „Na gut, dann geh’ ich eben wieder”, sagte Valion zum Scherz. „Untersteh dich. He, siehst du das?”, fragte Jan aufgekratzt. Einen Moment später schob sich eine schmale, blasse Hand durch das Gitter, das ganz oben in der Tür eingelassen war. Valion zögerte einen Moment, denn die Kette zwischen seinen Handschellen war im Vergleich zu vorher tatsächlich sehr kurz. Aber Jan hängen lassen wollte er ebenfalls nicht. Notgedrungen hob er beide Arme so weit es ging über den Kopf. Er musste sich etwas strecken, aber er bekam Jan zu fassen, und ihre Hände verschränkten sich ineinander. 
Es war das seltsamste Gefühl, das er jemals erlebt hatte. Er kannte immer noch nicht Jans Gesicht, er hielt gerade zum ersten Mal in seinem Leben seine Hand, und hatte doch das Gefühl, dass sie sich schon seit Jahren kannten. In diesem Moment kamen ihm diese wenigen Tage, die sie zusammen verbracht hatten vor wie eine Ewigkeit. Seine Schulter schmerzte, und er musste seine Arme unbequem an der Holztür stützen, aber er konnte nicht loslassen. Wollte nicht loslassen. Er lehnte seine Stirn an die grobe Holztür und stellte sich vor, er könnte hindurch blicken, direkt in Jans Gesicht sehen. Sein Herz schlug dabei so schmerzhaft in seiner Brust, dass es ihm fast die Luft abdrückte.

Für einen Moment schwiegen sie beide, dann fragte Jan unsicher: „Du bist gefesselt, oder? Das muss ziemlich unbequem sein. Ich weiß nicht, wenn du loslassen willst…” „Willst du denn loslassen?”, fragte Valion. „Nicht unbed-” „Ich auch nicht.”
Es erstand noch eine Pause, und Valion spürte regelrecht, wie Jan all seinen Mut zusammen kratzte, und in diesem Moment tat er ihm regelrecht Leid. Er wusste ja nicht, dass Valion schon wusste, was er fragen würde. Er kannte auch nicht Valions Antwort, obwohl sie ihm selbst klar gewesen war, als er das erste Mal Jans Hand ergriffen hatte. 
Valion dachte an Nisha, und wie ähnlich sie sich waren, und wie er eines Tages den Mut aufgebracht hatte sie zu fragen, ob sie denn wirklich ausschließlich Mäfchen anzogen. „Ich meine, es gibt ein paar Jungen, die ich hübsch finde, keine Frage”, hatte sie erklärt und schief gelächelt. „Aber hauptsächlich Mädchen, verstehst du?” Und er hatte genickt und gewusst, dass er ebenso empfand. Nisha war eine Ausnahme, aber hauptsächlich…

„Hör mal, ich…”, begann Jan unsicher, und seine Hand begann leicht zu zittern. „…in den letzten Tagen, da… also, ich denke du weißt noch nicht alles über mich, und…” Er stockte und schien den Faden zu verlieren, und Valion konnte nicht umhin, zu lächeln, nicht aus Schadenfreude, sondern weil jedes einzelne von Jans Worten wahr gewesen war. Wenn es darauf ankam, war er überhaupt nicht mehr so wortgewandt und frech. Er stotterte und kämpfte um jedes Wort, so, wie er es selbst zugegeben hatte. „Ich wollte dich vorhin etwas fragen”, unterbrach Valion ihn, und er konnte hören wie Jan aufatmete. „Die Dame zuerst”, sagte er mit einem leichten Zittern in der Stimme. Vielleicht hoffte er, dass es einfacher wurde, wenn er etwas mehr Zeit hatte. Valion wusste aus Erfahrung, dass es umgekehrt war. Die Zeit vergrößerte nur die Unsicherheit. Warum sonst hatte er so lange gewartet, Nisha seine Liebe zu gestehen, bis es zu spät war und sie sich ein Leben ohne Vara nicht mehr vorstellen konnte? Er durfte nicht den selben Fehler zweimal machen.
„Ich wollte dich fragen, ob du immer nur mit Mädchen zusammen warst.” „Was? Wieso?”, fragte Jan perplex, als wüsste er nicht, ob er seinen Ohren trauen durfte. „Weil ich gern dein Freund wäre.” „F-Freund? Du meinst-” „Mit dir zusammen. Ein Paar.” Er hörte Jan lang ausatmen, dann fragte er: „Meinst du das wirklich ernst?” „Ja.” „Denn, wenn… wenn du versuchst mich auf den Arm zu nehmen, trete ich nämlich diese Tür ein und schlage dich mit dem erstbesten Gegenstand bewusstlos, und dann lasse ich dich von Wölfen auffressen.” Valion lachte leise in sich hinein. „Dann bin ich ja froh, dass ich es ernst gemeint habe. Die armen Wölfe hätten an mir nichts zu beißen gehabt.” „Du meinst das wirklich ernst, oder?”, fragte Jan noch einmal ungläubig nach. „Ja, wirklich.” Er wartete ab, was Jan sagen würde, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte. Wenn man sich über eines sicher sein konnte, dann darüber, dass Jan nie lange die Klappe halten konnte. „Verdammt, du weißt gar nicht, wie dringend ich jetzt hier raus will”, sagte er schließlich, „Ich meine, jetzt habe ich einen Freund mit schwarzen Zähnen und einem Buckel - ein Traum wird wahr.” Valion konnte sich das Grinsen vorstellen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnen musste. Er wusste nicht wie Jan aussah, aber er wusste jetzt schon, dass er dieses Lächeln lieben würde. „Das musst du gerade sagen, mit deinen Warzen”, konterte er, und sie brachen in Gelächter aus.

„Gut, wartet auf weitere Befehle”, wies Tarn die Wachen an, dann machte er kehrt und betrat Eraviers Wagen. „Alles steht wie befohlen bereit”, erstattete er Bericht.
Eravier, der über einigen Listen gebrütet hatte, blickte interessiert auf. „Ach, tatsächlich, schon so spät?” Er streckte sich, stützte dann nachdenklich den Kopf auf die Hand. „Eine Einteilung, das ist immer ein rührender Augenblick - aus kleinen, schmutzigen Dörflern werden echte Sklaven, und das nur durch Wasser, Seife und ein paar scharfe Messer. Meinst du, Jan ist mit seiner kleinen Aufgabe schon weiter gekommen?”, fragte er. Tarn zuckte mit den Schultern und versuchte gleichgültig zu wirken. „Wenn, dann ist mir nichts davon bekannt.” Natürlich wusste er aus zuverlässigen Quellen, dass Jan nicht einmal andeutungsweise einen Vorstoß in diese Richtung gemacht hatte. Die beiden Jungen hatten sich wie immer unterhalten, diesmal sogar bis spät in die Nacht, aber im Grunde hatte Valion nur die Erlebnisse seines Tages wiedergegeben. Tarn hätte mehr Details erfahren können, aber das ersparte er sich, weil er im tiefsten Inneren wusste, dass es ihn nichts anging. Er war zunächst nur froh, dass Jan entweder zu ungeschickt dazu war Valion entsprechend auszuhorchen, oder noch auf den richtigen Moment wartete. Vielleicht hatte er selbst bis dahin noch eine Chance, Valion zu warnen. Er wünschte, er hätte sie schon eher erhalten, aber die bevorstehende Errichtung des Lagers und die damit zusammenhängenden Aufgaben hatten ihm keine ruhige Minute gelassen.
Und es gab noch mehr Grund zur Besorgnis. Eraviers Neugier und Interesse an Jan waren mit jeder Stunde gestiegen, die die Einteilung der Jungen näher rückte. Gerade jetzt löschte er seine Dokumente mit Sand, schloss sein Tintenfass und erhob sich, um ungeduldig auf und ab zu gehen. „Sind sie jetzt allein da draußen?”, fragte er interessiert, „Ich würde mir gern aus der Nähe ansehen, wie Jan sich macht. Auch das ist vorbereitet, oder?” Tarn ballte die Fäuste und verkniff sich jeglichen Kommentar, er antwortete nur steif: „Ja, die Diener haben darauf geachtet, dass man die Jungen beobachten kann ohne dass sie es bemerken. Aber sie sind nach wie vor getrennt”, erklärte Tarn. „Dann sollten wir das ändern”, sagte Eravier, und die Vorfreude stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Veranlasse alles.”

„Ich glaube, es kommt jemand”, sagte Valion. „Das denkst du ständig, und nie passiert etwas. Gib doch zu, dass dir die Arme einschlafen”, meinte Jan, aber Valion schüttelte den Kopf. „Nicht diesmal. Ich verschwinde besser”, sagte er und löste widerwillig seine Hand aus der von Jan. Er zog sich an den Platz zurück, an dem er zuvor gesessen hatte und behielt die Umgebung im Auge, während er mit seinen Händen über die Erde tastete. Tatsächlich fand er die Spitzen der Spiegelscherben im Boden wieder, immer noch sicher verborgen. Wenn er die Möglichkeit bekam würde er Jan eine davon geben, damit auch er für den Notfall gewappnet war. Er hatte keine Ahnung, wie dieser Notfall aussehen könnte, aber er wusste schließlich auch nicht, was folgen würde. Soweit er es verstanden hatte, würden sie gewaschen und untersucht werden, aber ob das alles war?

Bevor er sich in seinen Gedanken verlieren konnte, kamen die Wächter heran gestapft, die auch ihn schon aus dem Wagen geholt hatten. Sie warfen Valion einen prüfenden Blick zu, doch zum Glück machten sie sich nicht die Mühe, sich weiter mit ihm zu befassen. Stattdessen schloss einer die Holztür auf, die zu Jans Gefängnis führte, und zwei von ihnen traten ein. Valion hörte Jans Stimme, als er mit bitterem Humor das Auftauchen der Wachen kommentierte. „Oh, die bösen Ritter kommen um die Prinzessin zu entführen”, spottete er. Es folgte ein Schlag, und Jan keuchte auf, und lachte dann. „Das musst du nochmal üben, Fleischklops!” „Lass dich nicht von ihm provozieren”, mahnte einer der Wächter. „Du kannst ihm später ein paar Schläge verpassen, wenn er zugeteilt worden ist. Dann schaut ihn bis Lutejia sowieso keiner mehr an.” „Kann es gar nicht erwarten”, brummte der andere Wächter abfällig. „Ich auch nicht”, ätzte Jan, aber anscheinend hörten die Wachen ihm tatsächlich nicht mehr zu, denn es erklang nur noch das Rasseln von Ketten, und Schritte näherten sich. Sie hatten Jan zwischen sich, und es dauerte einen Moment, bis er endlich in Valions Gesichtfeld geriet. Er wagte nicht einmal zu blinzeln, so angespannt war er. Er konnte Jan endlich sehen.


Er war blass, noch blasser als Valion angenommen hatte, und erbarmenswert dünn. Die lange Krankheit hatte seinen Körper sichtbar ausgezehrt. Doch der Blick auf Jans Gesicht blieb ihm zunächst verwehrt, denn die Wachen hatten ihn an den langen, blonden Locken gepackt und zerrten ihn daran weiter. Bei Valion angekommen warfen sie ihn zu Boden und schlossen sofort eine eiserne Schelle um sein Bein, dann Handschellen um seine Handgelenke, und Valion sah besorgt, dass Jans Arme noch schlimmer in Mitleidenschaft gezogen waren als seine eigenen. „Ihr bleibt hier. Man wird sich gleich um euch kümmern”, sagte einer der Wachen. „Oh ja, und wie”, fügte ein anderer Wächter mit einem süffisanten Tonfall hinzu. Er war schmächtiger als seine Kumpane, mit einem Gesicht, mit dem man Kinder erschrecken konnte. Das musste der sein, der Jan geschlagen hatte. Für einen Moment fragte Valion sich, ob es diesem Kerl gefiel, andere Menschen herum zu schubsen, und was er damit wohl auszugleichen versuchte. Jan jedenfalls ließ sich nicht von ihm beeindrucken, im Gegenteil. „Oh, wir furchtbar, das macht mir aber Angst, Rübennase”, spottete er. Der Wächter grunzte wütend und wollte auf ihn losgehen, aber seine Begleiter hielt ihn zurück. „Lass das”, brummte der größte der drei. „Kommt, wir haben heute Abend noch etwas anderes zu tun.” Damit stapften sie davon. Jan schnaubte und strich sich endlich mühselig seine blonde Lockenmähne aus dem Gesicht, obwohl die kurze Kette zwischen seinen Handschellen ihn sichtlich dabei behinderte. Valion erstarrte. „Was für Idioten”, spottete Jan und zwinkerte Valion zu, aber der registrierte es kaum.

Das konnte einfach nicht sein. Er war darauf vorbereitet gewesen, dass das mentale Bild, das er von Jan gehabt hatte, falsch sein musste. Immerhin hatte er ihn nur ein einziges Mal gesehen. Nein, das war nicht richtig - er hatte jemand gesehen, den er damals für Jan gehalten hatte. Er hatte einen untersetzten Jungen gesehen, und einen anderen, der Nisha ähnelte. Womit er nicht gerechnet hatte war, dass er sie verwechselt hatte. Wer auch immer der andere Junge gewesen war - der Junge, der Nisha so sehr ähnelte, war Jan.

„Mach den Mund zu, es fliegt noch was rein”, sagte Jan amüsiert und schob Valions Kiefer mit sanftem Nachdruck nach oben, dass seine Zähne leise aufeinander schlugen. „Aber… aber du siehst aus wie… ”, begann Valion, und Jan zuckte mit den Schultern. „Ja, ziemlich unheimlich, oder?”, sagte er und lachte verlegen. „Ich hab dich schließlich nicht umsonst danach ausgefragt, wie Nisha aussieht. Deine erste Beschreibung passte ziemlich gut…” 
Ziemlich gut war gar kein Ausdruck. Natürlich gab es subtile Unterschiede, wie der Schwung der Augenbrauen oder das Fehlen der Sommersprossen, aber das Gesicht, das sich ihm jetzt zuwandte, war Nisha so ähnlich, als wäre er ihr Zwillingsbruder. Es war die selbe gerade Nase, der selbe sanft geschwungene Lippenbogen und die selben Augen, mit dem einzigen Unterschied, dass Nishas Augen grün waren. Jans Augen waren von einem unerwartet tiefen, sanften Braun, in dem man sich verlieren konnte. 
Valion hatte sich bisher überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, ob er Jan bei ihrem ersten echten Zusammentreffen attraktiv finden würde. Im Grunde war es ihm auch gar nicht wichtig gewesen - er hatte sich in seinen Charme, seine dummen Witze und entwaffnende Fröhlichkeit verliebt, bevor er sein Gesicht überhaupt gesehen hatte. Doch Jans Ähnlichkeit zu Nisha und die starke Anziehung, die er sofort verspürte, stürzten ihn jetzt in völlige Verwirrung.

Eravier lachte leise auf. „Sie sind sich nie zuvor begegnet, nicht wahr? Scheint, als hätten sie beide gerade eine Überraschung erlebt.” Versonnen nahm er einen Schluck aus seinem Becher Wein und verfolgte das Schauspiel, das sich ihm bot. Tarn unterdrückte den Drang, sich abzuwenden und einfach zu gehen.
Eravier lehnte bequem am Stamm einer großen, ausladenden Buche und wurde wie Tarn und die Wächter und Diener, die er hierher beordert hatte, von den tiefhängenden Ästen abgeschirmt. Die bewegten, unregelmäßigen Schatten, die das dichte Blattwerk auf sie warf, machten die Tarnung perfekt - die Jungen schienen sie auf ihrem Beobachtungsposten nicht zu bemerken. Die Wächter hatten diesen Standort auf Eraviers Befehl hin gesucht und gefunden, damit er Valion und Jan bei ihrem ersten Zusammentreffen beobachten konnte, und er genoss diese Gelegenheit sichtlich. Er betrachtete das Geschehen vor dem Pestwagen so konzentriert und heiter wie die Aufführung einer besonders geliebten Oper.

Tarn jedoch krümmte sich innerlich. Vielleicht war diese Anwandlung mehr Scheinheiligkeit als alles andere, denn immerhin war er ein Mitglied der Rebellion. Er war es eigentlich gewohnt, Informationen durch gezieltes Lauschen zu sammeln, zu spionieren und im entscheidenden Moment nicht gesehen zu werden. Es war eine Fähigkeit, die er beherrschte, ohne stolz darauf zu sein, im Gegenteil. Die meisten Menschen konnten gehässig sein, dumm, launisch und bisweilen abstoßend, aber das, was sie im Geheimen preisgaben machte sie verletzlich.  Er hatte niemals einen Menschen so sehr hassen können, dass er diese Verletzlichkeit ausgenutzt und jemand damit direkt geschadet hatte. 
Eravier hingegen kannte keine Hemmungen und kein Mitleid. Sein gleichgültiger Blick sezierte jede Bewegung, jede Mimik, jede geheime Regung, und man konnte sich sicher sein, dass er jedes Detail, an das er sich erinnerte, zu einem geeigneten Zeitpunkt wiederverwenden würde. Wenn es um den Charakter und die Schwächen von Menschen ging, war sein Gedächtnis so umfangreich, dass es fast unheimlich war. Das Wissen, dass er diese Details zu einem späteren Zeitpunkt gegen Jan oder sogar Valion verwenden würde, erfüllte Tarn mit tiefem Unbehagen.
Aber natürlich war das auch seine eigene Schuld; er hätte nicht versuchen sollen, mehr als eine flüchtige Verbindung zu Valion aufzubauen. Er hatte angenommen, dass er sowohl ein unbeteiligter Zuschauer bleiben als auch ein Auge auf den Jungen haben konnte, doch selten hatte er sich so getäuscht. Diesen Fehler bezahlte er nun damit, dass ihm die Distanz, die er sonst zu jedem aufrecht hielt, abhanden gekommen war. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Valion und seinen Freund in einer Situation zu sehen, in der sie sich unbeobachtet fühlten. Die Tatsache, dass sie sich bis jetzt nur angestarrt und ein paar Worte gewechselt hatten, änderte daran auch nichts.
„Wie geht es wohl weiter?”, fragte Eravier, und sein Gesichtsausdruck war sowohl neugierig als auch fasziniert. „Zwei Freunde, zusammengeschweißt durch ihre Isolation und Gefangenschaft, die sich das allererste Mal in ihrem Leben tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Ein Augenblick voller Emotionen, möchte man annehmen. Liegt es da nicht nahe, sich gegenseitig das Herz auszuschütten? Wie leicht lässt sich so ein Moment ausnutzen.” Sein Lächeln wurde noch breiter. „Na los, Jan. Beweis mir, dass du meine Zeit wert bist.”

„Bist du sicher, dass ihr nicht verwandt seid?”, fragte Valion immer noch perplex. „Also, ich würde es nicht völlig ausschließen”, sagte Jan etwas verlegen. „Mein Vater war ein ziemlicher Weiberheld, wenn du verstehst, was ich meine. Er war eine ganze Weile auf Wanderschaft, und er soll nicht gerade zimperlich mit dem Spielen, Huren und Witwentrösten gewesen sein. Ich wäre ja gern in seine berühmten Fußstapfen getreten, aber das ist ziemlich schwierig, wenn man den Damen nicht so sonderlich zugeneigt ist”, sagte er selbstironisch. Valion grinste. „Stimmt, du hast dich ja als großen Frauenheld aufgespielt. War denn irgendeine deiner Geschichten echt?”, fragte er. „Die Geschichten sind alle wahr”, behauptete Jan. Er sah Valions ungläubigen Blick und fügte hinzu: „Vielleicht ein kleines bisschen übertrieben. Aber trotzdem echt. Ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel”, sagte er etwas kleinlaut. Valion ergriff umständlich Jans Hand, was nicht so einfach war, da sie inzwischen beide durch ihre Handschellen stark eingeschränkt waren, und drückte sie. „Schon gut. Aber warum eigentlich? Wenn du überhaupt kein Interesse hattest… warum hast du dann immer wieder etwas mit Mädchen angefangen?” Jan war für einen Moment viel zu abgelenkt, weil er verlegen auf seine Hand in Valions starrte, sammelte sich aber gleich darauf. „Naja, am Anfang dachte ich noch, dass ich vielleicht nur noch nicht das richtige Mädchen gefunden habe. Ich meine, das sagen einem alle, oder? »Irgendwann wirst du die Richtige finden, das erkennst du, wenn du sie das erste Mal siehst!« Bis mir aufging, dass die Richtige im Grunde der Richtige ist, dauerte es eine Weile. Und danach… Ich hatte keine Freunde, denen ich mich anvertrauen konnte. Mir hat keiner geholfen, den schönen Schein aufrecht zu erhalten, also musste ich mir wohl oder übel den Ruf eines Schürzenjägers zulegen. Was denkst du, wie sehr meine Eltern darum gekämpft haben mir irgendein Mädchen zu beschaffen, das bereit war mich nach all meinen Skandalen noch zu heiraten? Nicht, dass sie es nicht trotzdem immer wieder versucht haben. Du würdest nicht glauben, wieviel lieber die meisten Leute ihre Tochter entehrt statt ihren Sohn mit einem anderen Jungen vorfinden, selbst wenn dabei keine Bastarde zu befürchten sind”, spottete Jan. Es klang leichtherzig, aber seine Mimik verriet, dass die Missbilligung seiner Eltern ihn schon lange verfolgen musste. „Das muss ziemlich hart gewesen sein”, sagte Valion. „Ich habe es durchgestanden”, meinte Jan abwehrend. „Und irgendwie hat es sich ja gelohnt - hätten sie mich nicht so dringend loswerden wollen, säße ich jetzt vermutlich nicht hier und würde dich gar nicht kennen.” Bei diesen Worten lächelte er breit, und Valion konnte nicht umhin, ihn fasziniert anzustarren. Er hatte Tage darauf gewartet dieses schiefe Grinsen zu sehen zu bekommen, und anscheinend hatte sich jede Sekunde des Wartens gelohnt. Jan wiederum starrte ihn nicht weniger neugierig an. „Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, du hättest dunkle Haare”, sagte er schließlich und strich vorsichtig durch Valions blonden Schopf, „Aber der Rest gefällt mir.” Valion errötete heftig, und es brachte Jan zum Lachen. „Ohje, schau dich an - ein Kompliment, und du bist völlig hin und weg.” Er lehnte sich ein Stück zur Seite, näher zu Valion hin, und plötzlich zuckte er zurück und betrachtete misstrauisch seine Handfläche. „Autsch! Ich glaube hier liegen irgendwelche Dornen herum.” 

Valion schreckte auf und tastete nach den Scherben. In der Aufregung hätte er sie fast vergessen. Schnell sah er sich um, ob sie immer noch allein waren, aber obwohl er niemanden sah, erschien es ihm doch zu riskant Jan einfach etwas in die Hand zu drücken.
Er beugte sich stattdessen vor und flüsterte Jan direkt ins Ohr: „Halt die Hand am Boden. Ich gebe dir etwas.” Er wich nicht zurück, sondern zog, verdeckte durch seinen eigenen Körper, die Scherbe unauffällig heraus und schob sie unter Jans Hand. „Hier, nur für alle Fälle.” Jan spürte den scharfkantigen Gegenstand und sah Valion groß an. „Wo zum Teufel hast du das denn her?”, fragte er ungläubig, aber genauso unauffällig wie Valion nahm er die Scherbe an sich und ließ sie geschickt, fast wie ein Taschenspieler, in seiner Jackentasche verschwinden. „Ich hatte einen Spiegel dabei. Lange Geschichte”, erklärte Valion flüsternd, immer noch an Jans Ohr. „Und was hast du damit vor? Willst du ein paar Wächter tot pieken?”, flüsterte Jan zurück. „Du kitzelst mich übrigens, nur dass du es weißt”, fügte er hinzu. „Das ist nur für den Fall, das etwas passiert.” Jan schwieg einen Moment, dann fragte er: „Hat das etwas mit der Rebellion zu tun?” 
Valion erstarrte, und Jan hob die Hände und strich ihm beruhigend über die Schultern. „Nicht verkrampfen, das fällt auf. Ich hatte es mir schon gedacht. Der ganze Krach bevor du angekommen bist, dass immer so viele Wachen herumgeschlichen sind… ich bin nicht so blöd.” „Ich kann dir nichts darüber erzählen, Jan”, sagte Valion schnell. „Schon gut, alles zu seiner Zeit. Wir müssen erstmal diesen Tag überstehen, dann sehen wir weiter. Selbst wenn wir nicht in einem Wagen schlafen können, bekommen wir etwas Freigang, und dann kannst du mir die Details verraten.” Valion nickte, zog seinen Kopf zurück und wollte sich aufrichten, doch Jan hielt ihn an seinem Hemd fest, sodass sie sich unmittelbar in die Augen sahen. „Wir sind jetzt zusammen. Wir passen aufeinander auf, ja?” Valion nickte, und bevor er wusste was geschah, hatte Jan ihn sanft zu sich gezogen und küsste ihn.

Die ersten Sekunden war es gar nichts Besonderes, ein einfacher, netter Kuss. Seltsamerweise hatte er mehr erwartet, etwas anderes als den kurzen, freundschaftlichen Kuss, den Nisha ihm damals gegeben hatte. Warum machten die Leute so einen Wirbel darum, wer wen küsste, wenn es so harmlos und unschuldig war? Wovor hatte er eigentlich die ganzen Jahre Angst gehabt?
Dann rutschten Jans Hände tiefer, kamen auf seiner Taille zum liegen und zogen ihn noch näher an sich heran, und reflexartig hob Valion die Arme und legte sie um Jan, so gut die kurze Kette zwischen seinen Handschellen es zuließ, und plötzlich wurde ihm heiß. Seine Hände fuhren über Jans Schulterblätter und den geraden Rücken, alles perfekt unter seinen tastenden Händen. Jans Hände hatten irgendwie den Weg unter sein Hemd gefunden und streichelten seine nackte Haut. Unvermittelt verstummten die lauten, immerwährenden Gedanken in seinem Kopf, und es blieben nur die einfachsten, geradlinigsten zurück. Fühlen. Schmecken. Riechen. Wo er war oder was mit ihm geschehen würde rückte in den Hintergrund, war plötzlich nicht mehr wichtig. Seine Hände fuhren in Jans Haare, und er küsste die sanft geschwungene Linie seines Kiefers und seinen Hals, sog den Geruch in sich ein, süß, herb, wie nichts was er kannte, und er wollte sich in diesem Gefühl einfach auflösen.
Jetzt war er es, der Jan näher zu sich heran zog, und Sekunden später saß Jan auf seinem Schoß und presste sich an ihn. Er konnte seine Erektion gegen seine eigene spüren, hörte Jan seinen Namen stöhnen.
Als ihm Einhalt geboten wurde hätte er es am liebsten ignoriert, aber er zwang sich dazu aufzuhören, die Hände zurückzuziehen. Jan schob ihn sanft, aber bestimmt zurück und sah ihn mit einem seltsamen Lächeln an. Seine Haare waren von Valions Händen völlig zerzaust, seine Wangen gerötet. Wenn sein Puls auch nur ansatzweise so raste wie der von Valion, war das wohl auch kein Wunder. „Du machst aber auch keine halben Sachen, oder?”, fragte Jan mit heiserer Stimme. „Hab ich dir wehgetan?”, fragte Valion, plötzlich überzeugt, dass Jan ihn aus einem bestimmten Grund aufgehalten hatte. „Nein, überhaupt nicht”, sagte Jan, und sein Lächeln trug nicht gerade dazu bei, Valions rasendes Herz zu beruhigen, „Aber willst du hier wirklich vor aller Welt… und selbst wenn, ich bekomme nicht einmal meine Hände auseinander. Schlechte Karten für Romantik, wenn du mich fragst.” „Es ist niemand hier”, sagte Valion drängend, „Und wenn ich mich richtig erinnere, hattest du gerade keine Probleme mit deinen Händen.” Er war sich bewusst, wie ungeduldig er sich anhörte, und gleichzeitig war es ihm niemals so egal gewesen wie in diesem Moment. Doch Jan schüttelte nur den Kopf und hob die Hände um ihm zu demonstrieren, wie begrenzt seine Reichweite tatsächlich war - die kurze Kette ließ ihm einen Spielraum von vielleicht zehn Zentimetern, das war alles. „Ich sage es nicht gern, aber damit kommen wir nicht weit. Zumindest im Moment.” Er sah Valions enttäuschten Blick und lachte leise. „Du hast es anscheinend wirklich eilig.” Valion sah ihm geradewegs in die Augen und sagte ernst: „Natürlich. Ich kann dich endlich anfassen, dich sehen, nicht nur mit dir reden… ich meine, ich rede gern mit dir, aber… das reicht nicht.” Zufrieden registrierte er, dass Jan seine Gefühle nur zu gut nachvollziehen konnte. Valion beugte sich erneut zu ihm herüber, fasste sein Kinn mit der Hand, küsste ihn sehnsüchtig, und er spürte, dass es Jan alles andere als kalt ließ. Sie fühlten beide die Anziehung zwischen ihnen, eine drängende, unaufhaltsame Kraft, und im Grunde wollten sie sich auch überhaupt nicht widersetzen.
„Ich verstehe ja, was du meinst”, sagte Jan, als Valion sich von ihm löste, „Aber hier stehen bestimmt gleich eine Menge Leute auf der Matte. Entweder es geht jetzt schnell, oder wir lassen es sein.” „Schnell?”, fragte Valion irritiert, und Jan grinste schief. „Wenn ich dich nicht völlig falsch einschätze, sehr schnell.” Valion wog hastig das Für und Wider ab, aber in diesem Moment überstimmte sein Körper seinen Verstand um Längen. „Was auch immer du vorhast, tu’ es einfach”, sagte er ungeduldig. „Na schön, wie du willst, sag’ nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt”, antwortete Jan mit einem Lächeln und zog Valion mit sich auf die Knie, um seine Hände wieder auf seine Taille zu legen. Sie küssten sich, aber Jan hielt sich jetzt nicht mehr mit Nebensächlichkeiten auf. Mit geschickten Händen und ohne lange zu überlegen streifte er Valions grobe Stoffhosen nach unten und griff nach Valions Erektion. Seine Hände waren warm und fest, kräftiger, als Valion zuerst gedacht hatte, und er stöhnte auf. „Jan… ”, sagte er, unsicher was er tun sollte. Er hatte keine Ahnung, ob Jan etwas von ihm erwartete, ob er selbst aktiv werden, oder es einfach nur geschehen lassen sollte. „Shhh…”, beruhigte Jan ihn. Er lächelte, während seine Hand ihn quälend langsam streichelte. „Lehn dich zurück und lass mich machen.” „Du machst das nicht zum ersten Mal, oder?”, fragte Valion, obwohl es ihn seine ganze Konzentration kostete. Es schien ihm, als wüsste Jan ganz genau was er tat, also musste er irgendwie, irgendwo Erfahrungen gesammelt haben. Wann, mit wem? Er hätte es gern gewusst. Jan lachte heiser. „Ich glaube, die Frage beantwortet sich gleich von selbst.” Damit beugte er sich hinunter und ließ Valions Erektion in seinen Mund gleiten, und jede weitere Frage wurde von glutheißem Verlangen ausgelöscht.

„Was zum Teufel…” Eravier richtete sich plötzlich auf, beugte sich vor und starrte konzentriert auf die Szenerie, die sich ihm zu bieten schien. Tarn, der sich schon seit Minuten abgewandte hatte, drehte sich nicht um. Wollte er wirklich wissen, was Eraviers Interesse erregte?
„Sieh einer an… so jung, und schon so hemmungslos”, sagte Eravier, und aus seiner Stimme sprach für den Bruchteil einer Sekunde kein Spott, sondern echte, unverfälschte Verblüffung. Widerwillig, ohne dass er es wollte, wandte Tarn sich nun doch um, warf einen Blick auf die beiden Jungen… und war sprachlos.
Seltsamerweise kam ihm der Moment in den Sinn, als er Valion das erste Mal gesehen hatte. Er hatte zwischen den Wächtern gestanden, unsichtbar in ihren Reihen, und hatte zugesehen, wie Valion Seite an Seite mit seiner Mutter versucht hatte, das Unmögliche zu schaffen und sie alle niederzustrecken, um Valions Vater zu befreien. Im nächsten Moment erkannte er auch, welches Detail ihn daran erinnerte - es war die bedingungslose Hingabe, als wäre ein Teil seines selbst ausgelöscht, ersetzt durch die Emotionen der Person, von der er sich führen ließ.
Aber hatte er das nicht schon früher bemerkt? Er wäre niemals so weit gegangen, Valion seine eigene Identität abzusprechen, er war viel mehr als ein Schoßhund, der nicht selbst denken oder handeln konnte. Doch gleichzeitig gab es in seiner Persönlichkeit einen Aspekt, der sich völlig an den Menschen orientierte, die sich in seiner Nähe aufhielten, und ihren Charakter wie ein Spiegelbild zurückwarf. Im Beisein seiner Mutter hatte Valion ihre unkontrollierte, verzweifelte Wut in sich aufgenommen und ausgelebt, und später hatte er Tarns Respekt und Besorgnis ihm gegenüber mit ähnlichen Emotionen beantwortet, und ihn unbewusst auf seine Seite gezogen. Und jetzt… 
War es das, was Eravier in ihm gesehen hatte, was ihn dazu bewogen hatte, Valion gegen jede Vernunft und schlechten Vorzeichen gefangen zu nehmen? Wenn er richtig lag, dann war Valion tatsächlich der perfekte Sklave. Es würde egal sein, was sein Herren von ihm verlangte, denn er würde immer das sein, was sein Gegenüber ihm vorgab.

Er wollte seinen Blick abwenden. Was er sah, war nicht für seine Augen bestimmt, für niemandes Augen, und trotzdem hatte er Mühe, sich davon loszureißen. Das Gefühl, Valion beschützen zu müssen, wenn nötig auch vor sich selbst, war plötzlich übermächtig. Er schlief mit Jan, ohne ihn zu kennen, ohne sich seiner Loyalität sicher sein zu können, aus einem Impuls heraus. Hatte er denn überhaupt nicht zugehört, überhaupt nichts verstanden? Am liebsten wäre er zu Valion gegangen und hätte ihn durchgeschüttelt, ihn gefragt, wie er so naiv sein konnte.
Und gleichzeitig, das stellte er mit Erschrecken fest, konnte er nicht wegsehen, weil Valion schön war. Jede andere Beschreibung war nur leeres Geschwätz. Obwohl noch ein Junge, war Valion an der Schwelle zum Erwachsenenalter, und selbst in seiner schlichten, zerschlissenen Kleidung und mit dem struppigen Haarschnitt war seine Schönheit offensichtlich. Tarn hatte sich dagegen gesperrt sie zu bemerken, sie sogar abgetan, weil sie so anders war als die kalkulierte Attraktivität der ausgebildeten Sklaven. Er hatte versucht Valion als einen Schützling zu sehen, eine Art Adoptivsohn oder jüngeren Bruder, den er anleiten und die richtige Richtung weisen musste.
Das alles wurde ihm mit einem Schlag unmöglich, er konnte diese Vorstellung nicht mit dem vereinbaren, was er sah. Und mit Erschrecken musste er feststellen, dass er sich von Valion angezogen fühlte.
Eravier trat neben ihn, und sein süffisantes Grinsen deutete an, dass ihm sehr wohl bewusst war, wie gefesselt Tarn von der Szene war. „Man müsste noch einmal so jung sein, nicht wahr?”, fragte er, und Tarn wusste, was er damit meinte, auch wenn er wünschte, es wäre nicht so. „Ich habe wirklich eine exzellente Wahl getroffen, scheint mir”, sagte Eravier, als er sich wieder den Jungen zu wandte. Es war einer der wenigen Momente, in denen Eraviers Augen keine Kälte und Gleichgültigkeit ausstrahlten. Hätte Valion diesen Blick gesehen, er hätte ihn wiedererkannt. Es war der Ausdruck einer brennenden Besessenheit. Valion hatte ihn gesehen, als er auf dem Boden des Hauses seiner Eltern lag und sich Eraviers Stiefel tief in seine Schulter gegraben hatte. Nachdenklich legte Eravier die Hand an sein Kinn, während er Jan und Valion betrachtete. „Sie sind einfach nur perfekt.”

Die Erregung füllte seinen ganzen Körper aus. Wie durch einen Nebel nahm Valion war, dass seine Hände wieder in Jans Haar fuhren, und er hatte gerade genug Beherrschung übrig, um ihn gewähren zu lassen, statt ihm mit seinen Händen gewaltsam einen Rhythmus aufzuzwingen. Er biss sich auf die Unterlippe, um seinen verräterischen Mund geschlossen zu halten, obwohl er am liebsten laut gestöhnt hätte. Jan tat mit seinen Lippen und seiner Zunge Dinge, die er auch in hundert Jahren nicht mit seinen eigenen Händen fertig gebracht hätte. Er sah zu ihm herunter, auf das wunderschöne blonde Haare, die dichten dunklen Wimpern, die atemberaubenden Lippen. Vage wurde ihm bewusst, dass Jan nicht nur ihn mit seinem Mund, sondern nebenbei auch sich selbst mit seiner freien Hand befriedigte. Das Wissen darum und die Tatsache, dass Jan nicht weniger Freude an ihrem Intermezzo zu haben schien als er, verstärkte seine Lust nur noch mehr. Ohne es zu wollen war er jetzt schon nicht mehr fähig, sich zurückzuhalten. Sein ganzer Körper versteifte sich für einen Moment, und er wusste, dass er schreien würde, schreien musste, er konnte es nicht verhindern. Genau in diesem Moment richtete Jan sich auf und zog ihn zu sich heran, verschloss seinen Mund mit einem Kuss und brachte es mit den Händen für sie beide zu einem Ende, und mit einem kehligem Schrei gab Valion sich seinem Orgasmus hin. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an seinen Geliebten und spürte, wie Jans Körper sich unter seinen Händen aufbäumte, dann entspannte, als er nur einen Moment nach ihm kam und seinen eigenen Aufschrei mit Valions Lippen erstickte.

Valions Kopf schwamm, und für einen Moment fühlte er sich, als müsste die Welt unter seinen Knien nachgeben. Völlig überwältigt hielt er sich an Jans Taille fest, bettete seinen Kopf in seine Halsbeuge und brachte nicht mehr fertig, als zu keuchen. „Ich hab doch gesagt, es geht schnell”, hörte er Jan zufrieden murmeln. „Du hast nur nicht erwähnt, dass es mich ganz nebenbei auch umbringt”, flüsterte Valion heiser zurück und holte schluchzend Luft. „Ich habe dich aber gewarnt”, antwortete Jan und lachte leise. „Verdammt, das war…” Valion brach ab, weil es keinen Vergleich gab. Es war besser als alles gewesen, was er jemals erlebt oder sich auch nur vorgestellt hatte. Selbst seine feuchten Träume waren dagegen harmlos.
Jan löste sich sanft von ihm und streifte seine nassen Hände gleichgültig an einem Grasbüschel ab, rückte dann seine Kleidung zurecht, und Valion tat es ihm gleich.

Zusammen ließen sie sich wieder zu Boden sinken, und konnten den Blick nicht voneinander lösen. Jan war inzwischen so zerzaust, dass sein Haar nach allen Seiten ab stand, und sein Gesicht war immer noch gerötet, aber seltsamerweise schien er jetzt wieder nervös zu sein. „Wie war es so?”, fragte er unsicher, und Valion lächelte nur breit. „Besser als alles andere, was ich je getan habe”, sagte er und küsste Jan. Danach verharrten sie, Stirn an Stirn, sahen sich in die Augen, noch völlig gefangen in ihrem gemeinsamen Erlebnis.

„Ach, wie rührend.” Sowohl Jan als auch Valion zuckten unter der spöttischen Stimme so heftig zusammen, dass sie sich beinahe gegenseitig die Köpfe eingeschlagen hätten. Valion sprang auf, während Jan sich instinktiv duckte. 
Eravier trat zielstrebig aus dem Schatten der Bäume, in dem er sich verborgen hatte, baute sich vor den beiden Jungen auf und betrachtete sie mit einem widerwärtigen Grinsen. Er war nicht allein, denn hinter ihm folgten sowohl einige Wächter als auch drei Diener, die ihre Köpfe gesenkt hielten und zu den Feuern eilten, um mit einigen Vorbereitungen zu beginnen. Die Wächter wiederum postierten sich in einem lockeren Halbkreis um den Platz vor dem Wagen und garantierten so, dass weder Jan noch Valion eine Chance hatten, zu entkommen.
Innerhalb eines Moments war der vormals verlassene Platz plötzlich nicht mehr so einsam, und Valion wurde bewusst, dass er schon wieder getäuscht worden war. Dass er allein mit Jan gewesen war, war ein kalkulierter Schachzug gewesen, um sie zu beobachten, und er fragte sich sofort, ob Eravier darauf gewartet hatte, dass er irgendeine Art von Widerstand offenbarte. War das ein weiterer Test gewesen, um zu prüfen, ob er fliehen würde, oder zumindest den Versuch dazu unternehmen? Zu seiner Überraschung sah Valion außerdem, dass die Wachen diesmal alle mit Musketen bewaffnet waren. Er erinnerte sich an Tarns Warnung, dass Eraviers Misstrauen nur langsam nachlassen würde, und sah nun die Bestätigung.
Siedendheiß fiel ihm auch die Spiegelscherbe ein, die er jetzt in seiner Tasche trug. Doch Eravier machte keine Anstalten, ihm diese abnehmen zu lassen, was vielleicht bedeutete, dass er dieses Detail aus der Entfernung nicht bemerkt hatte.
Stattdessen wurden Valion und Jan mit einer Mischung aus Spott und Interesse gemustert. „Ehrlich gesagt bin ich angenehm überrascht. Ihr habt eine phantastische Vorstellung geliefert, so etwas gefällt potentiellen Käufern”, erklärte er amüsiert.
Seltsamerweise ließen erst diese Worte Valion verstehen, dass er gerade vor aller Augen mit Jan geschlafen hatte. Es war ein Moment gewesen, der nur für sie beide bestimmt gewesen war, und er war ihm entrissen und für alle Welt offen gelegt worden. Ohnmächtiger Zorn wallte in ihm auf, und er ballte die Fäuste. Vielleicht hätte er es tatsächlich gewagt zuzuschlagen, doch in diesem Moment erhob sich Jan, trat neben ihn und ergriff seine Hand. Er musterte Eravier mit sichtbarer Verachtung und murmelte dann gut hörbar: „Perverser alter Sack.” Valion wusste, dass es keine gute Idee war Eravier zu provozieren, Tarn hatte ihn eindringlich davor gewarnt. Aber er konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel nach oben zuckten. Jan hatte anscheinend vor Nichts und Niemand Angst, und in diesem Moment war seine Respektlosigkeit genau das was sie beide brauchten, um ihrer Wut Luft zu machen.

Eravier lächelte, obwohl seine Augen so kalt und ausdruckslos blieben wie zuvor, und antwortete: „Na na, wir wollen doch nicht ausfällig werden.” Jan grinste nur herablassend und fragte provozierend: „Wieso? Ist doch ein zutreffendes Wort für einen Kerl, der andere aus einem Gebüsch heraus bespannt. Falls du überhaupt einen hoch gekriegt hast, Opa.” Wenn er gedacht hatte, Eravier damit zu treffen, wurde er jedoch enttäuscht, denn der lachte nur schallend. „Er hat wirklich Sinn für Humor, das muss man ihm lassen, oder was denkst du, Tarn?” Valion fuhr zusammen und blickte zu den Dienern, und tatsächlich sah er Tarn bei ihnen stehen. War er erst jetzt dazu gekommen, oder hatte er ihn übersehen, als er aus dem Schatten der Bäume getreten war? War er hier um zu arbeiten, oder hatte Eravier ihn nur herzitiert, um Valion unter Druck zu setzen? Er wusste keine Antwort auf diese Fragen, aber sein Herz sank, als er ihn sah. Hatte er ebenfalls zugesehen, oder mitbekommen, was Eravier zu ihnen gesagt hatte? Wenn ja, was dachte er jetzt von ihm? Er war sich fast sicher, dass bei der nächstbesten Gelegenheit eine Standpauke auf ihn warten würde, schließlich hatte er schon wieder jemand sein absolutes Vertrauen geschenkt, ohne sich sicher zu sein, dass derjenige kein Verräter war. Natürlich konnte er Jan vertrauen, das wusste er, aber Tarn würde das nicht so einfach akzeptieren. Er hätte gern Tarns Blick gesucht, doch der unterhielt sich leise mit den Dienern und blickte überhaupt nicht auf.
„Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, Val”, flüsterte Jan kaum hörbar neben ihm, „Er war vielleicht nett zu dir, aber du kannst ihm nicht vertrauen. Er ist auf der Seite dieses Bastards.” Eravier hatte es dennoch gehört und schüttelte mitleidig den Kopf. „Natürlich steht er auf meiner Seite, Jan. Jeder hier sollte besser auf meiner Seite stehen, weil es nur diese Seite gibt, oder den Tod. Oder willst du mir da widersprechen, Valion?” Valion sagte nichts, starrte nur wütend zu Boden - so einfach würde er sich wirklich nicht aus der Reserve locken lassen. Wenn Eravier ihn nur mit ein paar drohenden Worten zu einer unbedachten Äußerung reizen wollte, dann musste er sich etwas Besseres einfallen lassen. Er erwartete fast, dass Eravier weiter versuchen würde ihn auszuhorchen, doch der ließ das Thema selbst fallen. „Wir werden uns noch darüber unterhalten”, sagte er gelassen, nur um an Jan gewandt hinzuzufügen: „Und du, mein Kleiner, solltest den Mund nicht so voll nehmen. Ach, ich vergaß, daran scheinst du schon gewöhnt zu sein.” Er beobachtete befriedigt, wie sich Röte auf Jans Gesicht ausbreitete und er den Blick senkte. 

„So gerne ich auch mit euch schwatze, es gibt Wichtigeres zu tun. Ich bin nicht zur Unterhaltung hier, sondern um mein Eigentum zu inspizieren”, sagte er gleichgültig und gab zwei Wächtern einen Wink, die daraufhin Valion und Jan packten. Grob wurden ihnen ihre Fuß- und Handfesseln abgenommen. „Das, was jetzt geschieht, wird euer Eintritt in das tatsächliche Leben eines Sklaven sein”, fuhrt Eravier fort, während Valion und Jan näher zu den zwei Feuern und den bereit stehenden Dienern geschleift wurden. „Es gibt ein paar Grundregeln, die ihr besser lernen solltet, vor allem deshalb, weil sie euch einiges an Ärger und Schmerz ersparen werden”, dozierte Eravier kalt, während er sie umrundete wie ein Aasfresser einen Kadaver. „Die erste Regel lautet, dass ihr euren Befehlen zu gehorchen habt, egal von wem sie kommen und egal, ob sie euch unangenehm oder lästig sind. Sehen wir mal, ob ihr das auf Anhieb verstanden habt. Zieht euch aus. Diese Lumpen braucht ihr nicht mehr.”

Valion und Jan tauschten einen Blick aus den Augenwinkeln, aber es war sinnlos, sich zu widersetzen. Valion zog sich als Erster das Hemd über den Kopf und warf es zu Boden, Schuhe, Hose und Unterhose folgten im nächsten Augenblick. Er war sich bewusst, dass sowohl er als auch Jan ihre Waffe verlieren würden, aber er konnte kaum etwas dagegen tun. Als letztes wickelte er sich, mit zusammengebissenen Zähnen, den Verband von seinem Arm. Er war versucht, seine Scham zu bedecken, und seine Hand zuckte schon in die entsprechende Richtung, doch schließlich widerstand er dem Drang und ließ die Arme stattdessen gerade herunter hängen. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen, kein Zögern, und er hoffte, dass Jan es ebenfalls durchstehen konnte.
Jan ließ sich mehr Zeit, zog umständlich seine Jacke aus und faltete sie, um sie dann auf den Boden zu legen, stellte seine Schuhe ordentlich dazu, zog langsam erst die Hose, dann die Unterhose aus. Danach trat er einen Schritt vor und verschränkte mit einem wütenden Blick die Arme vor der Brust.
So standen sie nun da, splitterfasernackt, den Blick unbehaglich und starr auf Eravier gerichtet, der wiederum die Diener heranwinkte. Einer nahm die zwei Bündel Kleidung und warf sie ohne einen weiteren Kommentar ins Feuer, und Valion krümmte sich innerlich. Die spärlichen Dinge, die er mit auf Reisen genommen hatte, waren Eravier und seinen Kumpanen wie erwartet keinen Pfifferling wert, aber er fühlte sich beraubt. Jan schien die Verbrennung seiner Kleidung gelassener hinzunehmen, war aber überhaupt nicht begeistert davon, dass die zwei anderen Diener mit Maßbändern auf sie zu traten. 

Eravier umrundete sie immer noch, betrachtete sie von allein Seiten, und nicht zum ersten Mal fühlte Valion sich unter seinen Blicken wie ein Stück Vieh. Dieses Gefühl verstärkte sich nur noch, als seine Größe und der Umfang von Brust, Hüfte und Taille ausgemessen wurden. Er sah hinüber zu Jan, der nur widerwillig seine verschränken Arme löste um den Diener seinen Brustumfang messen zu lassen. Obwohl es nicht kalt war, zitterte er leicht, und Valion fragte sich, ob es daran lag, dass er so beängstigend dünn war. Ohne seine Kleidung wurde erst offenbar, wie stark er tatsächlich abgemagert war. Rippen und Wirbel zeichneten sich deutlich unter der Haut seines Rückens ab, und seine Hüftknochen ragten beängstigend weit hervor. Er war einen Kopf größer als Valion und eigentlich auch breitschultriger als er, aber in seinem derzeitigen Zustand musste er dennoch einige Kilo leichter als er sein. Er ähnelte Nisha körperlich jetzt am meisten, aber er musste früher kräftiger und muskulöser gewesen sein, auch wenn nach seiner langen Krankheit nicht mehr viel davon übrig war. Valion versuchte sich einen Moment vorzustellen, wie Jan früher ausgesehen haben musste, doch er ließ es schnell wieder sein. Nicht, weil er es sich nicht vorstellen konnte, sondern weil er es sich zu gut vorstellte, und hier war weder der Ort noch die Zeit ins Schwärmen zu geraten. 
Außerdem ließ ihn etwas an Jan auch stutzen. Er wusste es nicht einmal zu benennen, bis ihm klar wurde, dass es keine Besonderheit an Jans Körper war, die er bemerkt hatte, sondern dass etwas an ihm fehlte. Jan trug kein Brandmal wie er. Hatten sie ihn bisher davor verschont, weil er noch zu krank dafür gewesen war? Oder gab es einen anderen Grund dafür?
Jan bemerkte seine Blicke und sah zu ihm herüber, und Valion bemühte sich, ein neutrales Gesicht aufzusetzen, damit Jan nicht seine Besorgnis sah. Jan wiederum musterte Valion genau von oben bis unten, um anschließend anerkennend mit den Augenbrauen zu wackeln. Nicht schlecht, sollte das wohl heißen, und Valion war fast versucht zu lächeln, doch gleichzeitig war er sich voll bewusst, dass sie diese Tortur noch nicht einmal ansatzweise überstanden hatten. 
„Regel Nummer 2: Euer Körper ist wichtiger als alles andere. Ihr stellt ihn zur Verfügung und zur Schau, wenn ihr dazu aufgefordert werdet. Ihr werdet ihn pflegen und euch darum kümmern, dass er so bleibt, wie er jetzt ist, es sei denn euer Käufer stellt ihn sich anders vor. Um eure Hygiene kümmert ihr euch so lange selbst, wie ihr ein angemessenes Maß an Sauberkeit einhaltet. Andernfalls werdet ihr unter Zwang gewaschen werden, so wie heute”, fuhr Eravier inzwischen fort.
Die Diener füllten zwei Eimer mit dem Wasser aus dem Kessel, gingen zu Valion und Jan und begannen sie zu waschen. Einer der Diener, eine kleine, hagere Frau rieb außerdem erst Jan, dann Valion einen stinkenden Kräutersud in die Haare, der vielleicht gegen Läuse wirken sollte. Valion war sich ziemlich sicher, dass er keine hatte, aber vermutlich war es mehr eine Vorsichtsmaßnahme als alles andere. Noch während er darüber nachdachte und mit dem überwältigenden Gestank nach Kräutern kämpfte, wurde ein Rasiermesser gezückt. Er hatte nicht einmal Zeit erschrocken zu sein, innerhalb von Minuten wurden kommentarlos seine Scham und seine Achseln rasiert. Auf sein Unbehagen und die Angst geschnitten zu werden nahm niemand Rücksicht. Im Gegenteil, als er einmal zusammenzuckte, weil die Spitze der scharfen Klinge gefährlich nah an der Innenseite seiner Schenkel vorbeischrammte und ihn fast verletzt hätte, würde er grob angewiesen still zu halten. Danach wurden seine Haare ausgespült und geschnitten, es folgte eine letzte Waschung, die im großen und ganzen daraus bestand, dass man ihm das restliche, inzwischen fast kalte Wasser, über den Kopf kippte.
Am Ende dieses Prozesses fühlte Valion sich wund. Seine Kopfhaut brannte, sein Arm ebenso, seine Achseln juckten, seine Augen waren gerötet und vor allem war ihm kalt. Er stand wie ein begossener Pudel da und bekam nicht einmal etwas zum Abtrocknen, bis Jan ebenfalls fertig gewaschen war. Er beschloss, dass er etwas in der Art nie wieder tun würde - lieber wusch er sich bis ans Ende seines Lebens jeden Tag gründlich und rasierte sich selbst, als dass er noch einmal erlebte, wie ein gelangweilter Diener ihm mit einem Rasiermesser zu nahe kam. Er sah zu Jan hinüber, dem es kaum besser ging, zudem hatten sie seine Haare ein ganzes Stück gekürzt, was ihm nicht zu behagen schien. Außerdem fror er noch erbärmlicher als Valion. Doch sie erhielten keinen Moment, sich auszuruhen, die Stofftücher zum Trocknen wurden ihnen nach nur wenigen Momenten wieder abgenommen.
 
„Die dritte Regel: Solltet ihr krank werden, egal was es ist oder wie schlimm es ist, habt ihr das zu melden. Das betrifft alles, Hautkrankheiten, schlechte Zähne, Schmerzen, Brüche, jegliche Verletzung, die euch ein potentieller Käufer zufügt. Versäumt ihr das und seid deshalb länger krank als nötig, oder schlimmer, steckt jemand an, egal ob Käufer, Diener oder andere Sklaven, werdet ihr bestraft, im schlimmsten Fall entsorgt.” Es gab keinen Zweifel daran, was er damit meinte, und Valion sah, wie Jan mit einem mal noch blasser wurde. Valion konnte es ihm nicht verübeln - es ging ihm besser, er hüstelte nur immer wieder verhalten, aber wer wusste schon, ob seine Krankheit wirklich überstanden war?
Doch für Grübeleien blieb keine Zeit, denn jetzt trat Tarn vor und ging zielstrebig auf Jan zu. Valion versuchte immer noch, seinen Blick zu erhaschen, doch zu seinem Unbehagen musste er feststellen, dass Tarn völlig reaktionslos war, wenn man von der mechanischen Verrichtung seiner Arbeit absah. Er begann Jan abzutasten, prüfte Haut, Gelenke, Haare, Zähne, hörte erneut seine Lunge ab, und die einzigen Kommentare waren kurze Befehle. Er nickte immer wieder einem der Diener zu, der eine Liste abzugleichen schien und auf jedes Nicken mit einer gekritzelten Notiz reagierte.


Danach trat er zu Valion, und er wiederholte die selben Schritte, und auch jetzt blieb er völlig kalt und distanziert. Er atmete, sprach und bewegte sich, aber innerlich war er nicht erreichbar. Valion dachte daran, was er zu ihm gesagt hatte, als sie allein gewesen waren. Wenn wir nicht unter uns sind, musst du immer damit rechnen, dass ich dir nicht die volle Wahrheit sagen kann. Ich werde vielleicht anders mit dir umgehen… Valion versuchte sich innerlich damit zu arrangieren, aber ein unheimliches Gefühl der Leere überwältigte ihn. Sieh mich an, wollte er sagen. Behandle mich nicht, als wäre ich Luft. Ich bin noch hier. Es war, als wäre er plötzlich blind, als könnte er nicht mehr lesen was in Tarn vor sich ging, und dieses Gefühl lähmte ihn. Und gleichzeitig hatte er immer noch Angst, dass es wegen dem war, was er getan hatte. Er war plötzlich überzeugt, dass Tarn ihn ebenso beobachtet hatte wie Eravier, und dass er deshalb so distanziert war. Es war ein paranoider Gedanke, aber konnte ihn nicht abschütteln.
„Öffne den Mund”, sagte Tarn, und griff nach seinem Kinn, und er ertrug es nicht mehr. Reflexartig hob er die Hand, griff nach Tarns Handgelenk.


Mehrere Musketen hoben sich in Sekunden und zielten auf ihn, und Valion wurde bewusst, dass er heftiger zu gegriffen haben musste, als er beabsichtigt hatte. Aber die völlige Distanziert brach für einen Moment, und es war als könnte er plötzlich die Augen öffnen und sehen. Er blickte in Tarns Gesicht, und sah keine Maske mehr, keine leeren, stumpfen Augen. Stattdessen sah er Sorge und Müdigkeit, und für einen Moment etwas Anderes, das er nicht herauslesen konnte. Tarn, formulierte er stumm mit seinen Lippen, und er sah die Reaktion, den warnenden Blick, das kurze Zucken der Augen. Wir sind nicht allein, war die ebenso stumme Antwort, und Valion verstand sie, aber er war auch froh. Es stand nichts zwischen ihnen, das erkannte er jetzt, zumindest kein Groll und keine Enttäuschung. Es war alles noch genau so wie zuvor, und es gab ihm seine Sicherheit zurück. Er ließ Tarns Handgelenk los, ließ zu, dass seine Zähne betrachtet und seine Haare und Kopfhaut überprüft wurden. 
Hätte er zu Eravier oder zu Jan gesehen, hätte er Zorn in den Augen des einen und Verwirrung, sogar Unsicherheit in der Miene des anderen gesehen. Eravier gab den Wachen widerwillig einen Wink, und sie ließen die Waffen sinken, immer noch wachsam und bereit.  
Schließlich war auch Valions Musterung abgeschlossen, und Tarn trat zurück und beriet sich mit den Dienern. Eravier beobachtete sie und lauschte ihren Worten, ohne den Jungen für einen Moment Beachtung zu schenken.

Valion nutzte die Pause, um einen unauffälligen Schritt näher an Jan heran zu treten, der sich gerade hinunter beugte um sich am Knöchel zu kratzen. „Wir haben es gleich geschafft, denke ich”, sagte er, als Jan sich wieder aufgerichtet hatte, und berührte für einen Moment seine Hand, die sich kalt anfühlte. Jan versuchte zu lächeln, aber etwas Bestimmtes schien ihn zu besorgen, und bevor Valion nachfragen konnte, wies er ihn darauf hin: „Nicht, bevor ich nicht gebrandmarkt bin.”
Verdammt, das hatte er völlig vergessen. Seine Augen wanderten hinüber zu dem Feuer, in dem tatsächlich das Brandeisen lag. Diese Vorbereitung musste stattgefunden haben, als Tarn ihn untersucht hatte. Obwohl die Sonne langsam unterzugehen begann und den ganzen Platz in ein rötliches Licht tauchte, war es für einen Moment wieder Nacht für Valion. Die Erinnerung an den Tag, als er selbst gebrandmarkt worden war stand ihm wieder bildlich vor Augen, als er das glühende E sah, das wie ein dämonisches Auge aus dem Feuer glotzte. Er roch für einen Sekundenbruchteil verschmortes Fleisch und musste sich zusammenreißen, das Gefühl der Angst und der Hoffnungslosigkeit abzuschütteln.
Er zwang sich, nicht mehr hinzusehen und stattdessen Jan anzusehen, der, vermutlich verursacht durch die Kälte, wieder stärker hustete und sich die Hand vor den Mund hielt, und sagte leise: „Du schaffst das. Das habe ich auch.” Jan warf einen Blick auf Valions Schulter, und sein Unbehagen war deutlich, aber er nickte. Sie wagten nicht sich weiter aneinander anzunähern, deshalb streckten sie nur die Arme aus und hielten sich für einen Moment an den Händen. Doch sie ließen schnell los, als Eravier sich umwandte und sie ansah.

Die Beratung schien beendet, denn Eravier trat wieder zu ihnen, und musterte sie von allen Seiten. „Nicht schlecht”, sagte er anerkennend, als er sie erneut umrundete, und Valion spürte, dass seine Einstellung zu ihnen sich ein wenig gewandelt hatte. Das war nichts Gutes, im Gegenteil, es ekelte Valion regelrecht an. Jetzt waren sie für Eravier keine schmutzigen, ungepflegten Tiere mehr, entsprachen stattdessen einer verkäuflichen und attraktiven Waren. Erst ihr neues, verbessertes Aussehen schien sie in Eraviers Augen überhaupt würdig zu machen, als Mensch anerkannt zu werden, und er fragte sich, wie er die Diener oder die Menschen aus seinem Heimatdorf wahrnahm. Er nahm an, dass sie für ihn auf einer Stufe mit Würmern standen, und der Zorn, der in ihm aufkam, war fast stärker als der Widerwillen und Ekel, als Eravier ihm prüfend durch das trocknende Haar und über die nun glatt rasierte Haut strich. 
Es hatte sich nichts geändert, stellte er fest - von Eravier berührt zu werden war schlimmer als alles andere, was er kannte. Die wenigen Tage außerhalb seiner Reichweite hatten ihn von dieser Empfindung nicht kuriert. Es stand nicht im Zusammehang mit der Verbrennung, die Eravier ihm zugefügt hatte, und nicht einmal mit den Schmerzen, die Valions Familie erlitten hatte. Irgendwo, auf tiefster Ebene, spürte Valion eine Verbindung zwischen ihnen und das Interesse von Eravier an ihm, und war davon gleichermaßen fasziniert und abgestoßen. Es war eine entsetzte Neugier, was diesen Mann antrieb sich so zu verhalten, wie er es tat, und gleichzeitig eine völlig emotionslose Faszination für den Wahnsinn, die Valion selbst ängstigte. Er wollte verstehen, und hatte gleichzeitig Angst davor, zu verstehen, weil in dieser Richtung nur Abgründe lauerten.
Das alles schoss durch seinen Kopf, während Eravier ihn betrachtete, und Valion zwang sich, seine Miene gefrieren zu lassen, nichts zu denken, die selbe Abschottung wie Tarn aufzubauen, und in diesem Moment glaubte er zu verstehen, was Tarn durchmachte.

Nachdem Eravier auch Jan inspiziert hatte, gab er den Dienern erneut einen Wink, und sie gaben ihnen verblichene, aber sehr saubere Kleidung, die ihnen beiden ein wenig zu groß war. Valion erhielt ein Hemd und eine Hose und zog sie kommentarlos über, er fror inzwischen außerordentlich. Doch Jan erhielt zunächst nur eine Hose, in die er ebenfalls stumm hinein schlüpfte. Sie wussten beide, was das bedeutete - die Brandmarkung stand Jan immer noch bevor.
Währenddessen erklärte Eravier heiter: „Euer Gesundheitszustand und eure körperliche Verfassung ist recht zufriedenstellend, und ihr seid in die wichtigsten Grundregeln eingewiesen. Das wird nicht das Ende euer Lektionen sein, sondern erst der Anfang. Ihr habt noch viel darüber zu lernen, wie ihr euch zu verhalten habt, aber das hat Zeit, bis wir die Hauptstadt erreichen.”
Valion hoffte schon, dass er endlich verschwinden und die Brandmarkung Tarn überlassen würde, doch nach einer lauernden Pause fuhr Eravier fort: „Es gibt eine letzte Regel, und sie betrifft euch beide in unterschiedlicher Hinsicht.” Er sah zuerst Valion, dann Jan an, und Valion registrierte verwirrt, dass er diesmal seinen Blick viel länger auf Jan ruhen ließ. Ging es um Respekt, war das die letzte Regel? Das würde Sinn ergeben, denn Jan war die ganze Zeit respektlos gegenüber den Wachen und Eravier gewesen. Aber plötzlich lief Valion ein Schauer über den Rücken, ohne dass er sich erklären konnte wieso.

„Loyalität”, sagte Eravier leise, und sein Blick blieb auf Jan fixiert. Valion sah zu ihnen, und plötzlich krampfte sich sein Herz zusammen. Was ging hier vor? Jans Gesicht war zuvor ausdruckslos gewesen, doch verzog sich jetzt zu einem Lächeln. Es hatte nichts mit dem Lächeln gemein, dass er sonst zeigte. Eravier bemerkte es auch, denn er fragte lauernd: „Was kannst du mir über Loyalität berichten, Jan? Hast du etwas dazu zu sagen?” Und Jan nickte stumm, lächelnd.
Das Blut in Valions Adern schien zu Eis zu gefrieren. 
Nein. Nein, das konnte nicht sein.


Er versuchte Jans Blick zu erhaschen, doch wünschte im gleichen Augenblick, er hätte es nicht getan. Jegliche Wärme, jeglicher Humor war verschwunden, als er Valion für einen Moment in die Augen sah, und nur kalte Berechnung blieb zurück. Das war nicht Jan, das war jemand anders, den er nicht kannte.
Du wirst hier und in der Hauptstadt viele Einzelkämpfer finden, denen jeder und alles egal ist. Die anderen können zu einer Gefahr für dich werden, hatte Tarn gesagt. Warum hatte er es nicht geglaubt? Warum hörte er immer mehr auf sein Herz als auf seinen Verstand? Wenn es überhaupt dein Herz war, sagte eine kalte Stimme in ihm, und plötzlich standen ihm Tränen in den Augen. Ich habe mich verliebt, protestierte sein Innerstes schwach, aber er wusste auch, dass ein ausschlaggebender Teil seiner Anziehung die Ähnlichkeit zu Nisha gewesen war. Vielleicht war das auch geplant gewesen.

Eravier legte Jan gönnerhaft einen Arm um die Schultern und führte ihn zu den Feuern. Dort bot er ihm einen Becher mit Wein an, den Jan gleichgültig entgegen nahm. Er hustete mehrmals mit vorgehaltener Hand, schien aber sonst völlig ruhig zu sein. „Ich habe herausgefunden, dass… ”, begann Jan, doch Eravier unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Nicht so hastig, wir haben doch alle Zeit der Welt. Ich habe das Gefühl, dass wir das letzte Mal als wir uns sahen überhaupt nicht die Gelegenheit hatten, uns angemessen auszutauschen. Ich muss sagen, ich bewundere dich ein wenig, Jan”, sagte er im Plauderton und winkte währenddessen alle Diener bis auf Tarn fort. Sie hasteten davon, ohne sich umzusehen, und Valion wünschte sich für einen Moment, er könnte das gleiche tun. 
„Ich habe mir deine Geschichte von Faure erzählen lassen, als ich ihm deinen Vertrag abgekauft habe, und wie mir scheint, hattest du einiges auszustehen?” „Das kann man wohl sagen”, stimmte Jan bitter zu. „Es sei denn man findet Gefallen daran, so lange verprügelt zu werden, bis man seine Vorlieben ändert.” Eravier nickte verständnisvoll. „Ich hörte, sie haben dreimal versucht dich zu verkaufen, und anscheinend hat es erst beim dritten Mal geklappt. Warum bist du erst jetzt ein Sklave geworden?” Jan grinste kalt und höhnisch. „Oh ja, versucht haben sie das. Das erste Mal bin ich nur weggelaufen. Das war das Beste, was ich tun konnte. Ich habe all die illegitimen Kinder meines Vaters aufgespürt, eines nach dem anderen. War ja nicht schwer, ich habe schließlich seine Visage geerbt. Als ich zurückkam und sie mich wieder verkaufen wollten, konnte ich meinem Vater ziemlich genau darlegen, in welchen Dörfern er sich nie wieder blicken lassen darf. Schade, dass ich nie dazu gekommen bin mein Wissen in meinem Dorf zu verbreiten - die Drohung war einfach zu gut, sie haben mich auf der Stelle in Ruhe gelassen.” Eravier lachte auf, und er strahlte eine bestimmte Art von Zufriedenheit aus, die Valion Übelkeit bereitete. Er war tatsächlich stolz auf Jan. Stolz darauf, wie Jan es geschafft hatte Valion hinters Licht zu führen, stolz darauf, dass Jan Druckmittel gegen seinen eigenen Vater gefunden und eingesetzt hatte. „Aber nachdem alle krank geworden waren, war es sowieso egal, und außerdem hatte ich dann endlich ein Interesse daran, dass nicht alles zum Teufel geht. Meine Eltern und mein Bruder sind schließlich tot, jetzt ist es mein Erbe, und meine Regeln.” „Krankheiten können Familien wirklich tragisch auseinander reißen”, sagte Eravier mit hörbarer Schadenfreude, und Jan schnaubte belustigt und sagte sarkastisch: „Oh ja, wie traurig. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, auf ihr Grab zu pissen.” Eravier lachte auf. „Du bist wirklich ganz nach meinem Geschmack. Eines interessiert mich aber noch, bevor wir zu deinem kleinen Freund kommen”, fuhr Eravier fort, „War es wirklich Zufall, dass ausgerechnet dein großer Bruder, der Stolz deiner ganzen Familie, sowie alle, die dich jahrelang gequält haben, an einer tödlichen Krankheit gestorben sind?” Jan blieb für einen Moment ausdruckslos, dann begann er zu Lachen, und Valion stellten sich die Nackenhaare auf. „Das ist eine gute Frage, was? Ich meine, warum sollte mir nicht daran gelegen sein, dass alles den Bach runter geht?” Er lachte weiter, und sein Lachen ging in Husten über. Es ging so weit, dass Eravier ihm eine besorgte Hand auf die Schulter legte, und er zeigte für einen Moment echte Besorgnis. „Machen wir es kurz, mir scheint, du brauchst noch etwas Ruhe.” „Ich schaffe das schon”, widersprach Jan unwillig, „immerhin habe ich ja noch gar nichts erzählt. Und ich will das wirklich loswerden, um endlich mit dieser ganzen Scharade abzuschließen.” Er nickte kalt zu Valion, der die Fäuste ballte. „Na gut, mein junger Freund”, stimmte Eravier zu, „aber ich denke, wir können zumindest deine Brandmarkung um ein paar Tage verschieben.” „Kann nicht behaupten, dass ich mich unglaublich darauf freue”, meinte Jan. „Nun, wer weiß”, erklärte Eravier mit einem Lächeln und strich durch Jans Haare. „Vielleicht lassen wir diesen Teil auch ausfallen. Du gefällst mir Jan. Ich könnte mir vorstellen, dich zu viel mehr als einem einfachen Sklaven zu machen.” Er wandte sich ab und gab Tarn einen Wink, dass er gehen konnte. In diesem Moment schnellte Jan vor.

Er bewegte sich so abrupt und so gezielt, dass niemand ihn aufhalten konnte. Er nutzt aus, dass Eravier ihm den Rücken zu wandte, packte seinen Arm, riss ihn mit einer Kraft, die Valion ihm nicht zugetraut hatte auf den Rücken und zerrte Eravier herum. Er hatte etwas scharfes, glänzendes in der Hand, das in seine Handkanten einschnitt, so fest hielt er es umklammert. Es war die Spiegelscherbe, die Valion Jan gegeben hatte, und ohne zu zögern drückte er sie Eravier an den Hals. Mit einer Erleichterung, die er nie gekannt hatte, begriff Valion dass Jan zurück war. Der echte Jan.
Ein Dutzend Musketen richtete sich innerhalb von Sekunden auf ihn, und er schrie den Wächtern zu: „Nur eine falsche Bewegung, und das letzte, was ihr von ihm hören werdet, ist ein ziemlich hässliches Gurgeln!” Für einen Moment sah es aus, als würden die Wächter trotzdem versuchen wollen zu schießen, doch Eravier hob panisch die Hand. Auch ihm war klar, dass eine Kugel nicht nur Jan, sondern genausogut auch ihn treffen konnte. „Na, wie fühlt es sich an, wenn der Spieß mal umgedreht wird, du verdammtes Schwein?”, fragte Jan, während er Eravier keuchend weiter zerrte. Er behielt sich den Pestwagen als Schutzschild im Rücken und bewegte sich langsam, aber zielstrebig auf die Stelle zu, wo die Distanz zwischen dem kleinen Waldstück und dem Wagen am geringsten war. 

Eravier erkannte seinen Fluchtplan und rang für einen Moment mit ihm, doch Jan schien Kräfte mobilisiert zu haben, die man seinem dürren Körper überhaupt nicht zutraute. Er packte Eraviers Arm nur noch fester, sodass dieser schmerzerfüllt aufschrie, und drückte die Scherbe mit mehr Kraft in sein Fleisch. Träge Rinnsale von Blut begannen Eraviers Hals hinab zu laufen und tränkten das teure Hemd. „Du dachtest wirklich, ich wäre so ein verdammtes Arschloch wie du, was?”, fragte Jan, und er lachte bei diesen Worten, „Du dachtest wirklich, ich verrate jemand den ich liebe, nur um in deinem kranken kleinen Königreich der Hofnarr zu werden. Du bist so ein-” Eravier versuchte erneut sich loszureißen, und Jan trat ihm so heftig gegen den Knöchel, dass er vor Schmerz erneut aufschrie. „-so ein Stück Dreck. Und weißt du, was das Beste ist? Es war so einfach, dich hinters Licht zu führen, weil du von jedem Menschen erwartest zu sein wie du. Meine Eltern waren genau so. Ich habe ihnen überhaupt nichts getan, ihre Krankheit haben sie sich durch ihre eigene Habgier und Gewissenlosigkeit zugezogen! Und ich hoffe, oh nein, ich bete zu Gott, dass dir eines Tages genau das Gleiche passiert! Aber bis es so weit ist, bist du einfach nur ein guter Schutzschild.” Er sah zu Valion, lächelte ihn an, und nickte ihm zu. „Komm her”, sagte er sanft, aber bestimmt, und Valion ließ sich nicht zweimal auffordern. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, vor Sorge, Ungewissheit und Erleichterung, aber trotz seiner Angst war er überglücklich. Jan hatte ihn nicht verraten, keine Sekunde lang.

Sie standen jetzt mit dem Rücken zum Wald, und die Wächter, obwohl sie ihre Waffen nach wie vor erhoben hatten, wagten immer noch nicht zu schießen. Sie waren jetzt in der idealen Position, sich die Dichte der beginnenden Wälder zu Nutze zu machen und zu fliehen.  „Wir brauchen ein Pferd”, sagte Jan leise. Valion nickte. „Ich weiß, wo sie sein müssten. Was ist mit ihm?”, fragte er und nickte Eravier zu, der so flach wie möglich zu atmen schien. Seine panischen Augen glitten immer wieder zu der Scherbe, die Jan umklammert hielt. „Lassen wir ihn laufen. Egal ob tot oder lebendig, wir werden verfolgt werden”, sagte Jan nüchtern, um dann hinzuzufügen: „Und so sehr ich ihn auch hasse, seinetwegen werde ich nicht zum Mörder.” Valion wurde erst jetzt bewusst, wie sehr er gefürchtet hatte, dass der alte Jan nur Schauspielerei gewesen war. Für einen Moment war Jan tatsächlich Eraviers Ebenbild gewesen, kalt, distanziert, mitleidlos. Dass er jetzt Gnade zeigte bewies ihm einmal mehr, dass sein Jan mit diesem Schauspiel nichts zu tun gehabt hatte. „Gib mir ein Signal, und dann laufen wir los”, sagte Valion, und Jan nickte. Sie traten noch einen Schritt zurück, und Jan schenkte Eravier noch ein letztes gehässiges Grinsen. „Dann noch viel Spaß mit deiner Demütigung”, sagte er, warf die Scherbe zu Boden und gab ihm einen so groben Stoß in den Rücken, dass Eravier sich nicht auf den Beinen halten konnte und nach zwei Schritten auf den Knien landete. Der erste Schuss krachte und fegte haarscharf an Jan vorbei, doch Valion war seltsam ruhig, sah nur zu Jan. „Verschwinden wir”, sagte Jan, und sie drehten sich um und liefen. Eraviers wutentbrannte Schreie folgte ihnen. 

„BRINGT SIE MIR BEIDE!”

Jan ließ sich von Valion führen, und gemeinsam hasteten sie keuchend durch das Unterholz. Valions Plan war, das Lager durch den Wald zu umrunden und auf diesem Weg den restlichen Wachen auszuweichen. Es war einleuchtend, dass die Pferde beim Fluss abgestellt worden waren, denn dort waren sie einfach zu tränken und zu erfrischen. Im Zweifelsfall konnten sie bis zur Nach im Wald ausharren, dann den Fluss im Schutz der Nacht durchschwimmen und so an die Pferde gelangen. Es war riskant, aber machbar.
Was vorher zu Eraviers Vorteil gewesen war, war jetzt zu ihrem, denn das Waldstück war sommergrün und undurchsichtig. Zudem waren sie beide Leichtgewichte, und der weiche, mit Waldgras bedeckte Boden verriet ihre federnden Schritte kaum, während die Wachen, die sie verfolgten einen riesigen Lärm veranstalteten, wenn sie durch die Dickichte brachen und morsche Stämme unter ihren Füßen zermalmten.
Valion und Jan änderten mehrmals die Richtung, verwirrten die Orientierung der Wachen, und schließlich wurde ihr Vorsprung so groß, dass sie sich unter den Wurzeln eines umgestürzten Baumes verbergen und für einen Moment ausruhen konnten. Der gewaltige Baum hatte in Hanglage gestanden und bei seinem Sturz das Erdreich unter sich angehoben, und es entstand eine kleine, geschützte Höhle, in der sie sich verbargen, umgeben von feuchtem Erdreich und Wurzelgeflecht. Irgendwo hörten sie Rufe und das Geräusch brechender Äste, aber es war weit entfernt.
Jan keuchte, die ungewohnte Anstrengung belastete seine ohnehin angeschlagene Lunge, aber er hielt sich tapfer. „Was hast du überhaupt vor?”, fragte Valion verspätet. „Ich habe lange darüber nachgedacht”, antwortete Jan schnaufend. „Ich habe dabei auch an deine und meine Familie gedacht. Dass sie in Gefahr sind, wenn wir nicht handeln.” Valion nickte, und sein Herzschlag beschleunigte sich noch einmal. Er hatte in dem Moment, als er geflohen war, nicht daran gedacht, doch jetzt schnürte die Sorge ihm die Kehle zu. Er hoffte, dass Jan einen guten Plan hatte. „Ich habe darüber nachgedacht, dass es auch andere Sklavenhändler geben muss. Solche, die nicht gerade mit Eravier unter einer Decke stecken. Die Konkurrenz muss ziemlich groß sein, und he, sieh uns an, wir sind nicht übel. Denkst du nicht, dass wir uns noch einmal verkaufen könnten, möglichst an jemand, der Eravier wie die Pest hasst? Ich meine, das wäre nicht besonders schwierig, oder, wer kann den Kerl schon leiden? Wir könnten uns einen Beschützer suchen, jemand der Eravier das Leben zur Hölle machen kann. Jemand, der so viel Einfluss hat wie er.” Valion nickte. Das klang bis zu einem gewissen Grad schlüssig, und selbst wenn es beinhaltete, dass sie weiter Sklaven waren, so würden sie wenigstens zusammen sein. „Aber wie finden wir andere Sklavenhändler?”, fragte Valion. „Ich denke, dafür müssen wir bis in die Hauptstadt. Wir sollten zwei Pferde nehmen und sie unterwegs verkaufen, das Geld verwenden wir für die Reise. Wir könnten auch einen Teil schon mit einer Nachricht zurück nach Hause schicken. Ein Kurier ist teuer, aber nach deiner Beschreibung sind die Pferde gut.” „Ja, die besten von ihnen sind vermutlich einiges wert”, bestätigte Valion unsicher, „Aber ob das reicht?” Jan grinste. „Schlimmstenfalls werden wir eben Straßenbanditen und schlagen uns so durch.” 
Valion blickte ihn zweifelnd an, und Jan lachte. „Tut mir Leid, ich kann einfach nicht anders, wenn ich bei dir bin.” Er legte einen Arm um Valion, und plötzlich sah er aus, als wäre er den Tränen nahe. „Du bist das einzig Gute, was mir jemals passiert ist, weißt du das?”, fragte er, und Valion legte erschrocken eine Hand auf seine Wange, streichelte vorsichtig sein Gesicht. „Jan…” „Nein, es ist so, wirklich. Hör zu, wenn etwas schief geht, dann nimm keine Rücksicht auf mich. Es ist egal was aus mir wird, aber dir darf nichts geschehen.” Valion schüttelte wütend den Kopf. „Blödsinn! Wir schaffen es entweder beide, oder gar nicht!” „Val, das bin ich nicht wert”, sagte Jan, und Valion sah, dass er mit Macht die Tränen zurück hielt, die sich in seinen Augen sammelten. Sie hatten beide Angst, wussten nicht, wohin sie ihr Weg führte. Sie hatten noch nicht einmal die Pferde, waren noch nicht aus Eraviers Reichweite, und beide erschöpft. Selbst unter den besten Umständen lagen noch tausende von Gefahren vor ihnen. Jan wollte nur das Beste für ihn, das wusste Valion, selbst wenn es ihn sein Leben kosten würde. Aber konnte er denn nicht verstehen, dass Valion genau so empfand? 
„Doch, das bist du. Ich liebe dich, Jan. Ich werde dich niemals allein lassen, egal was passiert”, sagte Valion und küsste ihn.

Die Bäume rauschten, getrieben vom auffrischenden Wind. Er kündigte den Abend an, spielte in dem alten Laub am Boden des Waldes und strich zart durch das Haar und über die Haut der zwei Jungen, eine mütterliche und freundliche Berührung. Der Wald und der Wind wussten mehr über die Ewigkeit als zwei Kinder, und sie wussten auch, dass Worte wie “niemals” nur eine Frage der Perspektive waren. Doch in gegenseitigem Einvernehmen verwehten sie die Rufe aus der Ferne, überdeckten den feindseligen Lärm der Wächter mit dem Knarren der Baumäste und dem leisen Rascheln der Blätter, und schufen für einen gnädigen Moment nur rauschende Stille.

Sie warteten so lange wie möglich, um den Schutz der Dämmerung zu nutzen. Der Wind flaute ab, es wurde kühler. Leise und geisterhaft begann Nebel vom nahen Fluss zu ihnen herüber zu ziehen, dämpfte die Geräusche und verbarg die Welt hinter einem weißen Schleier. 
Die Wächter durchkämmten das Waldstück, aber sie waren zu wenige um das Gebiet effektiv durchsuchen zu können, und nicht nur der Nebel, sondern auch das unebene Gelände behinderten sie zusätzlich. So gelang es Valion und Jan im Schutz der dichten Vegetation, von einer Senke in die nächste zu hasten. Sie verbargen sich hinter Baumstämmen und im Gewirr der Äste, verschwanden im Nebel und kreuzten die Wege der Wächter manchmal nur in wenigen Metern Entfernung, doch gleichzeitig stifteten sie so eine Menge Verwirrung. Valion behielt die Orientierung, Jan die Geräusche des Waldes im Ohr, und gemeinsam gelang es ihnen, sich in einem großen Bogen immer weiter in Richtung des Flusses zu bewegen. Die Wächter schafften es weder sie einzukesseln, noch behielt einer von ihnen die Fährte der Jungen lange genug, als dass er sie hätte einholen können.

Das Gelände wurde in der Nähe des Flusses abschüssiger und auch steiniger, was ihrer Deckung zu Gute kam. Die riesigen, manchmal völlig unter Moos erstickten Findlinge waren als kurzzeitiges Versteck ideal und zusammen mit dem nahen Geräusch des Flusses ein guter Orientierungspunkt.
Valion vermutete, dass sie schon zwei Drittel des Weges geschafft hatten, als Jan plötzlich inne hielt und lauschte. Valion drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an. „Jemand folgt uns”, flüsterte Jan ihm zu, „Einer. Schlank, vermutlich kein Wächter.” 
Valions Herz krampfte sich zusammen, und er erinnerte sich an den Atem in seinem Nacken. Nein, es war überhaupt nicht bewiesen, dass die Person, die sie verfolgte der unbekannte Spion war. Aber es war auch nicht unmöglich. Die Furcht, die ihn schon die ganze Zeit rastlos weiter trieb, wurde noch stärker, und er konnte sich kaum zwingen für diesen Moment still zu stehen.
„Weiter?”, fragte er, und Jan nickte, deutete mit einer Kopfbewegung auf eine Ansammlung von Totholz am Fuß einer Senke. Diesen Trick hatten sie in der letzten Stunde schon zweimal an unterschiedlichen Stellen angewandt. Es war ein Risiko, da sie durch den Lärm den sie machten ihre Position verrieten, aber gleichzeitig auch eine gute Strategie, um ihre Verfolger zu verlangsamen, denn die waren so davon überzeugt, sie durch das Gewirr aus Stämmen und toten Ästen erwischen zu können, dass sie ihnen bisher immer blindlinks gefolgt waren. Das Krachen des morschen, verottenden Holzes unter ihren Füßen und die ständige Gefahr zu stürzen hatte sie aber so eingeschüchtert, dass sie ihre Schritte von selbst verlangsamten, während Valion und Jan leichtfüßig weiter hasteten.

Sie versuchten das Selbe auch jetzt, doch an Jans zusammengepressten Lippen sah Valion, dass der Abstand zu ihrem Verfolger nicht größer wurde, sondern schrumpfte. Das Knacken und Knirschen der Äste hinter ihnen blieb aus. „Er ist rundherum gegangen”, fluchte Jan leise im Laufen, „er ist nicht dumm, und schnell.” Sie gingen weiter, umrundeten mit klopfendem Herzen eine Wache, die sie in der Entfernung durch den Wald stapfen sahen, änderten noch einmal die Richtung, aber auch das half nichts. Sie spürten, wie sich der Abstand zwischen ihnen und dem Anderen immer weiter verringerte. 

Plötzlich bog Jan scharf ab, steuerte direkt auf einen besonders großen Findling zu und zog Valion schließlich mit sich in den Schatten des Felsen. „Wir warten hier”, sagte Jan leise. Valion sah sich um - dieser Stein war genau wie alle anderen, die in der Landschaft verstreut lagen, er bot nur aus einer Richtung Deckung, und das nur für eine begrenzte Zeit. „Er wird uns hier finden”, flüsterte Valion irritiert, aber Jan zuckte nur mit den Schultern. „Nicht, wenn wir ihn zuerst »finden«. Wir hängen ihn niemals ab, es wird Zeit für einen Gegenangriff. Wenn er hier vorbei geht und uns den Rücken zudreht, greifen wir ihn uns.” „Aber wenn er nach Hilfe ruft…?”, wandte Valion ein, doch Jan schüttelte den Kopf. „Er meidet die Wächter, wollte nicht gesehen werden. Wer auch immer er ist, er folgt uns auf eigene Faust, und ich will wissen warum.”
Valion nickte, doch gleichzeitig hatte er Bedenken. Jan war vielleicht stärker, als er zuerst gedacht hatte, aber sie waren schon zu lange unterwegs und nicht mehr voll bei Kräften. Und wenn ihr Verfolger wirklich der war, den Valion vermutete… er erinnerte sich nur zu gut daran, wie einfach und schnell er zu Boden geworfen worden war. Das war nicht das Werk von jemand gewesen, der einfach nur Glück hatte. Und was würden sie tun, wenn sie ihn tatsächlich überwältigten? Wollten sie ihn bewusstlos schlagen, fesseln? Wenn ja, womit überhaupt? Er wollte Jan danach ausfragen, aber der gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. So blieb ihm nichts anderes übrig als seinem Urteil zu vertrauen. Angespannt und stumm harrten sie aus, drückten sich gegen das feuchte Moos des Steins und lauschten.

Endlich, nach einer Ewigkeit des Wartens, hörten sie Schritte. Ihr Verfolger bewegte sich langsam, fast unsicher durch den Nebel und hielt immer wieder inne, als sähe er sich um. Wie Jan und Valion waren seine Schritte fast lautlos, und er schien ebenfalls darauf bedacht nicht gesehen zu werden, denn als er in der Ferne brechende Äste hörte, wechselte er hastig die Richtung und umrundete den Felsen auf der abgewandten Seite. Dennoch zögerte er, weiterzugehen. Ihm schien bewusst zu sein, dass er entweder ihre Fährte verloren hatte oder Jan und Valion sich vor ihm versteckten, und vielleicht erwog er, seine Suche aufzugeben.

Dreh um, flehte Valion stumm. Geh einfach. Er wollte weder mit einer besonders schlauen Wache, noch mit dem Spion konfrontiert werden, und mehr als alles andere wollte er vermeiden, dass es schon wieder zu einem Kampf kam.
Er sah zu Jan, der konzentriert lauschte, und plötzlich fiel ihm auf, dass Jans Hände nicht mehr leer waren. Er hatte sich einen großen, spitz zulaufenden Stein genommen und hielt ihn bereit. Valion machte eine stumme, fragende Geste in Jans Richtung, und er zuckte gleichgültig mit den Schultern. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke direkt, und Valion wurde eiskalt. Das war wieder der andere Jan, emotionslos, berechnend, zu allem bereit, und völlig unvermittelt musste er sich fragen, ob er sich nicht getäuscht hatte. Er hatte gedacht, diese andere Seite an Jan wäre nur Schauspiel gewesen, aber war es wirklich so? Was bewies die Tatsache, dass er die Hand nur gegen Eravier erhoben hatte?
Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Die Schritte bewegten sich wieder in ihre Richtung, Jan wandte sich von Valion ab und drängte ihn rückwärts gehend hinter sich, die provisorische Waffe gehoben. Ihr Verfolger kam endlich in Sicht.

Er war schlank und groß - größer als der Spion, stellte Valion erleichtert fest, aber gleichzeitig warf das natürlich nur noch mehr Rätsel auf. Ihr Verfolger bewegte sich mit bedachten Schritten über den Waldboden und achtete darauf, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen und kein Geräusch zu machen. Das meiste seiner Gestalt wurde von einem Kapuzenumhang verdeckt, der für einen viel breiteren Mann gemacht zu sein schien, so locker und unförmig hing er an ihm. Der Stoff war abgetragen und fleckig, und einzelne Heuhalme klebten daran. Eine vage, kaum greifbare Ahnung beschlich Valion, aber er konnte sie nicht mehr zuordnen, dazu fehlte die Zeit. Ihr Verfolger drehte ihnen nur für den Bruchteil einer Sekunde den Rücken zu, bevor er den Kopf wandte um sich umzusehen. Jan wartete nicht ab, bis sie in sein Blickfeld gerieten, allein die Andeutung der Kopfneigung ließ ihn vorspringen, und er zielte mit dem Stein direkt in die Nierengegend. 
Doch die Reflexe ihres Verfolgers waren nicht weniger gut als die von Jan. Statt sich vollends umzudrehen nahm er die Bewegung hinter sich gerade noch rechtzeitig wahr und machte einen Satz nach vorn, sodass Jans Hieb ihn nur streifte. Jan selbst kam ins Straucheln, stolperte auf den Fremden zu, der sich inzwischen geschickt umwandte, und er fing sich von ihm eine Ohrfeige ein, die ihn sofort einen Schritt zurückwarf. Doch bevor Jan wutentbrannt zum Gegenangriff übergehen konnte, warf der Fremde seine Kapuze ab, unter der rabenschwarze Locken und ein besorgtes Gesicht zum Vorschein kamen, und hob beschwichtigend die Hand. „He, langsam, langsam! Es gibt keinen Grund sich zu schlagen, ich bin harmlos!” 
Valion erkannte das Gesicht und die Stimme sofort, und endlich verstand er, warum der Mantel seinen Verdacht geweckt hatte: das Stroh darauf, der weite, fast unförmige Schnitt, der einen Klotz von Mann verbergen konnte, dieser Mantel konnte nur Jefrem gehören. „Marceus”, sagte er erstaunt. „Wie kommst du hierher?” Marceus öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann schüttelte er nur den Kopf. „Das würde jetzt wirklich zu lange dauern. Aber ich denke du weißt, wer mich schickt.” „Tarn?”, fragte Valion, aber er kannte die Antwort schon, und plötzlich überkam ihn Erleichterung. 
Es war fast unmerklich gewesen, aber im hintersten Winkel seines Verstandes hatte die ganze Zeit die Angst gelauert, dass er sich mit seiner Flucht von Tarn losgesagt hatte und nicht mehr mit ihm rechnen konnte. Er hatte jeden seiner Ratschläge mit Füßen getreten, alle seine Warnungen ignoriert, und trotzdem sendete er ihm einen dringend benötigten Verbündeten. „Was hat Tarn geplant? Wo ist er jetzt?”, fragte Valion.

Tarn harrte in Stille aus. Er lehnte an einem Baumstamm und hatte die Augen geöffnet, aber seine gesamte Konzentration lag bei den Geräuschen rings um ihn. Wenn er alles andere ausschaltete und nur lauschte, dann konnte er die Wächter wahrnehmen, weit entfernt. Er verfolgte ihre Schritte, ihre unregelmäßigen Wege durch den Wald, während der Wind im Hintergrund rauschte und den Nebel in Fetzen an ihm vorbei trieb. 
Er hatte sich nicht zu weit von dem Treffpunkt fort bewegt, den er mit Marceus vereinbart hatte, denn wenn er die Jungen verpasste, stieg die Chance, dass sie gefasst wurden während sie warteten. Doch noch waren sie außerhalb seiner Reichweite, also umrundete er die Lichtung ein weiteres Mal, konzentriert lauschend.
Ein Nachteil der Stille und der Reglosigkeit war, dass die Gedanken zurückkehrten. Er hatte jetzt viel Zeit, über alles nachzudenken, was er in den letzten Stunden getan hatte. Er durchlief seine Erinnerungen immer wieder, von dem Moment an, als Eravier Jan die entscheidende Frage nach seiner Loyalität gestellt hatte. Er suchte nach Fehlern in seinem Verhalten, und davon fand er viele. Aber gleichzeitig schien es, als wäre jede Alternative, jede andere Reaktion zu seinen Ungunsten ausgefallen. Er fragte sich, ob es etwas gegeben hatte, dass er hätte ändern können. Hätte er an irgendeinem Punkt Valions Flucht verhindern können? Hätte er Jan töten sollen? Eravier aufhalten können? Er wusste es nicht, und deshalb ließ es ihm keine Ruhe.
Er begann erneut, durchlief seine Erinnerung vom ersten Moment an. Eraviers Frage, die ihn völlig aus der Fassung gebracht hatte… 

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„Was kannst du mir über Loyalität berichten, Jan? Hast du etwas dazu zu sagen?”

Tarn versteifte sich, als er diese Worte hörte. Das war nicht Teil des normalen Prozedere, Eravier schien es stattdessen wirklich darauf anzulegen, Jan ganz offen auf seinen Spionageauftrag anzusprechen. Aber wozu? Es passte nicht zu ihm, einen Plan, den er erst vor so kurzer Zeit gefasst hatte, offen zu legen. Selbst ihm musste klar sein, dass er Jan damit preisgab, es sei denn… es sei denn er war der festen Überzeugung, dass Jan bereits alles wusste, was er in Erfahrung bringen sollte. 
Er forschte in Eraviers Gesicht nach der Antwort, und was er sah gefiel ihm überhaupt nicht. Sein Lächeln war selbstsicher - er wusste etwas, oder glaubte etwas zu wissen. Tarns Herzschlag beschleunigte sich. Hatte Jan tatsächlich in nicht einmal einem Tag alles aus Valion heraus geholt, was er wissen wollte? Vielleicht ja - er gestand sich ein, dass er Jan maßlos unterschätzt hatte. Bis vor kurzem hatte er schließlich noch angenommen, Valions Beziehung zu Jan basiere nur auf Freundschaft. Eravier hatte Recht gehabt, er war tatsächlich ein idealer Spion.
Und doch hoffte er bis zur letzten Sekunde, dass Eravier sich geirrt hatte, dass Jans Loyalität seinem neuen Freund galt. Bis Jan stumm lächelte und nickte, und alle Albträume und Vorahnungen der letzten Jahre mit einem Schlag Wirklichkeit wurden.

Er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben, und war sich fast sicher, dass er äußerlich gefasst oder sogar desinteressiert wirkte, obwohl alles in ihm danach schrie, sofort zu handeln. Was würde er tun, wenn Namen fielen? Wenn sein eigener Name fiel? Er wusste, dass Eravier ihm mehr vertraute als den meisten Dienern und Sklaven, aber selbst das würde keine Rolle mehr spielen, wenn man ihm seine Beteiligung an der Rebellion nachwies. Also war seine einzige Chance, Jan zum Schweigen zu bringen, bevor er zu viel sagen konnte. Doch wie?

Er hätte sich eines der Rasiermesser greifen, zu Jan gehen und mit einem einzigen sauberen Schnitt seine Kehle durchtrennen können, und fast bedauerte er, dass er das nicht schon früher getan hatte, als er noch die Gelegenheit hatte. Aber was hätte das in dieser Situation noch genützt? Jetzt hätte er nur eine billige Rache bekommen und gleichzeitig ein Schuldeingeständnis geliefert, und er hätte damit weder sich noch Valion gerettet. Er war sich absolut bewusst, dass der Platz immer noch von Wächtern umstellt war, jeder mit einer Schusswaffe in den Händen. Er war selbst dabei gewesen als Eravier die Wächter instruiert hatte, jeden zu erschießen, der sich verdächtig verhielt oder den Versuch machte zu fliehen. Wenn er jetzt eingriff, unterschrieb er sein eigenes Todesurteil.

Er sah sich um, in der vagen Hoffnung etwas übersehen zu haben, einen Ausweg, den er nicht als solchen erkannt hatte, doch sein Blick blieb nur ungewollt an Valion hängen.
Der Junge sah aus, als wäre er kurz davor in Tränen auszubrechen, und ohne dass er es wollte, befiel Tarn sofort Mitleid. Valion hatte die Fäuste so fest geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten, und er starrte Jan voller Fassungslosigkeit und Schmerz an. Vielleicht machte er sich genau in diesem Moment schwere Vorwürfe, dass er Jan so schnell und so unbedarft an sich heran gelassen hatte. Es war nicht einmal unwahrscheinlich, dass er zum ersten Mal mit jemand geschlafen hatte, und statt Verbundenheit hatte er nur Enttäuschung und Verrat erfahren.
Es war nicht gerecht, aber genau deshalb hatte er Valion doch gewarnt - um ihn vor diesem entscheidenden Moment zu schützen. Was hatte er falsch gemacht? War er wirklich nicht deutlich genug gewesen? Oder hätte er tatsächlich den einen, entscheidenden Schritt weiter gehen müssen und Valion erklären sollen, dass es unter Sklaven normal war Intimität auszuleben, ohne dass romantische Gefühle oder Vertrauen eine Rolle dafür spielten?
Aber es spielte keine Rolle mehr, diese Verletzung ließ sich nicht rückgängig machen. Es war eine eigene Form der Brandmarkung, eine der vielen, die ihm sein neues Leben noch zufügen würde.

Doch darüber durfte er sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Tarn zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf Jan zu richten, der von Eravier zu ihm geführt wurde, und plötzlich stand im klar vor Augen, wie er Jan töten konnte, wenn ihm nur genug Zeit blieb. Er wünschte es wäre ein neutraler Gedanke gewesen, der sich nur darum drehte, seine eigene Haut zu retten. Doch die Kehrseite seines Mitleids für Valion war Zorn - der Gedanke, Jan für das zu bestrafen, was er Valion angetan hatte, erfüllte ihn mit bitterer Genugtuung. Jan hatte seine Brandmarkung noch nicht erhalten, und er war sich fast sicher, dass Eravier darauf bestehen würde, und diesmal würde er Tarn die Ausführung überlassen. Wenn er geschickt vorging, würde er Jan direkt in die Bewusstlosigkeit und danach in den Tod schicken. Selbst wenn jemand versuchte ihn aufzuhalten war die Chance hoch, dass Jan innerhalb von Stunden sterben würde.
Tarn versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass es ein verdientes Ende war, dass einem Verräter nichts anderes zustand, und doch, unter dem Zorn und der Angst vor seiner eigenen Enttarnung spürte er Zweifel. 
Es war früher so einfach gewesen zu töten, so unkompliziert, und nun, nach all den Jahren, brachte er es kaum noch fertig. Jan war ein bleicher, magerer Junge mit eingefallenen Wangen, noch halb ein Kind. Er hustete wieder, keuchend und unkontrolliert, also war es gut möglich, dass ihm nicht einmal mehr genug Zeit blieb, von seinem Verrat zu profitieren. Vielleicht stellte er jetzt, in diesem Moment, sein eigenes Überleben über alles andere, aber würde das immer so sein?

„Machen wir es kurz, mir scheint, du brauchst noch etwas Ruhe”, sagte Eravier, und Tarn schauderte, als er den vertraulichen Tonfall hörte. War das wirklich einer der seltenen Augenblicke, in denen Eravier echte Zuneigung zeigte? „Ich schaffe das schon”, widersprach Jan unwillig, „immerhin habe ich ja noch gar nichts erzählt. Und ich will das wirklich loswerden, um endlich mit dieser ganzen Scharade abzuschließen.” „Na gut, mein junger Freund”, stimmte Eravier zu, „aber ich denke, wir können zumindest deine Brandmarkung um ein paar Tage verschieben.”
Tarn fluchte innerlich. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet, aber wenn es beschlossene Sache war, würde er Eravier nicht mehr umstimmen. Damit war sein Plan zunichte gemacht, und er hatte keinen weiteren.
Langsam, unauffällig trat er einen Schritt vor, und griff nun doch nach einem der Rasiermesser auf dem Tisch. Dann eben doch auf diese Art, er hatte jetzt keine Wahl mehr. Eravier wandte sich zu ihm um, um ihm den Wink zu geben, sich zu entfernen, und er schloss die Hand um das Messer. Es würde in einem Moment vorbei sein. Vielleicht fing er sich innerhalb von Sekunden nach seiner Tat eine Kugel, und wäre das nicht gerecht gewesen…?

Doch Jan war schneller als er, und rettete damit vermutlich sowohl sein eigenes, als auch Tarns Leben. In dem Moment, als Eravier ihm den Befehl geben wollte, wurde er plötzlich zurück gerissen. Für einen Sekundenbruchteil konnte Tarn die Überraschung in seinen Augen sehen, dann zerrte Jan Eravier zu sich und setzte etwas spitzes, glänzendes an seine Kehle. Tarn konnte nicht erkennen, ob es ein Messer oder eine andere Art von Waffe war, aber es war auch gleichgültig, weil in diesem Moment sein Verstand aussetzte und seine alten Instinkte das Handeln übernahmen.
Es kam kein Laut über seine Lippen, und es gab in diesem Moment keine Gedanken. Es bedurfte keiner bewussten Handlung das Rasiermesser aufzuklappen, über den Tisch zu springen, und in diesem Moment hätte er nicht gezögert, Jan das Messer in den Bauch zu rammen und ihn an Ort und Stelle verbluten zu lassen. Kein Bedauern, kein Zweifel drang zu ihm durch, sein einziger Gedanke galt Eravier und seiner Pflicht, ihn zu verteidigen.

Doch bevor er sich auch nur näher als fünf Schritte auf Jan zu bewegt hatte, sah der sich drohend um und fixierte nicht nur ihn, sondern der Reihe nach auch die anderen Wächter und schrie ihnen zu: „Nur eine falsche Bewegung, und das letzte, was ihr von ihm hören werdet, ist ein ziemlich hässliches Gurgeln!” Im letzten Moment hielt Tarn sich zurück, bezähmte das panische, von Instinkt getriebene Tier in sich, und hasste gleichzeitig, dass es notwendig war. Nach all den Jahren hätte ihn Eraviers möglicher Tod kalt lassen müssen, doch so war es nicht. Er sah das Blut, sah die Angst in Eraviers Augen, selbst jetzt fast völlig maskiert und nur für ihn zugänglich.Tu etwas, sagte der Blick. Irgendetwas. 
Er musste sich zwingen zurück zu treten, wobei er den Blick auf Jan gerichtet ließ, doch der hatte Anderes zu tun als sich mit ihm auseinanderzusetzen. Er zerrte Eravier in Richtung des Waldes, und Tarn begriff sofort, dass er vorhatte sein Heil in der Flucht zu suchen. Eravier bemerkte es im selben Moment und kämpfte dagegen an, weiter gezerrt zu werden, aber ein Tritt in den Knöchel hielt ihn sofort davon ab. Und wieder sah er Tarn an, bevor sein Blick unweigerlich zu der Waffe an seinem Hals glitt, zurück zu ihm. Hilf mir endlich!

Tarn machte zwei weitere Schritte rückwärts und schloss so zu der Linie der Wächter auf, die mit gehobenen Waffen versuchten Jan einzukreisen. Aber sie waren unkoordiniert und zögerten zu sehr. Sie hatten diese Sitation nicht vorhergesehen, und keiner wagte zu schießen, solange Eravier in Jans Gewalt war. Nun, es gab jemand, der diesbezüglich wesentlich weniger Skrupel hatte. Tarn streckte die Hand aus und bekam kommentarlos die Waffe des Wächters der ihm am nächsten stand ausgehändigt. Eiskalte Ruhe befiel ihn, als er anlegte und zielte. Er brauchte nur einen geeigneten Moment. Nur den richtigen Augenblick, um…

Verdammt.

Er beobachtete wie Jan Valion zu sich winkte und ihm bedeutete mitzukommen, und Tarn schüttelte stumm den Kopf. Er flehte, dass Valion nur dieses eine Mal, um seiner Selbst willen, auf seinen Verstand hören würde statt auf sein Herz. Wenn er jetzt ging, dann war ihm Eraviers Rache sicher, egal ob er entkam oder bei dem Versuch gefasst wurde. Jan bot ihm für einen Moment das Gefühl, dass er bei ihm sicher war, dass sie es gemeinsam schaffen konnten. Es war eine süße Lüge, deren Bitternis sie einholen würde, bevor der Tag endete. Doch trotzdem akzeptierte Valion sie bereitwillig. Er ging auf Jan zu, stellte sich an seine Seite und sah den Wächtern entgegen, ignorierte Tarn völlig oder blendete ihn aus.
Aber das würde er nicht zulassen. Wenn Valion das Lager verließ, dann nur unter seinen Bedingungen. Jan konnte gern Selbstmord begehen, aber bei seinem Schützling war das etwas Anderes.

Tarn konzentrierte sich wieder auf sein Ziel. Sein erster und einziger Schuss musste sitzen, besonders auf diese Entfernung.  Komm schon, gib mir eine Vorlage, dachte er grimmig, und als hätte Jan seine Aufforderung gehört, stieß er Eravier von sich, sodass dieser strauchelte und auf den Knien landete. Das war mutig, gehässig und dumm zugleich, aber Tarn hatte damit endlich freies Schussfeld.
Er war bereit den Abzug zu ziehen, als Jan plötzlich, für den Bruchteil einer Sekunde, seinen Blick fing. Valion sah Tarn nicht einmal an, aber Jan selbst war völlig bewusst, was Tarn vorhatte. Für einen Moment maßen sie sich, über die vielen Meter die sie trennten hinweg, und es war, als würde Jan ihn herausfordern. Schieß schon! Das ist deine letzte Chance, schien sein Blick zu sagen. Andernfalls werde ich ihn mitnehmen, und dann gehört er zu mir. Und darum geht es hier schließlich, oder? Und als Tarn den Abzug durchzog, verriss er den Schuss um einen halben Meter, und im nächsten Moment waren die beiden Jungen im Wald verschwunden.
Es war besser so. Zu welchem Zweck hätte er Jan aus dem Weg geräumt? Um Valion zu schützen, oder um ihn von Jan fernzuhalten, weil sie sich nahe standen? War er wirklich besorgt? Oder einfach nur maßlos eifersüchtig?

Er musste sich um das kümmern, was wichtig war. Achtlos warf er die Muskete beiseite und folgte den Wächtern, die alle gleichzeitig auf Eravier zustürmten. Wie zu erwarten schäumte der vor Wut, wartete nicht einmal ab, bis seine Untergebenen Gelegenheit hatten sich zu sammeln und brüllte ihnen zu: „Bringt sie mir beide!” 
Er rappelte sich auf und sah sich wie von Dämonen besessen um. Einige der Wächter folgten seinem Befehl sofort und liefen in den Wald, während andere noch irritiert starrten. Tarn erreichte Eravier und legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die Schulter, aber der riss sie im gleichen Moment herunter. „Sie denken, sie könnten entkommen”, zischte er und starrte in den Wald, über den sich bereits die Dämmerung zu senken begann. Es quoll immer noch Blut aus dem Schnitt an seinem Hals, ohne dass er Notiz davon nahm, sein Haar war wirr und in seinen Augen brannte reiner Hass. In diesem Moment konnte er niemand täuschen, er sah aus wie ein gefährlicher Irrer. 
Er machte einige Schritte auf den Waldrand zu, bückte sich hob etwas auf, um es mit einer Mischung aus Wut und Triumph zu betrachten. Erst jetzt erkannte Tarn, womit Eravier bedroht worden war: Eine Spiegelscherbe, so lang und vielleicht doppelt so dick wie ein Finger, die im Licht der tief stehenden Sonne aufleuchtete. Hatte Jan diese Scherbe die ganze Zeit bei sich getragen? Hatte er sie gefunden? Oder von jemand erhalten, der darauf vertraute, dass er das Richtige damit tun würde? 
„Du wirst noch bereuen, dass du das hier gelassen hast, Jan”, murmelte Eravier grimmig, während er die Scherbe betrachtete. Dann steckte er sie ein, straffte sich und hatte im nächsten Moment rein äußerlich die Fassung zurück erlangt.
„Ich folge ihnen”, verkündete er den übrig gebliebenen Wächtern und erstickte den Protest mit einer Handbewegung im Keim. „Ich will keine Diskussionen hören. Jeder einzelne Mann aus dem Lager wird zum Wachdienst heran gezogen”, fuhr er sachlich fort, während er seinen Mantel auszog und achtlos zu Boden warf. Danach kramte er in einer Tasche, förderte ein Lederband zutage und band sich die wirren Haare im Nacken zusammen, bevor einem Wächter ein geladenes Gewehr aus der Hand zerrte. „Alle verfügbaren Wächter durchsuchen den Wald. Bringt sie mir lebendig, gebt es auch denen weiter, die schon unterwegs sind. Ihr könnt sie anschießen oder ihnen beide Beine brechen, aber wenn ihr sie mir tot bringt, seid ihr dran.” Trotz dieser Drohung wirkte Eravier In diesem Moment gefasster und zielstrebiger als sonst, und Tarn fragte sich unwillkürlich, woran das lag. War es die mühsam beherrschte Wut, die er unter der oberflächlichen Ruhe noch deutlich wahrnahm, oder die Abwechslung von der Eintönigkeit der letzten Tage?
„Tarn”, wandte Eravier sich an ihn, und jetzt war er es, der ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihm direkt ins Gesicht sah. Sein Blick war intensiv und voller mühsam unterdrückter Aufregung. Es war ein unheimlicher Kontrast zu seiner sonst kalten, distanzierten Art.

„Geh’ zu den Pferden. Sie wollen dorthin, aber sie werden nicht den direkten Weg nehmen. Ich lasse dir keine Wächter da, aber damit solltest du keine Probleme haben. Nimm dir Jefrem und die Knechte dazu, wenn es sein muss. Wenn sie dich erreichen, bevor ich sie einhole, weißt du was du zu tun hast.” „Ich halte sie in Schach”, antwortete Tarn sachlich, und Eravier nickte. Für einen Moment stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen, und er sagte leise: „Das lässt alte Zeiten aufleben, was?” Tarn nickte nur, denn alles was er dazu gesagt hätte, hätte ihn verraten. Ja, alte Zeiten. Damals waren sie zu viert gewesen, und es war viel Blut geflossen. Allein der Gedanke daran ließ ihn jetzt schaudern.

Dann ließ Eravier von ihm ab, gab den verbliebenen Wächtern einen Wink, und gemeinsam verschwanden sie zwischen den Bäumen. Von einem Moment auf den anderen war Tarn völlig allein. Er hätte sich gern eine Atempause gegönnt, aber gerade jetzt musste er schnell handeln. 
Deshalb lief er selbst los, umrundete den Pestwagen und wäre beinahe in Karvash hinein gerannt, der mit ein paar kräftigen Knechten im Schlepptau vermutlich gerade überprüfen wollte, was der ganze Lärm zu bedeuten hatte. 
„Guter Gott, Tarn! Was ist geschehen? Wir haben einen Schuss gehört!”, fragte er mit einer kultivierten Besorgnis, die in Tarn den Wunsch weckte, ihn einfach stehen zu lassen. „Zwei Sklaven sind auf der Flucht, unbewaffnet. Eravier hat Order gegeben, dass alle Diener zur Bewachung des Lagers abgestellt werden, alle übrigen Wächter sollen sich der Suche in den Wäldern anschließen. Wir brauchen sie lebend. Das ist alles”, berichtete er knapp und wollte weiter hasten, doch Karvash stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn auf.
„Was soll das heißen, »das Lager bewachen«? Nach wem sollen wir überhaupt Ausschau halten?“, fragte er, und hörte sich dabei fast an wie ein quengelndes Kind, „Und wer koordiniert alles? Wer gibt jetzt die Befehle?“ „Ich weiß nicht, vielleicht findest du einen Knecht, der diese äußerst schwere Aufgabe für dich übernimmt“, erwiderte Tarn unwirsch und schob sich an ihm vorbei. Er hatte keine Zeit und keine Geduld, Karvash mit Samthandschuhen anzufassen. 
Die Männer, die sich um sie versammelt hatten lachten leise auf, und Karvashs Gesicht lief vor Wut und Scham rot an. Doch die spöttische Antwort schien ihn erst recht aufzustacheln - er eilte hinter Tarn her, wobei die Knechte wie eine Schar Küken hinter ihm aufschlossen, und forderte atemlos: „Du wirst hier bleiben und die Sicherung des Lagers überwachen! Ich werde mit einigen Männern gehen und-” „Du kannst mir nichts befehlen, Karvash”, antwortete Tarn ungerührt und setzte seinen Weg fort, durchquerte zielstrebig das Lager. Er war sich bewusst, dass er und Karvash von den Dienern angestarrt wurden, und er hoffte, dass Karvash vernünftig genug war, ihren Streit nicht direkt vor aller Augen weiter auszutragen. 
Doch anscheinend hatte er Karvashs Hunger nach Anerkennung und Autorität unterschätzt, der schon die ganze Reise über in ihm zu schwelen schien und von niemand ernst genommen wurde. Sein gekränkter Stolz verbot ihm scheinbar, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und stattdessen versuchte er, mit einer dramatischen Geste seine Überlegenheit zu demonstrieren.
Er überholte Tarn, stellte sich ihm in den Weg und spie wütend: „Bleib sofort stehen! Du bist nur ein Sklave, du hast den Befehlen deines Herrn zu folgen! Du bist durch dein Brandmahl der Familie Karvash verpflichtet, und nicht diesem dreckigen Ursurpator, unter dem du-”

Er kam nicht weiter, weil Tarn ihm seine Faust ins Gesicht schmetterte. Karvash schaffte es nicht einmal, den Angriff abzufangen, er fiel einfach rückwärts zu Boden wie ein Käfer. Einige der Knechte und Diener um sie herum waren so überrascht, dass sie auflachten, aber das ließen sie schnell wieder sein, als Tarn ihnen einen wütenden Blick zuwarf und sich die schmerzenden Handknöchel rieb. Er hatte völlig die Beherrschung verloren, vermutlich das Ergebnis von zu wenig Schlaf und zu vielen Sorgen, und obwohl der Schlag eine gewisse Befriedigung mit sich brachte, würde er dafür bezahlen. Er brauchte für diese Erkenntnis nicht einmal seinen Verstand einschalten, weil Karvash ihn vom Boden aus hasserfüllt anstarrte und es ihm dramatisch direkt ins Gesicht sagte: „Das wirst du noch bereuen, Sklavenjunge!” „Vermutlich”, stimmte Tarn nüchtern zu, „Aber nicht jetzt.” Damit umrundete er Karvash und verließ das Lager in Richtung des Flusses. Niemand hielt ihn auf.

Während er durch die Dämmerung hastete fragte er sich, was in dieser Nacht noch aus dem Ruder laufen würde. Eravier verletzt, Karvash voller Rachsucht, Jan und Valion auf der Flucht… es konnte kaum schlimmer werden. 
Und er selbst, was sollte er nun tun? Er hatte Jan und Valion laufen lassen, aus einem Impuls heraus. Glücklicherweise war das Chaos zu groß gewesen, als dass jemand sein Versagen bemerkt oder angekreidet hätte, doch die Konsequenz daraus war, dass die Jungen nun außerhalb seiner Reichweite waren, zumindest für den Moment. 
Gleichzeitig ging ihm auf, dass er nichts gewonnen hätte, wenn er Jan und Valion tatsächlich aufgehalten hätte. Sie wären in Eraviers Hände gefallen, und der hätte sie nach diesem Vorfall so lange verhört und gefoltert, bis alles was sie wussten ans Licht kam, darüber machte er sich keine Illusionen.
Was blieb also? Er durfte nicht abwarten, bis die Wächter die Jungen einholten, und gleichzeitig durfte er auch nicht zulassen, dass sie bis zu den Pferden vorstießen. Jefrem war gerissen und einer von Eraviers Günstlingen, aber selbst er konnte die beiden nicht einfach gegen die Befehle laufen lassen oder am Ende sogar mit einem Pferd versorgen. Also musste er es selbst in die Hand nehmen, die beiden im Wald aufspüren und ihnen ein Pferd überlassen, um dann vorzutäuschen sie hätten ihn überwältigt. Es war kein perfekter Plan, aber auch der Einzige, der sich in so kurzer Zeit bewerkstelligen ließ. 

Der Lagerplatz der Pferdeknechte lag diesmal ein wenig weiter abseits, vielleicht dreihundert Meter vom Hauptlager entfernt. Die Sichtlinie war jedoch frei, nur Wiesen erstreckten sich zwischen den Wagen, die nahe der Straße aufgestellt waren, und dem Flusstal, wo die Pferde grasten und die Knechte bereits die meisten ihrer Zelte aufgeschlagen hatten.
Nach Einbruch der Dunkelheit gab es nur noch wenig Austausch zwischen dem Lagerplatz der Pferdeknechte und dem des restlichen Zuges, selbst den Wachdienst übernahmen die Männer hier größtenteils selbst. Sie blieben unter sich.

Hauptsächlich war das Jefrems Werk, da er es nicht mochte, wenn sich die Knechte zu viel mit den Dienern aus dem Zug herumtrieben. So geordnet die Arbeit im Hauptlager von außen auch schien, im Hintergrund spielte sich das ganz normale Leben ab, mit Liebeleien, Betrug, Streit, Alkohol und ein wenig Glücksspiel unter der Hand, und nichts davon fand Jefrems Billigung. Zudem waren er und seine Helfer gezwungen, im Einklang mit dem Tagesrhythmus der Pferde zu leben, während der Rest des Zuges gezwungenermaßen die Nacht zum Tag machte. Wer die wenigen Stunden Schlaf den die Tiere bekamen nicht selbst nutzte, war den anderen am nächsten Tag zwangsläufig eine Last, und Jefrem wollte etwas Derartiges nicht tolerieren.
Als Resultat hatten die Pferdeknechte nicht nur ihre ganz eigenen Verantwortlichkeiten und Tagesrhythmen, sondern auch ihre eigenen Interessen und ihren eigenen Klatsch. Sie standen sich untereinander näher als die anderen Diener und schotteten sich gleichzeitig nach außen ab, und heute war Tarn froh, dass es so war. Für das, was er vorhatte, brauchte er so wenig Zeugen und so viele loyale Unterstützer wie möglich. Was in Jefrems Sichtweite geschah, fand keinen Weg nach außen, dafür sorgte er.

Der Weg über die wilden, ungemähten Wiesen war holprig und übersät mit Steinen, aber dennoch hatte Tarn ihn schnell überwunden. Er machte vermutlich ziemlichen Eindruck, als er im Laufschritt in die kleine Gemeinschaft platzte, denn mehrere der Knechte sprangen bei seiner Ankunft erschrocken auf. „Was ist los?!”, fragte einer, und Tarn schüttelte nur den Kopf. „Holt mir Jefrem her!” „Aber-” „Sofort!” 
Es dauerte keine Minute, da kam Jefrem angepoltert. Anscheinend hatte er sich gerade eine Ruhepause gegönnt und zu Abend gegessen. Er kaute noch und sah ziemlich verärgert aus - niemand der klug war, stellte sich ohne guten Grund zwischen ihn und seine Mahlzeiten. 
„Hier bin ich schon, hier bin ich schon! Zum Teufel, musst du meine Jungs so hoch jagen?”, fragte er unwirsch und meinte damit wohl eher sich selbst als seine Knechte. Tarn zog ihn sofort beiseite, um ihm leise zuzuraunen: „Ich brauche ein Pferd, eine Schusswaffe und eine Wache rund um das Lager und die Pferde. Aber nur deine loyalsten Männer an der Seite zum Wald.” 

Glücklicherweise hatte Jefrem genug praktischen Verstand, sich jegliche Fragen für später aufzuheben. „Danilo, Mischa, Viljo, ich brauche euch noch einen Moment hier. Lias, du sattelst ein Pferd, nimm ein gutes, und bring es her. Marceus, hol mein Gewehr. Der Rest verteilt sich sofort als Wache rund ums Lager - ich brauche mehr Leute bei den Pferden, Mischa, Ich und die anderen zwei übernehmen dann die Seite zum Wald”, kommandierte er ohne Zeitverzögerung. „Was ist passiert?”, fragte einer der Knechte, und Jefrem nickte Tarn zu. 
„Wir haben zwei flüchtige Sklaven”, erklärte Tarn schnell, „Der Wald wird gerade nach ihnen durchsucht. Wir vermuten aber, dass sie versuchen werden ein oder zwei Pferde zu stehlen, um schneller vorwärts zu kommen.” „Sollten wir dann nicht lieber alle zum Waldrand?”, fragte einer der Knechte misstrauisch, aber Jefrem warf ihm einen derartig grimmigen Blick zu, dass er im nächsten Moment nur noch wie ein schüchterner kleiner Junge wirkte.  „Damit sich in der Dunkelheit an uns vorbei schleichen und dann ungehindert zu den Pferden kommen, du Schwachkopf?”, blaffte er ihn an, „Oder damit du dir deinen faulen Arsch vergolden kannst, wenn du die zwei schnappst? Was mich angeht, haben die Pferde Priorität, und genau da wirst du dich hinbewegen! Also halt dein Maul und mach deine Arbeit! Abmarsch!”

Die Knechte fügten sich sofort, wohl aus Angst, noch mehr von Jefrems Zorn zu spüren zu bekommen, und trabten los. Einen Moment später waren sie nur noch zu fünft, und Jefrem schlug einen anderen Ton an. Nur noch umgeben von Vertrauten waren seine Befehle spürbar freundlicher. „Und jetzt nochmal von vorn, was ist überhaupt passiert?”, fragte Jefrem, und Tarn begann ohne Umschweife, den vier Männern die Situation zu erklären, angefangen von Jans Freundschaft mit Valion, bis zu Jans vorgetäuschtem Verrat und ihrer Flucht.

„Der kleine Blondschopf also”, sagte Jefrem nachdenklich, als Tarn schließlich geendet hatte. „Machte auf mich nicht den Eindruck, als würde er irgendetwas riskieren, aber wenn sie zu zweit waren… man kennt das ja. Die Frage ist, was brauchst du jetzt von mir, abgesehen von dem Pferd und der Waffe?” „Nicht viel, keine Bange. Alles was ich will ist, dass ihr die Jungen, falls sie euch über den Weg laufen, zum Waldrand schickt und dort warten lasst.” „Gut, aber was sollen sie dort?”, fragte Viljo. „Ich werde sie dort abfangen und an euch vorbei führen, dann überlasse ich ihnen das Pferd, und-” Er unterbrach sich, denn Marceus trat zu ihnen und brachte Tarn die gewünschte Waffe.
„Sprich ruhig weiter, Marceus ist inzwischen eingeweiht”, sagte Jefrem, „und ihm entgeht sowieso nichts, er ist ein verdammt kluger Kopf.” Er wuschelte Marceus im Vorbeigehen durch das ohnehin schon zerzauste Haar, und aus seiner Stimme klangen Stolz und Zuneigung. Marceus grinste Tarn an und verdrehte die Augen, was vermutlich »typisch Jefrem« bedeuten sollte, und Tarn lächelte zurück. Was seine jüngeren Knechte anging war Jefrem wie eine Bärenmutter - wer einmal seine Sympathie hatte, wurde zwar nicht mit Samthandschuhen angefasst, aber doch behütet und beschützt. Das war Jefrems Vorstellung von Familie, und wenn es nach Tarn ging, war sie auch nicht schlechter oder besser als andere Familien. Er musste es wissen, er gehörte immerhin dazu.
„Sie ist geladen”, sagte Marceus, als er die Waffe übergab. Tarn prüfte sie trotzdem noch einmal, nicht weil er glaubte, dass der Junge einen Fehler gemacht hatte, sondern weil er offensichtlich etwas fragen wollte, aber sich nicht traute es auszusprechen. Die zusätzliche Bedenkzeit schien zu wirken, denn schließlich fragte Marceus: „Kann ich mitkommen? Ich weiß, es ist nicht ungefährlich”, schob er schnell nach, als er Jefrems skeptischen Blick sah, „aber ich bin vorsichtig, und ich kann leise sein. Wenn ich sie finde, kann ich sie sicher bis zum Waldrand bringen.” „Du musst uns nichts beweisen, wenn es dir darum geht”, brummte Jefrem, aber Tarn schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf. Er hatte nur zu gut im Gedächtnis, welchen Eindruck Valion von Marceus nach nur ein paar Stunden gehabt hatte, immerhin hatte er sich die ausführliche Schilderung ihrer Begegnung angehört - diese Sympathie schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. „Ich glaube eher, er will sich als Freund beweisen.” „Viel mehr Gelegenheit dazu werde ich ja sonst nicht bekommen”, stimmte Marceus zu. Jefrem seufzte, aber es war klar, dass er sich nicht weiter sträuben würde. 
„Wartet einen Augenblick, ich hole nur etwas. Nehmt inzwischen das Pferd in Empfang”, sagte er und trabte davon, während Lias mit dem versprochenen gesattelten Pferd auf sie zukam. Es erschien Tarn wie ein gutes Omen, dass es Joshanna war, die Stute, die Valion schon einmal geritten hatte. Mit etwas Glück würde sie ihn diesmal bis in die Freiheit tragen. Er nahm ihre Zügel und tätschelte ihren Hals, und sie schnaubte leise. 
Lias wartete einen Moment ab, ob er weitere Befehle bekommen würde, bis Jefrem zurückkehrte und ihn fort winkte. Er trug einen Mantel über dem Arm, den er Marceus zu warf. „Hier, für dich. Zieh den über und lass dein Gesicht nicht sehen. Damit wir uns verstehen, du wirst dich aus jedem Ärger heraus halten, das heißt, kein Kontakt zu den Wächtern, keine Schlägereien. Wenn, und nur wenn du die beiden findest, bringst du sie bis zum Waldrand und verschwindest. Ich gebe dir eine Stunde, wenn du sie bis dahin nicht findest, kehrst du zurück.” Marceus nickte und streifte sich den Mantel über - er war ihm viel zu groß, aber vermutlich war das besser so, es maskierte seine Statur besser. „Der ist ziemlich schmutzig”, bemängelte er, sah Jefrems Blick und fügte mit einem schmalen Lächeln hinzu: „Ich werde ihn waschen, wenn ich wieder da bin.” „Gerade noch gerettet”, brummte Jefrem, aber man sah das amüsierte Funkeln in seinen Augen.

„Und was dich betrifft-”, wandte er sich an Tarn, der ihn sogleich unterbrach. „Was denn, bin ich nicht etwas zu alt für eine Belehrung?”, fragte er schmunzelnd, und Jefrem konnte nicht umhin ebenfalls zu lächeln. „Fast wäre mir danach, du bist immerhin noch die gleiche Pest wie früher, aber nein, das spare ich mir. Aber ich dachte mir, dass du da draußen mehr brauchen wirst als eine Schusswaffe.” Er zog ein Messer hervor, ein schlichtes Stilett, und Tarn zuckte zusammen. „Bist du sicher, dass du mir das wiedergeben willst?”, fragte er und räusperte sich, weil seine Stimme mit einem Mal belegt war. Wie lange hatte er das nicht gesehen? Es gab einen guten Grund, warum er es Jefrem anvertraut hatte. „Du konntest mit Messern immer besser umgehen als mit Schusswaffen. Ich sage nicht, dass du es benutzen sollst, aber mir wäre wohler, wenn du es dabei hast. Und inzwischen bist du klug genug um zu wissen, wo der Unterschied zwischen einer tödlichen und einer nicht tödlichen Stichwunde liegt.” Tarn nickte unbehaglich, nahm es entgegen und steckte es in seinen Gürtel, dann er wandte sich an Marceus. „Gut. Bist du soweit? Wir gehen das erste Stück des Weges gemeinsam.” Marceus nickte, Tarn griff die Stute erneut am Zügel, und sie gingen los.

Jefrem sah ihnen mit verschränkten Armen nach. Er sorgte sich, das stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Komm, wir müssen unsere Stellung beziehen”, sagte Mischa freundlich. „Sie schaffen das schon.” „Ich weiß, ich weiß… und trotzdem wäre mir wohler, sie nicht da draußen zu sehen, keinen von beiden. Aber so ergeht es einem nunmal, wenn man Kinder hat, das lasst euch gesagt sein. Egal, ob man sie selbst zeugt oder sich nur annimt”, brummte Jefrem und wandte sich ab. „Also los, ab auf eure Posten.”

Es dauerte nur Minuten, bis Tarn und Marceus den Waldrand erreichten, und sie hatten schnell eine markanten Ort gefunden, den sie als Anlaufpunkt für Valion und Jan auswählten. Es war eine Lichtung am Rand des Waldes, die sich an einer Seite zum Flusstal hin öffnete. Junge Bäume und niedrige Büsche säumten sie, doch der steinige Untergrund lag hier teilweise frei und erlaubte nur niedrigen Gräsern, sich festzusetzen. Im Zentrum der Lichtung gab es für einige Meter nur nackten Fels, und Regenwasser hatte sich zu einem flachen Teich in der großen Felswanne gesammelt.
Tarn band die Stute an, die sich sofort wohl fühlte und schnaufend Wasser aus dem Teich trank. „Ich mache mich auf den Weg”, sagte Marceus. Obwohl Jefrem schon genug Anweisungen gegeben hatte, mahnte Tarn noch einmal: „Bleib außer Sicht, das ist das Wichtigste. Dass du zu uns gehörst, wird dich im Zweifelsfall nicht schützen. Wenn du sie nicht findest oder das Gefühl hast dich zu verirren, kehr’ lieber um.” Marceus mussten die Ermahnungen eigentlich schon lästig werden, aber er nickte nur ergeben. Es war vermutlich kein Wunder, dass Jefrem ihn unter seine Fittiche genommen hatte; er war aufmerksam und freundlich, mit einem praktischen Verstand, aber auch einer Prise hintergründigem Humor.  

„Ich mache das schon, keine Bange”, sagte er, aber Tarn sorgte sich trotzdem. Jetzt da er wusste, dass Marceus ein Verbündeter war, war der Drang ihn zu beschützen noch stärker. Er bedauerte, dass er Marceus nicht schon vorher etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte, als er vor etwas über einem Jahr zu Jefrems Knechten hinzugekommen war. Er hatte im Verlauf der Zeit den Kontakt zu Jefrem und seinen Leuten immer mehr verloren, bedingt durch seine Aufgaben und den ständigen Kontakt mit der Rebellion, der jetzt, während der Reise, deutlich reduziert war. Es wurde wohl Zeit, dass er die alten Verbindungen wieder stärker pflegte und sich mehr mit Jefrem austauschte, und in Marceus hatte er vermutlich auch für die Zukunft einen fähigen Verbündeten.
„Ich weiß, du kannst auf dich selbst aufpassen”, sagte er, und trotzdem griff er nach dem Stilett. Im Grunde wollte er es nicht bei sich tragen, also hielt er es Marceus hin. „Hier. Ich denke Jefrem hat dir bewusst keine Waffe gegeben, aber ich meine, du kannst sie brauchen.” „Es gehört dir, oder?”, fragte Marceus, aber er griff danach und ließ es in seiner Hand rotieren. Geübt. Etwas in der Art hatte sich Tarn schon gedacht. Er wusste, nach welchem Muster Jefrem seine Schützlinge aussuchte. Mühsam gezähmte Tiere, die nur noch auf Schläge reagierten, bis jemand kam, der sich nicht fürchtete, Menschen aus ihnen zu machen.


„Ja, es gehört mir, ich habe es Jefrem nur zur Aufbewahrung gegeben. Ich kann damit einiges anstellen, aber genau deshalb möchte ich es nicht bei mir haben.” „Eine Waffe ist ein Feind, selbst für ihren Besitzer”, sagte Marceus und zitierte damit Jefrem, der das immer wieder sagte. „Darf ich etwas fragen?” „Natürlich.” „Hat Valion eine Chance?”


Tarn zögerte für einen Moment, dann sagte er: „Das hängt jetzt von uns allen ab.” Marceus nickte, steckte das Stilett weg, zog sich die Kapuze des Umhangs tief ins Gesicht und ging los. Einen Moment später war er nur noch ein lautloser Schatten zwischen den Ästen des Waldes.

Für Tarn begann die Zeit des Lauschens und Wartens.

Wenn es nach Guy ging, dann war die Suche schon von dem Moment an zum Scheitern verurteilt, an dem sie begann. Er war seit fast sechs Jahren ein Wächter, hatte an mehreren Jagden nach entflohenen Sklaven teilgenommen und kannte sich inzwischen aus. Eine Verfolgung auf dem Flachland, mit festen Landmarken, daraus konnte etwas werden. In der Stadt war die Suche schwieriger, aber irgendjemand hatte immer etwas gesehen und gab die Details heraus, entweder gegen etwas Geld oder nach einer kräftigen Tracht Prügel. 
Aber in einem verdammten Wald? Unmöglich. Zu viele Haufen getrockneten Laubs, zu viele umgestürzte Bäume, dazu die riesigen Felsen überall - praktisch alles bot ein sicheres Versteck. Außerdem war das Gelände hier unwegsam, was das Vorrankommen erschwerte, und nach einer Weile, als Krönung des Ganzen, war Nebel aufgezogen und die Dämmerung setzte ein. Wenn sie eine verdächtige Silhouette im Dunst erkannten, dann war es meistens nur ein anderer Wächter oder ein Baumstamm. Er hatte Levin mehrmals davon abhalten müssen, das erstbeste Ziel über den Haufen zu knallen. 
Levin, das war überhaupt so ein Ärgernis. Er war einer der neu angeheuerten Wächter, und darunter war immer einiges übles Gesindel, selbst nach Guys eher niedrigen Maßstäben. Jemand auf Befehl zusammen zu schlagen gehörte einfach zu den Aufgaben eines Wächters. Aber Levin machte sich einen Spaß daraus, die Sklaven und selbst die Diener unnötig zu schikanieren, selbst wenn sie nur routiniert Wache schoben. Levin war ein Schwein, ein Großmaul, und außerdem legte sich gern mit Schwächeren an. Das fiel ihm gar nicht so leicht, denn im Vergleich zu den anderen Wächtern war er eher schmächtig, doch er hatte dafür einen ziemlichen Schlag am Leib.
Vielleicht war es auch kein Wunder, dass der Sklavenjunge mit seinem Freund abgehauen war - Levin hatte ihm schließlich ordentlich eine reingehauen und ihm dann auch noch mehr Prügel angedroht, das hatte Guy von einem anderen Wächter erfahren, bevor das Chaos ausgebrochen war. Und jetzt schien Levin sich aus irgendeinem Grund sogar darüber zu freuen, dass sie diese beiden Sklaven nachts im nebligen Wald suchen durften. Vermutlich war er scharf darauf, ungestraft ein paar Knochen zu brechen. Das gefiel Guy nicht, er war nicht Wächter geworden, um sich an wehrlosen Jungs zu vergreifen. Himmel, die meisten von denen sahen aus wie Mädchen, wer konnte da guten Gewissens zuschlagen? 
Trotzdem, wenn sie die zwei tatsächlich aufspürten, würde Guy rein aus Prinzip ebenfalls ein paar Treffer landen, nur zur Strafe dafür, dass er stundenlang mit diesem Trottel Levin durch den Wald hatte irren müssen.

„Ich wette wir kriegen sie bald”, sagte Levin schon zum tausendsten Mal. In seinem hässlichen Gesicht zeigte sich schon die ganze Zeit das selbe, schmierige Grinsen, während sie so leise es ging durch den Wald pirschten und auf jedes Geräusch achteten. Eins musste man Levin lassen, er war ausdauernd, Guy ging inzwischen langsam die Puste aus. Trotz ihrer leisen Schritte und der ständigen Ausschau legten sie ein ziemliches Tempo vor. Der Nebeldunst mischte sich mit dem Schweiß auf Guys Rücken und seiner Stirn und lief in kalten Bächen in seinen Nacken und den Bund seiner Hose, und die Feuchtigkeit des Waldbodens kroch in die Stiefel und ließ ihn frieren. 
„Nimm’ endlich das verdammte Gewehr herunter, das ist eine Suche und keine Jagd”, grollte er nun ungehalten, in der Hoffnung, dass er dadurch einen Moment Pause bekommen würde. „Kommt mir aber wie eine vor, und sonst würde es ja auch keinen Spaß machen, oder?”, antworte Levin und grinste noch breiter. Es war unübersehbar, dass ihn das Jagdfieber gepackt hatte, im Gegensatz zu Guy, der sich nur warme Füße und trockene Kleidung wünschte. „Wir jagen sie durchs Unterholz wie das Rotwild. Wir können mit ihnen machen, was wir wollen”, fuhr Levin fort. „Verdammt, ich habe Eravier noch nie so teuflisch wütend gesehen, aber gut für uns. Alles erlaubt, wenn wir sie leben lassen! Wir könnten ihnen die Beine brechen und sie dann vor uns her kriechen lassen, wenn wir Lust dazu haben.” Guy verzog angewidert das Gesicht und schüttelte den Kopf. „So wie du mit deiner Muskete herum fuchtelst, würdest du sie dann im falschen Moment aus reiner Dummheit abknallen. So ein Mist kommt überhaupt nicht in Frage, wir-”

Im selben Moment hielt er inne und lauschte. Er hatte etwas gehört, ein leises, verstohlens Rascheln. Er hob die Hand und brachte Levin zum Halt, der anlegte und völlig voreilig in die Dunstschwaden zielte. Sie harrten aus, lauschten. Da war es wieder, ein Rascheln, und leiser, regelmäßiger Atem, ein wenig zu schnell. Guy sah nichts Verdächtiges, aber rechts von ihm, in kurzer Entfernung, war eine kleine Senke im Schatten eines Felsens, ein ideales Versteck. Er nickte Levin zu und schlich geduckt in auf den großen Stein zu, und jetzt hörte er den Atem deutlicher. Da war jemand.
Ohne dass Guy es wollte, beschleunigte sich sein Herzschlag, und legte noch einmal zu, als er hörte, dass der Atem von mehr als einer Person stammen musste. Innerlich war ihm nach Feiern zumute. Das war es also, das Ende seiner Suche. Er sah sich schon mit einem großen Becher Wein und einem deftigen Abendessen am Feuer sitzen, für den Rest des Abends von seinem Dienst befreit. Vielleicht würde er sogar-
„Kommt raus und ergebt euch!”, brüllte Levin plötzlich und stürmte auf den Felsen zu. Anscheinend hatten die Anspannung der letzten Stunden und die Aufregung über ihre Entdeckung ihn aufgestachelt, denn jetzt ließ er jede Vorsicht fallen. Im nächsten Moment sprang etwas aus den Schatten, und Guy duckte sich gerade noch rechtzeitig. Levin schoss völlig aus Reflex, und die Kugel pflügte keinen halben Meter über Guy hinweg, prallte an dem Felsen ab und schoss als Querschläger davon. Der ohrenbetäubende Krach war nichts im Vergleich zu Guys Wut, als er erkannte, was sie da gestellt hatten - eine großes, schönes Reh war aus dem Schatten geprescht, hinter ihr zwei kleine, verängstigte Kitze. Aufgescheucht von dem lauten Knall stoben sie Haken schlagend durch den Wald davon. In der Ferne hörte Guy einen überraschten Aufschrei, aber weitere Schüsse fielen nicht - da hatte sich jemand besser unter Kontrolle als sein schwachsinniger Kollege, der ihn eben fast erschossen hätte.

Guy wandte sich zu Levin um, packte ihn am Kragen und brüllte ihn an: „Gottverdammt nochmal, jetzt weiß jeder, wo wir sind, du blödes Arschloch! Wenn sie das gehört haben, sind sie jetzt in eine komplett andere Richtung unterwegs!” 
Damit stieß er ihn von sich und stapfte weiter. Sie hätten genauso gut zurück gehen können nach dem ganzen Krach, den sie veranstaltet hatten, aber das hätte auch nur Ärger gegeben. Also waren sie dazu verdammt, bis zum Ende der Suche in diesem nassen, nebeligen, dreimal verfluchten Wald herum zu irren!
Levin machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und klappt ihn dann wieder zu, um beleidigt das abgefeuerte Gewehr zu schultern und hinter seinem Kollegen her zu trotten. Für eine Weile gingen sie nur schweigend weiter und lauschten, aber natürlich hörten sie jetzt, nachdem einem Schuss aus nächster Nähe ihre Trommelfelle betäubt hatte, fast gar nichts mehr.

Guy versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu sammeln. Eines wurde ihm immer klarer, sie würden niemals zu den Jungen aufschließen, wenn sie weiter blindlinks durch den Wald rannten, erst recht nicht, nachdem sie den ganzen Wald aufgescheucht hatten. Statt zu hoffen, ihre Fährte durch Zufall zu finden und ihnen zu folgen, musste er stattdessen vorraussehen, wo sie hingehen würden. Er wusste, dass ihr erstes Ziel die Pferde sein würden, aber was, wenn sie sich um entschieden? Was war die Alternative?

„Der Fluss”, murmelte Guy halblaut. „Was?”, fragte Levin perplex, aber Guy ignorierte ihn trotzig und spann seine Gedanken weiter. Im Notfall würden die Jungen den Fluss überqueren. Für ihre Verfolger war das nicht möglich, zumindest langfristig, der Wagenzug würde einen Strom dieser Größe niemals überwinden können. Ihr erster Anlaufpunkt waren vielleicht die Pferde, aber wenn sie dort kein Glück hatten, würden sie im Schutz des Waldrandes auf den Fluss zugehen und dabei die Ebene im Auge behalten. Also musste er sich dort postieren. Und das Beste war, aus dieser Richtung würden sie keine Wachen erwarten, und genau das würde er zu seinem Vorteil nutzen.
Ein zufriedenes Grinsen schlich sich auf seine Lippen, und zielsicher bog er ab und steuerte auf den Fluss zu, ohne auf Levins Verwirrung wegen der plötzlichen Richtungsänderung zu achten. Mit einem Mal packte ihn das Jagdfieber - er wollte die zwei erwischen, musste sie einfach kriegen. Es waren nur zwei halbstarke Jungen, allein ohne Ziel oder Hilfe, und er war sich fast sicher, dass ihre Angst sie unvorsichtig machte. Er stellte sich vor, wie sie durch den Wald hasteten, hin- und hergetrieben von den umher streifenden Wachen. Ihr Atem musste so schnell und hastig gehen wie der des in die Enge getriebenen Rehs. Vielleicht verbargen sie sich auch genau in diesem Moment hinter einem ähnlichen Felsen, verängstigt, zitternd, darum betend, dass man sie nicht bemerkte. Oder waren sie vielleicht immer noch voller Hoffnung, entkommen zu können? 

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Marceus Auftauchen weckte völlig neuen Mut in Valion. Er war plötzlich so voller Hoffnung, entkommen zu können, dass er zunächst gar nicht bemerkte, wie verwirrt Jan zwischen ihm und Marceus hin- und herblickte. Er setzte gerade dazu an, Marceus mit weiteren Fragen zu überschütten, als Jan mit einer Mischung aus Ärger und Unsicherheit fragte: „Moment mal, du kennst den Kerl? Wer zum Teufel ist das?”

Erst jetzt wurde Valion klar wurde, wie bizarr die Situation für Jan sein musste. In einem Moment hatten sie sich darauf vorbereitet ihren unbekannten Verfolger endlich niederzustrecken, und im nächsten sprach er mit eben diesem Verfolger, als hätten sie nur darauf gewartet, sich genau hier, an diesem Ort und zu dieser Zeit zu treffen.
„Tut mir Leid, Jan, das ist Marceus”, versuchte Valion zu erklären, „er arbeitet für Jefrem, er ist ein Knecht. Ich habe dir von ihm erzählt, er hat mir geholfen die-” „Du hast ihn mal erwähnt”, unterbrach Jan ihn knapp, und Valion war nicht sicher, ob er wütend oder einfach nur verwirrt war. Vielleicht beides. Obwohl er sich ein wenig entspannte, wanderten seine Blicke misstrauisch hin und her, als erwarte er immer noch, sich im nächsten Moment verteidigen zu müssen. Anscheinend traute er dem neuen Frieden überhaupt nicht.
„Ehrlich gesagt kennen wir uns erst ein paar Stunden, aber… wir sind Freunde”, versuchte Valion es weiter, und Marceus stimmte mit einem Nicken zu, aber falls sie gehofft hatten Jan damit zu beruhigen, hatten sie sich getäuscht. Im Gegenteil, bei dem Wort »Freunde« zuckte sein Mund kurz verächtlich, und dann starrte er Marceus feindselig an und fragte harsch: „Gut, aber warum zum Teufel bist du uns gefolgt? Es ist schon schwer genug zu zweit nicht gesehen zu werden, geschweige denn zu dritt. Sag, was du zu sagen hast und verschwinde.”

Für einen Moment war Marceus perplex und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er warf einen Hilfe suchenden Blick zu Valion, der aber auch nur unmerklich mit den Achseln zucken konnte. Jan schien gerade eine spontane Abneigung gegen Marceus zu entwickeln, vielleicht, weil er ihm im Nahkampf auf Anhieb unterlegen gewesen war. Oder weil er sich unnötig vor einem Verfolger gefürchtet hatte, der sich als harmlos heraus stellte? Was es auch war, er musste seinem Ärger anscheinend Luft machen.
Marceus schien das auch zu begreifen. Er versuchte möglichst ruhig und sachlich zu klingen, als er erklärte: „Ich soll euch nur helfen den richtigen Weg zu finden. Der Plan ist folgender: Ich bringe euch bis zum Waldrand, dort wartet Tarn auf euch. Er hat ein Pferd für euch, und dann werdet ihr verschwinden können.” „Tarn… als ob wir ihm trauen könnten”, grollte Jan, und es versetzte Valion ungewollt einen Stich. 
Wo kam das jetzt wieder her? Er war sich bewusst, dass Jan keine Chance gehabt hatte Tarn näher kennen zu lernen, und natürlich wusste er auch nicht, dass Tarn ein Teil der Rebellion war und ihnen helfen wollte. Aber auf der anderen Seite gab es doch überhaupt keinen Streit zwischen ihnen, zumindest soweit er das wusste. 
Aber hatte Jan nicht vor Stunden etwas Ähnliches gesagt? Er war vielleicht nett zu dir, aber du kannst ihm nicht vertrauen. Er hatte es für eine allgemeine Warnung gehalten, einen einfachen Hinweis, aber jetzt fragte er sich, ob mehr dahinter steckte. Was wusste Jan? Es verunsicherte Valion, wie er sich jetzt verhielt.
Marceus wiederum schienen Jans Worte zu verärgern. Seine freundliche Miene erstarrte, und das Lächeln wich aus seinem Gesicht. Stattdessen musterte er ihn jetzt mit einem abschätzigen Blick. „Was weißt du schon?”, fragte er. „Wenn irgendjemand auf eurer Seite ist, dann wohl Tarn. Ihr solltet seine Hilfe nicht mit Füßen treten. Er macht sich Sorgen, und er geht große Risiken für euch ein!”

Jan lachte bitter auf und trat einen aggressiven Schritt auf Marceus zu, der zwar nicht vor ihm zurückwich, aber doch kurz zusammen zuckte. „Auf unserer Seite?”, fragte er aufgebracht. „Warum hat er Valion dann nicht erzählt, dass Eravier mich darauf angesetzt hat Informationen aus ihm herauszuholen, hm?! Warum hatte er vor mich zu erschießen?” „Wann soll er denn versucht haben-”, fragte Valion völlig perplex, aber Jan unterbrach ihn sofort: „Was denkst du denn, wer auf uns gefeuert hat, bevor wir verschwunden sind? Der einzelne Schuss? Ich habe ihn gesehen, und dass er dich oder mich nicht aus dem Weg geräumt hat, war vermutlich nur Teil irgendeines Plans. Tut mir Leid, aber ich bin dafür, dass wir uns weiter allein durchschlagen. Wir brauchen keine Hilfe, von niemand. Tarn verdient dein Vertrauen nicht, und er da erst recht nicht”, schloss er bitter und deutete auf Marceus, dessen Miene sich noch mehr verdüsterte.

Sie warfen sich gegenseitig feindselige Blicke zu, und Valion hätte sie am liebsten geschüttelt und gefragt, was das eigentlich sollte. Sie hatten jetzt keine Zeit für sinnlose Anfeindungen, jeder von ihnen wusste wie sehr die Zeit drängte, und trotzdem standen die zwei sich frontal gegenüber und sahen aus als würden sie sich gleich gegenseitig an die Gurgel gehen wollen. 
Marceus betrachtete Jan voller Verachtung und fragte: „Und warum sollte Valion ausgerechnet dir trauen? Ich kenne Kerle wie dich. Ich war neugierig, wer so wahnsinnig wäre zu versuchen, Eravier mit einer Scherbe die Kehle durchzuschneiden, aber jetzt wird mir einiges klar. Ich glaube Valion ist sich noch gar nicht im Klaren, wozu du fähig bist.” „Was meinst du damit?”, fragte Valion, aber er wurde von beiden ignoriert, stattdessen lachte Jan nur und antwortete gehässig: „Du musst es ja wissen. »Ein Dieb kennt einen Dieb wie ein Wolf den anderen«, was?” „Was soll das heißen?”, fragte Marceus aufbrausend, aber Jan grinste nur abfällig und sagte: „Du hast mich schon verstanden.”

Die Situation wäre fast eskaliert, aber plötzlich wurde die Stille des Waldes von einem Schuss durchbrochen. Vögel flatterten kreischend auf, und dann, bevor sie überhaupt dazu kamen sich gegenseitig entsetzt anzustarren, preschte eine Ricke mit zwei Rehkitzen an dem Felsen hinter dem sie standen vorbei, registrierte erschrocken die Menschen in ihrer Nähe und galoppierte in eine andere Richtung weiter, ihre kleine Familie immer in ihrem Windschatten. Mit einem Satz hechteten die drei Jungen in die Deckung des Felsens und hielten den Atem an. Die Rehe mussten irgendwo den Weg eines anderen Wächters gekreuzt haben, denn in der Entfernung hörten sie einen erschrockenen Aufschrei. 
Für einen Moment hielten sie alle drei den Atem an, aber ein zweiter Schuss blieb aus, und langsam beruhigte sich ihr galoppierender Herzschlag. Sie sahen sich alle gegenseitig an, und jedem von ihnen stand der Schreck ins Gesicht geschrieben. „Das war verdammt nahe”, sagte Marceus und wagte sich ein wenig vor, um hinter dem Felsen hervor zu spähen, aber er sah nichts Beunruhigendes. „Wir müssen weiter, die Zeit wird knapp”, sagte Valion, und Jan nickte widerwillig. „Ja, gehen wir. Aber ohne ihn, und am besten in die entgegengesetzte Richtung.” „Ihr habt keine Chance, wenn ihr versucht allein weiter zu kommen”, hielt Marceus grimmig dagegen. Jan öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber diesmal kam Valion ihm zuvor.

„Was zum Teufel ist eigentlich los mit euch?!”, fluchte er, und die ungewohnte Heftigkeit in seiner Stimme schien sowohl Jan als auch Marceus zu verblüffen, denn sie wurden augenblicklich still. „Wenn ihr euren verdammten Streit austragen müsst, dann tut das getrost ohne mich! Ihr seid mir keine Hilfe, keiner von euch!” Er sah erst Jan, dann Marceus wütend an, und betretenes Schweigen folgte, kombiniert mit unbehaglichem Fingerknacken und intensivem Starren in irgendeine Richtung. Die eigenen Schuhe, der Himmel und willkürlich ausgewählte Baumstämme wurden plötzlich enorm interessant und einer genauen Musterung unterzogen, und Valion hätte beinahe laut gelacht. Er musste gerade wie seine eigene Mutter geklungen haben, wenn sie ihm ordentlich den Kopf wusch.
Gleichzeitig wurde ihm erst jetzt klar, worum es eigentlich ging: Sowohl Jan als auch Marceus wollten die Führung übernehmen. Vom ersten Moment an bekamen sich darüber in die Haare, wer eigentlich das Sagen hatte und die letztendliche Entscheidung über das weitere Vorgehen traf. Valion gestand sich ein, dass er die Sache nicht gerade vereinfacht hatte - erst hatte er sich von Jan führen lassen, dann hatte er die Verantwortung sofort Marceus übertragen, als er aufgetaucht war, und Jan damit verwirrt. 

Es half wohl nichts, er musste selbst das nächste Ziel vorgeben, sonst konnten sie noch die ganze Nacht am selben Fleck stehen. „Wir gehen zu Tarn. Keine Diskussion”, sagte er und erstickte Jans Protest im Keim. „Marceus, wo treffen wir ihn?” „Es ist eine Lichtung am Waldrand. Wenn du sie siehst, erkennst du sie, in der Mitte liegt ein kleiner Teich und der Boden ist sehr steinig. Ihr müsst dem Fluss folgen, bis das Weideland beginnt, und dann ein Stück am Waldrand entlang”, erklärte Marceus. Valion nickte und sagte: „Gut, wir gehen dorthin. Aber wir werden den Weg selbst finden. Marceus, du deckst uns den Rücken und verschwindest bei der ersten Gelegenheit.” Marceus verzog ein wenig das Gesicht, was Jan ein schmales Grinsen entlockte, und für einen Moment betrachteten sie sich grimmig, aber Valion gab ihnen mit einem Blick zu verstehen, dass er keine weiteren Streitereien dulden würde, und so nickten sie nur stumm. Zu dritt wagten sie sich aus dem Schatten des Felsens und setzten ihren Marsch fort. 

Um die verlorene Zeit aufzuholen legten sie jetzt ein hohes Tempo vor, und obwohl Valion gern Marceus die Führung überlassen hatte, ging er zielstrebig vorran. Seine Orientierung hatte ihn bisher nicht getrogen, dann musste sie jetzt auch bis zu ihrem Ziel genügen. Irgendwann, während er wieder einmal scheinbar willkürlich abbog, sagte Marceus leise zu ihm: „Bevor ich euch gefunden habe war ich besorgt, wie weit ihr vom Weg abgekommen seid, aber das war wohl unbegründet.” „Er ist halt nicht blöd”, grummelte Jan leise, bevor Valion sich bedanken konnte, und Marceus rollte nur mit den Augen und sagte nichts weiter dazu. Die Stimmung zwischen den Beiden änderte sich auf ihrem Weg kein Bisschen, im Gegenteil, sie belauerten sich stumm.

Das Rauschen des nahen Flusses schwoll zu einem immer stärkeren Tosen an, und als sie schließlich darauf stießen, war Valion überrascht zu sehen, dass das Flachland hier abrupt endete. Das gegenüberliegende Ufer war steinig und steil, und der Fluss wälzte sich durch einen tiefen Einschnitt im Gestein. Es war ein wilder, gefährlicher Lauf voller Stromschnellen und abgebrochener Felsspitzen, die zur Schneeschmelze jedes Jahr aufs neue ins Flussbett abrutschen mussten. Zum Flachland hin sank das Gelände dafür überwiegend gleichmäßig ab, und nur die vielen Felsen und Bänke voller grob zertrümmertem Gestein gaben Aufschluss darüber, wie weit der Fluss bei Hochwasser bis zum nahen Wald reichen musste. Valion sah nun, dass es unmöglich war den Wasserlauf mit Pferden zu überqueren. 
Zumindest hatten sie anscheinend ein gutes Stück weg gespart, denn der Wald war hier schon wesentlich lichter und verwandelte sich auf den nächsten hundert Metern in Weideland. Sie mussten jetzt nur noch dem Saum des Waldes folgen, um in kürzester Zeit auf Tarn zu stoßen. 

„Wir sind fast da”, sagte Valion ermutigt und wandte sich zu Marceus und Jan um, die ebenso wie er auf den Fluss blickten, beide offenbar mit gemischten Gefühlen. Jan jedenfalls schien Valions Gedankengänge geteilt zu haben, denn er sagte missmutig: „Zumindest können wir uns den Versuch sparen, über den Fluss zu kommen. Das Flachland, oder nirgendwohin.” „Sieht ganz so aus. Verlieren wir nicht noch mehr Zeit”, stimmte Valion zu und wollte sich zum Gehen wenden, doch Marceus schüttelte den Kopf und machte keine Anstalten, ihnen zu folgen. „Ab jetzt seid ihr auf euch allein gestellt. Ich wünschte, ich könnte euch weiter begleiten, aber ich muss zurück - Befehl von Jefrem.”
„Wurde auch Zeit”, brummte Jan, aber Valions Laune sank beträchtlich. Er hatte gehofft, den Moment des Abschieds noch hinauszögern zu können. Wenn sie sich von Marceus trennten, dann würde Valion ihn vermutlich niemals wiedersehen. Auch wenn sie nicht viel Zeit miteinander verbracht hatten fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass er diese gerade erst geschlossene Freundschaft so schnell wieder verlieren sollte.
„Und du willst wirklich nicht mitkommen? Ich meine, nicht nur bis zu Tarn, sondern weiter…”, versuchte Valion es noch einmal, aber Marceus schüttelte nur den Kopf. „Du weißt doch, wie ich dazu stehe. Meine Freiheit-” „-ist nicht viel wert, ich weiß”, beendete Valion resignierend seinen Satz. Natürlich wusste er wie Marceus zu diesem Thema stand, und er gestand sich außerdem widerwillig ein, dass sich der Konflikt zwischen Marceus und Jan bei einer gemeinsamen Flucht mit der Zeit nur verschlimmern würde. Wie er es auch drehte und wendete, es gab keinen Grund für Marceus, sie weiter zu begleiten.

Unsicher trat Valion auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin, und Marceus ergriff sie, drückte sie kräftig und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Zieh’ nicht so ein Gesicht. Du kommst frei, das ist das Wichtigste. Vielleicht, in ein paar Jahren, wenn Gras über alles gewachsen ist, hast du mal Zeit und Muse, mich in der Hauptstadt zu besuchen. Sklave hin oder her, dann schleiche ich mich raus und wir gehen einen heben.” 
Das klang, als würden sie sich verabreden statt über eine ungewisse Zukunft sprechen, in der Valion und Jan mit viel Glück entkamen. Aber vielleicht gab es Valion gerade deshalb Kraft. Für Marceus war ihre erfolgreiche Flucht beschlossene Sache, etwas, mit dem man jetzt schon rechnen konnte. Wenn er so viel Vertrauen in sie hatte, konnte dann überhaupt noch etwas schief gehen?
„Einverstanden”, sagte Valion und lächelte, und unvermittelt zog Marceus ihn in eine kurze Umarmung. Jan machte einen hastigen Schritt nach vorn und wollte etwas sagen, aber da hatte Marceus Valion schon sanft wieder von sich geschoben. „Keine Bange, niemand spannt dir in den letzten Minuten noch deinen Freund aus”, sagte er mit einem leicht spöttischen Lächeln, und Valion wurde erst jetzt bewusst, dass er Marceus nie von sich und Jan erzählt hatte und er trotzdem Bescheid zu wissen schien. 

„War’s das?”, fragte Jan schneidend und trat demonstrativ neben Valion, um seine Hand zu ergreifen. „Fast”, antwortete Marceus, und zu Valions Überraschung wandte er sich jetzt direkt an Jan, zog ein langes spitzes Messer aus seinem Gürtel und reichte es ihm.
„Hier, das ist für dich.” Jan versuchte gleichzeitig sein Misstrauen aufrecht zu erhalten und sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, aber es gelang ihm nicht ganz. „Was soll ich mit dem Käsemesser?”, fragte er abwehrend, und trotzdem nahm er das Stilett am Heft entgegen und wog es prüfend in der Hand. „Wie sagtest du noch? »Ein Dieb kennt einen Dieb wie ein Wolf den anderen«?”, fragte Marceus und lächelte schmal. „Guter Spruch. Sehr treffend, ich gebe es zu. Und deshalb weiß ich auch, dass du mit dem Messer umgehen kannst. Du kannst es sicher besser gebrauchen als ich, du hast noch einen weiten Weg vor dir. Beschütze ihn damit”, sagte er und deutete mit einem Nicken auf Valion. „Nicht, dass ich dir nicht zutraue, dich zu verteidigen”, sagte er in einem entschuldigenden Tonfall an Valion gewandt, „aber ich glaube Messerkampf zählt nicht unbedingt zu deinen Stärken.”
Aber zu euren?, dachte Valion verwirrt, und plötzlich wurde ihm noch etwas über Marceus und Jans Rivalität klar - in bestimmten Eigenheiten schienen sie sich erschreckend ähnlich, und das stieß sie voneinander ab. Irgendetwas verband sie miteinander, auch wenn er sich sicher war, dass sie sich zuvor niemals gesehen hatten. Es war nur eine Intuition, zu vage, als dass er den Finger darauf legen konnte, aber er war sich sicher, dass er sich nicht täuschte. 

Dann nickte Jan, und es war, als hätten er und Marceus eine geheime Abmachung getroffen, denn mit einem Schlag ließ die Feindseligkeit, die zwischen ihnen stand, spürbar nach. „Danke”, sagte Jan knapp, aber nicht unfreundlich, „Ich schätze, damit hast du was gut bei mir.” „Zieh’ die Ohrfeige von vorhin ab, und wir sind quitt”, sagte Marceus mit einem Grinsen, dann zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht, und sie trennten sich ohne ein weiteres Wort des Abschieds. Valion und Jan folgten dem Waldsaum in Richtung Westen, und Marceus bewegte sich am Ufer des Flusses entlang Richtung Norden.


Marceus beeilte sich, vorwärts zu kommen. Die Zeit wurde knapp, und bisher war er nur durch Glück und Zufall entkommen. Die Dämmerung war zwar auf seiner Seite, aber mit jeder weiteren Stunde würden die Wachen den Kreis enger ziehen und sich weiter auf den Waldrand zu bewegen, und das verminderte seinen Spielraum. Er plante, eine Weile tiefer in den Wald hinein zu laufen, dann in einem weiten Bogen die Lichtung zu umgehen, die Tarn als Treffpunkt ausgesucht hatte, um schließlich zum Lager zurückkehren.

Obwohl er sich eigentlich auf seinen eigenen Weg konzentrieren wollte, war Marceus abgelenkt. Er dachte an Valion und an sein Angebot, ebenfalls die Chance zur Flucht zu nutzen. Valion hatte es vermutlich gar nicht bemerkt, aber er hatte tatsächlich einen Moment gezögert. Dann hatte er Jans eisigen Blick bemerkt und gewusst, dass er keine Entscheidung zu treffen hatte, sondern nur das Richtige zur richtigen Zeit sagen durfte. Hätte er nicht abgewiegelt, hätte Jan dafür gesorgt, dass sein Ausflug in die Freiheit ein kurzes und schmerzhaftes Ende fand, und das war es, was Marceus so besorgte.
Jan war nicht nur eifersüchtig, er war beinahe rasend vor Angst, dass Valion ihm entglitt. Eine kurze und freundschaftliche Umarmung hatte schon ausgereicht, ihn völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wie berechtigt oder unberechtigt seine Angst war, vermochte Marceus nicht zu sagen, auch wenn er nicht das Gefühl gehabt hatte, dass Valion besonders flatterhaft oder gar unehrlich war, im Gegenteil. Und es fehlte ihm auch nicht an Zuneigung gegenüber Jan, deshalb war es ja auch nicht schwer zu erraten gewesen, wie die beiden zueinander standen. Valion war in seinem Gebaren noch relativ zurückhaltend, aber Jan hätte genausogut ein Banner tragen können, auf dem in großen Buchstaben »Finger weg, meins!« prangte. Er schien von der Angst getrieben, dass er Valion auf dem Weg verlieren würde, obwohl Marceus nicht klar war, was er genau fürchtete: dass Valion ihn zurücklassen würde, oder doch eher, dass er einfach aufgeben und die Flucht abbrechen würde.

Er fragte er sich, ob Valion bewusst war, wie gefährlich Jans Angst nicht nur für ihre Gegner, sondern auch für sie beide war. Sie konnte sich gegen sie richten, sie entzweien und sogar gegeneinander ausspielen. Vielleicht würde ihre Verbindung schon zerbrechen, bevor sie überhaupt die nächste Stadt erreichten, aber wenn Marceus ehrlich war, war ihm das im Grunde nur Recht. Jan war kein Umgang für Valion, genausowenig wie er selbst. 
Er dachte daran, wie er und Jan sich gegenüber gestanden und sofort erkannt hatten, auch ohne dass sie sich jemals zuvor gesehen hatte. Man sah es an den Augen, in den Gesten, der Art, wie die Waffe in der Hand lag. „Ein Dieb erkennt einen Dieb…”, murmelte er abwesend, aber sie waren mehr als das. Man konnte einem Menschen mehr stehlen als seine Habseligkeiten. Sein Leben zum Beispiel.
Vielleicht hätte er Valion warnen sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht hätte er ihn ausgelacht oder seine Worte einfach ignoriert, denn was hatte Marceus schon als Beweis? Eine vage Ahnung, die sich auf seiner eigenen, dunklen Vergangenheit gründete? Und vielleicht war es Valion sogar bewusst. Wer konnte das schon sagen?

So oder so, es war zu spät, er war aus dem Spiel. Was auch immer diese Nacht geschehen würde war jetzt außerhalb seines Einflusses. Alles weitere lag jetzt in Tarns Händen.

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Die Wärme des Tages schwand mit jeder Minute, und eine kalte Nacht kündigte sich an, ein verfrühter Vorbote des Herbstes. Obwohl der Waldboden immer noch von Nebel verhüllt war, war der Himmel klar und blau, und die ersten Sterne zeigten sich. 
Tarn betrachtete die Sternbilder, während er lauschte und in der unerwarteten Kälte fror. Das Herbstviereck war schon im Nordosten sichtbar, auch wenn es noch eine Weile dauern würde, bis es über den Himmel zog. Er sah Wega und Deneb und erkannte schließlich den Schwan und die Leier. Früher hatte er die Sterne gern betrachtet, aber irgendwann hatten sie ihren Reiz verloren. Sie waren schön, aber gleichgültig, es fehlte ihnen an Wärme. Das Himmelszelt war groß, fern und unwirklich, und ein paar Lichter in der Dunkelheit machten kaum einen Unterschied, taugten nur als Zeitvertreib. Doch wenn er sich nicht ablenkte, kreisten seine Gedanken unablässig um die Frage, wo Valion jetzt war. War er gefangen genommen worden? Immer noch auf dem Weg? Hatte er sich verirrt, hatte Marceus ihn nicht aufspüren können? War er vielleicht bis zu den Pferden gekommen und jetzt auf dem Rückweg zum Wald? Er konnte nur einsam in der Kälte ausharren, und die Zeit verging quälend langsam.

Nur dass er nach einer Weile gar nicht mehr so einsam war.

Vielleicht war zu sehr in seine Gedanken versunken gewesen und hatte den Neuankömmlings nicht bemerkt, aber eigentlich glaubte Tarn das nicht. Das Bewusstsein, dass sich irgendjemand in seiner Nähe aufhielt, war nur ein unterschwelliges Gefühl, und hätte er nicht still ausgeharrt, hätte er es vermutlich übersehen oder ignoriert. Es war das vage Wissen, beobachtet zu werden, obwohl er nur das leise Rauschen des Waldes hörte und die einzige Bewegung in seinem Blickfeld die schwankenden Äste der Bäume waren. Jemand war bei ihm. Er kannte nur eine Handvoll von Personen, die auf diese Weise unsichtbar sein konnten, und sie alle waren Spione der Rebellion. 

Tarn wusste, dass neben den verdeckten Sympathisanten der Rebellion nur ein ausgebildeter Spion im Wagenzug mitreiste, der den Kontakt zu ihren Verbündeten hielt und Befehle übermittelte. Tarn kannte weder seine wahre Identität noch sein Gesicht, nur den Namen, mit dem er sich ansprechen ließ: Fourmi.
Von ihm hatte er die verdeckte Weisung erhalten, Valion zu überwachen und unter allen Umständen dafür zu sorgen, dass er am Leben blieb, noch bevor er gebrandmarkt worden war. Genauso anonym war er zu dem Treffen im Haus von Valions Eltern beordert worden, wo er Fourmi das erste Mal persönlich gegenüber gestanden hatte, statt nur seine Befehle entgegen zu nehmen. Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte er sein Gesicht nicht gesehen, und eine äußerst knappe Vorstellung und die Bekanntgabe, dass sie zusammen über Valion wachen würden war alles, was er an Informationen erhalten hatte.

Tarn wusste, dass ihre Zusammenarbeit nicht in Fourmis Interesse liegen konnte, denn der schützte seine Identität äußerst sorgfältig. Dass er überhaupt in direktem Kontakt mit Tarn treten musste war für ihn genauso unerwünscht wie unumgänglich, da von höherer Stelle befohlen. 
Tarn wiederum traute Fourmi trotz seiner Kontakte zur Rebellion nicht. Der Spion kam und ging, wie es ihm gefiel, legte keine Rechenschaft ab und kommunizierte nur das Nötigste. Es gab keinen Austausch und keine Kooperation zwischen ihnen, nicht einmal nach der kurzen Begegnung im Haus von Valions Eltern. Nach diesem Treffen hatten sie sich nur zu zwei Gelegenheiten für einige Sekunden gesehen, und ein paar andere Male hatte Tarn vage geahnt, dass Fourmi sich in der Nähe befinden musste, aber sich vor ihm verbarg. Es gefiel Tarn nicht, dass er nicht in seine Aufträge eingeweiht war und dass der Spion nicht nur Valion, sondern auch ihn selbst zu überwachen schien. Es bestätigte ihm nur, was er schon lange vermutete: die Rebellion traute ihm längst nicht mehr so sehr wie früher.

„Ich weiß, dass du hier bist, Fourmi”, sagte Tarn leise, „Wir sollten reden.” 
Niemand antwortete, und das beunruhigte ihn. Er wandte sich noch einmal um, sah immer noch niemand, und plötzlich beschlichen ihn Zweifel. Wer war hier bei ihm? Tatsächlich Fourmi? Und wenn ja, warum zeigte er sich nicht? Wenn nein, wer lauerte ihm dann hier auf?
Er versuchte es noch einmal, während er sich unsicher im Kreis drehte, und aus seiner Stimme sprach Irritation, als er in die Stille hinein fragte: „Was soll das? Wer ist da?” Zu einem weiteren Wort kam er nicht, weil ein gesichtsloser Schemen aus dem Schatten eines Baumes sprang und ihm die Faust in die Magengrube rammte.

Tarn hatte alles erwartet, aber nicht das, und er verdankte es nur seiner jahrelangen Erfahrung, dass er die Muskeln reflexartig anspannte. Trotzdem trieb ihm der Schlag fast die Luft aus den Lungen, und er strauchelte einen Schritt rückwärts. Instinktiv griff er nach dem Stilett und erinnerte sich zu spät, dass er es Marceus gegeben hatte.
Fourmi ließ ihm keine Zeit seine Überraschung zu überwinden, schlug ihm die Schusswaffe aus der linken Hand und gab ihm einen Stoß, der ihn aus dem Gleichgewicht bringen sollte, aber Tarn warf sich dagegen und griff nach der Kehle seines Angreifers. Seine Hand wurde abgewehrt, und Fourmi holte aus um ihm einen Kinnhaken zu geben, doch Tarn blockte den Schwinger mit seinem Arm und schlug ihm stattdessen mit der flachen Hand ins Gesicht. Diesmal ließ er seinem Gegner keine Zeit für einen Gegenangriff, trat nach seinem Schienbein und nutzte den Moment in dem Fourmi zurück sprang, um die Muskete vom Boden zu greifen. Er würde auf diese Entfernung nicht dazu kommen zu schießen, aber er konnte damit zuschlagen. Fourmi erkannte seinen Nachteil, griff nach seiner Gürtelscheide, zog ein Dolchmesser hervor und ging damit auf Tarn los. Er hielt sich nicht mit Finten auf, er führte einen geraden Stich in Tarns Richtung, und als er bemerkte, dass Tarn plötzlich grinste, war es bereits zu spät. Fourmi wusste es nicht, aber mit einem Messer würde er ihn nie besiegen.
Tarn versuchte gar nicht erst, mit der Muskete zu kontern, er ließ sie fallen, packte Fourmis Handgelenk, nutzte seinen Schwung aus um sich unter seinem Arm weg zu ducken, riss diesen dann nach hinten und schickte Fourmi auf die Knie. Es war ein einfacher Trick, aber Fourmi hatte ihn nicht kommen sehen, genauso wenig wie den Schmerz, als sein Arm mit einem Knacken zwischen Tarns Händen brach. 

Er schrie auf und ließ das Messer fallen, aber Tarn ließ ihn nicht los. Ein gebrochener Arm bedeutete in diesem Moment gar nichts; wenn er nur eine Sekunde nachlässig wurde, würde er es sofort bereuen, und deshalb schickte er einen Tritt in die Nieren hinterher. Erst als er einen gequälten Aufschrei hörte war er sicher, dass keine Gegenwehr mehr zu erwarten war, und verspätet begann sein Herz zu rasen. Was war hier passiert, und warum?

„Los, töte mich schon, du verdammter Verräter, das ist deine letzte Chance davon zu kommen”, spie Fourmi aufgebracht, und Tarn glaubte sich zu verhören. „Verräter? Gilt es schon als Verrat, sich zu verteidigen?”, fragte er wütend und verdrehte Fourmi den Arm noch weiter, sodass er gequält aufschrie. „Ich dachte eigentlich, wir hätten diese Nacht Besseres zu tun, als uns gegenseitig außer Gefecht zu setzen”, fuhr er grimmig fort. „Du hast all unsere Pläne ruiniert, das sollte dir doch klar sein! Dachtest du wirklich, die Rebellion lässt zu, dass du damit durchkommst?”, fragte Fourmi mit gepresster Stimme. Die Schmerzen in seinem Arm mussten höllisch sein, doch obwohl Tarns griff ihn eigentlich zu Boden zwingen musste, hielt er sich erstaunlicherweise fast aufrecht. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst”, knurrte Tarn, und Fourmi schnaubte ungläubig. „Ach nein? Dann lass mich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, was wir vor ein paar Tagen mit Abstimmung beschlossen haben”, sagte er zähneknirschend, und trotz seiner Schmerzen war seine Stimme jetzt sogar spöttisch. „Valion sollte völlig unbehelligt bleiben, mindestens bis wir Lutejia erreichen. Aber nach ein paar Tagen in deiner Obhut weiß er nicht nur über alles Bescheid, sondern lässt sich mit anderen Sklaven ein und nutzt die erstbeste Gelegenheit zur Flucht, um die ganze Aufmerksamkeit auf die Rebellion zu ziehen! Ist dir überhaupt klar, was das für uns bedeutet?!”

Tarn lauschte den Worten mit versteinerter Miene. Obwohl er keinen Grund dazu hatte, fühlte er sich schuldbewusst - er stimmte mit vielen Zielen der Rebellion überein, aber den Plänen, die Valion betrafen, hatte er nie etwas abgewinnen können, und ja, vielleicht hatte er etwas dazu beigetragen, dass Valion jetzt auf der Flucht war und sie in Gefahr waren, entdeckt zu werden. Es war naiv gewesen anzunehmen, dass seine eigenen Pläne nicht irgendwann mit denen der Rebellion kollidieren würden. Auf der anderen Seite war es befreiend, all diese Anschuldigungen endlich zu hören, statt auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden und die stille Missbilligung zu fühlen.

„Es bedeutet vermutlich, dass du beschlossen hast mich besser aus dem Weg zu räumen”, murmelte er mehr zu sich selbst, und Fourmi lachte unter Schmerzen. „Dachtest du, nur weil du Eravier überwachst, wärst du unersetzlich? Du hast dich schon lange auf dünnem Eis bewegt, Tarn, aber alles hat seine Grenzen. Die meisten sind der Ansicht, dass du nicht mehr objektiv urteilst. Du bist für uns nutzlos geworden, zumindest auf dieser Position. Du hast zu viele Verbindungen zu den Leuten hier, und die meisten sind nicht einmal Teil der Rebellion, ganz zu schweigen von Eravier.
Aber dein letzter Fehler war, dass du Jan nicht aus dem Weg geräumt hast, als du die Gelegenheit dazu hattest. Hättest du deine Pflicht erfüllt, wären wir jetzt nicht gezwungen, unser Küken unter diesen unmöglichen Bedingungen wieder zurück ins Nest zu setzen und zu hoffen, dass es keiner bemerkt!” „Mit Jan aus dem Spiel hätte sich Eraviers Zorn auf Valion konzentriert, und das sollte ich schließlich verhindern”, konterte Tarn kalt. Plötzlich ergriff ihn nicht nur Wut über den Angriff auf ihn, sondern auch darüber, wie Fourmi über Valion sprach. „Und was den Jungen betrifft, war wirklich alles mein Fehler, Fourmi?”, fragte er grimmig und drehte Fourmis Arm weiter herum. Es war unter der Kapuze kaum sichtbar, aber langsam wurde das Gesicht des Spions kalkweiß. Vielleicht würde er vor Schmerz bald in Ohnmacht fallen, und es war Tarn in diesem Moment völlig egal. „Oder habt ihr Valion einfach nicht so unter Kontrolle, wie ihr dachtet? Habt ihr wirklich geglaubt, dass er sich tot stellt, bis ihr eine Verwendung für ihn findet? Dachtet ihr, dass er das mit sich machen lässt? Ausgerechnet ihr Sohn?”

Fourmi gab einen gurgelnden Schrei von sich, und Tarn ließ seinen Arm endlich los, nicht aus Mitleid, sondern aus Desinteresse. Die Rebellion war nun also gegen ihn - damit würde er sich zu gegebener Zeit beschäftigen, aber nicht jetzt. „Verschwinde, bevor ich dich wirklich töte”, sagte er kalt, und Fourmi kroch ein Stück von ihm zurück, aber er floh auch nicht. Anscheinend hatte er noch nicht alles gesagt. „Ich habe dich vielleicht nicht erwischt, aber glaube ja nicht, dass du damit in Sicherheit bist. Für den Fall meines Versagens steht schon jemand bereit, der dir das Licht ausbläst”, sagte Fourmi keuchend, aber in seiner Stimme lag auch Häme. Er wusste, dass er über kurz oder lang gewinnen würde, und das trieb Tarn zur Weißglut. „Denkst du das macht mir Angst?”, fragte er wütend und versetzte dem Spion einen heftigen Tritt in die Rippen, der ihn zurückwarf, aber Fourmi lachte ihn nur aus. „Das sollte es, ja, und deshalb habe ich auch ein Angebot für dich. Du kannst immer noch deinen Hals retten”, sagte er und richtete sich stöhnend wieder auf. „Es war eigentlich meine Aufgabe, aber wenn du es an meiner statt erledigst, muss ich dich nicht töten…”
Das war ganz eindeutig ein Ausweichplan; Fourmi hatte nicht damit gerechnet, den Tag mit einem gebrochenen Arm und geprellten Nieren zu beenden, und sie beide waren die einzigen, die genug ausrichten konnten um das Blatt an diesem Abend noch zu wenden. Einerseits verabscheute er dieses kriecherische Angebot, aber gleichzeitig hatte er es vermutlich bitter nötig, wenn er jetzt tatsächlich auf der Abschussliste stand.
„Was soll tun?”, fragte Tarn schneidend, und Fourmi grinste unter seiner Kapuze. „Wenn du es schaffst, dass Valion wieder gefangen genommen wird und bis morgen alles wieder beim Alten ist, dann lassen wir dich laufen. Du wirst nur aus der Rebellion ausgestoßen, aber du wirst leben.”

Tarn sah ihn nur grimmig an, und Fourmi kroch sogar noch einen Schritt weiter vor ihm zurück, den gebrochenen Arm an der Seite haltend. Dennoch hatte er in diesem Moment die ganze Macht, und das wusste er. Er würde entscheiden, ob Tarn auf der Abschussliste der Rebellion landete - entweder durch seinen Befehl, oder durch die Nachricht seines Todes.

Es war eine schreckliche Wahl. Er konnte Valion verraten und sein eigenes Leben schützen, oder er konnte ihm in dieser Nacht zur Flucht verhelfen und sein eigenes Todesurteil unterzeichnen. Wenn er verneinte, oder Fourmi zur Hölle schickte, dann war er nicht einmal mehr an Eraviers Seite sicher. Es gab tausende Wege, einen Abtrünnigen zu beseitigen. Ein Messer im Dunkeln, Gift im Essen, eine Schlange im Bett… am Ende würde ihm nur die Flucht bleiben.
Wenn er leben wollte, gab es im Grunde nur einen Ausweg. Und rational betrachtet war es unerheblich, wie oder wann Valion die Möglichkeit zur Flucht bekam. Er konnte jetzt fliehen, oder in einem Monat, oder erst in einem Jahr. Tarn hatte die Mittel dazu, notfalls auch ohne dass Eravier und die Rebellion jemals etwas davon erfuhren., auch auf eigene Faust, wenn es darauf ankam. Aber es ging nicht nur um Valion, nicht wahr?
„Was habt ihr mit Jan vor?”, fragte er, und Fourmi zuckte mit den Schultern, desinteressiet. Eins war sicher, Jan war nicht Teil des Plans, war es nie gewesen. „Ob er lebt oder stirbt, ist für uns nicht relevant. Schaff ihn aus dem Weg. Häng’ ihm bestenfalls die Verbindung zur Rebellion an, das wird Valion entlasten.”

Es klang so einfach, und trotzdem drehte sich Tarn bei dem Gedanken, dieses Vorhaben umzusetzen, der Magen um. Es war Verrat. Es spielte keine Rolle, ob er es nur zu seinem eigenen oder Valions Besten tat.

Aber war er nicht der geborene Verräter?

„Ich tue es”, sagte er grimmig, und als Fourmi erleichtert ausatmete, griff er ihn an seinem Umhang und riss ihn auf die Füße. Er hätte es gern darauf ankommen lassen und ihm die Luft abgeschnürt, bis er tot zusammenbrach, doch stattdessen schob er die Kapuze zurück, unter der sich das gut gehütete Geheimnis von Fourmis Identität verbarg. Es war eine viel größere Genugtuung, sich das bleiche, ängstliche Gesicht einzuprägen. Keine Versteckspiele mehr, er wusste nun, wer ihm so lange Zeit aufgelauert hatte, und er sah in Fourmis Gesicht, dass ihm bewusst war, dass Tarn ihn erkannte. „Du verdammter Bastard”, fluchte er, und Tarn lächelte ihn nur spöttisch an und stellte ihn auf die Füße.

Es war die perfekte Demütigung, und fast sah es so aus, als würde Fourmi sich trotz seines gebrochenen Arms auf Tarn stürzen und ihm den Garaus machen wollen, doch in diesem Moment hörten sie plötzlich beide die Stimmen und Schritte zweier Wachen, die aus dem Nebel gelaufen kamen. 
Tarn wandte sich mit dem Oberkörper halb zu ihnen um, und ironischerweise war Fourmi aus den Augen zu lassen das Beste, was er tun konnte. In der Sekunde, in der er sich abwandte, erhielt er zum zweiten Mal an diesem Tag einen Schlag in den Magen, und diesmal versagten seine Reflexe. Der Schmerz explodierte regelrecht in seinem Körper, trieb ihm die Luft aus den Lungen und ließ ihn zu Boden gehen, während Fourmi auf dem Absatz kehrt machte und zwischen die Bäume in die Sicherheit des Waldes hechtete. Es war ein Vergeltungsschlag gewesen, aber ohne es selbst zu realisieren hatte er Tarn damit das perfekte Alibi geliefert. Er hatte sich mit einem Rebell geschlagen, vor Zeugen, war angegriffen und zu Boden geschickt worden. Gab es etwas Besseres, als seinen Ruf als loyaler Anhänger von Eravier zu sichern?

„Stehen bleiben!”, brüllte einer der Wächter und feuerte seine Waffe auf den fliehenden Rebellen ab, während der andere im Laufschritt zu Tarn eilte, sich zu ihm herunter beugte und fluchend fragte: „Verdammt, wer war der Bastard? Was zum Teufel ist denn heute los?!” Tarn erkannte ihn trotz der Schmerzenstränen, die seinen Blick verschwimmen ließen an der Statur und der Stimme. Guy, wenn er sich recht erinnerte, einer der altgedienten Wächter. Trotz der Schmerzen hätte er beinahe gelacht, weil es so perfekt in seinen Plan passte. Wo auch immer die beiden her gekommen waren, warum auch immer sie genau hierher gekommen waren, sie würden Fourmi jetzt gleich beschäftigen, wenn sie ihm nachliefen und ihn quer durch den Wald jagten. Er musste nur die richtigen Worte finden.
„Rebellen…”, brachte er keuchend hervor, „…haben uns infiltriert… wollen einen der Sklaven befreien… er gehört zu ihnen…” „Welcher von beiden?”, fragte Guy sofort, und Tarn hustete angestrengt, um seine Kehle frei zu bekommen. Immerhin musste er seinen Stolz und sein Gewissen hinunter schlucken.
 
Wie kann ich dir vertrauen?
Es war eine so unschuldige Frage. Sie konnte nur von jemand gestellt werden, der keinen Verrat kannte. Was würde Valion sagen, wenn er erfuhr, was geschehen war? Würde er es verstehen? Würde er irgendwann einsehen, dass man in einem Krieg Soldaten opfern musste, um am Ende den Sieg davon zu tragen?
Tarn räusperte sich und glaubte Blut zu schmecken. Vielleicht hatte er sich bei dem Schlag in die Magengrube auf die Zunge gebissen. Oder vielleicht quälte ihn wieder eine von vielen, bitteren Erinnerungen. Es gab zu viele, und in zu vielen hatte er Opfer gebracht.
Ich bin kein bisschen vertrauenswürdig, Valion, dachte Tarn und sagte so laut und deutlich wie möglich: „Er heißt Jan.”

Es konnte nur noch Minuten dauern, bis sie die Lichtung erreichten. Nicht mehr als fünfzehn. Oder zehn. Das Meiste des Weges hatten sie doch schon hinter sich gebracht, also mussten sie bald auf Tarn stoßen.
Valion wiederholte diese Gedanken immer wieder in seinem Kopf, während er verbissen vorran ging, aber seine Unsicherheit wuchs. Warum hatte er Marceus zurückgelassen? Warum hatte er nicht gebettelt, dass er ihnen den Weg zeigte? Er versuchte, seine Zuversicht aufrecht zu erhalten, einfach weiter zu gehen, aber es fiel ihm mit jedem Schritt schwerer. 

Bisher hatte er immer eine vage Ahnung gehabt, wo er sich befand, aber seit sie vom Fluss aus den Waldrand abgegangen waren, verwandelte sich das ständige Rauschen in seinem Rücken zu einer Ablenkung statt einer Hilfe. Er wagte nicht, zu nah am Weideland zu bleiben, und deshalb bewegten sie sich eine Weile sogar tiefer in den Wald hinein, dann wieder hinaus, in einem Zickzackkurs. Er gestand es sich nicht gern ein, aber er war erschöpft und machte Fehler. Er war sich nicht mehr sicher, ob sie noch auf dem richtigen Weg waren.

Er hätte sich gern Jan anvertraut, doch der war in einer seltsamen Stimmung, seit sie sich von Marceus getrennt hatten. Er war einsilbig, und manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, betrachtete er Valion mit einem Blick, der stumpf und hoffnungslos wirkte.
Valion war versucht, ihn trotzdem um Rat zu fragen, aber Jan hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er Tarn nicht treffen und seine Hilfe nicht in Anspruch nehmen wollte, und deshalb wagte er es nicht. Selbst die Möglichkeit einer Auseinandersetzung schreckte ihn ab, er hatte keine Kraft dazu. Was er brauchte waren Unterstützung und Zuversicht, etwas, das die nagenden Zweifel aussperrte. Tat er das Richtige? Hatte er etwas Wichtiges übersehen? Konnte er Tarn vertrauen, obwohl Jan so sehr davon überzeugt war, dass er nicht auf ihrer Seite war? Er brauchte Jans Rückhalt, aber gerade wagte er es nicht einmal, seine Hand zu ergreifen. War er wütend? Enttäuscht? Würde er… er wollte nicht daran denken, kämpfte gegen den Gedanken an. Jan würde ihn nicht zurück lassen. Niemals. 

Er machte Halt, als Jan plötzlich hinter ihm schmerzerfüllt aufzischte und einen leisen Fluch ausstieß. Erschrocken drehte er sich um und bemerkte, dass Jan ein ganzes Stück hinter ihm zurückgefallen war, während er selbst in Gedanken verloren gewesen war. Er hielt sich den Fuß und betrachtete mit einer Mischung aus Wut und Resignation die Sohle. Valion eilte an seine Seite und stützte ihn. „Was ist?”, fragte er, und Jan zuckte unwirsch mit den Schultern. „Vermutlich habe ich mir etwas eingetreten. Nicht so wichtig. Wir müssen weiter.” 
Valion war versucht es dabei zu belassen, aber als er Jan genauer ins Gesicht sah änderte er seine Meinung. Seine Lippen begannen blau anzulaufen, er zitterte deutlich, und sein Husten, der für eine Weile ganz verschwunden gewesen war, meldete sich zurück. Es war kein Wunder, dass sich seine Krankheit wieder verschlimmerte, sie trugen beide keine Schuhe, und Jan musste seit Stunden mit freiem Oberkörper herumlaufen. Valion hatte es bisher so gut es ging ignoriert, aber die Temperatur war stetig gefallen, und es wurde für die Jahreszeit untypisch kalt. „Wir machen eine Pause und wärmen uns auf”, bestimmte er. „Wir haben keine Zeit”, versuchte Jan zu protestieren, aber Valion schüttelte nur den Kopf. „Wir sind schnell gewesen, wir haben inzwischen bestimmt eine halbe Stunde Vorsprung. Komm.”

Sie verbargen sich diesmal hinter einer Bodenwelle, die in eine kleine Senke am Waldboden mündete. Es war kein besonders gutes Versteck, aber es musste genügen, denn Valion wollte Jan nicht zumuten, noch länger weiter zu gehen. Jan hatte zwar versucht abzuwiegeln und behauptet es wäre nichts, aber er humpelte, und Valion sah, dass er blutige Fußspuren hinterließ, deshalb ließ er keine Diskussion zu. Zum Glück wurde es schon dunkel, bei hellem Tageslicht hätte sie eine solche Spur verraten können, doch so vermischte sich das Blut mit dem Tau und der Feuchtigkeit des Nebels, und der durchdringende Rotton verblasste im Dämmerlicht zu schlammigen Braun. 

Erst als Valion sich ebenfalls setzte wurde ihm bewusst, wie sehr seine eigenen Füße schmerzten und wie dankbar er war, auf dem weichen Waldboden ausruhen zu können. Für einen Moment schloss er nur die Augen und lauschte dem Rauschen des Waldes. Wie lange waren sie unterwegs? Es waren vermutlich nicht mehr als drei Stunden, aber er fühlte sich so ausgelaugt als wären sie seit dem Morgengrauen auf den Beinen. Die Angst, die Unsicherheit, der Streit, die Kälte, alles zehrte ihn aus.
Er schlug die Augen wieder auf, als Jan seine Hand berührte. Für einen Moment sahen sie sich nur an, ohne zu wissen, was der jeweils andere dachte. Dann öffneten sie fast gleichzeitig den Mund um zu sprechen, verstummten, mussten plötzlich beide grinsen. „Du zuerst”, sagte Jan und winkte gnädig zum Zeichen, dass er Valion den Vortritt gab. „Und ich dachte schon, du wärst zu schwach um noch Witze zu machen”, spottete Valion lächelnd, und Jan schüttelte den Kopf. „Nur fast. Aber warte noch eine Stunde, dann bin ich starr gefroren und stumm, und du kannst mich bequem vor dir her durch den Wald rollen.” Er grinste schief und versuchte möglichst leise zu husten, und es war als hätten sie sich nie gestritten.
„Du bist nicht wütend?”, platzte es aus Valion heraus, und Jan sah ihn verwundert an, bevor er verlegen den Blick senkte. „Das wollte ich eigentlich dich fragen”, sagte er kleinlaut und starrte auf seine zerschundenen Füße, „Ich war keine große Hilfe in den letzten Stunden. Hab’ deinen Kumpel fast umgebracht, eine Menge Ärger gemacht… wäre ich du, ich hätte mich in den Fluss geworfen und wäre abgehauen.” „Das hätte andersherum aber auch Sinn gemacht. Ich habe über deinen Kopf hinweg entschieden”, wandte Valion unbehaglich ein, „Ich dachte einfach, dass es das Richtige ist…” „Schon gut”, meinte Jan leichthin und lächelte, „Vergessen wir das Ganze, bis wir aus diesem verdammten Wald raus sind. Danach können wir uns immer noch darum prügeln, wer wann Mist gebaut hat. Können wir jetzt zu dem Punkt der Pause kommen, an dem ich meine Hände an dir aufwärme?”

Valion nickte erleichtert, rutschte näher zu Jan heran und schlang seine Arme um seinen durchgefrorenen Körper. Am liebsten hätte er ihn eingehüllt wie eine Decke, so eiskalt fühlte er sich an. Jan vergrub sein Gesicht in seiner Halsbeuge und seufzte. „Wie machst du das, du bist so warm”, murmelte er, schob seine zitternden Hände unter Valions Hemd und wärmte sie an seinem Bauch auf, nicht ohne dass Valion vor Kälte zusammen zuckte. „Bei deinen eisigen Händen nicht mehr lange”, sagte er und fröstelte, doch dann wurde er ernster. „Wenn es heute Nacht so kalt bleibt, müssen wir uns etwas einfallen lassen.” „Dann wird das erste Opfer unserer Überfälle vermutlich eine Wäscheleine”, scherzte Jan. „Ich kann dir mein Hemd für den Rest des Weges geben”, bot Valion schnell an, aber Jan schüttelte nur den Kopf. „Bloß nicht. Ich bin schon krank, du musst es nicht auch noch werden. Behalte es an, ich wärme mich dann einfach immer an dir auf, so wie jetzt. Das gefällt mir eigentlich ganz gut. Obwohl, ein bisschen bin ich schon enttäuscht.” „Wieso?”, fragte Valion perplex, und Jan antwortete schelmisch: „Vorhin, als ich meine Hände unter deinem Hemd hatte, war die Reaktion irgendwie anders.” Das traf Valion unvorbereitet, und plötzlich brannten seine Wangen vor Röte. „Idiot”, murmelte er verlegen, und Jan lachte leise. „Die Wärme gab es jetzt ganz umsonst”, sagte er und hauchte Valion einen Kuss auf die Lippen, dann legte er seinen Kopf wieder auf seine Schulter. So saßen sie für einen Moment, ruhten aus, ließen ihre Gedanken treiben und lauschten.

Valion versuchte sich eine Pause zu gönnen, aber während Jan sich bei ihm aufwärmte und sein eigener Körper sich erholte, rasten seine Gedanken weiter. Ihm wurde bewusst, wie schlecht sie dastanden. Die spärliche Bekleidung, die sie kurz vor ihrer Flucht bekommen hatten, war nur der Anfang des Problems. Sie hatten nichts zu essen, nichts, um Jans Füße zu verbinden, nicht einmal eine Decke. Er wusste nicht, wie weit sie von der nächsten Siedlung entfernt waren, und sie kannten beide nicht das Gelände. Es gab so viele Umstände, die gegen sie waren.
„Du denkst doch schon wieder zu viel nach”, sagte Jan schließlich leise, und obwohl er versuchte zu scherzen, konnte er die Besorgnis in seiner Stimme nicht verbergen. „Ich überlege, wie es weiter geht”, gab Valion zu. Geistesabwesend strich er über Jans Haar, der die Augen geschlossen hielt und ihm zuhörte. „Aber du bist nicht besonders zuversichtlich, was?” Valion dachte einen Moment daran zu lügen, aber dann sagte er: „Hmhm, nicht besonders.” Jan zuckte mit den Achseln. „Wir wussten, dass es schwierig wird, oder?” Klang das defensiv? Vielleicht ein bisschen. Jan wusste, dass er ihre ungeplante Flucht losgetreten hatte und sie jetzt beide die Konsequenzen trugen, und er erwartete vermutlich schon seit Stunden, dass Valion ihm diese Tatsache vorhalten würde.

Aber Valion wollte keinen Streit, nicht jetzt, wenn sie alle ihre Kräfte brauchten. Versöhnlich sagte er: „Ja. Und wir schaffen das schon irgendwie. Vielleicht kann Tarn uns zumindest mit Kleidung versorgen, dann… was ist?”
Jan hatte sich merklich versteift, als der Name fiel. Jetzt schwieg er, fast trotzig. „Bist du immer noch wütend, weil wir zu T-”, begann Valion, aber gleich darauf wurde ihm das Wort abgeschnitten. „Ich kann gut darauf verzichten, seinen Namen heute noch öfter zu hören”, sagte Jan, und seine Stimme klang so eisig, dass die Ruhe und Geborgenheit des vorherigen Moments mit einem Mal wie ausgelöscht war. Unbehaglich zog Valion die Hand zurück, und Jan schien es ebenfalls nicht mehr in der Umarmung auszuhalten, er rückte von ihm ab und rappelte sich vom Waldboden auf. „Lass uns einfach weiter gehen. Wir müssen endlich aus diesem Wald raus.”
Es war die gleiche Reaktion auf Tarns Erwähnung wie zuvor - Misstrauen, Wut, Ablehnung. Und genau wie beim ersten Mal war sie für Valion verwirrend und nicht nachvollziehbar. 

Er kam gar nicht dazu, zu reagieren, weil Jan nicht auf auf ihn wartete und einfach ihre zuvor eingeschlagene Richtung weiter verfolgte - hinaus aus dem Wald, in Richtung des Weidelands. Valion folgte ihm und versuchte, Schritt zu halten und gleichzeitig seine Umgebung im Auge zu behalten, während er darüber nachdachte, wie er Jan konfrontieren sollte. Es half alles nichts, sie mussten darüber sprechen, bevor sie Tarn erreichten. Sonst liefen sie Gefahr, dass Jans Abneigung, worauf auch immer sie sich gründete, ihre Flucht sabotieren würde. 
„Warte doch”, sagte er leise, „Was ist so schlimm daran… ihn zu erwähnen? Was hast du gegen ihn?” Er verbiss sich im letzten Moment, den Namen aus Trotz erst recht zu nennen. Sie hatten auch so schon genug Probleme. „Du meinst abgesehen davon, dass er dich verraten hat und auf mich schießen wollte?”, spottete Jan bitter, während er störrisch weiter lief. „Du scheinst das immer wieder großzügig zu vergessen!” Es machte ihm sichtlich Mühe, nicht die Stimme zu heben. 
Valion versuchte, gelassen zu bleiben, während er leise auf Jan einredete. „Nein, aber ich glaube nicht, dass er vorhatte uns zu schaden. Was, wenn er gewusst hat, dass du mich nicht verraten würdest? Er kennt dich immerhin ein bisschen. Und wenn er nur zum Schein auf dich gezielt hat, um unsere Flucht zu decken? Ich meine, wir sind hier. Er hätte dich erschießen, oder Marceus schicken können, um uns zu töten. Er hat nichts davon getan, im Gegenteil, er will uns helfen, und du traust ihm trotzdem nicht.” „Wenn du so an die Sache heran gehen willst, sollten wie das Thema einfach in Frieden lassen”, sagte Jan missmutig, den Blick starr nach vorn gerichtet, doch Valion blieb hartnäckig. „Wenn wir auf ihn treffen, müssen wir schnell sein, und dann können wir uns nicht schon wieder streiten. Ich will wissen, warum du ihm nicht traust. Es muss noch einen anderen Grund geben.” „Mehrere, und glaub mir, die willst du alle nicht wissen”, versuchte Jan abzuwiegeln, aber auch davon ließ Valion sich jetzt nicht mehr abbringen. „Los, die Wahrheit”, sagte er ungehalten. „Ts… wo fange ich da nur an”, ätzte Jan. „Keine Ahnung, bei dem, was dich am meisten stört, schätze ich.”
Plötzlich wandte sich Jan zu ihm um, stellte sich ihm in den Weg und sah ihn so direkt und herausfordernd an, dass Valion fast zurück gezuckt wäre. „Gut, na schön, fangen wir mit dem Offensichtlichen an. Zum Beispiel, dass du verliebt in ihn bist.”

Im ersten Moment blieb Valion nur der Mund offen stehen, dann sagte er: „Das ist absolut lächerlich.” 
Er brachte es härter hervor, als er beabsichtigt hatte, wütend und fast ein bisschen schuldbewusst. Hätte er Bedenkzeit gehabt, hätte er vielleicht bedachter reagiert, aber damit hatte er zu allerletzt gerechnet. Jan, eifersüchtig? Auf Tarn? 
Aber gerade deshalb glaubte Jan ihm kein Wort. Er betrachtete ihn einen Moment lang wütend, dann schüttelte er den Kopf, stapfte einfach weiter und zwang Valion dazu, hinter ihm her zu laufen. „Hör zu Jan, das ist Blödsinn”, versuchte Valion es noch einmal, während er hinter ihm her lief, aber Jan wollte nichts davon hören. „Ach ja? Und was ist er dann für dich? Ein Bruder? Eine Vaterfigur? Weil ich mich frage, wie es kommt, dass du die ganze Zeit über ihn sprichst. Oder dass du anfängst zu lächeln, wenn ihn auch nur jemand erwähnt. Weißt du, dass ich seinen Namen heute mindestens hundert Mal von dir gehört habe?”
Nein, das hatte er nicht gewusst. Valion versuchte, diese Vorwürfe einzuordnen, und gleichzeitig nicht hinter Jan zurückzufallen. Aber wenn er sich so verhielt wie Jan es ihm vorwarf, dann war es ihm überhaupt nicht bewusst. Er hatte nicht einmal geglaubt, dass es eine Rolle spielte.
Ja, er mochte Tarn. Er war ein fester Bezugspunkt in einer völlig fremden Welt, in die er mit Gewalt hinein geworfen worden war. Alles andere, die Bekanntschaft mit Jefrem, die Freundschaft mit Marceus oder die Beziehung zu Jan, war später gekommen. In diesem entscheidenden Moment, als er im Staub kniete und Eravier ihn fast ermordet hätte, nur aus einer Laune heraus, war Tarn eingeschritten und hatte ihn gerettet, das wusste er jetzt. Tarn hatte ihm gesagt was er zu tun hatte, seine Wunde versorgt, ihm tröstend gesagt: „Das wird schon.” Und er hatte dafür gesorgt, dass es tatsächlich besser wurde. Der Beweis dafür war auf Valions Schulter eingebrannt. 
Es war nie Eraviers Zeichen gewesen, egal, was es hatte sein sollen und egal was Eravier glaubte. Das, was die Narbe jetzt wirklich darstellte, war Tarn, seine Hilfe und seine Vertrauen. „Halte das Gefühl fest. Noch bist du nicht besiegt”, hatte Tarn gesagt, und Valion hatte sich daran festgehalten. Er hatte sich an dem Gedanken festgehalten, dass er nicht allein war, dass es jemand gab, der ihn schützen konnte, jeden einzelnen Tag. Er trug dieses Versprechen immer bei sich.
Aber wie sollte er das erklären? Was sollte er sagen um Jan begreiflich zu machen, dass es um etwas ganz anderes ging? Er wusste es nicht.

Also wich er aus und antwortete: „Er ist ein Freund. Jemand, auf den man sich verlassen kann. Ich vertraue ihm. Kann sein, dass ich oft von ihm spreche, aber vor allem, weil er uns helfen kann zu fliehen. Und er gehört immerhin zur Rebellion, wie meine Eltern. Und sich um mich zu kümmern ist vermutlich seine Aufgabe.” Jan schnaufte abfällig. „Ach ja? Und gehört es zu der Aufgabe eines Rebellen, seinen Verbündeten tief in die Augen zu sehen und wortlose Gespräche mit ihnen zu führen? Ist das eine raffinierte Art, Geheimnisse auszutauschen, die nur so intim aussieht? Hältst du mich für blöd, oder hast du es selbst einfach noch nicht begriffen, Val?” 
Jetzt fühlte er sich tatsächlich schuldbewusst und senkte unbehaglich den Blick, und gleichzeitig verstand er nicht einmal warum. Er wusste genau, welchen Moment Jan meinte, und ihm wurde bewusst, dass er keine Erklärung dafür hatte. Sieh mich an. Es war das selbe Gefühl gewesen das er gespürt hatte, als Jan plötzlich nicht da gewesen war. Panik. Orientierungslosigkeit. Vielleicht sah es deshalb für Jan so gleich aus. Oder war es doch das Gleiche? Belog er sich selbst und Jan gleich mit? Er wusste es nicht.

Er hob den Kopf und wollte etwas sagen, aber im nächsten Moment wäre er beinahe in Jan hinein gelaufen, der abrupt stehen blieb und in die Knie ging. Zuerst dachte Valion er hätte etwas gesehen und duckte sich reflexartig, und hastig versuchte er den lichter werdenden Wald zu überblicken. Das Gelände wurde hier steiniger, der Waldboden wich zurück und machte Gras und felsigem Boden Platz, und Gruppen von großen und kleinen Büschen boten sogar ausreichend Deckung für einen Hinterhalt. Aber er sah weit und breit niemanden.
Dann wurde ihm bewusst, dass Jan sich nicht umsah, sondern die Fäuste ballte und blass geworden war, und er blickte automatisch zu seinen Füßen, wo sich eine Lache von Blut ausbreitete. Die Wunde an seiner Fußsohle war weiter aufgerissen. Valion fluchte, richtete sich auf, packte Jan am Arm und zog ihn auf den gesunden Fuß, und Jan stützte sich notgedrungen auf ihn und lächelte bitter. „Willst du mich nicht vielleicht doch gleich in den Fluss werfen?”, fragte er resigniert, „Dann hätten wir das wenigstens hinter uns.”

Ein Versteck war schnell gefunden, denn die dichten Büsche schirmten sie vor Blicken ab, aber dafür dauerte es eine ganze Weile, bis sie Jans Fuß verbunden hatten. Valion riss dafür den unteren Saum seines Hemdes ab, es war ihm sowieso zu lang. Zuerst versuchte er es mit dem Stilett, aber für diese Aufgabe war ein Dolch denkbar ungeeignet, und nach kurzer Zeit gab er frustriert auf und zerriss den Stoff mühsam mit den Händen. Jan bot ihm an zu helfen, aber Valion schüttelte nur den Kopf und arbeitete still weiter, bis er endlich einen langen Streifen aus dem Hemd heraus gefetzt hatte und sorgfältig um Jans Fuß legte. Sie sprachen beide kein Wort dabei, teils wütend, teils nachdenklich.
Schließlich brach Valion das Schweigen, als er fragte: „Wirst du laufen können?”`Jan zuckte mit den Achseln. „Erst einmal ja, aber frag mich nicht wie weit. Sieht so aus, als hätten wir keine Wahl - wir kommen nicht bis zu den Pferden, nur bis zu dem Treffpunkt, den Marceus uns genannt hat. Ich hoffe das freut dich.” „Kein Stück”, sagte Valion verletzt, und Jan schien seine Worte im nächsten Moment zu bereuen. 
„Tut mir Leid”, sagte er und starrte auf seinen bandagierten Fuß. Er schien wütend auf sich selbst zu sein, darauf, dass er verwundet war und Hilfe benötigte. „Ich hatte mir eigentlich vorgenommen dir keine Last sein. Ich dachte ich bringe uns beide hier raus. Und dann? Stehe ich nur im Weg herum und stelle deine Entscheidungen in Frage.” Valion seufzte und versuchte, seine Wut loszulassen. „Du hast viel mehr getan als das. Und du machst dir Sorgen. Denkst du ich mache mir keine?” „Vielleicht nicht genug”, meinte Jan leise. „Vielleicht nicht die richtigen.”

Valion griff nach seiner Hand und drückte sie. „Wovor hast du Angst, Jan? Was denkst du wird passieren, wenn wir uns von Tarn helfen lassen?”, fragte er, und damit traf er anscheinend einen wunden Punkt. Jan sah mit einem Mal nicht mehr wütend aus, nur noch unglücklich. „Er wird uns auseinander bringen, und du wirst ihm in die Arme laufen”, sagte er überraschend ehrlich, und Valion hörte an seiner Stimme, dass es die Wahrheit war, dass er es zumindest für die Wahrheit hielt. Er hatte Angst. Angst, ersetzt zu werden, nicht zu genügen, das einzige zu verlieren, das ihm überhaupt wichtig war, und plötzlich, als Valion das begriff, wurde ihm klar, dass er nichts abstreiten und auch nichts beweisen konnte. Es gab keine Argumente, nicht gegen diese Art von Furcht. Er konnte Jan nur Bestätigung geben.

„Ich verlasse dich nicht, Jan”, sagte er leise und ernst. „Wir werden uns nicht trennen.” Aber Jan schüttelte nur unglücklich den Kopf. „Sag das nicht, wenn du es nicht so meinst. So naiv bin ich nicht. Willst du mir sagen, du hättest mich nicht stehen lassen, wenn ich mich wirklich gegen Marceus gestellt hätte?” Valion wollte protestieren, aber Jan schnitt ihm das Wort ab. „Du würdest es tun, weil du es für das Richtige hältst. Was du nicht begreifst ist, dass Menschen wie Tarn dich immer glauben lassen, dass du das Richtige tust. Dafür wird er sorgen, und du wirst es zulassen, weil du das deine Art ist.” Jetzt war sein Blick mitleidig und unendlich besorgt. „Du lässt dich ausnutzen, verstehst du das denn nicht? Er wird mich loswerden, und dann wird er dich für seine Pläne benutzen und danach fallen lassen. Du darfst ihm nicht vertrauen, Val, niemals”, sagte er, und Valion schauderte, weil es genau das selbe war, was Nisha zu ihm gesagt hatte, mit dem selben Gesichtsausdruck. Du bist zu weich, Val. Du lässt sich ausnutzen, und verletzt dich damit selbst.

Und vielleicht hatten sie beide Recht, vielleicht war er ja zu naiv, zu gutgläubig. Aber was Tarn anging, lag Jan einfach falsch. „Du täuschst dich in ihm. Wenn du ihn besser kennen würdest-”, begann er hilflos, aber Jan schüttelte nur den Kopf und schnitt ihm das Wort ab. „Ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass der Rest nicht besser sein kann. Er ist kein guter Mensch, Val, egal, wie er sich dir gegenüber verhalten hat! Glaub was du willst über wen du willst, aber vertrau mir in dieser Sache! Ich weiß nicht warum, aber an seinen Händen klebt Blut. Ich sehe es. Was das angeht, ist er nicht besser als Eravier. Er versucht es nicht einmal zu verbergen, weil alles andere an ihm davon ablenkt. Du darfst dich nicht von ihm ausspielen lassen, verstehst du?” 
„Nein, ehrlich gesagt verstehe ich kein Wort”, sagte Valion völlig verzweifelt. Er hörte die Worte, verstand, was Jan versuchte ihm begreiflich zu machen, aber er irrte sich, er konnte sich nur irren. Nichts davon hatte mit dem Tarn zu tun, den er kannte. „Wieso glaubst du eigentlich ihn einschätzen zu können? Warum bist du dir so sicher?” 

Er sah, dass Jan es ihm sagen wollte, und sich gleichzeitig davor fürchtete. Er dachte an das, was Marceus gesagt hatte, den Blick voller Verachtung. Ich kenne Kerle wie dich. Ich glaube Valion ist sich noch gar nicht im Klaren, wozu du fähig bist.
Wozu war Jan fähig? 
Er kannte sich mit Waffen aus, egal ob es sich um eine simple Glasscherbe, einen Stein oder einen Dolch handelte. Er war skrupellos, wenn es die Situation erforderte. Er hatte bei der Vorstellung, ihren Verfolger den Schädel einzuschlagen, keine Gewissensbisse empfunden. Und er kämpfte genauso präzise und schnell wie Marceus. 
Ein Dieb kennt einen Dieb wie ein Wolf den anderen. Er hatte es für einen Spruch gehalten, für eine Anspielung auf etwas, das nur Jan und Marceus wirklich begriffen. Aber wie oft hatte Jan die Wahrheit gesagt und dabei einfach den Anschein erweckt, es wäre eine Lüge? Und plötzlich ergab alles einen Sinn.

„Du denkst er wäre wie du”, sagte er, und er sah in Jans Augen die Panik, die mit dieser Erkenntnis kam. Er musste sich lange davor gefürchtet haben, dass Valion es begriff, vielleicht sogar von Anfang an. Warum hatte er sonst gelogen, über seine Familie, seine Vergangenheit, über alles?
Und dennoch, nach einem endlos scheinenden Moment, nickte er tapfer. Es musste ihn unfassbar viel Überwindung kosten, aber er lächelte sogar. „Hat wohl keinen Sinn darum herum zu reden”, sagte er leise, „irgendwann hättest du es ja sowieso erfahren. Immerhin, ich habe dich nicht belogen. Ich hab schließlich nie behauptet, ich wäre einer von den Guten. Aber wie hoch war die Chance? Von denen gibt es hier schließlich nur eine Hand voll, wusstest du das? Ich glaube nicht. Du kennst dein kleines Dorf, und das ist vermutlich voll von ehrlichen, freundlichen Menschen, die selten etwas Böses tun. Es muss so sein, weil ich nicht weiß, wie du sonst so sorglos sein kannst. Aber du bist nicht dort, das musst du begreifen. Die Mehrheit der Leute die hier sind, auch die Sklaven, haben Dreck am Stecken. So wie ich”, sagte er, und seine Warnungen klangen jetzt fast wie die von Tarn, und Valion wusste auch warum, obwohl sich alles in ihm gegen die Erkenntnis sträubte. Sie klangen gleich, weil sie auf ähnliche Erlebnissen basierten. 

„Was hast du getan?”, fragte Valion, und fragte sich gleichzeitig, ob er es überhaupt wissen wollte. Er hatte zwei Seiten von Jan gesehen, und er hatte sich im hintersten Winkel seines Verstandes immer gefragt, welche davon der echte Jan war. Erst jetzt begann er zu verstehen, dass sie zusammen gehörten. Der Jan, der ihn zum Lachen brachte, sich um ihn sorgte und ihn beschütze war der selbe, der ihn aus kalten Augen betrachtet, über den Tod seiner Eltern gespottet und Eravier angegriffen hatte. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, ob er es überhaupt glauben konnte. „Hast du wirklich… deine Familie ermordet?”
Die Frage traf Jan mehr, als er gedacht hatte, und seine Stimme klang hart, als er sagte: „Nein. Das habe ich nur gesagt, um Eravier zu überzeugen. Es gab nicht viel Liebe zwischen mir und meiner Familie, so viel ist sicher, aber ich habe sie nicht umgebracht. Eigentlich hätte ich allen Grund dazu gehabt…” „Eravier sagte, sie hätten dich verkauft”, sagte Valion leise, und Jan nickte. „Ja, das haben sie tatsächlich. Es hat eine Weile gedauert, geplant hatten sie das schon mehrere Jahre, nachdem… nachdem sie herausfanden, dass ich anders bin.
Immerhin, damals verkauften sie mich als Arbeitssklave, die konnten sich gar nicht vorstellen, dass mich irgendjemand als irgendetwas anderes haben wöllte. Vielleicht wäre es mir gar nicht so schlecht gegangen, wer weiß das schon. Aber damals war ich in Panik, und ich bin einfach abgehauen. Ich wollte mich durchschlagen, als Knecht arbeiten, vielleicht irgendwann genug zusammen kratzen, um mir selbst etwas aufzubauen.
Aber das hatte ich mir zu einfach vorgestellt. Niemand wollte mich aufnehmen, und bevor ich es mich versah, schlief ich auf der Straße und schlug mich mit kleinen Diebstählen durch. Ich geriet an andere, denen es ähnlich dreckig ging, und du glaubst gar nicht, wie schnell man lernt mit einem Messer umzugehen und es einem anderen armen Teufel an die Kehle zu halten. Am Anfang dachte ich, ich würde es so lange durchziehen, bis ich genug hätte um auf die Füße zu kommen. Und dann… vergingen zwei Monate, und ich hatte genug zusammen um einfach weiterzuziehen, aber es war mir schon alles egal. Ich hatte Freunde… und irgendwann sogar mehr. Manchmal dachte ich, dass es sich schon dafür gelohnt hatte abzuhauen, dass ich endlich nicht mehr der Ausgestoßene war. Ich wurde gut darin, die Runde zu machen, ich hab nie etwas Ernsteres gewollt. Ich habe keinem vertraut. Die Erfahrungen reichten mir. Es war in Ordnung. Davon bereue ich nichts.

Aber ich hab auch Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin. Bettler verprügelt. Familien ausgenommen, die selbst nichts zum Leben hatte. Aber-” Seine Stimme zitterte jetzt, genauso wie der Rest von ihm. „- aber ich… ich habe Menschen nicht nur verletzt. Sondern auch getötet.” Er wollte weitersprechen, doch die Stimme versagte ihm, und für einen Moment schwieg er und starrte nur zu Boden. Erst nach einer Weile sprach er weiter, aber es klang qualvoll. Seine Sätze waren abgehackt, er stotterte fast. „Du weißt nicht, wann es… wie es dich verändert. Bis du tatsächlich jemand tötest. Es geht so schnell. Du denkst im ersten Moment nicht einmal darüber nach. Bis du irgendwann begreifst, was du getan hast.” „Wie viele?”, flüsterte Valion, und er fröstelte. Er wünschte, dass es nicht viele waren, und wusste doch, dass es keine Rolle spielte. Selbst einer war zu viel. 
„Ich glaube... vier, vielleicht auch fünf. Ich hab es nie geplant. Sie haben sich gewehrt, mich angegriffen. Ich weiß, das ist keine Rechtfertigung… Bei einem… bin ich nicht mal sicher. Ich zog ihm etwas über den Schädel. Ich weiß selbst nicht mal mehr was es war. Er ging zu Boden. Vielleicht lebt er noch. Ich weiß es nicht… Ich glaube nicht. 

Aber ich lebte damit, und so lange es dauerte, kam es mir gar nicht so schlimm vor. Mir war alles egal. Es ging einfach weiter, bis ich von meinen Geschwistern erfuhr.
Als ich zurückkehrte, hab ich nie jemand von dieser Zeit erzählt. Ich sagte, ich hätte mich als Knecht durchgebracht, und das genügte. Aber ich hatte mich verändert, und die Art wie ich andere Menschen sah auch. Ich wusste, wer stahl. Wer sich manchmal kleinere Messerstechereien lieferte. Es war harmlos im Vergleich zu dem, was ich getan habe, aber ich habe es ihnen angesehen. Und ein oder zweimal sah ich… Menschen wie mich. Mörder. Für die meisten war es längst Geschichte, lange her, aber da war etwas in ihrem Blick. Ich erkannte sie, und sie erkannten mich.
Glaubst du mir jetzt, dass ich weiß wovon ich rede?” „Ich denke schon”, antwortete Valion leise. „Und willst du jetzt immer noch bei mir sein?” 

Die Frage klang so ruhig und abgeklärt, als ginge es um nichts. Es traf Valion wie einen Schlag in den Magen. „Was?”, fragte er fassungslos und starrte Jan an, aber er zuckte nur mit den Schultern. „Ich hab es nicht umsonst vor dir geheim gehalten. Ich weiß, dass du mir nicht mehr vertrauen kannst. Vermutlich konntest du das nie. Du begreifst doch selbst, dass ich nicht viel besser bin als der, vor dem ich dich gerade gewarnt habe. Ich weiß nicht einmal, warum du nicht aufspringst und abhaust. Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass du es tust. Ich würde es an deiner Stelle tun.”

Es musste ein schlechter Scherz sein. Jan konnte es unmöglich ernst meinen. Aber Valion wartete vergeblich darauf, dass er seine Worte zurück nahm. „Das ist nicht dein Ernst”, fragte er verwirrt, aber Jans Gesichtsausdruck änderte sich nicht. „Doch.”

„Tu das nicht”, sagte Valion tonlos, „tu jetzt nicht so, als wäre es dir egal, wenn ich ginge.” „Das wollte ich damit nicht-”, versuchte Jan auszuweichen, aber Valion schnitt ihm das Wort ab, und er war selbst erschrocken darüber, wie viel Wut er plötzlich fühlte, wie viel Schmerz. „Ich habe gesagt, dass ich dich nicht verlasse! Und du wirst jetzt nicht feige den Schwanz einziehen und mich einfach fallen lassen, weil du Angst hast!” „Ich will doch nur, dass du dir keine Illusionen darüber machst, wer ich bin!”, versuchte Jan gegen ihn anzugehen, aber Valion ließ es nicht gelten. „Das habe ich nie, und es gehört mehr dazu mir etwas vorzumachen, als nur einen Teil deiner Vergangenheit zu verschweigen. Und du kannst auch nicht so tun als läge es an dir und mir gleichzeitig sagen dass du erwartest, dass ich beim ersten Anzeichen von Ärger verschwinde! Denn entweder vertraust du mir dann nicht so sehr wie du glaubst, oder du willst einfach nur nicht riskieren, dass es irgendwann vorbei ist.” 

Für einen Moment war Jan sprachlos, aber Valion sah auch deutlich, dass es zu ihm durchdrang. Es musste weh tun. Vor allem deshalb, weil es vielleicht das erste Mal war, dass jemand zu ihm halten wollte, und das schmerzte Valion selbst. Wie oft war Jan verraten worden? Wer hatte ihn fallen gelassen, als er am dringendsten jemand brauchte? Vielleicht war es unfair, vielleicht war es niemandes Schuld, aber in diesem Moment wünschte er denjenigen das Schlimmste. 
Es wurde nicht besser dadurch, dass Jan seine Vermutung bestätigte. „Val… niemand hat es lange bei mir ausgehalten. Du wärst keine Ausnahme. Du musst nicht so tun als-” „Das tue ich auch nicht. Ich verlasse dich einfach nur nicht. Weil ich es so will. Hör doch bitte einfach auf, dich dagegen zu wehren”, sagte Valion und griff nach Jans Hand. Er hielt sie so fest wie er konnte, ohne ihm Schmerzen zuzufügen.
Jan schwieg, und man konnte sehen, dass es in ihm arbeitete. Er wollte es glauben, und fürchtete sich gleichzeitig davor. „Du meinst es wirklich ernst, oder?”, fragte er irgendwann leise, und Valion nickte nur. „Warum?”, fragte er und Valion zuckte nur mit den Achseln. „Weil ich dich liebe. Reicht das nicht als Grund?” 

Dann rückte er erneut zu ihm heran, schlang seine Arme um ihn, und schwieg, ließ ihm Zeit. Reflexartig schoben sich Jans Hände wieder unter sein Hemd. Eiskalt, bebend, Halt suchend. Er verbarg sein Gesicht wie zuvor in Valions Halsbeuge, und er atmete einmal lang, tief aus, ein zitternder, hilfloser Seufzer. „Ich weiß nicht”, sagte er schließlich, „Warum hat es den anderen nicht gereicht?” Er schniefte verhalten, und Valions Hemd wurde ganz nass, aber er sagte nichts dazu, strich nur über Jans Haar. Er betrachtete die aufgehenden Sterne, die Umgebung, das Weideland, das durch den nahen Waldrand schimmerte. Schließlich stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Gute Nachrichten”, sagte er schließlich leise. „Ich glaube ich weiß, wo wir falsch abgebogen sind.”

Es war das Schimmern des Wassers, das Valion schließlich den Weg zu der richtigen Lichtung zeigte. Marceus Beschreibung war erstaunlich akkurat gewesen, und es wäre ein idyllisches und ruhiges Fleckchen Erde gewesen, wenn die Situation eine andere gewesen wäre. Der Mond war aufgegangen und warf helles, silbernes Licht auf den Teich und den felsigen Boden. Es schimmerte auch auf dem Fell der Stute, die auf der anderen Seite der Lichtung angebunden im Stehen döste. Die Bäume und Büsche schirmten den auffrischenden Wind ab, und ihre sacht wogenden Äste wirkten selbst nach Einbruch der Nacht nicht bedrohlich, sondern als würden sie die Lichtung umarmen und schützend einschließen.
Doch Valion hatte keine Zeit, sich auf die Schönheit des Ortes einzulassen. Sein Herz schlug bis zum Hals, als er die Lage zunächst aus den Schatten heraus auskundschaftete. Der Ort war leer und verlassen, keine Menschenseele zu sehen. 

Zögerlich wagte er sich schließlich aus dem Schutz der Bäume und ging auf das Zentrum der Lichtung zu, wo der Untergrund zum Teich hin abfiel. Er blickte sich immer wieder nervös um, doch noch sah er nichts Verdächtiges oder Ungewöhnliches. Selbst das Wasser war bis auf einige flache Wellen völlig still. Es sah einladend aus, erfrischend und klar, und obwohl er tausend andere Dinge zu tun hatte und keine Zeit auszuruhen, gab Valion der Versuchung schließlich nach. Er trat vorsichtig in das flache Wasser, kühlte das Brennen in seinen zerschundenen Füßen, wusch seine verdreckten Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht, leise und schnell. Es waren nur Sekunden, aber es kam dem Gefühl gleich, nach einem anstrengendem Tag auf dem Feld nach Hause zurück zu kehren, und er atmete einen Moment durch.

Als er sich aufrichtete, stand Tarn einige Meter entfernt von ihm im Schatten der Bäume. 

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Tarn hatte die Bewegung am Rand der Lichtung schon früh wahrgenommen und sich wachsam aufgerichtet. Eine einzelne Gestalt bewegte sich durch die Schatten, leise und verstohlen. Die Statur war zu schmächtig, um ein Wächter zu sein, und nach wenigen Momenten schloss er auch Fourmi aus - wer auch immer den Weg hierher gefunden hatte, war bei weitem nicht so geübt darin, nicht gesehen zu werden. 
Als er erkannte, dass es tatsächlich Valion war, atmete er erleichtert auf. Er war also doch nicht gefangen genommen worden und hatte auch nicht den Weg verloren, und zu seiner heimlichen Freude schien Valion inzwischen völlig allein zu sein. Dennoch blieb Tarn im zwischen den Bäumen verborgen und beobachtete das Geschehen. Es war möglich, dass Valion verfolgt worden war ohne es bemerkt zu haben, und wenn er Anzeichen dafür sah, würde er sich zunächst darum kümmern müssen. Er hoffte nur, dass Guy und Levin lange genug mit Fourmi beschäftigt waren, um ihm jetzt nicht in die Quere zu kommen, und die anderen Wächter ihre Suche noch nicht auf den Waldrand konzentrierten. Zumindest für den Moment blieb jedoch alles ruhig.

Valion selbst ging schließlich langsam, den Blick über das Gelände schweifend, auf den kleinen Teich in der Mitte der Lichtung zu und betrachtete das Wasser sehnsüchtig. Kurz darauf fällte er eine Entscheidung, stieg vorsichtig bis zu den Knöcheln hinein, kühlte seine nackten Füße und wusch seine Hände. Trotzdem sah er sich immer wieder um, ließ den Blick nie lang genug von der Umgebung, um sich verwundbar zu machen. Es war ein starker Kontrast zu der Sorglosigkeit, die er noch Stunden vorher an den Tag gelegt hatte, und er wirkte gehetzt, aber eine zweite, unschuldigere Assoziation folgte diesem Gedanken auf dem Fuße: Er sah aus wie ein scheues Reh, das sich im Schutz der Dunkelheit hinaus wagte um dort zu trinken, wo sonst die Raubtiere lauerten. 
Tarn gab sich schließlich einen Ruck und trat zwischen den Bäumen hervor, hinter denen er sich verborgen hatte. Valions Nerven mussten zum Zerreißen gespannt sein, und er wollte ihn nicht länger mit Unsicherheit quälen. Die Nacht hatte ihm bisher sicher genug abverlangt. 

Valion blickte auf, sah ihn, und dann zog ein Lächeln über sein Gesicht. Es war so offen und unmittelbar, dass es Tarn sofort ansteckte und er automatisch zurück lächelte. Für einen Moment sah es aus als wollte Valion kurzentschlossen in direkter Linie durch den flachen Teich waten, machte einen ersten, impulsiven Schritt nach vorn, aber besann sich im nächsten Augenblick. Stattdessen trat er aus dem Wasser und umrundete zügig die Senke, um dann zielstrebig auf Tarn zu zu gehen.
Aus der Nähe sah er Valion noch erschöpfter aus. Nebel, Tau und Schweiß hatten sein blondes Haar durchnässt, sodass es jetzt dunkel und strähnig an seinem Kopf an lag. Seine Hände und Füße waren nach dem Waschen halbwegs sauber, aber die Knie und Säume seiner Hosen und die Ärmel waren schmutzig braun und bedeckt mit Resten von Blättern und Tannennadeln. Ein Teil seines Hemdes fehlte ganz, schräg und nachlässig abgerissen. 
Obwohl er so mitgenommen wirkte, war Valion auf eine Art gefasst und ruhig, die Tarn für eine Sekunde stutzig machte, aber dann wurde dieser Gedanke von Erleichterung beiseite gedrängt. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie wenig er damit gerechnet hatte Valion an diesem Abend wiederzusehen. Er hatte sich mit der Vorstellung gequält, was dann sowohl mit ihm aus auch mit Valion geschehen würde; jetzt empfand er fast etwas Stolz, dass sein Schützling sich trotz aller Umstände so gut geschlagen hatte.

Kurz vor Tarn verlangsamte Valion seinen Schritt, und er schien zu zögern, was er tun sollte, als wäre er selbst nicht ganz sicher, ob er wirklich sein Ziel erreicht hatte. Man sah es in seinen Augen, er kämpfte mit dem Impuls, einfach weiter zu laufen, jetzt nicht stehen zu bleiben, selbst wenn er für diesen kurzen Augenblick in Sicherheit war. Aber Tarn trat einen weiteren Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter, und es war als würde etwas in Valion endlich zum Stillstand kommen. „Bist du in Ordnung?”, fragte Tarn dennoch leise, um sicherzugehen. „Ja, ich denke schon”, antwortete Valion, und für einen Moment sahen sie sich nur an und schwiegen, in dem Wissen, dass sie es zumindest bis zu diesem Punkt geschafft hatten. Was auch immer sie heute noch tun mussten, egal was noch passieren würde, zumindest bis jetzt hatten sie noch nicht versagt.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, dass du den Weg nicht mehr findest”, fuhr Tarn schließlich fort. Er glaubte die Antwort bereits zu kennen, aber trotzdem fragte er: „Ist Jan in der Nähe? Wir können nicht lange auf ihn warten.” Die Reaktion kam wie erwartet. Valion presste die Lippen aufeinander, ein Ausdruck von Wut und Missbilligung, und erklärte: „Er wird nicht kommen. Wir haben Marceus getroffen, aber Jan war nicht damit einverstanden, dass wir uns hier treffen. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.” Es fiel Tarn schwer, Bedauern zu heucheln, aber er war zu routiniert darin, dass es nicht echt gewirkt hätte. „Das tut mir Leid”, sagte er, doch im Grunde war es ihm herzlich egal und machte alles nur einfacher. 
Die so hastig geschmiedete Romanze war also ebenso schnell vorbei, wie sie begonnen hatte. Das ersparte ihm die Mühe, die beiden auseinander zu reißen; wären sie zu zweit hier aufgetaucht, hätte er irgendeine Art von Spaltung provozieren müssen, aber nun würde es genügen Valion von seinem Plan zu überzeugen. Wenn er enttäuscht genug von Jans Mangel an Vertrauen war, würde es ihm möglicherweise sogar egal sein was aus seinem vormalig besten Freund wurde. 
Im gleichen Moment verwarf er den Gedanken wieder - es wäre untypisch für Valion gewesen diese Art von Rache zu üben, auch in einer solchen Situation. Selbst enttäuscht war er zu empathisch und zu loyal, um Jan bewusst in Schwierigkeiten zu bringen. Deshalb vermied er sorgfältig, zu kritisch zu klingen, als er fortfuhr: „Ich hoffe Jan kommt auch allein durch, aber vielleicht ist es besser so.” „Warum?”, fragte Valion bitter, und jetzt wirkte er nicht nur wütend, sondern auch verletzt. Er verschränkte hilflos die Arme und blickte zu Boden, als er fortfuhr: „Was soll daran besser sein? Ich habe so viel riskiert, und… Egal. Ich dachte nur…” Er sprach nicht weiter, aber Tarn konnte sich gut vorstellen, was er gedacht hatte. Er hatte geglaubt, dass seine Beziehung zu Jan Bestand haben würde; dass seine absolute Loyalität mit nicht weniger Treue und Vertrauen beantwortet werden würde. Und darin hatte er sich getäuscht.

Ungewollt empfand Tarn Mitleid, und er musste sich zwingen nicht darauf einzugehen. Eigentlich wäre jetzt der Augenblick gewesen in dem er zu dem Gespräch, das sie vor einigen Tagen geführt hatten, zurück kehrte. Er hätte über Vertrauen sprechen können, darüber, dass Gefühle täuschen konnten und Menschen nicht immer das waren, was sie auf den ersten Blick schienen, aber jetzt war einfach nicht die Zeit dafür.
Gleichzeitig bedauerte er, dass Valion diese Erfahrung gerade auf diese dramatische Art und Weise gemacht hatte. Er schien nicht völlig am Boden zerstört, aber das war vermutlich mehr der Situation als seinen tatsächlichen Gefühlen geschuldet. Überlebenswille hatte den Schmerz in Schach gehalten, aber der würde ihn noch früh genug einholen. Im Moment war Valion enttäuscht und verletzlich; er hätte Zuspruch benötigt, jemand der ihm zuhörte und seine Sorge ernst nahm. Doch gerade jetzt durfte Tarn sich nur darauf konzentrieren, wie er ihrer beider Haut retten konnte.
„Er hat dir viel bedeutet, das war nicht zu übersehen. Es war ein Fehler, aber ein Fehler, den du vermutlich irgendwann machen musstest”, versuchte er sich kurz zu fassen. Valion nickte stumm, aber natürlich linderte die wenigen Worte seine Enttäuschung kaum, und dazu schien ihn auch Schuldbewusstsein zu quälen. „Du bist vermutlich enttäuscht. Wir… ich meine, ich bin einfach geflohen…”, sagte er leise, den Blick immer noch zu Boden gerichtet, und Tarn seufzte. „Nicht nur das. Ich hätte nicht erwartet… lassen wir das. Wir haben andere Probleme”, bremste er sich selbst. Es hatte absolut keinen Sinn, Valion jetzt mit einer Belehrung abzustrafen, und es gab erst Recht keinen Raum für eine Diskussion über Jan und auf welche Art er Valion ausgenutzt hatte.

„Was soll ich tun? Kann ich überhaupt mehr tun als einfach nur zu verschwinden?”, fragte Valion unbehaglich.
Das war er, der entscheidende Moment, und Tarn sammelte sich. Er musste jetzt überzeugend sein; wenn er das bewerkstelligte, dann rettete er sie beide damit, und für einen Moment konzentrierte er seine gesamte Aufmerksamkeit nur auf seine Worte.
„Ich fürchte es gibt es nur einen Weg, auch wenn er dir vermutlich nicht gefallen wird. Du musst in meiner Obhut zum Lager zurück kehren und ein Sklave bleiben, bis wir die Hauptstadt erreichen”, sagte Tarn ernst.
Valion schüttelte ungläubig den Kopf, das Gesicht voller offener Verwirrung. Er hatte vermutlich mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Tarn ihm nahe legen würde einfach aufzugeben. „Aber… aber ich bin geflohen! Und jetzt soll ich einfach zurück gehen als wäre nie etwas passiert?!”, fragte er perplex. „Es wird nicht so einfach, wie es jetzt klingt”, stimmte Tarn zu, „Du wirst in Ketten gelegt werden, wahrscheinlich für den Rest der Reise und möglicherweise auch danach, und du wirst vermutlich auch Schläge erhalten. Aber es gibt etwas, das uns in die Hände spielt und dir das Leben retten wird: Eravier geht inzwischen davon aus, dass Jan der Rebellion angehört und nicht du. Es war offensichtlich, dass du nicht darauf vorbereitet warst was er tun würde, und du hast niemand angegriffen. Du bist einfach nur gelaufen, als du die Gelegenheit dazu hattest. Wenn du friedlich zurück kehrst und alle Schuld zurück weißt, sind wir bestenfalls wieder dort, wo wir angefangen haben.” „Und Jan?”, fragte Valion unsicher, aber Tarn zuckte nur mit den Schultern. „Wir können nicht viel für ihn tun. Aber er wird sich vermutlich durchschlagen, egal, ob wir vor Eravier seine Rolle als Rebellenspion bestätigen oder nicht. Das Wichtigste ist, dass wir dich aus der Schusslinie bringen.”

Er hatte kaum geendet, als sich plötzlich die Spitze einer Klinge in seinen Rücken bohrte, und eine Stimme hinter ihm deutlich und bitter amüsiert sagte: „Interessanter Vorschlag, aber Irgendetwas daran stört mich. Ich glaube, meine Rolle dabei. Rebellenspion klingt ein bisschen langweilig, bist du sicher, dass das interessant genug für Eravier ist? Wie wäre es mit Rebellenanführer?” Tarn brauchte nur eine Sekunde, um die Stimme zuzuordnen. „Jan.” „Derselbe”, antwortete der leichthin und wandte sich dann an Valion, das Messer immer noch in Tarns Rücken: „Die Lichtung ist nicht umstellt, Val. Es sind keine Wachen in der Nähe, und soweit ich das einschätzen kann auch sonst niemand. Das ist zumindest schonmal ein Anfang.”

Valion nickte, und endlich verstand Tarn, warum er so ruhig gewesen war, und hätte er auch nur eine Sekunde lang sein Gehirn eingeschaltet und sich nicht von seiner Erleichterung blenden lassen, hätte er die Anzeichen auch zu deuten gewusst. Zum Beispiel, dass Valion auf ein gebrochenes Herz normalerweise wesentlich empfindlicher reagiert hätte, als er vorgegeben hatte. Er hatte Tarn schlicht und ergreifend angelogen, um Jan genug Zeit zu geben die Lage auszukundschaften und sich dabei nicht gescheut, sich selbst als Köder anzubieten. Das war nicht nur mutig, sondern auch ziemlich dreist. 
Trotzdem schien Valion die Situation nicht zu behagen, er war nicht einmal stolz auf seine geglückte Finte. Er warf Tarn einen entschuldigenden Blick zu und sagte zu Jan: „Nimm jetzt das Messer runter.” Jan seufzte und drückte rein aus Prinzip fester zu, und die spitze Klinge bohrte sich noch etwas vernehmlicher in Tarns Rücken; nicht fest genug, um ihn zu verletzen, aber stark genug, ihn nachdrücklich zu warnen. „Du weißt, wie ich dazu stehe, oder?”, fragte er, aber Valion ließ keine Diskussion zu. „Weiß ich. Trotzdem.” Und zu Tarns Erstaunen verschwand der Druck der Klingenspitze aus seinem Rücken, und obwohl Jan ihn weiter beobachtete, umrundete er ihn lässig und stellte sich an Valions Seite, ein stummer Beschützer, wartend auf Befehle. 

Befehle? Von Valion? Tarn hätte jeden ausgelacht, der ihm sagte, dass Valion dazu fähig war sich derartig durchzusetzen, aber jetzt, da er es mit eigenen Augen sah, war offensichtlich, welche Dynamik zwischen den beiden Jungen herrschte. Valion, einen Kopf kleiner und ein Jahr jünger als sein Freund, gab ruhig, aber bestimmt den Ton an, und Jan beugte sich seinem Urteil erstaunlich reibungslos. Vielleicht war das Tarns Glück, aber er überwand die Überraschung kaum. Was auch immer in den letzten Stunden geschehen war, es hatte die beiden nicht nur zusammengeschweißt, sondern etwas Grundlegendes zwischen ihnen verändert, das er nicht deuten konnte. 

„Tut mir Leid”, begann Valion entschuldigend, „aber wir mussten sicher gehen, dass niemand in der Nähe ist.” „Dafür habe ich schon gesorgt. Du hättest mir vertrauen können”, wandte Tarn ein, und er hasste es, dass er seine Irritation ungewollt so offen zeigte. Er hoffte, dass es nicht völlig offensichtlich war, aber etwas in Jans Blick sagte ihm, dass er es sehr wohl bemerkte. Ein Lächeln stahl sich auf Valions Lippen, als er sagte: „Ja, aber ich sollte schließlich niemand vertrauen.”
Das galt nicht für mich, dachte Tarn. Seine eigene Wut und Fassungslosigkeit überraschten ihn, denn sie waren völlig irrational. Er selbst hatte Valion gesagt, dass er nicht auf die Unterstützung oder das Wohlwollen anderer bauen durfte, aber zu diesem Zeitpunkt war er sicher gewesen, dass Valion ihm längst vertraute. Verdammt, Valion hatte es Tarn an diesem Tag sogar selbst zugesichert. Und jetzt, nur wenige Stunden nach seiner Flucht, war er plötzlich so vorsichtig und vernünftig wie noch nie. Es kam Tarn langsam vor, als würden sich in dieser Nacht alle seine Fehler auf spektakuläre Art gegen ihn wenden. Seine Einmischung in die Pläne der Rebellion, seine Warnungen an Valion, seine Unfähigkeit, Jan aus dem Weg zu räumen, jede dieser Entscheidungen entpuppte sich als Falle. Es wäre komisch gewesen, ein grotesker Witz, wenn nicht sein Leben auf dem Spiel gestanden hätte.

„Wir haben Marceus tatsächlich getroffen”, begann Valion von Neuem, immer noch mit dem selben, entschuldigenden Blick. Zumindest schien er weiterhin gewillt zu sein Rat einzuholen, sonst wäre er vermutlich in der nächsten Minute aufs Pferd gestiegen und auf und davon gewesen. Tarn zwang sich, ruhig zu bleiben. Er musste mit dem arbeiten was er hatte, auch wenn es ihm schwer fiel. Deshalb antwortete er neutral: „Das sehe ich, er hat euch immerhin bewaffnet”, und verbarg seinen Groll darüber, dass das Stilett, das er Marceus gegeben hatte, jetzt ausgerechnet in Jans Hand lag. Das war es also gewesen, was er im Rücken gespürt hatte - er war mit seiner eigenen Waffe bedroht worden. Er fügte diesen Fakt der wachsenden Liste von Ironien hinzu, mit der er heute Abend fertig werden musste.
Valion nickte zustimmend und fuhr fort: „Er hat uns in deine Richtung geführt, und er meinte, du willst uns helfen. Ich weiß, es ist alles aus dem Ruder gelaufen, und dein Vorschlag wäre gut, wenn ich wirklich allein hierher gekommen wäre. Aber wir bleiben zusammen. Wenn du uns nur das Pferd überlässt und alles, was du sonst entbehren kannst, dann verschwinden wir, und du bist uns los. Ich denke das ist die beste Lösung.”

„Es ist längst nicht mehr damit getan, euch loszuwerden, Valion”, sagte Tarn. Es verwirrte Valion sichtlich, dass er ihm widersprach. „Aber Marceus sagte-” „-dass ich euch helfen will, nehme ich an. Aber ich helfe euch nicht, wenn ich euch jetzt einfach gehen lasse”, unterbrach Tarn ihn. „In sehe keine Alternative als das, was ich dir angeboten habe, Valion. Bleib hier, und lass Jan gehen. Alles andere wird eure Situation nur verschlimmern.” „Schwachsinn”, griff Jan ärgerlich in das Gespräch ein, „Was spielt es für eine Rolle, ob Valion hier ist oder mit mir kommt? Eravier wird uns verfolgen, egal ob allein oder zu zweit. Es geht schließlich um den Preis für unsere Haut.” „Und genau das begreift ihr nicht; es wird schwierig genug sein, Eravier davon abzubringen, einen einzelnen Rebellen zu verfolgen. Aber er wird dich entkommen lassen, weil du im Prinzip nichts wert bist, Jan, und das weißt du selbst genau. 
Aber denkt ihr er wird auch nur eine Sekunde zögern alles was zwischen ihm und euch steht nieder zu brennen, wenn ausgerechnet du ihm seinen derzeit wertvollsten Sklaven stiehlst und ihn - natürlich nur nach seiner Vorstellung - zu einem Rebell machst?”, fragte Tarn schneidend. Er starrte jetzt nur Jan an, der misstrauisch und wütend zurück blickte.

Valion beobachtete sie, und plötzlich schien er noch wachsamer als zuvor, und das war noch etwas, das Tarn nicht vorhergesehen hatte. Valion hatte ihn in den letzten Tagen des öfteren betrachtet, ihm bei seiner Arbeit zugesehen, ihn hin und wieder gemustert, wenn er versuchte seine Stimmung zu deuten. Aber er hatte Tarns Handlungen nie derartig genau analysiert oder sich so schnell ein Urteil darüber gebildet, wie er es jetzt tat. Langsam beschlich Tarn der Verdacht, dass sein schwerwiegendster Fehler immer noch direkt vor ihm stand - er hätte Jan um jeden Preis aus dem Weg räumen müssen, denn was auch immer er mit Valion angestellt hatte, es gereichte ihm nur zum Nachteil.

Er zwang sich, seine Wut zu zügeln, und sprach ruhiger weiter: „Ich sage es nicht gern, aber selbst wenn ihr allein keine Ziele seid; ihr werdet es sein, wenn nicht mindestens einer von euch heute Nacht in Gefangenschaft kommt. Oder stirbt.”
Die beiden Jungen schwiegen einen Moment, Jan misstrauisch und wütend, Valion verwirrt und aus der Bahn geworfen. „Ich verstehe das nicht”, sagte er schließlich, und sein Blick wanderte zwischen Jan und Tarn hin und her, „»Ausgerechnet« Jan? Was soll das heißen?” Jan zuckte zusammen. Ihm war durchaus bewusst, welche Verantwortung er trug, Valion wiederum schien es noch nicht vollständig zu begreifen. Es rückte Jan nicht gerade in ein gutes Licht, und genau deshalb legte Tarn es noch einmal dar: „Eravier macht schon länger Jagd auf die Rebellion, zumindest, seit wir das erste Mal seine Pläne durchkreuzt haben. Deshalb hat er auch nach Hinweisen gesucht, die dich belasten könnten. Und was war naheliegender, als Jan dafür einzuspannen?
Eravier fand Gefallen an Jan. Er hat nicht nur seine Aufmerksamkeit erregt, Eravier hat Hoffnungen in ihn gesetzt. Dass er ihn nicht nur verraten, sondern als vermeintlicher Rebell auch noch direkt vor seinen Augen operiert hat, ist ein doppelter Affront.” „Ich hatte keine Wahl”, fauchte Jan. „Vielleicht”, sagte Tarn schneidend, „Aber hattest du auch keine andere Wahl als ihm fast die Kehle durchzuschneiden, oder ihn zu demütigen? Als du ihn in die Knie gezwungen hast, war das Notwehr?”
Valion hob die Hand als Zeichen, dass er genug gehört hatte, und sein Blick war jetzt sehr ernst. Jan beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas zu, und sie tauschten einen kurzen Blick; eine wortlose Botschaft, die nur sie beide entschlüsseln konnten. Es war entnervend. Dann schüttelte Valion den Kopf. „Ich verstehe, was du sagen willst. Gut, so einfach wird es also nicht. Aber wir bleiben zusammen, egal was kommt. Wenn es so nicht funktioniert, brauchen wir einen neuen Plan.”

Für einen Moment war Tarn sprachlos. In den Sekunden danach hätte er Valion am liebsten ins Gesicht geschlagen. Es war, als hätte er jedes seiner Worte gehört, verstanden… und dann ignoriert. Er ballte die Fäuste und verbot sich, aggressiv zu werden. Bevor er nicht jedes Argument vorgebracht und jede Möglichkeit ausgelotet hatte, Valion von seinem Plan zu überzeugen, würde er sein Vorgehen nicht ändern.
„Tut mir Leid, aber ich bin ratlos, Valion”, sagte er so neutral wie möglich. „Du sagtest, du könntest unseren Tod vortäuschen”, begann Valion, aber Tarn hatte damit gerechnet, dass er das vorbringen würde. „Das wäre nur glaubwürdig, wenn ihr nicht gerade auf der Flucht wärt, und wir hätten zu viele Augen, die auf jede Ungereimtheit achten würden. Hoffnungslos.” „Es muss einen anderen Weg geben”, sagte Valion, „Wir müssen ihn nur finden.” „Val, das ist alles sinnlos und kostet uns zu viel Zeit”, warf Jan ungehalten ein. „Lass uns beim ursprünglichen Plan bleiben. Soll Eravier uns verfolgen, was kümmert es uns? Denkst du, er kann noch viel wütender werden als jetzt? Wie schlimm kann es werden?”

Tarn und Valion wechselten einen Blick, und in diesem Moment fand der unsichtbare Dialog, der zuvor zwischen Valion und Jan bestanden hatte, zwischen ihnen statt. Er versteht es nicht. Jan war nicht bewusst, wie gefährlich Eravier war, das war eindeutig, aber sie beide teilten dieses Wissen. Es war mehr als Bösartigkeit oder Wut, die in Eravier schlummerte - es war Besessenheit. Valion erinnerte sich daran, wie Eravier seiner Mutter ohne mit der Wimper zu zucken die Nase gebrochen hatte, mit einem Tritt ins Gesicht. Die Art, wie er seine kleinen Schwestern hatte heraus zerren lassen, um ihn verwundbar zu machen. Wie er ihn zu Boden geworfen und ihm fast das Schlüsselbein gebrochen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war er in guter Stimmung gewesen. Und er sah in Tarns Augen, dass er an das selbe dachte und vermutlich Schlimmeres. Jan fürchtete sich nicht, weil er Eraviers wahres Gesicht nie gesehen hatte, dass wussten sie beide.
Und das war für Tarn der richtige Moment, den Keil tiefer zu treiben. „Diese Diskussion bringt uns nicht weiter. Valion, können wir kurz unter vier Augen sprechen?”, fragte er. Jan runzelte wütend die Stirn, und Valion schien unsicher, aber schließlich nickte er. 

„Val-”, begann Jan, aber Valion legt ihm eine beschwichtigende Hand auf den Arm. „Schon gut, ich weiß.” Da war er wieder, der schweigende Dialog, genauso entnervend und unklar wie beim ersten Mal, und dann drückte Jan Valion das Stilett in die Hand, weder auffällig noch versteckt. Er machte keine große Sache daraus, aber er verbarg es auch nicht, und die Botschaft war eindeutig: Von den beiden war er derjenige, der Tarn ohne zu zögern abgestochen hätte, wenn er eine falsche Bewegung machte. Valion nahm es widerwillig entgegen. „Du weißt ja, wo das spitze Ende hingehört”, murmelte Jan in sein Ohr, laut genug, dass Tarn es auch hören könnte, dann wandte er sich ab und entfernte sich ein paar Schritte, und Valion trat zwei Schritte weiter auf Tarn zu. 

Der Dolch lag unsicher in Valions Hand, ein ungewohntes Gewicht, und zumindest in diesem Moment wirkte er wieder viel mehr wie der unschuldige Junge, der er vor Stunden noch gewesen war. „Halte es anders”, sagte Tarn sanft und griff nach seiner Hand. Valion zuckte zusammen, aber dann hob er die Hand und ließ seine Haltung korrigieren. „Ein Stilett ist nur zum Zustechen nützlich, du kannst damit niemand schneiden”, erklärte Tarn ruhig. Valion nickte, und die Spannung zwischen ihnen löste sich etwas, so wie Tarn es beabsichtigt hatte. In diesem Moment waren sie Mentor und Schüler, und Valion hörte aufmerksam zu, als Tarn erklärte: „Es ist keine sehr vielseitige Waffe, aber sie ist trotzdem sehr gefährlich. Du wartest am besten den geeigneten Moment ab und stichst dann gerade zu.” „Die Klinge ist sehr schmal. Damit kann ich niemand töten, oder?”, fragte Valion nach. 
Die Vorstellung schien ihn zu beruhigen. Es passte zu ihm, dass er sich davor scheute gewalttätig zu werden, aber Tarn nahm ihm die Illusion schnell. „Im Gegenteil. Wenn du auch nur die Hälfte der Klinge in den Oberkörper hinein treibst, egal wo, ist es das ziemlich sicher tödlich. Vielleicht nicht sofort, aber innerhalb von Stunden oder Tagen. Eine Stichwunde blutet stark und entzündet sich fast immer.”
„Ich will niemand töten”, antwortete Valion unbehaglich, und Tarn nickte. „Alles andere hätte mich auch überrascht. Aber ich fürchte du wirst es tun müssen, wenn du wirklich vorhast mit Jan zusammen zu bleiben. Oder du wirst in Kauf nehmen müssen, dass ihr getötet werdet. Denn einen dritten Weg wird euch Eravier nicht lassen, und ich kann dann nichts mehr ausrichten.” 
„Du willst wirklich, dass Jan und ich uns trennen, bis alles ausgestanden ist”, stellte Valion sachlich fest. Er sah jetzt wieder sehr ernst aus, misstrauisch, als hätte er diesen Gesprächsverlauf erwartet, und Tarn hatte das Gefühl, in eine Falle gelaufen zu sein. Plötzlich fühlte er sich unsicher, und das ergab überhaupt keinen Sinn. Valion würde vernünftig handeln, er begann endlich zu verstehen, was auf dem Spiel stand. Zwangsläufig würde er sich auf seine Seite schlagen.

„Ich halte es für das Beste”, gab er vorsichtig zu, „Für eure eigene Sicherheit, und die aller anderen, die sonst das Pech hätten, in eure Flucht hineingezogen zu werden. Es wäre eine Trennung auf Zeit, das sollte dir doch klar sein. Eure Beziehung sollte stark genug sein, das durchzustehen”, versuchte Tarn zu argumentieren, und plötzlich lachte Valion. Es war ein unheimliches Geräusch, weil es nicht zu ihm passte. Es klang bitter, zynisch, mehr nach einer anderen Person als nach ihm selbst. „Und was wird aus Jan? Was soll er tun?”, fragte er. „Du sprichst immer nur davon, dass wir allein besser dran wären. Aber das bin nur ich. Jan ist krank, er kann kaum noch laufen. Wie soll er das schaffen?” 
„Wir finden eine Lösung dafür”, antwortete Tarn ruhig, aber gleichzeitig wollte er sich am liebsten selbst verfluchen. Er hatte die ganze Zeit nur Valion im Auge behalten und was aus ihm werden würde. War wirklich so offensichtlich gewesen, wie egal ihm Jans Schicksal war? „Die Rebellion ist überall im Land verstreut, wenn es darum geht, finden wir ein Versteck für Jan, bis sich alles beruhigt hat.” „Und wie soll ich das nachprüfen?”, fragte Valion, „Wer sagt mir, dass er nicht für immer verschwindet? Dass er nicht in der Sekunde ausgeliefert wird, in der ich-” 
„Was zum Teufel ist los mit dir?”, unterbrach Tarn ihn plötzlich, und er war selbst überrascht, wie wütend und hilflos er sich plötzlich fühlte. „Denkst du wirklich, dass ich dich gerade jetzt im Stich lassen würde? Du hast mir immer vertraut, warum nicht jetzt?” Valion sah ihn perplex an, und für einen Moment schaffte er es nicht ganz, seine wahren Gefühle zu verbergen. Und Tarn begriff.

Er hatte es noch nie mit diesem Valion zu tun bekommen. Verdammt, der Junge lernte schnell, er hatte selbst Tarn damit getäuscht. Er hatte in ihm wie in einem offenen Buch lesen können, aber dieses Buch war jetzt geschlossen, und er verstand endlich, dass er ausgesperrt war. Er hatte keinen Zugang mehr zu Valions unmittelbaren Gedanken, und seine Reaktionen waren genauso kalkuliert und durchdacht wie Tarns eigene. Valion wusste, dass er manipuliert wurde, dass die Trennung von Jan ein Trick war, und genau deshalb sperrte er sich so völlig dagegen. Erst jetzt, durch Tarns offene Frage, begann er an dieser Tatsache zu zweifeln.
Es war offensichtlich, wer ihn mit diesem Misstrauen geimpft hatte. Tarn war nicht länger ein Vertrauter, nicht mehr die Person, der Valion sich völlig öffnete. Er hörte jetzt auf Jan, und der war klug genug, Tarn als genau das zu betrachten und zu behandeln, was er war. Selbst jetzt behielt er die Umgebung, das Pferd und Tarn selbst immer im Auge und ließ in seiner Wachsamkeit keine Minuten nach. Natürlich hatte er Valion darauf vorbereitet, dass sie verraten werden konnten - Verrat war vermutlich ebenso seine zweite Natur wie die von Tarn.

Er hatte Valion verloren, und es war fast lächerlich, wie schwer er diese Tatsache hinnahm. Hätte er nicht damit rechnen müssen? 
Aber das hatte er nicht. Nicht so schnell. Vielleicht hatte er die Verbindung zwischen den Jungen von Anfang an unterschätzt. Sie waren nur ein paar Tage zusammen gewesen, aber möglicherweise hatten ihre gemeinsamen Erlebnisse sie zusammengeschweißt. Oder es war mehr als das; ungewollt erinnerte er sich daran, wie nahe Jan und Valion sich bereits gekommen waren. Es war einfach, ihre Romanze abzutun, weil sie noch so jung waren, aber vielleicht gab es zwischen ihnen eine beständige Verbindung. Wer konnte das jetzt schon sagen?
Doch im Grunde war das alles unwichtig. Fakt war, egal, worauf sich ihre Anziehung nun gründete, er würde sie keinesfalls mit Worten auseinander bringen können. Und selbst wenn Valion mitspielte, selbst wenn er im Austausch für Jans Sicherheit zurückkehrte, er würde nie wieder so zugänglich sein, wie er es zuvor gewesen war. Jede Entscheidung, alles, was er tat, würde durch die zynischen Augen von Jan eine neue Betrachtungsweise erhalten. Und wenn sie getrennt würden? Würden sie Mittel und Wege finden, zueinander zurück zu finden.  

Vielleicht war Valion damit sogar aus dem Spiel. Die Rebellion hatte sich ihm gewidmet, weil er noch jung war, beeinflussbar, formbar. Wenn niemand mehr an ihn heran kam, war er praktisch nutzlos geworden. Die Rebellion würde nicht zögern, Tarn die Schuld dafür zu geben, weil er in diesem einen, entscheidenden Augenblick gezögert hatte. Er wünschte, er hätte Jan beseitigt, als es noch so einfach gewesen war. Aber es war auch jetzt noch nicht zu spät, und bei diesem Gedanken befiel ihn eine bleierne Ruhe.

„Glaubst du mir, dass ich euch helfen will?”, fragte Tarn. „Ich weiß es nicht”, antwortete Valion, und das war die Wahrheit, es war deutlich in seinem Gesicht abzulesen. Für einen Moment ließ er seine Abwehr fallen, strich sich müde über die Augen und sah Tarn dann direkt an, mit offenem Blick. „Ich bin seit Stunden unterwegs, es ist kalt, meine Füße sind wund, Jan ist verletzt. Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Als wir geflohen sind, schien alles klar. Ich dachte es wäre eine gute Entscheidung.” „Und glaubst du das immer noch?”, fragte Tarn. „Meistens ja. Wir sind noch am Leben. Wir sind zusammen. Aber…” Er schwieg einen Moment, bevor er sagte: „Aber ich weiß nicht mehr, wem ich noch vertrauen kann. Ich war mir selbst bei Marceus nicht sicher. Und jetzt bin ich es auch nicht.” „Und das macht dir zu schaffen”, stellte Tarn leise fest. 
Es war offensichtlich, und es weckte sein Mitleid. Valion war immer noch so verletzlich wie zuvor, er zeigte es nur nicht mehr offen. Er konnte sich durchsetzen und das Geschehen in der Hand behalten, aber er zahlte dafür mit Zweifeln, die er nur mit sich selbst ausmachte. Ihm fehlte der harte Kern, der Jan oder Marceus eigen war, der egoistische Überlebenswille und die Gleichgültigkeit. Wenn die Zweifel überhand nahmen, wenn er seine Entscheidungen nicht mehr vor sich selbst rechtfertigen konnte, wenn irgendwann Blut an seinen Händen klebte, würde Valion innerlich absterben. „Ich will dir vertrauen, Tarn”, sagte er, und er meinte es diesmal nicht weniger ernst als zuvor. „Ich weiß, dass ich dir vorher vertraut habe, aber jetzt ist… alles anders. Ich wollte es nicht, aber es ist so.”

„Du kannst immer auf meine Unterstützung bauen, Valion. Daran hat sich nichts geändert”, sagte Tarn. Er hob die Hand und strich ihm durchs Haar. Valion sah ihn stumm und dankbar an, dankbar dafür, dass sich nicht alles geändert hatte, und es bestärkte Tarn nur in seiner Entscheidung.
Genauso wie die Tatsache, dass Jan, der sie schon die ganze Zeit misstrauisch aus den Augenwinkeln betrachtet hatte, zu ihnen trat. „Das reicht jetzt”, sagte er kalt und packte Valions Hand, der sich irritiert zu ihm um wandte. „Jetzt reden wir unter vier Augen.” Valion zögerte, aber dann warf er Tarn einen um Verständnis bittenden Blick zu und wandte sich dann ganz zu Jan hin. „Gut. Aber wir können nicht ewig so weiter machen. Wir brauchen eine Entscheidung”, sagte er. Er versuchte ein guter Vermittler zu sein, und Tarn beneidete ihn nicht darum, dass er nicht nur eine Entscheidung fällen, sondern auch zwischen ihm und Jan schlichten musste. „Ich will nur das Beste für Valion”, versuchte Tarn die Spannung beizulegen, doch Jan warf ihm einen kalten Blick zu, der seine Gefühle offen zeigte. Er misstraute ihm nicht nur, er hasste auch, welchen Einfluss Tarn auf Valion hatte, und er machte sich nicht die Mühe, diesen Hass zu verbergen, als er sagte: „Ja, und ich will das Beste für uns Beide.” Dann zog er Valion außer Hörweite, und sie begannen ein intensives, geflüstertes Gespräch, von dem Tarn nur einzelne Bruchstücke verstehen konnte. 

Aber er musste kein einziges Wort ihrer Diskussion hören um zu wissen, dass er diesen Kampf verlieren würde. Er hatte alles an Argumenten ausgespielt was er hatte, und es reichte nicht. Selbst jetzt, vertieft darin, ihre gegensätzlichen Meinungen zu vereinen, waren sich Jan und Valion nah. Er betrachtete die Gestik und Mimik, und alles kam ihm bekannt vor. Sie standen dicht voreinander, sahen sich direkt in die Augen, argumentierten einander zugewandt. Vertraut. Er konnte sie nicht trennen, nicht im Guten. Tarn fragte sich, ob Marceus es gesehen hatte und ob er eine Chance gehabt hätte die beiden auseinander zu bringen, als noch Zeit war. Warum hatte er nicht daran gedacht? Egal. Er konnte seine Fehler nur auf eine Art korrigieren.

Ich will wirklich das Beste für dich, Valion. Ich fürchte nur, du wirst es nicht zu schätzen wissen, dachte Tarn und legte selbst die wenigen Schritte zurück, die er benötigte um seine Muskete zu erreichen, die immer noch im Schatten eines Baumes an dessen Stamm gelehnt stand. Weder Valion noch Jan sahen sich nach ihm um, zu vertieft in ihren Streit. Sie bemerkten nicht sofort, dass er nach der Waffe griff, anlegte und zielte. 
Er würde diese Nacht rückgängig machen, und alles würde zu seinem vorherigen Zustand zurückkehren. Er würde wie zuvor über Valion wachen, ohne dass Jan sich einmischte, und Valion würde sein Vertrauen und seine Sorglosigkeit zurück gewinnen. Der Junge hatte einen Fehler gemacht, sich in eine Situation gestürzt, die er nicht bewältigen konnte und sich auf eine Person eingelassen, die ihn nicht schützen konnte. Aber dieser Fehler ließ sich korrigieren. Um all seine Pläne umzusetzen und beinahe nebenbei seine eigene Haut zu retten musste Tarn nur einen einzige Figur aus dem Spiel nehmen.

Er hatte Jan im Visier, als plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit völlig beanspruchte. Es war in dem Moment geschehen, als Valion und Jan völlig in ihr Gespräch vertieft waren und er seine Aufmerksamkeit aufs Zielen konzentriert hatte. Sie waren nicht mehr zu dritt auf der Lichtung, sondern zu viert. 

Die letzte Spielfigur, die Tarn aus den Augen gelassen hatte, war aus den Schatten des Waldes aufgetaucht wie ein Geist. Jede seiner Entscheidungen hatte sich an diesem Abend gegen ihn gewandt, aber vielleicht nicht diese. Vielleicht würde er nicht derjenige sein, der Jan tötete. Und während Jan und Valion sich reflexartig um wandten, spiegelte sich das fahle Mondlicht auf der erhobenen Scherbe aus Spiegelglas, so lang und vielleicht doppelt so dick wie ein Finger. „Ich finde es sehr erfreulich, dass wir uns heute Abend noch einmal begegnen, Jan”, sagte Eravier mit einem Lächeln, dass das Blut in den Adern gefrieren ließ. 

„Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist. Du hast sie tatsächlich in Schach gehalten”, sagte er an Tarn gewandt, aber seine Augen zuckten nur für einen Moment in seine Richtung, bevor sie wieder auf Jan lagen. Er hielt die Scherbe, umwickelt mit einem Fetzen Stoff, als Waffe in den Händen. Der Wind zerrte an seinem von Tau und Nebel durchnässten Hemd und den wirren Haarsträhnen, die sich gelöst hatten und ihm ins Gesicht hingen. Das Blut, das den Stoff seines Kragens vor Stunden hatte, war in Spritzern und Flecken getrocknet und wirkte im Mondlicht schwarz wie Teer, aber seine grauen Augen leuchteten dafür umso heller. Er war ruhig und fast heiter, und das war schlimmer als jeder Wutausbruch. Sein breites, amüsiertes Lächeln verschwand nicht, als er sagte: „Auf diese Weise kann ich Jan etwas zurück geben, das er offensichtlich bei seinem überstürzten Aufbruch vergessen hat.” 

Im nächsten Moment geschah alles auf einmal. Eravier trat er einen Schritt vor und griff Jan an. Valion machte zwei entsetzte Schritte zurück, das Stilett in seiner Hand völlig vergessen, und wandte sich zu Tarn um. Er sah die schussbereite Waffe in seinen Händen, und für einen Moment sah man in seinen Augen Erwartung; er war überzeugt, dass Tarn Eravier hatte kommen sehen und auf ihn gezielt hatte. Doch im gleichen Moment trat Tarn einen Schritt auf Valion zu und ließ die Waffe sinken, um nach ihm zu greifen. Es war sein Glück, dass Valion nicht begriff, was er vorhatte, bis er das Gelenk der Hand griff, in der immer noch das Stilett lag und Valion weiter zurück zog, aus Jans und Eraviers Reichweite. Jan wiederum sah nicht, was in seinem Rücken geschah, er war in diesem Moment zu beschäftigt damit, Eraviers Angriff auszuweichen, und er verdankte es nur seiner schnellen Reaktion, dass sich die Scherbe nicht in seinen Hals bohrte und ihm die Kehle zerfetzte. Er sprang zurück, und die Glasscherbe traf seinen abwehrend erhobenen Arm und brachte ihm einen tiefen Schnitt bei, dann schlug er mit der geschlossenen Faust nach Eravier und verfehlte ihn nur knapp.
Valion begriff plötzlich, dass Tarn keinesfalls versuchen würde, gegen Eravier anzugehen, sondern ihn selbst stattdessen aus dem Gefecht herauszog, und dass ihm der Dolch entwunden wurde. Seine Verwirrung schlug in Sekunden in Wut um, und plötzlich sah sich Tarn damit konfrontiert, dass Valion sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, aus Jans Reichweite gezerrt zu werden. „Lass das, du wirst Jan nur behindern!”, flüsterte Tarn angestrengt, doch Valion rang mit ihm und versuchte mit aller Kraft die Gewalt über den Dolch zu behalten. Er konnte es nicht schaffen, Tarn war einen Kopf größer und dreißig Kilo schwerer, aber Valion ging so entschlossen gegen ihn an, dass Tarn Mühe hatte, ihn zu bändigen. 
Nur drei Schritte neben ihnen umkreisten sich Eravier und Jan und parierten ihre jeweiligen Schläge und Ausfälle. Obwohl Jan immer wieder Schnitte an seinen Armen davon trug und Mühe hatte mit Eraviers Tempo mitzuhalten, schlug er sich gut, nachdem er seine Überraschung überwunden hatte. Das war offensichtlich nicht das erste Mal, dass er unbewaffnet gegen einen Gegner mit einer Stichwaffe kämpfte; er verlegte sich darauf, auszuweichen und in geeigneten Momenten zu versuchen, Eravier die Scherbe aus der Hand zu schlagen oder seinen Arm zu packen. Die restliche Zeit hielt er sich leichtfüßig außer Reichweite und sparte seine Energie, die Eravier für seine schnellen Angriffe verschwendete. 
Es wurde immer wahrscheinlicher, dass Jan es schaffen würde in den Besitz der Scherbe zu gelangen und Eravier zu überwältigen, und während Tarn immer noch mit Valion rang, suchte er verzweifelt nach einer Alternative. Die alte, eiskalte Ruhe lauerte unter der Oberfläche - noch bestand keine Gefahr, aber er würde nicht zulassen, dass Eravier ernsthaft verletzt wurde, selbst wenn es bedeutete Jan den Dolch selbst in den Rücken zu rammen. Das Problem war, dass er dazu keine Gelegenheit bekam wenn Valion weiter verzweifelt versuchte sich mit ihm zu schlagen, selbst wenn er damit keinen Erfolg hatte.

Und dann wurde ihm bewusst, dass es eine weitere Möglichkeit gab, und für einen Moment fragte er sich, ob er wirklich so abgebrüht war. Vermutlich ja. Es war der perfekte Plan. Das Problem an perfekten Plänen war, dass sie irgendwann als Problem zurück kehrten, so wie heute. Aber hatte er denn eine Wahl? Er hatte Valion schon längst verloren. Es spielte wohl kaum mehr eine Rolle. Er wartete nur noch auf den richtigen Moment. Er wusste, dass er kommen würde, und er wusste, wie Valion und Jan reagieren würden.

Jan schaffte es schließlich, nahe genug an Eravier heranzukommen, um seine Hand zu packen. Wie Tarn und Valion rangen sie für einen Moment miteinander, aber im nächsten Moment verpasste Jan Eravier einen Schlag ins Gesicht, der ihn zurück taumeln ließ. Aus Reflex ließ er die Scherbe los, die Jan geschickt auffing, und jetzt wendete sich das Blatt endgültig. Tarn ließ Valion los, der völlig perplex plötzlich den Dolch in der Hand hielt. „Halte ihn auf”, flüsterte Tarn, „und dann verschwindet”, und er drehte Valion an der Schulter herum und stabilisierte noch einmal, wie zuvor, die Hand, in der er das Stilett hielt. Valion ließ es perplex geschehen, während er Jans Situation erfasste und die Gefahr erkannte, in der Eravier sich jetzt befand. Er wusste ebenso gut wie Tarn, dass Jan seine Chance nutzen würde, als er einen Schritt auf Eravier zu machte und ausholte.

„Jan, nicht!” Valions Blick war starr geradeaus auf Jan gerichtet, und er machte einen Schritt in seine Richtung. 

Es war so einfach, so berechenbar. Valion würde sich immer zu Jan wenden, immer zu ihm laufen, ihn immer daran hindern, einen Mord zu begehen. Und Jan würde immer auf ihn hören, weil er dieses zweite Gewissen brauchte. Und deshalb wandte er sich zu Valion um, als er seinen Namen rief und ihn davon abhielt, Eravier die Kehle durchzuschneiden. Deshalb konnte Tarn das tun, was er geplant hatte. 
Er beugte sich vor, und er war sich nicht sicher, ob Valion ihn in diesem Moment hörte, als er leise sagte: „Ich hoffe das kannst du mir irgendwann verzeihen.” Dann gab er Valion einen verdeckten, aber heftigen Stoß, der ihn in Jans Arme schickte, mit dem Messer vorran. 

Es war eine gute Waffe, und fünfzig Kilo und ein wenig Schwung hätten genügt, um die Klinge tief ins Fleisch zu treiben. Für den, der den Stoß nicht gesehen hatte, sah es so aus als wäre Valion auf Jan losgegangen. Das war der Eindruck, den Eravier gewann. Und auch Jan.

Jan wich aus, drehte seinen Oberkörper reflexartig zur Seite, und das bewahrte in davor, durchbohrt zu werden. Die Klinge schrammte tief über die nackte Haut seines Bauches, grub sich vorwärts und glitt dann ab. Es ging alles zu schnell, als dass Valion das Stilett hätte loslassen können. Ein Ruck fuhr durch seinen Arm, und er spürte den Widerstand. Er gab mit seiner Hand schon nach, als die Klinge nur den halben Weg zurück gelegt hatte, und es war trotzdem zu spät. Als er los ließ und einen panischen, entsetzten Schritt zurück trat, entglitt ihm Dolch und fiel mit einem dumpfen Klirren zu Boden. Es dauerte nur Sekunden, und Blut perlte aus der tiefen Wunde, aber es schien Jahrhunderte zu dauern.
 
Jan hob traumwandlerisch die Hand, berührte die klaffende Wunde und betrachtete seine blutigen Fingerspitzen, bevor er den Blick hob und Valion ansah.

„Weißt du”, sagte er leise und als wäre er nicht ganz da, „irgendwie dachte ich du hättest es ernst gemeint, als du sagtest, du würdest mich nicht verlassen.”

Valion öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und in diesem Moment holte Jan mit der Faust aus und versetzte ihm einen Schlag gegen den Kiefer, der ihn von den Füßen warf. Er stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden und war innerhalb von Sekunden bewusstlos.

Erst jetzt kam Bewegung in Eravier, der vor Erstaunen noch wie gelähmt gewesen war. Er versuchte seine Chance zu nutzen, aber wenn er gedacht hatte dass Jan unter Schock kein ernstzunehmender Gegner war, dann hatte er sich getäuscht; das genaue Gegenteil war der Fall. Er machte eine halbe Drehung, gab Eravier einen abwesenden Stoß gegen die Brust, der ihn zurück warf, dann ließ er die Scherbe fallen und lief er los, packte die verwirrte Stute am Zügel und stieg in den Sattel. Ihm musste bewusst geworden sein, dass ihn nun wirklich nichts mehr hier hielt.

Doch sekundenlang sah es aus, als würden die Anstrengung des Aufsitzens und der Schock ihn überwältigen. Sein Gesicht wurde kalkweiß und er schwankte im Sattel, kurz davor, bewusstlos zu werden. Dann riss er sich zusammen und sah zurück auf Valion, der regungslos am Boden lag. Was auch immer er dachte, in diesem Moment sah er nichts Anderes, weder Eravier, der die Scherbe vom Boden aufhob um auf ihn loszugehen, noch Tarn, der wieder die Waffe hob. Es war unmöglich zu sagen, was er wirklich empfand, aber Tarn glaubte Schmerz zu sehen, Trauer und Wut. Wut auf Valion? Oder Wut auf sich selbst?
Dann streifte sein Blick Tarn, und für einen Moment war er sich fast sicher, dass Jan begriff, was geschehen war. Sein Gesicht verzog sich plötzlich zu einem schmerzlichen Lächeln, nur für einen Sekundenbruchteil. Dann richtete er sich auf, sein Lächeln wurde zynisch, er nickte abfällig in Richtung von Valions bewusstlosen Körper und sagte mit rauer, immer noch abwesender Stimme: „Den da könnt ihr behalten. Für eine Rebellion taugt er nicht, aber sonst ist er ganz niedlich.” Er hustete, und mehr Blut quoll aus der Wunde in seinem Oberkörper. Der Geruch ließ die Stute tänzeln, sie verdrehte die Augen und schnaubte nervös, doch Jan behielt sie trotzdem unter Kontrolle. Sein Grinsen wurde noch breiter, galt jetzt nur noch Eravier, und widerwillig gestand sich Tarn ein, dass sich Valion zumindest in einem nicht getäuscht hatte - Jan war loyal bis in den Tod. Er hatte Tarns Plan durchaus verstanden, und er nutzte diesen letzten Moment, um ihn umzusetzen und Valion zu entlasten.
„Wenn ihr mich entschuldigt, ich muss noch ein paar andere reiche Dreckskerle für die Rebellion aufs Kreuz legen. Aber wir sehen uns bestimmt mal wieder. Eines habe ich hier schließlich gelernt - Loyalität.” Bevor Eravier darauf reagieren konnte, trieb er die scheuende Stute an und verschwand in der Dunkelheit. Sekunden später hörten sie erschrockene Aufschreie und dann vereinzelte Schüsse, als er aus dem Wald hervor brach und über das Weideland flüchtete, doch anscheinend war er unaufhaltbar.

„Dieses kleine Aas”, fluchte Eravier wutentbrannt und machte einen Schritt in die Richtung, in die das Pferd verschwunden war, doch Tarn reagierte sofort. Es hatte keinen Sinn mehr, Jan zu verfolgen, und wenn Eravier zur Vernunft kam, würde ihm das auch bewusst werden, aber im Moment war er zu wütend, um diesen Schluss selbst zu ziehen.
Tarn überbrückte mit drei schnellen Schritten die Distanz zwischen ihnen packte Eravier an der Schulter, zerrte ihn zu sich herum und zwang ihn so, ihn anzusehen. „Wir können nichts mehr ausrichten!” „Denkst du, ich lasse ihn einfach so entkommen?”, spie Eravier wütend, schlug seine Hand weg und riss sich von ihm los, und in diesem Moment verpasste Tarn ihm einen Schlag ins Gesicht, der ihn zurücktaumeln ließ. „Lass es sein, verdammt! Du kannst ihn nicht zu Fuß verfolgen! Wir müssen die Wächter neu sammeln, und selbst wenn wir das schaffen, können sie bei ihrer Jagd auf einen verletzten, rasenden Irren verzichten!”

Für einen Moment stand Eravier wie versteinert da und starrte ihn an, und Tarn war sich fast  sicher, dass sich sein blinder Zorn jetzt gegen ihn richten würde. Eraviers Hand umklammerte immer noch die Scherbe, und sein Blick war voller Mordlust. Er war an diesem Abend zweimal mit dem Tode bedroht worden, und der Schuldige war entkommen. Irgendjemand würde dafür büßen.
Doch dann, nach einem Augenblick der Tarn wie eine halbe Ewigkeit erschien, entspannte sich Eraviers Haltung. Offensichtlich hatte er ihn aus seiner blinden Rage heraus gerissen, und schließlich stimmte er widerwillig zu. „Du hast Recht”, sagte er tonlos.

Tarn atmete auf, und plötzlich fühlte er sich so erschöpft wie noch nie in seinem Leben. Sein ganzer Körper schmerzte, als er sich hinunter beugte und das Stilett aufhob, das immer noch in Valions Nähe auf dem Boden lag und im Mondlicht schimmerte. Die Spitze war blutig, und er schauderte. Er hatte an diesem  Abend niemand getötet, aber was auch immer zwischen Valion und Jan bestanden hatte, er war sich fast sicher, dass er es zerstört hatte. Er versuchte, die Schuldgefühle zu verdrängen, sich einzureden, dass es notwendig gewesen war und dass Jan auf diese Weise eine reelle Chance hatte. Er hatte Valion gerettet, und sein eigenes Leben ebenfalls. Aber das Gefühl der Kälte blieb.

Eravier, der das Stilett in Tarns Hand ebenfalls betrachtet hatte, wandte sich nun zu Valion um, der immer noch reglos da lag. „Was ist mit ihm?”, fragte er abwesend, und Tarn zuckte mit den Schultern. „Vermutlich ist er nur bewusstlos.” Jan hatte heftig zugeschlagen, und Tarn war sich fast sicher, dass Valion noch einige Stunden ausgeschaltet sein würde, aber vermutlich würde er sich danach schnell erholen. Körperlich zumindest. Er vertrieb den Gedanken, weil er jetzt nicht mit ihm umgehen konnte.  Lieber steckte er den Dolch weg, ging neben Valion in die Knie und prüfte seinen Puls und seinen Atem. Beides war ruhig und gleichmäßig.

Eravier trat ebenfalls heran und beobachtete ihn, und Tarn wusste seinen Gesichtsausdruck nicht zu deuten. Für einen Moment fürchtete er, dass er seine Wut an dem bewusstlosen Junge auslassen würde. Doch stattdessen betrachtete er das blasse, erschöpfte Gesicht für eine Weile, dann beugte er sich herunter und strich geduldig und mit größter Vorsicht die Haare aus Valions Stirn. „Ich hätte nicht gedacht, dass er sich auf unsere Seite stellen würde. Er hat tatsächlich versucht, den kleinen Bastard aufzuspießen…”, sagte er nachdenklich. Aus seiner Stimme sprach sowohl Verwunderung als auch Respekt, und Tarn atmete ein wenig auf. Er war nicht sicher gewesen, ob Eravier seine Täuschung so wie beabsichtigt wahrgenommen hatte, obwohl sie nicht auf Zufall beruhte. Eravier hatte schon immer Gefallen an Überläufern gefunden, die sich seiner Seite anschlossen und in seinem Namen seine Feinde töteten, selbst, wenn es wie in Valions Fall bei einem Versuch blieb; es gab ihm ein Gefühl von Macht und bestätigte ihn in seinem Größenwahn. Es war nicht das Beste denkbare Ergebnis, aber es war genug, um die Rebellion zufrieden zu stellen. Es würde weiterer Arbeit bedürfen, das Bild von Valion in Eraviers Augen zu korrigieren, aber das war nichts, was er nicht schon früher bewältigt hatte. Wenn er es recht bedachte, konnte er gleich damit beginnen.

„Ich denke, er hat versucht seinen Fehler wiedergutzumachen. Wenn man seinen Worten glauben darf wusste er nicht, was Jans Ziele waren”, sagte er ruhig, dann schob er seine Arme unter Valions leblosen Körper und hob ihn langsam und vorsichtig hoch und richtete sich auf. Er schien kaum etwas zu wiegen, und sein Körper fühlte sich kalt an.
Er dachte daran, dass Jan noch weniger am Leibe trug als Valion, verletzt und immer noch krank war, und er fragte sich, ob sein Schicksal damit nicht schon besiegelt war. Es wäre einfacher gewesen, und gleichzeitig schwerer, wenn er für immer verschwand. Wie würde Valion damit umgehen? Seine Gedanken kehrten immer wieder zu dieser Frage zurück, und während er ihn ansah, musste er sich eingestehen, dass er es nicht wusste. Er wusste, dass Valion nicht unnachgiebig genug war, dass es ihm an Härte fehlte. Aber das war nicht das gleiche wie Zähigkeit. Er dachte an Karvash, der in seinem ganzen Leben noch niemals für eine Sache eingestanden hatte und trotzdem immer überlebt hatte, als Schmarotzer im Schatten größerer und gefährlicherer Männer. Nicht hart, aber zäh. Es schien unfair, einen Kriecher wie Karvash mit Valion gleichzusetzen, aber vielleicht schlummerte in Valion die einzige gute Eigenschaft, die Karvash zu bieten hatte.

Dann wurde ihm bewusst, dass er Valion gedankenverloren anstarrte und Eravier ihn dabei beobachtete, deshalb fuhr er fort: „Aber so wie ich dich kenne spielt das keine Rolle für dich. Ich frage mich, was du mit ihm vorhast.” „Ich bin mir unschlüssig. Momentan hätte ich große Freude daran, ihn in den Teich zu werfen und zu zusehen, wie er jämmerlich ersäuft. Oder ich könnte Jan und der Rebellion seinen abgetrennten Kopf zukommen lassen, als abschreckendes Beispiel”, erklärte Eravier spöttisch. Es sollte gelassen klingen, aber die Kälte, die in seiner Stimme schwang und der bittere Unterton entlarvten ihn. Seine Wut war seit dem Moment, als Jan ihnen entkommen war, nicht geringer geworden, er verbarg sie nur hinter eiskalter Ruhe, konservierte sie für später. Sie richtete sich nicht gegen ihn oder Valion, sondern gegen Jan und die Rebellion, aber dennoch würde er vorsichtig sein müssen.  
Eravier bemerkte, dass Tarn sich versteifte, und er lachte. „Aber nein, ich werde Valions Kopf nicht für einen derartigen Scherz verschwenden. Das wäre bemerkenswert undankbar, wenn er doch so heldenhaft eingegriffen hat. Die Frage ist, was er damit bezweckt hat. Ich denke, es lohnt sich jetzt mehr als zuvor herauszufinden, was tatsächlich in ihm steckt. Und wer weiß - vielleicht hat er ja noch nicht mit Jan abgeschlossen.”

Seine Augen ruhten jetzt nur auf Valion, und Tarn schauderte, als er den Ausdruck darin sah. Es lag die Art von Zuneigung darin, die man einem Schlachttier angedeihen ließ. Eraviers Gleichgültigkeit gegenüber Jan war in dem Moment in Interesse umgeschlagen, als er eine Chance gesehen hatte, ihn für seine Pläne zu nutzen. Er hatte nicht weniger mit Valion vor, und wenn Tarn es irgendwie vermochte, musste er Valion davor warnen. Er hatte sich zu leicht und zu schnell auf Jan eingelassen - was mit ihm geschehen würde, wenn Eravier begann ihn zu manipulieren und in seinem Interesse zu nutzen, wagte er sich nicht einmal vorzustellen. 

„Aber eins nach dem anderen”, sagte Eravier heiter, und jetzt schweifte sein Blick über die mondbeschienene Landschaft, in die Richtung, in der das Lager lag. „Als nächstes wüsste ich zu gern, ob Faure eine Erklärung für sein Kuckuckskind hat. Die Nacht ist schließlich noch jung.” Und obwohl Tarn so müde war wie noch nie in seinem Leben und sich nichts sehnlicher wünschte als heimzukehren, sagte ihm sein untrügliches Gefühl, dass er damit Recht hatte. Die Nacht hatte gerade erst begonnen, und es war noch so vieles offen. Und wer wusste schon, was morgen geschehen würde? Entscheidungen, das wusste er jetzt besser als zuvor, hatten die Tendenz zurückzukehren, und was er aus dem Blick verloren hatte und tot geglaubt war, war vielleicht irgendwo lebendig und bleckte die Zähne.

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Es dauerte Stunden, die Wachen zu sammeln und das Lager zu reorganisieren. Eine Menge Arbeit war liegen geblieben, die Diener, die für den Wachdienst beordert worden waren, hatten ihr Aufgaben nicht erfüllen können, und so mangelte es zunächst an allem - frischem Wasser, Brennholz, Mahlzeiten, Schlafplätzen. Dazu kamen die Unsicherheit und die Gerüchte. Es war klar, dass Sklaven verschwunden waren, aber wie viele, wer und warum, darüber kursierten für eine Weile die wildesten Gerüchte, und Karvash, Faure und Besnard hatte Mühe, sie in Schach zu halten. Sie versuchten die Diener zu organisieren, aber es herrschte Unsicherheit, ob das Gebot von Eravier, das Lager zu bewachen, nicht strikt zu befolgen war. Niemand wollte sich später vorwerfen lassen, gegen seinen Willen gehandelt zu haben.

Schließlich kehrten die ersten Wachen zurück, und neben dem Problem der fehlenden Mahlzeiten und Feuer, die die Wächter nicht gerade glücklich stimmten, gab es einige kleinere Verletzungen, aber keinen Arzt - Tarn blieb mit Eravier in den Wäldern verschwunden. Obwohl Karvash sich eine Weile gewünscht hatte, Tarn möge in den Fluss fallen und jämmerlich ersaufen, wünschte er ihn nach einer Weile umso sehnlicher wieder herbei. Er war zwar ein niederer Sklave, aber gerade deshalb auch geübter darin, mit den dummen, rüpelhaften Wächtern umzugehen, die Karvash erst unhöflich nach ihrer Versorgung ausfragten und sich dann brühwarm von den Dienern erzählen ließen, was zwischen ihm und Tarn vorgefallen war. Er spürte die hämischen Blicke geradezu in seinem Rücken, wenn er hierhin und dahin eilte. Gedemütigt und geschlagen von einem, der weit unter ihm stand! Karvash wusste nicht wie, doch ihm war klar, dass er auf irgendeine Weise Rache dafür üben würde.

Dann, als er gerade glaubte es wäre das Beste, sich zurückzuziehen und das Pack einfach unorganisiert herum streunen zu lassen, kam es zu einem Aufruhr am Lagerrand, und Eravier und Tarn trafen ein, im Schlepptau ein halbes Dutzend Wächter und einen der entflohenen Sklaven, den einer der Wächter über der Schulter trug wie einen Mehlsack.
„Bringt ihn weg”, wies Eravier gerade den Wächter an, und er nickte pflichtschuldig. „Bekommt er Fußfesseln?”, fragte er nach, und Eravier schien einen Moment nachzusinnen, bevor er heiter erklärte: „Ich habe kein Interesse an weiteren Überraschungen. Fußfesseln, Handschellen. Ich will, dass er sich keinen Meter weg bewegt. Ah, Gael!” Er hatte Karvash erspäht und hielt direkt auf ihn zu. In seinen Augen spiegelte sich unpassendes Vergnügen, als käme er gerade von einem Ausflug statt von der Jagd nach Sklaven. Doch wenn Karvash es recht bedachte, war das in seinen Augen vermutlich das selbe. 
„Ansin. Wir waren sehr besorgt, als wir die Nachrichten hörten”, erläuterte Karvash und konnte nicht ganz verbergen, welche Eindruck Eraviers Aufzug auf ihn machte. Sein Hemd war überströmt mit getrocknetem Blut, die vom Nebel feuchten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, und in seiner Hand trug er eine Art improvisierte Waffe, deren bloßer Anblick ihm Gänsehaut verursachte. 
„Du willst dich sicher gleich zur Ruhe begeben”, schlug er leicht verschnupft vor, aber Eravier überging seinen Vorschlag ohne mit der Wimper zu zucken und befahl: „Schaff mir Faure und Besnard her, und alle Wächter, die etwas Verdächtiges gesehen haben. Alle in meinen Wagen. Finde jemand der die Wächter organisiert, dann schick’ sie zu den Pferden. Sie sollen keine Zeit verlieren und die Gegend erkunden. Unser zweiter Flüchtling ist noch auf freiem Fuß.” 
Damit war das Gespräch anscheinend für ihn beendet, denn er wandte sich ab und eilte davon, bevor er noch einen Protest über die Arbeitszuteilung laut werden lassen konnte. Und in seinem Rücken tuschelten die Diener.


Eine halbe Stunde später tagte ein ungewöhnlicher Kriegsrat in Eraviers hell erleuchtetem Wagen. Er bestand aus Eravier, der zurückgelehnt an seinem Schreibplatz saß, die Scherbe gelassen in seiner Hand kreisen ließ und die angetretenen Händler musterte; Tarn, der sich neben ihm im Hintergrund hielt; außerdem aus Besnard, Faure und Karvash, die unbehaglich nahe des Eingangs standen und nicht recht zu wissen schienen, warum sie her beordert worden waren. Karvash stellte außerdem mit gerunzelter Stirn fest, dass Eravier keine Zeit darauf verschwendet hatte, sein Äußeres instand zu setzen.

„Ich bin mir nicht ganz im Klaren darüber, was diese Versammlung bewirken soll”, begann Besnard zögerlich, und fühlte sich sofort noch unwohler, als sich alle Augen auf ihn richteten. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit einer Halbglatze und einem buschigen Schnauzbart. Für die meisten war es schwer vorstellbar, dass er überhaupt mit Sklaven handelte statt mit Gemüse. Er konnte beim besten Willen nicht als grausam bezeichnet werden und handelte nur mit den niedersten Sklaven und in geringsten Gewinnspannen. Sein Hauptaugenmerk lag auf Arbeitssklaven, die ihre Arbeitskraft für zehn, zwanzig oder in Ausnahmefällen auch vierzig Jahre verkauften, um ihre Familien über Wasser zu halten. Eravier hatte ihn auf die Reise mitgenommen, weil er kaum bedrohlich für ihn war und ein gewisses Organisationstalent hatte. Zudem waren seine Gewinne gering, aber genauso verlässlich, und seine Gefangenen machten vergleichsweise den wenigsten Ärger.
Deshalb bedachte Eravier ihn jetzt mit einem gelassenen Lächeln und erklärte völlig ohne Umschweife: „Wir hatten es heute Nacht nicht nur mit entlaufenen Sklaven zu tun. Einer der beiden, Jan, gab sich als Rebell zu erkennen. Er war bewaffnet, und ich bin sicher, dass er nicht allein operiert hat. Es scheint, dass sich in unseren Reihen Spione befinden oder befunden haben, und ich will wissen, wer sich dahinter verbirgt.”

Für einen Moment herrschte entrüstete Stille, die völlig von Karvash und Faure auszugehen schien, bis Besnard vorsichtig nachfragte: „Aber sicherlich ist keiner von uns verdächtig. Es handelt sich nur um eine Besprechung, die Vorbereitung einer Untersuchung… oder?” Seine Stimme wurde immer leiser, während er ängstlich beobachtete, wie sie von Eraviers durchdringenden Blicken durchbohrt wurden. Schließlich hielt er wohlweißlich den Mund, während Faure sich wutentbrannt aufrichtete.
Er war ein dürrer, hochgewachsener Mann mit vollem, aber kurz geschnittenen dunklen Haar mit einigen weißen Strähnen und in den Fünfzigern. Er war nicht oft erzürnt, aber wenn, dann strahlte er nur geringfügig weniger Autorität aus als Eravier. Unter den Dienern munkelte man, dass er plante Eravier irgendwann zu übertrumpfen. Er war ehrgeizig und mochte es nicht, wenn seine Autorität untergraben wurde, und dass er jetzt verdächtigt wurde, schien ihn außerordentlich zu reizen.
„Natürlich ist niemand von uns verdächtig”, sagte er schneidend zu Besnard, dann warf er Eravier einen feindseligen Blick zu. „Eine derartige Unterstellung wäre nur dazu geneigt, unsere Reisegemeinschaft zu spalten, ein Gewinn für die Rebellion und nebenbei völlig lächerlich.” Er spie das Wort „lächerlich” mit derartiger Inbrunst aus, dass offensichtlich wurde, was er meinte: Hirnverbrannt.

„Lächerlich? Da bin ich mir nicht so sicher”, antwortete Eravier zynisch und beugte sich vor, um nun ganz allein Faure zu fixieren. „Betrachten wir zum Beispiel die Tatsache, dass du einen offensichtlich kranken Jungen als Sklave aufgenommen hast, der sich natürlich nur ganz zufällig als Spion der Rebellion entpuppte.” „Der mit einem anderen, gesunden Jungen floh, der offensichtlich nicht wesentlich unschuldiger war und den nicht ich gekauft habe”, konterte Faure kalt. Er hatte in der Zwischenzeit anscheinend alle Informationen eingeholt, die er bekommen konnte, und er schien nicht gewillt, den Sündenbock zu spielen. „Wobei sich immer noch die Frage stellt, wie und wo die beiden sich bewaffnen konnten. Schon deshalb vermute inzwischen ebenfalls einen Verräter in unseren Reihen. Jemand, der Kontakt zu beiden Jungen hatte und ihnen unbemerkt Befehle vermitteln konnte.”

Karvash hatte die ganze Zeit geschwiegen, doch plötzlich wurde er hellhörig, und er verbarg ein schadenfrohes Grinsen, als er einwarf: „Beispielsweise ein Arzt.” Sein Blick galt nun Tarn, und Faure, der jede günstige Gelegenheit zu nutzen wusste, nickte plötzlich nachdrücklich, auch wenn er trügerisch vage hinzufügte: „Beispielsweise.”

Eravier warf einen Seitenblick auf Tarn, dessen versteinerter Gesichtsausdruck nichts offenbarte, dann zuckten seine Mundwinkel kurz nach oben, ein deutliches Zeichen dafür, dass er die Sache für ein Ablenkungsmanöver hielt. „Natürlich, oder ein beliebiges Pferd. Was wäre nicht alles möglich?”, fragte er spöttisch in den Raum, und lockte damit Karvash aus der Reserve, der für diesen Tag genug Stichelei ertragen hatte. Wütend deklamierte er: „Ich wurde von ihm geschlagen! Das ist einem Sklaven verboten, und jetzt lacht man über mich!” „Nimmt man an, dass einer der Jungen krank war und der andere eine behandlungsbedürftige Verbrennung hatte, ist es nicht unwahrscheinlich”, legte Faure nach, und Karvash wütete: „Dir sollte bewusst sein, dass dein Diener anscheinend seine eigenen Ziele verfolgt! Wie kannst du es wagen uns hierher zu zitieren, wenn du nicht einmal die Loyalität deiner eigenen Leute garantieren kannst? Ich bin überzeugt, dass er ein Verräter ist, und wenn du klug bist, Ansin, wirst du diese Sache untersuchen lassen!”

Es war eine kaum verhohlene Drohung, doch sie zeigte Wirkung. Eravier wandte sich Tarn zu, dessen versteinertes Gesicht weiterhin nichts Preis gab, und sachlich fragte er: „Nun, gibt es eine Erklärung für dein Verhalten?”

Bevor Tarn auch nur ein Wort sagen konnte, bewegten sich plötzlich polternde Schritte auf den Wagen zu, und dann traten zwei Wächter herein, zwischen sich einen Gefangenen - Marceus.
„Was wollt ihr denn?”, fragte Karvash immer noch aufgebracht, und die Männer zuckten sichtlich zurück. Doch Eravier erhob sich und und gab ihnen einen Wink, näher zu kommen. „Guy und Levin, nicht wahr?”, fragte er und griff dabei auf sein unheimliches Gedächtnis für Namen und Gesichter zurück. „Ja, Herr. Dürfen wir sprechen, Herr?”, fragte Guy steif. Eravier ließ sich zurück auf seinen Platz sinken und nickte, die Hände gelassen vor sich gefaltet. Es war offensichtlich, dass er dieser Sache mehr Wichtigkeit beimaß als den Anschuldigen gegen Tarn, und es brachte Faure sichtlich aus der Fassung.
 
„Mit Verlaub, Herr”, sagte Guy und vermochte kaum, sein Unbehagen zu verbergen, „wir  wurden angewiesen, Vorfälle zu melden, vor allem alles, das die Rebellion betrifft. Wir haben etwas zu berichten.” „Sprich schon, damit wir diesen Unsinn hinter uns bringen”, sagte Faure ungehalten, und Guy räusperte sich und erklärte dann:
„Nun, zunächst müssen wir wohl folgendes berichten: Auf dem Weg durch den Wald stießen wir auf eine Lichtung, auf der wir Tarn zusammen mit einem Rebellen vorfanden.”
Karvash machte ein befriedigtes Gesicht, aber Guy ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort: 
„Tatsächlich waren die beiden in einen Kampf verwickelt, wie es schien auf Leben und Tod. Als wir auf die Lichtung stürmten nutzte er die Ablenkung als seine Chance, schlug Tarn brutal nieder und floh. Wir fanden ein fallen gelassenes Messer-” „Das allein ist kein Beweis für einen Kampf”, versuchte Faure einzuwerfen, aber Guy fuhr ohne Zögern fort:„- und bei der Verfolgung des Rebellen, die Tarn uns befohlen hatte stellten wir fest, dass er einen gebrochenen Arm hatte und auch sonst starke Schmerzen zu haben schien. Allerdings verloren wir kurz vor dem Lager seine Spur. Es ist möglich, dass er sich noch unter den Dienern verbirgt.”
„Oder einer der Diener ist”, sagte Eravier leise und betrachtete Karvash und Faure mit einem eisigen Blick. Besnard schluckte unbehaglich und dankte vermutlich seinem Gott, dass er nicht darauf bestanden hatte seine eigenen Knechte und Diener auf diese Reise mitzunehmen, im Gegensatz zu Faure, der gerade erst begriff, was das für ihn bedeutete. „Was ist mit dem hier?”, fragte er jetzt nervös und deutete auf Marceus. „Er ist doch bestimmt ein Spion.” „Nun, das ist das zweite, was wir berichten wollten, Herr”, fuhr Guy fort. „Wir griffen ihn ebenfalls kurz vor dem Lager auf. Er trug einen Kapuzenmantel und war kein Wächter, das machte uns misstrauisch.” 
„Sein Name ist Marceus. Er gehört zu meinen Leuten”, sagte Eravier, „aber was er im Wald zu suchen hatte, weiß ich nicht.” „Ich habe ihn geschickt, um Valion und Jan zu finden”, erklärte Tarn ruhig. „Ich wusste, dass sie ihm vertrauen würden. Er sollte versuchen, sie zur Aufgabe zu überreden oder zumindest in meine Richtung schicken.” 

„Ist das so?”, fragte Eravier, und Marceus nickte. „Darf ich sprechen, Herr?”, fragte er leise, und es wurde ihm mit einem Wink gestattet. „Tarn kam zu uns, also in unser Lager, und informierte Jefrem über die flüchtigen Sklaven. Jefrem befahl die Bewachung der Pferde, weil wir vermuteten, dass sie dort auftauchen würden, aber wir wussten auch, dass es Stunden dauern konnte, bis die beiden im Wald gefunden werden. Ich bat meine Hilfe an, und Tarn bat Jefrem um die Erlaubnis, mich als Kundschafter einzusetzen. Jefrem gab seine Zustimmung und befahl mir, die anderen Wächter auf ihrer Suche nicht in die Irre zu führen. Die Gefahr, dass sie mich mit einem der Sklaven verwechselten, war zu groß, und wäre ich in Begleitung der Wächter gesehen worden, hätten sie Verdacht geschöpft. Sie sollten glauben, dass ich ihnen bei der Flucht helfe, und das haben sie tatsächlich, deshalb-”
„Das ist doch alles eine Farce”, fluchte Faure plötzlich und sprang auf. „Nichts von diesen Worten ist wahr!” Er hatte der Schilderung mit wachsendem Ärger gelauscht, und ihm musste klar geworden sein, dass die Anschuldigung, die er gegen Tarn vorgebracht hatte, haltlos waren. Er suchte sein Heil in der Flucht nach vorn. „Beruhige dich, Kelian”, versuchte Besnard ihn zu besänftigen, aber seine Worte stießen bei Faure auf taube Ohren. „Das sind alles fabrizierte Beweise! Diesen Spion aus dem Nichts gibt es nicht, und meine Diener sind keine Rebellen!”, brüllte er, ging drei aggressive Schritte auf Eravier zu und packte ihn am Kragen.

Sowohl Tarn als auch die Wächter wollte einschreiten, selbst Marceus zuckte zusammen und trat reflexartig einen Schritt nach vorn, doch Eravier hob die Hand. „Ich gebe dir eine Chance, mich loszulassen”, sagte er ruhig, und Tarn wusste, dass es wahrhaftig nur eine einzige Chance war. Er versuchte Faures Blick zu fangen, ihm deutlich zu machen, dass er einen Fehler beging, aber der war zu sehr in seiner eigenen Wut gefangen. Er packte Eravier sogar noch fester und zerrte ihn noch weiter zu sich heran.
„Du hast mir das kleine Aas abgekauft, als du dachtest, er wäre eine gute Partie, und jetzt willst du mich den Kopf dafür hinhalten lassen. So nicht!”, brüllte er Eravier ins Gesicht. „Ich habe nichts damit zu tun! Ich kenne keinen einzigen Rebellen! Das werde ich mir nicht nachsagen lassen!”

Es ging sehr schnell. Eravier hob blitzartig die linke Hand, verkrallte sie in Faures Haar und hielt seinen Kopf fest. Die andere mit der Scherbe schnellte vor, und er verzog keine Miene, als er sie mit voller Wucht in Faures linke Augenhöhle rammte.
Für einen Sekundenbruchteil schien Faure erstaunt, als könne er nicht begreifen, was gerade geschehen war, dann gab sein Körper einfach nach. Jegliche Spannung wich aus ihm, seine Knie sackten ein, und Eravier ließ seinen Kopf los. Er schlug mit einem dumpfen Schlag auf der Platte des Schreibpultes auf, dann glitt er zur Seite und kam auf dem Boden zu liegen. Innerhalb von Sekunden war er tot.

Die Stille schien sich in konzentrischen Kreisen um seine Leiche auszubreiten. Niemand sagte ein Wort, manche schienen nicht einmal im Stande sein zu atmen.

„Ich hasse es, wenn man mich anlügt”, sagte Eravier und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Hände gelassen ineinander verschränkt. „Aber er war doch unschuldig”, murmelte Karvash leise, und erschrak sich selbst vor seinen Worten. Er sah sich vermutlich schon neben Faure auf dem Boden liegen, in einer Lache seines eigenen Blutes, aber Eravier lachte nur. „Er sagte, dass er keinen einzigen Rebellen kennt. Ich weiß, dass er von mindestens einem wusste, und ihn gedeckt hat. Derjenige ist nur ein kleines Licht, ein gelegentlicher Informant, seit Jahren nicht mehr aktiv. Aber er wusste es, und er hat mich angelogen. Lasst euch das eine Lehre sein, meine Herren”, sagte er und fixierte erst Besnard, der vor Angst kreidebleich geworden war, und Karvash, der viel zu fassungslos war, um noch zu wissen, wie er kultiviert reagieren sollte. „Ich werde herausfinden, wer hier gegen mich spielt, und wenn ihr klug seid, werdet ihr in Zukunft euer Wissen offen legen und nicht versuchen, meine eigenen Vertrauten zu verdächtigen”, fuhr er fort, und jetzt war seine Stimme so schneidend, dass jeder im Raum sich duckte. „Morgen gehen wir auf Rebellenjagd. Ich will jeden einzelnen von ihnen, aber wenn ihr jemand mit einem gebrochenen Arm findet, dann ist er als erster dran. Keine Fragen, keine Diskussion. Ist das klar?”
Besnard und Karvash nickten, und ohne aufgefordert zu sein, flohen sie aus dem Wagen und vor dem, was geschehen war. Keiner der beiden sah sich um.

„Herr”, sagte Guy leise, „Was sollen wir mit… mit dem… mit dem Körper tun?”, fragte er fast stotternd. Er hatte schon einige tote Männer gesehen, aber diesmal wollte er das Wort »Leiche« nicht aussprechen. Es kam ihm nicht über die Lippen. Eravier winkte ab, und mit einem Mal schien er wesentlich weniger bedrohlich, sondern eher erschöpft nach einem langen Tag. „Schafft ihn weg. Tarn, du hilfst ihnen. Marceus, du kehrst zurück. Verschwindet.” Und sie alle beeilten sich, weg zu kommen. Tarn ergriff Faures Füße, Levin seine Arme, und so schleppten sie ihn hinaus in die kalte Nachtluft.

Marceus warf Tarn einen Blick zu und floh, doch Guy und Levin war das nicht vergönnt. Sie halfen Tarn, die Leiche auf den Rücken zu drehen, und dann standen sie unschlüssig um ihn herum. 
„Gottverdammte Scheiße”, sagte Guy, zog seinen Mantel aus und reichte ihn Tarn, der ihn abwesend entgegen nahm. „Wir sollten ihm die Augen schließen, oder?”, fragte Guy nach, und das war zu viel für Levin. Er wandte sich stumm um und ging. Wenn er sich auf halbem Weg übergab, bekamen sie nichts davon mit. „Das sollten wir wohl”, stimmte Tarn zu. Mitleidig starrte er auf das erstarrte Erstaunen in Faures Gesicht, dann schloss er ihm das eine, nicht verstümmelte Auge und bedeckte ihn mit dem Mantel. 

Sie blieben nicht lange allein; drei Wächter, möglicherweise von Besnard oder Karvash geschickt, kamen heran geeilt und betrachteten seine Leiche voller Besorgnis, aber sie stellten keine weiteren Fragen. Zwei von ihnen hoben den Körper an und trugen ihn davon, während der dritte zögerlich fragte: „Sollen wir den Wagen umstellen?” Tarn schüttelte müde den Kopf. „Ich rechne nicht mit noch mehr Chaos. Geht auf eure normalen Plätze. Alles wie gehabt.” 
Der Wächter nickte, obwohl sie beide wussten, dass nichts wie gehabt war. Ein Mord war passiert. Oberflächlich würde alles beim Alten bleiben, aber wenn die Nachricht sich unter den Dienern verbreitete, würde Angst um sich greifen. Vielleicht war es Eravier so recht, aber es war auch gefährlich. Sie waren immer noch auf offenem Land, ohne Unterstützung. Morgen musste Tarn dafür sorgen, dass die Unsicherheit nachließ, sonst drohte ihnen am Ende eine Revolte. Noch ein Punkt auf seiner nicht enden wollenden Liste von Aufgaben. Er fragte sich, wie tief er schon gesunken war, dass ein Mord für ihn nur eine weitere Aufgabe war, aber er fühlte nur Leere. Müde fuhr er sich über die Augen. Würde dieser Tag denn niemals enden?

Er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken von der Wache und betrat den Wagen erneut.

Eravier hatte alle Laternen bis auf die, die sich direkt an seinem Schreibplatz befanden, gelöscht. Dort saß er nun, den Kopf nachdenklich in die Hand gestützt, und starrte ins Leere. Die fieberhafte Energie war aus ihm gewichen, und obwohl er den Anschein machte einem Rudel Wölfe begegnet zu sein, sah er jetzt mehr wie ein Verunglückter Wanderer denn ein gefährlicher Irrer aus. Die Schnitte an seinem Hals hatten sich geöffnet und geblutet, und einige Blutstropfen waren auf den Tisch vor ihm gefallen. Sie waren nachlässig über das Holz der Platte verschmiert, und er hatte die Blutung mit dem Ärmel seines Hemdes gestoppt, der nun rot getränkt war. 
Tarn hoffte, dass Eravier müde war, denn er selbst hielt sich nur noch mit Anstrengung auf den Beinen. Hätte er sich auch nur einen Moment auf einen Stuhl gesetzt, er wäre vermutlich sofort eingeschlafen. Aber wie so oft hielt sein Pflichtgefühl ihn davon ab, einfach zu gehen und sich schlafen zu legen. Eravier war verletzt, und wenn die Schnitte nicht versorgt wurden, würden sich vermutlich Narben bilden.

Tarn ging auf ihn zu und berührte ihn an der Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und Eravier richtete sich ein wenig auf und betrachtete ihn ruhig. „Du hast ihn wegbringen lassen?”, fragte er, und Tarn nickte und deutete auf seine Schnittwunden. „Ich muss das versorgen. Leg’ den Kopf in den Nacken.” 
Eravier gehorchte, und nachdem Tarn ein sauberes Tuch gefunden hatte, reinigte er die Wunde vorsichtig mit Wasser und einer Tinktur. Er überlegte, ob er einen Verband anlegen sollte oder nicht, und er musste sich zwingen, nicht ab zu schweifen und eine Entscheidung zu fällen, statt im Stehen zu dösen. War er jemals so müde gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Wenigstens hatte er keine Probleme einen Verband auszusuchen, es gab nur noch den einen, seine Vorräte waren inzwischen fast völlig erschöpft. Es wurde Zeit, dass sie in die Hauptstadt zurück kehrten und Eravier aufhörte, sich selbst und den Sklaven Verletzungen zuzufügen, dachte Tarn beiläufig und hätte sich fast ein sarkastisches Lächeln erlaubt, aber dann hielt er sich zurück.
Er nahm den Verband und begann, ihn vorsichtig über die Wunde zu legen. „Ist es zu fest?”, fragte er routiniert nach, und während er die Antwort abwartete schoss ihm völlig unvermittelt der Gedanke durch den Kopf, dass er den Verband einfach zu ziehen könnte. Es konnte innerhalb von Minuten vorbei sein. Und dann? Wäre er frei.

Es war ein völlig irrationaler Gedanke aus dem Nichts, aber in diesen Bruchteil einer Sekunde hatte er eine erschreckende Plausibilität. 
Die meisten sind der Ansicht, dass du nicht mehr objektiv urteilst… Du hast zu viele Verbindungen zu den Leuten hier, ganz zu schweigen von Eravier, hörte er Fourmi in seinem Geist sagen, und das war im Grunde lächerlich, weil er mit jedem weiteren Jahr weniger von Eraviers guten Seiten sah und seine zufällige, gedankenlose Grausamkeit ihn immer mehr abschreckte. Wenn überhaupt, dann nahm seine Klarsicht zu und nicht ab.

Dann wurde ihm bewusst, dass er zögerte weiter zu arbeiten, und er beendete sein Werk schnell und schweigend. Eravier ignorierte ihn und starrte weiter vor sich hin. Über was grübelte er nach? Vielleicht musste Tarn sich Sorgen machen. Irgendwann. Nicht mehr heute. 
Ihm wurde bewusst, dass er jetzt endlich schlafen gehen konnte, und während er seine Sachen zusammen raffte und sich zum Gehen wandte, war der Gedanke wunderbar tröstlich. Schlaf. Viel davon, und endlich wieder einmal für ein paar Tage am selben Ort verweilen. Wenn er Glück hatte würde es vielleicht sogar bis Mittag dauern, bis ihn jemand mit Arbeit belästigte.
„Warte”, befahl Eravier, und Tarn fluchte innerlich. Er war kurz davor, den Gehorsam zu verweigern, aber er schluckte seine Wut hinunter, wandte sich um und sah Eravier an. „Ja?” „Du bist verletzt worden, nicht wahr? Du hast immerhin mit einem Rebellen gekämpft.”

Es war eine unschuldige Frage, aber in diesem Moment war er froh, dass er tatsächlich Prügel bezogen hatte. Es steckte mehr dahinter; Eravier hatte ihn vor Faure und Karvash verteidigt, aber er war auch nicht so dumm, dass er ihre Aussagen nicht überprüfte. Und wenn er tatsächlich so misstrauisch geworden war, dass er die Anschuldigungen auch nur ansatzweise ernst nahm, war das Eis schon dünner geworden, als er angenommen hatte. Aber er durfte sich nicht anmerken lassen, dass er den Zweck von Eraviers Fragen durchschaute, deshalb sagte er: „Nichts Ernstes. Ein paar blaue Flecken vielleicht.” „Tatsächlich? Zeig es mir.” 
Auch das noch. Tarn seufzte ergeben und legte zuerst seine Jacke, dann Weste, Hemd und Unterhemd ab und warf sie nachlässig zu seiner Tasche. Trotz seines Widerwillens war er im Grunde auch neugierig, wieviel er tatsächlich eingesteckt hatte, und betrachtete sich eingehend. Hauptsächlich waren seine Arme und Handgelenke mit blauen Flecken übersät, dort, wo er Fourmis Angriffe abgewehrt hatte, aber die Schläge in den Magen hatten die deutlichsten Spuren hinterlassen: ein großer, purpurfarbener Bluterguss zog sich vom Zwerchfell bis zum Nabel.

Eravier betrachtete ihn ebenfalls genau, taxierte jede einzelne Verletzung und schien einzuschätzen, wie sie zustande gekommen waren. Allmählich, als er sich davon überzeugte, dass die Verletzungen nicht fingiert waren, ließ sein Misstrauen nach und wurde schließlich durch Mitleid ersetzt. Der kalte Ausdruck wich aus seinen Augen, er hob den Kopf aus der aufgestützten Hand und fragte ehrlich besorgt: „Hast du Schmerzen?” „Als hätte mich ein Pferd getreten”, antwortete Tarn leichthin und brachte ihn damit zum Lächeln, und was sagte es über ihn aus, dass er sich über dieses Lächeln freute?

Es lagen Welten zwischen diesem Gesichtsausdruck und der kalten, grausamen Maske, die Eravier sonst zur Schau trug. Es war der Ausdruck einer Persönlichkeit voller unvereinbarer Gegensätze, und früher hatte Tarn sich dazu hinreißen lassen, sie als zwei unterschiedliche Menschen zu betrachten, weil es einfacher war, auf diese Weise damit umzugehen. Es sprach ihn schließlich von aller Schuld frei. Er konnte die Taten des kalten, berechnenden Mannes verurteilen, ohne auf die andere, freundlichere Seite zu verzichten. Er konnte loyal sein, ohne in Frage zu stellen, wem diese Loyalität eigentlich galt. Aber schließlich hatte er begriffen, dass er sich damit nur selbst belog. Der Ansin Eravier, der hier vor ihm saß und ihn nach seinem Befinden fragte, war der selbe, der vor wenigen Minuten einen Mann ermordet hatte, indem er ihm eine Scherbe durch das Auge ins Gehirn rammte.
Und doch. Selbst im vollen Bewusstsein dieser Tatsache war er nicht immun gegen Eraviers charmante Seite. Seine Kälte und Grausamkeit ließ jeden in seiner Gegenwart vor Unsicherheit und Angst erstarren, aber wenn er sie ablegte, war er plötzlich eine Person, der man gefallen wollte.

Immer noch lächelnd streckte Eravier die Hand aus und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die blauen Flecken, erst auf den Armen, dann auf dem Bauch. Es war eine zarte, völlig unschuldige Berührung, tröstend und ohne Schmerzen. Tarn spürte, wie seine Anspannung und Vorsicht nachließ, und er war nicht sicher, ob er dagegen ankämpfen sollte oder nicht.
„Ich werde den Verantwortlichen schon finden”, sagte Eravier völlig ruhig, „und dann wird er sich wünschen, niemals Hand an dich gelegt zu haben. Vielleicht hat er danach ja gar keine Hände mehr, wer weiß. Ich habe der Rebellion zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, aber das lässt sich korrigieren. Am Ende wird kein einziger übrig sein, der überhaupt ihren Namen kennt.” Seine Stimme hob sich nicht und wurde nicht lauter, als er diese Drohung aussprach. Er war nicht einmal wütend, er plante nur den nächsten, für ihn logischen Schritt.
Dann bemerkte er Tarns eingefrorenen Gesichtsausdruck und hielt für einen Moment inne, aber sein Lächeln vertiefte sich nur. „Zieh’ nicht so ein Gesicht”, sagte er spöttisch, „sonst könnte man noch annehmen, du hättest Mitleid mit diesem Rebellenpack.” „Ist es nicht zu drastisch-”, begann Tarn, aber Eravier schnitt ihm das Wort ab. „Zu drastisch? Er hat dich verletzt. Ich mag in einigen Dingen nachsichtig sein, aber damit ist er zu weit gegangen”, sagte er und strich mit seiner rechten Hand erneut über die dunkel verfärbte Haut, bevor sie auf Tarns Hüfte zum liegen kam und ihn sanft zu sich heran zog. Sein Gesicht war jetzt auf einer Höhe mit dem Bluterguss, und Tarn spürte seinen warmen Atem auf der Haut, bevor er sanfte Küsse darauf hauchte und murmelte: „Keine Sorge, wenn ich mit ihnen fertig bin, wird das nie wieder passieren.”
Seine Berührungen verursachten ein sanftes Kribbeln, und Tarn erschauderte. Nicht vor Widerwillen oder Angst, er fühlte Erregung, und er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt. Warum jetzt? Warum reagierte er so, wenn sein Körper am Ende seiner Kräfte war? Er hätte geschworen, dass er zumindest in dieser Nacht unempfänglich für jegliche Reize war, und doch spürte er jetzt die selbe, unaufhaltsame Anziehung.

Eravier bemerkte es natürlich und ließ es sich nicht nehmen, seine Gefühle weiter anzufachen. Er hauchte sanfte Küsse auf die verwundete Haut, fuhr mit seiner Zunge darüber, und seine linke Hand legte sich auf seinen Rücken und strich zart über die Haut direkt über der Wirbelsäule. Er wusste genau, was es in Tarn auslöste.
Tarn fühlte sich wie ein Betrunkener, benebelt und unfähig zu sprechen, als er mühsam hervor brachte: „Nicht heute Abend… ich kann kaum noch Stehen vor Müdigkeit.” Eravier lachte, und es war schmerzhaft schön, wie normal er jetzt klang, sorglos und voller Humor. „Seltsam, davon sehe ich nichts”, sagte er, legte eine Hand auf Tarns Schritt und rieb seine Erektion durch den Stoff hindurch. Tarn stöhnte auf, und obwohl seine Müdigkeit nicht verflog, verschmolz sie mit seiner Erregung. Der Rest seines wachen Verstandes wehrte sich dagegen, aber es war ein verführerischer Gedanke, es bis zum Äußersten zu treiben und dann in betäubendem Schlaf zu versinken. Er würde all die Emotionen hinter sich lassen, die ihn quälten; Scham, Gewissensbisse, Heimweh.
Seine Hände verrieten ihn, bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte; sie strichen durch das blonde Haar, das noch vom feucht vom Nebel war, über die Wangen und sanft in den Nacken. Er schob den blutig getränkten Stoff des Hemdes beiseite, unter dem nur noch warme, nackte Haut lag, und liebkoste den vernarbten Oberkörper und die dunklen Brustwarzen. Der Rest seiner Kleidung lag einen Moment später schon zu seinen Füßen. Eraviers Hände streichelten ihn weiter, sanft und gleichmäßig, über das Gesäß, den Rücken, seinen Bauch, glitten immer wieder zu seinem Schaft und schlossen sich darum, nur um ihn gleich wieder loszulassen. Es war langsame, quälende Verführung, ein ständiges Versprechen auf mehr, wenn er nur bereit war zu warten, es geschehen zu lassen. Tarns Körper bog sich der Berührung entgegen, sehnsüchtig und auch ohne dass er sein Einverständnis dazu gab.

Er versuchte dennoch dagegen an zu kämpfen, einen letzten, verzweifelten Moment. Irgendwann musste er diesen Kreislauf durchbrechen und aufhören, sich in die Vergangenheit zu flüchten. Wieso gelangte er nie an diesen einen Punkt, an dem seine Besessenheit endlich nachließ? Er hatte diese Gefühle Stück für Stück abgetragen, Jahr um Jahr, und die Liebe verging, aber nicht das Verlangen. Er konnte es nicht abschütteln, wollte es verzweifelt abtöten, und wurde doch jedes Mal wieder Opfer seiner eigenen Obsession.
„Ich kann nicht-”, begann er und konnte nicht weiter sprechen, weil Eraviers Zunge den Schaft seines Gliedes entlang fuhr, bevor er inne hielt und zu ihm auf blickte. „Sag’ mir, dass ich aufhören soll, und ich tue es auf der Stelle”, murmelte er, aber in diesem Moment war Tarns Widerstand schon gebrochen. Er konnte nicht dagegen ankämpfen, nicht diese Nacht. Vielleicht auch nicht die nächste. Vielleicht niemals. Er umschloss Eraviers Gesicht mit seinen Händen, beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn, bevor leise sagte: „Komm. Ich kann mich wirklich nicht mehr auf den Beinen halten.”

Er ließ sich führen, so wie er es immer getan hatte, und er wusste, dass er schwach war. Er klammerte sich so verzweifelt an das was er kannte, selbst wenn es ihn vergiftete. Konnte man jemand gleichzeitig so sehr hassen und so sehr lieben, dass jede Entfernung zu ihm gleichzeitig zu nah und doch zu fern war? Warum wollte er das nach all den Jahren immer noch, brauchte es so dringend, gab es so bereitwillig?

Gott, die Nächte waren so lang, und der Morgen so fern.

 

Stunden später, unter einem schwarzen, von Wolken verhangenen Himmel, griff eine Hand behutsam nach den Zügeln der Stute und brachte ihren gleichmäßigen Schritt zum Stillstand. Joshanna hatte ihren Reiter weit, sehr weit getragen, selbst, als er bewusstlos auf ihr zusammen sackte und der Geruch nach Blut sie immer mehr ängstigte. Jetzt hatte sie endlich, nach einer Ewigkeit, Menschen gefunden. Oder vielleicht hatten die Menschen sie gefunden. Sie streichelten behutsam ihren Hals, und Joshanna schnaubte leise, zu erschöpft, um sich noch vor ihnen zu fürchten. Sie zogen den, den sie getragen hatte, behutsam von ihr herunter.

„Wird er es schaffen?”, fragte eine Gestalt. „Vielleicht?”, antwortete die andere und ließ ihre Tasche sinken, die nach Kräutern roch. Sie verlor keine Zeit und breitete was sie hatte aus, direkt auf dem harten, schmutzigen Boden. Manchmal konnte man nicht wählerisch sein. Sie überlegte einen Moment, wie sie beginnen sollte, dann sagte sie nachdenklich: „Jungen wie er haben die Tendenz, sich wie besessen an ihr Leben zu klammern.”

Es gab nichts als die Dunkelheit und die Schmerzen.

Er war sich vage bewusst, dass er niemals ganz aus den Augen gelassen wurde. Hin und wieder betrat jemand den Raum, der völlig im Dunkeln lag, und betrachtete ihn, wie er ausgestreckt auf dem Bauch auf seinem Krankenlager lag. Man schätzte seine Lage ein, und verließ ihn wieder, vermutlich um Bericht zu erstatten.
Wenn er Glück hatte, würden seine Bewacher es irgendwann Leid sein, ihm beim Sterben zu zusehen und seiner Qual ein Ende bereiten. Aber vermutlich hatten sie den Befehl, genau das nicht zu tun; sicher durften sie ihn nicht einmal anrühren. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte - auch ohne ihr Zutun war er ziemlich sicher geliefert, das hatte er selbst diagnostiziert, als er noch nicht zu schwach für klare Gedanken gewesen war. Die Wunde hatte sich entzündet, dann hatte das Fieber eingesetzt, und von dort war es ein stetiger Weg abwärts. Seit Stunden quälten ihn heiße und kalte Schauer. Sein Kopf schmerzte, manchmal fror er regelrecht, aber die meiste Zeit war ihm unerträglich heiß, und er wünschte sich nur, dass es vorbei war. 

„Was ist mit ihm?” Die Stimme kannte er nicht. Sie hatte etwas Durchdringendes, und obwohl sie freundlich klang, fehlte ihr auf subtile Weise Wärme. Er wagte kaum zu hoffen, und vermutlich war es sinnlos, aber für einen Moment gab er sich der Vorstellung hin, ein Arzt würde sich endlich um ihn kümmern. Doch die Wachen schienen irritiert von dem Auftauchen des Mannes, und einer von ihnen sagte: „Du solltest nicht hier sein. Karvash hat ausdrücklich befohlen, dass wir-” „Karvash will ihn hier einfach so verrecken lassen? Ich dachte er hat eine nette Summe aus dem Fenster geworfen, um ihn zu bekommen”, wurde er unterbrochen, und jemand kam ohne zu zögern näher. „Ja, aber-” „Er will sich rächen, nicht wahr? Das hat sogar etwas Stil, hätte ich dem alten Sack nicht zugetraut.” „Niemand soll ihn anfassen!” „Tsss...”

Jemand drehte ihn grob an der Schulter herum, riss ihn hoch und gab ihm eine Ohrfeige. „He, mach die Augen auf!”, befahl die amüsierte Stimme. „Ich kann nicht”, murmelte er als Antwort. Er kassierte noch einen Schlag ins Gesicht, heftiger als der erste, und unter Qualen gelang es ihm, die Augen ein wenig zu öffnen. 
Der Besitzer der Stimme war älter als er, aber er hatte ein ebenmäßiges, schönes Gesicht, das sein wahres Alter nur erahnen ließ. Sein ungewöhnlich langes, blondes Haar fiel ihm über die Schultern und schimmerte selbst im schwachen Licht wie Silber. Er war zu attraktiv, um ein einfacher Diener zu sein; das bedeutete, er war einer der Prostituierten. Er lächelte, aber die beinahe farblosen Augen blickten seltsam gleichgültig. „Sieh an, noch nicht tot”, stellte er amüsiert fest. „Na, hast du auch einen Namen?” 
Er versuchte sich daran zu erinnern, ob er einen Namen hatte. Er hatte das Gefühl, ihn irgendwann zwischen der Brandmarkung und diesem Moment vergessen zu haben. Es war schwer genug, sich im Fieberwahn noch daran zu erinnern, wo er war und warum er hier war. „Keine Ahnung”, flüsterte er grimmig. Noch ein Schlag ins Gesicht. Wie hatte sein Vater immer gesagt? Schläge auf den Kopf waren gut für das Gedächtnis? Ohne es zu wollen verzog sich sein Gesicht zu einem sardonischen Grinsen. Er hatte keinen Vater mehr, und es gab nichts mehr, das ihn einschüchtern konnte. 
Ein Name? Ja, er erinnerte sich an einen. Aber die Zeit, in der er Befehlen gehorcht hatte, lag hinter ihm. Was bedeuteten Schläge und Folter jetzt noch? Er war dem Tode nahe. Alles verlor an Wichtigkeit im Angesicht dieser Tatsache. Niemand konnte ihm in diesem Zustand noch etwas antun; er war eine lebende Leiche, und damit hatte der Tod seinen Schrecken verloren.

„Sag’ mir lieber zuerst deinen Namen”, verlangte er mühsam und war sich bewusst, dass die Worte ineinander flossen wie bei einem lallenden Betrunkenen. Er erwartete einen weiteren Schlag, aber stattdessen wurde er von seinem Bett gezerrt und zu Boden gestoßen. Ein Stiefel traf seine entzündete Schulter, und er schrie so laut auf, dass er glaubte seine Stimme müsse versagen. „Fast tot, und immer noch frech, wie charmant. Ich will ihn haben”, sagte der junge Mann, im gleichen, amüsierten Ton wie zuvor. Die Wache, die an seine Seite geeilt war, schien unentschlossen, was zu tun war. „Aber Karvash-” „- kann mir sowieso nichts, wolltest du sagen? Ich will ihn haben. Er hat dieses entzückende Lächeln, als würde er gleich jemand die Haut abziehen. Karvash weiß es noch nicht, aber er wird mir noch danken, dass wir ihn behalten haben.”

Er wurde wieder gepackt und auf die Knie gezwungen, und der junge Mann sagte freundlich: „Du willst meinen Namen wissen? Dann merk ihn dir gut. Ich bin Anssi Eravier.” Sieh an. Irgendetwas sagte ihm, dass er hier gerade eine interessante neue Freundschaft schloss. Nicht, dass es noch eine Rolle spielte, jetzt, da es nur noch Stunden dauern würde, bis er sich aus seinem Leben verabschiedete. In diesem Fall spielte es aber auch keine Rolle, wenn er seinen Namen erfuhr.
Er hob die Hand, ein endloser und schmerzhafter Prozess, der das entzündete Fleisch in seiner Schulter pulsieren ließ, und packte Anssis Handgelenk. Darauf aufgestützt quälte er sich auf die Füße, begab sich auf eine Augenhöhe mit seinem Gegenüber. Er hatte nicht viel, und ihm gehörte nicht einmal sein eigenes Leben, aber seinen Stolz hatte er noch nicht verkauft. Er hatte nicht siebzehn Jahre Hölle überlebt, um jetzt nachzugeben. 
„Solange ich noch am Leben bin… kannst du mich Tarn nennen.”

Tarn schreckte hoch. Desorientiert setzte er sich in der Dunkelheit auf und versuchte sich zurechtzufinden. Erst nach und nach kehrte er aus seinem Traum zurück in die Realität, und er musste nach seiner Stirn und seiner Schulter tasten, um wirklich sicher zu sein, dass er nicht mehr träumte. Aber er hatte kein Fieber, er war nicht siebzehn, und seine Schulter war vernarbt, aber heil. Ihn quälten nur die alten Phantomschmerzen und die Erinnerungen an früher, vielleicht, weil sein ganzer Körper sich glühend heiß anfühlte. Als er eingeschlafen war, hatte er gefroren, jetzt war ihm viel zu warm.

Die Wärmequelle war schnell gefunden; neben ihm lag Ansin, tief schlafend und völlig regungslos, und strahlte Wärme ab wie ein gut geheizter Kamin. Es hätte angenehm sein müssen, weil der Wagen außerhalb ihres gemeinsamen Lagers sonst bitterkalt war, aber Tarn fühlte sich viel zu heiß. Dennoch ließ er sich zurücksinken, schloss die Augen und versuchte eine bequeme Lage zu finden, um wieder einzuschlafen. Doch selbst wenn sein Körper immer noch nach Ruhe verlangte, sein Geist war wach, und nachdem er sich eine Weile hin und her gewälzt hatte, um eine bequeme Schlafposition zu finden, gab er auf und starrte in die Düsternis.
Wie oft war er in den frühen Morgenstunden aufgewacht und hatte grübelnd da gelegen, unfähig mit sich selbst ins Reine zu kommen? Es reichte nicht, dass er zu viel arbeitete, zu selten ausruhte und zu viel bedeutungslosen Sex hatte. Wenn er allein war und versuchte Schlaf zu finden, hielten ihn auch noch seine Gedanken wach. Und er aß zu wenig; ihn selbst kümmerte es kaum, weil er selten Hunger spürte, aber er sah an Jefrems wachsamen Blick, dass er vermutlich zu schnell Gewicht verlor.
An welchem Punkt war alles entgleist? Er kannte das Gefühl, er kannte die Symptome, aber ihm war nicht klar, wieso es gerade jetzt geschah, und auch darüber grübelte er nach. Hatte es einen Auslöser gegeben? Wenn, dann war er ihm nicht bewusst.
Es hatte schleichend begonnen, und zuerst hatte er sich eingeredet, dass er nur zu viel zu tun hatte und zu viele Sorgen, aber die Erschöpfung verschwand nicht. Zuerst langsam, dann von einem Tag auf den anderen, blutete die Farbe aus der Welt, und zurück bleib nur Leere. Er riss sich zusammen, er macht weiter, aber er wusste nicht wirklich wozu. Es hätte irgendetwas Erstrebenswertes in seinem Leben geben müssen, aber da war nichts. Er tat seine tägliche Arbeit, schlief mit Eravier, schlief danach für ein paar Stunden ein, wachte auf und grübelte, bis der Morgen anbrach. Sonst nichts.

Arbeit. Er würde irgendeine Beschäftigung finden. Leise stand er auf, sammelte seine verstreuten Sachen ein, stieg nur in seine Hose, warf sich ein Hemd über und trat hinaus in die kühle Morgenluft. Es war kurz vor Sonnenaufgang, also hatte er vielleicht vier Stunden am Stück geschlafen. Das Lager lag verlassen da, die meisten Feuer herunter gebrannt. Wenn jemand wach war, dann genauso still und heimlich wie er; selbst die Nachtwachen, die außerhalb des Lagers patroullierten, waren außer Sichtweite.
Verloren schlug er den Weg zu den Pferdeknechten ein, ging fröstelnd im grauen Dämmerungslicht den Hang hinab in Richtung Fluss. Raureif hatte sich auf den Grashalmen gebildet und kühlte seine nackten Füße. Der Himmel war verhangen, die Welt grau und leer. Nicht ein Vogel sang. Die einzigen Geräusche waren das Tosen des nahen Flusses und das traurige Heulen des Windes.

Das Lager der Pferdeknechte war völlig still, als er es erreichte. Selbst hier schlief im Moment jeder tief und fest, und vermutlich würde das auch für ein oder zwei Stunden noch der Fall sein. Sie lagerten, das bedeutete, dass alle die seltene Gelegenheit hatten, länger zu schlafen. Jefrem erlaubte es, weil es die Stimmung besserte, auch wenn es eigentlich genug zu tun gab. Tarn war über sich selbst verärgert. Er hätte daran denken müssen, aber sein Kopf war zu voll mit verworrenenen Gedanken und zu benebelt vom Schlafmangel. Selbst die Pferde dösten oder schliefen - die Suche nach Valion und Jan hatte das ganze Lager wach gehalten, und die Bewachung musste die Tiere unruhig gemacht und vom Schlafen abgehalten haben.

Hier gab es also nichts zu tun. Tarn wollte gerade umkehren, als Bewegung in eines der Zelte kam. Es raschelte, jemand rappelte sich auf und gähnte gewaltig, und dann kam Jefrem zum Vorschein. Wie jeden Morgen bot er einen wilden Anblick, das Haar war zerzaust, die Augen klebrig, und sein Kinn völlig stoppelig. Im ersten Moment bemerkte er Tarn gar nicht, sondern schlurfte nur völlig verschlafen in Richtung der für den Morgen bereitgestellten Wassereimer, bis Tarn ihn leise grüßte. „Guten Morgen.”
Jefrem schrak sichtlich zusammen; vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm um diese Uhrzeit jemand über den Weg laufen würde. Er brüstete sich gern damit, der zu sein, der jeden Morgen als erster aufstand. Nun wandte er sich um, um zurück zu grüßen, doch dann musterte er Tarn plötzlich scharf und runzelte auf eine Art die Stirn, die tiefe Besorgnis ausdrückte. Es war nie zu früh am Morgen für Jefrem, um sich Sorgen um andere zu machen. „Guten Morgen? So wie du aussiehst, ist das kein guter Morgen, sondern der Tag des jüngsten Gerichts, und die Toten wandeln wieder auf der Erde! Himmelherrgottnochmal, hast du überhaupt eine Stunde geschlafen?”, fragte er streng. 
Tarn fragte sich wie so oft, wie Jefrem es schaffte, seine Knechte innerhalb von Sekunden und mit wenigen Worten zu kleinen Jungen zu dezimieren. Selbst er war dagegen nicht immun, so wie jetzt. Es musste etwas in der Stimme des Alten sein, ein Tonfall, der ganz deutlich sagte: Du bist in Schwierigkeiten, mein Freundchen! Was hast du wieder ausgefressen? Sein Blick weckte den Wunsch, auf den Boden zu sehen und betreten mit den Füßen zu scharren. Das war umso erstaunlicher, weil Tarn nie einen Vater gehabt hatte, den auch nur ansatzweise scherte, was er ausgefressen hatte.
„Ganze vier”, gab er zu und schaffte es, zumindest ein wenig seines Stolzes aufrecht zu erhalten. Nicht, dass es etwas genutzt hätte, denn Jefrem fuhr im gleichen Tonfall fort: „Na, so siehst du aus! Jetzt aber sofort zurück ins Bett, du kannst in meinem Zelt bei Mischa schlafen, ich fange jetzt nämlich mit der Arbeit an! Lass mich nur schnell meine Sachen holen.” 

Er wartete gar keine Antwort und erst Recht keinen Protest ab, sondern kroch in das Zelt zurück; die Geräusche deuteten darauf hin, dass er seine Sachen zusammen suchte. Trotzdem versuchte Tarn abzuwehren, einfach nur aus Prinzip. „Es gibt genug zu tun. Wenn schon, dann weck mich wenigstens in zwei Stunden”, sagte er leise, um Mischa nicht aus dem Schlaf zu reißen. „In zwei Stunden siehst du bestimmt nicht besser aus als jetzt”, erwiderte Jefrem in voller Lautstärke, vermutlich in dem Bewusstsein, dass niemand, der so laut schnarchte wie Mischa, von irgendetwas geweckt werden konnte. Dann krabbelte er wieder aus dem Zelt, in der Hand ein Bündel mit seiner Kleidung, ein winziges Stück Seife, ein Rasiermesser und ein alter Lappen, mit dem er sich immer wusch. „Und du nützt mir bestimmt nichts, wenn du beim Arbeiten einschläfst. Leg dich hin, sonst hole ich mir ein paar Wächter, die dich fest ketten!”, drohte er, und Tarn musste lächeln. „Dafür würdest du eine Menge Ärger kriegen”, sagte er, doch Jefrem lächelte nicht zurück. Er war wieder dabei, Tarn zu mustern, und schließlich brummte er: „Den würde ich glatt einstecken, wenn du endlich wieder mal wie ein Mensch aussiehst.” 
„Sag bloß nicht, du machst dir Sorgen”, sagte Tarn leichthin, in der Erwartung, dass Jefrem alles abstreiten würde. So fürsorglich er auch war, er hasste es, wenn jemand ihn bezichtigte eine Glucke zu sein. Doch Jefrem nickte nur bedeutungsschwer, und sein Blick war jetzt völlig ernst. „Und ob ich das tue. Ich bin kein Trottel, das müsstest du inzwischen wissen, und ich sehe doch, wenn es dir nicht gut geht! Du isst kaum, du schläfst kaum, du machst Fehler.” 

Es traf Tarn mehr, als er gedacht hatte. Wenn Jefrem ernsthaft besorgt war, dann redete er nicht darum herum, und seine Fürsorge war völlig ehrlich und gerade heraus. Aber trotzdem hatte Tarn das Gefühl, sich dagegen wehren zu müssen, diese Zuneigung nicht annehmen zu können. Und eine Schwäche wollte er erst Recht nicht zugeben.
„Ich mache keine-”, wollte er protestieren, aber Jefrem unterbrach ihn. „Mati wird ausfallen. Sein Gelenk ist verletzt, und wir haben es nicht rechtzeitig bemerkt.” Er nickte in Richtung der Pferde, und Tarn erspähte den schwarzen Hengst fast sofort. Er döste im Stehen, und er wirkte nicht krank, aber Jefrem log ihn nicht an - das lag nicht in seiner Art. „Es war verdammt schwer festzustellen, gebe ich gern zu, aber nur für einen alten Zausel wie mich. Du arbeitest mit Pferden, seit du stehen kannst, und Matis Verletzung einzuschätzen hättest du normalerweise mit Links geschafft. Wärst du konzentriert… oder zumindest ansatzweise bei der Sache…”
„Falls du dich über meine Arbeit bei Eravier beschweren willst-”, versuchte Tarn abzuwiegeln, aber Jefrem ging nicht darauf ein. „Die meiste Zeit machst du deine Arbeit gut, darüber kann sich wohl niemand beklagen. Auch dir passieren Fehler. Aber selten so viele wie jetzt, und jedes Mal wenn ich dich sehe, möchte ich dich zwingen dich zu setzen und was zu essen, damit mal irgendwas an deinem Knochengerüst hängen bleibt.” Er warf einen kritischen Blick auf Tarns Arme und Schultern, denen man in seinem nur halb bekleideten Zustand deutlich ansah, dass sie knochiger geworden waren. Ernst fuhr er fort: „Ich weiß nicht, was los ist, aber es ist bestimmt nichts Gutes. Seit wir den Jungen aufgesammelt haben reibst du dich so auf wie noch nie, und das macht mir Sorgen. Das letzte Mal, als etwas Ähnliches passiert ist… ”

Tarn zuckte unbehaglich zusammen. Jefrem sprach den Satz nicht zuende, aber das musste er auch nicht. Sie wussten beide, was damals geschehen war. Es fehlte ihm noch, dass Jefrem ihn an alte Zeiten erinnerte, auch wenn seine Worte eine erschreckende Plausibilität hatten. Er wollte es nicht wahrhaben, aber er hatte wie damals das Gefühl, die Orientierung verloren zu haben, nicht mehr zu wissen, in welche Richtung er gehen sollte. Jefrem sah ihn erwartungsvoll an, und er war nahe daran, sich zu öffnen, eine Erklärung zu finden. Aber nein, der Zeitpunkt dafür war noch nicht da. Seine Gedanken waren zu ungeordnet, und er war zu müde. 
„So weit kommt es nicht”, beschwichtigte Tarn ihn leise, „Und wenn, dann wärst du immer noch da, oder?” „Das stimmt schon”, brummte Jefrem, „aber-” „Wolltest du nicht, dass ich unbedingt schlafen gehe? Dann lass es gut sein.” Damit war das Gespräch für Tarn beendet, und er wandte sich von Jefrem ab und kroch in das Zelt, um sich schlafen zu legen.

Jefrem stand für einen Moment am selben Fleck, dann schüttelte er den Kopf und trabte zu den Wassereimern. Während er sich wusch und rasierte, sinnierte er darüber, dass es keinen Sinn hatte, jetzt weiter in Tarn zu dringen. Nicht, bevor er eine Ahnung hatte, was ihn nach all den Jahren aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Aber was es auch war, es belastete nicht nur Tarn, sondern auch ihn selbst schwer. Es war weit davon entfernt, ungewöhnlich zu sein - jeder seiner Jungen hatte dunkle Stunden gehabt, und manche waren ihm ganz entglitten. Manche seiner Knechte waren irgendwann verschwunden, zurück zu dem, was sie kannten und womit sie sich jahrelang über Wasser gehalten hatten; meistens beinhaltete es, anderen die Kehle durchzuschneiden. 
Tarn war nicht der erste und nicht der letzte Knecht gewesen, den er aufgenommen hatte. Er war nicht der härteste, mit dem er je zu tun gehabt hatte - das war Mischa gewesen, der ihm im Streit fast den Schädel zertrümmert hatte. Er war auch nicht der leichteste gewesen, das war Viljo, der jetzt eine Frau und Kinder hatte und von jedem gemocht wurde, obwohl er früher jeden umgebracht hätte, der zwischen ihn und eine Flasche Fusel kam. Aber in gewisser Weise war Tarn trotzdem etwas Besonderes. Das Leben hatte ihn öfter und heftiger als andere zu Boden geworfen, und mehr als einmal hatte der Tod ihn vermutlich nur nicht mitgenommen, weil er die Mühe nicht mehr wert schien. Man musste Mitleid mit jedem haben, der immer wieder in die Fänge der falschen Menschen geriet.
„So weit kommt es nicht?”, brummte Jefrem unbehaglich und widerholte damit Tarns Worte. „Ich wünschte, das könnte ich glauben. Aber ich glaube, ich kenne dich inzwischen etwas besser.” 

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Eigentlich war es nur eine Ausrede gewesen, aber jetzt, da Tarn im Zelt war, war es im Grunde egal, ob er sich hin legte oder nicht. Nicht, dass das eine einladende Vorstellung war; Jefrems Lager war, wie alles in seinem Besitz, ein schäbiger Anblick. Alle seine Gebrauchsgegenstände waren tausendmal geflickt, ausgebeult, angeschlagen und abgewetzt, da machten die dünnen Decken in denen er schlief keine Ausnahme. So mutete seine Schlafstätte an wie ein riesiger Haufen Lumpen, vor allem im Vergleich zu Mischas sorgfältig genähter bunter Flickendecke, die ihn großzügig einhüllte, ein Geschenk seiner Schwester. Mischa lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, und schnarchte hingebungsvoll. Niemand wollte sich das Zelt mit Jefrem oder Mischa teilen, weil den Krach einfach niemand aushielt, deshalb schliefen sie zusammen und schnarchten sich nachts gegenseitig an. Tarn bezweifelte, dass er ein Auge zu tun würde, aber er legte sich dennoch hin, hüllte sich in die drei Decken, die alle an unterschiedlicher Stelle ein großes Loch hatten und deshalb insgesamt nur zwei Decken ergaben, und schloss die Augen. Der Boden war hart, und es war kühl, laut und roch nach Pferden und nach Jefrem. Es  war eine Zusammenstellung all der kleinen Dinge, die den brummeligen alten Kerl ausmachten; harte Arbeit und ein hartes Leben, schnörkellos und gerade heraus. Vielleicht fühlte er sich deshalb plötzlich sicher.

Und es erinnerte ihn so sehr wie noch an sein Zuhause. Wie oft hatte er lieber im Stall geschlafen, in der Nähe der Pferde? Es war einfacher, außer Sichtweite zu sein, und einen Heuhaufen musste man sich im Gegensatz zu seinem Bett nicht mit zwei Geschwistern teilen. Damals hatte er ständig zwischen Liebe und Abneigung geschwankt - es gab nicht genug zu essen und auch nicht genug Platz für sie alle. Jetzt, Jahre später, war es einfacher, all die Wut, die er früher gespürt hatte, zu verdrängen und sich an das Gute zu erinnern. Er vermisste seine Familie, und trotzdem hatte er sie wieder einmal seit Monaten nicht gesehen. Vielleicht war es Zeit, heimzukehren, auf einen Besuch. Arize hatte inzwischen ihr drittes Kind, er hatte es noch gar nicht gesehen, und wer wusste schon, welchen Ärger sich Hers wieder eingehandelt hatte, während er nicht da gewesen war.
Es war seltsam - früher hatte er nie daran gedacht, länger als ein paar Monate zurückzukehren, aber plötzlich fragte er sich, ob es nicht Zeit wurde, für immer bei seiner Familie zu bleiben. Im Grunde hielt ihn nichts mehr hier. Jefrem fand Mittel und Wege, sich mit ihm auszutauschen, das war schon immer so gewesen, also musste er nicht befürchten, den Kontakt zu ihm oder den anderen Pferdeknechten zu verlieren. Und sonst gab es unter den Dienern niemand, der ihm nahe genug stand, um ihn einen Freund zu nennen. Er hatte Verpflichtungen, und die Pferde lagen ihm am Herzen, aber bei Jefrem waren sie gut aufgehoben. Und Ansin…
Nein, er wusste nicht, was der Gedanke, ihn nie wieder zu sehen, in ihm auslöste. Was er wusste war, dass seine Fähigkeit ihn zu zügeln spürbar nachgelassen hatte. Er hatte Faures Tod nicht verhindern können, er hatte ihn nicht einmal kommen sehen. Er war entbehrlich geworden, selbst für die Rebellion. Das war einerseits bedrückend, aber gleichzeitig war es ein befreiendes Gefühl. Niemand brauchte ihn… Er driftete weg, hin zum Schlaf, und die Gedanken verebbten zu einem Murmeln.
Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass er sich geirrt hatte. Jemand brauchte ihn, zumindest jetzt noch. Er hatte noch eine Aufgabe, bevor er endlich alles hinter sich lassen konnte. Er musste Valion…

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Nebel. Er war so dicht, dass Valion kaum weiter als zwei Meter sehen konnte. Er war völlig allein. Nass glänzende Baumstämme, viele von ihnen abgebrochen oder verfault, ragten aus dem Boden wie schwarze Pfähle. Der Wald umgab ihn schweigend und drohend, so feindselig, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Er drehte sich im Kreis um seine eigene Achse und sah nichts Vertrautes, kein Zeichen, keinen Hinweis auf Leben. Nur nasses Laub, Nebel, und die Bäume, die sich endlos in den Himmel streckten und deren Kronen im Dunst verschwanden. „Jan?!” Seine Hand- und Fußgelenke schmerzten wie verrückt, etwas Schweres lastete auf seinem Brustkorb und schnürte ihm die Luft ab. Er sah sich um und lief los, aber er wusste nicht einmal wohin. Alles sah gleich aus. „Jan?!” 

„Jan?!”
Er riss sich selbst mit seinen Rufen aus seinem Alptraum und mitten hinein in absolute, blinde Panik. Alles um ihn war schwarz, er konnte nichts sehen, und sein Herz raste wie verrückt in seiner Brust. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken, und etwas Schweres lag auf ihm, auf seinem Brustkorb, sodass er das Gefühl hatte nicht atmen zu können.
Er versuchte tief Luft zu holen, um sein Herz zu beruhigen, aber er konnte es nicht, und das Gefühl zu ersticken wurde noch unerträglicher. Jemand hatte ihn an Händen und Füßen gefesselt, das spürte er jetzt, und instinktiv riss er an den Ketten. Aber die Handschellen schnitten ihm nur in die Haut und verstärkten das Gefühl der Enge. Seine Arme fühlten sich taub an, und der panische Gedanke, dass die Blutzufuhr unterbrochen war, schoss ihm in den Kopf. Er musste ihn mit aller Macht nieder kämpfen.
Wo war er? Jan hatte ihn nieder geschlagen, da waren sie noch im Wald gewesen, aber jetzt war er an irgendeinem anderen Ort. Vielleicht wieder der Pestwagen? Nein, er lag nicht auf dem blanken Holzboden, und er hatte das unbestimmte Gefühl, in einem wesentlich kleineren Raum zu sein. Aber statt dass es ihn tröstete, verstärkte diese Erkenntnis nur das Gefühl der Panik und Beengung. Es gab nichts, an dem er sich fest halten konnte, nichts Vertrautes oder auch nur Bekanntes. Er versuchte die Hand zu heben, um zu sehen, ob er sie in der Dunkelheit erkennen konnte, aber sie wollte sich keinen Zentimeter bewegen. Er lag stumm da, wie versteinert, und kämpfte um jeden Atemzug. Seine Haut brannte, und er starrte verzweifelt und blind in die Schwärze.
Er war allein, völlig allein. Das Wissen stürzte mit aller Macht auf ihn ein. Tarn hatte ihn verraten, um ihn zu schützen, und das hätte ihn wütend machen müssen, aber alles woran er denken konnte, war Jan. Er war verletzt, durch seine Schuld, krank, vielleicht kurz vor dem Erfrieren, und endlos weit weg. Valions Herz schlug noch schneller, und das Gefühl nicht atmen zu können wurde noch stärker. Selbst wenn er vermocht hätte sich zu befreien, selbst wenn er den Mund öffnete um zu schreien, er konnte Jan nicht mehr erreichen. Aber auch wenn Jan jetzt direkt neben ihm gesessen hätte, hätte er sich vermutlich wütend abgewandt. Alles was sie einander geschworen hatten, alles, was sie verzweifelt versucht hatten zusammen zu halten, war in diesem einen Moment zerbrochen… 

„Shh… hörst du mich?” Eine Hand tastete sich in der Dunkelheit zu Valion heran und legte sich beruhigend auf seinen Kopf. Endlich hatte Valion einen Anhaltspunkt in der Dunkelheit. Er konnte nur Schemen erkennen, aber er sah die verschwommenen Umrisse einer Person, die sich über ihn beugte - eine Frau, der Stimme nach.
„Du hast geschrien”, flüsterte sie leise. Es klang entschuldigend, als wäre das kein guter Grund, ihn zu stören, aber so unerwartet das plötzliche Auftauchen auch war, umso erleichternder war es jetzt, eine Stimme in der Dunkelheit zu hören. Es gab dem totenstillen Raum plötzlich einen Klang, Hall, eine Perspektive. Und wer auch immer die Frau war, sie schien zu verstehen, vielleicht zu fühlen, wie panisch Valion war. Sie strich beruhigend, in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen, über sein Haar, und flüsterte ihm zu: „Du bist bewusstlos hierher gekommen, du musst sehr verwirrt sein. Ich kann ein Licht anzünden, wenn du willst. Oder… soll ich kurz deine Hand halten?”, fragte sie zaghaft nach.
Valion nickte, und sie griff nach seiner kaum bewegungsfähigen Hand. Er erwartete, dass er nichts spüren würde; nichts außer den tausend Nadelstichen die man fühlte, wenn ein Arm oder ein Bein taub wurde. Aber die Haut fühlte sich jetzt wieder völlig normal an. Sie drückte seine Hand kurz und kräftig, aber nicht so, dass es schmerzte, dann ließ sie locker und  begann mit dem Daumen über seinen Handrücken zu streichen. Erst hielt er es für eine zufällige Bewegung, aber dann erkannte er, dass ihre Finger einen langsamen Kreis beschrieben, und sie flüsterte ihm zu: „Atme ganz langsam. Einatmen, ein halber Kreis, Ausatmen, ein halber Kreis. Einatmen… Ausatmen… Verstehst du?” Er verstand, und obwohl es eine völlig verwirrende Aufforderung war tat er was sie sagte, atmete im Rhythmus der Bewegung. Einatmen. Ausatmen.

Es half, obwohl er nicht damit gerechnet hatte. Langsam, ganz langsam, beruhigte sich sein Herzschlag. Einatmen. Ausatmen. Es fiel ihm jetzt nicht mehr so schwer, Luft zu holen, als würde sich sein versteinerter Körper langsam lösen. Das Gewicht, das auf ihm lag, die Kette zwischen seinen Handfesseln, bewegte sich mit seinem Brustkorb auf und ab, genauso langsam, aber es erschien ihm jetzt weniger schwer, und die Dunkelheit schien zurück zu weichen.
Selbst die Stille hielt nicht an, denn die Frau begann zu summen, ein Kinderlied, obwohl er sich nicht erinnerte, wie es hieß. Er dachte an seine Mutter, wie sie manchmal bei der Handarbeit summte, abends, wenn das Feuer fast heruntergebrannt war und die Welt sich zur Ruhe begab. In diesem Moment sehnte sich unglaublich nach ihr, und der Gedanke dass sie ebenfalls weit weg war, nicht einmal wusste, wie es ihm ging, schnürte ihm die Kehle zu. Er wollte das alles nicht, er wollte diesen Schmerz nicht fühlen, nicht verlassen sein. Aber wenigstens war er nicht ganz allein. Einatmen. Ausatmen. „Wo ist Jan?”, fragte er, und seine Tränen liefen an den Schläfen hinab und versickerten in seinem Haar. „Ist er entkommen? Ist er-” „Wir finden es bald heraus. Gleich, wenn die Sonne aufgegangen ist. Denk jetzt nicht daran. Denk an etwas Schönes”, unterbrach sie ihn sanft und summte weiter. Vermutlich wusste sie nicht einmal, von wem er sprach.  

Wie lange würde es dauern, bis der Morgen dämmerte? Es erschien ihm so unendlich weit weg. Einatmen. Ausatmen. Was summte sie da? Jetzt erkannte er die Melodie, »Im Mondlicht«. Wer hatte ihm das vorgesungen, und wann? Er glaubte sich erinnern zu können, dass es Nisha gewesen war. 
Er sollte an etwas Schönes denken, aber im ersten Moment kam ihm nichts in den Sinn, und er wollte nicht an Jan denken und nicht an seine Familie. Dann dachte er an das Lied, das sie summte, und erinnerte sich an das silberne Mondlicht, das die Lichtung so sanft erhellt hatte. An den ruhigen Teich mit dem eiskalten, klaren Wasser. Er dachte an die kleinen, vom Wind getriebenen Wellen, die darüber geglitten waren. Die struppigen Büschel von Gras, und die dichten Büsche, die leise in der Brise wogten. Blätterrauschen. Wind.
Sein Körper entspannte sich langsam. Das Summen begleitete ihn in den Schlaf.

Er träumte wieder, aber diesmal war es ein schöner Traum. Es musste ein schöner Traum sein, weil Jan bei ihm war. 
Er lag dicht neben ihm und sah ihn an, und verschlafen drehte Valion sich vom Rücken auf die Seite und umarmte ihn, legte seinen Kopf an seine Brust. Jans schlang seine Arme um ihn, und er streichelte sein Haar und seinen Rücken. Es war nur ein schmales Lager, und es war ziemlich eng zu zweit, aber so lagen sie Körper an Körper, und es war ein warmes, geborgenes Gefühl. Valion wollte nichts weiter, als für immer so auszuharren. 
Aber ihn quälte eine Frage, und schließlich flüsterte er Jan mit geschlossenen Augen zu: „Warum bist du nicht wütend auf mich?” Jan lachte leise. „Denkst du, ich lasse mich von seinen billigen Trick hereinlegen? Ausgerechnet ich? Ich habe dich doch gewarnt, dass du ihm nicht trauen kannst. Er hat uns beide überlistet, und jetzt hat er dich.” 
„Das ist nicht wahr, niemand hat mich”, murmelte Valion protestierend, aber Marceus schüttelte milde den aufgestützten Kopf. Irgendwie erinnerte sich Valion nicht daran, dass er zuvor da gewesen war, aber jetzt er lag auf der anderen Seite des Lagers, hinter Valion, auf der Seite und sagte: „Und dabei hat er dich doch selbst gewarnt. Er hat dir gesagt, dass du ihm nicht vertrauen kannst.” Jan warf über Valions Schulter hinweg einen unfreundlichen Blick zu Marceus. „Was macht er hier? Er nimmt uns den Platz weg”, murmelte er verärgert, aber Marceus ließ sich davon nicht beeindrucken. „Ich bin hier, weil Valion es so will. Und Platz haben wir genug.” Er griff eine Hand voll Heu und warf sie nach Jan, und Valion sah sich verschlafen in der Scheune um, in der sie lagen, weich gebettet auf einem großen Haufen Stroh. Richtig, genug Platz. Hier würde sie sicher niemand finden. Seltsam, das Dach fehlte, er sah die Sterne. War er nicht irgendwo anders gewesen?
Völlig egal, er war müde, und es war warm. Valion vergrub sein Gesicht in Jans Halsbeuge, weil er sich den Streit nicht anhören wollte. Jan klammerte sich Besitz ergreifend an ihn, während Marceus interessiert Valions Rücken betrachtete und einige seiner Haarsträhnen aus seinem Nacken strich. Was auch immer er entdeckt hatte, Valion fühlte es plötzlich auch - ein Stechen und Brennen in seinem Rücken. War da nicht Irgendetwas gewesen? „Du hast da ein Messer im Rücken”, sagte Marceus, und Valion zuckte mit den Achseln, obwohl es ein wenig weh tat. „Lass es da”, sagte er, und Jan fragte kryptisch: „Weil es dir egal ist, oder weil es von ihm ist?” „Es wird doch etwas eng, wenn er auch noch dazu kommen soll”, wandte Marceus ein, legte seine Arme um Valion und küsste seinen Nacken und die Schulterblätter. „Ich weiß”, murmelte Valion, aber er musste auch lächeln. Er hatte wirklich nichts dagegen, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. „Erzähl uns, was du mit Nisha getan hast”, sagte Marceus, und Valion errötete, aber Jan nickte nur zustimmend. Woher wussten sie davon? Das war hier gewesen, im Heu. „Erzähl uns alles davon”, forderte Jan ihn erneut auf und küsste seinen Hals.
Plötzlich waren zwei paar Hände überall auf Valions Körper. Jans tastende Finger schoben sich unter sein Hemd, streichelten über die nackte Haut seines Oberkörpers, Marceus wanderten tiefer, über seine Wirbelsäule zu seinem Gesäß. Valion streckte die Hände aus, griff Jan im Nacken und Marceus an seiner Kleidung und zog sie zu sich heran. 
Er wollte sie küssen, alle beide, am besten gleichzeitig. Es war ein überwältigendes Gefühl, das ihn fast verrückt machte, ein unstillbarer Hunger nach Berührung, den er überhaupt nicht gekannt hatte, nicht, bis Jan das erste Mal auf seinem Schoß gesessen und ihn mit seinem Verlangen in Brand gesteckt hatte. „Was hast du mir mir gemacht, Jan?”, flüsterte er verzweifelt und küsste ihn begierig. Seine Hand fuhr durch sein Haar, so weich und zart, und das Gefühl war untrennbar mit der Erinnerung verbunden, wie heiß und feucht sich sein Mund angefühlt hatte. Marceus ergriff ihn sanft an der Schulter, drehte ihn zu sich herum und küsste ihn auf den Mund, und dann sagte er: „Wir haben gar nichts gemacht. Das war schon alles in dir.” Seine Hand legte sich auf Valions Brust, direkt über das Herz, das wie wild schlug. 
Er hatte Recht, das wusste Valion. Aber er hatte es vergessen. Er hatte es vergessen, weil es zu viel war, zu groß, zu stark, zu schmerzhaft. Gott, wie sehr hatte er Nisha geliebt, und wie sehr hatte er gehofft, sie würde das selbe spüren wie er. Er hatte ihr schon einmal gezeigt was er empfand, und es hatte ihn verletzt. Erst jetzt verstand er, wie tief diese Wunde gewesen war und wie sehr sie ihn beeinflusst hatte, bis Jan gekommen war, um seine Gefühle wieder wachzurufen. Nisha hatte Recht gehabt, sie hatte ihn ausgenutzt. Erst jetzt begriff er, dass er gewünscht hatte-

„Das ist völlig inakzeptabel, du hirnloser Kretin!” Irgendetwas zerbrach mit lautem Splittern auf dem Boden, und innerhalb von Sekunden saß Valion senkrecht auf seiner Bettstatt, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er sah sich hektisch um, aber bis auf drei schmale, dicht bei einander liegende Lager, die von einer hölzernen Trennwand abgeschirmt wurden, sah er niemand. Das Innere des Wagens lag jetzt im Halbdunkel, weil nur wenig vom Tageslicht von draußen herein drang, aber wenigstens war es hell genug, dass Valion sich in seiner neuen Umgebung zurecht. Der Streit, oder was auch immer es war, schien weiter vorn, nahe des Ausgangs statt zu finden.
„A-aber Herrin, das ist die Anweisung die wir-”, stammelte irgendjemand, vermutlich ein Diener, aber er wurde harsch unterbrochen, als die aufgebrachte Frauenstimme ihn anfuhr: „Wir werden uns nicht draußen im Freien, in der Kälte, in irgendeinem Waschzuber waschen! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das unter unserer Würde ist?! Hörst du mir zu? Du wirst jetzt gehen und Ansin ausrichten, dass er uns eine Alternative zu bieten hat!” „Aber-” Diesmal splitterte es noch lauter. „Wenn ich noch ein »aber« höre wirst du den Tag verwünschen, an dem du geboren wurdest!”
„Was soll Krach?”, polterte eine tiefere Männerstimme, vermutlich eine Wache, „Es ist alles bereit, wenn ihr bitte mitkommen würdet.” „Oh Gott, muss ich mich widerholen? Ich sagte, dass wir nicht-”, setzte die Frauenstimme wieder an, aber der Wächter unterbrach sie, mit einer Mischung aus Verachtung und gönnerhaftem Verständnis: „Herrin, darüber brauchst du nicht zu diskutieren. Morgen wird alles wieder wie gehabt hergerichtet, aber momentan haben wir ein paar Probleme mit der Versorgung. Bedank dich bei unserem Flüchtling.” „Dann warte ich eben, bis alles so weit ist!” „Tut mir Leid, Herrin, aber Herr Eravier will dich gleich danach dringend sehen, wenn du also so freundlich wärst…” 

Ein resigniertes „Tss, wenn es unbedingt sein muss!” deutete daraufhin, dass die Frau ihre Forderungen aufgab, doch eine weitaus ruhigere, tiefere Frauenstimme fragte stattdessen: „Was ist mit dem Jungen? Valion hieß er, oder? Wird er uns begleiten?” „Ja, er soll ebenfalls zu Eravier gebracht werden”, stimmte die Wache zu, und Valion verkrampfte sich. Er würde Eravier gegenüber treten müssen, vermutlich, um sich für seine Flucht zu verantworten. Vielleicht würde er befragt werden, oder sogar gefoltert, um alles aus ihm heraus zu holen, was Jan oder die Rebellion betraf. Der Gedanke löste Übelkeit in ihm aus. 
Aber warum war er dann hier? Sein Blick schweifte hektisch über die Umgebung, aber dieser Wagen sah kaum wie ein Gefängnis aus, im Gegenteil. Wären nicht die Ketten um seine Hand- und Fußgelenke gewesen hätte nichts darauf hingewiesen, dass er hier ein Gefangener war. Die Lager waren schlicht, aber wesentlich bequemer als der blanke Holzboden, die Decken und Kissen sahen sauber aus, waren weich und hatten keine Risse. Es gab nicht, wie zuvor im Pestwagen, eingelassene Ringe um Gefangene fest zu ketten. Und wenn er richtig gehört hatte, war er hier allein mit zwei Frauen untergebracht. Das ergab alles keinen Sinn.
Er hatte jedoch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die zweite Frauenstimme sagte sanft: „Wartet bitte,  ich hole ihn. Möglicherweise ist er noch nicht aufgewacht.” „Na von mir aus”, brummte der Wächter, und Schritte näherten sich Valion, bis eine Frau am Rand der Trennwand auftauchte. Ihr Blick fiel auf ihn, wie er sie erwartungsvoll anstarrte, und ein schmales, sanftes Lächeln zog über ihr Gesicht. „Oh, du bist schon wach. Komm! Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen. Ich bin Jadzia.” Sie streckte die Hand aus um ihm zu bedeuten, ihr zu folgen.
Valion konnte nur nicken und erhob sich schnell, wobei er tatsächlich die helfend hingestreckte Hand ergreifen musste, da seine kurzen Fußketten ihm nur winzige Schritte erlaubten. Dann folgte er Jadzia um die Trennwand herum, durch den außerordentlich großzügig ausgestatteten Wagen, und seine Verwirrung wurde nur noch größer. Das war auf keinen Fall ein Gefängnis, und wenn, dann das prunkvollste, das er jemals gesehen hatte. Überall war Stoff drapiert, um das hölzerne Skelett des Wagens zu verbergen, und es gab eine Menge Laternen für die Nacht, dadurch wirkte das Innere tatsächlich wie Wohnraum. Es gab einen niedrigen Tisch mit Sitzkissen und einen weiteren sehr schmalen hohen, auf dem eine Waschschüssel stand, dazu eine große Truhe. 
Obwohl seine neue Unterbringung sein Interesse weckte, war Valion zunächst hin und hergerissen, ob er seine Umgebung oder lieber Jadzia betrachten sollte. Sie führte ihn bedacht an der Hand weiter und drehte sich immer wieder zu ihm um, und so hatte er genug Gelegenheit, ihr Gesicht zu bewundern. Es geschah nicht oft, dass er von Schönheit überwältigt war, aber eine Frau wie sie hatte er noch nie gesehen. Sie hatte große, dunkelbraune Augen, volle Lippen, eine gerade Nase und hohe Wangenknochen. Ihre dunkle, fast schwarze Haut war ebenmäßig, und ihr schwarzes Haar war zu vielen, dünnen Zöpfen geflochten, kunstvoll hochgesteckt und betonte ihren langen Hals. Von einem war er sofort überzeugt: sie musste es gewesen sein, die nachts an seiner Seite gewesen war. Die sanfte Stimme, die Ruhe und Freundlichkeit, die sie ausstrahlte, alles passte dazu.
Der Eingang des Wagens wurde großzügig von einem dicken Vorhang abgetrennt. Als Jadzia ihn beiseite schob, kamen dahinter die Wache und die zweite Frau, die er gehört hatte zum Vorschein, außerdem die Scherben von etwas, das früher einmal zwei schlichte Keramikbecher gewesen sein musste, vermutlich aus Wut zerschmettert. Weiter kam er nicht mit seiner Betrachtung der Situation,  weil die andere Frau sich ihm in den Weg stellte und ihn kritisch musterte. 
„Mein Name ist Anya”, stellte sie sich vor, „Irgendein Idiot hat beschlossen, dass du ab jetzt mit uns reisen sollst. Da wir dir aber unsere missliche Lage zu verdanken haben kann ich nicht behaupten, dass ich besonders froh darüber bin, dass du zu uns gestoßen bist.” Sie funkelte ihn an, und dazu stützte sie provokant die Hände in die Hüften, als wolle sie verhindern, übersehen zu werden, aber diese Gefahr bestand durchaus nicht. Sie überragte Valion um einen halben Kopf und wog vermutlich doppelt so viel wie er, und ihre breiten, runden Hüften wogten bei jedem Schritt. Ihre reine, schneeweiße Haut und die leuchtend roten Haare, die in einer gewaltigen Mähne bis zur Mitte ihres Rückens reichten, machten sie zu Jadzias komplettem Gegenteil, mit einer Ausnahme - ihre Schönheit war absolut ebenbürtig. Allerdings löste ihre provokante Art in Valion nicht das selbe stumme Staunen aus, das Jadzia bewirkte. Er war sich nicht sicher, ob er sie mögen würde - er war zwar Jans Sprüche gewöhnt und machte sich nichts aus ihren direkten Worten. Aber die Art, wie sie sich durch die Haare fuhr und sich inszenierte deutete darauf hin, dass sie recht eitel war, und damit kam er nicht gut zurecht. Ohne weiter nachzudenken antwortete er: „Das nächste Mal lasse ich mich erschießen, um dir das zu ersparen.” 
Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch, als wolle sie lachen, aber im nächsten Moment fragte Valion sich, ob er sich das eingebildet hatte, weil sie sich brüsk abwandte. Statt ihn weiter zu beachten, baute sie sich vor der Wache auf, die immer noch im Wagen stand und ungeduldig auf sie wartete. Sein Gesicht kam Valion bekannt vor, er musste ihn am Tag zuvor gesehen haben. „Na schön”, sagte Anya schnippisch, „Können wir jetzt gehen? Ich werde schließlich erwartet!” Damit stolzierte sie vorran.

Die Wachen, insgesamt drei, eskortierten sie ein Stück durch das Lager, das inzwischen wesentlich voller wirkte als die Tage zuvor. Die Diener schienen hektisch damit beschäftigt, ihre Rückstand vom letzten Abend aufzuholen, und vieles von dem, was sonst in den Wagen lagerte, schien für die Dauer ihres Aufenthalts nach draußen geschafft worden zu sein. Das Ergebnis war organisiertes Chaos, und eigentlich hätten die drei Sklaven und ihre Bewacher kaum auffallen dürfen, aber das Gegenteil war der Fall - sie wurden praktisch ununterbrochen angestarrt.
Jadzia duckte sich sichtlich unter den Blicken, und sie verschwand beinahe instinktiv in Anyas Schatten, hielt sich nahe bei ihr, wenn sie sich beobachtet fühlte und ließ den Blick gesenkt. Anya schien das alles nicht zu stören, im Gegenteil, sie schien dafür geboren zu sein, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die Blicke befeuerten sie nur. Sie hatte ein zuckersüßes Lächeln aufgelegt, sah sich aufmerksam um, zwinkerte ein paar Männern zu und scherte sich einen Dreck um abfällige Blicke - negative Aufmerksamkeit prallte völlig wirkungslos an ihr ab. 
Und dann gab es einen nicht unbeträchtlichen Anteil von Dienern und Wächtern, die Valion finstere Blicke zu warfen. Sie wussten, wem sie die Unruhe und die zusätzliche Arbeit verdankten, und Valion versuchte wie Jadzia den Blick gesenkt zu halten und ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass er nicht direkt dafür verantwortlich war, wie es den Dienern oder Wächtern erging, aber trotzdem spürte er Schuld. Er hatte alles ins Chaos gestürzt, auch wenn er es nicht beabsichtigt hatte. Dabei hatte er nur bei Jan sein wollen…
Er schob den Gedanken hastig von sich. Der Schmerz und die Panik lauerten dicht unter der Oberfläche seiner Ruhe, und er musste all seine Kraft darauf verwenden, seine Emotionen nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Unterbewusst verstand er, dass er diese Gedanken nicht für immer aussperren konnte, aber so lange er seine Ruhe aufrecht erhielt, funktionierte er. Deshalb verbannte er alles aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf die Wachen, die sie führten. 
Je länger er ein Teil der Wagenzuges war, desto besser konnte er einzelne Gesichter auseinander halten, und diese drei hatte er tatsächlich schon öfter gesehen. Sie hatten ihn und Jan aus dem Wagen gezerrt, und der hässliche von den drei hatte Jan geschlagen. Er war es auch, der Jadzia und Anya jetzt immer wieder gierig von der Seite musterte. Vor allem auf Jadzia klebte sein Blick, und weil sie sich auf der vom Lager abgewandten Seite hinter Anya verborgen hielt musste sie zwangsläufig in seiner Nähe gehen, was ihr großes Unbehagen zu bereiten schien. Wenn er sich ihr auf weniger als drei Schritte näherte, wich sie ihm aus, und diese Wirkung schien ihm durchaus bewusst. Er grinste dreckig und machte es sich zum Spaß, sie immer wieder abzudrängen. Der dritte Wächter ging vorraus, aber der zweite war auf einer Höhe mit Valion, und auch er kam ihm bekannt vor. Er war ein Baum von einem Mann, muskelbepackt und vermutlich über 100 Kilo schwer, und im Gegensatz zu seinem hässlichen Kumpan strahlte er wesentlich mehr Wachsamkeit und auch einiges an Intelligenz aus. Er schien seine Aufgabe ernst zu nehmen, sein Blick wanderte zwischen den Frauen, den anderen Wächtern und Valion hin und her, und er bemerkte durchaus, wie sehr Jadzia zugesetzt wurde, doch er schritt nicht ein. Doch nicht nur das fiel ihm auf - er sah, dass Valion ihn beobachtete, und als Valions Augen zu seinem Kumpan und Jadzia wanderten und wieder zu ihm zurück, nickte er als Antwort kaum merklich, sagte aber nichts. Widerwillig spürte Valion etwas Respekt ihm gegenüber - er war klug genug, auch die anderen Wächter im Auge zu bahelten, und Valion versuchte jetzt noch mehr als zuvor, sich sein Gesicht einzuprägen. Möglich, dass er das noch einmal brauchen würde.

Sie hatten vermutlich gerade die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als Anya plötzlich jemand zu erspähen schien, den sie nicht nur mit einem Lächeln oder Zwinkern bedenken wollte. „Gaeeel!”, flötete sie und verließ eilig die kleine Gruppe. Der hässliche Wächter schnauzte: „He!” und wollte sie abhalten, aber der große Wächter neben Valion pfiff ihn zurück: „Lass sie, Levin!” „Aber Guy, sie-” „Das ist ihr erlaubt.”
Anya achtete gar nicht auf ihre Bewacher, in der vollen Überzeugung, dass niemand das Recht hatte sie von irgendetwas abzuhalten, und ging auf den Mann zu, der sie gerufen hatte. Ein Menschenhändler. Er sah sie und wirkte erfreut, und obwohl man nicht verstehen konnte, was die beiden zueinander sagten, trat Anya nach einer kurzen Begrüßung noch näher an ihn heran und legte eine Hand zärtlich auf seine Brust.

Valion ballte die Fäuste. Plötzlich fühlte er sich gleichzeitig wachsam und abgestoßen. Er hatte noch nicht viel von den anderen Händlern mitbekommen, nur ihre Namen aufgeschnappt, aber anscheinend waren sie nicht weniger zwielichtige Gestalten als Eravier, wenn sie auf diese Art mit ihren Sklaven verkehrten. Und Anya flirtete den Händler so schamlos und offensichtlich an, dass Valion das Zusehen fast peinlich war.
Jadzia trat leise neben ihn, die Arme vor dem Körper verschränkt, und flüsterte ihm zu: „Das ist Gael Karvash, Anya hat ein Auge auf ihn geworfen.” Valion nickte und flüsterte zurück: „Das ist kaum zu übersehen.” Er schaffte es nicht ganz, die Abneigung aus seiner Stimme zu verbannen, und er sah, dass Jadzia für einen Sekundenbruchteil die Stirn runzelte, doch dann ging sie darüber hinweg. „Er ist ziemlich reich, und sie findet ihn attraktiv”, erklärte sie weiter, „Wenn sie kann, geht sie und trifft sich mit ihm.” Sie sagte das so urteilsfrei, dass Valion einfach nachfragen musste: „Ist er denn allein? Ich meine, hat er nicht-” „Angeblich hat er drei Ehefrauen”, flüsterte Jadzia zurück und zuckte mit den Schultern, zum Zeichen, dass sie selbst nicht wusste, ob das der Wahrheit entsprach. „Anya versteht sich gut mit den Händlern. Eravier soll ihr auch recht zugetan sein. Wenn du ein Problem hast oder etwas brauchst, wendest du dich am besten an sie, sie kann einiges bewirken.”

„Hört auf zu schwatzen, hier werden keine Pläne mehr ausgeheckt, verstanden?”, schnauzte Levin plötzlich und gab Valion einen Stoß, und hastig nahmen sie beide etwas Abstand voneinander. Aber gleichzeitig war es Valion recht, dass ihr Gespräch damit endete. Er betrachtete Anya aus der Ferne, und Widerwille wallte in ihm auf. Er glaubte nicht, dass er die Abneigung, die er fühlte, Jadzia gegenüber weiter verbergen konnte.
Das merkwürdige war, dass ihm diese Art von Abneigung eigentlich fremd war. Es kam selten vor, dass er jemand auf Anhieb nicht leiden konnte, aber alles an Anya erschien oberflächlich und falsch. Wenn er sie sah, wie sie sprach, sich bewegte, ihr Haar zurückwarf, wurde er nur misstrauisch. Alles an ihr war darauf ausgerichtet, Männer um den Finger zu wickeln, vom Schwung ihrer Hüften bis zu dem melodischen Lachen, das jetzt zu ihm herüber schallte. Dazu kam, dass sie anscheinend jede Beziehung, die sie knüpfen konnte, gnadenlos ausnutzte, es konnte gar nicht anders sein. Wie sonst konnte sie so mit den Dienern und Wächtern umspringen und sich wie eine Königin benehmen? Sie wickelte alle, die in irgendeiner Weise Einfluss hatten um den Finger, und der Rest kuschte notgedrungen vor ihr. 

Er sah dabei zu, wie sie auf Karvash einredete, und es war schmerzhaft offensichtlich, wie sie ihn für sich einnahm. Sie hielt Körper- und Augenkontakt, stand immer nahe bei ihm, legte ihre Hände auf seinen Arm oder seine Brust und verlor niemals ihr Lächeln. Sie war darauf aus seine Aufmerksamkeit zu bekommen, und es gelang ihr gut. Es erinnerte Valion an das, was Tarn gesagt hatte. Vermutlich musste er vorsichtig sein, was sie betraf, denn soweit er sehen konnte, ging es ihr vor allem um ihren eigenen Vorteil. Er hatte zunächst angenommen, dass sie und Jadzia sich freundschaftlich gegenüber standen, aber jetzt war er nicht mehr sicher. Sie waren charakterlich völlig unterschiedlich, und Anya hatte Jadzia einfach stehen lassen. Vermutlich drehte sich alles in ihrem Kopf nur darum, möglichst einflussreiche Freunde zu gewinnen. Und wenn sie tatsächlich nah an Eravier heran kam, würde sie vielleicht wie Jan als Spion eingespannt werden, das hatte er nicht vergessen. Vielleicht war das der Grund, warum er zusammen mit ihr und Jadzia einquartiert worden war, um ihn langsam auszuhorchen. Das ergab Sinn, aber seltsamerweise war die Vorstellung erleichternd - damit konnte er umgehen. Er würde sich einfach hüten müssen, was diese Frau betraf, und das würde ihm nicht schwer fallen, wenn er kaum Sympathie für sie aufbringen konnte. Nur was Jadzia anging, war er sich noch nicht sicher.

In diesem Moment verabschiedete Anya sich von Karvash und kehrte beschwingt zurück. „Wir können weiter gehen”, verkündete sie, fuhr sich durchs Haar und erklärte beiläufig an Jadzia gewandt: „Übrigens, Faure ist tot.” „W-was?”, fragte die völlig perplex, und die Wächter zuckten sichtlich zusammen. Valion bemerkte, da vor allem Levin plötzlich ganz grau im Gesicht wurde, als würde er sich an etwas erinnern, das er lieber vergessen würde. Die plötzliche Unruhe deutete darauf hin, dass gestern noch viel mehr passiert war, als er selbst mitbekommen hatte, und plötzlich wollte er alles darüber wissen. Wenn es auch nur den kleinsten Hinweis ergab, was mit Jan geschehen war… 

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„Was ist passiert?”, fragte er, und ärgerte sich gleich darauf, als Anya nur gelangweilt mit den Schultern zuckte. „Wen kümmert das schon?”, fragte sie. „Ist ja nicht so, als hätte ihn irgendjemand besonders gemocht. Seine arme Frau tut mir Leid, aber auch nur, weil Ansin sie über den Tisch ziehen wird, wenn er die Verträge kauft”, plauderte sie ungeniert weiter. Es war fast komisch anzusehen, wie panisch sich die Gesichter Wächter verzogen, als sie diese Information einfach so in die Runde warf. Sie sahen sich hektisch um und schienen zu überlegen, ob jemand Anyas Bemerkung genug Aufmerksamkeit geschenkt hatte, um ein Gerücht in die Welt zu setzen. Valion sah zu Anya, die weiterhin gleichgütig blieb, aber für einen Sekundenbruchteil glaubte er, das verräterische Zucken ihrer Mundwinkel wieder zu erkennen. Und schon war es verschwunden. Oder nie da gewesen.


„Wir sollten jetzt lieber weiter gehen”, bestimmte Guy fest, um das Thema möglichst schnell abzuschließen, und Anya nickte, aber Jadzia schien plötzlich bedrückt. „Was wird dann aus meinem Vertrag?”, sagte sie halblaut, aber Anya winkte nur ab. „Keine Sorge, mein Herz, das werden wir alles regeln. Ich werde mit Ansin über deinen Vertrag sprechen. Du weißt doch, er hört immer auf mich.” Damit war das Thema für sie erledigt, und sie schlenderte weiter. Jadzia folgte ihr etwas verdattert, und Valion wagte nicht, weiter nachzufragen. Er hätte es fast getan, aber dann bemerkte er, dass Levin ihn im Auge behielt, und er machte eine drohende Gebärde in seine Richtung, um ihn weiter zu treiben.
Oh, wir furchtbar, das macht mir aber Angst, Rübennase, sagte Jan in seinem Kopf, spöttisch und ohne die geringste Angst, und das tat weh. Er musste sich zusammen reißen, und sein Gesicht blieb völlig starr, obwohl er gleichzeitig lachen und weinen wollte.
Jan, wo bist du jetzt?

„Entspricht es euren Vorstellungen, Herrin?” Anya runzelte die Stirn, verschränkte die Arme und betrachtete die Szenerie eingehend.
Der Bereich zu dem sie geführt worden waren lag am Rande des Lagers, eingekesselt zwischen mehreren Wagen und halb verstopft mit Bergen von schmutziger Kleidung, die gerade von einer Schar Dienerinnen sortiert und geflickt wurden. Vermutlich würde die Wäsche im Laufe des Tages ihren Weg zum Fluss finden, um dort gewaschen zu werden. Lediglich die Hälfte des verfügbaren Raumes war als Waschplatz für die Sklaven eingerichtet worden. Eimer mit kaltem Wasser, Seife und Tücher zum Abtrocknen lagen bereit, ein paar grobe Kämme, aber kein einziges Rasiermesser. Valion war fast sicher, dass sie jemand unter Verschluss hielt und nur auf Nachfrage heraus geben würde, aus Sicherheitsgründen.
Es war hier nicht so hektisch wie im Zentrum des Lagers, aber sie würden alles andere als unbeobachtet sein, und das war vermutlich beabsichtigt. Schon als sie eingetroffen waren hatte Valion die Wachen bemerkt, die bei den Dienern postiert waren und den Platz überblickten. Auch wenn sie momentan eher die Morgensonne genossen und schwatzten, ihre Aufmerksamkeit würde sich in der Sekunde, in der sie eintrafen, auf die niederen Sklaven richten. Zusammen mit den wachsamen Augen der Diener würde niemand entgehen, wenn sich Widerstand regte oder jemand versuchte, sich heimlich auszutauschen.

Doch bevor es so weit war, waren Valion, Anya und Jadzia das einzig Interessante, das sich auf dem Platz abspielte, und das bekamen sie zu spüren. Alle Augen lagen auf ihnen, als sie sich in Begleitung der Wächter näherten. Niemand ließ sich entgehen, neues Material für Klatsch zu sammeln und sich gegenseitig halblaute Kommentare zu zu flüstern; was das anging waren die Wächter schlimmer als die Dienerinnen, die viel zu viel zu tun hatten, um den Neuankömmlingen mehr als nur finstere Blick zu zuwerfen und meist nur knappe Anweisungen austauschten. 
All das genügte vollkommen, um Valion nervös zu machen. Obwohl er die selbe Prozedur schon einmal am vorigen Tag durchgestanden hatte, schien es ihm diesmal noch schlimmer. Er war zwar nicht allein, aber Anyas Anwesenheit beruhigte ihn kaum, und Jadzia schien sich genauso unbehaglich wie er zu fühlen bei der Aussicht, sich ausgerechnet hier vor aller Augen zu entblößen Sie hatte die Arme wieder schützend vor dem Körper verschränkt, und die Anspannung die auf ihr lag war fast greifbar.
Das einzige Zugeständnis, vermutlich nur für Anya arrangiert, war eine Trennwand aus aufgespannten Stoffplanen, die einen Teil des Waschplatzes vor Blicken abschirmte. Es war ein etwas kärgliches Provisorium, das dennoch seinen Zweck erfüllen würde, bis die anderen Sklaven eintrafen und der Aufbau verschwinden würde. Es war vermutlich ein zu großes Risiko, die niederen Sklaven derartig unbeobachtet zu lassen, und Valion konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen irgendeine Art von Luxus zugestanden werden würde. Der Waschplatz war nicht schmutzig, aber alles war nachlässig und in Eile arrangiert, zusammen geworfen, kaum durchdacht. Die anderen Sklaven wurden nicht hoch genug geschätzt, um mehr als das Notwendigste zu erhalten. 

Anya, die sich inzwischen ebenfalls ein Bild der Situation gemacht hatte, antwortete Guy jetzt spöttisch: „Wenn du mit »es« diese ärmliche Viehtränke meinst, dann kann ich dir sagen: Nein, »es« ist kein bisschen nach meiner Vorstellung. Aber ich werde mich schon damit arrangieren. Ich habe wohl kaum eine Wahl, oder?” 
Sie lächelte, und in diesem Moment sah sie gar nicht wütend, sondern eher amüsiert aus. Valion ertappte sich dabei, wie er sie für ihre Duldsamkeit bewunderte, um im nächsten Moment verwirrt in seinen Gedanken inne zu halten. Er wollte sie weder bewundern noch ihren Worten in irgendeiner Weise zustimmen, nicht einmal wenn sie behauptet hätte der Himmel wäre blau. Und selbst wenn er sich unbehaglich fühlte, an dem Waschplatz selbst war im Grunde nichts auszusetzen. Er kannte gar nichts Anderes als das, was den niederen Sklaven hier geboten wurde, er hatte sich Zeit seines Lebens nur mit kaltem Wasser und wenig Seife gewaschen, und trotzdem hatte er ihr für einen Moment zustimmen und sie in ihrem Urteil bestätigen wollen. Er begriff langsam immer besser, auf welche Art sie alles um sich herum in ihren Bann zog. Während er selbst mit Jadzia ein paar Schritte hinter ihr zurückgeblieben war, von den Wachen regelrecht abgestellt, vereinnahmte sie die Situation und ihre Umgebung völlig. Niemand stellte sie an die Seite oder nahm ihr die Aufmerksamkeit. Die Diener und Wachen bemerkten Jadzia und Valion durchaus, aber Anya und die Art, wie sie sich durch die Welt bewegte, zogen sie in den Bann, und er hasste es. Es erinnerte ihn an Jan, und war gleichzeitig völlig anders. Es steckte keine Ehrlichkeit dahinter, und trotzdem ließ er sich davon einwickeln.

Doch es gab durchaus Ausnahmen, nicht jeder ließ sich von Anya derartig beeindrucken. Guy zumindest handhabte jede ihrer Gefühlsregungen, egal ob Zorn oder Schmeichelei, mit der gleichen stoischen Ruhe. Es schien ihm außerordentlich egal zu sein, auf welche Art sie sich versuchte aus allem heraus zu winden, er blieb einfach bei seinen Befehlen. „Das sehr ihr richtig, Herrin, es gibt heute keine Ausnahmen”, bestätigte er. „Wenn ihr dann so freundlich wärt, zu beginnen.” „Wenn es unbedingt sein muss”, stimmte Anya gelangweilt zu und griff wie ein nachträglicher Einfall nach Jadzias Hand, um sie mit sich zu ziehen. „Komm Liebes, auf uns wartet warmes Wasser. Das hoffe ich zumindest”, sagte sie und warf den Dienerinnen einen scharfen Blick zu, als Warnung, dass sie diesbezüglich keine Abweichungen dulden würde. 
Guy wiederum gab Levin, der schon die ganze Zeit neben ihm gelauert hatte, einen Wink, dass er Valion von seinen Fesseln befreien sollte. Vage Hoffnung machte sich in Valion breit, auch wenn ihm Levins abscheuliches Grinsen nicht gefiel. Die Ketten zwischen seinen Füßen hatten ihn schon die ganze Zeit behindert, und die Handfesseln waren schwer und zerrten an seinen Handgelenken. Außerdem kam ihm trotz des Trubels der Gedanke, den Schmutz des gestrigen Tages mit warmen Wasser abzuwaschen, tröstlich vor. 
Aber Levin wäre nicht Levin gewesen, wenn er die Situation nicht ausgenutzt hätte, um weiter seine Macht zu demonstrieren. Er zog die Schlüssel zu den Handschellen hervor, trat nahe an Valion heran, näher, als es ihm angenehm war, und warnte gehässig und mit gesenkter Stimme: „Wenn ich du wäre, würde ich keine faulen Tricks wie gestern versuchen. Ich behalte dich und die kleine Schlampe im Auge.” Dabei nickte er Jadzia zu, die sich gerade im Gehen zu ihnen umwandte und einen unbehaglichen Blick zu Valion und Levin zurück warf. Sie hatte Angst, und Valion fühlte Wut in sich aufkeimen. Er sagte kein Wort, aber er starrte Levin kalt an, was diesem überhaupt nicht zu gefallen schien. „Aufmüpfig, was? Lass das lieber sein, das wird dir nämlich schlecht bekommen!”
Er packte Valion an der Schulter, zwang ihn grob in die Knie und wollte sich daran machen die Handschellen aufzuschließen, als Anya sich plötzlich umwandte und energisch einschritt. „Was zum Teufel macht der Trottel da?”, fragte sie spitz. „Ihr wollt den Kerl auf uns loslassen? Nur über meine Leiche! Wir werden uns nicht zusammen mit irgendeinem wildfremden Mann waschen, der gestern noch jemand mit dem Tode bedroht hat! Was, wenn er uns als Geiseln nimmt?!”, zeterte sie. 

Sowohl Gevin als auch Valion starrten sie perplex an, und Guy seufzte. „Herrin, das war der andere Sklave. Der hier ist harmlos und sowieso nur eine halbe Portion. Von einem Mann kann keine Rede sein”, versuchte er sie zu beschwichtigen, aber sie ließ nicht locker. „Ausgeschlossen! Ehe ich es mich versehe, habe ich ein Messer zwischen den Rippen! Er bleibt angekettet, bis ich fertig bin”, forderte sie und deutete anklagend auf Valion.

Er hätte beinahe gelacht. Was sie hier bot war eine durch und durch überzogene Darbietung, und er kaufte ihr keine Sekunde ab, dass sie Angst vor ihm hatte. Wenn, dann war er derjenige, der Angst vor ihr haben musste. Aus irgendeinem Grund hatte sie beschlossen, dass er ihr im Weg war, und das ließ sie ihn spüren, aber gleichzeitig war sie seltsam unbeteiligt. Sie wirkte zornig, aber ihre Augen blickten ruhig und gefasst. Er hatte das Gefühl, diese Diskrepanz schon einmal gesehen zu haben, bis ihm schaudernd einfiel, woher er sie kannte.

Eravier, dachte er und schauderte ungewollt, Sie ist wie Eravier. Eiskalt. Sie bemerkte seinen Blick, und für einen Moment starrte er sie nur an, und sie starrte dreist zurück. Er sah, dass sie sich keine Illusionen machte, was ihn betraf. Sie wusste genau, dass er ihr nicht traute, und für den Sekundenbruchteil, den sie ihn direkt ansah und eine Augenbraue hob, machte sie ihm klar, dass sie ihn genauso durchschaute wie er sie. Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst. Zu schade, das hast du jetzt davon. Ich lege dir gern so viele Steine in den Weg, wie ich finde. Sie wusste, dass Guy nachgeben würde, dass er lieber Valion eine Weile länger in seinen Ketten schmoren ließ, als ihren Zorn auf sich zu ziehen. Und sie tat das alles nur, um ihm das Leben schwer zu machen. Er konnte sie jetzt noch weniger leiden als zuvor.

Natürlich gab Guy nach, wiederwillig, aber allein das einsetzende Tuscheln der Diener und die Blicke der anderen Wachen bewirkten, dass er sich unter Druck gesetzt fühlte. „Wenn es unbedingt sein muss”, seufzte er und gab Anya einen Wink, dass sie endlich anfangen sollte. Levin wiederum gefiel die Entwicklung, er grinste noch breiter, zog den Schlüssel zurück und gab Valion stattdessen mit der flachen Hand einen Schlag auf den Hinterkopf, wobei er Guys warnenden Blick ignorierte. Diese ganze Sache war für ihn ein gefundenes Fressen und mehr als genug Entschädigung dafür, dass er am Vorabend so erfolglos durch den Wald gepirscht war. Mit etwas Glück würde er sogar Faures misshandelte Visage bald vergessen können. 
„Du hast die Dame gehört”, sagte er gehässig, „Selbst Schuld, wenn du mit deinem kleinen Freund abhaust.” „Du redest zu viel, Levin”, brummte Guy ungehalten, aber sein Blick war in diesem Moment auf Anya und Jadzia konzentriert. Auch er fragte sich vermutlich, was Anya mit ihrem Tun beabsichtigte, und er hatte wahrscheinlich beschlossen, sie besser im Auge zu behalten. Deshalb schritt er nicht ein, als Levin fortfuhr: „Zu dumm, dass er sich allein aus dem Staub gemacht hat, was?”
Valion knirschte mit den Zähnen, aber er verbot sich, darauf zu reagieren. Levin wollte ihn provozieren, vermutlich um einen Grund zu haben, ihn zusammenzuschlagen. Aber so einfach würde er es ihm nicht machen.
Das bedeutete aber auch, dass Levin natürlich nicht locker ließ, sondern nach einem Moment, in dem er begierig auf eine Reaktion wartete, noch höhnender fort fuhr: „Aber keine Angst, der kleine Scheißer hat bestimmt schon den nächsten gefunden. Bei euch Sklaven geht das ja schnell, ihr macht doch für jeden die Beine breit. Vermutlich hat er schon vergessen, dass es dich gibt.” Er wartete weiter sehnsüchtig auf eine Regung, blickte in Valions versteinertes Gesicht, der gerade aus starrte. Er biss die Zähne zusammen, kämpfte mit sich, aber er hielt seine Wut mühsam unterdrückt. Er war gebrandmarkt worden, er hatte unerträgliche Schmerzen ausgehalten, er widerholte es wie ein Mantra in seinem Kopf. Das war nichts, nichts im Vergleich, berührte ihn nicht. Es waren nur Worte, Lügen, Vermutungen, die dazu bestimmt waren ihn zu verletzen. Aber das schaffte Levin nicht, so einfach ließ er sich nicht beugen. Es waren nur Worte, die-
„Aber vielleicht ist er ja auch längst tot”, schlug Levin im Plauderton vor. „Vielleicht liegt seine Leiche auf irgendeinem Feld, und dort wird sie verrotten.”

Etwas zerbrach in ihm, er spürte es deutlich, und alles, was er in den letzten Stunden so mühsam versucht hatte zu ignorieren, aus seinen Gedanken zu verbannen, war plötzlich wieder da. Er wollte sich ablenken, einen klaren Gedanken fassen, aber alles was er denken konnte war
Jan
Jan
Jan

Tränen brannten in seinen Augen, und er hatte das Gefühl, dass es ihn zerreißen würde. Er wusste nicht wohin mit diesen Gefühlen, sie waren zu groß, zu unsortiert, zu frisch. Er wollte nicht weinen, er konnte nicht weinen, nicht vor diesem Scheusal. Levins Augen weiteten sich triumphierend, als er sah und endlich sicher wusste, dass er es geschafft hatte. Er würde diesen Sieg auskosten, und schlimmer noch, er würde immer wieder von Neuem beginnen, würde die Wunde immer wieder aufreißen, um zu sehen, wie Valion litt, wenn er jetzt nachgab. Für einen Moment glaubte Valion dennoch, dass er es nicht schaffen würde.

Dann landete ein Eimer voll kaltem Wasser in seinem Gesicht, und er keuchte erschrocken auf. Levin fuhr nicht weniger erschrocken zusammen, ein Gutteil des Wasser spritzte auch auf ihn, und im nächsten Moment hatte er sein Vorhaben vergessen, weil er von Valion zurückwich und wie ein Verrückter fluchte. Valion keuchte, sein Herzschlag hatte sich in Sekunden auf das Doppelte beschleunigt, das kalte Wasser brannte auf seiner Haut und ließ ihn augenblicklich frieren. Völlig verwirrt blickte er auf, tropfend und wie ein begossener Pudel.
Anya sah mit einem Lächeln auf ihn herunter, das man nur als boshaft bezeichnen konnte. Sie hatte bereits die meiste Kleidung abgelegt, trug nur noch ihre Schnürbrust und ihr Unterhemd, aber sie schämte sich anscheinend kein bisschen, fast nackt herumzulaufen. In ihren Händen hielt sie immer noch den eben geleerten Wassereimer, dessen Inhalt sie gerade mit Schwung auf Valion geschüttet hatte wie auf einen Hund. Sie lachte auf, als er sie völlig verwirrt anstarrte, und sagte: „Es tat mir so Leid, dass du nur wegen mir nicht der erste sein kannst, der sich waschen darf! Das erschien mir einfach unfair! Da bitte, jetzt bist du schon fast sauber!”
Levin, der ihr für einen Moment verdutzt gelauscht hatte, grinste plötzlich über das ganze Gesicht und schien Anya nicht einmal übel zu nehmen, dass er einen nassen Hemdsärmel davon getragen hatte. Guy hingegen kochte vor Wut. „Es reicht jetzt”, befahl er und baute sich zu voller Größe auf. „Levin, nimm dem Jungen die Ketten ab. Diese ganze Alberei hat jetzt ein Ende”, sagte er dann zu Anya gewandt, und sein Tonfall war so grimmig, dass selbst Valion sich reflexartig duckte. „Wascht euch, oder ihr werdet seine Ketten tragen und von einer Dienerin gewaschen.”
Anya öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich dann aber eines besseren. Sie wusste, wann es zu viel des Guten war. Stattdessen warf sie den Eimer, den sie bis eben noch in der Hand gehalten hatte, schmollend beiseite und stützte ungehalten die Arme in die Hüften, während Levin sich beeilte, Valion von seinen Ketten zu befreien. „Schon gut, schon gut. Du verstehst wirklich keinen Spaß, Guy!” Valion, endlich seine Fesseln los, warf ihr einen hasserfüllten Seitenblick zu, den sie ignorierte, dann machte er, dass er aus ihrer Reichweite kam. Er wollte nicht wissen, was sie als nächstes anstellte, um ihn zu demütigen.

Er überbrückte die wenigen Meter zu Jadzia, die dem Geschehen den Rücken zudrehte und sich so unauffällig und still wie möglich wusch. Niemand achtete auf sie, aber eine Dienerin trat auf Valion zu, mit einem Stapel Kleidung und einem Paar Schuhe in der Hand. „Hier”, sagte sie leise und kurz angebunden, aber nicht unfreundlich, und völlig perplex sagte Valion: „Danke.” Seltsam, sie erschien ihm gar nicht so feindselig eingestellt, wie er vermutet hatte. Er hatte Kälte erwartet oder zumindest Misstrauen, aber sie schien ihm sogar grimmiges Mitleid entgegen zu bringen. „Vielleicht solltest du dich erst einmal abtrocknen”, riet sie ihm, „Sie hat dir eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt, du wirst dich bestimmt erkälten. Da drin ist warmes Wasser.” Sie deutete auf den Eimer, aus dem Jadzia ihr Wasser schöpfte. Sie war fast fertig, wie er sah, wusch sich schnell und leise die Unterschenkel und die Füße. Ihr schlanker, brauner Rücken war ein hübscher Anblick, aber er wandte sich schnell wieder ab. Er wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass er sie anstarrte. Sie hatte schon genug mit Levin zu kämpfen.
Levin, was tat er überhaupt? Valion wandte sich um und zog sich dabei schnell das zerrissene, dreckige Hemd über den Kopf, er wollte keine kostbare Zeit verschwenden, in der er unbehelligt war. Dann sah er zurück auf die zwei Wächter und Anya, die trotz ihrer Ermahnung immer noch bei ihnen stand.
„Was ist dieses Miststück nur für eine ehrlose Schlampe”, flüsterte die Dienerin neben ihm, während sie in die selbe Richtung blickte. Valion war sich plötzlich sicher, dass Jadzia nichts vor Levin zu befürchten hatte, nicht in den folgenden Minuten. Er war viel zu beschäftigt damit, Anya anzuglotzen, ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie ließ sich von Guy aus der Kleidung helfen, und stand dann schamlos, völlig nackt, vor ihm und flirtete ihn an. Er war immer noch die Ruhe selbst, aber Valion sah trotzdem, dass ihr zugeneigt war. Vermutlich wie jeder Mann, den sie beschloss um den Finger zu wickeln. 
„Schamlos”, rutschte es Valion heraus, und die Dienerin neben ihm nickte heftig. „Sie hält sich für eine feine Dame, scheucht jeden herum, und im nächsten Moment biedert sie sich an wie eine billige Nutte. Aber sie wird noch sehen, was sie davon hat. Bitte gib mir noch deine Hose”, fuhr sie fort, und Valion wandte sich von ihr ab und stieg aus seiner Kleidung, was sie mit einem grimmigen Nicken quittierte. „Einige von uns haben eben doch ein wenig Anstand”, kommentierte sie bitter, packte Valions zerrissene Kleidung und trug sie fort.

„Starr nicht so, beeil dich lieber”, zischte Jadzia ihm plötzlich zu. Sie war fertig, zog sich bereits ihr eigenes Unterhemd wieder über, aber sie schien über Irgendetwas aufgebracht zu sein; Valion konnte nicht deuten, was das sein konnte. Sie betrachtete ihn plötzlich weniger freundlich als zuvor, und als er noch einmal zu Anya zurück sah, packte sie sein Handgelenk und zog ihn zurück. Sie tat ihm nicht weh, aber er zuckte trotzdem zusammen. Es war eine Geste, die er ihr gar nicht zugetraut hatte, genauso wie den missbilligenden Tonfall, den sie anschlug, als sie sagte: „Sieh sie nicht auch noch an. Denkst du nicht, dass es genügt?” Valion zuckte mit den Achseln, aber gleichzeitig regte sich auch Widerwillen in ihm. Warum verteidigte sie Anya so? „Genau das will sie doch. Sie will doch von allen angestarrt werden”, verteidigte er sich, und ihm war bewusst, wie geringschätzig das klang. Jadzia schüttelte nur den Kopf, wütend, enttäuscht, und plötzlich fühlte Valion sich unwohl, abgestoßen von sich selbst, und etwas, das er nicht einordnen konnte, zerrte an seinem Verstand. So kannte er sich selbst nicht, so hämisch, so abgestoßen. Was kümmerte ihn, was Anya tat? Warum urteilte er so harsch über sie, wenn er sie kaum kannte?
Dann dachte er an das kalte Wasser, das sie über ihn gekippt hatte, in dem Moment, als er am verletzlichsten gewesen war, und sein Gesicht verhärtete sich. Nein, er hatte kein Mitleid, nicht mit Anya. Und sie brauchte auch keines, das machte sie deutlich, als sie zu ihnen herüber stolzierte und flötete: „Jadziaaa! Sei doch so gut und hilf mir beim Haare waschen! Ich würde ja eine Dienerin bitten, aber ich fürchte, ihre tollpatschigen Pfoten würden mir alle Haare einzeln ausreißen!” Sie lächelte ihr strahlendes Lächeln, während Dutzende Augenpaare sie verfolgten. Ihr Spott war so scharf, dass man sich daran schneiden konnte, und ihre Augen lachten keine Sekunde lang.

Obwohl Valion es mit Widerwillen betrachtete, wusch Jadzia Anya tatsächlich die Haare, nachdem Anya den Rest ihres Körpers gesäubert und ganz nebenbei fast das ganze, für sie alle bestimmte warme Wasser aufgebraucht hatte. Es schien Jadzia nichts auszumachen ihr zu helfen, im Gegenteil, sie wirkte jetzt ruhiger und wie in ihrer eigenen kleinen Welt, und die beiden flüsterten hin und wieder leise miteinander, vertraut und ohne dass jemand anders als sie beide etwas verstehen konnte.
Er selbst wusch sich schnell, aber gründlich, und er war froh, dass er zumindest jetzt noch darauf verzichten konnte, sich zu rasieren. Er wollte jetzt nicht mit einem scharfen Messer hantieren, egal wie es aussah, und seine Hand zitterte als er daran dachte. 
Dann wagte es zum ersten Mal, seine Verbrennung auf der Schulter zu berühren. Seine Finger strichen über den dicken Schorf, der sich gebildet hatte und die Beweglichkeit seiner Schulter unmerklich einschränkte. In den wenigen Tagen, die die Heilung schon andauerte, hatte er sich eine Schonhaltung für den linken Arm angewöhnt, das fiel ihm erst jetzt auf, und als er sich streckte, schoss neuer Schmerz durch die Schulter, und er ließ es schnell bleiben. Er dachte daran, dass Tarn sich die Wunde vermutlich irgendwann in der Zukunft ansehen würde, aber dann schob er das wieder beiseite. 
Er fühlte sich leer, und ihn beschlich das Gefühl, dass es nichts gab, worin er sich in Gedanken flüchten konnte. Er wollte nicht an das denken, was am vorigen Tag geschehen war, und er fürchtete sich davor, Eravier wieder gegenüber zu treten und wollte deshalb nicht darüber nachdenken, was als nächstes passieren würde. Neben ihm hatten sich Jadzia und Anya von ihm abgekapselt und ignorierten ihn, und das machte ihm nicht nur seine Einsamkeit bewusst, es kam ihm regelrecht unfair vor. Er war nicht derjenige, der alle anderen wie Abschaum behandelte, und trotzdem erhielt Anya von Jadzia wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Ihre Charakterfehler ignorierte sie entweder, oder sie war in Wahrheit nicht besser, obwohl Valion sich das kaum vorstellen konnte. Er beschloss, dass er ihr ebenfalls nicht vertrauen konnte. Das brachte ihn auf den Gedanken, dass der Kreis seiner Freunde gerade fast auf Null geschrumpft war, und Marceus hätte auch auf dem Mond sein können. Er kam an ihn nicht so einfach heran, solange er selbst derartig bewacht wurde.
Es bewirkte, dass er sich hohl fühlte, einsam und richtungslos. Während er sich die Sachen anzog, die man ihm gegeben hatte und die ihm erstaunlich gut passten, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er tausendmal lieber hungernd und frierend in einem Wald gehockt hätte, als wieder hier zu sein.
Schließlich war er vollständig angezogen und streckte sich. Die Kleidung lag ungewohnt an seinem Körper an, ein starker Kontrast zu den Sachen, die er sonst getragen hatte, teilweise noch Kleidung von seinem Vater, der Zeit seines Lebens kräftiger als er gewesen war. Aber der Stoff war nicht rau und kratzte nicht, und er nahm an, dass er sich nach einer Weile daran gewöhnen würde.
Er ließ Anya und Jadzia links liegen, die gerade ebenfalls zum Schluss kamen, und trabte resigniert zu Guy und Levin zurück, um sich wieder anketten zu lassen. Das immer währende Starren ignorierte er, und obwohl er abwesend bemerkte, dass ein paar Dienerinnen miteinander tuschelten und ihm mit ihren Blicken folgten, tat er es als unwichtig ab. Was auch immer sie sahen oder dachten zu sehen, es war ihm in diesem Moment egal, er wartete nur ab, bis auch Jadzia und Anya sich endlich zu ihnen gesellten. 
Auch sie musterten ihn ungewohnt neugierig, und langsam fragte er sich bitter amüsiert, ob er noch Dreck im Gesicht hatte oder ihm inzwischen ein drittes Auge gewachsen war, von dem er noch nichts wusste. Selbst Levin sah ihn merkwürdig an, obwohl er beim Schließen der Handschellen rein aus Prinzip Valions Haut an den Handgelenken einklemmte. „Was ist?”, fragte er schließlich mürrisch, und zu seinem Erstaunen war es Anya, die antwortete: „Tja, wer hätte gedacht, dass du doch nicht so ein kleines dreckiges Tierchen bist wie zuerst angenommen. Ich fing schon an, an Ansins Urteil zu zweifeln, aber du siehst… passabel aus.” Sie verschluckte das Wort, das sie eigentlich hatte sagen wollen, aber verwirrt rekonstruierte er aus ihrem Blick. Gut. Er sah gut aus, das hatte sie sagen wollen, bevor sie es in etwas Gehässigeres umformulierte.

Er hatte keine Zeit, sich mit dieser neuen Information auseinander zu setzen, weil Guy, unbewegt wie immer, ihnen befahl: „Kommt jetzt. Levin, du bringst sie zurück.” Er deutete auf Jadzia, die einen ängstlichen Blick in Levins Richtung warf, aber kein Protest kam über ihre Lippen. Anya warf ihr einen Blick zu, den Valion nicht deuten konnte, aber sie wandte ihre Aufmerksamkeit gleich darauf wieder Guy zu, der fortfuhr: „Und ihr zwei kommt mit mir.” 

~

Sie waren diesmal nicht allzu lange unterwegs, was vielleicht daran lag, dass Anya genau zu wissen schien in welche Richtung sie gehen musste. Sie trieb Valion, Guy und den zweiten Wächter regelrecht vorran, wobei sie das betriebsame Chaos um sich herum nicht beachtete und auch nicht mehr innehielt, um bekannte Gesichter zu sehen. Es kam Valion seltsam vor, dass sie alles schon in- und auswendig zu wissen schien, obwohl das Lager erst seit gestern stand. Er selbst war von der wirren Ansammlung von Wagen, Menschen, Arbeits- und Wohnbereichen immer noch verwirrt. Anya aber schritt so unbeirrbar voran als folge sie einem inneren Kompass, und sie wechselte mehrmals die Richtung, ohne jemals die Orientierung zu verlieren. Sie war voller Ungeduld, und das erschien Valion noch grotesker als ihr bisheriges Verhalten; sie schien der Begegnung mit Eravier regelrecht entgegen zu fiebern. Im Gegensatz zu allen anderen schien sie sich nicht vor ihm zu fürchten, und sie nannte ihn konsequent beim Vornamen… ohne dass er es wollte, zog Valion die offensichtlichen Schlüsse.

Er hatte bisher keinen Gedanken daran verschwendet, ob Eravier überhaupt irgendeine Art von intimer Beziehung zu irgendjemand pflegte, und er konnte sich auch jetzt kaum dazu zwingen. Die Vorstellung, dass jemand seine Nähe suchte war für ihn absurd. Aber er gab widerwillig zu, dass wenn es überhaupt jemand länger in seiner Gesellschaft aushielt, das vermutlich Anya war. Negative Emotionen anderer ignorierte sie oder umging sie geschickt, und ihre eiskalte Ruhe, spontane Grausamkeit und kalkulierte Fröhlichkeit hielten Eravier vielleicht bei Laune. Die Frage war, ob er in dem Fall nicht doch versuchen sollte, sich gut mir ihr zu stellen. Jadzia hatte selbst gesagt, dass Anya einiges bewirken konnte - anscheinend begriff er erst jetzt, was sie wirklich damit gemeint hatte.

Gleichzeitig wuchs seine eigene Nervosität mit jedem Meter, und er musste sich zwingen vorran zu gehen, anstatt vor Angst erstarrt stehen zu bleiben. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete, und gestern hatte er einen unwillkommenen Einblick darin erhalten, welche Ausmaße Eraviers Rachsucht und Besessenheit annehmen konnten. Alles, was er bisher gesehen hatte sprach dagegen, dass ihm etwas zustoßen würde, und trotzdem zählte es nichts. Nicht, wenn derjenige, der über sein Schicksal entschied, derartig unberechenbar war. Er wünschte fast, dass er niemals ankommen würde, aber da hatten sie ihren Bestimmungsort anscheinend schon erreicht, weil Anya abrupt stehen blieb.

Der Wagen, vor dem sie Halt gemacht hatte, war derartig schlicht und unauffällig, dass Valion sich umsah, ob er ihr wahres Ziel nicht einfach übersehen hatte. Aber nein, zumindest von außen war Eraviers Quartier schlicht und unauffällig. Irgendwie hatte er Prunk erwartet, etwas Verschwenderisches, trügerisch Schönes.
Anya wandte sich zu den Wächtern um, und die Ungeduld stand ihr ins Gesicht geschrieben, als sie herablassend befahl: „Ihr könnt jetzt gehen, wir brauche keine weitere Eskorte.” Doch Guy verschränkte nur die Arme und schüttelte den Kopf. „Wir warten hier, bis wir andere Befehle erhalten”, widersprach er grimmig, und mit einer Handbewegung wies er seinen Gefährten an, sich mit ihm in der Nähe des Wageneingangs zu postieren.
Anyas Augen wurden für einen Moment schmal; dann zuckte sie mit den Achseln und strich sich demonstrativ durch das Haar, richtete ihr Kleid und warf dann einen Blick auf Valion, der ihn zurückzucken ließ. „Kannst du wenigstens dein Äußeres richten, bevor wir Ansin gegenüber treten? Du siehst aus wie ein Entlaufener”, sagte sie abfällig. Bevor er protestieren oder zurück schrecken konnte, trat sie auf ihn zu und richtete den Kragen seines Hemdes, als wäre sie seine Mutter, nur wesentlich weniger liebevoll und doppelt so gereizt. Er fragte sich gerade, was sie bezweckte, als sie plötzlich, fast unhörbar flüsterte: „Bleib hinter dem Eingang stehen. Und sei verdammt nochmal leise. Ich habe noch ein Wort mit dir zu reden.”

Valion blinzelte verblüfft und versuchte herauszufinden, ob sie sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Aber Anya sagte kein weiteres Wort, sondern schob ihn von sich und betrachtete ihn, strich seine Haare aus der Stirn und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Nicht wirklich ansprechend, aber seien wir ehrlich, du sollst mich ja auch nicht in den Schatten stellen. Gehen wir”, kommandierte sie, schob sich an ihm vorbei und betrat den Wagen, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen. Valion war viel zu verwirrt, um etwas zu sagen und folgte ihr, schob die Plane am Eingang beiseite und blieb nach einem Schritt stehen, so wie sie es ihm befohlen hatte.

Das erste was er bemerkte war, dass auch in diesem Wagen der Wohnraum durch einen weiteren Vorhang vom Eingang getrennt war. Plötzlich wusste er auch, warum Anya, die jetzt direkt vor ihm stand, ihm befohlen hatte leise zu sein. Sie waren in diesem winzigen Bereich, für eine kostbare Sekunde, ganz allein. Er hatte es kaum begriffen, da packte Anya ihn und zog ihn noch näher zu sich heran. Erst dachte er, sie wolle ihn küssen, doch sie näherte sich ihm nur weit genug, um direkt in sein Ohr flüstern zu können. 
„Mach jetzt keinen Laut”, sagte sie so leise, dass es für jeden außer Valion völlig unhörbar war. „Was soll das?”, flüsterte er zurück. Er war viel zu perplex, um wütend oder misstrauisch zu sein, und dazu kam, dass er ihre Anziehungskraft, so nahe bei ihr, deutlich spürte. Egal, wie sie sich verhielt, sie war einfach wunderschön. Ihre zarte Haut, das hübsche runde Gesicht, die fast getrockneten roten Locken, alles schien dafür gemacht, berührt zu werden. Sie roch nach Lavendel und Seife, und darunter lag ihr eigener Geruch, süß und schwer. Es war einfach sich vorzustellen, wie schnell man sich in ihrem Lächeln verlieren konnte.
Jetzt lächelte sie jedoch nicht, sie fixierte Valion und durchbohrte ihn fast mit ihren Blicken. „Du bist mir im Weg, das solltest du inzwischen bemerkt haben”, sagte sie schneidend. Es war erstaunlich, wie viel Hass in diese wenigen Worte passte, und obwohl sie flüsterte hätte es nicht wütender klingen können, wenn sie geschrien hätte. Er nickte, immer noch unsicher, worauf sie hinaus wollte, und sie fragte: „Aber weißt du auch, warum? Weil du Chaos verursachst. Du brichst die Regeln, und weißt du wie sie wieder zurecht gerückt werden?“ Sie wartete keine Antwort ab, sondern fuhr fort: „Du wolltest wissen, wie Faure gestorben ist; Ansin hat ihm eine Scherbe ins Auge gerammt, Spiegelglas, zehn Zentimeter lang. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?”

Valion war sich nicht sicher, was diese Information bewirken sollte oder woher sie überhaupt so präzise wusste, wie Faure gestorben war. Ganz davon abgesehen, dass er keine Ahnung hatte woher sie wusste, dass die Scherbe ihm gehörte. Aber wenn sie Schuldgefühle in ihm wecken wollte, dann hatte sie das geschafft. Jemand war mit der Waffe, die er sich beschafft hatte, ermordet worden. Es spielte keine Rolle, dass Eravier sie verwendet hatte; er hatte die Wut, die Valion angefacht hatte, an einem Unschuldigen ausgelassen.
Er nickte erneut, aber er wusste immer noch nicht, was sie eigentlich von ihm wollte. „Warum erzählst du mir das?” „Weil du mich, wenn du klug bist, nicht weiter sabotieren wirst. Was hat es dir bisher gebracht, nicht mitzuspielen? Mehr Ketten und sonst nichts. Du solltest ihm gehorchen und tun, was ich tue. Bieder dich an, es ist mir egal wie. Ich habe wegen dir schon genug am Hals.”

Bevor er fragen konnte, was sie damit meinte, hörten sie hinter sich Schritte, und Anya reagierte sofort. Sie stieß Valion von sich, kehrte zum Eingang zurück, straffte sich und ging dann an ihm vorbei durch den Vorhang, als hätte sie niemals innegehalten. Schlagartig wurde ihm klar, dass sie ihr geheimes Gespräch zu tarnen versuchte, indem sie den Eindruck erweckt, gerade erst eingetroffen zu sein. Er traute ihr nicht, aber er traute durchaus ihren Instinkten, was Gefahr betraf; wenn sie es für nötig hielt, ihren Austausch geheim zu halten, dann spielte er besser mit. Deshalb beeilte er sich, ihr zu folgen, und trat ebenfalls durch den Vorhang.
Er hatte damit gerechnet, dass das Innere des Wagens im Halbdunkel liegen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Selbst jetzt, am hellichten Tag, brannte eine Unzahl von Laternen und beleuchtete die luxuriöse Einrichtung, die dem Quartier, das Anya und Jadzia bewohnten, in nichts nachstand. Und wie zuvor konnte Valion nur staunen, wie wohnlich der kleine Bereich wirkte, obwohl es sich im Grunde nur um einen schlichten Wagen handelte. Dann fiel sein Blick auf Eravier, der gerade auf dem Weg zu ihnen gewesen war.

Es war kaum zu sagen, ob er ihre geflüsterte Unterhaltung wahrgenommen hatte oder durch etwas anderes auf sie aufmerksam geworden war, aber er wirkte zumindest nicht misstrauisch, eher erstaunt über ihr abruptes Eintreffen. Dazu war er bemerkenswert ruhig und ausgeruht, nicht so, als wäre er am vorigen Tag stundenlang durch den Wald gehetzt. Bis auf einen sichtbaren Kratzer auf der Wange und einen sauberen und ordentlichen Verband, der seinen Hals verdeckte, war er genauso edel gekleidet und gepflegt wie sonst. Es war irrational, aber Valion kam kaum damit zurecht, dass er jetzt so harmlos aussah.
Anya ließ Eravier keine Zeit, Fragen zu stellen oder misstrauisch zu werden. „Ansin, ich habe mich nach dir gesehnt”, behauptete sie mit einem charmanten Lächeln und trat auf ihn zu. Eravier warf erst einen Blick auf Anya, blickte dann aber an ihr vorbei auf Valion. Er musterte ihn, wie Jadzia und Anya es zuvor getan hatten, und das schmale Lächeln auf seinem Gesicht vertiefte sich.
Im ersten Moment verstand Valion nicht, wie er lächeln konnte, nach allem, was geschehen war, bis er sich in Erinnerung rief, was er für Eravier war - eine Investition, dazu bestimmt, seinen Käufer lebendig und in gutem Zustand zu erreichen. Eravier war zufrieden mit seinem Werk, mit der Art, wie seine Anschaffung jetzt aussah, gewaschen, eingekleidet, geformt wie er es für richtig hielt, und Valions Hände begannen zu zittern. 

Er konnte das Lächeln nicht ertragen. Er hatte das Gegenstück dazu vor Augen: blendend weiße gebleckte Zähne im grauen Mondlicht, hasserfüllte Augen, ein Monster, dass ihnen stundenlang durch den Wald gefolgt war, um sie zur Strecke zu bringen. Die Erinnerung schob sich wie ein Alptraum in sein Bewusstsein. Er hob die Hand, bedeckte für einen Moment die Augen, versuchte das Zittern in seinen Händen zu vertreiben, und es gelang ihm fast. Jan hat ihn fast getötet, versuchte er seinen panischen Verstand zu befrieden, er ist ein Irrer und ein Mörder, aber nur ein Mensch. Aber die irrationale Furcht war jetzt noch stärker als zuvor. Er zwang sie mit aller Gewalt nieder, zog sie hinunter zu seinen Gedanken an Jan, an Tarn, an seine Flucht, aber er gelangte an eine Grenze, das spürte er. 
Für einen Moment war ihm kalt und er hatte das Gefühl, den Wald zu riechen, den Nebel auf der Haut zu spüren und die Kälte. 
Nein. Nicht dahin zurück.
Er riss sich mit aller Willenskraft los, ließ die Hand sinken. Er war fast sicher, dass Eravier ihn wissend ansehen würde, aber er blickte schon wieder in Anyas Richtung, die es keine Minute aushielt, nicht im Mittelpunkt zu stehen. Es schien, als wäre sein kurzer Aussetzer unbemerkt geblieben.

Anya tat, was sie am besten konnte, sie machte sich beliebt. Sie hatte eine Hand auf Eraviers Schulter gelegt, um seine Aufmerksamkeit zurück auf sich zu lenken, und als er sich ihr zu wandte, ließ sie sich ohne zu Zögern in seine Arme fallen. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, als du gestern plötzlich verschwunden warst. Ich hoffe du hast mich auch vermisst”, sagte sie sanft und hielt ihm ihre Hand hin. Valion wusste nicht, was er erwartete, aber bestimmt nicht, dass Eravier sie charmant ergriff, küsste und dann einen weiteren Kuss auf Anyas Stirn platzierte, den sie kichernd entgegen nahm. „Natürlich”, sagte er freundlich und strich mit der freien Hand durch ihre langen Locken, bis sie auf ihrem Rücken zum Liegen kam, „sonst hätte ich dich kaum zu mir gerufen. Und wie ich sehe, hast du deinen neuen Reisegefährten gleich mitgebracht”, sagte er im Plauderton, als wäre Valion nicht in Ketten von baumgroßen Wächtern hierher eskortiert worden, sondern auf Anyas freundliche Einladung erschienen. „Er ist ein bisschen störrisch gewesen”, meinte sie jetzt und warf einen Blick auf Valion. In dem Moment, in dem sie ihr Gesicht weit genug abwandte, dass ihr Ausdruck nicht mehr von Eravier gelesen werden konnte, verblasste das Lächeln so schnell wie es gekommen war und machte einem wütenden Stirnrunzeln Platz. Reiß dich zusammen, ich tue das hier nicht zum Spaß, sagte ihr Blick, und jegliche Wärme darin fehlte. Nein, sie hatte kein Interesse an Eravier, sie spielte ihm genauso etwas vor wie allen anderen Männern, das begriff Valion in diesem Moment. Sie lag immer noch in seinen Armen, aber sie hätte sich auch an einen Baum klammern können, es ließ sie völlig kalt.

„Oh ja, er scheint eine störrische Ader zu haben, und das nicht erst seit gestern. Und er suhlt sich gern im Dreck”, stimmte Eravier amüsiert zu, und schob Anya behutsam wieder von sich. Er ließ sich an seinem Schreibplatz nieder, lehnte sich zurück und fuhr an Valion gewandt fort: „Aber wie ich sehe, haben Wasser und Seife wieder einmal Wunder gewirkt. Bist du nicht froh, jetzt wieder hier zu sein statt in einem kalten Grab im Wald?” „J-ja”, antwortete Valion stotternd, weil er überhaupt nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
„Sei doch nicht bissig, Ansin”, tadelte Anya, ließ sich seitlich auf seinem Schoß nieder und legte einen Hand auf seine Schulter. „Und wenn wir gerade von kalten Gräbern sprechen, was hast du nur mit Kelian angestellt? Ich habe die Wächter noch nie so grün im Gesicht gesehen!” „Faure war ein Ärgernis seit dem Tag, an dem ich zugestimmt habe, ihn an der Reise zu beteiligen”, antwortete Eravier leichthin, „Er ist mir immer wieder in die Quere gekommen, er hat Rebellen gedeckt. Und er ging mir auf die Nerven.” Anya schnaubte amüsiert. „Er ging dir auf die Nerven, das ist alles? Warum hast du Gael dann noch nicht ermordet?”, lästerte sie, und Eravier lachte auf. „Ich überlege noch, wie ich das anstellen will. Die eigene Familie ermordet man schließlich mit Stil, mein Liebling”, erklärte er, „nur Gesindel und kleinen Ganoven schneidet man einfach die Kehle durch.” Er warf einen Blick auf Valion, der trocken schluckte, aber nichts sagte. Er wusste, auf wen Eravier anspielte, aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Jan in ihrem Kampf die Oberhand gehabt hatte.

„Ich frage mich nur, was nun aus all seinen Sklaven wird”, lenkte Anya das Thema zurück auf Faure. Sie klang unschuldig und bemerkenswert beiläufig, als interessiere sie die Antwort auf diese Frage nicht wirklich. Eravier lächelte weiter, aber in seinen Zügen war jetzt auch Wachsamkeit zu sehen. Seine linke Hand wanderte auf ihrem Rücken nach oben, streichelte über ihren Hinterkopf. „Ich dachte mir fast, dass du das ansprechen würdest. Nachdem du alles daran gesetzt hast, dass deine kleine Freundin von Faure gekauft wurde und nicht von mir.”

Ich habe wegen dir schon genug am Hals. Endlich ergaben Anyas Worte einen Sinn, und plötzlich wurde Valion klar, wie berechtigt ihre Wut auf ihn war, und warum ihre Stimmung von milde desinteressiert auf feindselig umgeschlagen war, sobald sie von Faures Tod erfahren hatte. Sie hatte jeden Grund, Schuldgefühle in ihm zu wecken, und er fragte sich, was er noch alles los getreten hatte an diesem Abend. Ein Mann war tot, Jadzia vielleicht Eraviers Gunst ausgeliefert, was auch immer das für sie bedeutete. Was hatte er noch in Gang gesetzt, ohne es zu wissen?

Anya gab sich dennoch unbeeindruckt, nicht bereit, das Thema fallen zu lassen; sie zuckte mit den Schultern, was ihren Busen zum Wogen brachte, und lehnte sich noch näher an Eravier heran, bis ihr Gesicht so nah war, dass sie ihn küssen konnte. Ihre Stimme war sanft, aber auch ein wenig tadelnd, als sie sagte: „Ich dachte damals, dass ihr Vertrag besser bei ihm aufgehoben sei. Wenn du ehrlich bist, handelst du keine Eheverträge aus, das ist nicht dein Niveau. Was willst du also mit ihr? Wenn ich du wäre, würde ich sie Karvash überlassen, gegen eine hübsche Summe, weil du ihm so großzügig den Vortritt lässt.” „Und du wirst ihm natürlich einflüstern, was er mir zu zahlen hat, nicht wahr?”, fragte Eravier lauernd, und plötzlich wurde seine Miene kalt und steinern. 
Seine rechte Hand, die eben noch auf ihrem Haar gelegen hatte, packte es plötzlich dicht über der Kopfhaut und zerrte sie zurück, und es war vermutlich nur Anyas eisernem Willen geschuldet, dass sie weder vor Schmerz zusammenzuckte, noch ihr ewiges Lächeln verlor. Ihre Stimme stolperte nicht, aber sie klang rau, als sie leise sagte: „Du weißt, was ich am besten kann.” „Dann bleib in Zukunft dabei, mein Herz”, antwortete Eravier kalt, „dieses eine Mal tue ich dir den Gefallen, weil dir so viel an ihr liegt. Das nächste Mal, wenn du etwas Derartiges versuchst, lasse ich sie vor deinen Augen auspeitschen.” Damit ließ er ihr Haar los, und Anya richtete es abwesend, das eingefrorene Lächeln immer noch auf den Lippen.

Valion atmete erleichtert aus, und er merkte erst jetzt, dass er die Hände so fest zu Fäusten geballt hatte, dass sich seine Nägel in die Handflächen gegraben hatten. Er war drauf und dran gewesen einzuschreiten, und in diesem Moment wäre es ihm egal gewesen, wie Anya sich ihm gegenüber verhalten hatte.
„Und jetzt lass mich einen Moment mit meinem Ausreißer sprechen”, sagte Eravier, und war wieder die Freundlichkeit in Person. Anya ließ sich von seinem Schoß gleiten und trat zurück zu Valion, wobei sie ihm einen warnenden Blick schickte. Es war kaum merklich, aber sie war blass und kämpfte um ihre Fassung.
„Komm her”, befahl Eravier, und winkte Valion heran, und er erstarrte einfach.

Er hatte auf diesen Moment gewartet, aber jetzt, da es so weit war, wusste er nicht, was er tun sollte. Er war gefangen zwischen dem Wunsch zu fliehen und dem Impuls zu gehorchen. Er wollte sich nicht unterwerfen, und doch hatte er keine Wahl, wenn er leben wollte. Eravier beobachtete ihn erwartungsvoll, durchdrang ihn mit seinem Blick, und Valion ertrug es nicht. Es wurde schlimmer, seine Abwehrreaktion immer heftiger und unkontrollierbarer. Zuerst hatte er nur Eraviers Nähe verabscheut, jetzt löste schon seine reine Aufmerksamkeit ein Chaos von negativen Emotionen in ihm aus; Furcht, blinde Panik, Abscheu, und ohnmächtige Wut darüber, wie machtlos er sich fühlte.
Er hätte fast ausgeharrt, aber eine sanfte Hand legte sich für einen Moment in seinen Rücken und gab ihm einen leichten Stoß. Anya. Es lag keine Kraft in ihrer Handbewegung, es war kaum spürbar. „Atme durch”, flüsterte sie leise, und fast hätten ihn diese zwei Worte erneut ins Stocken gebracht. 

Einatmen. Ausatmen. Nein, das war nicht sie gewesen. Es musste Jadzia gewesen sein. Anya war nicht fähig, so sanft zu sein, sich selbst für mehr als einen Moment hinten an zu stellen. Oder täuschte er sich?
Sie war vielleicht mehr als das, was sie andere sehen ließ. Und war ihre provokative Art nicht nur eine Variante von dem starren, abwesenden Gesicht, hinter dem Tarn seine Emotionen verbarg? War das ihre Art, alles fernzuhalten, was ihr gefährlich werden konnte?
Vielleicht. Vielleicht war sie aber auch genau das oberflächliche Miststück, für das sie alle hielten. Es spielte keine Rolle, er konnte genauso darauf zurückgreifen wie auf Tarns abwesende Gleichgültigkeit oder Jans dreiste Fröhlichkeit. Masken, alles Masken. Es war sein Ausweg, er musste nur so sein wie sie. Es war keine Garantie, dass er Eravier damit täuschen konnte, aber sie schlug sich nicht schlecht damit. Er musste es versuchen, wenn er das alles überstehen wollte. Lächeln, lügen, und nur nichts von dem zeigen, was ihn wirklich bewegte. 
Aber wenn er genau das selbe tun würde, wie konnte er Anya noch verurteilen? Warum war er so abgestoßen und gleichzeitig so fasziniert von ihr? Er wusste keine Antwort darauf. Es war nicht fair, dass er sie so benutzen würde, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein. Er machte den ersten Schritt vorwärts.

Es war nicht so einfach. Er war sich sicher, dass er ihren leichtfüßigen, eleganten Gang in den letzten Stunden genug beobachtet hatte, um zu wissen, wie er ihn nachahmen konnte. Aber sie hatte breitere Hüften als er, und er wollte nicht übertreiben, also hielt er sich zurück, und sein Ergebnis war vermutlich zu kantig. Dazu kamen die Ketten, die ihn behinderten. Egal, Schritt für Schritt. Es musste nicht perfekt aussehen. Nur ansprechend genug, ablenkend. Er straffte die Schultern; Anya hielt den Rücken gerade wenn sie ging, hielt den Kopf nie gesenkt. Vielleicht war es das, was ihr immer diesen arroganten Anstrich gab, aber es sah elegant aus, selbstsicher. Lächeln. Nicht zu sehr, er hatte keinen Grund, über das ganze Gesicht zu strahlen, aber ein wenig.
Er ging auf Eravier zu, und er sah in seinem Gesicht, dass er die Veränderung bemerkte. Vielleicht fragte er sich, woran es lag, dass Valion sich plötzlich so anders gab. Vielleicht machte es ihn sogar misstrauisch. Egal. Es war völlig verrückt, was er vorhatte, aber in diesem Moment versuchte er Anya zu sein; unverschämt, furchtlos, von sich selbst überzeugt. Er überwand den letzten Schritt.

Du kannst es nicht einmal ertragen, dass er dich ansieht, sagte die eine Hälfte seines Verstandes. Du schaffst das nicht. Und die andere Hälfte, die sich verdächtig nach Anya anhörte, antwortete: Halt die Klappe, Herzchen. Es war wie eine Genugtuung, und endlich spürte er etwas anderes außer Panik und Abscheu: tiefe, unzähmbare Wut. 
Wut darüber, dass er sich so klein und ängstlich gefühlt hatte, Wut über alles, was er erdulden musste, und plötzlich, endlich, kehrte etwas von seinem alten Mut zurück. Er würde niemals zeigen, wieviel Angst er hatte, er würde Eravier nicht die Genugtuung geben, dass er seine Unsicherheit sah. 
Er würde das alles hinter sich bringen, alles erzählen, was man von ihm hören wollte, alles tun, was er tun musste, und dann zurück kehren zu seinen Fluchtplänen. Er würde Eravier in Sicherheit wiegen und dann heraus finden, was mit Jan geschehen war, und dann würde er ihn finden und alles aufklären. Danach würden sie ein zweites Mal fliehen, diesmal richtig, ohne Kompromisse, ohne Ausreden, ohne Ablenkung. Egal mit wem er diese Pläne durchführen musste, mit Tarn, gegen Tarn, mit der Rebellion oder gegen die ganze Welt, er würde es einfach tun. 
Seine Wut vertrieb die Angst und die Panik nicht, aber im Chaos seiner widerstreitenden Emotionen übernahm sie das Kommando. Ohne weiter zu zögern setzte er sich, wie zuvor Anya, auf Eraviers Schoß, und obwohl die Handfesseln ihn enorm dabei behinderten legte eine Hand auf seine Schulter.

Eraviers Verblüffung war echt. Aus dieser Entfernung, nur dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, war das viel einfacher zu erkennen. Er wirkte älter, und menschlicher, stellte Valion ruhig fest, während ein abwesender Teil seines Verstandes ihn in blinder Panik anschrie, damit aufzuhören. Aber er hatte die Oberhand, zumindest jetzt, obwohl er sich zwingen musste nicht zusammen zu zucken, als Eravier, wie zuvor bei Anya, eine Hand auf seinen Rücken legte. Seinem Erstaunen nach zu Urteilen war das mehr Reflex als alles andere, aber Valion erduldete es, und ließ sein schmales Lächeln auf seinem Gesicht einfrieren.

Eravier schien endlich seine Stimme wiederzufinden, und das nachfolgende Lächeln war immer noch erstaunt, aber auch eindeutig selbstzufrieden. Er verbuchte Valions Überwindung tatsächlich als seinen Erfolg, als weiterer Schritt auf dem Weg, ihn zu zähmen und zu einem richtigen Sklaven umzuerziehen. Valion hätte am liebsten gelacht, aber kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Sollte er denken, was er wollte. 
„Na, es geht doch. Du scheinst ja doch bereit zu sein, etwas dazu zu lernen”, sagte Eravier zufrieden, und er warf einen forschenden Blick zu Anya. „War er schon den ganzen Tag so zutraulich, oder ist das neu?”, fragte er amüsiert, und sie beeilte sich, alle Vorteile heraus zu schlagen, die ihr diese Frage bot. „Ich habe ihm erklärt, wie sich ein Sklave zu verhalten hat”, behauptete sie dreist. Mit Eraviers guter Laune schien auch mehr von ihrer Selbstsicherheit zurückzukehren. „Er wollte wissen, wie er seine Fehltritte wieder gut machen kann. Wenn er nicht gerade mit dem Kopf durch die Wand will, kann er ein Schatz sein”, fügte sie hinzu, und rückte ihn zum Ausgleich ebenfalls in ein besseres Licht, etwas, das Valion ihr nicht zugetraut hatte. 

„Ach, tatsächlich?” Eravier schien sich bewusst zu sein, dass Anya lügen würde, um sich einen Vorteil zu verschaffen, und wandte sich wieder Valion zu. Seine Hand streichelte abwesend über seinen Rücken, und jede Bewegung verstärkte in Valion den Wunsch, ihm die Hand einfach abzuhacken, aber er hielt sich verbissen. Er nickte immer noch lächelnd und schluckte seine Abneigung gegen Anya und alles, was er mit ihr erlebt hatte. Er konnte sie nicht imitieren und dann leugnen, dass er Hilfe von ihr erhalten hatte, selbst wenn sie vermutlich nicht wusste, auf welche Art sie ihm half. Und sie schien bereit zu sein, ihm einen Gefallen zu tun, wenn er das gleiche tat. Vielleicht mussten sie nicht gegeneinander arbeiten, sondern konnten an einem Strang ziehen. 
Deshalb sagte er, so ehrlich wie er lügen konnte: „Sie hat Recht.” Er sah zu ihr, was ihm eine willkommene Ausrede gab, nicht Eravier anstarren zu müssen, und sagte: „Sie hat mir klar gemacht, dass ich großes Glück habe, am Leben zu sein, und besser Dankbarkeit zeigen sollte.” Widerwillig sah er wieder in Eraviers Gesicht, weil er das Gefühl hatte, dass diese Worte sonst wie eine Lüge geklungen hätten. Er ließ das Lächeln fallen, gab sich einen ernsten Ausdruck. Eravier betrachtete ihn einen Augenblick, schien zu versuchen, in ihm zu lesen, und sagte dann zufrieden: „Sehr gut.”

Für einen Moment glaubte Valion, dass er ihn durchschaut hatte, dass er die Wirksamkeit seiner Lügen kommentierte, und eiskalt überlief ihn die Erkenntnis, dass er in dem Moment, in dem Eravier ihn durchschaute, vermutlich tot war. Aber Eravier sprach weiter, freundlich und mit einem beruhigenden Tonfall, der Sicherheit vermitteln sollte: „Ich bin froh, dass du langsam begreifst, wie du dich zu verhalten hast. Dein neues Leben muss nicht schwer sein, Valion. Im Gegenteil, du könntest wie Jadzia und Anya alles bekommen, was du dir wünschst, und noch viel mehr, wenn wir erst Lutejia erreichen. Es liegt nur an dir.” Seine Hand, die zuvor Valions Rücken gestreichelt hatte, fuhr seine Wirbelsäule hinauf, strich durch sein Haar. Es wäre eine liebevolle Geste gewesen, ein Ausdruck der Zuneigung, wenn sich nicht alles in Valion dagegen gesträubt hätte. „Ich bin vielleicht bereit, dir deinen Fehltritt zu verzeihen”, fuhr er fort, „Ich kann sehr großzügig sein, wenn mir etwas am Herzen liegt. Du kannst den Rest der Reise natürlich auch angekettet in der dunkelsten Zelle verbringen, die ich finden kann. Aber es wäre mir viel lieber, wenn du all dies als das sehen würdest, was es ist: Eine Chance für dich, etwas aus dir zu machen.”
Und was wäre das?, dachte Valion bitter, Ein unterwürfiges Spielzeug? Aber er nickte pflichtbewusst, und er versuchte gleichzeitig reuevoll und eifrig zu wirken, als er fragte: „Was muss ich tun?” 

Er wusste, dass es keine gute Frage war. Sie war zu naiv, sie ließ alles zu. Aber er musste sie so stellen, wenn er das Bild von sich aufrecht erhalten wollte, das Eravier vermutlich von ihm hatte. Ahnungslos, offen, einfach zu beeinflussen. Eravier lachte, weil es ihm ebenso bewusst war, doch dann sagte er beruhigend: „Ich verlange nicht viel, beantworte mir nur eine Frage: Was hat dich dazu gebracht, die Seite zu wechseln? Warum hast du dem kleinen Bastard nicht erlaubt, mir die Kehle durchzuschneiden, und bist geflohen?”

Es war gut, dass diese Vorstellung nur Horror in Valion auslöste, denn es zeigte sich in diesem Moment in seinem Gesicht. Er hätte Jan nicht verraten, niemals, aber er hatte auch nicht gewollt, dass er Eravier ermordete. Es wäre nicht richtig gewesen, egal, was er für ein Monster war. Und es ging nicht nur um Eraviers Leben, es ging um Jans Seele, um die Zweifel und das, was sein altes Leben aus ihm gemacht hatte. Und Eravier sah es, und plötzlich wusste Valion, dass er eigentlich gewonnen hatte.
Dennoch versuchte er, eine Erklärung zu finden, nicht zu schweigen. Es gab etwas, das er zwar nicht hasste, aber das ihn schon von Anfang an gestört hatte. Er wusste nicht, ob es gut genug war, ob es echt genug klang, aber er antwortete leise: „Er hat mich belogen. Zuerst über seine Familie und seine Vergangenheit. Dann über seine Pläne. Er hat gesagt, bei unserer Flucht würde niemand verletzt werden, aber dann… das wisst ihr ja.” Er sah auf den Verband, und hob die Hand, zuckte dann aber zurück. Für einen Moment hatte er sich der Vorstellung hingegeben, dass er zumindest diese Erinnerung an Jan hatte, aber nein, er würde Eravier nicht mehr als nötig berühren. „Er hat versprochen es nicht wieder zu tun”, zwang er sich fortzufahren, „Und dann… plötzlich fing er an von der Rebellion zu reden, davon, dass er eine Aufgabe hätte und ich ihm helfen könnte. Ich habe gefragt, ob er mich nur deshalb mitgenommen hat. Er hat alles abgestritten… aber das war wohl auch eine Lüge.”

Er sah auf zu Eravier, der ihn seinerseits genau beobachtete. Es war nicht sichtbar, was er dachte, aber er nickte ihm aufmunternd zu, dass er fortfahren sollte, ruhig und gelassen, und fast von allein sprach Valion weiter. Er hörte sich selbst zu, seiner eigenen erlogenen Geschichte, und er begriff, dass ein Teil davon wahr war, dass er sich so gefühlt hatte. Es waren nicht alle seine Gefühle gewesen, aber ein Teil davon. Und egal, wem er sie erzählte, es war befreiend, etwas davon loszuwerden. Für einen Moment stellte er sich vor, alles jemand zu erzählen, dem er vertraute. Seinem Vater vielleicht, oder seinen Freunden. 
„Am Ende wollte ich nur noch, dass es aufhört, ich… ich wollte nur noch zurück. Und dann hat er wieder angegriffen und da wurde mir klar, dass es nicht vorbei ist, bis ich dem ein Ende setze. Also… also habe ich versucht ihn aufzuhalten. Ich wollte nicht, dass meinetwegen jemand verletzt wird.” 
Valions Stimme schwankte plötzlich, und er hatte Tränen in den Augen. Ein isolierter, eiskalter Teil von ihm dachte, dass das gut war, dass Tränen eine Wirkung haben würden, aber ein anderer, ehrlicherer Teil von ihm litt tatsächlich, war immer noch verletzlich und nicht so abgebrüht und manipulativ, wie er sein wollte, sein musste. Ein Teil, der Trost brauchte, der ihn wieder aufsehen ließ und Eravier, trotz allem, trotz seines Hasses, direkt fragte: „Habe ich ihn wirklich…?”

Und obwohl er nicht damit rechnete, geschah das Unerwartete: Eravier beantwortete seine Frage, völlig ehrlich und ernst. „Nein, er hat überlebt. Du hast ihn verletzt, aber nicht getötet, und er ist geflohen. Meine Wachen sind immer noch auf seinen Fersen, seit gestern Nacht, aber bisher habe ich keine Nachricht von ihnen erhalten.” Valion nickte, wandte den Blick ab, versuchte die Tränen dort zu halten, wo sie waren, in seinen Augenwinkeln. Doch Eravier hob die Hand, drehte seinen Kopf behutsam zu ihm und sah ihn weiterhin ernst und verständnisvoll an. „Gib dir nicht die Schuld daran, wenn ein dreckiger kleiner Rebell zu Schaden kommt”, sagte er und strich durch sein Haar, „Du hast das Richtige getan. Du hast die richtigen Leute verteidigt, und du hast dafür gesorgt, dass Tarn nicht verletzt wurde.”
Valion nickte und erlaubte sich, die Tränen aus seinen Augen zu wischen, und seine Blick wanderte für einen Sekundenbruchteil zu Anya. Sie versuchte die Fassung zu wahren, aber im Grunde war sie nicht im Stande zu begreifen, was vor sich ging, und er konnte es ihr nicht verübeln. Er begriff es selbst nicht, aber anscheinend hatte er für diesen einen, kurzen Moment, einen anderen Eravier hervor gezaubert. Eine Person, die einem Menschen ähnlicher sah als einem Monster, die fähig war Verständnis zu zeigen.

Aber machte es einen Unterschied? Für ihn selbst, vielleicht. Er spürte immer noch Angst und Misstrauen, aber die irrationale Furcht vor Eravier war zumindest für diesen Moment verflogen. Er war ein Mensch, fähig zu den selben Emotionen wie jeder andere auch. Er befehligte mehr Männer als so mancher, er hatte auch mehr Macht, aber er unterschied sich nicht grundsätzlich von Schlägern wie Levin, und das war es, was sich niemals ändern würde. Eravier war kein guter Mensch. All seine Empathie, das verständnisvolle Lächeln, das er zur Schau trug, konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass er grausam war, dass etwas an ihm grundlegend falsch war. Valion hatte seine Freundlichkeit als ein rares Geschenk erhalten, etwas, das ihm zuteil wurde, weil er darum gebettelt hatte, nicht, weil es ein grundlegender Wesenszug von Eravier war. Und seltsamerweise war es dieser Moment untypischer Anteilnahme, der Valions Hass zementierte. Er würde Eravier niemals trauen. Vielleicht würde er eines Tages wieder Emotionen ihm gegenüber zeigen müssen, aber er würde ihm niemals Zugang zu seinem Inneren gewähren, wie Jan oder Tarn. 

Er wandte sich wieder zu Eravier, der ihm aufmunternd zu lächelte. „Nun, ich denke das hat meine Frage zufriedenstellend geklärt”, sagte er, und schon klang er wieder geschäftsmäßig, freundlich, aber grundsätzlich desinteressiert. „Ich denke, all das wird dir eine Lehre sein. Und etwas Gutes hatte dein Fehltritt zumindest auch.”
„Warum?”, fragte Valion, und das war ein Fehler. Er hätte wissen müssen, dass er dem Frieden nicht trauen durfte, dass er bei der nächsten Gelegenheit auf seinen Platz verwiesen werden würde. Denn genau das geschah jetzt, als Eravier ihn mit dem gleichen gelassenen Lächeln ansah und sagte: „Ich war mir nicht sicher, ob ich einen Mann als Käufer in Erwägung ziehen kann. Aber da du anscheinend jedem beliebig zu Willen bist, brauche ich mir darum keine Gedanken mehr zu machen. Ach ja, und üb nur weiter so. Du kannst jetzt aufstehen.”

Valions Kopf wurde rot, und gleich auf die Scham folgte die Erniedrigung, und dann die Wut. In wenigen Worten hatte Eravier ihn nicht nur daran erinnert, dass er ein Sklave und damit Ware war, sondern seine Liebe zu Jan herabgewürdigt und ihm selbst unterstellt, es mit jedem zu treiben. Dagegen war der Eimer kaltes Wasser, den Anya über ihn geschüttet hatte, ein Spaziergang. Er stand derartig hastig auf, dass er beinahe über seine Fußkette gestolpert wäre, und trabte zu der Stelle zurück, an der Anya stand und immer noch wartete. Sie tauschten einen Blick, und jetzt verband sie mehr als nur ihr Sklavenstand. Sie waren auch gemeinsam in einem Raum mit Eravier gewesen und hatten überlebt. Es wäre komisch gewesen, wenn es nicht gleichzeitig ein bizarrer Alptraum gewesen wäre.

Eravier wiederum wandte sich, ohne Valion weiter zu beachten, an Anya und befahl: „Anya, bitte die Wachen herein.” Sie nickte knapp, verschwand und kehrte mit Guy und der anderen Wache im Schlepptau zurück. „Herr?”, fragte Guy knapp, und Eravier nickte ihm zu. „Bitte befreie Valion von seinen Fesseln. Vorerst. Er erhält auf Probe die selben Privilegien wie Anya, mit der Ausnahme, dass er sein Quartier nachts nicht verlassen darf.” „Herr, nach allem was gestern-”, begann Guy, aber Eravier schnitt ihm das Wort ab. „Du hast mich gehört. Ich gehe davon aus, dass er von nun an das tun wird, was man von ihm erwartet.”
Guy schien das alles nicht zu behagen, aber pflichtbewusst schloss er die Hand- und Fußschellen auf und nahm sie an sich. Er warf Valion einen warnenden Blick zu, und der nickte kaum merklich, als Bestätigung, dass er wusste, was man von ihm erwartete. Es war allemal besser als Eravier anzusehen, dessen gute Laune auf einmal umgeschlagen war. Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte, und befahlt schließlich, als Valion befreit war: „Geht jetzt. Guy, du lässt dich neu einteilen, Valion, du kannst dich umsehen. Solltest du nach Sonnenuntergang allerdings nicht in deinem Quartier auftauchen, wanderst du in Ketten in das dunkelste und stinkendste Loch, das ich finden kann. Verstanden?” Valion nickte schon, als er seinen Namen hörte, und Eravier nahm es befriedigt zur Kenntnis. Er hatte alle Freundlichkeit abgeschüttelt und kehrte zu seiner kalten, routinierten Grausamkeit zurück. Sein letzter Befehl lautete: „Du bleibst hier, Anya.”

Valion warf einen Blick auf Anya, die sich als erste zum Gehen gewendet hatte. Sie wusste, wenn das Eis dünn wurde, und jetzt schien sie regelrecht nervös. Eraviers undefinierbare Stimmung stellte vermutlich auch sie vor ein Rätsel, doch im nächsten Moment zauberte sie das ewige Lächeln zurück auf ihr Gesicht. „Valion, findest du allein zu unserem Quartier zurück?”, fragte sie, und Valion schüttelte mechanisch den Kopf. Wenn er konnte, würde er sie jetzt nicht hier zurück lassen. Doch ein Blick in Eraviers Gesicht brachte sie beide von dieser Idee ab. Er würde Anya nicht gehen lassen. 
„Dann erkläre ich es dir schnell”, sagte Anya gezwungen fröhlich, „Du gehst von hier aus geradeaus und dann rechts am Lager der Wächter vorbei. Du kannst es gar nicht verfehlen, und Jadzia wird vermutlich dort sein. Du findest es schon.” Damit schob sie ihn sanft, aber bestimmt, Richtung Ausgang, und er beeilte sich, den Wächtern zu folgen.

Draußen angekommen blinzelte Valion in die Sonne und fragte sich, was gerade geschehen war. Er war begnadigt, getröstet, verhöhnt und rausgeworfen worden, in dieser Reihenfolge, alles nacheinander, von der selben Person. Und jetzt war er frei. Er griff nach seinen Handgelenken und rieb sie vorsichtig. Die Haut schmerzte ein wenig, aber das war alles. Er fühlte sich mehrere Kilo leichter, und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er außerdem, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, am Leben war.

Erst jetzt bemerkte er, dass die zwei Wächter ihn immer noch musterten, als würde er in der nächsten Sekunde die Beine in die Hand nehmen und aus dem Lager flüchten. Er fragte sich, warum er es nicht in Erwägung zog, aber gleichzeitig wurde ihm klar, dass er es gestern versucht hatte und gescheitert war. Er war jetzt klüger; ohne langfristige Vorbereitung, oder überhaupt so etwas wie einen Plan, brauchte er nicht einmal daran denken.
Etwas anderes interessierte ihn hingegen viel dringender, und reflexartig borgte er sich Anyas Unverfrorenheit, um Guy zu fixieren, der ihn immer noch beobachtete, und ging direkt auf ihn zu. Guy schreckte nicht zurück, aber er wurde noch wachsamer. „Was sind diese »Privilegien«, die Anya hat?”, fragte Valion gerade heraus, und sein Gegenüber entspannte sich ein wenig. Er schien eine innere Liste zu konsultieren, bevor er antwortete: „Anya darf sich zu allen Tageszeiten frei im Lager bewegen, aber diese Regel wurde für dich natürlich beschnitten. Sie wird nachts nicht angekettet, sie darf mit anderen Händlern, Dienern und Wächtern verkehren, kann ihre Mahlzeiten auswählen, wenn ihr der Sinn danach steht, darf Gegenstände und Kleidung besitzen. Das sind die grundlegenden Regeln.” Valion stutzte und fragte verwundert: „Dürfen die anderen Sklaven nicht mit den Dienern sprechen?” Guy und der andere Wächter warfen sich einen Blick zu, und noch bevor sie einen Ton sagten wusste Valion, was eigentlich gemeint war. 
So war das also - Anya hatte das Privileg, Beziehungen welcher Art auch immer mit wem auch immer zu führen. Und er selbst damit auch. Er wusste nicht, was er mit dieser Information anfangen würde, aber er winkte ab. „Ich habe es verstanden, schon gut.” „Wir behalten dich im Auge”, drohte der andere Wächter neben Guy, aber Valion nahm es kaum mehr wahr. Seine Gedanken kreisten um die Frage, was er mit seiner neu gewonnen Freiheit anfangen würde. Wenn er etwas besitzen durfte, konnte er vielleicht den Spiegelrahmen holen, der immer noch im Pestwagen versteckt war. Und wenn er vor Einbruch der Nacht praktisch überall hingehen konnte, konnte er mehr Informationen einholen, vielleicht sogar einen anderen Kontakt als Tarn zur Rebellion herstellen. Oder Tarn sehen. 

Der Gedanke war gleichzeitig schmerzhaft und reizvoll. Einen Moment lang fragte er sich selbst, was er davon erwartete. Eine Entschuldigung? Eine Rechtfertigung? Es war möglich, dass er beides bekommen würde, oder nichts von alledem. Immerhin war er jetzt in Sicherheit, so wie Tarn es geplant hatte. Vielleicht war das sein einziges Ziel gewesen, und damit alles für ihn erledigt. Oder auch nicht. Valion wollte es wissen, und wollte sich gleichzeitig nicht die Illusion zerstören, dass es Tarn zumindest ein wenig Leid tat, wie alles abgelaufen war. Vielleicht konnten sie einen Teil des gegenseitigen Vertrauens widerherstellen, aber vielleicht war das auch nur Wunschdenken. Wenn…

Ein Splittern ließ Valion aufschrecken, und wie die zwei Wächter blickte er zu Eraviers Wagen, aus dem das Geräusch stammte. Du wolltest wissen, wie Faure gestorben ist; Ansin hat ihm eine Scherbe ins Auge gerammt. Die Erinnerung an Anyas Worte schnürte Valion die Luft ab, und ohne weiter nachzudenken wollte er hinein stürmen, doch er würde an der Schulter gepackt, ausgerechnet die linke. Er schrie erstickt auf und wollte sich losreißen, aber Guy, der nach ihm gegriffen hatte, packte jetzt seinen Arm und hielt ihn zurück. „Was soll das?!”, herrschte Valion ihn an, aber er schüttelte nur den Kopf. „Was da drin passiert geht niemanden etwas an.” „Aber-”, wollte Valion einwenden, doch Guy wiederholte nur: „Niemand, ist das klar? Du kannst da rein gehen, aber wenn du es tust, bist du ziemlich sicher tot. Es liegt an dir.” Damit ließ er ihn los, wandte sich ab und zog seinen Kumpan mit sich.
Valion konnte es kaum glauben. Es war den Wächtern so unangenehm, dass sie nicht in der Nähe sein wollten um Zeuge jedweder Ereignisse zu werden. Eraviers Quartier war also eine rechtsfreie Zone. Das war unfassbar, aber es passte zu dem ganzen Wahnsinn, der ihn umgab. Für einen Moment wollte er zögern, dann riss er sich zusammen. Er ließ Anya nicht einfach im Stich, wenn ihr tatsächlich etwas geschah. 

So leise wie er konnte schlich er in den Wagen, verharrte hinter dem Vorhang, lauschte. Etwas zerbrach erneut, und dann hörte er Anya leise lachen, dann keuchen. „Und ich dachte, ich würde nachlässig mit der Einrichtung umgehen”, scherzte sie heiser, und Eraviers Stimme antwortete ihr nur: „Du redest zu viel.”
Valion wusste es schon, bevor er durch den Vorhang spähte. Im Grunde war es falsch, und er wusste es. Jadzia hatte völlig Recht gehabt, als sie ihm sagte, er solle Anya nicht anstarren. Wieviel tat sie freiwillig, und wieviel nahm sie einfach in Kauf? Das konnte nur Anya beantworten, niemand sonst. 
Er sah nicht viel, aber genug. Er sah ihren entblößten Oberkörper, und wie sie sich auf dem Tisch abstützte, den Kopf zurückgeworfen, dass ihr Haar fast die Tischplatte berührte. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Mund leicht geöffnet. Sie stöhnte, und ihr Gesicht war entspannt - wenn sie sich Eravier aus Zwang hingab, dann war es ihr nicht anzusehen. Aber auch darüber konnte nur sie allein Auskunft geben. Von ihm sah Valion gnädig wenig, weil er sich über sie beugte, und dann wurde ihm klar, was er tat, und er wandte sich ab und verließ den Wagen so leise, wie er gekommen war.

Er schlug den Weg ein, den Anya ihm beschrieben hatte, aber er nahm ihn kaum wahr. Seine Gedanken waren verwirrt, und gleichzeitig ging ihm nicht aus dem Kopf, dass er von Anfang an Recht gehabt hatte - Anya schlief mit Eravier. Wie oft und warum spielte im Grunde keine Rolle. Wenn er diesen Fakt ausnutzen wollte, dann konnte er das tun. Aber dieser Gedanke kam ihm jetzt abwegig, geradezu grotesk vor. 
Während er das Lager der Wachen erreichte und dann abbog, genau wie Anya es ihm beschrieben hatte, dachte er darüber nach, ob er Jadzia vorsichtig und möglichst respektvoll ein paar Fragen stellen konnte. Aber wie die aussehen sollten wusste er selbst so genau.

„Schaut mal, Besuch.” 

Valion schrak zusammen, blickte auf, und sofort wurde ihm klar, auf welchem Weg Anya ihn zurück geschickt hatte. Das war der Teil, den er bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, und er hatte ihn nicht sehen wollen. Er dachte daran, was Jan gesagt hatte: Die niederen Sklaven sitzen sich da drüben fast gegenseitig auf dem Schoß. Das war nicht gelogen gewesen, das sah er jetzt, denn die zwei Wagen, die hintereinander aufgestellt waren, waren alles, was er sich in seinen Alpträumen vorgestellt hatte. 

Die Seiten waren mit langen, stabilen Eisenstäben vergittert. Sie konnten gegen Licht, Witterung und Kälte mit Stoffplanen verhüllt werden, aber die waren jetzt hochgerollt. Und hinter den Gitterstäben, wie Tiere angekettet, Menschen, getrennt nach Männern und Frauen, bestimmt an die zwanzig in jedem Wagen, die meisten von ihnen nur wenige Jahre älter als er. Plötzlich fühlte er sich von allen Seiten beobachtet.

„Seht mal, wer sich her verirrt hat”, sagte einer der Frauen, die nahe am Gitter gelehnt stand und nach draußen sah. Sie war mager und wirkte erschöpft, aber sie war attraktiv, auch wenn diese Attraktivität bei weitem nicht an die von Jadzia oder Anya heran reichte. „Es ist einer von den hübschen. Was machst du denn hier? Suchst du einen starken Mann?” Das Gelächter aus beiden Wagen war hämisch und gleichzeitig feindselig, und Valion wich instinktiv einen Schritt zurück. Die Worte der Frau schienen für Aufmerksamkeit zu sorgen, denn mehr Sklaven traten an das Gitter, betrachteten ihn. Nur einige wenige blieben verborgen in den hintersten Winkeln der Wagen, eingeschüchtert.
„Und, wovor bist du weggelaufen, hm?”, fragte einer der Männer und lachte. „Hast du jemand kalt gemacht? Eine Kleine geschwängert? Bringst du das überhaupt fertig?” „Sieh ihn dir an, der hat noch nie ein Mädel angefasst”, spottete eine Frau, und ein anderer mutmaßte: „Der hat seine Eltern entehrt. Stimmts, du hast dich mit der falschen Gesellschaft erwischen lassen?” Valions Herz schlug bis zum Hals, als er wütend sagte: „Ich wurde entführt! Ich habe überhaupt nichts getan, und ich laufe vor nichts weg!” 

Wenn er gedacht hatte, dass diese Worte Sympathie auslösen würden, hatte er sich getäuscht. Das Gegenteil war der Fall, plötzlich waren alle Blicke die ihn trafen feindselig. „Achso, der Kleine ist was Besseres! Einer von den feinen, sauberen, die sich nicht kaufen lassen!”, zischte eine Frau und spuckte in seine Richtung, und plötzlich hagelte es Beschimpfungen. „Unverdorbenes Fleisch, was?!” „Das wird dir noch ausgetrieben, wenn du unter dem ersten liegst!” „Wirst du betteln, dass sie dich gut behandeln?!” „Denkst du du bist besser dran als wir, wenn du erst verkauft bist?!”
„Valion”, sagte plötzlich eine zarte Frauenstimme durch das Durcheinander von Beschimpfungen, und plötzlich verstummten alle Stimmen nach und nach. Valion wandte sich um, suchte die Gesichter ab, aber wer auch immer seinen Namen gesagt hatte, gab sich nicht erkennen. Völlig irritiert trat er auf das Gefängnis der Frauen zu. „Wer hat das gesagt?”, fragte er, und eine Männerstimme antwortete aus der anderen Richtung. „Jan ist in unseren Händen.”
Valions Blut gefror in den Adern. Er hastete zu dem Gefängnis der Männer, sprang auf den Wagen und packte den erstbesten Mann, den er in die Finger bekam, am Kragen. „Wer hat das gesagt?!”, schrie er ihn an, aber der Mann zuckte nicht einmal zurück, und von den Frauen her kam eine völlig andere, leise Stimme: „Hintergeh die Rebellen nie wieder. Dein Ziel ist Lutejia.” „Ich weiß, dass du ein Sklave bist! Du hast mich zu Boden gerissen! »Ich sehe dich, egal ob du schläfst oder wach bist«, damit hast du geprahlt, aber warum hast du nicht gesehen, was Jan vorhatte?! Ich will wissen, wer zum Teufel du bist!”, spie Valion wütend, und diesmal machte er nicht den Fehler, den Blick abzuwenden. Dass er die Blickrichtung wechselte war vorhergesehen, das sollte ihn verwirren. „Sag es mir, oder ihm passiert was!” Er wusste nicht einmal, ob er fähig war, irgendjemand zu verletzen, aber in diesem Moment war er wild entschlossen, es zu versuchen. Doch plötzlich packte der Mann, den er fest gehalten hatte, sein Handgelenk und sah ihn ernst an. „Wir sind die Rebellion”, sagte er, und in seinen Augen stand nicht einmal ein Funken Angst, „und wer denkst du, bist du?”

Eingeschüchtert ließ Valion ihn los und stolperte einen Schritt zurück, weg von dem Wagen, aber er brauchte keine Antwort geben. „Er ist ein kleines Küken”, sagte eine dritte Frauenstimme, und diesmal zeigte sich die Sprecherin. Sie war eine winzige, zierliche Person, stand nahe am Gitter, und betrachtete ihn gleichgültig. „Der Sohn einer Nachtigall.” „Was-”, begann er, aber sie lächelte und sang leise: „Entflogen ist uns Frau Nachtigall, Sie ist entflogen, wird sie uns wieder singen?” „Wir wissen zu viel über deine Familie. Belass es dabei”, sagte der Mann, den er am Kragen gepackt hatte. Seine Augen durchbohrten ihn. „Das ist besser für dich und für sie.”

Valion floh. Er floh vor den starrenden Augen und der Gleichgültigkeit, dem Hass und den Drohungen. Er hörte nicht auf zu laufen, bevor er den Wagen erreichte, der Anyas und Jadzias Quartier war. Jemand stand davor, sprach mit Jadzia und und wartete offensichtlich auf ihn. Marceus.
Er drehte sich um, als er Valion außer Atem heran kommen sah, und bevor er überhaupt etwas sagen konnte verzog sich sein Gesicht plötzlich besorgt. „Was ist passiert?”, fragte er sofort und griff nach Valions Schulter, „Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen!” Valion wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort heraus, und plötzlich war ihm nach Heulen zumute. Er schaffte das alles nicht allein. 
Marceus begriff, wie es ihm ging, und zog ihn kommentarlos in eine Umarmung, und Valion klammerte sich an ihn. Er wünschte er hätte ihm erklären können, was geschehen war, aber es steckte in seinem Verstand fest. 
Alles, wollte er sagen. Alles ist passiert.

„Zieh dich an.“

Anya nickte, und obwohl ihre Beine wacklig waren und die Welt immer noch aus Watte bestand, begann sie ihre Kleidung zurecht zu rücken.

Ansin brauchte nicht einmal so lange, er war noch einem Augenblick schon wieder angezogen und sah so gepflegt wie immer aus. Aber es wäre auch untypisch für ihn gewesen, wenn er sich mehr als nötig entkleidet hätte um sie zu nehmen. Es war in gewisser Weise paradox: er trieb es seit Monaten mit ihr, und trotzdem hatte sie keine Ahnung, wie sein Körper aussah. Doch im Grunde war ihr das recht. Er lebte nur seine Triebe an ihr aus, und alles was sie tat war, ihn gewähren zu lassen. Sie empfand nichts für ihn, und nichts, weder die Zeit noch das Schicksal, und erst recht nicht der Anblick von etwas nackter Haut, würden je etwas daran ändern.

Nach einigem Ziehen und Zerren befand sich ihr Kleid endlich wieder an Ort und Stelle, und sie trat ohne weiter darüber nachzudenken zu Ansins Waschschüssel, um sich etwas frisch zu machen. Sie griff nach der Kanne, goß sich frisches Wasser ein und begann ihr Gesicht und ihre Hände zu reinigen. Eigentlich hätte sie sich das Waschen an diesem Morgen auch sparen können, sinnierte sie. Sie fühlte sich verschwitzt, aber vermutlich hatte Ansin sie in dem Wissen her beordert, dass er sie haben wollte, und sie deshalb trotz der Umstände zum Waschen befohlen. Er wollte sie sauber, das hatte er irgendwann gesagt, auf seine typisch charmante Art, also absolut brutal und mitleidlos. Soweit sie sich erinnerte, waren die Worte „dreckige Hure“ gefallen. Er war eben ein absolutes Schwein.

Es war nicht mehr viel Wasser da, aber es reichte, um zumindest noch ihre Scham zu waschen. Sie zitterte, als der feuchte Stoff ihre erhitzte Haut berührte. Einerseits war das Wasser kalt und ließ sie frösteln, aber gleichzeitig flaute ihre Erregung erst jetzt langsam ab, und ihr Körper reagierte immer noch empfindlich. Zumindest das konnte man Ansin zugute halten; er sorgte dafür, dass sie auch etwas von ihrer Begegnung hatte, solange er selbst noch nicht befriedigt war.
Er war nicht besonders kreativ, wenn es um sie ging, da hatte selbst Gael mehr Einfallsreichtum. Er packte sie von vorn, schob ihren Rock hoch und drang in sie ein, und das war alles, was sie an Vorwarnung oder Vorspiel bekam. Aber wenn sie eine günstige Position suchte, in der er eine Hand frei hatte, teilte er mit den Fingern ihre Schamlippen und ließ seine Finger sanft über ihre Klitoris kreisen, bis es ihr völlig egal war, was für ein Mistkerl er eigentlich war.
Sie gab gern zu, dass sie einfach zu befriedigen war, aber er bewies darin deutlich mehr Geschick als andere Männer. Sie wusste nicht, wie es dazu kam, dass ausgerechnet ein eiskaltes Scheusal wie er so geübt darin war, Frauen zu verwöhnen, aber in diesen Momenten hinterfragte sie es nicht. 

Dafür verzieh sie ihm sogar, dass sie noch nie ihren eigenen Namen aus seinem Mund gehört hatte, wenn er sich an ihr abreagierte. Es war eine Ersatzhandlung, das war ihr völlig klar; er wollte nicht sie, sondern wer auch immer in diesem Moment durch seine Fantasie spukte. Aber das ging sie im Grunde auch nichts an. Sollte er sich ihretwegen ruhig vorstellen, er würde den König und seinen ganzen Hofstaat vögeln, solange er nicht aufhörte die Finger zu bewegen. Sie ignorierte ihn in diesen Momenten genauso wie er sie, und wenn sie kam machte sie sich auch nicht die Mühe, seinen Namen zu stöhnen. Er folgte meist dicht hinter ihr, nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie in ihrer Erregbarkeit übereinstimmen, was wohl auch der Grund war, warum er sie besonders gern zu sich befahl. 
Während sie den besudelten Lappen zurück in die Waschschüssel warf, wo ihn irgendeine bemitleidenswerte Dienerin finden würde und die Sauerei auch noch waschen musste, dachte sie daran, dass Ansin ihr immer noch ein Rätsel war. Ihre selige Mutter hatte ihr gesagt, dass es etwas ganz Besonderes sei, einem Mann, wie hatte sie es blumig genannt? „Beizuwohnen“, richtig. Und dass eine gute Frau die Wünsche ihres Mannes verstand und in den Momenten seines Glücks einen Einblick in seine Seele erhielt, den sie schätzen und behüten musste. 
Nun, bei Gael war das vielleicht der Fall, ihn kannte sie inzwischen recht gut. Aber ein Einblick in Ansins Seele war so aufschlussreich wie der Blick in einen Eimer Teer, egal ob Glück oder nicht. Sein Körper spannte sich an, er öffnete den Mund, und dann: Ausatmen. Mehr war es nicht. Er lächelte nicht einmal, er zeigte keine Befriedigung, und das war im Grunde bemitleidenswert. Was hatte er davon, wenn sein Herz vielleicht irgendwo anders war, sofern er eins besaß? Sie begriff es nicht.

Egal; Ansin war vielleicht der Herr dieser kleinen Welt, aber dennoch nicht wichtig genug, dass sein Innenleben sie mehr als nötig beschäftigen sollte. Das einzige was sie von ihm wollte war, dass er sie im geeigneten Moment an einen wohlhabenden Mann verkaufte, der sie zur Mätresse, aber besser noch zur Ehefrau erkor. Bis dahin würde sie ihm zur Verfügung stehen, und ihm danach keine Träne nachweinen.
Anya richtete ihren Rock und wandte sich zu Ansin um, der schon wieder an seinem Schreibpult saß  und in eine seiner unendlich vielen Listen vertieft war, mit deren Hilfe er den Wagenzug organisierte. 
Er blickte auf, als er bemerkte, dass sie ihn ansah und fragte: „Endlich fertig? Dann lass uns zum Geschäftlichen kommen.“ 
Was, war das gerade weniger geschäftlich?, dachte Anya mit bitterem Humor, aber sie sagte nichts, sie fühlte nur, wie ihr Mundwinkel verräterisch zuckte. Irgendwann musste sie sich diese unwillkürliche Reaktion abgewöhnen. Jetzt stützte sie nur die Hände in die Hüfte und sagte: „Ich bin ganz Ohr.“


„Wie du bemerkt hast, hat sich die Lage ein wenig geändert“, dozierte Ansin kalt. Anya nickte, das war ihr ebenfalls klar gewesen. Aber auch ohne die gestrigen Vorfälle war Valion anders, als sie erwartet hatte, und erwartet hatte sie ihn schon vom ersten Tag an. Gleich nach seiner Brandmarkung war Ansin bei ihr aufgetaucht und hatte ihr geschildert, was für ein Küken sie unter ihre Fittiche nehmen sollte. 
„Ich war überrascht. Du hast mir den Jungen beschrieben, aber ich kann das was ich sehe nicht mit dem vereinen, was er tut”, erklärte sie, „Er wirkt auf den ersten Blick harmlos und naiv, genau wie du sagtest, aber irgendetwas steckt in ihm.” „Mehr, als du ahnst. Du kennst sicher schon die ganzen pikanten Details seiner gestrigen Abenteuer?”, fragte Eravier mit einem schmalen Lächeln. Anya hob eine Augenbraue. „Da muss ich dich enttäuschen, bis auf deine Andeutungen habe ich nichts weiter gehört. Was hat er ausgefressen?”
Eravier lachte, nicht freundlich, sondern spöttisch. „Dann ist der neuste Klatsch diesmal noch nicht bis zu dir vorgedrungen? Kaum zu glauben, ich dachte auf Karvashs Schoß entgeht dir nichts.”
Halt die Klappe und spuck es aus, ätzte Anya in Gedanken, aber stattdessen lächelte sie zuckersüß und erklärte: „Ich war damit beschäftigt, ein paar sehr verschüchterten Herren den Kopf zu tätscheln. Gael war so weit ich weiß eher von Kelians Entsorgung beeindruckt. Also, was ist passiert?” 
Eravier kostete sein Wissen noch einen Moment aus, bis er eröffnete: „Nun, ich ging davon aus, dass ich dir eine kleine Jungfrau überlasse, aber falls es jemals der Fall war - er ist keine mehr.” Er lachte auf, als er Anyas überraschten Blick sah. „Ganz richtig, diese Hürde hat er ganz allein genommen, auch ohne deine fachkundige Hilfe. Lass dir bei Gelegenheit erzählen, wie er sie genommen hat. Es war eine Freude, zuzusehen.” 

Anya presste die Lippen aufeinander und sagte nichts dazu. Sie billigte Ansins voyeuristische Züge nicht, egal ob es um Gewalt oder Sex ging. „Das heißt, im Grunde habe ich nichts mehr zu tun. Gut für ihn, gut für mich, schätze ich”, versuchte sie das Thema zu wechseln,  aber Eravier schüttelte gönnerhaft den Kopf. „Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass er jetzt erst richtig anfängt. Und er scheint dich als sein Vorbild auserkoren zu haben. Du hast es sicher selbst bemerkt.”

Natürlich hatte sie das, das war eines der Dinge, die sie so überrascht hatten. Valion hatte sie imitiert, vermutlich in dem Versuch, Eravier zu gefallen, und er hatte sie gut getroffen. Sein Gang war etwas ungelenk, vermutlich, weil er mit viel weniger Körper arbeiten konnte, sein Lächeln etwas zu schmal, weil er nicht wagte zu übertreiben. Aber was sie am meisten erstaunt hatte war, dass es keine Verhöhnung war. Er hatte ihr Gebaren ausgeborgt, ohne sich darüber lustig zumachen, im Gegenteil, es war eine respektvolle Interpretation gewesen. 

Und das verwirrte sie. Sie hatte viel daran gesetzt, dass er sie nicht mochte, in der Hoffnung, dass sie nicht das tun musste, was Ansin von ihr erwartete: Den Jungen zu verführen und zu entjungfern. Egal, was Jungfräulichkeit für den Rest der Gesellschaft bedeutete, für einen guten Sklaven war sie bestenfalls ein Hindernis, das hatte ihr niemand lange erklären müssen. Niemand bezahlt Unsummen um eine verschüchterte graue Maus im Bett zu haben, von ein paar sadistischen Ausnahmen abgesehen. Valion brauchte Erfahrungen, sie waren wortwörtlich Gold wert. Und was lag für Eravier da näher als die erfahrenste seiner neuen Sklavinnen auf ihn anzusetzen? Sie konnte ihm schließlich eine Menge beibringen.
 
Nur, dass Anya das nicht wollte. Valion war ein hübscher Junge, aber eben doch ein Junge. Sie hatte vier Ehemänner begraben, und auch wenn sie jünger aussah, der Altersunterschied war ihr unheimlich. Außerdem erschien es ihr auch nicht richtig auszuwählen, wie oder mit wem Valion seine Erfahrungen sammeln sollte. Und deshalb hatte sie ihn sorgfältig, aber unauffällig gegen sich aufgebracht. Ansin konnte sie kaum dafür bestrafen, dass Valion sich nicht auf sie einließ. Sie hatte gehofft, ein paar gezielte Gemeinheiten würden den Jungen schnell und nachhaltig davon abhalten, ihre Nähe zu suchen.
Aber da hatte sie sich geirrt. Der Junge war nicht blind für ihre körperlichen Reize, und er schien sich strikt zu weigern, sie zu hassen. Himmel, sie hatte ihm einen Eimer kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, als er wehrlos und todtraurig war. Er war vorsichtig in ihrer Nähe, als wäre sie eine giftige Schlange, die jeden Moment zubeißen konnte, aber gleichzeitig schien er immer wieder mit sich zu hadern und zu versuchen, sich Respekt für sie abzuringen. Und in dem Moment, in dem sie versucht hatte sich aus der Affäre zu ziehen, war er eingesprungen und hatte versucht zu helfen. Sie begann, ihn zu mögen.

Aber das durfte Ansin nicht erfahren. Er sollte nicht das Gefühl haben, dass sie Fortschritte mit Valion machte, deshalb sagte sie kalt und desinteressiert: „Ja, er hat versucht mich zu imitieren, es war ein ziemlich billiger Abklatsch. Ich hatte eher das Gefühl, dass er mich damit ärgern wollte. Ich meine, ich gebe natürlich nach wie vor mein Bestes, vielleicht entwickelt er sich. Aber ich habe das Gefühl, dass er immer noch denkt, ihn würde das alles hier nicht betreffen. Anscheinend erwartet er eine Sonderbehandlung. Vielleicht würde es ihm gut tun, eine Weile bei den niederen Sklaven zu bleiben, damit er weiß, wieviel Glück er hat.”
„Kommt überhaupt nicht in Frage”, sagte Ansin kalt, und in seinem Tonfall hörte Anya die leise Warnung, dass sie genau darüber nachdenken sollte, was sie über seinen neusten Erwerb sagte. Plötzlich war sie alarmiert, und ihr Magen krampfte sich zusammen. Eravier verteidigte niemand, ausgenommen seine Lieblinge. Oh Gott, der arme Junge; er gefiel Ansin.

„Er wird sich fangen und bald lernen, was er zu tun hat. Er ist auf dem richtigen Weg, das spüre ich”, erklärte Ansin weiter, und in seinen Augen zeigte sich ein Funken Zuneigung, der Anya schaudern ließ. „Er ist ein wirklich in jeder Hinsicht eine Ausnahme. Als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich, dass er schwer zu zähmen sein wird, und ich habe fest damit gerechnet, dass er irgendwann versuchen wird auszubrechen.” 
Anya lachte nervös. „Mag sein, aber du kannst unmöglich damit gerechnet haben, dass die Rebellen ihn mitnehmen wollen.” Ansin zuckte mit den Achseln, und mit einer Arroganz und Selbstüberschätzung, die Anya kaum glauben wollte, sagte er: „Und trotzdem stehe ich am Ende als Gewinner da. In gewissem Sinne hat mir diese kleine Ratte einen Dienst erwiesen - dank ihm ist Valions Kampfgeist gebrochen. Er will nicht mehr entkommen, nur noch überleben, und er wird alles dafür tun. Und seine Erfahrung mit dieser kleinen Missgeburt hat ihn auch von dem Wunsch kuriert, sich dem Rebellenpack anzuschließen.” „Denkst du, das hatte er vor?”, fragte Anya so ungläubig wie sie konnte, um mehr aus ihm heraus zu holen. 

Sie war gespannt, was jetzt kommen würde, und sie war froh, dass Ansin wie so viele Männer oft einfach nur in ihrem Beisein sprach, statt mit ihr. Er ordnete nur seine Gedanken und benutzte sie als Zuhörer und Stichwortgeber für seinen Monolog. Zu dumm, dass er dabei seine Erkenntnisse verriet, ohne sich dessen völlig bewusst zu sein. „Ich denke, dass er früher schon Kontakt zur Rebellion hatte, aber nicht wusste, was ihm bevor steht”, sinnierte Ansin, „Er ist zu naiv und gutherzig, um sich tatsächlich einer Bande gewalttätiger Aufständischer anzuschließen, und er hat mit eigenen Augen gesehen, wozu sie fähig sind.”

Für einen Moment war sein Gesicht nicht mehr spöttisch, sondern nachdenklich, als er sagte: „Die Vorstellung, dass tatsächlich jemand sterben könnte, war für ihn unerträglich… Man könnte fast meinen, er hätte so etwas wie ein gutes Herz.” Er lachte, als er das sagte, aber es klang falsch… als müsse er sich zwingen, das als absurd abzutun.
Fast als wollte er seine Unsicherheit überspielen fuhr er schnell fort: „Seine kleine Flucht hat ihm Angst eingejagt, und dass Tarn ihn zurück gepfiffen hat, hat ihn ebenfalls beeindruckt. Er hat vermutlich erwartet, dass sein »Freund« ihn einfach so laufen lassen würde. Er ahnt ja nicht, wem Tarns Loyalität gehört. Oder der ganze Rest von ihm”, sagte er. Das Wissen um diesen Umstand schien ihm seine Sicherheit zurück zu geben, denn er lächelte mit einem Ausdruck, den Anya nur als sadistische Freude beschreiben konnte.

Sie hatte früh begriffen, dass Tarn mehr war als nur Eraviers Schatten. Er war sein persönlicher Sklave und Diener, aber etwas an Ansins instabiler, irrationaler Zuneigung reichte in seinem Fall noch tiefer. Sie hätte es Liebe genannt, aber dazu war seine Zuwendung zu selbstsüchtig und besitzergreifend. Besessenheit traf es eher. 

Es war für sie umso unbegreiflicher, weil sie Tarn nur als gedankenvollen, stillen und freundlichen Mann kennengelernt hatte. Sie konnte nicht umhin, sich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen, und sie kannte nur eine Hand voll Leute, die ihm feindselig begegneten. Hätte Ansin ihn nicht aus persönlichen Gründen immer in seiner Nähe behalten, er hätte ihn vermutlich trotzdem zu seinem Stellvertreter und rechter Hand auserkoren. Tarn war für jeden offensichtlich die Barriere zwischen Ansins Wahnsinn und dem Rest der Welt, und die meisten hörten schon deshalb auf ihn, weil er fürsorglich, umgänglich und ein guter Arzt war. Das war vermutlich auch der Grund, warum Ansin ihn von Anfang an darauf angesetzt hatte, Valions Vertrauen zu gewinnen.

„Es war eine gute Idee, die beiden in Kontakt zu bringen. Tarn und den Jungen, meine ich. Er ist für ihn sicher wie ein Vaterersatz”, plauderte sie weiter. Schmeichelei schadete niemals, und ein Gespräch mit Ansin zu führen bedeutete generell, alle unangenehmen Themen zu umschiffen. Selbst die Andeutung, die er fallen ließ, bewirkten, dass sie sich nach einem heißen Bad sehnte. Es war ratsamer, das Gespräch in seichte Gewässer zu steuern, so wie jetzt, als Ansin eher gelangweilt zustimmte: „Es war vorherzusehen. Tarn hat mich in dieser Beziehung noch nie enttäuscht; jeder vertraut ihm.” Anya machte einen letzten Versuch, ihre Aufgabe abzuwälzen, als sie betont harmlos sagte: „Nun, wenn Tarn doch so großen Einfluss auf ihn hat und der Junge vielleicht gar kein Interesse an Frauen hat, wäre es da nicht einfacher wenn er-”
Ansin wandte sich zu ihr, und jetzt sah er ungeduldig und reizbar aus. „Bist du wirklich so dumm, oder willst du mich nur reizen, Weib? Du hast Einfluss auf ihn, nutze ihn gefälligst.” Er erhob sich, ging auf sie zu und legte seine Hände auf ihre Schultern. Sie zuckte reflexartig zusammen; sie hatte fast damit gerechnet, dass er sie jetzt schlagen würde. Das hatte er noch nie getan. Aber es war nur eine Frage der Zeit, darüber machte sie sich keine Illusionen. 

Doch so schnell, wie er zornig geworden war, flaute seine Reizbarkeit wieder ab und wich Freundlichkeit gepaart mit zynischem Hohn. Er strich ihr durch das rote Haar und über die Wange und sagte: „Tu, was du am besten kannst, mein Schatz. Sei eine gute Hure und bring ihm bei, wie man seine Hemmungen verliert. Wenn du es nicht selbst tun willst, finde jemand, der es tut. Bis wir Luteija erreichen will ich, dass er auf oder unter mindestens einer weiteren Person gelegen hat, Geschlecht und Alter sind mir egal.” „Und wenn er nicht-”, wollte Anya fragen, und sie konnte das Zittern nicht ganz aus ihrer Stimme vertreiben. „Dann wirst du das bereuen”, antwortete Ansin ihr kalt und stieß sie grob von sich. Sie stolperte einen Schritt zurück und fing sich mit klopfendem Herzen. Seine Geduld war für heute aufgebraucht, eindeutig, und sie dankte dem Himmel, dass er sie mit den Worten „Du weißt was du zu tun hast, also verschwinde.” hinaus schickte.

Anya verließ den Wagen vergnügt, mit schwingenden Hüften und einem Lächeln, und sie behielt es bei, bis sie sicher war, dass die Wächter vor dem Wagen tatsächlich verschwunden waren. Als sie sich überzeugt hatte, dass ihr keine neugierigen Blicke folgten, sackte sie zusammen, und das immer gleiche Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. 
Für einen Moment verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und atmete tief ein und aus. Lächle, mein Schatz, sagte ihre Mutter sanft in ihren Gedanken, die leichtfertig vergossenen Tränen einer Frau sind für ihren Mann nicht von Belang, sie verärgern ihn nur. Ja, das wusste sie, aber Gott, es war so schwer. Sie schämte sich nicht für das, was sie tat und wer sie jetzt war, aber Ansin brachte es fertig, dass sie sich schmutzig fühlte. Benutzbar, austauschbar, kaum menschlich, mehr Werkzeug als alles andere.

Einatmen. Ausatmen. Es half. Es half ihr immer. Es lag nicht an ihr, sie war nicht verblendet oder naiv. Sie war mit dem, was sie tat, immer noch im Einklang, und jeder, der wollte, dass sie sich dafür im Unrecht fühlte, war das wahre Problem. Manche von ihnen hassten alles, was sie nicht verstanden oder nachvollziehen konnten. Aber manche von ihnen versuchten auch einfach nur sie zu verletzen, so wie Ansin. 

Hätte sie gewusst wie er war, als er ihren Vertrag aufsetzte, sie hätte niemals unterzeichnet. Aber damals hatte er die Hand gehoben und bewundernd über ihr langes, rotes Haar gestrichen. Obwohl sie erschrocken und irgendwie abgestoßen davon war, dass er sie berührte ohne sie jemals um Erlaubnis gefragt zu haben, hatte es ihr Herz bewegt. „So schönes Haar. Rot ist die Farbe der Könige”, hatte er schmeichelnd gesagt, und für einen Moment hatte sie an ihren Ehemann gedacht. 
Ihren ersten, und in ihrem Herzen auch der einzige. Auch er hatte so liebevoll, so voller Bewunderung, über ihr Haar gestrichen. Er hatte sie oft seinen rothaarigen Engel genannt. Damals, vor langer Zeit, jung und vollgestopft bis oben hin mit den Benimmregeln ihrer Mutter und den Erwartungen an ihren Stand, hatte sie schüchtern das Haupt gesenkt und ihren Ehemann dankbar angelächelt, und das Wunderbare war: Er war davon verzaubert gewesen. Sie hatte ihn so unglaublich, so unverhofft, so bedingungslos geliebt, dass es sie erschrak, und es hallte noch in ihr nach, als er schon lange begraben war.

Und nur deshalb hatte sie ausgerechnet Ansins Vertrag unterschrieben, wegen einer sentimentalen Erinnerung, und es war eine Fehlentscheidung gewesen. Eravier hatte ihr vom ersten Moment an klar gemacht, dass er sie nicht nur besitzen, sondern auch mit ihr schlafen wollte, und sie hatte gezögert. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie der Vorschlag nicht einmal abgestoßen, sie wollte nur das Für und Wider abwägen. Doch allein der Gedanke, dass sie ihn ablehnen könnte, hatte Ansins Zorn geweckt. Er hatte sie angesehen, kalt, herzlos, und gefragt: „Glaubst du, dass eine einfache Hure wie du noch eine Wahl hat?”
Vielleicht war es gut so. Sie hatte sich keiner Illusion hingegeben, dass er sie jemals respektieren würde. Und ein eiserner Teil ihrer selbst, der bis zu diesem Zeitpunkt nur hin und wieder zum Vorschein gekommen war, war in diesem Moment vollends erwacht. Sie hatte ihn spöttisch angesehen und geantwortet: „Solange sich die Männer darum reißen, dieser Hure zu Füßen liegen, tut und lässt sie, was sie will.” Und das hatte sie seitdem getan.

Aber tief in ihrem Inneren, ob eisenhart oder nicht, würde es immer einen verletzlichen Kern geben. Und deshalb konnte und wollte sie sich nicht sofort in das Menschengetümmel stürzen, die Blicke ertragen, die immer auf ihr lagen. Sie brauchte einen Moment, um sich zu besinnen. 

Langsam, nachdenklich entfernte sie sich ein Stück von Eraviers Wagen, in Richtung des Weidelandes, und überblickte es. 

Die Weite der Wiesen und Felder war jetzt, kurz vor der Mittagszeit, wirklich hübsch anzusehen. Der Himmel war aufgeklahrt, die Sonne strahlte, und der Wind, der am Vorabend noch so eisig gewesen war, bewegte nun das lange Gras auf dem Weideland und ließ es tanzen. Große Wolken zogen wie dicke weiße Schafe über den Himmel, und Anya versuchte, Formen in ihnen zu erkennen, das heiterte sie immer auf. Während sie ein Schiff und einen großen, schlappohrigen Hundekopf entdeckte, verlor sie die kalte, unfreundliche Welt für einen Moment aus dem Blick.

„So nachdenklich, mein Herz?”, fragte plötzlich eine schmeichelnde Männerstimme an ihrem Ohr. Anya zuckte leicht zusammen, aber im nächsten Moment erkannte sie, wer ihr einen Besuch abstattete. Es kostete sie Überwindung, sich nicht reflexartig um zu drehen, aber das war eine der Grundregeln, die sie schon ganz zu Anfang von Fourmi erhalten hatte - keine Namen, keine Gesichter. Stattdessen entspannte sie sich, das Gesicht weiterhin aufs Weideland gerichtet.
„Du bist spät dran, ich habe dich schon gestern Abend erwartet”, ärgerte sie ihn. „Es gab einige kleinere Zwischenfälle”, erklärte Fourmi, und Anya lachte auf. „Ich wusste ja, dass ihr Rebellen hart im Nehmen seid, aber dass du mir deinen gebrochenen Arm als kleinen Zwischenfall verkaufen willst, ist ein wenig übertrieben, meinst du nicht? Dass du überhaupt die Dreistigkeit besitzt direkt hier aufzutauchen…”, sagte sie und gestikulierte vage in Richtung von Eraviers Quartier. Sie standen hier immerhin in Rufweite, und kurz überlegte Anya, ob sie das irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen konnte, doch Fourmi war so entspannt und selbstsicher wie immer.

„Wäre die Dame etwas aufmerksamer gewesen, hätte sie vielleicht bemerkt, dass Eravier seit geraumer Zeit gegangen ist”, erklärte er mit vager Erheiterung in der Stimme, und Anya zuckte mit den Schultern. Sie hatte anscheinend die Zeit vergessen, während sie sich beruhigt hatte. „Ist er das? Umso besser. Aber lass mich raten, du bist bestimmt nicht wegen mir hier. Du willst Informationen”, vermutete sie und wollte sich zu ihm umdrehen, doch er hielt sie fest. 
„Nana, wer wird denn”, sagte er tadelnd, und Anya seufzte. „Verzeihung, ich vergesse immer wieder, dass ich dein Gesicht nicht sehen darf”, sagte sie unschuldig und nahm sich vor, ihn beim nächsten Mal zu erwischen. Nur weil es Grundregeln gab hieß es nicht, dass sie sie nicht biegen und beugen würde, wie es ihr passte. Vermutlich würde es ihr letztendlich nichts nützen, wenn sie seine Identität erfuhr, aber sie hätte das Wissen trotzdem gern in der Hinterhand gehabt, schließlich war sie keine Rebellin und auch keine Spionin. Sie hielt sich nur alle Möglichkeiten offen.

Auch deshalb fuhr sie jetzt geschäftsmäßig fort: „Also, Informationen. Soll ich dir einen kurzen Abriss der letzten zwei Stunden geben?” „Ehrlich gesagt habe ich bereits mitgehört, also brauchst du mir nichts zu erklären”, antwortete er, und vages Missfallen sprach aus seiner Stimme, als er sagte: „Nicht dass es mir ein Vergnügen war. Es ist mir unbegreiflich, warum du ausgerechnet auf seine Annäherungen eingehst.”
Anya rollte mit den Augen und ärgerte sich gleichzeitig, dass Fourmi das nicht sehen konnte. Er war einer dieser Menschen - er glaubte, ihre Gründe zu kennen, und bildete sich ungefragt ein Urteil über sie. Vielleicht war das als Spion seine Aufgabe, aber er sollte sie nicht mit seiner Meinung behelligen. Zynisch antwortete sie: „Ausgerechnet? Ich enttäusche dich ungern, aber ein schlechter Charakter macht da keinen Unterschied. Du würdest dich wundern, wie gleich Männer sind, wenn man die Augen schließt. Sie haben fast alle zehn Finger und erstaunlich oft genau einen-” „Schon gut, lassen wir das”, unterbrach Fourmi sie unwirsch, und Anya verbiss sich das Lachen und schämte sich gleichzeitig ein wenig für ihre Vulgarität, aber nicht genug, um es sich anmerken zu lassen. Er hatte seine rüde Antwort verdient.

„Wenn du nicht hier bist, um über Annäherungen zu reden, warum störst du mich dann?”, fuhr sie fort, und Fourmi seufzte. „Sind wir heute wieder schnippisch. Ehrlich gesagt habe ich eine Bitte, oder sagen wir, einen Handel. Er betrifft Valion.”
„Ich habe es befürchtet”, sagte Anya unwillig. „Hör zu, ich weiß, dass er erst einmal unbehelligt bleiben sollte, und um unsere… Freundschaft aufrecht zu erhalten, und weil ich wirklich kein Interesse daran habe, habe ich ihn wie du wolltest von mir ferngehalten und Ansins Befehle nicht befolgt. Aber es wird immer schwieriger den Jungen von allem auszuschließen, und er ist klug genug zu wissen, dass er sich nicht ewig widersetzen kann. Er ist berechtigterweise daran interessiert, nicht mit durchgeschnittener Kehle am Wegesrand zu verenden. Wenn ihr seiner Mutter etwas schuldet, dann solltet ihr euch beeilen, ihn heraus zu holen. Denn andernfalls wird er bald ein Sklave werden - mit allem, was dazu gehört.” 
„Ja, das ist mir auch bewusst”, sagte Fourmi grimmig. „Ich dachte wir hätten Zeit, um unsere Schritte zu überdenken, wir haben schließlich nicht nur ein Eisen im Feuer. Aber die letzte Nacht hat uns einiges gekostet - Tarn hat sich als illoyal erwiesen, der Junge als rebellisch, und Eravier ist nun endgültig auf unseren Fersen. Über kurz oder lang wird er jemand finden, der uns verrät, und dann müssen wir von vorn beginnen.”

„Das klingt wirklich übel”, stimmte Anya zu, „aber was hat das mit mir zu tun? Ich erinnere dich ungern daran, aber ich habe mit eurem Freiheitskampf wenig zu tun.” Fourmi seufzte erneut. „Deshalb kommst du hier ins Spiel. Uns bleibt nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen. Der Junge will mehr über die Rebellion erfahren? Schön. Wir machen ihn zu einem vollwertigen Spion, und wir fangen jetzt an. Du machst ihn zum Sklaven, und ich mache ihn zum Kämpfer.”

Anya schwieg verdattert, und als sie ihre Sprache wiederfand, war das erste, was aus ihr heraus platzte: „Das ist dein genialer Plan? Hast du getrunken?!” Fourmi lachte an ihrem Ohr, aber Anya war nicht nach Lachen zumute. „Was soll das überhaupt bringen? Was erhoffst du dir davon?”, fragte sie ärgerlich. 
„Ich weiß, es ist gewagt, aber du hast Eravier selbst gehört. Er geht nicht davon aus, dass Valion sich uns jemals anschließen würde. Er ist neben Tarn der einzige, der auch in Zukunft sicher sein wird, und Tarn können wir nicht mehr trauen. Er wird den Mund halten, aber wir halten uns von ihm fern. Die anderen sind alle in Gefahr. Wir lösen uns auf und gruppieren uns neu. Valion und du, ihr werdet unsere letzten Informanten in Eraviers Nähe sein, bis wir unauffällig neue Verbündete bei ihm einschleusen können.”

Anya atmete frustriert aus. Das war ein Plan, aber er gefiel ihr nicht. „Dir ist klar, dass du darauf baust, dass ich bei diesem Irrsinn mitmache?”, fragte sie wütend. „Was erhalte ich für dieses kleine Spiel als Gegenleistung, abgesehen vom Risiko, als Rebellin, die ich nicht bin, ermordet zu werden?!” „Einen Käufer, wie du ihn dir wünschst”, antwortete Fourmi knapp.
 
Es erzielte eine deutliche Wirkung. „Das ist kein Witz?”, fragte Anya tonlos, nachdem sie einen Moment in Stille verharrt hatte. „Es ist keiner. Ich habe meine Verbindungen spielen lassen. Wir haben einen Graf, der sehnsüchtig eine erfahrene, verführerische Frau wünscht. Er ist etwas älter, aber das spielt für dich keine Rolle, oder?” „Ist er reich? Hat er Einfluss?”, fragte Anya, immer noch unbewegt, aber es war spürbar, dass es unter ihrer Oberfläche brodelte. „Bin ich sicher bei ihm?” „Sehr sicher”, sagte Fourmi beruhigend. „Zumindest so lange er lebt, und ich gebe ihm mindestens noch zehn Jahre. Er ist ein Unterstützer, aber kein offener Mitstreiter. Nur ein gesitteter, heimlicher Geldgeber.” Noch einmal wurde Anya still.

Sie suchte in ihrem Herzen nach allen Skrupeln, die sie finden konnte, aber es reichte nicht. Sie war durch die Hölle gegangen, und hier war ihr Ausweg. Weg von Eravier, zurück in das standesgemäße Leben, das sie gewohnt war. Das ihr zustand. Sie würde vermutlich nur eine Mätresse sein, aber es gab Schlimmeres. Ungewissheit zum Beispiel. Schläge. Die vage Möglichkeit, dass sie lange würde warten müssen, bis Eravier sie weiter verkaufte, und das Wissen, dass er viel zu instabil war um nicht doch irgendwann auch auf sie loszugehen. Je länger sie wartete, desto größer wurde die Gefahr für sie.
Und sie musste ja nicht grausam sein. Sie konnte einfühlsam vorgehen, den Jungen behutsam heranführen. Sie musste ihn schließlich nicht quälen oder ihm etwas antun, sie musste ihn nur zu dem machen, was sie selbst war. Wenn er es wollte. Aber würde er das?

„Was ist mit dem Jungen? Was, wenn er ablehnt?” Fourmi schnaubte belustigt an ihrem Ohr, und plötzlich wurde ihr kalt. „Ihr zwingt ihn, oder?”, fragte sie, und sie brauchte die Antwort nicht zu hören um zu wissen, dass es die Wahrheit war. „Wir haben etwas, das ihm viel bedeutet”, stimmte Fourmi zu. Er klang völlig ruhig.

Wo ist Jan? Ist er entkommen?
Kummer und Mitleid schnürten Anya die Luft ab, als sie sich an die von Tränen halb erstickte Frage erinnerte. Das war nicht richtig. Dieser Schachzug war so bestialisch, dass er von Eravier hätte stammen können. Sicher, Valion hatte die Rebellion offen gelegt, ohne es zu wissen. Er war nur ein Junge, ohne Orientierungspunkt, ohne Bewusstsein, welche weitreichenden Folgen sein Handeln hatte. Es war nicht gerecht, dass das einzig Gute, was er in diesen Tagen seit seiner Gefangennahme erfahren hatte, gegen ihn verwendet werden würde.

„Das könnt ihr nicht machen”, sagte sie mit rauer Stimme, aber Fourmi schmetterte es ab. „Lass uns eines klar stellen, ich sehe keine andere Option. Es wird so geschehen, ob es dir passt oder nicht”, sagte er kalt. „Du kannst uns helfen, oder sehen, wo du bleibst. Immerhin hast du es selbst gesagt: Du bist keine Rebellin. Du schuldest uns nichts. Aber wir schulden dir auch nichts.”

Und darauf lief es letztendlich hinaus, nicht wahr? Am Ende des Tages waren sie nur widerwillige Verbündete, und das war vielleicht die beste Möglichkeit, die sie hatte. 
„Also gut”, sagte sie leise und verschränkte die Arme. „Es kommt mir zwar vor, als würde ich den Teufel mit dem Belzebub austreiben, aber ich werde es tun. Gib mir etwas Zeit. Was ist mit dir? Ich schätze du wirst das sinkende Schiff als letzter verlassen?” „Richtig, ich werde alle Hände voll zu tun haben, den Jungen auf den Weg zu bringen. Es ist gefährlich, aber nicht unmöglich. Aber mach dich darauf gefasst, dass in nächster Zeit ein paar Leute spurlos verschwinden werden.” Anya seufzte unbehaglich. „Es wird eine gefährliche Zeit werden, oder?”, fragte sie, aber Fourmi widersprach ihr.
„Sorge dich nicht. Für dich wird alles weiterhin so einfach und sicher bleiben, wie es war. Du hältst immerhin jetzt schon alle Fäden in der Hand. Ich bezweifle, dass jemand anders außer Tarn eine ähnlich sichere Position hat.”

Nein, mein Lieber, ich halte nur ein paar Schwänze in der Hand, und das ist nicht das selbe, dachte sie rüde, und wieder zuckte ihr Mundwinkel verräterisch. Ein verzweifeltes Lachen wollte sich Bahn brechen, aber sie rang es nieder. Ihre Mutter im Himmel, wenn sie wirklich auf sie herab sah und all ihre Gedanken hörte, schnappte vermutlich gerade nach Luft wie ein Karpfen. Aber ihr eisenharter Kern ließ sich davon nicht mehr beeindrucken. 
„Du hast wohl Recht”, sagte sie diplomatisch, aber er hätte nicht falscher liegen können. Sie war eine Trophäe, ein Wertgegenstand. Männer kämpften vielleicht darum, Trophäen zu erringen. Aber sie zerschmetterten sie auch in Wut und Selbstüberschätzung, oder aus simplem Hass.

Ihre Antwort war nur Schweigen, und reflexartig drehte sie sich um. Niemand hielt sie davon ab.
Fourmi war verschwunden. 

„Dir auch noch einen schönen Tag, du durchtriebener Bastard”, sagte sie beleidigt und verschränkte unentschlossen die Arme. 
Sie hatte jetzt einen Auftrag. Himmel, welcher Verrücktheit hatte sie da nur zugestimmt? Das würde ein hartes Stück Arbeit werden. Ungebeten kamen ihr Ansins Worte in den Sinn. Diese Hürde hat er ganz allein genommen, auch ohne deine fachkundige Hilfe. Lass dir bei Gelegenheit erzählen, wie er sie genommen hat.
Ja, das war zumindest ein Anfang. Sie musste wissen, was ihren Schützling antrieb, zu wem er in der kurzen Zeit schon Kontakte geknüpft hatte. Wenn sie jemals an ihn heran kommen wollte, musste sie ihn als allererstes kennen lernen. Es war unwahrscheinlich, dass er in der kurzen Zeit viele Freunde gefunden hatte, aber sie brauchte nicht viele. Ihr genügte ein einziger.


Marceus seufzte. „Das ist eine ganze Menge zu verdauen”, sagte er bedrückt, und Valion nickte.
Sie saßen gemeinsam auf Valions neuem Lager in Anyas und Jadzias Quartier, das jetzt irgendwie auch seines war, Marceus im Schneidersitz, Valion selbst mit angezogenen Knien. Sie hatten keine der Laternen angezündet, sondern blieben im Halbdunkel, und das war Valion nur zu recht. Er wusste, dass es nur eine Illusion war, das die Möglichkeit belauscht zu werden immer noch bestand, aber im dämmrigen Licht, umgeben von den drapierten Stoffen, die allem den Anstrich einer Höhle gaben, fühlte er sich unbeobachtet und irgendwie sicher. Es war hell genug, dass er Marceus Gesicht sehen und seine Miene deuten konnte, aber dunkel genug, dass er sich ruhiger fühlte, und für den Moment hatten sie diesen Ort ganz für sich allein. Anya war vermutlich immer noch bei Eravier, und Jadzia hatte sich aus Höflichkeit sofort verabschiedet als sie gesehen hatte, wie aufgewühlt Valion war.

Als sie verschwunden war hatte Marceus Valion losgelassen, unsicher, was er tun sollte, und gefragt, ob Valion alles erzählen wollte, und der hatte nur stumm genickt. 

Er hatte erst gedacht, dass er trotz allem kein Wort heraus bringen würde, aber seit dem Moment, in dem sich Marceus ihm gegenüber gesetzt und ihn aufmerksam angesehen hatte, hatte er geredet. Es gab keine Reihenfolge, und zuerst war seine Erzählung wirr und stockend, aber er sprach einfach weiter, über alles, was ihm einfiel, alles, was geschehen war. 
Er wusste nicht, ob Marceus mit allem mitkam, aber er nickte immer wieder, runzelte die Stirn, und folgte konzentriert jedem seiner Worte. Auch das half Valion nach und nach, seine Gedanken zu sortieren, weniger in  seiner Erzählung hin und her zu springen. Aber egal, was er schilderte und wie er es mitteilte, geordnet oder völlig unsortiert, Marceus hörte sich alles an: wie Valion gebrandmarkt worden war, wie er Jan kennen gelernt hatte, alles über die Tage, die sie allein waren, und alles über ihre Flucht, bis zu dem Punkt, an dem Tarn und Eravier sie aufgehalten hatten. Seit Marceus erfahren hatte, wie es dazu gekommen war, dass Valion immer noch ein Gefangener war, hatte sich sein Gesicht mit jeder Minute verdüstert, aber er unterbrach Valion nicht.

Auch jetzt, nachdem Valion geendet hatte, schwieg er für einen Moment, als müsste er sich erst klar werden, was alles zu bedeuten hatte. 
„Was denkst du?”, fragte Valion schließlich zaghaft nach, und Marceus fuhr sich unruhig durchs Haare. „Ich begreife das alles nicht”, sagte er, und das stand ihm auch ins Gesicht geschrieben. Er schien genauso verwirrt von Tarns Handeln wie Valion, und obwohl das bedeutete, dass auch er keine Erklärung hatte, war es trotzdem irgendwie tröstlich. Es gab wenigstens noch jemand, der die Welt nicht mehr verstand.

„Weißt du, ich war wirklich der Überzeugung, dass Tarn euch helfen wollte. Ich bin vielleicht nicht so gut darin, andere einzuschätzen, aber er schien es ernst zu meinen. Ich hätte einfach misstrauischer sein müssen”, fuhr er wütend fort, und aus seiner Stimme sprachen Schuld und Selbstvorwürfe. „Du kannst nichts dafür”, versuchte Valion ihn zu beschwichtigen, aber Marceus schüttelte nur traurig den Kopf. Vermutlich dachte er gerade an die tausend Arten, auf die er das was geschehen war hätte verhindern können, und auch darin unterschied er sich nicht von Valion. „Ich hätte euch nicht einmal allein lassen dürfen! Stattdessen bin ich einfach zurück gegangen”, erklärte er. „Ich ging fest davon aus, dass ihr schon längst weg seid, bis dieser Kerl in Kapuze auftauchte-” 

Valion richtete sich so heftig auf, dass Marceus zusammen zuckte. „Wie sah er aus?”, fragte er ihn drängend, und Marceus antwortete nach einer irritierten Denkpause: „Ich weiß nicht, etwas kleiner als ich, etwas älter? Schmächtig, und er war verletzt, denke ich. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, er hat sich von hinten angeschlichen und er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, aber da er sagte er gehöre zur Rebellion, habe ich… es ist blöd, aber ich habe ihm einfach geglaubt. Wieso, wer ist der Kerl? Du kennst ihn?”
„Völlig egal, was hat er gesagt?!”, fragte Valion ungeduldig weiter, und fast tat es ihm Leid, dass seine unerwartete Heftigkeit Marceus so verwirrte, aber er hatte plötzlich eine Vorstellung davon, was hinter dieser völligen Wende in Tarns Verhalten steckte. Im Grunde brauchte er nicht einmal die Bestätigung; im Zusammenhang ergab es alles einen Sinn.

Marceus schwieg für einen Moment, vermutlich, um sich auch wirklich den genauen Wortlaut ins Gedächtnis zu rufen, dann sagte er stockend: „Er hat mich zuerst mit meinem Namen angesprochen, als würde er mich kennen, und dann sagte er… warte, lass mich nachdenken… dass du gefangen genommen wurdest, und dass Jan auf eigene Faust unterwegs ist, und dann hat er mir vorgegeben, was ich tun soll, damit du mit dem Leben davon kommst. Er wollte, dass ich mir die Worte präzise einpräge, alles, was ich sagen soll, und wie ich es sagen soll. Ich war zu verwirrt um-” Plötzlich unterbrach er sich und sah Valion direkt an. „Er hat nicht gesagt, dass du gefangen genommen wurdest, sondern dass du es wirst. Ich wusste, dass irgendetwas daran nicht stimmte, aber ich konnte es zuerst überhaupt nicht einordnen… Val? Was ist los?”

Valion hörte schon nicht mehr zu, er starrte konzentriert ins Leere. 
Das war es also. Sie hatten von Anfang an keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Er war nicht sicher, wie es dazu gekommen war, wer hier wen verriet, aber eines stand fest: Dieser unbekannte Spion hatte seinen Anteil daran, wenn nicht sogar die volle Verantwortung dafür. Hatte er Tarn manipuliert, ihn vielleicht gezwungen, in seinem Interesse zu handeln? Wenn ja, warum? Wer sprach hier eigentlich für die Rebellion, Tarn, oder dieser Spion, der zumindest von sich behauptete, ebenfalls ein Rebell zu sein? Waren sie nun verfeindet, oder machten sie am Ende doch gemeinsame Sache? Und wenn Tarn vielleicht nicht immer freiwillig mit der Rebellion kooperierte, was was war dann überhaupt sein Ziel?

Valions Kopf schmerzte. Das waren einfach zu viele Fragen, und er hatte nicht einmal die Hälfte der Antworten. Er hatte eine vage Ahnung, wie alles zustande gekommen war, aber er wusste immer noch nicht genug über diesen Spion, um eindeutig sagen zu können, wer er war und was er vorhatte. Und widerwillig musste er sich eingestehen, dass er auch Tarn nicht einschätzen konnte. Nicht wirklich. 
Er hatte noch nicht einmal begriffen, wie weit sein Einfluss überhaupt reichte und was ihn von  den anderen Dienern und Sklaven abhob. Alle hier schienen strikten Regeln unterworfen, vor allem die Sklaven, aber Tarn schien zu kommen und zu gehen, wie er es für richtig hielt. Wem legte er Rechenschaft ab? Vermutlich nur Eravier, und das war ein Widerspruch in sich. 
Auch wenn Eravier nicht komplett verrückt war, so war er doch nahe daran. Er hatte Jan nur mit einer Scherbe bewaffnet angegriffen, um ihm an Ort und Stelle die Kehle durchzuschneiden, und er kontrollierte jeden und alles um sich herum mit absoluter Wachsamkeit. Wie passte diese Rachsucht und dieser Verfolgungswahn zu der Art, wie er Tarn behandelte? Ich wusste doch, dass auf dich Verlass ist. Eravier hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass Tarn sein Verbündeter war, obwohl er als Mitglied der Rebellion schon mehr als einmal sein Misstrauen auf sich gezogen haben musste. Und Valion wurde klar, dass Tarn nie die Hand gegen Eravier erhoben hatte. Er hatte Jan nicht direkt aufgehalten, aber er hatte ihm auch nicht geholfen.

Valion bemerkte, dass Marceus ihn immer noch verwirrt und erwartungsvoll ansah, und er versuchte seine ausschweifenden Gedanken zu sortieren, obwohl es ihm schwer fiel. Letztendlich hatte er nur eine weitere Verbindung offen gelegt, und es gab nur zwei Dinge, die er sicher wusste: Erstens, dass er endlich herausfinden musste, wer dieser Spion war und ob er tatsächlich für die Rebellion sprach oder nicht. Und zweitens, dass er Tarn nicht einfach verzieh, egal ob er die Flucht freiwillig oder gezwungen sabotiert hatte.
Valion fühlte immer noch die selbe Wut, die bittere Enttäuschung. Tarn hätte ihm die Wahrheit sagen können. Was auch immer geschehen war, selbst wenn er selbst unter Druck gesetzt oder manipuliert worden war, sie hätten gemeinsam eine Lösung finden können. Stattdessen hatte er über seinen Kopf hinweg entschieden, was geschehen sollte, wie über ein Kind, als wüsste er am besten, was das Richtige war.

Unwillig schob er alles beiseite und sah Marceus an. „Tut mir Leid, ich habe nachgedacht. Und ein paar Dinge sind mir klar geworden.” „Anscheinend nichts Gutes”, sagte Marceus bedrückt, und Valion nickte. Er zögerte einen Moment, aber dann wurde ihm klar, dass er Marceus vertraute. Was auch geschehen war, Marceus hatte Tarn ebenfalls vertraut und war auch genauso betrogen worden. Er hatte eine Erklärung verdient, und er war vermutlich der Einzige, der Valions Gefühle ansatzweise nachvollziehen konnte. 
„Der Spion, den du gesehen hast…”, setzte er an, „Ich kenne ihn. Er ist mir schon mehrmals über den Weg gelaufen, und er hat mich auch bedroht. Ich bin nicht sicher, aber es könnte sein, dass er nicht auf unserer Seite ist. Also auf meiner zumindest”, fügte er sicherheitshalber hinzu, aber davon wollte Marceus überhaupt nichts hören. 

„Wenn er nicht auf deiner Seite ist, ist er auch nicht auf meiner”, sagte er grimmig, und Valion wusste im ersten Moment gar nicht, wie er mit der unerwarteten Loyalität umgehen sollte. Zum Glück musste er nichts sagen, weil Marceus ernst fort fuhr: „Wenn er tatsächlich etwas gegen dich hat, kann es wirklich sein, dass er deine Flucht sabotiert hat. Vielleicht machen er und Tarn gemeinsame Sache. Und ich habe ihnen auch noch geholfen, ich Vollidiot” fluchte Marceus und ballte die Hände zu Fäusten, aber Valion schüttelte den Kopf. Er wollte nicht, dass Marceus sich die Schuld dafür gab. „Du hättest es nicht ändern können, selbst wenn du gewusst hättest, was er vorhatte.” „Wir müssen in Zukunft aufpassen, wem wir trauen. Ich werde am besten mit Jefrem reden, wenn ich ihn irgendwie allein erwische.” Er schien Valions Gedanken zu erraten, weil er hinzufügte: „Tarn und Jefrem sind befreundet, ja, aber Jefrem hat seinen eigenen Kopf, und er mag dich. Wenn er spitz kriegt, dass du hereingelegt wurdest, und wer dafür verantwortlich ist, wird er den Teufel tun und das Tarn auf die Nase binden. Und wenn wir uns gegen die Rebellion stellen müssen, dann tun wir das eben. Jefrem war sowieso nie so begeistert von ihnen. Und Mischa, Viljo und Danilo sind auch noch da, und die halten zu uns. Am besten kommst du morgen einfach mit. Kurz vor Mittag wird es etwas ruhiger sein, und dann haben wir vielleicht eine Möglichkeit ungestört mit ihm zu reden.”

Valion hörte erstaunt zu, wie Marceus sein Vorhaben beschrieb, und ihm wurde klar, dass er ihn noch nicht wirklich kannte. Bei ihrem ersten Treffen war Marceus völlig ruhig, aber auch seltsam zurückhaltend gewesen, dann angespannt und nervös, als sie sich im Wald begegnet waren. Und gegenüber Jan hatte er eine beinahe feindselige Ader gezeigt. Doch jetzt war er voller Enthusiasmus, sprach und gestikulierte viel offener. Alles was er sagte schien immer noch wohl überlegt, und eine gewisse Ruhe wohnte allem inne was er tat, aber er wirkte auch viel zugänglicher, als Valion ihn bisher erlebt hatte. Als er geendet hatte blickte er erwartungsvoll, fast ungeduldig, und doch wartete er still ab, was Valion zu seinen Ideen sagen würde. Er war nicht nur ein guter Zuhörer, er war generell ein guter Gesprächspartner, und Valion musste lächeln. Wenn er sich vorher nicht sicher gewesen war, ob er Marceus wirklich mochte, jetzt war er es. Er hatte Glück gehabt, ihm zu begegnen, und er hätte sich in diesem Moment keinen besseren Freund wünschen können.

Aus einem Impuls heraus sagte er: „Ich bin froh, dass du da bist.” 
Es waren nur schlichte Worte, hinter denen eigentlich viel mehr stand als Valion auszudrücken vermochte, aber Marceus schien dennoch auf Anhieb zu begreifen. Er war einen Moment erstaunt, doch dann lächelte er ebenfalls. „Ich auch”, sagte er, obwohl er nach einer kurzen Denkpause hinzufügte: „Mir wäre zwar lieber, wenn du nicht hier sein müsstest, wenn du jetzt gern woanders wärst, aber…” „Ich weiß”, antwortete Valion leichthin. Für einen Moment schwiegen sie in stummen Einverständnis, und Marceus schien in seinem Gesicht zu forschen, bevor er auf einmal fragte: „Du vermisst ihn, oder? Du hast es nicht gesagt, aber…”

Das war ein Schlag in die Magengrube, und obwohl Valion sich schlagartig elend fühlte und seine Gesichtszüge ihm entglitten, war er irgendwie froh. Er konnte nur wortlos nicken, nichts sagen, und er kämpfte mit den Tränen, und trotzdem war es in Ordnung. 
In Sicherheit. Er war hier endlich in Sicherheit. Es gab keinen Eravier, vor dessen Wahnsinn er all seine Emotionen verstecken musste, und keinen Levin, der auf seine Schwäche lauerte, um ihn zu demütigen. Nicht einmal Verräter, die ihn in falscher Sicherheit wogen, um ihm in den Rücken zu fallen. Nur Marceus verständnisvollen Blick, und zumindest für diesen Moment gab er dem Schmerz nach.

Marceus ließ ihm Zeit, und auch das tat gut. Er war einfach da, wartete, beobachtete, immer bereit zuzuhören. „Du musst mich für eine ziemliche Heulsuse halten”, meinte Valion schließlich mit bitterem Humor, während er sich unwillig die Tränen aus den Augen wischte, aber er hätte Marceus nicht falscher einschätzen können. 
„Blödsinn”, sagte er nur, fast etwas ärgerlich, und als Valion ihn immer noch zweifelnd ansah, fuhr er von selbst fort: „Niemand wird einfach so ein Sklave, Val. Was denkst du, wieviel ich in meiner ersten Woche geheult habe? Oder als sie mich gebrandmarkt haben? Oder vorher, als sie mich erst gar nicht haben wollten? Und ich war schon sechszehn. Also sag nicht sowas.”

Valion nickte dankbar, obwohl er sich Marceus in Tränen aufgelöst überhaupt nicht vorstellen konnte, er war schließlich so ruhig wie niemand sonst den er kannte. Was vermutlich bedeutete, dass es wirklich eine Tortur war, die er hier durchstand, wenn es selbst Marceus aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Dennoch stutzte Valion und wiederholte Marceus Worte in seinem Geiste, bis ihm einfiel, was ihn so irritiert hatte: „Was soll das heißen, sie wollten dich nicht haben?”

„Das ist eine ziemlich blöde Geschichte”, meinte Marceus, und jetzt sah er zum ersten Mal verlegen aus. Valion wollte schon ablenken, aber auch diesmal fuhr Marceus nach einem Moment Bedenkzeit wie von selbst fort: „Du weißt ja, dass ich mich selbst entschieden habe Sklave zu werden. Aber ich wollte eigentlich kein Arbeitssklave werden. Ich weiß nicht einmal mehr, was ich mir damals vorgestellt habe, aber ich hatte auch noch nicht wirklich Ahnung, was das überhaupt beinhaltete. Na ja, letztendlich ist nicht viel daraus geworden, weil Eravier nur einen Blick auf mich geworfen und angewidert das Gesicht verzogen hat, aber im Nachhinein betrachtet war es vermutlich das Beste. So bin ich an Jefrem geraten, und das hat mir vermutlich einigen Ärger erspart.”

Valion hörte ihm ungläubig zu. Er musste einen ziemlich dämlichen Anblick bieten, weil Marceus tatsächlich schief grinste und fragte: „Was erstaunt dich jetzt daran so sehr?” 
Alles, dachte Valion, aber das erste was ihm in den Sinn kam war das, was aus ihm heraus platzte: „Warum angewidert? Was hat ihm nicht gefallen?”

Er konnte beim besten Willen keinen Makel an Marceus finden, selbst wenn er sich bemühte. Er war groß und kräftig, hatte ebenmäßige braune Haut, und sein kräftiges gelocktes Haar war genauso schön wie seine dunklen Augen. 
Marceus zuckte mit den Schultern und lachte nervös. „Warte, vielleicht bekomme ich es noch zusammen. Schlammfarbene Haut, stumpfe Augenfarbe, zu große Nase? Ich war ziemlich wütend, als er sofort abgelehnt hat, und als Antwort darauf er hat mich fein säuberlich auseinander genommen und mir vielleicht drei Dutzend Makel aufgezählt, die mich völlig unverkäuflich machen. Es war verdammt demütigend. Dann hat er mir geraten, es auf der Straße zu versuchen.” Er betrachtete Valions Gesichtsausdruck und lachte. „Du bist jetzt stellvertretend für mich wütend, oder?” 

Damit hatte er allerdings Recht, und obwohl es eigentlich lächerlich war, weckten Eraviers Worte, selbst Jahre später nacherzählt, in Valion die selbe Wut und den Ekel, als hätte er all seine Schmähungen vor seinen Augen Marceus ins Gesicht gesagt. 
Er konnte sich gut vorstellen, auf welche Art, mit welchem taxierenden Blick Eravier jeden Makel aufzählte, egal wie an den Haaren herbei gezogen oder oberflächlich er sein mochte. Er hatte diesen Blick selbst schon zu spüren bekommen, und im Grunde verdankte er es nur seinem Aussehen, dass er jetzt hier festsaß. Er hatte nichts verbrochen, nichts getan außer mit einem Gesicht geboren zu werden, das Eravier nach seinen eigenen kranken Maßstäben zusagte. Er fühlte Wut, und auch das fühlte sich gut an - offen wütend zu sein, seinen Zorn nicht zurück zu halten, selbst wenn es im Grunde nur eine von vielen Ungerechtigkeiten war.

„Was weiß er schon?”, fragte Valion wütend und ließ sich auch nicht davon abhalten, dass Marceus den Vorfall anscheinend schon lange abgeschrieben hatte und mit wesentlich mehr Gelassenheit betrachtete. „Was bildet er sich ein, wer er ist? Wie will er das beurteilen?” Marceus zuckte mit den Schultern, immer noch leise lächelnd. „Na ja, er ist immerhin Menschenhändler. Wenn er so viele Menschen sieht, vielleicht weiß er dann am besten, was schön ist und was nicht?” „Und mit diesem tiefgreifenden Wissen hat er ausgerechnet mich entführt? Schwachsinn!”, sagte Valion immer noch aufgebracht und schüttelte den Kopf. „Ich meine, schau mich an - gibt es irgendetwas Besonderes an mir?”

Es war eigentlich nur eine rhetorische Frage, aber Marceus legte den Kopf schief und betrachtete ihn eingehend, bevor er mit todernster Stimme sagte: „Abgesehen davon, dass du wie ein Mädchen aussiehst?”
Valion starrte ihn perplex an. Das wäre fast eine freundschaftliche Beleidigung auf Jans Niveau gewesen, nur, dass er hier nicht Jan vor sich hatte und Marceus es so ernst vorgetragen hatte, als würde er eine Tatsache beschreiben. Trotzdem zuckte sein Mundwinkel für einen Moment nach oben. „He, das klappt sogar. Du lachst”, stellte Marceus mit einem Lächeln fest. „Ich dachte mir, ich versuche es mal auf Jans Art”, beeilte er sich zu erklären, als Valion ihn weiterhin ansah, als sei er verrückt geworden, und plötzlich schien er überzeugt, alles falsch gemacht zu haben, weil er zu stammeln begann: „I-ich meine, er hat er dich, na ja, zum Lachen gebracht und ich dachte- also, vielleicht willst du aufgeheitert werden?”

„Du weißt schon, dass man Witze eigentlich nicht erklärt?”, fragte Valion immer noch perplex, weil er gar nicht wusste, was er sonst sagen sollte, und Marceus seufzte frustriert. „Ich weiß, ich kann das nicht so gut! Was denkst du, womit mich die anderen immer aufziehen? War es denn wirklich so schlimm?”, fragte er genervt, und Valion musste grinsen. „Furchtbar!”, bestätigte er, und Marceus grummelte beleidigt: „Ach sei still!”, aber er musste jetzt ebenfalls lachen, und Valion dachte gar nicht daran, aufzuhören. „Im Grunde war es das Gegenteil von einem Witz, was auch immer das ist.” „Ja, schon gut!” „Ich hätte ja gern gesagt, es wäre eine gute Beleidigung, aber das war es auch nicht. Au!” „Wirst du wohl endlich still sein?”, fragte Marceus, der nach seinem Kopfkissen gegriffen hatte, um ihn zu schlagen, und er grinste jetzt noch breiter. „Gib das zurück, das ist meins!”, befahl Valion und griff danach. 

Sie zerrten beide daran, und plötzlich balgten sie sich auf dem Boden, als wären sie wieder elf Jahre alt. Marceus hielt sich zuerst noch zurück, aber Valion war es gewohnt gegen eine gnadenlose, niederträchtige Neunjährige zu kämpfen, und er machte keine Gefangenen. Gleich als erstes griff er nach Marceus und versuchte ihm den Arm auf den Rücken zu drehen, nur dass er dem reflexartig auswich und stattdessen wieder mit dem Kissen zu schlug, und von da an wurde es ein unkontrolliertes Handgemenge. Alles wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass sie im Halbdunkel kaum etwas sahen und kaum Atem schöpfen konnte, weil sie wie verrückt lachten. Es war ein guter Kampf, und für eine Weile entschied Valion die Schlacht um das Kissen für sich, weil er erstaunlich kräftig zu treten und Marceus genau wie Arinda damit passabel auf Abstand halten konnte, aber als seine Beine müde wurden hatte er diesen Vorteil verspielt, und Marceus war im Gegensatz zu einem kleinen Mädchen ein beeindruckender Meister des Scheinangriffs. Während eines ausgeklügelten Frontalangriffs brachte er das Kissen in seinen Besitz.

Es war noch kein Sieger in Aussicht, als Marceus schließlich doch die Waffen streckte, los ließ und rief: „Gnade! Schon gut! Kannst es haben!” Er ließ sich einfach umfallen, und Valion grinste zufrieden. „Da siehst du’s, leg dich nicht mir an”, prustete er und tat es ihm dann gleich.

Schwer atmend lagen sie nebeneinander auf dem Rücken, während Valion sein wieder errungenes Kissen einen Moment betrachtete und dann von sich warf. Marceus lachte immer noch erstickt in sich hinein, bis er sagte: „Ich gebe es nicht gern zu, aber irgendwie hatte Jefrem doch Recht.” „Hm?”, fragte Valion angenehm erschöpft und pustete sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. „Er hat immer gesagt, dass ich mir Freunde in meinem Alter suchen sollte. Lag mir ständig damit in den Ohren, bis er es aufgegeben hat. Aber vielleicht hat er ja Recht, und ich habe was verpasst. So etwas wie das eben.” Er lachte leise, als er sagte: „Vielleicht könnte ich dann heute bessere Witze erzählen”, und Valion lachte und stöhnte danach, weil alle seine Bauchmuskeln protestierend ächzten. „Hör auf, ich kann nicht mehr”, sagte er gequält, aber gleichzeitig fühlte er sich so wohl wie lange nicht mehr. 
Er hatte sich gefühlt, als hätte er die ganze Zeit die Luft angehalten, bis seine Lungen brannten und sein Herzschlag in seinen Ohren dröhnte. Jetzt, da es vorbei war, wurde ihm bewusst, wie viel Angst er gehabt hatte. Er war unter Wasser gewesen, unfähig zu atmen, panisch, ohne zu wissen, wo die Oberfläche war und wo der Grund. Es war noch nicht vorbei, aber zumindest für diesen Moment konnte er den angehaltenen Atem entweichen lassen. 

Valion drehte sich erschöpft auf die Seite, hin zu Marceus, und der tat es ihm gleich. Sie sahen sich lange nur schweigend an.

Es gab keinen Moment, den Valion benennen konnte, an dem sich alles änderte. Vielleicht änderte sich auch gar nichts. Er spürte nur tiefe Vertrautheit. Es gab keine Fragen, keine Unsicherheit, sie waren nur nah beieinander. Freunde. 
Aber es gab noch mehr als das, ein Hauch von dem, was Valion gespürt hatte, als sie sich im Wald umarmt hatten. Das, was Jan so eifersüchtig gemacht hatte, obwohl es im Grunde fundamental anders war. Hätte Valion es beschreiben müssen, er hätte nicht von Liebe gesprochen. Gab es Freundschaft, die ihre Wurzeln tiefer streckte als nur bis unter die Haut? Die das Herz nicht traf, sondern nur umschloss? Weil es das war, was Valion fühlte. So nah bei Marceus, allein, unbeobachtet, ließ er das Gefühl zu, gab ihm Raum, und es kribbelte in seinen Fingerspitzen. Und er spürte es nicht allein. Sie konnten es im Gesicht des jeweils anderen lesen.

„Was denkst du?”, fragte Valion. Er wusste nicht, was er hoffen oder sich wünschen sollte. Dass seine Gefühle verschwanden, wenn er nicht daran dachte? Oder dass sie blieben und er erfuhr, was sie bedeuteten? „Ich weiß nicht”, sagte Marceus. Er schien genau so unentschlossen wie er, und wie immer sagte er nichts, das er nicht durchdacht hatte. „Ich bin gern bei dir. Ich bin gern dein Freund. Aber… das ist nicht alles, oder?”, fragte er schließlich. 

Es war als würden sie sich ihre Gedanken teilen, und gleichzeitig scheuten sie beide davor zurück, sie auszusprechen. „Nein”, antwortete Valion, und Marceus atmete seufzend aus. „Was machen wir daraus?”, fragte er, und Valion konnte nur mit den Schultern zucken. „Vielleicht geht es vorbei?”, schlug er stattdessen vor, und Marceus konnte nur mit dem Kopf schütteln. „Ich fürchte es hat noch nicht mal richtig angefangen.”

Er küsste Valion.
Es war ganz anders als mit Jan, nicht stürmisch oder aufpeitschend, sondern beruhigend, vertraut. Keine Fragen wohin, wo es anfing und ob es enden würde. Es dauerte an, so lange es dauerte. Keine Liebe, nur Freundschaft. Richtig und doch falsch.

„Valion, ich muss mit dir-”

Sie fuhren auseinander wie zwei ertappte Verbrecher. Anya, die ohne Bedenken oder Taktgefühl herein gestürmt gekommen war und übergangslos mit ihrem Satz begonnen hatte, starrte sie an, und sie starrten wie gelähmt zurück. Sie erfasste die Situation, oder das, was sie für die Situation hielt schneller als sie, und ihr Mundwinkel zuckte verräterisch nach oben.

Das wird sogar einfacher als gedacht.

„Schön zu sehen, dass du dich so schnell von deinem Verlust erholt hast.”

Im selben Moment, als Anya die Worte aussprach, verfluchte sie ihr dummes Mundwerk. War es zu spät, sich eigenhändig die Zunge heraus zu reißen? Sie hätte es gern versucht. 

Zum Teufel, das war nun wirklich nicht das, was sie hatte sagen wollen! Dabei hatte sie sich doch schon auf dem Weg hierher zurecht gelegt, wie sie vorgehen wollte, denn eines war klar: Nach ihrem holprigen ersten Zusammentreffen würde es schwerer sein an den Jungen heran zu kommen als je zuvor. Hätte sie von Anfang an gewusst, dass Fourmi seine Meinung ändern würde, hätte sie Valion nicht so eingeschüchtert. Und jetzt war ihr ungewollt etwas derartig Patziges heraus gerutscht.

Was sie sagte hatte eigentlich vage ermutigend klingen sollen, mit einem Hauch Verständnis. Es war schließlich gut, dass er schnell über seinen Freund hinweg kam. Himmel, er war jung, war es in diesem Alter nicht normal, schnell Zuneigung zu fassen und genauso schnell alles Alte zu vergessen? Und war es nicht besser für ihn selbst, wenn er sich nicht zu sehr damit quälte?
Aber aus ihren Mund klangen die Worte nicht freundlich, sondern wie ein Vorwurf. Schlimmer noch, es klang wie etwas, das Ansin gesagt hätte, spöttisch und vorverurteilend. Sie hatte Gelassenheit zeigen wollen, aber das Endergebnis glich eher einem Schlag ins Gesicht.

Die beiden starrten sie wie versteinert an, erschrocken durch ihr plötzliches Auftauchen und vermutlich eingeschüchtert durch ihre Worte. Valion hielt sich besser als sein Freund, der kreidebleich wurde, aufsprang, sich wortlos an ihr vorbei drängte und davon stürmte. Für einen Moment starrten sowohl Anya als auch Valion ihm perplex hinterher, unfähig zu reagieren. Welchen Nerv auch immer Anya gerade bei ihm getroffen hatte, sie hatte ihn verletzt, und sie bedauerte es sofort. So abgebrüht und gemein war sie nicht, dass es ihr Freude bereitete jemand derartig vorzuführen.
Bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, sprang Valion auf um seinem Freund zu folgen, und sie hätte es fast nicht geschafft ihn noch zu erwischen, aber sie packte ihn am Ärmel, bevor er aus ihrer Reichweite war. „Valion-”, begann sie, und zuckte zurück, als er sie direkt ansah. Sie hatte Zorn erwartet, Ablehnung, aber sie sah tiefe Enttäuschung, und alles in ihr krümmte sich.

Warum machst du mir nur Kummer, Anya? Was soll nur aus dir werden? Ist es meine Schuld?

„Was habe ich dir eigentlich getan?!”, fragte er sie mit überschlagender Stimme, und sie beeilte sich zu widersprechen: „ Ich-”
Sie brach ab, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Was hatte sie gewollt? War sie unabsichtlich so hämisch gewesen, weil sie sich schon die ganze Zeit gezwungen hatte ihm ablehnend gegenüber zu stehen? Oder hatte sie so harsch reagiert, weil sie selbst aufgewühlt war? Sie hielt sich sonst nicht für ein Biest, aber jetzt war sie eines gewesen.
Wäre er nur wütend gewesen oder hätte sie angeschrien, dann wäre sie besser damit fertig geworden. Selbst Ansins starre, bedrohliche Augen waren einfacher zu ertragen als dieser enttäuschte Blick, der so tief an dem rührte, was sie ihr ganzes Leben verfolgt hatte. 
„Lass uns einfach in Ruhe”, sagte Valion bitter und schob sie zur Seite. Er war nicht einmal grob, im Gegenteil, es behagte ihm nicht sie zu berühren, und auch das traf sie hart. Ein dummer, irrationaler Teil ihrer Selbst protestierte dagegen, dass er derartig von ihr angewidert sein sollte, dass er sie nicht einmal verletzen wollte. Er entfernte sich rückwärts von ihr, als wollte er ihr nicht den Rücken zudrehen, und im nächsten Moment war er davon gestürmt, ohne ein weiteres Wort. Sie war plötzlich ganz allein mit sich selbst und ihren Gedanken.

Anya atmete zitternd aus. Verdammt, was hatte sie nur angerichtet? Unsicher fuhr sie sich durch das Haar und starrte für einen Moment auf die zerwühlte Decke auf Valions Lager. Wie hatte sie das wenige Vertrauen, das er zu ihr gefasst hatte, so schnell zerstören können?
Reiß doch zusammen, du Trauerkloß! Geh gefälligst da raus und mach das Beste daraus! schalt sie sich selbst, und das brachte ihr zumindest ein wenig ihrer Energie zurück. Sie würde nicht hier stehen und darauf warten, dass ihr der Himmel auf den Kopf fiel. Was machte es schon, wenn er sie hasste? Als ob sie das an irgendetwas hinderte. Wenn sie ihn nicht durch Freundlichkeit in die Arme des Nächstbesten schieben konnte, würde sie ihn eben mit ihrer scharfen Zunge dorthin flüchten lassen.

Energisch stapfte sie Valion hinterher und wollte gerade das Quartier verlassen, als sie in Jadzia hinein lief, die gerade zurück kehrte. Sie warf nur einen Blick in Anyas Gesicht und fragte ohne zu zögern: „Was ist denn passiert?”
Anya fühlte, wie ihre ganze verzweifelte Energie sie verließ, aber vielleicht war das gut so. Man konnte nicht immer hinaus stürmen und aus allem das Beste machen. Zwinge dich zur Langsamkeit war ein Lieblingsspruch ihrer Mutter. „Ich fürchte, ich habe alles falsch gemacht”, antwortete sie erschöpft.

Valion war verloren, bevor er überhaupt einen Plan fassen konnte, wohin er wollte. Anya hatte ihn davon abgehalten Marceus sofort nachzulaufen, und jetzt hatte er ihn nicht nur aus den Augen verloren, sondern auch keinen Anhaltspunkt, wo er nach ihm suchen sollte. Wenn er überhaupt gefunden werden wollte.

Wütend biss er sich auf die Unterlippe, weil ihm nach Schreien zumute war. Für einen winzigen Moment hatte er aufatmen können, in Stille und in der Sicherheit von Marceus Gesellschaft, und im nächsten Moment war er im Tumult des Lagers verloren und wurde von allen Seiten angestarrt. Die Arbeit und das geschäftige Treiben kamen um ihn keinesfalls zum Erliegen, dennoch bildete sich überall wo er hin kam eine kleine Schneise, als würden die Diener vermeiden, ihm zu nah zu kommen. Gespräche verstummten, manche wandten sich schnell wieder dem zu, was sie zuvor nur halbherzig ausgeführt hatten, oder fanden plötzlich eine Aufgabe, obwohl sie zuvor noch mit leeren Händen unterwegs gewesen waren. Und sie starrten.
Nervös glättete er sein Haar, das noch völlig zerzaust war, aber das Glühen seiner Wangen konnte er genauso wenig loswerden wie das nervöse Herzklopfen. Das schlimmste war, er wusste nicht einmal, was noch vor wenigen Minuten überhaupt passiert war, und er hatte die vage Vermutung, dass Marceus es auch nicht wusste und deshalb verschwunden war. 

Während Valion durch das Lager irrte und nach Marceus Ausschau hielt wurde ihm bewusst, dass Anyas Worte vermutlich nicht der Auslöser, sondern nur der letzte Anstoß zu seiner Flucht gewesen waren. Sie waren eine unwillkommene und schmerzhafte Erinnerung daran, dass es nicht nur sie beide gab. Plötzlich, nachdem alles schon geschehen war, fühlte Valion Schuldbewusstsein und Bestürzung, und Eraviers hämische Worte hallten in ihm wieder. Da du anscheinend jedem beliebig zu Willen bist…

Was hatte er sich dabei gedacht, sich Marceus so zu nähern? Jan konnte ihm zwar nicht befehlen, was er zu tun oder zu lassen hatte, aber er hatte Marceus von Anfang an nicht gemocht, und er hatte anscheinend Recht mit seinen Befürchtungen gehabt. Marceus hatte Jan nicht gerade freundlich damit aufgezogen, dass er ihm nicht den Freund ausspannen wollte, aber genau das hatte er gerade versucht. Oder getan? 
Das Problem war, dass sich alles, was Valion bisher erlebt hatte, so völlig seinen Begrifflichkeiten entzog. Bis vor kurzem war seine Welt simpel getrennt gewesen; Beziehungen die etwas bedeuteten oder für die Ewigkeit geschlossen wurden galten nur zwischen Männern und Frauen. Die Tatsache war so fest in sein Leben eingebrannt wie Eraviers Symbol in seine Schulter. Er hatte das immer so akzeptiert; alles andere war nichts Ernstes, selbst Nishas Verbindung zu Vara, egal wie stark ihre Liebe war. Nichts davon konnte Bestand haben, nicht, wenn sie nicht aus dem Dorf vertrieben werden wollten, oder Schlimmeres. Es war wie ein ungeschriebenes Gesetz; oder vielleicht stand es sogar irgendwo geschrieben, direkt neben den Worten, dass zu hängen war, wer einen anderen ermordete. 

Dann hatte er Jan getroffen, und alles war in Unordnung geraten. Plötzlich hatte er Gefühle, die tiefer gingen als alles zuvor, das nicht Nisha betroffen hatte. Er liebte Jan, und auf ihrer verrückten Flucht war plötzlich die Hoffnung in ihm gewachsen, dass ihre Liebe vielleicht doch Bestand hatte. In dieser verdrehten anderen Welt, die Eravier und die anderen  Menschenhändler sich geschaffen hatten, galten die alten Gesetze nicht mehr. Es war kein bewusstes Begreifen; er erinnerte sich nicht daran, mit einem mal verstanden zu haben, dass es ihm endlich erlaubt war, Jan zu lieben. 
Eine Welt war durch eine völlig andere getauscht worden, und vielleicht hatte er das instinktiv begriffen, als er völlig nackt da stand und eine Schar Diener um ihn herum ihn wusch und rasierte, als wäre sein nackter Körper das Normalste der Welt. Es konnte in so einer verrückten Welt keine normalen Regeln geben. Und deshalb hatte er sich seine eigenen gemacht. Bessere? Er wusste es nicht.
Aber das brachte ihn jetzt in einen völlig neuen Konflikt. Wenn seine Beziehung zu Jan tatsächlich etwas galt, genau so wie jede zwischen Mann und Frau, dann konnte sie genau wie jede andere zerstört werden. Hatte er sie damit zerstört?

Ein zentraler, aber gleichzeitig unglaublich verwirrter Teil von Valions Verstand protestierte vehement dagegen. Er empfand Liebe zu Marceus, aber sie war gleichzeitig völlig anders, und er empfand nicht so für ihn wie für Jan. Aber warum ließ er sich dann von ihm küssen, oder fühlte sich in seiner Nähe so wohl? Belog er sich selbst nur? Er wusste es nicht. Nichts ergab einen Sinn, und er konnte niemanden fragen, niemand trauen, nicht mehr. Nur Marceus, und der war anscheinend so verwirrt wie er selbst. Und seine Unsicherheit bewirkte nur, dass er sich noch mehr nach Jan sehnte. Er hätte mit ihm reden, ihm alles erklären, ihn um Verzeihung bitten müssen.

Valion hielt inne, weil er bei seiner ziellosen Suche das Ende des Lagers, oder besser, seinen Ausgangspunkt erreicht hatte. Er war anscheinend im Kreis gelaufen, hatte aber zumindest die niederen Sklaven durch Zufall umrundet, und er war froh darüber. Er wusste nicht, ob er ihren Spott jetzt ertragen konnte, das Starren der Diener und seine eigene Ziellosigkeit waren schlimm genug.

Stattdessen stand er nun vor dem Teil des Lagers, der von den Wachen bewohnt und organisiert wurde. Es war seltsam, aber obwohl die Diener, Pferdeknechte, Händler und Sklaven gemeinsam reisten, schienen sie dennoch innerhalb des Lagers ihre ganz eigenen Plätze zu besetzen. Eine Durchmischung gab es, aber sie schien weniger stark, als Valion bisher angenommen hatte. Jeder blieb unter sich, da machten die Wächter keine Ausnahme, auch wenn immer wieder Diener ihren Lagerplatz betraten, sich austauschten und verschwanden, Essen verteilten oder einfach nur Anweisungen weitergaben. Der Unterschied zum Rest des Lagers war subtil, aber alles wirkte kärger und ungemütlicher. Es gab generell wenig Müßiggang im Lager, aber die Wächter, die nicht unterwegs waren, schienen entweder in Schichten in ihren wenigen Zelten zu schlafen, hastig zu essen oder Waffen zu reinigen. Sie sprachen meist nur halblaut miteinander oder gaben sich nur Handzeichen, vermutlich eine Gewohnheit von der nächtlichen Wache. Dafür schienen sie umso schärfer zu beobachten. Und es brannten mehr Feuer. Sie wurden noch sorgsamer als anderswo im Lager aufrecht erhalten, vermutlich, damit sie auch nachts nach einer Patroullie eine aufgewärmte Mahlzeit und etwas Linderung für die kalten Füße bieten konnten.

Jetzt, am späten Nachmittag, waren nur wenige Wachen präsent, und Valion beschloss umzukehren. Er hatte zwar an Guy gesehen, dass nicht alle Wächter so unausstehlich waren wie Levin, aber sie schienen von den Sklaven noch weniger zu halten als die Diener, und Valion wollte nicht gerade jetzt an den Falschen geraten. Er konnte sich sowieso kaum vorstellen, dass Marceus ausgerechnet hier war. Wo auch immer er hin gegangen war, Valion hatte ihn entweder verfehlt oder übersehen.

Valion wandte sich ab und wollte zurück gehen, als er plötzlich Gelächter hörte und eine raue Stimme, die zum besten gab: „Und dann ist er nach hinten auf den Arsch gefallen! Den Schlag hat er nicht kommen sehen!” Das Johlen wurde noch lauter, und es übertönte fast Tarns ruhige Stimme, die gelassen antwortete: „Karvash kann nicht über die Dinge hinaus sehen.” 

Ohne es zu wollen hielt Valion inne. 
Tarn. Es war seltsam, seine Stimme in diesem Moment zu hören. Einerseits rief es all die Unsicherheit und Unentschlossenheit in ihm wach, die ihn schon den ganzen Tag verfolgt hatte. Valion war immer noch wütend, verletzt und misstrauisch. Trotzdem lauschte er plötzlich mit all seiner Aufmerksamkeit gebannt auf die Stimme, versucht, die Nuancen darin zu erkennen. Es war ein irrationaler Wunsch, aber er wollte Tarn sehen, wenn auch nur für einen Moment. Nur sicher gehen, dass er keine Verletzungen davon getragen hatte, auch wenn er ihm gleichzeitig die Pest an den Hals wünschte. Nur ein paar Worte wechseln, selbst wenn er nicht wusste, was er eigentlich damit erreichen wollte.

Valion gab sich einen Ruck. Wenn er wie angewurzelt stehen blieb würde gar nichts passieren, im schlimmsten Fall erregte er die Aufmerksamkeit eines gelangweilten Wächters und handelte sich Ärger ein. Es konnte nicht schaden, einen Blick zu riskieren, im Zweifelsfall würde er sich einfach aus dem Staub machen.
Kurz entschlossen ging er in die Richtung, aus der er die Stimmen gehört hatte, umrundete 
eine Gruppe Zelte und sah drei Männer beieinander sitzen, anscheinend Wächter. 

Zwei von ihnen waren verletzt, aber nicht schwer. Einer hatte einen bandagierten Fuß, sicher war er im Wald gestrauchelt, und der andere hatte sich vermutlich an einem Ast verletzt, denn ein tiefer, blutroter Kratzer zog sich schräg über seine Wange und dicht an seinem geröteten Auge vorbei. Tarn beugte sich gerade über ihn und versorgte ihn routiniert, während ein Dritter, vermutlich ein Freund der beiden, der gerade Pause hatte, sagte: „Ich begreif’ nicht, was der Idiot bei uns soll. Hat der in den drei Monaten irgendetwas zustande gebracht, außer ein paar Weiber flachzulegen?” „Er hat eine Hand voll Sklaven eingesammelt, das war’s”, antwortete der mit dem bandagierten Fuß, „Ist nicht besonders gut darin, die richtigen Leute zu finden.” Sein Freund grinste und dröhnte: „Der findet ja auch nichtmal seinen Hintern, ohne seine Hände zum Suchen zu benutzen.”

Die drei Wächter lachten, und Tarn lächelte lautlos, aber nichts durchbrach in diesem Moment seine Konzentration, und Valions Mundwinkel zuckten ebenfalls nach oben. Nicht wegen des derben Scherzes, vor allem da er nicht wusste, auf wessen Kosten er eigentlich ging, sondern weil es typisch für Tarn war, sich nicht ablenken zu lassen. Er stellte seine Pflicht vor alles andere, auch jetzt.  
Er sah wacher aus, stellte Valion fest, nachdem er einen Moment in seinem Gesicht geforscht hatte. Ausgeruhter, und auch gelassener, als hätte sich zumindest eine seiner tausend Sorgen für einen Moment verflüchtigt. Zuerst erfüllte es Valion mit Erleichterung, aber sie wurde gleich darauf durch Wut ersetzt. Tarn sah nicht gerade aus, als würde er sich Vorwürfe über das machen, was geschehen war, und das war eine bittere Erkenntnis. Im Gegenteil, er hatte anscheinend reinen Gewissens schlafen können und konnte jetzt sogar Witze mit den drei Idioten reißen, um die er sich kümmern musste.

Valion wollte umdrehen und verschwinden. Sein Wunsch Tarn zu sehen hatte vielleicht für eine Sekunde seine Zweifel übertrumpft, aber das war vorbei. Die Wut und Enttäuschung waren mit einem Schlag zurück gekehrt, und hätte er jetzt mit ihm sprechen müssen, hätte er vermutlich nur Vorwürfe gehabt.

Dummerweise entdeckten die Wächter ihn genau in diesem Moment. Sie wechselten einen Blick, der nichts Gutes bedeuten konnte. „Wen haben wir denn da?”, grollte der mit dem bandagierten Fuß, und seine Freunde schienen wundersamer Weise klug genug, eine rhetorische Frage zu erkennen, wenn sie gestellt wurde. „Hast du vor, ein bisschen Ärger zu machen wie gestern?”, fuhr er drohend fort, „Ich könnte dir den Knöchel brechen, käme mir bisschen wie Gerechtigkeit vor!” 
Erst jetzt, als Tarn die Worte mit den Ereignissen des vergangenen Tages in Verbindung brachte, wandte er sich erstaunt um, sah Valion, und ihre Blicke trafen sich. 
Er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass sie sich jetzt und hier begegneten, so viel stand fest. Er war nicht nur simpel überrascht, sondern zu Valions Erstaunen wirkte er im ersten Moment regelrecht verunsichert, als wüsste er nicht, was er aus der Situation machen sollte. Das war neu für Valion, und er fragte sich abwesend, ob Tarn die meiste Zeit so ruhig und gefasst wirkte, weil er sich darauf vorbereitete, was er sagen und wie er auf andere reagieren sollte. Der Gedanke weckte unerwartete Sympathie in ihm, und er musste sie energisch abwehren und sich zwingen, seine Wut wach zu halten. 

Tarn schien eine Entscheidung zu treffen, denn er winkte ihn jetzt heran und gebot gleichzeitig den Wächtern mit einer Handbewegung, Valion gewähren zu lassen. Obwohl jeder der Wächter aussah als könnte er sowohl Valion als auch Tarn ungespitzt in den Boden rammen, verstummten sie einhellig und erlaubten sich keine weiteren dummen Sprüche. Stattdessen beobachteten sie stumm, wie Valion zögernd näher kam. 
Dass er nicht umdrehte und einfach verschwand kostete ihn Überwindung, aber dennoch gehorchte er. Welche Macht Tarn auch über die Wächter hatte, dass er ihnen einfach gebieten konnte zu Schweigen, sie wirkte auch auf ihn, und es ärgerte ihn. Er hätte gehen sollen, egal wohin, nur weg. Stattdessen verschränkte er unbewusst die Arme und blieb ein paar Schritte entfernt, außerhalb der Reichweite der Wächter, stehen.

Tarn registrierte seinen Unwillen, das konnte Valion in seinen Augen sehen, aber er ging kommentarlos darüber hinweg und fragte stattdessen neutral: „Was machst du hier? Suchst du jemand?” „Ich habe Marceus im Gedränge verloren”, antwortete Valion trocken und bemühte sich, genau so emotionslos zu sein. Er würde sich nicht die Blöße geben seinen Ärger zu zeigen, erst Recht nicht vor Publikum. Tarn nickte und antwortete ruhig: „Ich habe ihn hier nicht gesehen.” Bevor Valion nicken und einfach verschwinden konnte, fuhr er fort: „Hast du Verletzungen von gestern, die ich mir ansehen muss? Schnitte, Kratzer?”

Es war eine versteckte, aber für Valion deutliche Botschaft.Wir können reden, wenn du willst. Nur, dass sich alles in Valion dagegen sperrte, sich ausgerechnet jetzt mit ihm zu unterhalten. „Nichts, das nicht von allein heilt. Ich komme zurecht”, antwortete er kalt, und diesmal konnte er seine Wut nicht ganz aus seiner Stimme halten. Tarn verstand, aber er schickte Valion auch einen warnenden Blick, dass er ihr vorgespieltes Gespräch nicht zu sehr ausreizen sollte. Dennoch ging er auf seine Worte ein und fragte noch einmal: „Bist du sicher? Soll ich mir wenigstens deinen Rücken noch einmal ansehen?” Valion zuckte mit den Schultern, zum Beweis, dass es seiner Schulter gut ging, auch wenn die Belohnung dafür stechender Schmerz war. „Nein, brauche ich nicht.”

Und damit geriet das Gespräch ins Stocken. Valion suchte nach einem guten Grund, sich aus dem Staub zu machen, aber stattdessen fielen seine Augen auf die blauen Flecken an Tarns Armen, wo er die Hemdsärmel hoch gekrempelt hatte. Plötzlich hatte er bildlich vor Augen, wie er mit ihm gerungen hatte, um Jan zu Hilfe zu kommen. Hatte er ihn am Ende verletzt?
„Was ist eigentlich damit?”, fragte er unsicher, doch diesmal war es Tarn, der seine Besorgnis abschmetterte und gleichgültig mit den Achseln zuckte. „Das? Ein Zusammenstoß mit einem Rebellen. Es war in vielerlei Hinsicht eine anstrengende Nacht.” Der Vorwurf klang scharf heraus, und Valion presste die Lippen zusammen. Schön, wenn er das so sah. „Dann ist es nicht meine Schuld?”, fragte Valion ihn grob, und als Tarn mit dem Kopf schüttelte, sagte er: „Gut, dann schulde ich dir auch nichts.”

Er war sich bewusst, dass die drei Wächter, die die ganze Zeit stumm geblieben waren, ihrem Dialog lauschten. Sie sahen zwischen ihnen hin und her, als würden sie einen Fechtkampf verfolgen, und in gewissem Sinne war es auch ein Duell. Wer von ihnen beiden konnte gleichgültiger und desinteressierter wirken? Valion lag definitiv in Führung. „Ich muss wirklich weiter”, sagte er steif, und Tarn versuchte ein letztes Mal, ihn zu einem Gespräch zu überreden. „Soll ich dir bei der Suche helfen? Das ist immerhin das erste Mal, dass du dich allein hier zurecht finden musst”, bot er an. Er warf einen forschenden Blick in Valions Gesicht, und Valion spürte, wie er die Verbindung suchte, die sie vor kurzem noch zueinander gehabt hatten. Und für einen Moment wollte er nachgeben.

Er konnte Tarn nicht hassen, egal was geschehen war, und er wollte nicht mehr wütend auf ihn sein. Je länger er seinen Zorn aufrecht erhielt, ohne wenigstens seine Seite angehört zu haben, desto weniger fühlte er sich wie er selbst. Und Tarn wollte mit ihm reden, er bot es ihm völlig offen an. Vielleicht wollte er sich entschuldigen, oder eine Erklärung liefern, aber egal was er sagte, Valion hätte wenigstens eine Entscheidung treffen können, wie er sich damit fühlte. Jetzt wusste er nichts, und das würde sich auch nicht ändern, wenn er sich völlig zurückzog.

Aber dann verbot er sich, darauf einzugehen. Warum hätte er Tarn jetzt nachgegeben? Nicht, weil es der richtige Zeitpunkt zum Reden war, sondern weil er sich verloren fühlte und allein, verwirrt und auf der Suche nach jemand, mit dem er reden konnte. Er würde über alles hinweggehen, ohne jemals die Wahrheit erfahren zu haben, nur, um seine heile Welt wieder her zu stellen, und damit betrog er sich nur selbst.

Er setzte zu einer Antwort an, doch Tarn verstand schon bevor Valion seine Gedanken aussprach, was er sagen wollte, und er schüttelte nachsichtig den Kopf: „Nein, vergiss es, du wirst damit schon allein fertig.” „Richtig”, stimmte Valion zu, aber es war gerade diese Einsicht, die Tatsache dass Tarn einfach nachgab, die ihn noch mehr dazu verführte ebenfalls nachzugeben. 
Plötzlich wollte er nur noch weg. Er musste gehen, bevor er seinen Gefühlen folgte statt seinem Verstand. Er trat einen Schritt zurück, unsicher, ob er noch etwas sagen sollte, aber dann riss er sich los, wandte sich um, und ohne noch einmal zurück zu sehen ging er in die Richtung, in der er sein Quartier vermutete.

Eigentlich hatte Valion vor, auf direktem Weg zurück zu kehren. Die Sonne begann dem Horizont entgegen zu sinken, und obwohl er noch etwas Zeit hatte bevor er endgültig zurück sein musste, wollte er nichts riskieren, auch wenn das bedeutete, dass er die Suche nach Marceus aufgeben musste. Niemand traute ihm hier, das spürte er deutlich, und wenn er auch nur eine Andeutung von Widerstand gegen seine neuen Regeln zeigte, würde man ihn vermutlich gewaltsam zurück bringen. Wäre es nur um die Wachen gegangen, hätte er sich vielleicht ein Beispiel an Jan genommen, aber wenn er sich auflehnte würde er wieder zu Eravier gebracht werden, und das wollte er auf keinen Fall.

Doch seine Rückkehr gestaltete sich schwieriger, als er gedacht hatte. Es war paradox, aber im Wald, auf freier Fläche, mit dem Rauschen des Flusses als einzigen Bezugspunkt, war ihm die Orientierung leicht gefallen. Im Gedränge der Diener, umgeben von tausenden von Geräuschen, versagte dieser Richtungssinn völlig. Es gab zu viel, das ihn immer wieder ablenkte, Gespräche, Gerüche, laute Rufe. Und ständig stand ihm etwas im Weg, um das er sich mühsam herum schieben musste.
Dennoch hatte er das Gefühl, seinem Ziel zumindest langsam näher zu kommen, als er etwas am Rand seines Sichtfeldes bemerkte, das ihn innehalten ließ. Es gab Weniges, das sich bisher in seine Erinnerung eingeprägt hatte im Lager, aber das gedrungene und massive Äußere des Pestwagens war ihm im Gedächtnis geblieben. Und plötzlich wusste er, wozu er seine neugewonnene Freiheit nutzen musste, bevor es zu spät war.

Es war nicht einfach, sich dem Wagen unauffällig zu nähern, vor allem, weil Valions Bewegungen von allen Seiten beobachtet wurde. Letztendlich gelang es ihm nur, indem er an einer weniger beobachteten Stelle mehrere Meter entfernt hinter einem völlig anderen Wagen verschwand und sich unauffällig am Rand des Lagers entlang bewegte. Er wartete, bis ein patroullierender Wächter ihn umrundet hatte und schlich dann weiter. Es kam ihm selbst albern vor, weil er eigentlich nichts Verbotenes tat. Noch nicht.

Schließlich erreichte er den Wagen und die Lichtung am Rande des Waldes. Es war niemand hier, denn natürlich war der Pestwagen jetzt leer, und ohne seine Gefangenen gab es hier nichts mehr zu tun.

Langsam, mit seltsam wackeligen Beinen, ging er vorran. Seine Augen schweiften über die Büsche und Bäume, die den kleinen Platz einrahmten, über die Reste des Feuers, das hier gestern noch gebrannt hatte, die ausgetretenen Pfade im Gras. Ein Schwarm kleiner Vögel, der einen der Büsche am Rande der Lichtung für sich erobert hatte, flog ärgerlich zwitschernd auf und verschwand im Wald, und ein aufgeschrecktes Eichhörnchen suchte ebenfalls das Weite. Es unterstrich nur, wie verlassen jetzt alles da lag. Für kurze Zeit war dieser Ort das Zentrum von Aktivität gewesen, und Valion erkannte, dass er allein dadurch jetzt noch einsamer wirkte, dass alles was sich hier befunden hatte fortgeschafft worden war. Die Spuren der Diener, die alles auf- und abgebaut hatten, und der Wächter, die sich für die Suche nach Jan und Valion hier gruppiert haben mussten, verblassten nur langsam und hinterließen dennoch eine geisterhafte Erinnerung daran, was geschehen war.

Valion fühlte sich wie in einem Traum. Er wusste, dass er erst vor einem Tag hier gewesen war, aber es kam ihm vor wie ein Jahr, oder ein Jahrhundert. Das Gefühl der Unwirklichkeit wurde noch dadurch verstärkt, dass die Sonne gerade im richtigen Winkel stand und die Erinnerung noch unmittelbarer machte. 
Er ging an die Seite des Wagens, von der auch seine Fesseln verschwunden waren, und abwesend, ohne es selbst wahrzunehmen, rieb er sich die Handgelenke, die immer noch die Zeichen seiner Gefangenschaft trugen. Er fand die Stelle, an der er mit Jan gesessen hatte wieder. Hier hatte er ängstlich darauf gewartet was geschehen würde, und das erste Mal Jans Hand gehalten. Hatte neben ihm gesessen, nur Zentimeter entfernt. Sie hatten sich in den letzten Tagen so viel erzählt, und trotzdem noch nichts voneinander gewusst. Valions Herz schlug wieder bis zum Hals, genau wie gestern. Er kniete sich an die Stelle, wo sie sich geküsst hatten; wo sie sich zum ersten Mal wirklich nahe gekommen waren. Er legte seine Hand auf den Boden, als könnte er ein Echo von Jan finden, einen Nachhall davon, dass er hier gewesen war.
Nichts. Die Erde war feucht und kalt.

Du bist nicht deswegen hier, versuchte er sich abzulenken, aber er brachte es kaum fertig sich loszureißen. Er wollte zurück. Zurück zu diesem Punkt, an dem Jan bei ihm gewesen war, an dem er sich sicher gewesen war, dass Tarn auf seiner Seite stand und Marceus nur ein Freund war. Hätte er die Zeit zurück drehen können, egal wie, er hätte es getan. Warum wurde seine Welt immer düsterer? Warum verlor er einfach alles Gute, selbst wenn er es nur für einen flüchtigen Moment besessen hatte? Wütend grub er seine Hand in die lose Erde, ballte sie zu einer Faust. In diesem Moment schwor er sich, dass er alles zurück holen würde. Alles, was ihm zu stand. Seine Familie, seine Freunde, Jan, er würde all das niemals aufgeben. Und hier fing er damit an.

Zornig richtete er sich auf und ging den kurzen Weg zurück zum Ende des Wagens und betrat ihn.
Auch das Innere war so, wie er es in Erinnerung hatte, aber seine Sachen waren natürlich nicht mehr hier. Zumindest die, die er nicht versteckt hatte. Als erstes suchte er die Nische, in der er den Spiegel verborgen hatte. Er fand sie erstaunlich schnell wieder, und mit nicht wenig Mühe brachte er den Spiegelrahmen in einem Stück wieder hervor. Auch die restlichen Scherben, die er sorgfältig verborgen hatte, fand er wieder, obwohl er sich einen Moment fragte, ob es taktisch klug war sie mitzunehmen. Aber ob sie nun hier gefunden wurden oder in seiner Reichweite war im Grunde unerheblich - die Wächter und vor allem Eravier würden die Glassplitter ab jetzt immer mit ihm und Jan in Verbindung bringen, und entsorgen wollte er sie auch nicht. Er schob sie unter den Stoff, der den zerbrochenen Spiegel umhüllte, und behielt das Bündel in der Hand. Eingewickelt sah es ungefährlich aus, kein Reflex oder Schimmern verriet, was er bei sich trug.

Hastig verließ er den Wagen, bevor jemand auf die Idee kam nach zu forschen, wo er sich herum trieb. Die Sonne sank dem Horizont immer weiter entgegen, und bald würde jemand überprüfen, ob er sich an die Regeln hielt. Er musste umkehren.
Valion sprang hinaus, umrundete ohne zu zögern den Wagen und wollte schon das Weite suchen, als er doch innehielt. Neben ihm, am anderen Ende des Wagens, war die Tür eingelassen, die zu Jans Zelle führte.
Er hatte das Innere nie gesehen, das wurde ihm jetzt bewusst. Zögernd streckte er die Hand aus, und entgegen seiner Erwartung war die Tür unverschlossen. Er wusste nicht, was er zu finden hoffte, aber trotzdem trat er in die kleine, düstere Zelle.

Es war unmenschlich. Er konnte nicht einmal die Arme ausstrecken, ohne dass seine Ellenbogen an die Wände um ihn anstießen. Es gab noch weniger Licht als auf der anderen Seite der Trennwand, wo er selbst gehaust hatte. Eine Pritsche zum Schlafen, aus rohem Holz gezimmert, war alles, was den winzigen Raum füllte. 
Es roch nach Krankheit, schal und abgestanden, und es schien nicht genug Luft zu geben. Das hier war das Schlimmste, was Valion sich vorstellen konnte, und das Wissen, dass Jan hier Tage, vielleicht Wochen verbracht hatte, krank und allein, schürte seine Wut nur noch mehr. Er ließ sich auf der knarrenden Pritsche nieder, auf der Jan so lange gelegen hatte, und ohne zu zögern zog er die Füße nach und legte sich hin. Es war hart und unbequem. Jan hatte vermutlich eine Decke gehabt, die inzwischen schon entfernt worden war, aber das half auch nicht viel. Er war hier völlig allein gewesen, ohne Kontakt, bis auf eine Stimme, die von der anderen Seite der Trennwand zu ihm sprach. Wie einsam musste er gewesen sein? Wie viel Zeit hatte er gehabt um hier zu liegen und all seine Entscheidungen zu bereuen, die ihn hierher geführt hatten?

Valion schreckte auf, als die Tür hinter ihm leise zu fiel. Es gab kein Schloss, das einrasten konnte, aber die Zelle war nun derartig dunkel, dass die trüben Lichtstrahlen, die durch die oben in die Wände eingelassenen Gitter fielen die hellste Lichtquelle waren.
Nein, ganz stimmte das nicht. Es fiel auch Licht durch die Trennwand, in den Gittern nahe der Decke, und an einer Stelle, an der die Holzbohlen auseinander klafften. Als wäre es ein zufälliger Makel in der Konstruktion…
Valion richtete sich ruckartig auf. Er erinnerte sich daran, wie er selbst die Plane mit seinen Scherben zerfetzt hatte und sorgfältig darauf geachtet hatte, alles wie Zufall aussehen zu lassen. Aber in Gefangenschaft gab es viel weniger Zufälle und viel mehr hastig vertuschten Widerstand. Er stand auf und tastete mit den Händen den Spalt ab. Das Holz war splittrig, und er hatte keine Ahnung, was er eigentlich suchte, aber davon ließ er sich nicht abhalten. Seine Hände trafen auf etwas kaltes, metallisches, und er zog es heraus. 

Es war nicht klar, was er da in den Händen hielt, vor allem nicht was es einmal gewesen war. Vielleicht ein Löffel. Es war nur ein Streifen Metall, geschliffen und verbogen in die Form einer hohlen Nadel oder eines spitzen Keils. Spitz genug um jemand zu verletzen. Valion war nicht der einzige gewesen, der sich eine Waffe besorgt hatte - Jan hatte ebenso vorgesorgt wie er, vermutlich schon viel eher. Und wenn Valion richtig schätzte, hatte er versucht mit seinem Werkzeug eine Verbindung zu ihm herzustellen. Vielleicht aus Langeweile, oder Neugier.
Valion näherte sich dem Spalt und sah hindurch. Schemenhaft, dunkel, konnte er die andere Seite erkennen, aber es war mühsam, und seine Augen begannen zu schmerzen, als er versuchte mehr als nur Umrisse zu erkennen. Aber manches ergab auch Sinn. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, du hättest dunkle Haare. Daher kam also Jans Fehleinschätzung.  Er hatte Valion immer nur im Halbschatten gesehen. Und er hatte wieder einmal gelogen. Er hatte längst gewusst, wie Valion aussah, als er selbst noch im Dunklen tappte.

Eine Sekunde ärgerte er sich darüber, doch dann wurde ihm klar, dass er diesen Spalt mit der Reichweite seiner Kette niemals hätte nutzen können. Vielleicht hatte Jan ein schemenhaftes Bild von ihm erhascht, aber er selbst hätte ihn so oder so nie zu Gesicht bekommen. 
Insgesamt war seine Entdeckung eher enttäuschend. Er hatte vage gehofft, mehr zu finden als nur die verlassene Zelle, auch wenn er nicht wusste, was dieses mehr eigentlich sein sollte. Etwas, das ihn an Jan erinnerte. Das ihm mehr darüber verriet, was er gedacht hatte, wie er sich gefühlt hatte. Irgendetwas, das Valion half ihm nahe zu sein.

Er zog sich von dem Spalt zurück und wollte schon gehen; er hatte alles gesehen, was es hier zu sehen gab, und Jans improvisiertes Werkzeug steckte er sorgfältig zu den Scherben in sein Bündel. Er konnte es Jan später geben, wenn das alles vorbei war, und vielleicht würde er darüber sogar lachen.
Das Licht, das durch den Spalt fiel, war erstaunlich intensiv, jetzt, da das Metallwerkzeug den Strahl nicht mehr blockierte. Vielleicht war das also auch ein Versuch gewesen, etwas mehr Licht in die Dunkelheit der Zelle zu bringen. Um die Mittagszeit musste der Spalt eine passable Lichtquelle abgegeben haben. 
Um was zu tun, fragte Valion sich plötzlich. Er folgte dem Licht mit den Augen und zuckte reflexartig zurück, als er plötzlich meinte ein Gesicht zu sehen. Er blinzelte irritiert, und erst verschwand das Bild, nur um dann wieder klarer hervor zu treten. Es waren Linien. Eingravierte Linien im Holz.

Plötzlich wurde ihm klar, wofür Jan das Licht verwendet hatte. Hier war das was er gesucht hatte, was er verzweifelt zu finden gehofft hatte. Mit zwei Schritten war er bei der groben Holztür, und er musste sich dazu zwingen, sie langsam zu öffnen, um ja niemand aufzuscheuchen. Schnell verkeilte er sie notdürftig mit seinem Bündel, damit sie nicht wieder zu fiel. Danach ging er zurück zu der Stelle, die der Spalt beleuchtet hatte. Das Licht vom Eingang überstrahlte alles, und er hatte Mühe, im Schlaglicht die Maserung des Holzes von Gravuren zu unterscheiden, aber schließlich fand er die Stelle wieder. Es waren die Augen. Sie stachen am deutlichsten hervor.

Er ließ sich auf die Knie sinken und betrachtete Jans Werk. Es waren Zeilen eingravierter Text, und Valion verfluchte die Tatsache, dass er nicht lesen konnte. Er würde irgendjemand finden müssen, der ihm die Worte vorlesen konnte, und dann würde er ihn zerstören müssen, zusammen mit dem, was Jan hinzugefügt hatte. Bis dahin musste er sich mit dem Rest zufrieden geben.
Es war ein Portrait, aber Valion war nicht sicher, ob er es erkannte. Am deutlichsten waren die Augen, obwohl sie dunkler wirkten, als sie in Wirklichkeit waren. Dunkler, und erwachsener. Eigentlich stimmte alles, und trotzdem wirkte alles… nicht wie er selbst. Jan hatte eine Gravur von ihm angefertigt. Er erkannte sich selbst darin, die Nase, die Lippen. Natürlich war es vereinfacht, nur Umrisse, aber sie waren gleichzeitig seltsam lebensecht. Und es musste lange gedauert haben, sie anzufertigen. Tage. Er musste vom ersten Tag an damit begonnen haben, immer wieder zurück gekehrt sein, um ihn zu betrachten. Es richtig zu machen.

Du bist das einzig Gute, was mir jemals passiert ist, weißt du das?

Was hatte Jan gedacht, als er Valion das erste Mal gesehen hatte? Valion erinnerte sich, wie fasziniert, wie eingenommen er selbst von Jans Erscheinung gewesen war, ohne zu wissen, wen er sah. Er konnte ihm kaum vorwerfen, oberflächlich zu sein, wenn er sich doch selbst auf den ersten Blick verliebt hatte. Und vielleicht war das der Grund, warum Jan so heftig an allem gezweifelt hatte. Es war zu schön um wahr zu sein, oder? Sich auf diese Weise zu finden und sofort zu wissen, dass es richtig war. Zu märchenhaft, als dass es tatsächlich geschehen konnte. Und dennoch…
War es dann wirklich so unmöglich, dass sie wieder zusammen fanden? Dass sie irgendwie einen Weg fanden aus dieser ganzen Hölle, um am Ende frei zu sein? Nein. Wenn er gerade hier, unter all den Umständen, jemand wie Jan finden konnte, dann war das nicht nur ein ferner Traum. Er musste es nur wahr machen.

Er legte die Hand auf die Worte, die Jan graviert hatte, und sie sprachen zu ihm, auch ohne dass er sie lesen konnte. Und obwohl er Jan unglaublich vermisste, obwohl er nicht wusste, wie es weitergehen würde, richtete er sich innerlich wieder auf. Keine Angst. Ich werde nicht das letzte Gute sein, das dir widerfahren ist.

Als er den Pestwagen verließ, war die Sonne ein roter Feuerball am Horizont, und die Wolken getaucht in Schattierungen von rosa und violett. Valion betrachtete sie, während er langsam, nachdenklich, den Weg zurück ging. Er beachtete die Blicke die ihm folgten nicht, aber zum Glück schien sein Anblick an Neuheitswert zu verlieren, und die Geschäftigkeit ließ an diesem toten Punkt des Tages auch spürbar nach.
Es gab immer noch viel zu tun, aber jetzt aßen die Diener hastig das, was sie aus der Versorgung des Lagers für sich abzweigten, bevor die Wächter, die Sklaven und die Menschenhändler an die Reihe kamen, und sie dachten nicht daran, auch diese Ruhepause der Arbeit zu opfern. Sie saßen und standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich lauter oder leiser, je nach Temperament oder Stellung, ihre Untergebenen manchmal stumm in ihrem Windschatten und auf weitere Anweisungen wartend. Je länger Valion sie beobachtete, desto klarer wurde ihm, wie hierarchisch im Grunde alles aufgebaut war, und fast unbewusst begann er, zu beobachten und seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

Beispielsweise bemerkte er, dass es Ausnahmen für die Ruhepause gab. Sie betraf vor allem die niedersten Diener, die jungen Küchenmädchen und die Dienerinnen der Sklavenhändler. Jetzt, da das Lager so ruhig war, fielen sie besonders auf, da sie immer noch geschäftig hin und her huschten und dieses oder jenes vorbereiteten, oder ihren Herrinnen, den Frauen der Sklavenhändler, behilflich waren sich für das Abendessen frisch zu machen und sowohl Wasser als auch gewaschene Kleidung mit sich trugen. 
Sie waren alle jung, und sie schienen beinahe unsichtbar für die Menschen um sie herum. Niemand ging ihnen aus dem Weg oder half ihnen bei ihren Aufgaben, und im Gegenzug waren sie sehr geschickt darin, sich durch winzige Lücken zwischen Wagen oder Menschengruppen zu manövrieren und ja niemand im Weg zu stehen.

Valion wünschte sich, so unsichtbar sein zu können. Früher, als Kind, hatte er dieses Gefühl auch von Zeit zu Zeit gespürt und manchmal genossen, manchmal aber auch verabscheut. Wenn die Arbeit besonders schwer war und die Tage sehr lang, hatten seine Elternanchmal wochenlang keine Zeit gefunden sich auch nur eine Minute mit ihm zu beschäftigen. Aber ganz selten, in den langen Sommertagen, hatte er halbe Tage unbeschwert irgendwo verträumt ohne dass sich jemand Sorgen um ihn machte. Manchmal war er völlig allein gewesen, manchmal mit Freunden unterwegs, aber er hatte sich immer frei gefühlt, unbeobachtet und ohne Zwang. Er wünschte sich diese Ruhe herbei. Alles war besser, als den ganzen Tag von allen Seiten angestarrt zu werden. 

Er fragte sich, wie Anya damit fertig wurde, falls es sie überhaupt kümmerte. Langsam bezweifelte er, dass sie überhaupt so etwas wie ein Gewissen hatte. Warum machte sie es ihm immer so schwer? Es gab überhaupt keinen Grund für sie, ihn immer wieder derartig vorzuführen, und jetzt übertrug sie ihre Abenigung ihm gegenüber auch noch auf Marceus. Er war nicht begeistert von der Aussicht, den Rest des Abends in ihrer Nähe verbringen zu müssen. Er spürte in sich nach, wie er sich fühlte, aber während seiner planlosen Suche nach Marceus und seinem Abstecher war seine Wut auf sie größtenteils verraucht, und das war besser so. Er wusste nicht, wie er auf ihre Feindseligkeit reagieren würde, wenn er wirklich wütend war, und er wollte es auch nicht herausfinden. Etwas an ihr faszinierte ihn, aber gleichzeitig stieß sie ihn auch ab, und es wurde nicht besser dadurch, dass sie ihn wo sie konnte mit Häme überschüttete. Fest stand, dass er Marceus nicht mehr hierher kommen lassen wollte, am besten trafen die sich irgendwo anders. Vielleicht konnte Valion selbst zu den Pferden gehen und ihn dort erwischen. Und Anya würde er den Rest der Zeit einfach aus dem Weg gehen müssen.

Was sich schwieriger gestaltete als er dachte. Er bog um eine Ecke und war endlich wieder an seinem Quartier angelangt, und hatte doch keine Zeit, sich darüber zu freuen. Reflexartig drehte er wieder um und verschwand hinter der nächsten Deckung, dem nächst gelegenen Wagen, denn sowohl Anya als Jadzia standen vor dem Eingang des Quartiers. Und sie waren nicht allein - ausgerechnet Jefrem unterhielt sich mit ihnen. Es sah nicht nach einem Streit aus, im Gegenteil. Er wirkte ruhig und sachlich, und sie schienen irgendetwas äußerst konzentriert zu besprechen.

Valion war vom ersten Moment an misstrauisch, und es half auch nichts, dass Marceus ihm erst vor kurzem versichert hatte, dass Jefrem unabhängig war. Er hatte sich immerhin von Tarn täuschen lassen, also war es nicht unwahrscheinlich, dass er nicht wusste, auf welcher Seite Jefrem wirklich stand. Dass er hier war und ausgerechnet mit Anya und Jadzia sprach ergab keinen Sinn. Sie hatten nichts miteinander zu schaffen, es wäre wahrscheinlicher gewesen, dass sie sich außer vom Sehen gar nicht kannten. Dazu kam, dass Anya, völlig untypisch für sie, nicht daran dachte zu flirten, sondern konzentriert und ernst auf Jefrems Worte lauschte. 

Was planten sie? Valion überlegte, was er tun sollte, aber schleichend kehrte auch seine Wut zurück. Warum sollte er eigentlich hier stehen und aus der Ferne beobachten, was sie taten? Er würde gehen und sie konfrontieren, und eine Antwort bekommen. 
Valion wollte sich gerade einen Ruck geben und auf die beiden zugehen, als ihn plötzlich eine Hand zaghaft, kaum spürbar, an der Schulter berührte.

Er zuckte zusammen und drehte sich heftiger um, als er beabsichtigt hatte, und das Mädchen, das hinter ihm gestanden hatte, trat hastig einen Schritt zurück und hob die Arme zum Zeichen, dass sie ihm nichts Böses wollte. Sie hatte einen Eimer Wasser neben sich und trug in der einen Hand eine Schale, vermutlich für Waschwasser, die sie jetzt neben sich abstellte und ihn verlegen anlächelte.
„Du hast mich erschreckt”, platzte es aus Valion heraus, und sie nickte versöhnlich, aber obwohl er sie erwartungsvoll ansah, sprach sie kein Wort. Sie hob die Hände, deutete auf seine Schultern, und als er sich betrachtete erkannte er, worauf sie ihn hinwies: Beim Liegen auf Jans Pritsche hatte sich Schmutz auf seiner Kleidung abgesetzt. Sie schien eine der Dienerinnen zu sein, die für die Menschenhändlerinnen arbeitete, und ihr Pflichtgefühl gebot ihr wohl, ihn darauf hinzuweisen, dass seine Garderobe nicht in Ordnung war. 

Für einen Moment wollte er sie rüde wegschicken, aber dann riss er sich zusammen. Er warf einen Blick in Richtung des Quartiers, wo Anya, Jadzia und Jefrem immer noch miteinander sprachen. Sie würden sich nicht so schnell vom Fleck bewegen. Und dieses Mädchen tat einfach nur ihre Pflicht, sie meinte es gut und lächelte ihn schüchtern an. Wozu hätte er sie jetzt verunsichert?
„Du hast Recht”, sagte er, und sie nickte lächelnd, hob die Hände, bedeutete ihm, dass er sich umdrehen sollte, aber sie sprach immer noch kein Wort. Endlich wurde ihm klar, dass sie stumm sein musste, aber da sie ihn nicht darauf hingewiesen hatte, hatte er sie zuerst einfach für schüchtern gehalten. Pflichtschuldig drehte er sich um, und sie klopfte ihm hilfsbereit den Staub von den Schultern und vom Rücken, bedeutete ihm dann mit einer weiteren Schulterberührung, dass er sich umdrehen sollte, und glättete sein Haar.

Er betrachtete sie, während sie fürsorglich seine Erscheinung in Ordnung brachte. Sie hatte dunkle, fast schwarze Augen, eine breite runde Stupsnase und stark gelocktes dunkles Haar, das sich in einer schlichten Flechtfrisur um ihren Kopf schmiegte, und ihre Haut war kräftig braun, aber längst nicht so dunkel wie Jadzias. Ihr Gesicht wirkte ein wenig kantig und herb, vielleicht wegen ihrer dichten dunklen Augenbrauen, aber das Lächeln, das auf ihren schmalen Lippen lag milderte diesen Eindruck. Er wusste nicht warum, aber er hatte vom ersten Moment an das Gefühl, sie zu kennen, obwohl er nicht den Finger darauf legen konnte, woher oder an wen sie ihn erinnerte, wenn es nur eine Ähnlichkeit war. Es musste jemand sein, den er mochte, weil sie ein Gefühl von Geborgenheit in ihm auslöste, und obwohl sie ihm gerade sehr nahe kam, fühlte er sich überhaupt nicht unbehaglich.
Mit einer letzten, schwungvollen Handbewegung schob sie eine Haarsträhne in Position und nickte überzeugt. Perfekt, sagte sie mit einer Handgeste, und er musste lächeln. „Richtest du öfter das Aussehen von dahergelaufenen Sklaven?”, fragte er, und sie schüttelte den Kopf und zwinkerte ihm zu, deutete auf ihn. Das habe ich nur für dich getan. „Ich habe dich hier noch nie gesehen, aber du kommst mir bekannt vor”, versuchte er hinter das Mysterium ihrer Erscheinung zu kommen, und sie zuckte nur mit den Schultern, deutete auf den Eimer und die Schale, nickte in die Richtung, die sie einschlagen musste. Ich muss weiter. „Na gut”, sagte Valion enttäuscht, und beobachtete, wie sie weiter trabte. 

Als sie ein paar Schritte entfernt war wandte er sich um, richtete den Blick zurück auf sein Quartier. 
Niemand stand dort.

Plötzlich wurde ihm einiges klar, und so schnell er konnte sah er zurück in die Richtung, in die das Mädchen gegangen war. Natürlich war sie ebenfalls verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, und plötzlich bildete sich eine Wut nie gekannten Ausmaßes in seinem Inneren.
Man spielte mit ihm, die ganze Zeit über.
Reiß dich zusammen, versuchte er sich zu beruhigen und ballte die Fäuste, es war nicht alles umsonst. Du hast immer noch…

Er hatte nicht. Er bemerkte es erst jetzt. Wie hatte er nur so dumm sein können? Seine Hände waren völlig leer. Kein Bündel, kein Spiegelrahmen. Nichts. Und die Wut in seinem Inneren wurde zu einem brüllenden Orkan.

Anya bürstete ihr Haar, wie an jedem Abend. Es nahm viel Zeit in Anspruch, die Knoten zu entwirren, die sich den Tag über gebildet hatten, alles zu ihrer Zufriedenheit zu glätten und für die Nacht zu flechten. 
Sie bemerkte zunächst überhaupt nicht, dass jemand hinter ihr stand, und als sie ihn aus den Augenwinkeln bemerkte, dachte sie zuerst nicht an Valion. Es lag an den Augen. Sie kannte nur einen, dessen Augen so derartig kalt und mitleidlos waren. 

„Ansin, was verschlägt dich-”, begann sie, und hielt inne, als ihr Blick auf Valion fiel. Er starrte sie an, die Fäuste geballt, und für einen Moment bekam sie es mit der Angst zu tun. Aber dann erinnerte sie sich, wer vor ihr stand. Valion hatte sie vor wenigen Stunden nur sanft beiseite geschoben, als er enttäuscht und wütend war. Jetzt sah er sehr, sehr wütend aus, aber wer wusste schon, woran das lag?

„Ach, du bist es. Was willst du?”, fragte sie schlicht. Seine Antwort war nur stilles Starren, und plötzlich begann ihr Herz hektisch zu schlagen, und ihre Hände verkrampften sich um den Stiel der Haarbürste. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung, und jeder ihrer Instinkte schrie sie an, jetzt nichts Falsches zu sagen, und das ergab überhaupt keinen Sinn. Es ist nur Valion, versuchte sie sich einzureden, aber er sah in diesem Moment nicht aus wie er selbst. Er klang nicht nichtmal wie er selbst, als er drohend fragte: „Was hattet ihr mit Jefrem zu besprechen?” Für einen Moment wollte sie antworten, aus Angst, was er tun würde, wenn sie nicht die Wahrheit sagte, aber im gleichen Moment riss sie sich zusammen. „Ich denke nicht, dass dich das etwas angeht”, sagte sie und schluckte trocken. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Jadzia zog sich gerade um, sie hörte ihre Kleidung rascheln, und plötzlich wünschte sie nichts sehnlicher, als dass sie sich beeilte. „Hast du sonst noch Fragen?”, fragte sie, und es klang zu gleichen Teilen schnippisch und verunsichert.

„Und ob”, antwortete Valion drohend, und er ging einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück, unsicher, eingeschüchtert, und fragte sich, was hier eigentlich vorging. „Kennst du eine Dienerin, etwas größer als ich, braune Haut, dunkle Augen, lange schwarze Haare, stumm?” Ja, diese Beschreibung sagte Anya etwas, zwar nur vage, aber wenn sie die entsprechenden Fragen stellte, würde sie sie vermutlich finden und wiedererkennen. „Vielleicht”, antwortete sie neutral, „Das kommt darauf an, was du von ihr willst.” Denn wenn du zu ihr gehen willst und sie so ansehen und bedrohen wie mich, werde ich den Teufel tun und dir das sagen, dachte sie bitter. „Sie hat mich bestohlen”, sagte Valion finster, und das ergab noch weniger Sinn. Warum sollte eine einfache Dienerin ihn bestehlen? Was besaß er schon, das von Interesse für irgendwen war? Es sei denn, sie handelte im Auftrag von Fourmi.
Das Wissen über Fourmi musste ihre Züge merklich verändert haben, auch wenn sie es nicht wollte, denn Valion begriff sofort. „Du weißt etwas”, sagte er, eine einzige, düstere Feststellung. „Nein”, sagte sie schnell, und der winselnde Unterton in ihrer Stimme erschrak sie selbst zutiefst. Das konnte doch nicht wahr sein! Was geschah hier? „Warum deckt sie euch? Was habt ihr zu verheimlichen? Was plant ihr?!”, schrie er sie plötzlich an, und sie zuckte zurück, als hätte man sie geschlagen. Ihre Hand tastete nach der Wand, sie versuchte Halt zu finden, stieß mit der Hand gegen eine Karaffe auf dem winzigen Tischchen, und sie fiel und zerbarst mit einem lauten Splittern auf dem Boden. Innerhalb von Sekunden war sie weg. Zurück in diesem einen schrecklichen Moment.

Oh Gott nein bitte nicht bitte nein ich bitte nein ich wollte nicht ich kann nicht bitte nicht nein nein nein

Sie wusste nicht einmal wie lange sie weg war, ob sie vielleicht nur die Augen geschlossen hatte, aber im nächsten Moment war Jadzia da. Es klatschte einmal, ein gewaltiger, donnernder Laut, und als sie die Augen öffnete war Valion auf der anderen Seite des Raumes, und Jadzia hatte sich drohend vor ihm aufgebaut. Wie jedes Mal. Tränen stiegen Anya in die Augen. Jadzia. Sie brauchte jetzt Jadzia. Ihre Hände griffen reflexartig nach ihrem Arm, während die Tränen zu fließen begannen, und ihr ganzer Körper zitterte. Jadzia zitterte ebenfalls, ihr Körper bebte vor Wut und Abscheu. Sie war eine schmale, weiche Person, aber in diesem Moment war sie Eisen und Feuer, wütend und furchteinflößend. Sie starrte Valion hasserfüllt an, und ihre Stimme waren tonlos und eiskalt. Nichts war an ihren Worten noch sanft oder gewählt. „Wenn du sie jemals anrührst bringe ich dich um. Und wenn du jetzt versuchst dich zu rechtfertigen für dein Verhalten, verpasse ich dir gleich noch eine, ist das klar?”

Valion lehnte an der Wand, völlig perplex, die Hand gegen die feuerrote Wange gepresst. Er war wieder er selbst, ein junger Mann, fast noch ein Kind, klein, verletzlich, und eingeschüchtert. Sie sah Erstaunen in seinen Augen, aber auch Reue. Er begriff plötzlich. Er begriff zum ersten Mal, wieviel Macht er haben konnte, und er hatte nicht damit gerechnet, und je länger er da stand, je länger Jadzia ihn fixierte, desto mehr schien ihm aufzugehen, wie er sich verhalten hatte. „Ich wollte nicht-”, begann er, und plötzlich näherten sich dem Wagen Schritte.

Bevor irgendjemand von ihnen reagieren konnte betraten drei Männer den Wagen, einige von den jüngeren, weniger erfahrenen Wächtern. Sie starrten verwundert auf das, was sich abspielte, bis Jadzia sich ungehalten zu ihnen umdrehte und den Anführer der drei fragte: „Was zum Teufel…?!” Sie brach ab, weil er ein erschrockenes Gesicht macht, atmete durch und fragte noch einmal, wesentlich sanfter: „Was macht ihr hier?”
„Wir sind hier, um auf Eraviers Befehl alles zu durchsuchen. Jegliche Waffen, Gegenstände von fragwürdiger Bedeutung, und jegliche Verbindungen zu rebellischen Aktivitäten müssen wir melden”, spulte er aus dem Gedächtnis ab, und er war sichtlich froh, als Jadzia ihn mit einer Handbewegung bedeutete, dass er freie Hand hatte. „Wir werden euch nicht im Wege stehen. Wir haben nichts zu verbergen. Sucht, so lange ihr wollt. Wir werden einen Abendspaziergang unternehmen.”

Damit ergriff sie Anyas Hand, und ohne sich noch einmal umzusehen führte sie sie nach draußen, sanft und geduldig. Anya folgte ihr, und sie wagte nicht aufzusehen. Tränen schimmerten durch ihr langes rotes Haar, das ihre Wangen verdeckte. Im nächsten Moment waren sie verschwunden.

„Was ist denn mit denen los?”, murmelte einer der anderen Wächter, aber ihr Anführer zuckte nur mit den Achseln und befahl: „Los, wir haben einen Befehl. Du willst nicht gehen?”, fragte er den immer noch verdatterten Valion, und er schüttelte den Kopf. „Ich darf nicht”, erklärte er.

Natürlich wurde Valion durchsucht, und auch der ganze Rest des Wagens. Aber es gab nichts, was die Wächter finden konnten. Keine Glassplitter, kein Metallstück, das als Waffe dienen konnte. Keinen leeren Spiegelrahmen, in dem noch vereinzelte Spiegelscherben hingen. 
Jemand hatte Bescheid gewusst. Man hätte fast meinen können, dass es dieser jemand gut mit Valion meinte. Oder dass jemand noch Pläne mit ihm hatte. Während Valion da saß und das Chaos ignorierte, das die Wachen um ihn schufen, während sie alles auf den Kopf stellten, musste er jedoch über mehr nachdenken als das. Darüber, wie es sein konnte, dass er so wütend geworden war. So gewalttätig. Er hatte Anya nicht geschlagen, aber er war kurz davor gewesen. Er hatte sie angeschrien, weil ein kleiner Bestandteil seines Lebens abhanden gekommen war. Wie konnte er das tun? Was wurde hier aus ihm, an diesem Ort? Es war so viel angestaute Wut ihn ihm, so viel Hass auf alles, was geschehen war. Und Verwirrung, unendlich viel Verwirrung. Wie sollte er nur damit fertig werden? Das war nicht er selbst. Nicht die Person, die er sein wollte.

Aber wer war er dann?


Als die Sonne gesunken war und der Abend anbrach wurde der Rebellionspion gefasst. Er war der einzige Mann, der einen gebrochenen Arm und mehrere blaue Flecken vorzuweisen hatte, und dazu kam, dass er einer der neuen Diener war, die Faure vor seinem Tod angestellt hatte.
Er beteuerte tausendmal seine Unschuld, und behauptete, dass er nur betrunken gewesen sei und eine schattenhafte Gestalt ihn überfallen und zusammengeschlagen hätte. Als er aus seiner Ohnmacht erwachte hätte er einen gebrochenen Arm gehabt und aus Angst geschwiegen.
Natürlich glaubte ihm niemand. Während er fluchte und schrie, wurden ihm die Augen verbunden, und dann wurde er den drei verbliebenen Händler vorgeführt und erschossen. Zwei Paar Augen wandten sich entsetzt ab; aber das dritte verfolgte jedes letzte Zucken, bis der Körper endlich still lag. Eravier lächelte.

Karvash kehrte an diesem Abend bleich zu seinen Frauen zurück, und sie versuchten ihn zum Sprechen zu bringen, aber er wandte sich nur ab und schwieg. Er ging ohne Abendessen zu Bett, völlig untypisch für ihn. Sophie, seine zweite Frau, ließ sich daraufhin ungehalten zum Essen nieder, und als ihre Dienstmagd, ein stummes Mädchen namens Fleurie, ihr den Wein reichte, glitt ihre Hand aus. Sie war ungewöhnlich steif und ungelenkig. „Was ist nur los mit dir, Mädchen?!”, fragte sie herrisch, und Fleurie entschuldigte sich tausendmal in ihrer Sprache, die nur aus Handzeichen bestand, und gab ihr gestikulierend zu verstehen, sie hätte sich den Arm an einem Balken gestoßen. Seufzend akzeptierte Sophie die Erklärung, und nach tausend Verbeugungen machte Fleurie sich auf den Weg durch das Lager, um neuen Wein bei den Dienern abzuholen, die die Bestände überwachten und verteilten.
Niemand beachtete sie. Niemand hielt sie auf oder fragte, wohin sie ging. Als sie einen Kapuzenmantel überstreifte, warf ihr nicht einmal jemand einen zweiten Blick zu. Es war Fleurie, die in den Schatten untertauchte. Es war Fourmi, der sich mit nur einem Arm auf das Dach eines Wagens schwang und zusammengekauert die Menge der hin und her eilenden Diener überwachte. Ein Haufen Ameisen, unter denen diese eine Arbeiterin nicht weiter auffiel. 

Gerüchte schwirrten durch das Lager, Beobachtungen, Klatsch, Tratsch, Sorgen und Ängste, Halbwahrheiten und düstere Vorraussagen. Fourmi hörte sie alle, als Rebell und als Dienerin, in den Schatten und offen im Tageslicht, übersehen von denen, die ihn für Inventar hielten, für ein atmendes, lebendiges Möbelstück. Mächtige Männer wie Eravier unterschätzten Ameisen, weil sie sie dutzendweise zertreten konnte. Sie unterschätzten, wie viel sie bewegen und wie schnell sie zu einer Plage werden konnte, und jede von ihnen konnte Gift verspritzen. Sollte Eravier doch nach der einen suchen, die ihn verletzen wollte. Er würde Fourmi niemals finden.
So viel Arbeit, so viele Fäden, die bei ihr zusammen liefen. Die Nacht war lang, und die Rebellion noch lange nicht besiegt.

Die Durchsuchungen dauerten den ganzen Abend und die ganze Nacht an. Glücklicherweise waren die Wächter, die Valions, Anyas und Jadzias Quartier auf den Kopf stellten schnell wieder verschwunden, aber sie hinterließen ein unheimliches Chaos. Sie hatten die wenigen Einrichtungsgegenstände verschoben, die Bettsachen durchwühlt, sogar Vorhänge herunter gerissen, und je länger sie suchten, desto irritierter schienen sie zu sein. Hatte ihnen jemand einen Tipp gegeben? Oder hatte Eravier ihnen befohlen, dieses Quartier besonders gründlich zu durchsuchen? Beides war möglich, doch letztendlich mussten sie mit leeren Händen abziehen. 
Aber was hätten sie finden sollen? Die Rebellion war vor ihnen hier gewesen, das wusste Valion jetzt. Und sie hatten dabei keinen Staub aufgewirbelt.

Als endlich Ruhe eingekehrt war und die Wächter zum nächsten Wagen weiter zogen, wanderte Valion wie betäubt durch das Durcheinander. Vorsichtig schob er die Scherben der zerbrochenen Karaffe, die Anya herunter gestoßen hatte, mit dem Fuß zur Seite. Er überlegte ob er aufräumen sollte, zumindest ein Mindestmaß an Ordnung schaffen, suchte nach einer Aufgabe, bei der er beginnen könnte, und scheiterte allein daran. Es würde ewig dauern, alles wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen, und er fühlte sich dem überhaupt nicht gewachsen, erst recht nicht allein.
Ob er auf Anya und Jadzia warten und sie bitten sollte, ihm zu helfen? Er dachte darüber nach, aber er glaubte nicht, dass sie überhaupt ein Wort mit ihm wechseln würden. Und wenn, dann wäre es sicher nur zum Streit gekommen, und das hätte er nicht ertragen, nicht nach allem, was passiert war. Er fühlte sich, als wäre sein Inneres nach außen gekehrt worden. Neu aufgeflammter Schmerz hämmerte im Takt seines Herzschlags in seiner Schulter und in seinem Kopf. 

Also beschloss er, sich schlafen zu legen. Benommen sammelte er seine Decke und sein Kissen ein, beides war zusammen mit den restlichen Bettsachen auf einen Haufen geworfen worden, löschte die Lampen und legte sich hin.

Er war müde, aber trotzdem lag er wach, warf sich hin und her. Die Sonne verschwand, und der Wagen versank in Dunkelheit. Sie schien aus den Ecken und Ritzen zu kriechen, breitete sich aus, hüllte ihn ein und flutete seinen Kopf. Oder stammte sie von dort und kehrte nur zurück?

Ansin. Sie hatte ihn für Eravier gehalten. Er hatte es erst gar nicht wahrgenommen, aber als es ihm wieder eingefallen war, schien der Boden unter seinen Füßen weg zu brechen. Er wusste, wie sie darauf gekommen war, und es ängstigte ihn mehr als alles andere. Er erkannte sich selbst nicht, er erkannte seine Gefühle nicht wieder. Das Misstrauen, den Hass, die Wut, die Rachsucht. Und er wollte sich trotzdem daran fest halten, weil es alles zu sein schien, was ihm letztendlich blieb. Liebe, Freundschaft, Vertrauen, alles schien wie weggewischt, und ja, das war auch seine eigene Schuld.
Er fragte sich, ob er Marceus vertrieben hatte, weil er es nicht ertragen konnte, allein zu sein. Ob er vielleicht seine Chance verspielt hatte, mit Tarn ins Reine zu kommen, weil er nicht über seinen Schatten springen und verzeihen konnte. Ob er Jan für immer verloren hatte, und sich nur haltlos an die letzten Spuren von dem klammerte, was gewesen war. Und ob Anya und Jadzia überhaupt noch ein Wort mit ihm wechseln würden, wenn sie jetzt fürchten mussten, dass er gewalttätig war. Vielleicht waren sie in diesem Moment bei Eravier und versuchten ihn zu überzeugen, dass er doch in eine kleine, dunkle Zelle gehörte. Zurück an die Kette wie ein bissiger Hund.

Aber er grübelte nicht nur, er lauschte auch auf die Geräusche von draußen, die ihn nicht weniger wach hielten. Er war noch nicht lange Teil des Wagenzuges, aber er spürte die Aufruhr, die Unsicherheit unter den Dienern, und er konnte den Lärm den die Wächter verursachten nicht überhören. Dinge wurde verschoben, Kisten und Fässer geöffnet und umgestoßen, mehrmals klirrte und schepperte es, wenn etwas zu Bruch ging oder ohne Nachdenken auf dem Boden landete. Die Wächter waren auf Rebellenjagd, und sie nahmen auf nichts und niemand Rücksicht, so wie ihre Befehle lauteten. Eravier wollte einen Spion fassen, und er würde einen bekommen.
Die Stimmung im Lager, die nach Valion Flucht schon angespannt gewesen war, schien weiter zu kippen. Mehrmals hörte er sowohl heimlich geflüsterte Gespräche als auch aufgeregte Diskussionen in der Nähe des Wagens, und die sich überschlagenden Stimmen besorgten ihn und ließen ihn gleichzeitig, wider besseren Wissens, hoffen. Er fragte sich zum ersten Mal, wie lange Eraviers Untergebene loyal bleiben würden, wenn sie derartig behandelt wurden. Gab es einen Punkt, an dem die ganze Organisation zusammenstürzen würde? Es war eine vage Hoffnung, aber er klammerte sich an dem Gedanken fest. Konnte er die Unruhe vielleicht ausnutzen, oder sogar schüren? Vielleicht würde ihm das irgendwie nützen, auch wenn er nicht wusste, was mit denen geschehen würde, die sich offen auflehnten. 

Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da hallte ein Schuss durch das Lager.

Er setzte sich reflexartig auf, und sein Herz begann zu hämmern. Wem hatte der gegolten? Brach jetzt tatsächlich das Chaos aus? Er lauschte auf Schreie, weitere Schüsse, irgendetwas, aber es herrschte nur Grabesstille. Die Abwesenheit von Geräuschen hätte ihn beruhigen müssen, aber das tat sie nicht. Es war, als hielte die Welt in diesem Moment den Atem an, und dann setzte das Getuschel wieder ein. Ängstliche Stimmen im Flüsterton, hastige Schritte. Jemand schluchzte und wurde sofort zum Schweigen gebracht. Valion verstand keine Worte, aber auch ohne zu wissen, was genau sich abgespielt hatte, wurde eines klar: Die Regeln hatten sich geändert. Etwas ging vor sich, und er saß hilflos da und wusste nicht was.
Der Gedanke reichte aus, dass er sich aufrappelte und unsicher durch das Dunkel hin zum Ausgang tappte, auch wenn er überhaupt keine Vorstellung davon hatte, was er dort sollte. Er fühlte sich wie gelähmt, und nur mit Mühe brachte er den Mut auf, die Plane am Eingang des Wagens zur Seite zu schieben.

Er hatte mit allem gerechnet; mit Wächtern, Chaos, sogar der Rebellion. Aber als er nach draußen sah, stand eine Dienerin vor dem Wagen.
Sie.
Sie hatte die Arme verschränkt und drehte ihm den Rücken zu, fast so, als hätte sie nicht absichtlich in der Nähe seines Quartiers herum gelungert, sondern würde auf jemand anderen warten. Sie bemerkte ihn sofort, aber dennoch wartete sie geduldig ab, bis zwei ängstlich aussehnende Dienerinnen an ihr vorbei gehuscht waren. Erst dann wandte sie sich zu ihm um, fixierte ihn. 
„Was zum Teu-”, begann er, und sie hob heftig die Hände, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie sah sich noch einmal energisch um, als wolle sie ganz sicher sein, dass niemand sie beobachtete, dann ging sie geradewegs auf ihn zu und drängte ihn rückwärts in den Wagen zurück. Er ließ es überrumpelt geschehen, eher, weil sie so entschlossen schien, nicht, weil er sich vor ihr fürchtete. Im nächsten Moment waren sie ins Halbdunkel des Wageninneren eingetaucht, das nach dem Schein der Feuer und Lampen draußen noch düsterer wirkte.

Valion wollte erneut zu einer Frage ansetzen, aber da hatte die Dienerin schon etwas aus ihrer Schürzentasche gezogen und hielt es ihm ohne weitere Geste oder Erklärung unter die Nase, fast trotzig. Es war ein Bündel, das er sofort wiedererkannte, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Er nahm es hastig entgegen, und im nächsten Moment wandte sich das Mädchen ab und wollte verschwinden. Er bekam sie gerade noch am Ärmel zu fassen und hielt sie zurück, und sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. Immer noch trotzig, aber auch besorgt, und ein wenig ängstlich. 

Hatte sie mitbekommen, wie er sich vor kurzem noch verhalten hatte? Oder hatten Anya oder Jadzia erzählt was geschehen war, sie vielleicht sogar gewarnt? Wenn ja, dann war es vermutlich kein Wunder, dass sie jetzt ebenfalls Angst vor ihm hatte, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er wollte das nicht. Er wollte nicht gefürchtet werden wie Eravier, sodass alle um ihn herum sich duckten, wenn er in der Nähe war. Es war eine Form von Macht, das begriff er in diesem Moment, aber keine, die er besitzen wollte.

Beschwichtigend, ruhiger als er sich fühlte hob er die Hände und sagte: „Ich will dir nur eine Frage stellen. Ich tue dir nichts! Wenn… wenn du gehen willst, dann geh einfach.”
Das Mädchen warf ihm einen zweifelnden Blick zu, aber dann entspannte sie sich ein wenig, nickte. Ja, sie wusste, wie er sich verhalten hatte, das war jetzt deutlich, aber sie war durchaus bereit, ihm zuzuhören. „Hat man dir befohlen, mir das zurück zu geben?”, fragte er direkt. Sie zögerte, und fast glaubte Valion, dass sie ohne eine Antwort zu geben gehen würde, doch in diesem Moment schüttelte sie energisch den Kopf. Nein. Sie hatte es ohne Befehl getan. Und so sehr, wie er sie vor kurzem noch so gehasst hatte, so dankbar war er jetzt.

„Danke. Danke, dass du es zurück gebracht hast”, sagte er, und meinte es auch so. Sie hätte seine Sachen wegwerfen können, oder verbrennen, das wäre das Sicherste gewesen. Stattdessen hatte sie alles bei sich getragen und dadurch vor den Durchsuchungen beschützt, egal wie hoch das Risiko für sie war, und war sogar zurück gekehrt, um ihm alles wiederzugeben. Erst jetzt wurde ihm klar, wie mutig sie war, wie schwer es gewesen sein musste, unauffällig in der Nähe auszuharren und auf den richtigen Moment zu warten. Wenn irgendjemand aufgefallen wäre, dass sie sich verdächtig verhielt…

Der Gedanke entsetzte ihn, und die Unruhe, die das Lager seit Stunden erfüllte, griff plötzlich und heftig auf ihn über. Hatte er wirklich für einen Moment gehofft, dass die Lage noch schlimmer wurde, dass die Diener sich gegen Eravier wendeten, nur damit er einen Vorteil daraus ziehen konnte? Er hätte sich selbst dafür ohrfeigen können. 
Was auch immer geschehen war, was auch immer seine Flucht ausgelöst hatte, er hatte direkt oder indirekt dazu beigetragen, dass andere Menschen in Gefahr gerieten. Jetzt war niemand mehr sicher, niemand den er kannte, und niemand den er mochte. Irgendwie, ohne dass er begriff wann und warum, hatte er etwas in Gang gesetzt das weit jenseits seiner Versklavung lag. Und mit einem Mal fühlte er sich verantwortlich. Verantwortlich für Marceus Schicksal, für Tarns, für das von Anya und Jadzia, nur dadurch, dass er da war und entschied, wie er sich verhielt. Siebzehn Jahre seines Lebens hatte es keine Rolle gespielt, wie er entschied und für wen er sich einsetzte, und plötzlich hing etwas von ihm ab. Zum Beispiel das Leben des Mädchens vor ihm, obwohl er nicht einmal ihren Namen kannte.

„Danke”, widerholte er, und jetzt zitterte seine Stimme, und langsam, damit er sie nicht erschreckte, ergriff er ihre Hand, drückte sie. „Ich hab es mir nicht wirklich verdient, dass du mir hilfst, aber du hast mich gerettet.” 
Er erwartete fast, dass er Unbehagen in ihrem Gesicht sehen würde. Sie kannte ihn schließlich kaum, und obwohl sie ihn vor kurzem schon einmal berührt hatte, war das etwas anderes. Er erwartete, dass sie ihre Hand wegziehen würde, peinlich berührt, aber stattdessen schien sie plötzlich besorgt zu sein. Sie hob die Hand, strich durch sein Haar, öffnete den Mund, und schloss ihn dann wieder. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre zu sprechen, hätte sie nicht die richtigen Worte gefunden, das alles wurde in diesem winzigen Moment sichtbar. Aber gerade deshalb war es tröstlicher als eine dahingeworfene leere Phrase. Sie fühlte mit ihm, dass sah er in ihrem Gesicht, selbst wenn er nicht wusste, warum. Und dann, völlig unerwartet, trat sie einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn fest, legte nach einem Moment des Zögerns vorsichtig ihren Kopf an seine Schulter.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte; vielleicht, dass er sich zu ihr hingezogen fühlen würde, so wie zu Anya. Doch stattdessen befiel ihn ein so starkes Gefühl der Vertrautheit, dass er fast schauderte. Es dauerte einen Moment bis er begriff, warum, bis er die Hand hob und vorsichtig eine ihrer Haarsträhnen zurück strich. Es war eine fast instinktive Geste, weil er sie schon so oft, öfter als er zählen konnte, wiederholt hatte - bei Mila und Arinda. 
Schlagartig wurde ihm klar, warum er die ganze Zeit das Gefühl gehabt hatte sie zu kennen, warum er sich in ihrer Nähe sofort wohl gefühlt hatte. Das wuschelige Haar, das runde Gesicht, der Blick, alles erinnerte ihn an seine Schwestern. Er verstand nicht, wie das sein konnte, aber es war auch völlig gleichgültig, weil mit einem Schlag die Sehnsucht und die Trauer zurückkehrten.

Wie ging es Mila und Arinda? Lagen sie bereits in ihrem Bett, Rücken an Rücken, oder Arm in Arm? Schliefen sie schon, träumten sie, oder waren sie wach? Hatte sie jemand zu Bett gebracht und ein Abendgebet gesprochen, oder tat das niemand, jetzt, da er nicht da war? Und wenn, hatte es überhaupt einen Sinn? Es gab keine gerechten Götter, nicht hier, und nicht dort. Sonst wäre er nicht an diesem Ort, und hätte er nicht eine völlig Fremde umarmt, weil sie ihn an seine Schwestern erinnerte.
Aber obwohl die Erinnerung schmerzte, beruhigte sie ihn auch. Er hatte Fehler gemacht, und er konnte nicht jeden davon ausgleichen. Aber er musste dafür einstehen, Verantwortung zeigen; Er durfte sich nicht diesem Chaos an negativen Emotionen hingeben. Nicht, wenn jemand von ihm abhängig war.

Nach einem Moment ließ sie ihn los, legte den Kopf schief und lächelte ihm immer noch besorgt, aber auch aufmunternd zu. Er sah die unausgesprochene Frage. Geht es dir besser? „Es geht schon”, sagte er tapfer und seufzte, „Ich fange morgen einfach wieder von vorn an. Versuche es besser zu machen. Mehr kann ich nicht tun, oder?” Sie nickte zustimmend, mit einem schmalen Lächeln, das ihm gleichzeitig völlig vertraut und völlig fremd war. Dann beugte sie sich vor, und er zuckte nicht einmal zurück, weil er auch das von seinen Schwestern kannte - sie hatten ihn öfter als er zählen konnte auf die Wange geküsst. Aber stattdessen neigte sie sich noch weiter vor, bis ihre Lippen auf einer Höhe mit seinem Ohr waren. 
So leise, dass er ihre Stimme nicht erkennen konnte, flüsterte sie: „Du bist nicht allein. Halte durch.”

Er erstarrte, und entgeistert sah er sie an, als sie sich zurückzog. „Du kannst sprechen?”, flüsterte er zurück, und sie legte den Finger auf die Lippen, eine Geste des Stillschweigens. Der Ärmel ihres Kleides rutschte ein wenig höher, entblößte ihre Brandmarkung. Plötzlich funkelten ihre dunklen Augen, intelligent und durchtrieben.

Unser kleines Geheimnis.

~

Es war weit nach Mitternacht, als Fourmi endlich dazu kam, sich zu dem Ort zu schleichen, an dem der entstellte Leichnam von Durand lag. 
Eigentlich hatte sie gehofft, an diesem Tag eher aus ihrem Dienst entlassen zu werden, denn Karvash war nach der Hinrichtung in schlechter Stimmung gewesen, die sich auf seine ganze Familie nieder geschlagen hatte. Doch stattdessen waren seine Frauen umso länger wach geblieben und hatten über die Vorgänge im Lager gerätselt. 

Wie so oft hielten sie sich vor Fleurie mit ihren Vermutungen und Schlussfolgerungen nicht zurück. Sie war zu jung, zu unwichtig, und stumm, sie konnte also kaum erzählen, was sie aufschnappte. Und ohnehin gab es nichts, das man sie fragen konnte, ohne der Zeichensprache mächtig zu sein oder ihre Gesten zu interpretieren, und kaum jemand machte sich die Mühe, wenn es nicht wirklich wichtig war. Diese Art der Geringschätzung wäre frustrierend gewesen, wenn sie Fourmi nicht so zu Pass gekommen wäre.
So hörte er mit, wie sie über den Verräter Durand sprachen, sich um die Loyalität der Diener sorgten, und die Rebellion verfluchten, und das über Stunden hinweg, obwohl es für ihn eigentlich anderes zu tun hab. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in den wenigen ruhigen Momenten einen kurzen Rundgang zu machen und das Lager zu überblicken, aber es war ungewöhnlich still geworden. Der zweite Tote innerhalb von zwei Tagen, das schürte Angst und Unruhe, und alles lag wie ausgestorben da.

Endlich, nachdem Fourmi so lange ausgeharrt hatte, hatten sich die Herrinnen für die Nacht zur Ruhe gelegt, und sie verlor keine Zeit mehr und durchquerte das Lager schnell und leise. Es war sogar leichter als in den Nächten zuvor. Obwohl die Wächter noch häufiger als sonst patroullierten, blieben die Diener und Knechte in dieser Nacht bei ihren Schlafplätzen und wagten nicht einmal, sich zu unterhalten. Und so entstanden, ohne dass es beabsichtigt war, Lücken in den Routen der Wächter, einfach nur dadurch, dass die Diener ihre Augen und Ohren nicht mehr an sie verliehen. 
Fourmi schlüpfte durch sie hindurch wie eine Maus durch ein Loch in den Bodendielen, hielt sich im Schatten, bewegte sich an den Feuern vorbei, die in dieser Nacht durch Vernachlässigung nicht mehr hell brannten, sondern nur noch glommen. Sie hoffte darauf, dass Durands Leichnam unbewacht sein würde, denn das würde ihr die Gelegenheit geben, ein paar letzte Korrekturen vorzunehmen.

Wie immer war es einfacher gewesen, eine derartig waghalsige Aktion zu veranlassen, als sie am Ende glatt zu ziehen. Ein gebrochener Arm war ein gutes Indiz, aber er reichte bei weitem nicht aus. Weitere Beweise mussten platziert werden, denn auch wenn Eravier zuerst mordete, dann drohte und zum Schluss fragte, er war in seinen Nachforschungen unerwartet hartnäckig, und Fourmi hatte alle Hände voll zu tun. Die richtigen Zeugen an den richtigen Orten, die richtigen Gegenstände am richtigen Platz, alles benötigte Sorgfalt. Aber Sorgfalt erforderte Zeit und Kraft, die er nicht im Überfluss hatte. 
Die Tarnung als Dienerin war gut, aber sie verlangte auch harte körperliche Arbeit, und das den ganzen Tag, oft ohne Pause, und ohne Gelegenheit, bestimmte Dinge in die Wege zu leiten. Und wenn der Moment kam etwas umzusetzen fühlte sich Fourmi oft erschöpft. Mit einem Eimer Wasser in den Händen unsichtbar zu sein bedeutete immer noch, die ganze Zeit zu schleppen, neuerdings nur noch mit einem intakten Arm. Er hatte den gebrochenen Arm so fest und flach geschient wie er konnte, aber die Schmerzen waren eine Ablenkung und eine Last. Wenigstens war es ein glatter Bruch. Während Fourmi zielsicher durch das Lager schlich, rieb sie sich die schmerzenden Arme, den einen, weil der Verband juckte, den anderen, weil sie ihn schon die ganze Zeit überlasten musste. Wenn das so weiterging, würde sie Muskeln wie ein Holzfäller entwickeln, nur leider halbseitig, und das war nicht nur unpraktisch, sondern sah vermutlich auch lächerlich aus.

Dennoch bereute Fourmi es nicht, diese Tarnung angenommen zu haben. Die Schwierigkeiten hielten sich im Gegensatz zu anderen Einsätzen wirklich in Grenzen. Es war lächerlich, aber er begann fast, seine Fähigkeiten zu vernachlässigen, weil er sie nicht brauchte; niemand schöpfte Verdacht. Sie hatte damit sogar Valion getäuscht, obwohl sie sich schon mehrmals über den Weg gelaufen waren, als Rebell und als Dienerin. Es war fast ein wenig enttäuschend, denn eigentlich hätte er ihr längst auf der Fährte sein müssen. Aber vermutlich hatten die letzten Ereignisse ihren Tribut gefordert. Valion hatte erschöpft ausgesehen, verloren. Fourmi hatte sich eigentlich vorgenommen, sich nicht beeinflussen zu lassen, aber ihn so am Boden zu sehen hatte selbst in ihm Mitleid ausgelöst.
Das erklärte nicht wirklich, warum er sich dazu hatte hinreißen lassen einen Teil seiner Tarnung offen zu legen, aber das war zumindest nichts, was sich nicht rationalisieren ließ. Sie brauchte ihn, und Valion brauchte ihre Hilfe genauso nötig, wenn er bis Luteija und weiter durchhalten musste. Wenn er vielleicht sogar ein aktiver Rebell werden sollte. Dazu musste er nicht zwangsläufig hinter Fleuries Maske sehen, aber es war besser, wenn er ihr nicht mehr misstraute als nötig. Sich vielleicht sogar mit ihr verbunden fühlte.

Fourmi schwankte untypisch, was seine Pläne für Valion betraf. Am Anfang hatte er es selbst für das Beste gehalten, ihn nicht einzuspannen, so wie es seine Mutter gewollt hatte. Es hatte keinen Sinn gehabt, ihn weiter zu involvieren, und seinen Zweck Eravier abzulenken hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits erfüllt. Umso mehr hatte es ihn geärgert, dass Tarn jede ihrer Anweisungen ignoriert und ihn, wenn auch indirekt, in die Pläne und Ziele der Rebellion eingeweiht hatte. Es hatte nicht zu ihren Plänen gepasst und zu der Art, wie sie vorgehabt hatte Valion aus dem Geschehen heraus zu halten. 

Doch nach allem was geschehen war, nach allem was Fourmi selbst von Valion gesehen hatte, war er sich nicht mehr sicher, ob Tarn nicht das Richtige getan hatte. Unabhängig davon, ob Valion nur als Notlösung ausgebildet wurde oder nicht, er besaß alle Vorraussetzungen ein nützliches Mitglied der Rebellion zu werden. Wenn Fourmi daran gezweifelt hatte, konnte sie es spätestens nicht mehr, seit der Junge Eravier eiskalt ins Gesicht gelogen hatte, mit einer Ruhe und einem Mangel an Scham, die Fourmi ihm in tausend Jahren nicht zugetraut hätte. Das war der Moment gewesen, in dem die Idee in ihr gekeimt war, ihn und Anya als einzige Spione zurück zu lassen.
Und dennoch… ein Teil von ihr protestierte und wollte ihn aus allem heraus halten. War es nicht ihre Verantwortung, alle Fäden in der Hand zu behalten? Fourmi wusste, dass Tarn nicht dazu fähig war die Situation komplett zu überblicken - wie konnte er annehmen, dass es Valion gelang? Er wusste, dass er es seiner Mutter zugetraut hätte, aber Valion selbst war immer noch ein unbeschriebenes Blatt.

Doch bevor sich zeigte, was wirklich in ihm steckte, gab es Anderes zu tun. Fourmi hatte ihr Ziel erreicht.
Das Lager der Wächter war um diese Uhrzeit der am hellsten beleuchtete Teil des Lagers, und dennoch seltsam verlassen, da die Wachablösung noch lange nicht bevorstand. Die wenigen Wachen, die sich um die Feuer versammelt hatten wärmten sich auf und schwatzten, in der Überzeugung, dass ihre alleinige Anwesenheit für Ordnung sorgte. Kurzum, es war der perfekte Zeitpunkt, sich umzusehen und das eine oder andere gerade zu rücken, bei gutem Licht und wenig Risiko, gestört zu werden.
Durands Leichnam lag am Rand des Lagerbereichs der Wächter, nicht aufgebahrt, sondern nachlässig zu Boden geworfen wie ein fallen gelassenes Spielzeug, eingekesselt zwischen einem der Wagen und einem Stapel Kisten. Er trug den Sack, der seinen Henkern den Anblick seines verängstigten Gesichts erspart hatte, nicht mehr auf dem Kopf. Das wa vermutlich der nachträglichen Erkenntnis geschuldet, dass man sicher sein musste, dass er nicht mehr atmete. Der Körper war nur mit einer schmuddeligen Decke bedeckt, die ihn nicht einmal vollständig verbarg. Bei Tageslicht würde er zusammen mit Faures Leiche, die wesentlich respektvoller behandelt worden war, verbrannt werden, denn für ein Begräbnis war weder Zeit, noch würde Eravier es Verrätern zugestehen.

Fourmi blieb im Schatten eines der Wagen stehen, beobachtete, ob sich jemand nähern würde, doch alles schien ruhig. Aber es gab schließlich auch nichts zu bewachen; Durand war durchsucht worden, bevor er erschossen worden war, und was für Eravier nicht von Interesse gewesen war steckte vermutlich schon in den Taschen der Wächter. Alles was übrig war, war ein erkalteter Körper, den niemand beweinte, weil Durand keine Freunde hier hatte und auch keine Familie. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hätte, wenn es so gewesen wäre, aber es machte alles einfacher. Niemand würde Fourmi stören während sie die Verletzungen hinzufügte, die seinem Körper noch fehlten. Vielleicht würde niemand die Leiche überprüfen, aber wenn es so war, musste sie auf der sicheren Seite sein.
Sie wollte sich nicht zu lange in unmittelbarer Nähe des Wächterlagers aufhalten, aber dennoch wartete sie ab, prägte sich die Szenerie ein, hielt nach Fluchtwegen Ausschau, falls sie doch unerwartet gestört werden würde. Sie lauschte auf die Geräusche der Nacht, das Knistern der Feuer im Wächterlager, die immer wieder vorbei ziehenden Schritte der Patroullien, die in einiger Entfernung vorbei stapften. Doch niemand näherte sich ihrem Standort.

Wirklich niemand. Das war seltsam. Während Fourmi beobachtete und lauschte befiel ihn immer mehr das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war mehr eine Intuition als eine wirkliche Erkenntnis, zu stark, um sie als simplen Verfolgungswahn abzutun, bis ihm endlich klar wurde, was ihn störte: Die Wachen blieben Durands Leiche nicht zufällig fern, sie umgingen sie konsequent und in einem weiten Bogen. Umkreisten sie, als warteten sie auf ein Signal.

Eine Falle, dachte Fourmi. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Was würde geschehen, wenn er sich der Leiche näherte? Wer wartete hier auf ihn, und von wo würde er kommen? Instinktiv wich er zurück, pirschte sich mit dem Rücken zum Wagen in Richtung des restlichen Lagers. Er war fast außer Reichweite, bereit, weiter ins Zentrum auszuweichen, als eine Hand aus dem Inneren des Wagen hervor schnellte, ihn packte und rückwärts hinein zerrte.

Fourmi keuchte erschrocken auf, stolperte zwei Schritte nach hinten, eine Stufe hinauf und direkt ins völlige Dunkel. Reflexartig drehte sie sich weg, nutzte den Schwung, den ihr Angreifer ihr gegeben hatte, holte mit dem Ellenbogen aus und versuchte ihn ihrem Gegner in die Seite zu rammen. Zu spät dachte sie daran, dass es der gebrochene Arm war und die Erschütterung sie vermutlich vor Schmerz in die Knie gehen lassen würde, aber es war auch unwichtig, weil sie keine Wahl hatte. 
Doch ihr Gegner ließ sich nicht überrumpeln, wich ihr mit einer halben Drehung aus, und gab ihr einen Stoß in den Rücken, der sie weiter in den Wagen warf. Sie prallte gegen einen Stapel Kisten und schaffte es gerade noch den verletzten Arm wegzuziehen, aber der Aufshclag drückte ihre die Luft aus den Lungen, und sie keuchte auf. Bevor sie sich umdrehen konnte wurde ihr gebrochener Arm gepackt und auf den Rücken gedreht, schon wieder.

„Ich wusste, dass du hier auftauchst”, flüsterte eine Stimme in seinem Rücken, bevor Fourmi nur irgendetwas sagen konnte. Fast hätte er reflexartig darum gerungen frei zu kommen, bis ihm klar wurde, wessen Stimme zu ihm gesprochen hatte, und halb frustriert, halb erleichtert atmete er aus und gab seinen Widerstand auf. 
„Gottverdammt, Tarn!”, fluchte er im Flüsterton, und im gleichen Moment wurde er losgelassen. „Ich konnte nicht zimperlich sein, du wärst fast in eine Falle hinein gelaufen”, erklärte Tarn ruhig, und fügte mit einem spöttischen Unterton hinzu: „Würde ich nicht inzwischen dein Gesicht kennen, hätte ich dir nicht helfen können.” Fourmi knirschte erbittert mit den Zähnen. Sollte ihn das etwas glücklich stimmen? „Ich brauche keine Hilfe”, fauchte er ungehalten. „Aber ich hätte wissen müssen, dass du hier herum lungerst und versuchst dich ein zu schleimen.” 

„Ich mache meine Arbeit”, erwiderte Tarn schlicht, und hielt im nächsten Moment genau wie Fourmi inne, als sie eilige Schritte hörten, die sich auf ihr notdürftiges Versteck zu bewegten. Die Falle, die Fourmi gestellt worden war hatte zwar nicht zugeschnappt, aber anscheinend waren sie noch längst nicht in Sicherheit. Einen panischen Moment trafen sich ihre Blicke, als erwartete der jeweils andere, aus dieser Misere gerettet zu werden, aber natürlich gab es jetzt nur einen Ausweg. Oder hätten sie mitten im Lager, vor aller Ohren, eine Wache nieder metzeln sollen?
„Weg hier”, flüsterte Fourmi, und sie schoben sich durch das Durcheinander der im Wagen gelagerten Gegenstände und verließen ihn im Laufschritt auf der gegenüberliegenden Seite. 

Natürlich blieben sie dabei nicht unentdeckt. Fourmi hielt nicht inne, sondern beschleunigte nur sein Tempo, als er hörte, wie mehrere Männer, vielleicht zwei oder drei, durch das Innere des Wagens polterten. Den Geräuschen nach zu urteilen sahen sie sich nicht einmal um, sondern folgten ihnen ohne inne zu halten mit hastigen Schritten. Aber es verwirrte Fourmi, dass niemand sich die Mühe machte etwas albernes wie „Stehen bleiben!” oder „Ihr seid festgenommen!” zu brüllen. Wer auch immer auf ihrer Fährte war, blieb still und wollte kein weiteres Aufsehen erregen, geschweige denn seinen Zielen einen Vorteil verschaffen, indem er seine Identität verriet. Fourmi hätte fast riskiert sich um zudrehen, in das Gesicht seines Verfolgers zu blicken, aber das wäre Selbstmord gewesen; hätte jemand ihre Gesichter erkannt, hätten sie sich auch selbst ausliefern können.

Aber auch so standen ihre Chancen nicht gut. Ein Pfiff gellte durch das Lager, das Signal zum Angriff, das Fourmi erwartet hatte, und ihr war sofort klar, dass sie innerhalb kürzester Zeit umstellt sein würden. Plötzlich wurde das ganze Lager von immer mehr Fackeln erhellt, und während sie und Tarn, ironischerweise Seite an Seite, durch die verbliebenen Lücken im Netz der Wächter schlüpften, überlegte sie fieberhaft, was sie tun konnte. 

Aber im Grunde gab es nur einen Weg. „Nach oben!”, befahl sie keuchend, und Tarn begriff sofort, worauf sie abzielte. Noch im Laufen bot er ihr die gefalteten Hände, und ohne zu überlegen oder auf ihren schmerzenden Arm zu achten packte sie ihn bei den Schultern, stieg auf seine Hand und sprang galant auf einen der Wagen. Sie erwog einen Moment, Tarn keine Hilfe zu geben, aber so wie die Dinge standen hätte ihr das keinen Vorteil verschafft, also rollte sie sich ab und dachte gerade noch rechtzeitig daran, den gesunden statt den gebrochenen Arm nach unten zu strecken, an dem er sich ebenfalls nach oben ziehen konnte. Im nächsten Moment lagen sie flach nebeneinander auf dem Dach des Wagens, wagten kaum zu atmen und lauschten, wie sich die Schritte näherten… und an ihnen vorbei zogen.

„Damit täuschen wir sie nicht lange”, flüsterte Tarn Fourmi zu, und der hätte fast ungehalten geseufzt. Das war ihm selbst bewusst, und er hatte auch nicht beabsichtigt, den Rest der Nacht auf einem Wagendach auszuharren. „Wenn ich es sage, springe erst ich und dann du.” Sie warteten einen Moment ab, lauschten beide in die Umgebung und verfolgten den Fackelschein, der sich wie ein Schwarm von Lebewesen durch das Lager bewegte. Es war unheimlich still, und die tanzenden Wechsel von Licht und Schatten ließen Fourmis Körper vor Anspannung zittern. 

Seit wann war Eravier derartig wachsam? Nein, das ging nicht auf sein Konto, und nicht auf das des loyalen, aber fantasielosen Schwachkopfes, der die Wächter anführte. Irgendjemand anders hatte gezielt nach ihnen Ausschau gehalten. Hatte sie einen neuen Feind? Ein Wächter, der ihr bisher nicht aufgefallen war? Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Und nicht nur das, die Zeit zerrann ihm zwischen den Fingern. Er hatte vorhergesehen, dass es in absehbarer Zeit so weit kommen würde, dass seine Tarnung ihn nicht mehr allein schützen konnte. Aber dass es so schnell geschah, dass hatte er zwar in seinem Kopf durchgeplant, als schlimmsten denkbaren Fall gedanklich skizziert, aber noch nicht verinnerlicht. Die Jagd hatte also offiziell begonnen, Eravier ließ keine Zeit verstreichen. Und deshalb durften sie das auch nicht, auch wenn es Fourmi nicht gefiel, dass er plötzlich Tarn an den Hacken hatte. 

Konnte er ihn irgendwie los werden? Während Fourmi keuchend in den Himmel starrte gestand sie sich ein, dass das zur Zeit zu riskant war. Gerade jetzt war es vermutlich das Beste, wenn sie zusammen blieben und ihre unfreiwillige neue Allianz nutzten, um diese Nacht zu überleben. Und vielleicht konnte er ihm nützlich sein, zumindest, um im Zweifelsfall eine ablenkende Leiche zur Hand zu haben. 
Das war ein tröstlicher Gedanke, und Fourmi lächelte schmal, aber diese kleine Gemeinheit brachte ihn gerade nicht weiter. Stattdessen grübelte er, wohin er sich wenden konnte, welcher Ort ein geeignetes Versteck war, um unterzutauchen, bis sich die Aufruhr legte. Er konnte sie beide schließlich kaum zurück zu Karvash bringen und dort verstecken.

Aber warum eigentlich nicht?

Es dauerte nur Bruchteile einer Sekunde. Am Anfang stand die Idee, völlig irrwitzig und kaum greifbar, und dann fügten sich die Fragmente erst langsam, dann immer schneller zu einem Ganzen zusammen, und das schmale Lächeln auf ihrem Gesicht verbreiterte sich immer weiter, wurde zu einem ausgewachsenen Grinsen. Tarn, der sich ihr gerade zu wandte stutzte, aber Fourmi ignorierte ihn. 
Es war ein durch und durch irrer Einfall, und die Chancen dass alles gelang verschwindend gering, aber sie liebte ihn trotzdem von der ersten Minute an. Fourmis Gedanken rasten, und sie spürte, dass sie in ihrem Element war. Manchmal glaubte sie, dass sie nur für diesen Moment lebte, in dem jede Variable kalkuliert war, jede Eventualität gerade gerückt, bis es keine Ungewissheit mehr gab, nur eine endlos lange Kette von Aktionen und Reaktionen, die alle zu einem einzigen Ziel zu liefen und sich dort vereinten. 

Die Welt verbiegt sich nicht so, wie es dir passt. Irgendwann wirst du das zu spüren bekommen, und dann wird dich die Realität einholen, mahnte ihr Vater sie in ihrem Geist. Aber während Fourmi den Himmel angrinste, schüttelte er den Kopf. Die Realität konnte ihn nicht einholen, weil er sie fest in den Händen hielt und wie eine gut gestimmte Harfe spielte. Und niemand spielte sie so gut wie er. 
Er gab Tarn keine Erklärung, nur einen Wink, und im nächsten Moment waren sie beide erneut in die Schatten eingetaucht. Fourmi führte sie zielsicher durch die Dunkelheit des Lagers zu Karvashs Quartier.


Natürlich reiste Karvash mit Stil, und das ließ er sich einiges kosten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Eravier in diesen Belangen weit übertroffen, aber wie immer blieb er, gehindert durch seine eigene Inkompetenz, auf halbem Wege stecken. 

Von Anfang an hatte er geplant, tagsüber mit seinen Frauen in einer Kutsche zu reisen und des Nachts und während der Lagerpausen in einem großen, beinahe fürstlichen Zelt zu residieren. Er hatte alle Hinweise und hilfreichen Warnungen ignoriert und allein für sein Quartier Unmengen an Geld verschleudert, nur um festzustellen, dass die vielen und schweren Stoffbahnen, die dafür angefertigt worden waren nach einem Regenguss wesentlich langsamer und unvollständiger trockneten als die kleinen, leichten Zelte der Diener oder die gröberen Planen der Wagen. Deshalb setzten sich Schlamm und Staub um so hartnäckiger in ihnen fest und sie begannen nach mehreren Wochen sogar, langsam zu vermodern. Und da sie notgedrungen auf dem blanken Erdboden zelteten, statt den soliden hölzernen Unterbau eines Wagens unter sich zu haben, wurde es nachts kalt.

Doch zumindest von außen wirkte Karvashs Zelt nach wie vor größer und prunkvoller als Eraviers Quartier und bot nicht nur einiges an Platz, sondern auch einen gewissen Komfort. Vielleicht abgesehen von der Tatsache, dass das Innere dauerhaft feucht und kalt war und inzwischen auch modrig roch. 
Zumindest das Problem der Kälte löste Karvash auf die selbe Art, wie er alle anderen Unannehmlichkeiten in seinem Leben ausblendete: Mit der Gesellschaft von Frauen. In diesem Fall, um ihn entweder einen Gutteil oder die ganze Nacht zu wärmen. Da er durchaus nicht gewillt war zu entscheiden, wem diese Ehre zuteil wurde oder gar wann und in welcher Anzahl, wechselte die Anzahl der bei ihm schlafenden Frauen so häufig wie das Wetter.

In dieser Nacht jedoch hatte nur eine Frau den Weg in sein Bett gefunden. Anya seufzte, drehte sich auf die Seite und lauschte Karvashs lautem Schnarchen. Eigentlich hätte die Wärme und der Geräuschpegel einschläfernd wirken müssen, aber sie fühlte sich nicht müde, nur ruhiger. Sie war es gewohnt, neben schnarchenden Männern zu schlafen, aber das war die falsche Tonlage, eher ein ersticktes Schnaufen als das tiefe Brummen, das sie sonst von Gael kannte. Ob es mit den Ereignissen des Tages zusammenhing? Schwer zu sagen, sie war schließlich kein Scharchorakel.
 
Die Welt ist wirklich aus den Fugen geraten, dachte sie sarkastisch, einer deiner Liebhaber schnarcht nicht wie gewünscht, und er will dir nicht einmal deine Freundin abkaufen, weil weder du noch sie charmant genug sind, ihn davon zu überzeugen.
Es hätte komisch sein müssen, und ihre Mundwinkel zuckten nach oben, aber dieser Abend hatte mehr bewirkt, als sie nur in ihrer Eitelkeit zu kränken. Natürlich ärgerte es sie auch, dass ihre Schmeicheleien diesmal so wirkungslos gewesen war, aber das war nicht das Hauptproblem. Karvash würde Jadzia nicht kaufen, und er würde Anya niemals heiraten. All die Zeit, all die Mühe, die sie an ihn verschwendet hatte waren also umsonst, und ihr gingen die Optionen aus. 

Abwesend rappelte Anya sich auf und begann ihre Sachen zusammen zu suchen. An anderen Tagen hätte sie die Nacht vielleicht hier verbracht, aber das erschien ihr angesichts der Durchsuchungen gerade mehr als unklug, und außerdem wartete Jadzia immer noch auf sie. Während Anya versuchte, ihr in Unordnung geratenes Haar ein wenig zu bändigen, musste sie lächeln. Ausnahmsweise hatte Jadzia sich sogar darüber beschwert, dass sie einfach abgestellt wurde. Manchmal erstaunte es Anya selbst, wieviel Jadzia ihr durchgehen ließ, wie klaglos und gelassen sie ihre Allüren ertrug. Sie war einfach immer da, so geduldig und sanft wie ein Engel, egal ob Anya lachte oder weinte. Besonders wenn Anya weinte, gestand sie sich ein, und ohne dass sie es wusste, zeigte ihr Gesicht einen bekümmerten Ausdruck. So wie vor einigen Stunden.

Nachdem Jadzia Valion geohrfeigt hatte, hatte sie Anya sanft, aber nachdrücklich fortgeführt, und die hatte sich blind an sie geklammert und gegen die Tränen gekämpft, ohne überhaupt darauf zu achten, wohin sie gingen. Sie hatte sich gleichzeitig geschämt und sich nicht anders zu helfen gewusst, als sich an der einzigen Person festzuhalten, die ihr in diesem Moment etwas Sicherheit vermittelte. 
Sie wusste, dass sie Jadzia zu fest packte, dass die Spuren ihrer klammernden Hände später als blaue Flecken auf ihren Armen zurück bleiben würden, und trotzdem konnte sie nicht loslassen. Jadzia machte es nicht das Geringste aus, sie ignorierte es mit stoischer Ruhe, aber die Scham blieb. Und wie immer wurden sie angestarrt, in jeder Minute, die sie sich außerhalb ihres Quartiers aufhielten; mit Tränen überströmten Gesicht und gesenktem Kopf natürlich noch mehr als sonst. Anya versuchte verzweifelt sich zusammen zu reißen, aber es gelang ihr kaum. Ihr Herz wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu rasen.

Irgendwann hielt Jadzia inne und sah sich einen Moment um, und dann kam sie endgültig zum Stillstand. Durch ihren Tränenschleier erkannte Anya, dass Jadzia sie in die Nähe der Quartiere von Karvash und Besnard geführt hatte, wo sie, wenn auch nicht willkommen, nicht ganz so schlecht angesehen waren. Außerdem waren kaum Wachen in der Nähe, die Durchsuchungen schienen hier schon beendet zu sein, und der Trubel hatte spürbar nachgelassen. 
Mit viel Geduld führte Jadzia sie weiter zu einigen wackeligen Schemeln, die um ein Feuer gruppiert waren. Früher am Tag hatten hier vermutlich die Diener gesessen und gearbeitet oder auch pausiert, aber jetzt war niemand da, der ihnen die Plätze streitig machte. Anya ließ sich dankbar nieder und bettete ihren Kopf gegen Jadzias Schulter, sobald sie sich dicht neben sie gesetzt hatte. Immer wieder huschten Diener vorbei und streiften sie mit ihre Blicken, aber niemand verweilte lange genug, um sie zu beobachten.
Jadzia legte einen fürsorglichen Arm um Anyas weite Taille, und geduldig begann sie mit der anderen Hand, ihre Tränen abzuwischen und ihr beruhigend über das Haar zu streicheln. Es war eine unendlich sanfte,  gleichmäßige Bewegung, und sie war alles, was Anya in diesem Moment brauchte. 

Sie schloss die Augen und ließ los, gab den Schmerz und die Sorgen ab, selbst wenn es nur ein Moment war. Ja, nur ein kurzer Moment; Mehr konnte und wollte sie sich selbst nicht zugestehen. Sie schämte sich dafür, dass sie so viel schwächer und verletzlicher als Jadzia war. Es ließ sich so verdammt schwer mit ihrem Stolz vereinbaren, oder mit ihrer so sorgfältig gehüteten Unabhängigkeit. Natürlich waren das dumme Gedanken, weil Jadzia sie niemals damit aufgezogen oder auch nur erwähnt hatte, dass es ihr lästig war, für sie da zu sein, aber das änderte nichts an dem Gefühl, dass sie ihre Freundlichkeit ausnutzte, dass sie mehr nahm, als sie geben konnte. Jadzia verdiente so viel mehr als das Wenige, das sie anzubieten hatte.

„Es tut mir Leid”, flüsterte Anya schließlich, als sie nur noch verhalten schniefte, aber Jadzia schüttelte nur den Kopf und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, knapp unter ihrem Haaransatz.  Anya konnte gar nicht anders als verhalten zu kichern, weil es kitzelte. „Es ist nicht deine Schuld”, fuhr Jadzia milde fort, aber gleichzeitig hörte Anya auch Ärger aus ihrer Stimme heraus. 
Äußerlich war sie so gelassen wie immer, zeigte nicht die geringste negative Regung, aber Anya kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass das nur Fassade war. Jadzia hütete ihr Innenleben sorgfältig, und was sie an Emotionen offen nach außen zeigte war oft nur ein sorgsam ausgewählter Teil ihrer tatsächlichen Gefühle. Was das anging glich sie Eravier, aber Anya hätte sie trotzdem nie auf eine Stufe gestellt. Jadzia schüchterte niemand ein, im Gegenteil, manchmal hatte Anya das Gefühl dass sie alles tat, um nicht negativ aufzufallen und immer versuchte im Hintergrund zu verschwinden. Nur wenn es ihr wirklich wichtig war erlaubte sie sich, ihre wahren, ungeschönten Gefühle nach außen dringen zu lassen.

„Du bist wütend, oder?”, fragte Anya, und fügte sofort, noch bevor sie die Antwort gehört hatte hinzu: „Sei ehrlich!” Jadzia setzte an, um zumindest pro forma zu wiedersprechen, aber ein Blick in Anyas Gesicht verriet ihr, dass sie sich nicht herauswinden konnte. Die eingeschüchterte, weinende Anya war bis auf die geröteten Augen schon wieder verschwunden, als hätte es sie nie gegeben, und hatte ihrem energischen, scharfzüngigen Gegenpart Platz gemacht. Natürlich dank ihr selbst, und das war auch gut so. Gut, aber anstrengend. 
Also seufzte sie und gab zu: „Ja, ich bin wütend.” „Wie wütend?”, bohrte Anya nach, und Jadzia antwortete wahrheitsgemäß: „Sehr wütend. Wenn er nicht aufgehört hätte, hätte ich ihn vermutlich zusammen geschlagen.” Es war eine nüchterne Feststellung, und sie wussten beide, dass sie es gekonnt hätte. Valion war nur ein Junge, und er hatte keine Ahnung, wie er sich verteidigen musste; sie hätte ihn ohne Anstrengung zu Kleinholz verarbeitet. Und genau deshalb hatte sie es bei einer Ohrfeige belassen. Einen Schwächeren zu schlagen und zu demütigen war überhaupt nicht in Jadzias Interesse, und wäre es nicht um Anya gegangen hätte sie vielleicht noch nicht einmal die Hand gegen ihn erhoben.

Aber Anya war mit dieser Antwort immer noch nicht zufrieden. „Du klingst aber nicht sehr wütend. Nicht einmal beleidigt”, stellte sie fest, und aus ihrer Stimme klang ein tadelnder Unterton. „Anya…”, warnte Jadzia, aber wie immer ließ sie sich davon nicht beeindrucken. „Du darfst deine Wut ruhig zeigen, weißt du? Versuch es einfach! Du könntest zumindest die Stirn runzeln, oder die Stimme erheben, oder »Grrr« sagen.” 
Jadzia sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren, und fragte perplex: „Sagt irgendjemand »Grrr«, wenn er wütend ist?” „Nein, aber du könntest es ausprobieren”, erwiderte Anya völlig ernst. Es wäre fast überzeugend gewesen, wenn ihre Mundwinkel nicht verräterisch gezuckt hätten, und das sagte Jadzia alles, was sie wissen musste. Anya versuchte wieder einmal, sie aufzuziehen, weil sie wusste, dass es der sicherste Weg war, ihre wahren Gefühle an die Oberfläche zu bringen, all die unsortierten Gedanken und die zurückgehaltenen Emotionen. Das war das Wunderbare, und das Gefährliche an Anya: Wenn man nicht Acht gab, förderte sie all die Empfindungen zutage, die man sich selbst nicht einzugestehen wagte, die Guten wie die Schlechten.

Und Jadzia spürte, dass ihre mühsam zurückgehaltene Wut ebenfalls an die Oberfläche treten könnte, und das war gefährlich. Nicht gefährlich für Anya, weil sie ihr niemals etwas hätte antun können. Gefährlich für sie selbst, für das Bild, das andere von ihr hatten. Es lag an der dunklen Haut, an den dunklen Augen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass man sie nicht als Mensch sah, sondern als ein mühsam gezähmtes Tier. Und wenn sie wütend war, wenn sie auch nur das Gesicht verzog, dann sah sie die Furcht und die Abscheu in den Augen der anderen. 
Das Tier. Das Tier ist zurück.

Und da waren sie, die Emotionen; Anya hatte sie wie immer hervor gezerrt. Jadzia spürte, wie ihr die Gesichtszüge entglitten. Nein, niemand sollte ihre Wut sehen, ihre Trauer. Sie schmiegte sich lieber an Anya, vergrub ihr Gesicht in ihrer weichen Halsbeuge und ihren roten Locken, machte sich und ihre ohnmächtige Wut unsichtbar. Sie ließ nur sie daran teilhaben, als sie leise, in einem langen, unzusammenhängenden Wortschwall, alles hervor brachte.
„Ich war schon den ganzen Tag wütend auf ihn. Ich dachte erst, er wäre einfach ein harmloser, verwirrter Junge, der seinen Freund verloren hat. Aber er hat Dinge gesagt… und er hat dich die ganze Zeit angesehen. Beurteilt. Er hat kein Recht dazu. Er kennt dich überhaupt nicht! Er kann dich nicht beurteilen!”, murmelte sie wütend, und Anya musste beruhigend nach ihrer Hand greifen, weil sie sie so fest zur Faust ballte, dass es schmerzte.

„Ich hätte etwas tun müssen, ihm den Kopf zurecht rücken, als ich noch Zeit hatte, aber ich… ich habe gezögert. Ich dachte, dass es vielleicht vergeht. Dass er sich fängt. Er ist jung, nicht wahr? Und dann hat er dich angegriffen, und… Ich war rasend. Ich musste mich daran erinnern, dass er nur ein Junge ist, dass er vermutlich gar nicht weiß, was er tut. Aber ist das eine Ausrede?” „Ist schon gut. So schlimm war es nicht”, versuchte Anya sie zu beruhigen, aber Jadzia schüttelte sacht den Kopf, atmete zitternd aus. „Es ist wieder passiert, oder?” Sie wartete keine Antwort ab, weil sie sie nicht benötigte, weil sie die Wahrheit längst kannte, sondern fuhrt nur fort: „Diese… Erinnerung, die dich quält. Ich habe es dir angesehen. Und das hat mich noch wütender gemacht. Er hat dich erinnert, und du warst… überhaupt nicht da. Und dafür wollte ich ihn am liebsten töten, dass er dich wieder in diese Hölle zurück gebracht hat.” „Er konnte es nicht wissen”, wandte Anya ein, aber das konnte Jadzia nicht akzeptieren. Heftiger und hasserfüllter als sie wollte flüsterte sie: „Es ist mir egal! Alle seine guten Absichten, alle seine Gründe! Nichts davon ist eine Entschuldigung! Ich verzeihe ihm das nicht!”

Sie atmete tief ein und aus, nachdem sie das losgeworden war, und ja, es tat gut. Anya war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der sie so sehen durfte. Und es machte ihr nichts aus, sie akzeptierte es einfach, nahm es hin. Und nur deshalb konnte Jadzia es ebenfalls loslassen, und sie fühlte sich ruhiger.

„Ich weiß”, murmelte Anya milde, und sie küsste Jadzias Schläfe. Es gab nichts Schöneres, als von ihr geküsst zu werden, zumindest nicht für Jadzia. Es gab überhaupt nichts Schöneres als Anya, ihren weichen, warmen Körper, ihr Lächeln, den Duft ihres wunderschönen, roten Haars. Und nichts davon würde jemals ihr gehören. Anya gehörte zu den Männern wie die Männer zu Anya, das hatte sie nur allzu schnell begriffen. Es war eine der vielen Ungerechtigkeiten, die sie erduldete, weil es nicht in ihrer Macht stand, etwas daran zu ändern.

Deshalb ließ sie ihre Freundin los und atmete seufzend aus, entfernte sich ein wenig von ihr, auch wenn Anya sie im ersten Moment gar nicht gehen lassen wollte. „Jad-”, setzte sie an, und dann ertönte ein Schuss.

Sie erstarrten beide, genau wie zwei Diener, die gerade mit einem verkniffenen Gesicht und abfälligen Seitenblicken an ihnen vorbei geeilt waren, und für einen Moment sahen sie sich alle in stummen, geteilten Entsetzen an. „Was war das?”, fragte Jadzia, und der ältere der beiden Diener antwortete hastig und im Flüsterton, als könnten sie belauscht werden: „Der Rebellionspion. Sie haben ihn vorhin gefasst. Das war die Hinrichtung.” Anyas Herz krampfte sich zusammen. Was, wenn Fourmi… aber nein. Er hatte von den Durchsuchungen gewusst, hatte das Mädchen zu Valion geschickt, nach dem er sie ausgefragt hatte. Wer auch immer gefangen genommen worden war, es war bestimmt nicht Fourmi. Nur eine arme Schachfigur. 

Und dennoch, auf subtile Weise, änderte diese Hinrichtung alles. „Es geht also wirklich los”, sagte Anya leise, und obwohl niemand von ihnen wusste, was genau dieses Etwas sein sollte, spürten sie doch alle, dass es die Wahrheit war. Die Durchsuchungen waren nur der Anfang gewesen, das Vorgeplänkel. Die Spiele begannen jetzt, und ohne ein weiteres Wort suchten die Diener mit gesenkten Köpfen das Weite.

Anya begriff, was die neue Situation bedeutete: Sie musste ihre Angelegenheiten ordnen. In den kommenden Tagen, zumindest, bis sie die Hauptstadt erreichten, durfte sie sich keine Fehler mehr erlauben. Nicht, wenn sie das wollte, was Fourmi ihr anbot. Sie hatte keine Zeit mehr, herum zu albern, die Dinge langsam anzugehen. Es gab eine Liste von Männern, die sie umgarnt hatte, gehegt und sich zurecht gelegt. Vermutlich musste sie jetzt endgültig ihre Allianzen festlegen, die nützlichen behalten und die unnützen aussortieren. Eravier war verrückt, sie tat besser daran, seine direkten Untergebenen zu meiden. Besnard und Karvash waren Optionen. Die anderen Diener und Wächter? Sie notierte sie gedanklich bei »Vielleicht«. Und dann musste sie Jadzias Vertrag bei jemand unterbringen, ein paar Informationen spielen lassen und Vorbereitungen treffen, um im Zweifelsfall ein paar Gefallen einzufordern. Und Valion ausbilden. Bei dem Gedanken verkrampfte sich etwas in ihr. Ausgerechnet, nach allem was vorgefallen war, lag der Junge jetzt mehr denn je in ihrer Verantwortung.

Sie schob den Gedanken vehement von sich, das Wichtigste, das erste große Problem, das sie angehen musste, war Jadzias Vertrag. Anya warf ihr einen Blick zu, und konnte sie natürlich keine Sekunde täuschen. 

„Du hast schon wieder etwas vor”, stellte Jadzia ruhig fest, und Anya nickte. „Ich fürchte wir werden nicht darum herum gekommen, heute noch einmal bei Besnard und Karvash vorbei zu sehen”, erklärte sie, und schickte ein „Ich weiß, ich weiß” hinterher, als Jadzia seufzend die Arme verschränkte. „Ich weiß, es geht um meinen Vertrag, aber heute? Es ist spät. Und denkst du wirklich, die beiden werden nach einer Hinrichtung in der Stimmung für Liebeleien sein?” Anya schnaubte amüsiert, richtete sich auf und warf ihr Haar zurück. Es war ein bisschen kläglich, weil sie immer noch rote Augen hatte, aber sie machte es mit ihrer Energie und ihrem Lächeln wieder wett. „Mit ihren Ehefrauen? Eher nicht. Mit mir? Worauf du dich verlassen kannst.” Sie bemerkte, wie unordentlich ihr Lockenschopf schon wieder war, durchkämmte ihn verärgert mit ihren Fingern und fügte mit Sarkasmus hinzu: „Männer lieben zottelige Waldtiere.”

Es dauerte eine Weile, bis sie Anya so weit hergerichtet hatten, dass sie dazu kam ihren Plan in die Tat umzusetzen. Oder zumindest den Teil davon, der ansatzweise nach Plan verlief. 

In stummer Übereinkunft kehrten sie nicht zu ihrem Quartier zurück. Sie wussten beide, was sie dort erwartete, und beide wussten sie auf ihre Weise, dass sie im Moment nicht damit fertig wurden. Anya nicht mit ihrer Aufgewühltheit, und Jadzia mit ihrem Zorn. Sie war ruhiger als zuvor, das spürte Anya, während sie sich gemeinsam durch das Lager bewegten, aber sie war noch längst nicht besänftigt.
Stattdessen spazierten sie ohne Umschweife zu den Dienerinnen, die sich um die Menschenhändler kümmerten, und scheuchten sie gehörig auf. Besser gesagt, Anya scheuchte sie, und Jadzia hielt sich im Hintergrund und stand ihr nicht im Weg.

Sie bekamen das Meiste zusammen; frisches Wasser, Kamm und Puder, einen Schemel und eine Lampe. Es war erstaunlich, was sich trotz  der späten Stunde und der angespannten Stimmung einrichten ließ, aber Anya hatte die Situation wie so oft unter Kontrolle. Verwirrung und Angst ließen sich schlichten und zu vereinter Gereiztheit und zielstrebigem Hass bündeln, wenn man wusste wie das zu bewerkstelligen war. In diesem Fall war es eine zickige Diva, die alles was ihr gerade in den Sinn kam haben wollte, und zwar sofort. Anya drohte, lästerte und blies sich auf, und selbst wenn jemand auffiel wie rot ihre Augen eigentlich waren, so wäre wohl dennoch niemand auf die Idee gekommen, dass sie vor kurzem noch geweint hatte. Das stolze Miststück, das Befehle erteilte, als wäre sie die Königin persönlich? Nein, das traute ihr niemand zu.

Aber Jadzia beobachtete sie, und sie sah durchaus die kleinen Anzeichen, dass Anya müde war und nur mit Mühe alles im Blick behielt. Mehr als einmal, in Momenten, in denen sie sich unbeobachtet wähnte, schloss sie die Augen und rieb sich abwesend ihr Genick, ein deutliches Zeichen, dass sie erschöpft war. Jadzia war versucht ihr anzubieten, ihre Schultern zu massieren, aber Anya hätte abgelehnt. Sie organisierte gerade und ließ nicht zu, dass man ihre Konzentration durchbrach, für keine noch so nette Geste. Manchmal staunte Jadzia, wie zäh und unnachgiebig sie wirklich war, selbst im Vergleich zu ihr selbst. Unter Anyas schmeichlerischer, weicher Fassade lag ein harter Kern, ein unbeugsamer Wille, wenn sie sich nur etwas in den Kopf setzte. Jadzia hatte das früh erkannt, und deshalb hatte sie ihre Nähe gesucht. Sie hatte starke Verbündete gebraucht.

Während sie mit verschränkten Armen am Rand stand und das Treiben beobachtete, genoss sie es, einen Moment nicht im Mittelpunkt zu stehen, nicht die Last aller Blicke spüren zu müssen. Das war ein Privileg, ein Geschenk, das Anya ihr immer und immer wieder gab, wenn sie bewusst alle Aufmerksamkeit auf sich zog, und typisch für sie. Anya konnte gedankenlos oder übereifrig sein, zu fixiert auf ihre eigenen Probleme oder gehemmt durch ihre Erziehung, aber sie war auch großzügig, freundlich und herzlich. Sie war viel mehr als das, was sie anderen zeigte, und manches davon nur, weil Jadzia es sie gelehrt hatte. Das klang hochmütig, aber Jadzia wäre ebenfalls jemand anders gewesen, wenn sich Anyas und ihre Wege nicht in diesem einen, entscheidenden Moment gekreuzt hätten.
Sie beide wussten das, und auch deshalb hielt Anya so störrisch an ihrem Vorhaben fest; sie war bereit Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen um Jadzias Vertrag zu retten, auch wenn sie wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Sie würde nicht aufgeben bis sie all ihre Trümpfe ausgespielt hatte. Ob sie wusste, wie hoffnungslos die Lage war? Jadzias Hände verkrampften sich unbewusst, aber sie ließ sich nichts anmerken, nicht einmal vor ihr. Später. Sie würde es später erfahren.

Letztendlich war alles organisiert, und als Anya die Dienerinnen mit hochmütiger Miene davon winkte, machten sie sich tatsächlich aus dem Staub, froh, für den Moment entkommen zu sein. Ein Schemel stand vor dem Feuer bereit, das die Diener eigentlich für sich selbst angefacht und aufrecht erhalten hatten, und alles was Anya benötigte um sich hübsch zu machen lag in Reichweite. Sie überprüfte noch einmal, dass alles zu ihrer Zufriedenheit war, dann ließ sie sich nieder und winkte Jadzia heran. „Jadzia, kümmere dich um mein Haar“, sagte, nein, befahl sie, und in diesem Moment war ihre Stimme die perfekte Mischung aus blasierter Einbildung und freundlicher Herablassung. Jadzia gehorchte weil sie wusste, dass es Schauspiel war. Eine Rolle, die Anya ablegen würde, sobald sie sich fallen lassen konnte. Jadzia hätte bei niemand anderem auf der Welt auf diesen Tonfall reagiert, aber sie tat es jetzt. Sie griff den grobzinkigen Kamm, das erste der Mittel der Wahl, um Anyas Locken zu entwirren, trat zu ihr und begann mit der Arbeit. 

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Anya zu sich selbst zurück kehrte. Stück für Stück, mit jeder weiteren Minute, fiel die Maske der Furie von ihr ab, während sie die Augen geschlossen hielt und ruhig atmete. Das tat sie oft, seit Jadzia ihr gezeigt hatte, wie es funktionierte, und auch das verband sie irgendwie. Einatmen, Ausatmen. Sie teilten dieses Wissen wie ein gemeinsames Geheimnis, obwohl es eigentlich nichts Besonderes war. Wie so vieles zwischen ihnen hatte es irgendwann, heimlich, leise, an Bedeutung gewonnen. Wie manche Gesten, manche Worte, die zwischen ihnen ausgesprochen eine andere Bedeutung hatten.

Schließlich öffnete Anya ihre Augen und sagte langsam: „Ich bin wirklich anstrengend, oder?“ Sie sprach leise, weil sie wusste, dass neugierige Ohren immer in Lauschweite waren. Jadzia antwortete nichts, weil sie das schon oft gehört hatte. Vielleicht war das auch das Gute an Anya; sie war sich durchaus bewusst, welche Grenzen sie überschritt, und wie schwierig es manchmal war, damit umzugehen. Und genau deshalb hatte sie aufgehört Anya zu versichern, dass sie nicht anstrengend war. Sie war es, das wussten sie beide.
„Eine echte Plage“, fuhr Anya fort, aber nun klang sie schon wieder selbstsicherer, und fast ein bisschen stolz. „Nicht so leicht abzuschütteln.“ „Ganz bestimmt nicht“, bestätigte Jadzia, während sie weiter, gleichmäßig und möglichst vorsichtig, Anyas Haar auskämmte. „Ich versuche nur, das Beste für uns heraus zu schlagen“, fuhr Anya fort, und jetzt lag ein Hauch Unsicherheit in ihrer Stimme, ebenfalls wie immer. Sie sprach zu Jadzia, aber auch zu sich selbst, während sie das Für und Wider abwog, und ihr war wohl bewusst, dass auch sie Jadzia nur als Zuhörer für ihre Ideen verwendete, so wie die Männer sie dafür verwendeten. 

„Vielleicht gelingt es. Es muss einfach. Und du musst dir keine Sorgen machen, Gael ist kein übler Mann. Ein bisschen dumm, zugegeben, aber nicht grausam. Und Orson, ha, der könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Wenn ich es recht bedenke, sollten wir bei ihm anfangen. Sehen, ob er nicht etwas wagemutiger als sonst sein will.“ Sie hielt inne, schien nachzudenken, und fügte dann hinzu: „Aber Gael wäre vermutlich eher interessiert. Wenn er kann, konkurriert er mit Eravier.“ „Ja“, stimmte Jadzia ruhig zu, nur um ihr zu bestätigen, dass sie nach wie vor zuhörte. Das hatte sie von Anya gelernt, und die störte sich nicht daran, dass diese kleine Taktik bei ihr selbst Anwendung fand. Sie durchschauten sich gegenseitig so perfekt, dass es fast ein Wunder war, wenn sie sich manchmal noch gegenseitig täuschten.

Einen Moment schwieg Anya, als würde sie zu etwas Gewichtigerem ausholen, und Jadzia horchte auf, als sie konzentriert, und trotzdem betont beiläufig fragte: „Hast du eigentlich schon einmal in Erwägung gezogen, dass du dich vielleicht auch an Gael hängen könntest? Er ist weiß Gott nicht schwer um den Finger zu wickeln. Er ist recht freundlich, er hat schon ein paar Frauen, da machen zwei oder drei mehr nicht wirklich einen Unterschied, und…“ Bevor sie weiter plappern konnte schüttelte Jadzia langsam, aber ernst den Kopf, und ließ den Redeschwall damit verstummen. „Nein“, sagte sie schlicht, und das war die einzige Aussage, die sie zu diesem Thema treffen musste. Um Anya nicht zu verunsichern fügte sie sanfter hinzu: „Aber lass dich deshalb nicht abhalten. Du hast hart dafür gearbeitet von Karvash gekauft zu werden. Es soll nicht an mir scheitern.“ 
Und obwohl es sie selbst schmerzte, war das die Wahrheit. Wenn es einen Ort gab an dem Anya relativ sicher war, dann war es wohl in Karvashs Schutz. Er war nicht so mächtig wie Eravier, aber sie waren auf eine ihr unbekannte Art miteinander verbunden und einander verpflichtet. Ob durch Eid oder wirklich, wie manche behaupteten, durch gemeinsames Blut, wer wusste das schon? Eravier hatte ihn nicht angetastet, auch wenn er ihn laut Anyas Aussage glühend zu hassen schien, und das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. Er war der perfekte Gegenspieler, und Anyas Instinkt ihren Vertrag an ihn zu verkaufen war vermutlich richtig. 

Trotzdem schien Anya nicht glücklich damit. Sie seufzte, und für den Bruchteil einer Sekunde meinte Jadzia noch mehr in ihrer Gestik zu sehen. Verunsicherung?  Traurigkeit? „Vielleicht sollte ich auch keine Zeit mehr in ihn investieren“, sagte sie leise, kaum hörbar. „Was nützt es mir, wenn er mich aufnimmt? Wir würden uns vermutlich kaum noch sehen. Vielleicht ganz auseinander gerissen.“  Jadzia zuckte mit den Schultern, gleichgültiger, als sie eigentlich fühlte. Sie hatte die gröbsten Knoten in Anyas Haar entwirrt und griff nach einem feineren Kamm, setzte ihr Werk genau so ruhig und gleichmäßig fort. „Ist das nicht so oder so unser Schicksal?“, fragte sie, mehr die Welt im Allgemeinen als Anya. „Wie lange wird es dauern, bis wir verkauft werden? Einen weiteren Monat? Zwei? Und niemand weiß, ob wir uns dann überhaupt jemals wiedersehen.“
Sie hatte nicht hart klingen wollen, aber wenn sie aufgewühlt war oder nicht Acht gab, klangen ihre Worte immer schroff und herzlos, so wie jetzt. Es war eine Gewohnheit, und lange Notwendigkeit gewesen. Sie erinnerte sich, dass es früher einfacher gewesen war sanft zu sein, nachgiebig und weich. Dann war ihre ganze Welt in Flammen aufgegangen, und es hatte es nur die Flucht gegeben, und sie dauerte Monate, und schließlich Jahre. Sanftheit, Güte, all das hatte keinen Platz mehr in ihrem Leben gehabt. Manchmal wusste sie nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, dass Anya etwas davon wieder wachgerufen hatte.

So wie jetzt. Sie spürte deutlich, dass sie Anya mit diesen Worten verletzt hatte. Sofort fühlte sie sich schuldig, dass sie so harsch gewesen war, und das war früher nie der Fall gewesen. Früher hatte sie überhaupt nicht darüber nachgedacht was ihre Worte bei anderen bewirkten, und plötzlich wurde es so wichtig, und behinderte sie gleichzeitig so stark. Es hätte sie nicht kümmern dürfen, aber sie war unglücklich, als Anya schnell antwortete: „Entschuldige, ich habe wieder mal nicht nachgedacht. Du hast natürlich Recht.“ Es klang unterwürfig, um Verzeihung bittend, und Jadzia wusste im gleichen Moment, dass sie die völlig falschen Worte gewählt hatte. Sie hatte zielsicher den wunden Punkt gefunden, an dem Anya reflexartig zurück wich, jeglichen Widerstand fallen ließ, nur durch ihren Tonfall, und sie hasste sich dafür. 

„Aber vielleicht auch nicht“, sagte sie deshalb betont sanft, legte den Kamm aus der Hand und strich beruhigend über Anyas offenes Haar, das im Schein des Feuers selbst wie eine Flamme schien. „Niemand weiß was geschehen wird. Und wir sind jetzt noch auf Reisen, abgeschnitten von allem. Wenn wir Luteija erreichen, werden sich auch andere Gelegenheiten auftun. Andere Käufer. Wer weiß, ob wir nicht doch zusammen bleiben“, sagte sie. 
Sie wusste selbst nicht, warum sie sich und Anya etwas vormachte. Es war fast unmöglich, dass ihnen mehr blieb als ein paar gemeinsame Wochen. Und selbst wenn, wofür hätte sie an ihrer Freundschaft festgehalten, wenn es doch nicht das war, was sie eigentlich wollte? 

Anya wandte sich zu ihr um, und in ihrem Blick lagen Hoffnung und Kummer gleichermaßen. Sie ergriff Jadzias Hand, die immer noch auf ihrem Haar ruhte, und drückte sie sanft. „Du hast Recht“, antwortete sie und lächelte, vertrieb die Sorgen und die Zweifel aus ihrer Stimme, und damit auch aus Jadzia Gemüt. „Irgendetwas wird sich wohl ergeben. Und bis dahin müssen wir einfach das Beste aus allem machen.“ 
Und wenn Jadzia nicht schon zuvor sicher gewesen wäre, was sie zu tun hatte, dann wusste sie es mit Sicherheit jetzt. „Ja“, sagte sie und lächelte. Vielleicht war es nur ein albernes Hirngespinst, dass alles sich zum Guten wenden würde. Vielleicht war alles nur von kurzer Dauer. Aber so lange Anya ihr nur erlaubte in ihrer Nähe zu sein, und sie bei sich haben wollte, so lange würde sie alles daran setzen, dass sie zusammen blieben. Alles.

Eine weitere halbe Stunde später war Anya auf dem Weg zu Besnard. Ihre Haare waren sorgfältig ausgekämmt, ihr Gesicht gewaschen und gepudert, und ihre Augen waren jetzt kaum noch gerötet. Im Grunde spielte ihr Aussehen für ihr erstes Vorhaben keine Rolle, aber sie fühlte sich jetzt trotzdem besser. Der einzige Wermutstropfen war, dass Jadzia jetzt nicht mehr bei ihr war. 

„Ich denke ich sehe mir in der Zwischenzeit an, was in unserem Quartier vorgeht“, hatte sie gesagt, nachdem Anya erklärt hatte dass sie sich bereit fühlte, zu Besnard aufzubrechen. Anya hatte überrascht inne gehalten und gefragt: „Hältst du das für eine gute Idee, ganz allein? Was, wenn-“, aber Jadzia hatte sie ruhig, aber bestimmt unterbrochen. „Der Junge schläft vermutlich schon. Und ich habe nicht vor, mich zu streiten. Aber falls du heute Nacht nicht bei Karvash bleibst, kann ich zumindest schon unser Bett herrichten. Ich treffe dich später bei Karvash, in Ordnung?“ 

Und Anya hatte nicht weiter diskutiert. Natürlich hatte Jadzia Recht, aber eine Intuition hatte Anya außerdem gesagt, dass ihre Freundin allein sein wollte, und das musste sie akzeptieren. Jadzia zog sich manchmal völlig zurück, manchmal für ein paar Stunden, manchmal auch für einen ganzen Tag. Anya hatte sie einmal dabei beobachtet, und sie schien dann einfach nur in ihren Gedanken versunken. Es war nicht klar, worüber sie nachdachte, aber sie schien diese Ruhezeiten zu brauchen. Sie wurde unruhig und unausgeglichen, wenn sie keine Gelegenheit dazu bekam, also ließ Anya sie in diesen Momenten einfach in Ruhe. Allerdings hätte sie sie gerade jetzt lieber an ihrer Seite gewusst. Gespräche mit Besnard bereiteten ihr immer Kopfzerbrechen, wenn auch aus völlig anderen Gründen als angenommen.

Orson Besnard war ein umgänglicher und bescheidener Mann. Er wurde nicht gerade respektiert, aber es ließ auch selten jemand ein böses Wort über ihn fallen. Er hatte keine eigenen Diener auf diese Reise mitgenommen, stattdessen lieh er sich die Dienste der anderen Diener, und sie verrichteten die Arbeiten für ihn klaglos, aber auch ohne großen Einsatz, da sie weder zusätzliche Vergütung noch Strafe von ihm zu erwarten hatten. Zudem schien Besnard nicht viel zu benötigen; er reiste tagsüber in einer schlichten kleinen Kutsche und schlief nachts in einem kleinen und robusten Zelt. Er wusste durchaus seine Ressourcen zu handhaben, war sparsam und verwaltete einen Gutteil des Wagenzuges in Eraviers Auftrag. Es gab wohl kaum einen Mann, der einfacher und bodenständiger war als er.

Dummerweise hatte Anya angenommen, dass Besnard wie so viele einfache und bodenständige Männer einem Abenteuer nicht abgeneigt war, und hatte sich an ihn heran gemacht, nur um spektakulär zu scheitern. Einerseits hatte sie nicht erkannt, dass sie Violaine, Orsons Angetrauter, nicht das Wasser reichen konnte. Die Frau wusste was sie wollte, und das war, ihren Mann zu behalten. Sie duldete keine der Sklavinnen in seiner Nähe, und sie verstand es meisterhaft, Anya aus zu manövrieren, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam.
Auf der anderen Seite hatte Anya aber auch bei Orson selbst auf Granit gebissen. Man hätte annehmen können, dass bei seiner Eheschließung vor allem praktische Erwägungen im Spiel gewesen waren. Violaine Besnard war eine kleine, rundliche Frau mit einem ernsten Gesicht und unauffällig dunkelbraunem Haar. Was ihr an Charme und Offenherzigkeit fehlte machte sie mit Fleiß, Bodenständigkeit und praktischem Menschenverstand wett. Doch genau das schien Orson an ihr zu lieben. Romantische Schwärmerei lag wohl beiden Eheleuten fern, aber Orson war seiner Frau treu und schien an jeder anderen Romanze gänzlich desinteressiert. Anyas schmeichlerische Worte und aufreizendes Verhalten prallten an diesem Mann einfach ab, und schließlich hatte sie sich damit abfinden müssen, dass sie Orson Besnard nicht auf die gewohnte Art würde einwickeln können. 

Zeitgleich hatte sie jedoch entdeckt, dass sie mit vernünftigen Worten und einigen hilfreichen Vorschlägen durchaus sein Gehör fand, sehr zum Ärger seiner Frau. Doch Violaine war klug genug sich zurück zu halten, und Anya hatte es durch geschickte Gespräche und ein bisschen gutes Zureden geschafft, Besnards Aufmerksamkeit zu erringen. Das bedeutete im Umkehrschluss allerdings, dass sie sich jedes Mal den Kopf darüber zerbrechen musste, wie sie ihm ihre Pläne am besten schmackhaft machte.
Auch deshalb blieb Anya stehen als sie Besnards Zelt erreichte, statt ihn einfach zu überfallen, und versuchte ihre Gedanken zu sammeln. Es gab gute Gründe, warum er davon profitiert hätte Jadzia zu kaufen, und sie sortierte sie gedanklich in eine gewinnende Reihenfolge, während sie sich langsam weiter dem Eingang näherte. Sie fügte einen Schuss Optimismus in Bezug auf Eraviers zu erwartenden Unwillen hinzu, denn sie wusste genau, dass Besnard sich selten und ungern mit ihm anlegte. Dann atmete sie noch einmal tief durch. Irgendwie würde sie das Kind schon schaukeln. 

Sie war drauf und dran einzutreten, als sie plötzlich Stimmen aus dem Zelt hörte. Im ersten Moment verstand sie kein Wort, und reflexartig blieb sie stehen und konzentrierte sich auf die Worte. Es war Violaines Stimme, das hörte sie sofort heraus, und sie fragte völlig aufgebracht, und dennoch im Flüsterton: „Aber wieso denn?! Wir haben doch nichts getan, nie! Wir sind gute Leute, ehrliche Leute!“ Orsons gemurmelte Antwort war kaum zu verstehen, aber Anya schnappte Fetzen davon auf. „… keine Rolle… Durand war nicht schuldig, er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort… wird uns das selbe passieren… nur eine Frage der Zeit…“ „Du verschweigst mir doch etwas! Da ist doch noch mehr“, war Violaines geflüsterte Antwort, die wiederum völlig klar verständlich war. „Was zum Teufel hast du angerichtet, Orson Aloïs Besnard?“ 
Es folgte Stille, und ein unerkennbares Murmeln von Orson, das abrupt unterbrochen wurde, als seine Frau völlig aufgelöst fragte: „Du hast was?!“ Orson schien zu versuchen, sich zu verteidigen, denn seine Stimme wurde lauter. „Ich hatte die Hoffnung, dass dadurch die Geschäfte ehrlicher werden! Menschen zu zwingen Sklaven zu werden ist nicht rechtens, ich dachte wenn ich den Rebellen helfe-“ Doch Violaine war jetzt endgültig in Rage, und es war wohl nur ihrer Vernunft und ihrem praktischen Verstand geschuldet, dass sie ihn nicht anschrie, sondern weiterhin flüsterte. „Hast du dabei auch an uns gedacht?! Was wir haben? Was wir verlieren können?! Was bleibt uns denn jetzt noch?“ Wieder folgte eine Sprechpause, lang und bedeutungsschwer, und die gemurmelten Worte von Orson, die so leise war, dass seine Frau sie vielleicht nur von seinen Lippen las. Und dann weitere Stille, bleiern und kalt. Sie dehnte sich.

„Nein“, sagte Violaine schließlich leise. „Das können wir nicht. Was wird aus unseren Sklaven? Wenn wir sie hier lassen, verlieren wir ein Vermögen! Und wir bekommen sie auch niemals von hier weg! Das machen wir nicht!“ Und Anya wurde mit einem Schlag klar, dass Besnard soeben das Undenkbare vorgeschlagen hatte: Zu fliehen. Er wollte fliehen und alles zurück lassen, um seine Haut zu retten.

Aber war das nicht das Klügste, was die beiden tun konnten? Orson war überzeugt, dass der Mann der hingerichtet worden war unschuldig war. Anya wusste nicht, ob das wirklich der Wahrheit entsprach, aber sie wusste, wie skrupellos Eravier war. Er war verrückt genug jemand hinzurichten, nur um sich keine Blöße zu geben. Er wollte Angst schüren, und das hatte er anscheinend geschafft. Er hatte bewirkt, dass die zwei praktischsten und ruhigsten Menschen die Anya überhaupt kannte vor Angst zitterten. Waren sie mit der Rebellion im Bunde, oder hatten sie sie nur ein einziges Mal, in einem günstigen Moment, unterstützt? Es spielte keine Rolle. Orson hatte es getan, weil er es für das Richtige hielt. Und jetzt würden sie dafür bezahlen, wenn Eravier jemals Wind davon bekam.

Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass Besnard damit nicht mehr Teil ihrer eigenen Pläne sein konnte. Entweder war er binnen weniger Tage verschwunden und würde niemals zurück kehren, und seine Rechte und Anteile würden damit Null und nichtig werden. Alles was er hatte würde in Eraviers Besitz gelangen. Oder er blieb, aber dann würde er völlig handlungsunfähig sein. Eravier hatte ihn schon vorher an der Leine gehabt, aber jetzt hatte er ihm auch noch einen Maulkorb verpasst. Vorausgesetzt dass Besnard blieb, würde er die Finger von allen Geschäften lassen, die Eravier auch nur im Geringsten verärgern konnten.

Sie wäre beinahe vom Zelt zurück getreten und verschwunden, als sie plötzlich ihren Namen hörte, aus Violaines Mund. „Anya!“, sagte sie plötzlich, und zuerst glaubte Anya sie wäre entdeckt worden. Ihr Herz machte einen Satz, und in Erwartung von Beschimpfungen und Vorwürfen trat sie einen Schritt zurück. Aber niemand machte Anstalten das Zelt zu verlassen. Violaine sprach stattdessen flüsternd weiter: „Sie ist seine Hure, oder? Und du kennst sie! Sie hat versucht, sich bei dir einzuschmeicheln! Sie kann ihn bestimmt beeinflussen, oder? So etwas tut sie doch die ganze Zeit! Sie kann ihm sagen, dass wir unschuldig sind! Sie kann ihn doch von uns abbringen!“ 

Orsons Antwort war ein wütendes, aber unverständliches Murmeln, aber es spielte auch keine Rolle, weil Anya in diesem Moment nicht einmal darauf achtete. Sie hatte wahrhaftig genug gehört. Ihre Mundwinkel zuckten, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Am liebsten hätte sie geschrien, oder laut gelacht. Sie, jemand schützen, ausgerechnet vor Eravier? Eine Sklavin? Eine Frau? Was dachte Violaine denn, welche Macht Anya hatte? Und gleichzeitig, wie dreist war es, jemand um Hilfe anzuflehen, auf den man sonst nur herab sah? Dem man nur mit Misstrauen begegnete? 

Es wird dir nichts nutzen. Sie sind schwach. Sie können dir nicht dienlich sein, dir nichts zurück geben. Hilf ihnen nicht. Im Gegenteil, wenn du weißt was gut für dich ist, solltest du sie meiden, analysierte ihr Verstand, und natürlich war jedes einzelne Wort davon die Wahrheit.
Und doch. Etwas in ihr regte sich, vielleicht einfach nur Unwille, jemand im Stich zu lassen. Das Wissen, dass es nichts Schlimmeres gab auf der Welt als fernab jeder Hilfe und jeden Mitgefühls zu sein. Dass in der Not geschlossene Bündnisse besser waren als keine Bündnisse. Aber was in Gottes Namen sollte sie jetzt tun? Das Gespräch suchen? Offen legen was sie wusste, oder das Unschuldslamm spielen und wohl wissend was Besnard vor hatte ihre Trümpfe ausspielen?

Sie hätte vielleicht noch länger unentschlossen da gestanden, mit sich gerungen, aber eine große Hand legte sich nicht grob, aber auch nicht gerade zärtlich auf ihre Schulter, und zum zweiten Mal in wenigen Minuten setzte ihr Herz vor Schreck fast aus. Sie keuchte leise auf und drehte sich um, nur um erleichtert zu begreifen, dass es Guy war, der sie entdeckt hatte. „Du bist es nur“, sagte sie und atmete erleichtert aus. „Musst du mich denn so erschrecken?“

Guy sagte nichts und führte sie mit Nachdruck einige Meter weiter, außer Hörweite der umliegenden Zelte. Erst dann brummte er unwillig: „Das Gleiche könnte ich auch fragen.“ Er sah sich um, analysierte mit seinem wachen Blick die Umgebung, bevor er sich wieder Anya zu wandte. „Ist eine schwierige Nacht, und du lungerst hier vor einem fremden Zelt herum. Hätte ich dich nicht auf hundert Meter erkannt, hätte ich dich verhaftet. Was treibst du hier?“, fragte er, und Anya änderte ohne Zeitverzögerung ihr Verhalten. In einem Moment war sie ernst und nachdenklich gewesen, und im nächsten zog ein gewinnendes und schelmisches Lächeln über ihr Gesicht. Sie fuhr sich durchs Haar und erklärte mit einem Augenzwinkern: „Ich hatte eigentlich vor Besnard einen kleinen Besuch abzustatten, aber er scheint ein wenig unpässlich zu sein. Ehestreits sind so hässlich, nicht wahr?“ 

Das tat seine Wirkung, wie so oft. Guy war unnahbar und kühl, aber es gab wenige Männer mit einer Neigung für Frauen, die sich nicht von Anya einwickeln ließen. In seinem Fall hatte es einfach ein wenig länger gedauert und erforderte mehr ihrer Aufmerksamkeit, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht im Normalfall das bekam was sie wollte. 
So auch jetzt. Guy schnaubte, gleichzeitig amüsiert und wachsam. Doch er dachte auch keine Sekunde daran sie tatsächlich zu verhaften oder gar in ihr Quartier zurück zu schicken. Stattdessen bot er ihr seinen Arm, galanter als man es anhand seines hünenhaften Körpers oder seines groben Wesens vermutet hätte. „Kann ich die Herrin dann begleiten, wo auch immer ihr eigensinnige Laune sie gerade hin treibt?“, fragte er, und verhedderte sich nur für einen Sekundenbruchteil in diesem Satz. Anya ergriff seinen Arm, hakte sich ohne zu zögern ein und schmunzelte, und diesmal war es ein ehrliches Lächeln. „Du kannst. Begleite mich zu Karvash, mein Bester“, sagte sie fröhlich.

Karvashs Zelt war eigentlich nur ein paar Schritte entfernt, aber Guy wollte sie nicht unbedingt sofort loswerden, und auch Anya hatte nicht vor ihr Zusammensein zu schnell zu beenden. Deshalb schlenderten sie nur sehr langsam voran. Anya genoß allerdings nicht nur Guys Gesellschaft, sondern horchte ihn wie so oft auch über die neusten Entwicklungen aus. „Warum ist es eine schwierige Nacht?“, wollte sie unschuldig wissen und beugte sich im Gehen noch näher zu ihm hinüber, sodass ihr Busen seinen Arm streifte. Guy ließ sich nicht anmerken, was er von ihrer Annäherung hielt, sondern brummte stattdessen: „Hast du den Schuss nicht gehört? Das sollte dir doch als Erklärung reichen.“ Anya zuckte mit den Schultern. „Natürlich hab ich ihn gehört, aber ich wusste natürlich nicht, was er bedeutet“, log sie. „Wer ist erschossen worden? Doch hoffentlich ein Schurke?“ 

Guy lächelte schmal, aber dieses Lächeln maskierte etwas Anderes. Besorgnis, und Wachsamkeit, vielleicht auch Wut. „Er soll ein Rebell gewesen sein“, sagte er schlicht, und Anya war klug genug, nicht daran zu rühren. Das war etwas, das sie an Guy überrascht hatte, und das sie erst hatte lernen müssen: Sein bulliges Äußeres, seine Stellung und Schweigsamkeit täuschten darüber hinweg, dass er nicht dumm war, sich seine eigenen Gedanken machte und diese auch nicht immer freimütig preisgab. Vieles was er dachte oder bemerkte ging an den anderen Wächtern vorbei, also behielt er es für sich. Er machte seine Arbeit und behielt den Kopf unten, und die meiste Zeit hob er sich nicht von der Masse ab. Aber manchmal, in unbeobachteten Momenten, war er allen seiner Kumpanen voraus, selbst wenn es nur ein halber Schritt war. 

Anya musste ehrlich zugeben, dass sie das von Anfang an für Guy eingenommen hatte; dass Wissen, dass sie ihn nicht komplett durchschaute und seine Motive selbst ihr manchmal ein Rätsel waren. Sie ärgerte ihn gern, stellte seine Geduld auf die Probe und ließ sich in der Öffentlichkeit nicht dabei beobachten, dass sie ihm zu nahe kam, das nicht. Aber im Geheimen war sie ihm wesentlich mehr zugetan als Gael, oder, Gott bewahre, Eravier. Es war zu schade, dass seine Stellung derartig unbedeutend war, sonst hätte sie mit Freuden mehr aus ihrer Freundschaft heraus geholt als die eine oder andere unverbindliche sexuelle Begegnung. 

„Dann sind wir jetzt aber endlich sicher vor dieser Rebellion, oder?“, fragte sie stattdessen, und zeigte ihre beste Interpretation einer verängstigten Dame, die auf den Schutz durch einen kühnen Ritter hofft. Guy ging nur halb darauf ein, als er antwortete: „Man weiß nie, wo noch mehr Rebellen lauern. Sind wie Ratten in einem Kornspeicher. Noch ist nicht alles vorbei, aber wir werden sie schon noch ausräuchern.“ „Da bin ich ja beruhigt“, sagte Anya frohgemut, und nahm sich vor, mehr darüber heraus zu finden, was Eravier noch plante. Guy war ein gutes Barometer dafür, welche Maßnahmen er ergreifen wollte, auch wenn er nicht so freimütig darüber sprach.

Leider waren sie in diesem Moment auch schon vor Karvashs Zelt angekommen; Guy warf ihr einen auffordernden Blick zu, und bedauernd löste Anya sich von ihm. „Hast du heute noch lange Dienst?“, fragte sie betont harmlos, und jetzt schmunzelte er, weil er genau wusste, was diese Frage beinhaltete. „Hast du heute noch nicht genug?“, fragte er amüsiert, und sie zuckte mit den Schultern und lächelte frech. Sie ließ sich nicht von vielen darauf ansprechen, dass sie es mit aller Welt trieb, aber Guy und Jadzia hatten beide dieses Recht, und beide gingen sorgsam damit um. „Schätzchen, du weißt doch mit wem du hier sprichst. Ich kenne keine Pausen“, erklärte sie mit einer Prise Stolz, und er nickte. „Bin aber heute für die Nachtwache eingeteilt. Zu schade“, sagte er. Er stand immer noch nah bei ihr, und jetzt strich er über ihre Wange, und sie schmiegte sich in seine grobe, große Hand hinein. Ach, von Gesten wie diesen bekam sie nie genug, und jetzt bedauerte sie noch mehr als zuvor, dass er heute Nacht nicht bei ihr sein würde. „Dann vielleicht morgen?“, fragte sie, und Guy nickte. „Sicher, morgen. Ich weiß ja, wo ich dich finde.“ 

Er ließ seine Hand sinken und war drauf und dran zu verschwinden, aber so einfach ließ Anya ihn nicht gehen. „Nicht so hastig! Willst du deine Herrin einfach so stehen lassen? Was ist mit meinem Abschiedskuss?“, fragte sie schelmisch und mit gespielter Empörung. Guy zögerte einen Moment, sah sich um. Niemand beobachtete sie. „Nicht so ängstlich“, flüsterte Anya, und zu ihrer großen Freude schloss er sie jetzt wirklich in seine starken Arme und küsste sie. Vielleicht spürte er bei diesem Kuss ihr triumphierendes Lächeln, aber wenn es so war, ließ er es sich nicht anmerken.
Ja, Anya triumphierte, mit jedem Liebesbeweis und jedem Herz, das sie für sich gewann. Sie liebte die Zuwendung, die sie dadurch bekam, vor allem wenn es sich um einen so verschlossenen Mann wie Guy handelte. Nicht, dass das sein einziger Vorzug war; Er war so groß und stark, dass er selbst ihren ausladenden Körper völlig umschließen konnte, und für diesen einen Moment fühlte sie sich völlig sicher und geborgen. Seine großen, warmen Hände lagen auf ihren Schulterblättern, und sie lehnte sich an seinen breiten Schultern und seinem muskulösen Körper an. Sie durfte loslassen, und einmal die Schwächere sein.

Es war ein wunderbarer Kuss, viel unschuldiger als alles, was sie sonst miteinander anstellten, und er hätte niemals enden müssen. Hätte Anya nicht so viel zu tun gehabt, hätte sie Gael in diesem Moment sausen lassen, und zur Hölle mit den Konsequenzen. Aber natürlich ging es nicht nur um sie, und selbst während sie ihn küsste kehrten ihre Gedanken zu Jadzia zurück. Nur deshalb war sie jetzt hier, und nur deshalb löste sie sich schließlich sanft von Guy und trat einen Schritt zurück. Und weil er ein guter Mann war ließ er von ihr ab und bedrängte sie nicht, obwohl sie beide spürten, dass sie einander nicht gehen lassen wollten. „Gute Nacht, Guy“, sagte sie sanft. „Gute Nacht“, antwortete er höflich, und sie nickte, wandte sich schnell ab und trat durch den Eingang von Karvashs Zelt.

Das Innere des Quartiers war trotz der fortgeschrittenen Stunde noch erleuchtet, obwohl es eigentlich für Karvashs Frauen zu spät am Tage war um noch wach zu sein. Doch die Aufregung im Lager schien auch auf Sophie, Adaliz und Josce übergegriffen zu haben, und so saßen an diesem Abend doch alle drei bei einander, jede mit einem Becher Wein. Sie hatten sich auf aus Kisten improvisierten Sitzgelegenheiten niedergelassen, die jedoch so üppig mit Kissen ausgestattet waren, dass sie hinter einem echten Sessel nicht zurückstehen mussten. Dem Anschein nach hatten Sie sich eigentlich schon für die Nacht entkleidet, dennoch saßen sie jetzt bequem, eingehüllt in ihre Nachtmäntel beisammen und schienen nicht daran zu denken, sich schlafen zu legen. 

Sophie, die sich als erstes zu Anya umwandte, begann ohne Hinzusehen in einem verärgerten Tonfall: „Wie lange dauert das denn, Fleurie? Du wolltest doch nur-“ Sie hielt jedoch inne als sie bemerkte, dass jemand anders als erwartet das Zelt betreten hatte. „Ach du bist es“, sagte sie nachsichtig, winkte Anya heran und bot ihr einen Platz in ihrer Mitte an. Anya trat näher, setzte sich aber nicht. „Wen erwartet ihr denn?“, fragte sie aus reiner Neugier nach, und Sophie seufzte. „Ach, Fleurie, mein kleiner Nichtsnutz, ist mal wieder sonst wo unterwegs!“, meinte sie ärgerlich, nur um im nächsten Moment einzulenken: „Sie ist ein gutes Mädchen, gibt sich Mühe, aber ständig mit dem Kopf in den Wolken! Sie versucht immer zwar immer zu erklären, warum sie sich verspätet, aber ich habe doch keine Ahnung von dieser seltsamen Zeichensprache, und sprechen kann sie nicht. Was sich Gael dabei gedacht hat sie aufzunehmen weiß ich nicht! Jedenfalls sollte sie nur Wasser holen, und schon ist sie wieder auf einer kleinen Weltreise.“

Etwas an ihren Worten ließ Anya inne halten, als würde eine Erinnerung wach gerufen, aber sie kam nicht dazu diesen Gedanken weiter zu verfolgen, da Josce sich jetzt einmischte. Mit zweiundzwanzig Jahren war sie das Küken der drei, und sie war von der Natur mit perfektem erdbeerblonden Haar, einem roten Kussmund und einem Selbstbewusstsein ausgestattet worden, das Anyas Konkurrenz machte. Jetzt verdrehte sie die Augen und empörte sich: „Ich sage doch, du solltest ihr mal jemand hinterher schicken. Wer weiß, was sie treibt, oder wen sie da trifft! Am Ende ist sie plötzlich schwanger und schafft nur noch die Hälfte ihrer Arbeit!“ „Josce, nein. So springt man nicht mit Dienern um“, tadelte Adaliz sie mit einem Stirnrunzeln. Sie war eine dunkelhaarige Schönheit mit hellbrauner Haut, die Älteste der drei und immer die Ruhe selbst. Obwohl die drei Frauen eigentlich gleich gestellt waren, respektierten Josce und Sophie sie wegen ihrer Erfahrung und ihren tadellosen Manieren. Keine der beiden fiel ihr ins Wort, als sie sich an Anya wandte und fragte: „Aber was führt dich her, meine Liebe? Was können wir für dich tun? Setz dich doch bitte und erzähl uns alles.“

„Danke, aber ich wollte mich nicht zu lange aufhalten“, erklärte Anya und wandte sich dann an Sophie. „Hör zu, kann ich dich einen Moment allein sprechen?“ Ihr ernster Tonfall schien die Besorgnis der drei zu wecken, denn sie schwiegen und musterten sie, plötzlich wachsam und auch ein wenig verwirrt. „Was ist denn los?“, fragte Sophie, aber Anya schüttelte nur stumm den Kopf. „Nur wir beide“, sagte sie, und Sophie verstand. Sie war Gaels erste Frau gewesen und länger bei ihm als jede andere, und wenn es um ihn und seine Belange ging, war sie diejenige, die das letzte Wort hatte. Sie erhob sich, und nach einem Seitenblick zu ihren Freundinnen führte sie Anya ohne weitere Frage durch einen mit Stoff verhängten Durchgang in einen anderen Bereich des Zelts.

Das Zelt war groß, aber natürlich waren die Räume, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, nur durch weitere Stoffbahnen unterteilt. Der kleine Bereich den Anya betrat beherbergte die Schlafplätze der drei Frauen, sofern sie nachts nicht bei Gael schliefen, und lag völlig im Dunkeln, nur erhellt durch einige verirrte Lichtstrahlen, die einen Weg durch die Ritzen der Stoffbahnen fanden. Matten, Decken und Kissen waren nah beieinander bereit gelegt, vermutlich um der nächtlichen Kälte zu dritt zu trotzen und sich gegenseitig zu wärmen. 
Sophie ließ sich auf einem der Lager nieder und gebot Anya, das selbe zu tun, sodass sie nah beieinander saßen und sich leise unterhalten konnten. Es weckte in Anya nostalgische Erinnerungen an ihre Kindheit, als sie zu Besuch bei ihren Cousinen gewesen war und sich zur Schlafenszeit heimlich zu ihnen geschlichen hatte, um die halbe Nacht flüsternde Gespräche zu führen. Es war eine Vertrauen erweckende Atmosphäre, und Sophie sah sie aufmerksam an und schien bereit, ihr zu zuhören. 

„Was hast du auf dem Herzen? Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte sie, und aus ihrer Stimme war deutlich heraus zu hören, dass sie besorgt um Anya war. So deutlich, dass Anya sich verpflichtet fühlte sie als erstes zu beruhigen: „Keine Angst, es geht mir gut. Ich muss nur unbedingt heute noch mit Gael sprechen. In welcher Stimmung ist er?“ Sophie seufzte, besorgt und unglücklich. „Du hast keinen guten Zeitpunkt erwischt. Er hat sich schon hingelegt, und er wollte allein sein. Die Hinrichtung, hast du davon etwas mitbekommen?“ Anya nickte, obwohl sich ihr Wissen nur auf Guys wenige hingeworfene Worte und einige Mutmaßungen beschränkte. Sie musste jetzt nur wissen, in welcher Stimmung Gael war, aber wenn sie Sophies Gesicht richtig deutete, würde sie hier schon wieder auf Hindernisse stoßen.
„Diese ganze Sache… Kelians Tod, dass sie diesen Rebell erschossen habe, das hat ihn alles sehr mitgenommen“, fuhr Sophie unglücklich fort. „Er wollte nicht mit uns darüber sprechen, aber ich glaube er macht sich große Sorgen um unsere Sicherheit.“ Anya nickte, weil sie das befürchtet hatte. Aber es würde ihr vermutlich nichts nützen, bis zum nächsten Morgen zu warten. Und vielleicht war Gael ihr gerade jetzt sogar zugänglicher, wenn er Trost brauchte. „Denkst du er würde mir trotzdem zuhören? Wenigstens eine Minute?“, wollte sie wissen, aber Sophie zuckte nur mit den Schultern, ratlos. „Du kannst es natürlich versuchen. Vielleicht lässt er sich von dir aufheitern, das gelingt dir irgendwie immer am Besten.“ 

Es hätte Spott in diesen Worten liegen müssen, oder Missgunst. Aber sie meinte jedes Wort ernst; sie betrachtete Anya nicht als Rivalin, keine von Gaels Frauen tat das. Irgendwann musste Sophie verstanden haben, dass sie ihren Gatten weder mit Neid noch mit Feindseligkeit gegenüber seiner Affären würde halten können, und stattdessen hatte sie beschlossen sie zu ihren Verbündeten zu machen. Manchmal erstaunte es Anya, wie gut die drei Frauen miteinander auskamen, wenn sie doch eigentlich um Gaels Aufmerksamkeit konkurrieren sollten, aber sie schienen seine Zuneigung in stummer Übereinkunft unter sich aufzuteilen. Und das war einer der Gründe warum sie von ihm gekauft werden wollte. Es war skurril, aber in gewissem Sinne waren die vier eine Art Familie, und während Anya nicht sicher war, was es bedeutete Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein, schien es doch die einzige Art von Familie, die überhaupt in ihrer Reichweite lag. Außerdem war es wohltuend nicht immer als Gefahr gesehen zu werden, wenn sie doch nur ihre Arbeit tat, nur versuchte dem gerecht zu werden was sie war. Aber vielleicht konnten nur Sophie und die anderen beiden das wirklich verstehen, schließlich war jede von ihnen eine Sklavin gewesen. Sie wussten, dass es niemand sonst gab der auf sie Acht geben würde, und deshalb gaben sie aufeinander Acht.

Auch deshalb verbannte Anya Gael für einen Moment aus ihren Gedanken und widmete sich nur Sophie. „Du siehst auch nicht gerade glücklich aus“, sagte sie sanft und ergriff ihre im Schoß gefalteten Hände. „Blass. Und müde.“ „Müde bin ich auch“, gab Sophie zu und strich sich erschöpft über die Stirn. „Diese Aufregung tut uns allen nicht gut, und seit diesem ersten Rebellenangriff sind wir irgendwie alle nicht zur Ruhe gekommen. Dann dieser flüchtige Sklave, und jetzt Rebellen unter uns? Das ist alles zu viel für mich. Die Diener sind unruhig, und ich weiß nicht was ich tun soll um ihnen das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung ist. Ich halte die Routine aufrecht, ich versuche Gael bei der Organisation zu helfen wenn ich kann, aber…“ Sie stockte, und jetzt sah sie mehr als unglücklich aus, ratlos und am Ende ihrer Kräfte. Und weil Anya gar nichts anderes einfiel als sie zu trösten, nahm sie sie in den Arm, und Sophie lehnte sich dankbar an sie. 

„Es wird alles wieder gut, hörst du?“, sagte Anya leise und streichelte beruhigend über ihren Rücken, und Sophie nickte und wischte sich ihre Augen, die verräterisch nass glänzten. „Ich weiß, ich weiß. Bestimmt ist die Aufregung auch bald wieder vorbei, aber im Moment komme ich einfach nicht dazu mich zu entspannen.“ Jetzt lächelte sie und blickte ein wenig erwartungsvoll, und Anya verstand die Frage auch ohne dass Sophie sie aussprechen musste. „Dagegen kann ich bestimmt etwas unternehmen“, antwortete sie mit einem Schmunzeln und zog Sophie näher an sich heran, und sie ließ es bereitwillig geschehen. 

Sie schmiegte ihr Gesicht in Anyas Halsbeuge, so wie Jadzia es manchmal tat, und Anya schmunzelte, weil Sophies Motive dafür viel weniger unschuldig waren. Zarte Lippen küssten ihren Hals, sanft und ein wenig kitzelnd, aber Anya ließ sich davon nicht aus dem Takt bringen, sie streichelte einfach weiter Sophies Rücken, gab ihr das Gefühl geborgen zu sein. Die sanften Küsse wanderten ihren Hals hoch, trafen ihr Kinn, dann ihren Mund. Sophie küsste sie, streichelte ihre Schultern und ihre Wangen, und das war ein schönes Gefühl… und dennoch völlig bedeutungslos. Anya lächelte weiterhin und ließ sich bereitwillig küssen, aber gleichzeitig stimmte es sie traurig. 
Sie fühlte nichts. Keine Aufregung, keine Zuneigung abgesehen von der Freundschaft, die sie Sophie entgegen brachte. Kein Begehren. Selbst wenn Eravier sie berührte empfand sie zumindest körperliches Verlangen, auch wenn das ein unfairer Vergleich war. Warum dann jetzt nicht? Aus irgendeinem Grund kam es ihr ungerecht vor, wie ein Fehler ihres Körpers oder Charakters. Aber vielleicht war das einfach der Lauf der Dinge. Vielleicht machte sie sich letztendlich einfach nichts aus Frauen.

Aber sie war zu geübt darin, den Schein aufrecht zu erhalten, und vielleicht war es Sophie auch egal. Sie hatten nie darüber gesprochen, es war einfach geschehen, und sie war nicht einmal sicher, ob Sophie wirklich so viel an Frauen lag, oder ob sie einfach nur jemand suchte, der willens war auf sie einzugehen. Willens, sich nur um sie zu kümmern und die eigenen Wünsche für diesen Moment hinten an zu stellen.
Anya schob den Nachtmantel von ihren Schultern und ihr Schlafgewand über ihre Schenkel hinauf, streichelte ihren Bauch und ihre schlanke Taille, aber das schien Sophie bei weitem nicht schnell genug zu gehen. Sie entledigte sich kurzerhand ihres Nachtgewandes, indem sie es über den Kopf zog, und warf es nachlässig beiseite. Dann griff sie nach Anyas Händen und führte sie zu ihrem Körper, ließ sie auf ihren Brüsten ruhen. 

Ihr Herz schlug schnell, und selbst im Halbdunkel konnte Anya sehen, dass ihre Wangen leicht gerötet waren. „Bitte lass mich diesen Tag einfach vergessen“, flüsterte sie, und Anya nickte und lächelte. Sie beugte sich hinunter, küsste die zarte Haut, dort, wo ihre Brüste zusammen trafen, und weiter hinunter, während ihre Finger ihre Scham streichelten, schließlich die Schamlippen teilten und ihre Klitoris liebkosten. Sie wurde mit einem zarten Stöhnen belohnt, das eindringlicher wurde, je länger Anya sie erregte. 
Abwesend dachte sie daran, dass mit jedem Mal mehr begriff was sie tun musste. Am Anfang war es ihr schwer gefallen heraus zu finden, was Sophie gefiel, aber sie war auch begierig gewesen zu lernen. Mit Männern konnte sie umgehen, schon lange, und sie kannte einige Kunstgriffe um sie für sich zu gewinnen, aber Frauen, abgesehen davon dass sie ihre Körper rein prinzipiell wie ihren eigenen verstand, waren ihr neu gewesen. Und ganz unabhängig davon was sie für Sophie empfand hatte sie kein stümperhaftes Liebesspiel verdient. 

Sophie schien zu spüren dass Anya nichts von ihr erwartete, deshalb hielt sie sich die meiste Zeit zurück und ließ sich einfach verwöhnen, und Anya ließ sie auch nicht im Stich. Ihre Zunge spielte mit ihren Brustwarzen, und sie verfolgte die sanfte Rundung ihrer Brüste mit ihren Händen, umschloss sie, knetete sie vorsichtig. In diesem Moment vergrub Sophie ihr Gesicht in Anyas roten Locken und flüsterte leise: „Ich liebe dein Haar. Es ist so wunderschön. Ich wünschte ich hätte solche Haare. Ich weiß gar nicht, warum Gael dich nicht kaufen will. Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass du praktisch zu uns gehörst.“ 

Obwohl es ein Kompliment war, und Anya sicher war dass Sophie nicht wissen konnte was sie ihr da gerade offenbart hatte, erstarrte sie eine Sekunde lang. Ihre ganze Hoffnung fiel in sich zusammen wie ein brennendes Haus, und reflexartig biss sie sich auf die Zunge, weil sie sonst vielleicht geflucht hätte.

Warum hatte Gael ihr das nicht schon längst gesagt? Warum erfuhr sie es auf diesem Wege? Nun, natürlich weil Gael ein Feigling war und wusste, dass sie sonst vielleicht nicht mehr das Bett mit ihm geteilt hätte. Aber trotzdem, so selbstverständlich, wie Sophie ihr diese Worte zuflüsterte schien es für sie eine lange bekannte Tatsache zu sein. Gael hatte seine Entscheidung schon lange getroffen, und sie war hier und machte einen Narren aus sich.

Und dann wurde ihr bewusst, dass sie völlig erstarrt war und Sophie Schuldgefühle empfinden würde, wenn sie ihr die Wahrheit sagte. Wollte sie ihr so die Laune verderben? Sie sah bereits irrtiert auf und fragte: „Was ist denn? Ist alles in Ordnung?“, und Anya riss sich zusammen. Nein, nicht jetzt. Sie konnte Gael später die Hölle heiß machen, wenn sie Lust dazu verspürte, gleich nachdem sie den Triumph davon trug mehr für seine Ehefrau getan zu haben, als er in sechs Jahren Ehe fertig gebracht hatte. 
„Ich dachte nur ich hätte etwas gehört“, log sie, und gleichzeitig war ihr klar dass ihr Gesichtsausdruck sie sofort verraten würde, wenn sie nichts unternahm. Kurzentschlossen schob sie Sophie sanft zurück, sodass sie bequem auf dem Rücken lag, senkte ihre Lippen auf ihre Scham und liebkoste sie mit der Zunge. Eine Sekunde lang wurde ihr die unfreiwillige Komik des ganzen bewusst - sie versteckte ihre Mimik tatsächlich im Schoß einer Frau, und sie konnte nicht anders als lächeln. Aber dann vertrieb sie diesen Gedanken, konzentrierte sich nur nach auf Sophies warmen Körper unter ihrer Zunge. Und anscheinend stellte sie sich damit nicht schlecht an, denn Sophie reagierte augenblicklich. Sie kam gerade noch dazu „Anya… das ist…“ zu sagen, dann spannte sich ihr Körper an, ein Zittern durchlief sie, und sie erreichte ihren Höhepunkt. Ein strahlendes Lächeln zog über ihr Gesicht, während sie keuchte, und zumindest in diesem Moment spürte Anya etwas, auch wenn es nur die Freude daran war, sie glücklich gemacht zu haben. Sie ließ nicht von Sophie ab, bis sie ganz sicher war, dass sie den Moment auch wirklich ausgekostet hatte.

Für einen Moment blieb Sophie noch keuchend liegen. Ihr Gesicht war gerötet, und sie strahlte immer noch, als sie sich aufrichtete und schnell ihr Nachtgewand wieder überzog. „Das war-“, begann sie an Anya gewandt, die sie immer noch beobachtete, doch plötzlich verzog sich ihr Gesicht zu einem ärgerlichen Ausdruck, und sie starrte an Anya vorbei zu dem mit Stoff verhangenen Durchgang. „Was machst du denn hier?“, fragte sie spitz, und als Anya sich um wandte sah sie direkt in Jadzias Augen, die eisig, völlig starr und ohne Regung auf sie gerichtet waren.

Sie war wütend, auch wenn sie ruhig da stand und ihre Miene völlig ausdruckslos war. Anya spürte deutlich, dass sie nicht so ruhig war, wie sie sich gab. Zum zweiten Mal an diesem Tag war sie zutiefst verärgert. Und vielleicht verwirrt? Anya hatte geglaubt, sie könnte Jadzias Stimmungen deuten, aber gerade sah sie sich nicht dazu im Stande. Ihr erster Gedanke war ein panisches Verdammt, nur um sich im nächsten Moment irritiert zu fragen, wo dieser Reflex her kam und warum sie sich gerade schämte. Vielleicht, weil sie überhaupt nicht mit Jadzias Auftauchen gerechnet hatte, vor allem nicht hier und nicht jetzt? 
Aber Jadzia wusste schließlich was sie den ganzen Tag trieb. Sie hatte ihr zwar nie auf die Nase gebunden hatte, dass sie mit Sophie schlief, aber da sie praktisch mit jedem schlief der Interesse daran hatte, war das im Grunde nichts Besonderes, oder?  Anya konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihre Freundin jetzt so aufgebracht hatte. Und dennoch fühlte sie den dringenden Wunsch, sich zu entschuldigen.

„Jadzia. Ich dachte nicht-“, begann sie, aber Jadzia hob die Hand und brachte sie damit zum Schweigen. „Du hast mich nicht erwartet“, sagte sie nüchtern, und fast hätte sie den Anschein erweckt, dass es sie nicht kümmerte. Aber nur fast. „Wer hat dich eigentlich herein gebeten?“, machte Sophie erneut auf sich aufmerksam, nachdem sie konzentriert zwischen den beiden hin und her geblickt hatte, und Jadzia zuckte unwillig mit den Schultern. „Deine Freundinnen, wer sonst. Aber ich schätze ihr habt mein Eintreffen nicht hören können“, sagte sie, und ihr Tonfall war jetzt so frostig wie Gletschereis. „Wenn du uns jetzt entschuldigen würdest, wir haben noch etwas zu besprechen.“ Sophie warf Anya einen fragenden Blick zu, aber sie zuckte nur mit den Schultern, zum Zeichen dass sie auch nicht wusste, was eigentlich vor sich ging. Sophie schien abzuwägen ob sie einfach bleiben sollte, da es sich immerhin um ihre Behausung handelte, aber sie war nicht besonders streitlustig und vernünftig genug, sich jetzt nicht mit Jadzia anzulegen. „Wir sehen uns später“, sagte sie an Anya gewandte, dann griff sie ihren Nachtmantel, warf ihn über und rauschte ohne ein weiteres Wort an Jadzia vorbei. Anya blieb allein mit zurück.

„War das wirklich nötig?“, fragte Anya, während sie sich erhob, aber Jadzias Miene änderte sich nicht. „Muss ich dich daran erinnern, dass ich nur auf dich warte?“, fragte sie steif. „Du wolltest Karvash einen Besuch abstatten, stattdessen finde ich dich hier mit dieser…“ Sie schien sich einen Fluch zu verbeißen, denn sie fuhr fort: „Warst du wenigstens schon bei Besnard?“ „Ja, natürlich“, lenkte Anya ein und verschränkte reflexartig die Arme vor dem Körper, weil ihr dieses Gespräch überhaupt nicht behagte. „Sei nicht so schrecklich wütend auf mich. Ich weiß, ich habe Zeit verschwendet, aber manchmal ergibt sich einfach etwas. Ich habe das nicht geplant.“

Etwas an ihren Worten schien Jadzia zu entspannen. Sie seufzte und verschränkte die Arme, immer noch verärgert, aber ein wenig zugänglicher. „Ist schon gut“, sagte sie, und erst jetzt sah Anya, dass Jadzia einen Becher in den Händen hielt. „Was ist das eigentlich?“, fragte sie neugierig, während sie ihr Kleid richtete und abklopfte. „Nur Wein“, erklärte Jadzia, „Ich hatte mich ja auf Wartezeit eingestellt. Aber vielleicht trinkst du ihn besser. Es sei denn Gael soll beim ersten Kuss erfahren, was du vorher getrieben hast.“ 

Das klang bissig. Anya lächelte schmal, aber die Worte versetzten ihr auch einen Stich. Jadzia war doch sonst nicht so wenn es um ihre Arbeit ging. „Du denkst doch nicht, dass er nichts davon weiß?“, fragte sie, aber sie nahm den Becher dennoch von Jadzia entgegen und trank einen Schluck. Er war stark und süß, aber sie hatte eigentlich keinen Durst und auch keine Lust darauf, mehr davon zu trinken. Der Nachgeschmack war seltsam bitter, und das mochte sie überhaupt nicht. Unentschlossen drehte sie den Becher in ihren Händen, während Jadzia sie immer noch anstarrte, als erwarte sie eine Erklärung. Oder eine Entschuldigung? Ihr Gespräch war gerade völlig zum Erliegen gekommen, und das machte Anya ganz nervös. 

Um die Stimmung etwas aufzulockern zeigte sie auf den Becher und fragte spöttisch: „Und, denkst du, jetzt kann ich mich bei Gael blicken lassen?“ Jadzia zuckte mit den Achseln und betrachtete sie immer noch schweigend, als brüte sie über einer unausgesprochenen Frage, und Anya wünschte fast, sie würde endlich damit heraus rücken, was ihre schlechte Laune verursacht hatte. Sollte sie schreien, eine Szene machen, ihr etwas an den Kopf werfen. Dieses Starren passte nicht zu ihr, genauso wenig wie die kalte Wut, auch wenn sie nicht das Gefühl hatte, das alleinige Zentrum dieser Wut zu sein. Und wie immer, wenn Anya sich in die Ecke gedrängt fühlte, ergriff sie schließlich die Flucht nach vorn. „Willst du vielleicht nachprüfen, ob alles so seine Ordnung hat?“, fragte sie und trat näher an Jadzia heran, so nahe, dass sie ihre verschränkten Arme sinken ließ. „Anya“, sagte sie, diesmal weniger defensiv und fast ein wenig verwirrt, aber Anya ließ sich nicht mehr abhalten. „Du kannst es doch offensichtlich beurteilen, oder? Bitte bestätige mir doch, dass ich meine schändlichen Taten nicht vor Gael offenbaren werde!“, sagte sie, und ohne dass sie es wollte kippte ihre Stimme. „Anscheinend bist du ja deshalb wütend auf mich! Anscheinend-“

Sie kam nicht weiter, weil Jadzia sie wirklich küsste. Es war kein harmloser Kuss auf die Lippen ohne Bedeutung; nichts daran war keusch, oder freundschaftlich, oder züchtig genug, vor einem Zelt in aller Öffentlichkeit statt zu finden, selbst wenn es keine Zuschauer gegeben hätte. Jadzias Hände lagen nicht auf ihren Schulterblättern; ein Arm umfasste sie an der Hüfte und zog sie nah an ihren eigenen schmalen Körper, die andere legte sie auf Anyas Wange. Sie war eine so schmale Person, aber in diesem Moment fühlte Anya sich trotzdem geborgen. Und geliebt. So sehr geliebt, dass es ihr Angst machte. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und der einzige Gedanke war in diesem Moment: Anscheinend hast du dich geirrt. Du machst dir ja doch etwas aus Frauen.

Und dann ließ Jadzia sie los. „Du solltest nicht zu viel mit mir scherzen, Anya“, sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme wieder ruhig, beherrscht und überhaupt nicht wütend. Was?, dachte Anya, aber das kam ihr nicht einmal über die Lippen. Sie war viel zu verwirrt, um überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Was? Es war das einzige Wort, dessen sie habhaft werden konnte. 
Jadzia schien zu spüren, wie sehr sie neben sich stand, um ein schmales Lächeln zog über ihr Gesicht. „Und jetzt gehe ich und  warte draußen“, sagte sie bestimmend, „Und du trinkst deinen Wein aus und tust das, wofür du hergekommen bist.“ Anya sah auf ihre Hand hinunter, in der sie immer noch den Becher hielt. Sie hatte ihn völlig vergessen, inklusive der Tatsache wo sie war und dass sie überhaupt Hände hatte. „Aber-“, begann sie schwach, aber Jadzia ließ sie gar nicht ausreden. „Und wenn du das erledigt hast, gehen wir zurück. Und lass mich diesmal nicht zu lange warten.“ Damit wandte sie sich um und verließ das Zelt ohne ein weiteres Wort, und Anya starrte ihr wie eine Idiotin hinterher.

Was?


Jadzia trat hinaus in die Nacht und stieß ihren angehaltenen Atem aus. 

Das war dumm gewesen, wirklich dumm. Aber sie war überrascht gewesen, oder besser gesagt, völlig überrumpelt. Sie hatte noch das hämisch amüsierte Gesicht von Gaels Ehefrau vor sich, diesem jungen Ding mit den blonden Haaren. „Ich schätze, sie »unterhält« sich mit Sophie“, hatte sie  auf die Frage geantwortet, wo Anya zu finden war, und ihr süffisantes Lächeln hätte Jadzia eigentlich auf das vorbereiten sollen, was sie schließlich gesehen hatte. Aber das hatte es nicht. Anya, mit einer anderen Frau. Nein, nichts hätte sie darauf vorbereiten können.

Wie war es dazu gekommen? Warum hatte sie nichts davon gewusst? Warum hatte Anya ihr nichts gesagt? Die Antwort war natürlich simpel: Jadzia war einfach zu dumm oder zu unaufmerksam gewesen, es selbst zu bemerken. Oder hatte sie es ausgeschlossen, weil sie Anya nur mit anderen Männern gesehen hatte, obwohl das überhaupt nichts bewies? Egal; ihr war ein Fehler unterlaufen. Das hätte nicht passieren dürfen, und nicht ausgerechnet ihr. Und deshalb war sie wütend geworden, wütend auf sich selbst und auf Anya. Nur deshalb hatte sie unabsichtlich verraten, was sie eigentlich fühlte. Das war nicht gut. Entsprach nicht dem Plan.

„Bist du bereit?“ Jadzia schrak nicht zusammen, als Guy hinter ihr auftauchte, aber dennoch ging eine subtile Veränderung vor. Von einem Moment auf den anderen legte sie ihre Unsicherheit ab, wurde kühl und konzentriert. So gern sie auch gegrübelt hätte, es gab jetzt anderes zu tun. Sie wandte sich zu Guy um und nickte ihm zu. „Ja“, bestätigte sie. „Und Anya und Karvash?“, fragte er nach, und sie lächelte schmal. „Werden vermutlich innerhalb einer halben Stunde schlafen.“ „Hat sie ausgetrunken?“ Jadzia schüttelte den Kopf. „Nein, aber selbst wenn das nicht funktioniert, ist sie jetzt beschäftigt. Es spielt keine Rolle, sie kommen uns nicht in die Quere.“ Guy schien nicht überzeugt, aber wenn er Bedenken hatte, dann schluckte er sie in diesem Moment. „Dann schlagen wir jetzt zu.“ Jadzia nickte, und ein schmales Lächeln zog über ihr Gesicht. „Ja. Fangen wir unser Ungeziefer.“

Guy löschte die Laterne, die er in der Hand gehalten hatte, und sie tauchten in die Schatten des Lagers ein.

Es gibt immer einen Ausweg. Es gibt immer eine Lücke. Es gibt immer den einen Schachzug, den der Gegenspieler nicht vorhergesehen hat.

Diese Gedanken wiederholte Fourmi in ihrem Kopf, immer und immer wieder. Schweiß lief über ihre Schläfen; der gebrochene Arm quälte sie die ganze Zeit über.
Ein Schachzug, den der Gegenspieler nicht vorhergesehen hat.
Wer spielte hier gegen sie? Fourmi hatte keine Ahnung, aber je länger sie auf der Flucht waren, desto deutlicher wurde ihr, dass sie das heraus finden musste, und zwar zügig. Wenn sie überhaupt entkamen. Die Wahrscheinlichkeit dafür sank mit jeder Minute.

Der Kreis zog sich enger, und das konnte eigentlich nicht sein. Fourmi stiefelte nicht einfach unüberlegt drauf los, sie hatte einen verdammten Plan! Sie änderten die Richtung, ließen die Wächter immer wieder an sich vorbei passieren, und doch schüttelten sie sie niemals ab und kreuzten in diesem Moment schon wieder ihren Weg, wären fast direkt in sie hinein gelaufen.

Fourmi knirschte mit den Zähnen und ließ sich zum gefühlt tausendsten Mal auf den Boden fallen, um im letzten Moment unter einen Wagen zu rollen, Tarn hartnäckig hinter ihr, und gemeinsam lagen sie einen Moment später in Deckung und versuchten, möglichst leise zu atmen.

Mühsam robbte Fourmi ein Stück vorwärts, wobei ihr Arm protestierend aufheulte, und beobachtete, wie die Wächter an ihnen vorbei schlichen. Ja, sie schlichen inzwischen sogar, statt wie Bullen über eine Weide zu stapfen. Wer auch immer diesen Hinterhalt geplant hatte, er hatte offensichtlich verstanden, dass Lautlosigkeit wichtiger war als eine Übermacht. Zum Glück waren die zwei da trotzdem nicht schlau genug, ihre Ziele auch in Bodennähe zu suchen oder länger als nötig an einem Ort zu bleiben und sich umzusehen. Deshalb waren ihre ungeschützten Knöchel im nächsten Moment aus Fourmis Blickfeld verschwunden, bevor sie in die Versuchung kam sie ins Straucheln zu bringen.

Stattdessen harrte sie mit klappernden Zähnen aus, den verletzten Arm hilflos gegen ihren Körper gepresst. Zu viel. Diese ganze Nacht war zu viel für sie, für ihren verletzten Arm und ihre angeschlagene Konstitution, und trotzdem hatte sie keine andere Wahl als noch ein wenig länger auszuharren, abzuwarten, bevor sie weiter gehen konnten. Wenn diese Schwachköpfe den Auftrag hatten leise zu sein, hatte ihnen vielleicht sogar jemand in den Schädel gehämmert, dass sie ihre vorgegebenen Wege auch doppelt ablaufen oder zwischendurch umkehren sollten. Das war nicht mehr das Handwerk eines konservativen Schwachkopfes, und dazu kamen all die Details dieses neuen Vorgehens Fourmi schrecklich bekannt vor. Nicht die Taktik eines Einzelkämpfers, sondern eines Anführers, aber kein strikt militärisches Vorgehen. Wenn sie sich nur erinnern könnte…

„Wir sollten weiter“, murmelte Tarn, und Fourmi verkniff sich im letzten Moment ihm einen Tritt zu versetzen, auch wenn sein Kopf gerade in idealer Reichweite dafür war. Warum? Warum hatte er den Fehler gemacht, sich diesen Kerl aufzuhalsen? „Sei verdammt nochmal still“, fluchte er leise, aber jetzt hatte er den Faden in seiner Gedankenkette verloren und fand ihn nicht wieder. Nicht in diesem Zustand, mit den pulsierenden Schmerzen in seinem Arm. Tarns Schuld. Diese ganze Misere war letzten Endes seine Schuld. Und das würde ihm noch Leid tun. 

Wütend rappelte Fourmi sich auf, kroch ins Freie und zog sich die verrutschte Kapuze wieder tief ins Gesicht. Er wollte gerade Tarn befehlen, ihm zu folgen, als eine Stimme laut und deutlich: „Halt!“ rief. „Bleib stehen und zeig uns dein Gesicht!“, fügte eine zweite Stimme drohend hinzu. Fourmi erstarrte in der Bewegung, und blitzartig analysierte er die Situation. Sie waren umrundet worden; die Wachen, die gerade so an ihnen vorbei gegangen waren, waren jetzt hinter ihnen aufgetaucht, und zu nah um ihnen einfach davon zu laufen.

Es war ein Reflex. Er war zu müde, und zu unkoordiniert um noch zu wissen, was er tat; als einer der Wächter nach ihm griff dachte er nicht mehr nach. Tarn war irgendwo, außer Reichweite, und wenn er schlau war, blieb er vermutlich in Deckung und ließ seinen ungeliebten Verbündeten auflaufen. Fourmi hätte das selbe getan, und deshalb wartete er nicht auf Hilfe. Er würde die zwei zur Hölle schicken, einfach weil er es musste. 
Er holte mit seinem Arm aus, und ohne hinzusehen oder sein Gesicht zu zeigen rammte er ihn rückwärts in das Gesicht des Mannes hinter ihm. 

Der falsche Arm.

Er spürte gerade noch, dass sein Ellenbogen seinen Angreifer im Gesicht traf und ihm die Nase brach. Aber noch bevor er wirklich begriffen hatte, was er getan hatte, fuhr der Schmerz so heftig durch seinen Arm wie ein Blitzschlag. Die Welt verwandelte sich in verschwommenen roten Nebel aus endlose Qualen, und er nahm kaum wahr, dass er auf die Knie fiel und erstickt aufheulte. 

Der erste Wächter taumelte rückwärts, seine Schmerzensschreie klangen nasal, aber der zweite Kerl griff nach Fourmi und erwischte seine Kapuze. Fourmi wollte sich wehren, aber er war blind von den Schmerzenstränen, die über sein Gesicht liefen. Er versuchte die Hand weg zu schlagen, und verfehlte komplett. Vorbei. Ab hier geht es also endgültig abwärts.

Dann erklang das dumpfe Geräusch von Holz gegen Haut und Knochen, als Tarn aus dem Hinterhalt dem zweiten Wächter etwas über den Schädel zog, während der erste noch wimmernd seine gebrochene Nase hielt, aus der eine Menge Blut schoss. Das beschäftigte ihn allerdings nicht allzu lange, weil er von Tarn einen Hieb gegen den Kiefer bekam, der ihn neben seinem Kumpan zu Boden schickte. Er gurgelte etwas unverständliches, fuchtelte noch mit den Armen, aber dann lag er still.

Denk nicht, dass wir damit quitt sind, du Arschloch, wollte Fourmi sagen, aber sie brachte nur ersticktes Winseln hervor. Die Welt drehte sich, schien zu schwanken, und sie fühlte deutlich, dass sie einer Ohnmacht nahe war; ausgerechnet jetzt. Ausgerechnet vor ihm musste sie sich diese Blöße geben, das zweite Mal in Folge. Hätte sie ihn doch umgebracht, als sie die Gelegenheit dazu hatte!

Tarn wiederum schien sich nicht darum zu scheren, dass Fourmi ihn fuchsteufelswütend anstarrte und darum kämpfte bei Bewusstsein zu bleiben. Er ließ sie sitzen wo sie saß, sah sich um und zerrte die zwei Wächter dann kurzentschlossen unter den Wagen, unter dem Fourmi und er eben noch gelegen hatten. „Es läuft nicht gerade nach Plan, was?“, sagte er leise, aber unverkennbar amüsiert, und dann hievte er Fourmi auf die Beine und führte sie mit sich.

Im ersten Moment wollte Fourmi ihn heftig von sich stoßen. Alles in ihr sträubte sich dagegen von ihm berührt zu werden, sie verabscheute es mit jeder Faser ihrer Existenz. Der Gedanke, dass der Körper auf den sie sich gerade stützte unter Eravier gelegen hatte ekelte sie unendlich an. Aber sie wusste nur zu gut, dass sie sich ohne Hilfe nicht auf den Beinen halten konnte, also hatte sie keine Wahl als sich von ihm stützen zu lassen. Und ganz allgemein brauchte sie Tarn für ihren Plan, egal wie schwierig er inzwischen geworden war. „Wohin?“, fragte er knapp, und sie knurrte nur: „Zu Karvash“ und überließ es ihm, die Richtung zu finden. Nur weg von hier. Irgendjemand musste den Krach gehört haben, und wenn sie Pech hatten würden die Wächter die Formation aufbrechen und sich jetzt alle auf diesen Ort konzentrieren. Sie strauchelte vorwärts, und Tarn hielt sie tatsächlich fest genug, dass sie nicht stürzte, aber sie auch nicht im Schneckentempo voran krochen. 
 
Vielleicht solltest du ihm dafür dankbar sein. Ihn noch nicht loswerden. Er kann nützlich sein. Ein bisschen, wisperte ihr Gewissen, aber sie brachte es mit ihrem Groll zum Schweigen. Sie würde nicht anfangen jetzt Sympathien für ihn zu entwickeln, nur weil er zumindest einmal etwas richtig gemacht hatte. Sie hasste ihn, sie wollte ihn loswerden, und ganz davon abgesehen: Eravier verfügte über Tarn und ließ ihn in seinem Auftrag handeln, und selbst wenn Tarn ihn heimlich hinterging,  konnte sie ihm nicht verzeihen. Nicht nach allem, was dieses Monstrum ihrer Familie angetan hatte. Nein, sie traute weder Tarn noch Anya, und würde niemals zulassen, dass sie zu nahe an ihn heran kamen, dass Eraviers Einfluss durch sie auf Fourmi übergriff. Verräter. Sie waren Verräter seit dem Moment, an dem sie weniger getan hatten als ihn mit ihrer ganzen Seele zu bekämpfen, das war die simple Wahrheit.

Während sie ihren hasserfüllten Gedanken nach hing, schien Tarn die Stille plötzlich als Aufforderung zu deuten ein Gespräch zu beginnen. Er warf einen Blick auf ihren nutzlos herab hängenden, gebrochenen Arm und flüsterte: „Wenn wir das ausgestanden haben, kann ich deinen Arm richten.“ Wenn Fourmi seinen Tonfall richtig deutete, war das seine Variante eines Friedensangebots. „Aber du solltest aufhören ihn ständig zu belasten. Du wirst ihn noch unbrauchbar machen.“

Es war eigentlich nur ein milder Vorwurf, aber er gab Fourmis ohnehin brüchiger Geduld den Rest. „Du hast ihn unbrauchbar gemacht, du gottverdammtes Arschloch!“, tobte sie flüsternd, im vollen Bewusstsein, dass sie sich wie eine Närrin aufführte, aber ihre Wut hätte in diesem Moment Steine schmelzen können. „Warte nur, bis ich dich-“ „Ausliefere?“, fragte Tarn trocken und bewies damit mehr Weitsicht, als Fourmi ihm zugetraut hätte. Sie schaffte es gerade rechtzeitig ein rechtschaffenes Gesicht aufzusetzen, bevor sie sich verriet, und knurrte gedämpft: „-wieder mit beiden Armen verprügeln kann. Und ich liefere dich nicht aus. Ich habe auch so schon genug Probleme, auch ohne dass Eravier alle Details zur Rebellion aus dir heraus prügelt.“ Sie wusste, dass Tarn ihr das möglicherweise nicht abkaufte, aber er schnaubte trotzdem amüsiert und zog sie im nächsten Moment in den Schatten eines Wagens, während ein weiteres Paar Wächter sich ihnen im Laufschritt näherte und glücklicherweise nicht inne hielt, um die Umgebung zu beobachten. Jemand hatte den Krach also gehört.

Sie stolperten weiter, kaum dass die Wächter verschwunden waren, aber Tarn redete auch weiter auf Fourmi ein, in einem eindringlichen Ton. Er versuchte freundlich zu klingen, aber sie wusste, dass nichts daran echt und alles Kalkül war. „Können wir den Streit nicht beilegen? Offensichtlich sind uns beiden Fehler passiert. Aber so lange die Reise dauert können wir genauso gut zusammen arbeiten, und Valion braucht immer noch unsere Hilfe.“ 

Ah, darum ging es also, er wollte sich in die Rebellion zurück schleimen, und dabei ging er natürlich über das schwächste Glied. Fourmi lachte erstickt auf, und entwand sich Tarns stützenden Griff. Schluss mit der Hilfe, Schluss mit den Vertraulichkeiten. „Lass uns eins klar stellen, wir sind keine Verbündeten mehr“, sagte sie kalt. Sie schwankte, aber ihr Stolz hielt sie aufrecht, während sie allein weiter ging, Tarn mit einem besorgten Gesichtsausdruck im Schlepptau. Sie dankte dem Himmel, dass sie jetzt nur noch Meter von Karvashs Zelt entfernt waren. Es wurde Zeit, dass sie den Kerl los wurde.

„Du hast deinen Hals gerettet, und ich bin dir für heute einen Gefallen schuldig, aber das ist auch schon alles. Halte dich raus. Und was Valion betrifft, halte dich von ihm fern. Das Letzte was er benötigt ist deine »Hilfe«, die Rebellion wird sich jetzt um ihn kümmern.“ „Und wie? Ich weiß, wie wir hier aufgestellt sind. Du hast niemand an der Hand, der dir helfen kann“, konterte Tarn kühl, „Und woher willst du wissen, dass Valion meine Hilfe nicht braucht? Du hast dich schließlich nicht um ihn geschert, bis er zum Problem wurde.”

Damit hatte er einen Nerv getroffen. Fourmi hielt inne, drehte sich zu ihm um, und für einen Sekundenbruchteil zeigte sich mehr als nur Wut in ihrem Gesicht, sondern echter, unverfälschter Hass. „Nicht um ihn geschert?”, zischte sie, und legte ihre ganze Kränkung in diese vier Worte. „Wer hat von Anfang an fast jede Nacht bei ihm gewacht, selbst wenn er es nicht wusste? Hat jeden seiner Schritte verfolgt? Hat zugesehen, wie du versucht hast ihn auf deine Seite zu ziehen, und nichts getan, um ihn nicht noch weiter zu verunsichern? Ich war vielleicht unsichtbar für ihn, aber ich war immer in seiner Nähe! Ich habe gesehen, wer ihn beobachtet hat und um ihn herum geschlichen ist, während du dich in deinem Selbstmitleid gesuhlt hast!”

Tarn zuckte sichtbar zusammen, und jetzt sah er besorgt aus. „Eravier?”, fragte er, und allein die Tatsache dass er nachfragte, bestätigte Fourmi nur in ihrem Urteil. „Ich sagte doch, dass du für uns nutzlos geworden bist”, zischte sie wütend. „Du sollst ihn überwachen, und übersiehst trotzdem, was sich direkt vor deiner Nase abspielt? Weißt du überhaupt ansatzweise, was Eravier mit ihm vorhat? Bestimmt nicht. Ich glaube du tappst genauso im Dunkeln wie ich.”

Sie sprach nicht weiter, denn in diesem Moment kreuzten erneut Wachen ihre Weg, diesmal ein Gespann aus fünf Männern, die eilig an ihnen vorüber hasteten. Fourmi wich ihnen aus, indem sie sich hinter einem Stapel Kisten duckte, Tarn immer noch hinter sich, aber obwohl sie nicht entdeckt worden waren, wusste sie trotzdem, dass ihre Zeit ablief. „Sie sammeln sich“, murmelte Tarn, und damit hatte er Recht. Die fünf waren in ihren Rücken geschickt worden, weil die Front auf der anderen Seite dicht war. Der Kreis war fast geschlossen, Fourmi wusste es. Aber sie sah Karvashs Zelt zwanzig Meter entfernt. „Wenn ich dir ein Zeichen gebe, laufen wir“, sagte sie. Und dann werde ich dich endlich los.

„Ich finde heraus, was Eravier wirklich vor hat“, sagte Tarn unvermittelt, und irritiert hielt Fourmi inne. „Das eben war keine Aufforderung, es besser zu machen“, zischte er gereizt, „Ich habe dir keinen Befehl erteilt!“ „Ich würde auch keinen annehmen“, antwortete Tarn, „aber wenn ich dir die Details liefere-“ „Schon gut, in diesem Fall verhandeln wir neu. Jetzt halt die Klappe und komm.“ Innerhalb von Stunden bist du sowieso in Ketten oder tot, dachte er gallig. Aber bitte, mach dir Illusionen. Das ist nicht meine Sache.

Dann gab er ihm das Zeichen, und gemeinsam hasteten sie die letzten Meter zu Karvash Zelt und schoben sich zwischen den schweren, muffig riechenden Planen hindurch ins dunkle Innere. Alles war ruhig, alles am Platz, so wie Fourmi den Ort vor einer Weile verlassen hatte. Also hatte es hier keine Durchsuchungen gegeben. Noch nicht. Alle schliefen, sowohl Karvash als auch seine Frauen. Gut. 

Zielstrebig durchquerte er das Zelt, während Tarn ihm immer noch folgte, und steuerte auf Karvashs Lager zu, das durch eine weitere Plane vom Rest des Zeltes abgegrenzt war. Der Idiot schlief vermutlich tief und fest; nichts weckte ihn so schnell auf, das hatte Fourmi schon festgestellt. Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen. 

Doch Tarn hielt ihn auf. Ihm war bewusst, dass er hier nichts zu suchen hatte und dass Karvash ihm mit Freuden etwas angehängt hätte. „Was tun wir hier? Was hast du vor?“, murmelte er, und Fourmi verbiss sich ein Grinsen und bemühte sich ruhig zu antworten. „Zuerst prüfen wir, ob der alte Schleimer auch wirklich schläft. Ich will keine Überraschungen. Und dann-“ „Und was, wenn jemand bei ihm ist?“, unterbrach Tarn ihn, und Fourmi schüttelte überzeugt den Kopf. „Nein, seine Frauen haben ihn heute Nacht in Ruhe gelassen, und Anya ist nicht…“ „Bei ihm? Ich schätze, du hast mich knapp verpasst.“

Anya. Sie war völlig lautlos aus Karvashs Quartier aufgetaucht. Wie lange hatte sie gelauscht, bevor sie sich gezeigt hatte? Fourmi hatte keine Ahnung. Doch obwohl sie ausgelaugt und irgendwie niedergeschlagen wirkte, spielte ein schmales Lächeln um ihre Lippen, und Fourmi war sofort klar, dass sie wusste, wen sie vor sich hatte. 
„Hallo Fourmi.“

~

Nachdem Jadzia sie allein gelassen hatte, brauchte Anya einige Minuten um sich zu sortieren, aber schließlich raffte sie ihren Verstand zusammen. Ihr Kopf schwirrte vor Fragen, aber die hatten alle keine Bedeutung, wenn sie nicht endlich das tat, wofür sie hergekommen war. 

Eine Stimme im hinteren Teil ihres Verstandes erklärte ihr außerdem flüsternd, dass sie in dem Moment, in dem sie mit Gael abgeschlossen hatte, zu Jadzia zurück kehren konnte. Diese Stimme war nur leise, aber sie hatte überzeugende Argumente. Und dann würde Anya einige wichtige Fragen haben. Im Großen und Ganzen beschränkten sie sich immer noch auf „Was?“, aber eine Prise „Warum?“ und „Seit wann in Gottes Namen?“ würde wohl auch dabei sein. Aber eins nach dem anderen.

Anya nahm sich die Zeit, noch einmal zu Sophie zurück zu kehren und sich für Jadzias Benehmen zu entschuldigen, aber die tat die Ereignisse mit einem amüsierten Schnauben ab. „Lade sie einfach nicht mehr hierher ein. Und jetzt geh und gib Gael einen Kuss von mir.“

Das versprach Anya wohlweißlich nicht, weil sie viel größere Lust hatte, ihn in den Boden zu stampfen. Immerhin wusste sie jetzt, dass er schon lange nicht mehr vor hatte sie zu kaufen, und das hatte er ihr ganz bestimmt nicht nur aus Höflichkeit verschwiegen. Aber trotz allem stürmte sie natürlich nicht einfach zu ihm herein, sondern schob den Vorhang zu seinem Teil des Zelts behutsam beiseite und trat leise ein. 

Keine Lampe brannte, und kaum dass sie eingetreten war versank alles in Dunkelheit, aber Anya fand sich trotzdem auf Anhieb zurecht. Sie war oft in Gaels Quartier gewesen und hatte auch schon das eine oder andere Mal hier übernachtet. 

Das größte Teil des Raumes wurde von Gaels ausladender Lagerstatt eingenommen, ein Gewühl von Kissen, Decken und Fellen, das drei Personen bequem Platz bot. Es hätte durchaus mit Eraviers Lager konkurriert, wenn es nicht so ein Durcheinander gewesen wäre. Und das betraf nicht nur Gaels Bett, das Chaos breitete sich von dort aus und erreichte in Ausläufern sogar die Zeltplanen. Alles lag durcheinander, auf jeder freien Fläche türmten sich Gegenstände, benutztes Geschirr, Schreibutensilien, Bücher, Karten, Gebrauchsgegenstände, gerade nicht verwendete Decken, selbst ein paar Kleidungsstücke. Keiner der Diener hätte diese Unordnung bestehen lassen, wenn Gael nicht darauf bestanden hätte, dass nichts angerührt wurde. Er hatte zwar nichts dagegen, dass jemand hinter ihm her räumte, aber er behauptete steif und fest, dass er nichts wiederfand, wenn er nicht »seine eigene Ordnung« aufrecht erhielt. Er lebte so, bis es Zeit wurde alles zu packen und weiter zu ziehen, dann löste sich dieses ausufernde Chaos auf und wurde eingepackt, nur um an anderem Ort von Neuem aufgebaut zu werden.

Aber gerade deshalb war Anya gern in Gaels Nähe. Er war alles andere als perfekt, aber im Gegenzug stellte er diesen Anspruch der Makellosigkeit auch an niemand sonst. Deshalb näherte sie sich seinem Lager auch ohne Vorsicht. Sie hätte sich nur gewünscht, dass sie im Dunkeln nicht auf so viele fragwürdige Dinge treten musste.
„Gael? Bist du wach?“, flüsterte sie, während sie sich ihren Weg zu ihm bahnte. Keine Antwort. Sie tastete sich weiter vor, unwillig, jetzt so einfach aufzugeben. Im Dunkel erkannte sie schemenhaft den Umriss seines Körpers, vergraben unter Decken. „Gael?“ 

Endlich, nach einer Weile, war die Antwort ein langes, trauriges Seufzen. „Ja? Was willst du?“, murmelte er, und seine Stimme klang diesmal gar nicht so bewusst gewählt oder kultiviert wie sonst, sondern eher abweisend. Kein Wunder, dass Sophie und die anderen ihn lieber in Ruhe gelassen hatten, er war unverkennbar in schlechter Laune. Allerdings nicht Eraviers Art von Verstimmung, die damit endete, dass jemand unter der Erde landete. Schmollen traf es wohl eher.

„Ich wollte nach dir sehen. Deine Frauen sagen, dass du schlecht gelaunt bist.“ 
Es folgte bockige Stille, gefolgt von ärgerlichem Gebrummel. 
„Und deshalb haben sie mich in Frieden gelassen. Warum tust du nicht das selbe, meine Liebe?“ 
„Weil ich dich ein bisschen besser kenne, als du denkst“, antwortete Anya ungerührt. „Ich weiß, dass du eigentlich mit jemand reden willst.“ 
Und außerdem nützt du mir damit mehr, dachte sie, aber das sagte sie ihm natürlich nicht. 

Es folgte noch mehr Stille, vermutlich eine subtile Aufforderung zu verschwinden, aber wenn Anya auf eins nicht reagierte, dann subtile Aufforderungen. Selbst deutliche Hinweise zu verschwinden bewirkten normalerweise das genaue Gegenteil. Also wartete sie, lauschte Gaels Atem, und schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit des Wartens, rang er sich tatsächlich dazu durch, sich ihr anzuvertrauen.

Seine Stimme klang rau, als er begann zu sprechen, langsam und als müsse er selbst erst verstehen, was er sagte.

„Was da draußen geschieht… das ist einfach furchtbar. Die Durchsuchungen, die Verfolgungsjagd… die… Morde…“, er pausierte, schien an diesem Wort fast zu ersticken, bevor er sich räusperte und fortfuhr: „So war es nie. So war er nie. 

Versteh mich nicht falsch, er hat schon immer die Geduld verloren… Einschüchterung, Drohungen, ja, alles ja… aber das… das ist Wahnsinn… Alles scheint auseinander zu fallen.“

Anya schauderte. Die Wände waren plötzlich zurück gewichen, der Raum kälter und die Dunkelheit feindseliger geworden. Ihr wurde plötzlich klar, dass Gael nicht nur besorgt war; er war verängstigt. Sie hätte gedacht, wenn jemand die Ruhe bewahrte, dann er. Verdammt, er kannte Ansin, er kannte ihn seit Jahren. Sie waren unfreiwillige Geschäftspartner, seit Gaels Onkel gestorben war und ihnen beiden einen Teil des Erbes vermacht hatte. Wenn selbst Gael Angst hatte, dann war das hier etwas anderes als Ansins sonstige Anfälle. Und wie zur Bestätigung flüsterte Gael: „Vielleicht sollte ich dem ein Ende setzen. Vielleicht muss ich das.“

Und im ersten Moment wollte Anya ihm einfach zustimmen. Ja. Ja, bitte, schaff ihn uns vom Hals. Aber dann gewann die Vernunft die Überhand. Anya seufzte und ließ sich neben Gael nieder, strich sanft über seine Schulter und seinen Arm. 
„Du kannst nichts tun. Ihn aufzuhalten liegt nicht in deiner Macht. Und was ist mit deinem Geschäftsanteil?” 
Gael schnaubte frustriert. 
„Was bringt uns mein Geschäftsanteil, wenn er uns in seinem Wahn alle zum Teufel schickt? Und wer soll es denn sonst tun? Nein, wenn, dann muss ich diese schwere Bürde auf mich nehmen. Das ist doch gewissermaßen meine heilige Verantwortung, oder?” 
Das klang heroisch, hochtrabend, aber gleichzeitig bitter, selbstkritisch und ängstlich. Er war sich nicht sicher.

Vermutlich ist es deine Verantwortung, dachte Anya, aber das bringst du nicht fertig. Du würdest dich niemals offen gegen ihn auflehnen. Dazu bist du zu feige, und du würdest zu viel riskieren. Und ich bin auch nicht besser. Hat überhaupt jemand den Mut dazu?
Sie grübelte darüber nach, aber ihr fiel niemand ein, der sich Eravier ohne Weiteres entgegen gestellt hätte. Vielleicht gab es so jemand überhaupt nicht. Vielleicht zitterte sogar Fourmi bei der Vorstellung.

Es wäre so einfach gewesen, einen schnellen, sauberen Strich unter alles zu ziehen. Wie viele Männer und Frauen hatte schon daran gedacht, Eravier das Licht auszublasen? Und wie viele hatten davor zurück geschreckt, weil nicht klar war, was dann geschehen würde? Was, wenn es misslang? Und was, wenn nicht? 

Tatsache war, dass Eravier wehrhaft genug war, einen Mordversuch von eigener Hand zu vereiteln. Er sah harmlos aus, aber das Lager war immerhin erst vor kurzem Zeuge geworden, welche Kräfte er wirklich mobilisieren konnte. Außerdem war er zu paranoid, um nicht vor zu sorgen. Er war verrückt und klug genug, sein Vermögen selbst nach seinem Tod dafür einzusetzen, das Leben desjenigen, der ihn hingerichtet hatte für immer zu zerstören. Und das Leben derer die von ihm abhingen ebenfalls. Und für Gael wurde die Sache noch komplizierter, wegen der Bedingungen, die er an sein Erbe geknüpft hatte. 

Und deshalb schüttelte Anya den Kopf und sagte: „Nein, das ist keine gute Idee. Warte ab. Beobachte. Es ist noch zu früh für drastische Maßnahmen.“ Und ich brauche dich noch. Ich brauche dich für Jadzia. Und vielleicht sogar als Fluchtmöglichkeit, wenn die Rebellion untergeht.
„Was bin ich denn für ein Mann, wenn ich es nicht einmal versuche?“, fragte Gael verzweifelt, fast protestierend. „Ein kluger Mann, der weiß, wann der richtige Moment gekommen ist einzugreifen“, sagte Anya sanft, und wusste, dass sie ihm damit den Wind aus den Segeln nehmen würde. „Irgendwann kommt deine Gelegenheit, und dann wird Eravier nichts mehr zu lachen haben.“ 

Diese Worte schienen Gael tatsächlich zu gefallen, denn er drehte sich endlich zu ihr um und sah sie mit einem kläglichen Lächeln an. „So, für klug hältst du mich, schöne Herrin?“, fragte er und bedeutete ihr, dass sie zu ihm kommen sollte. Anya zögerte nicht und rückte näher an ihn heran, kroch unter die zahlreichen Decken und ließ sich von ihm in den Arm nehmen. 

„Nun, du bist klug genug, eine arme Frau nicht zu lange in der Kälte zu lassen“, neckte sie und küsste ihn. „Dazu muss man nicht klug sein, nur kein völliger Narr“, antwortete er, umfing ihren großen, weichen Körper mit seinen Armen, schmiegte sich an sie und strich über ihr Haar. Er war warm, und obwohl sich Anya zuerst gar nicht kalt gefühlt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie genau das jetzt brauchte. Vergiss nicht, weswegen du hier bist, flüsterte eine mahnende Stimme in ihrem Hinterkopf, und sie stimmte ihr durchaus zu. Aber Gael würde vermutlich eher auf ihre Worte hören, wenn er sich beruhigt hatte und entspannter war.

Zumindest schienen seine Sorgen nicht so groß zu sein, dass er deswegen keine Lust mehr empfand. So nah bei ihm spürte sie sein Glied, das gegen ihre weichen Bauch drückte und ihr entgegen zuckte. Aber er ließ sich wie immer Zeit und drängte sie nicht. Er küsste den Ansatz ihrer Brüste, hinauf zu ihrem Hals, und sie musste kichern, weil die sanfte Berührung sie kitzelte. Sorgsam streifte er die Kleidung von ihren Schultern, streichelte die darunter liegende Haut. „Deine Haut ist so zart wie ein Blütenblatt“, flüsterte er, und sie hörte das Verlangen, das in seiner Stimme lag. Er begehrte sie, daran gab es keinen Zweifel, und sie genoss es.

Sie genoss es, dass er so liebevoll mit ihr umging, dass er sich so viel Zeit für sie nahm. Sie kam nicht umhin ihn mit Eravier zu vergleichen. Gael wusste manchmal nicht so recht, was er mit sich selbst anfangen sollte, aber er ging immer behutsam und mit Bedacht vor. Es war verblüffend, wie sehr sich dieses Liebesspiel von dem seelenlosen Akt mit Eravier unterschied, wenn doch beide Männer sie eigentlich nicht liebten. 

Da, sie hatte es sich eingestanden. Sie wusste, dass Gael sie nicht liebte, dass er sie niemals so lieben würde wie Sophie, Josce oder Adaliz. Er flüsterte ihr vielleicht die selben Schwüre zu, begehrte sie vielleicht genauso, aber er liebte sie nicht.

Stimmte es sie traurig? Sie wusste es nicht einmal, auch wenn sich ihr Hals für einen Moment zuschnürte. 
Sie war es nicht gewohnt geliebt zu werden. Nicht mehr. Sie wurde von manchen respektiert, ja, und von manchen verachtet. Von den meisten benutzt. Geliebt? Nein. Das war lange, viel zu lange her. 

Lass mich diesmal nicht zu lange warten, sagte Jadzia ernst in ihren Gedanken, und das war einfach nicht gerecht.

Du weißt ja nicht wie lange ich gewartet habe, dachte Anya wütend, und ihre Augen brannten. Anscheinend zu lange. Anscheinend verstehe ich gar nichts mehr davon. Vermutlich habe ich vergessen, worauf es ankommt. Sonst hätte ich doch etwas bemerkt. Sonst hätte ich doch wissen müssen, dass du etwas empfindest.

Gael war ein Trottel, aber bestimmte Dinge entgingen ihm trotzdem nicht. Eravier wäre es egal gewesen, aber Gael sah bestürzt aus, wenn Anya seine Miene im Dunkeln richtig deutete. „Anya… weinst du?“, fragte er überrascht und besorgt. „Nein“, sagte sie, und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und von den Wangen. „Nein, ich… nein. Komm einfach zu mir”, sagte sie mit wässriger Stimme, und zog ihn zu sich, und obwohl er zuerst zögerte, kam er ihrer Bitte nach. Er schob sich zwischen ihre Schenkel, behutsam und ohne Hast, und drang in sie ein. „Ist es so gut?”, flüsterte er ihr zu, und sie nickte und schlang ihre Arme um ihn, schloss die Augen und ließ sich von seinem Rhythmus tragen. Es war schön, das war es wirklich. Und so bedeutungslos wie alles, was sie heute getan hatte. Austauschbar. Sie öffnete in der Dunkelheit die Augen, und sah in die Schwärze.

Lass mich diesmal nicht zu lange warten.


Die Zeit blieb nicht stehen; die Welt veränderte sich nicht. Wie lange hatte sie ihre Unschuld bewahrt und doch auf diesen einen Moment hin gefiebert, an dem sie endlich das große Geheimnis verstehen würde, das der Vereinigung inne wohnte? 
Aber es gab kein Geheimnis. Es gab keinen Zauber, und keine Wunder. Die Welt veränderte sich nicht. Zwei Körper warfen die Sonne nicht aus ihrer Bahn und verstreuten die Sterne nicht quer über den Himmel. Das war traurig, aber es war die Wahrheit. Eine Wahrheit, der sie sich jedes Mal aufs Neue stellte.

Zumindest konnte sie ihren Gedanken in Ruhe nachhängen. Gael hatte sie noch nie aufgescheucht oder einfach weggeschickt, nachdem er mit ihr geschlafen hatte. Stattdessen schmiegte er sich an sie, und sie lag bequem mit dem Kopf auf seiner Brust und träumte eine Weile vor sich hin. „Ich bin froh, dass du heute Abend zu mir gekommen bist“, murmelte er irgendwann und küsste ihren Scheitel, „Am Ende hätte ich mich noch zu einer Dummheit hinreißen lassen, wenn du nicht da gewesen wärst.“
Anya seufzte innerlich. Das wäre der ideale Moment gewesen, um ihm alles an den Kopf zu werfen was sie wusste. Dass er sie nicht kaufen wollte, dass sein Interesse nur geheuchelt war. Aber das hätte ihr alle Aussichten ruiniert, und deshalb sah sie zu ihm auf und lächelte charmant. „Eigentlich war ich ja nicht ganz uneigennützig hier“, gab sie zu. Gael lächelte zurück und hob gleichzeitig eine Augenbraue, zum Zeichen, dass er der Dinge harrte, die da kommen mochten.

„Ich habe eine Bitte“, begann sie zögerlich.
„Nur immer heraus damit! Ich tue doch was ich kann, um dich glücklich zu machen!“, versprach Gael vorschnell, aber sie sah die Unsicherheit in seinen Augen, die ihre eigene widerspiegelte, und sie versuchte, sich zusammen zu reißen. „Nach Kelians Tod sind einige Dinge… in Unordnung geraten“, versuchte sie zu erklären. „Dinge, die ich sorgfältig arrangiert hatte.“ Gael runzelte die Stirn, und sie sah die Frage schon, bevor er sie überhaupt gestellt hatte. 
„Ich dachte du hättest nicht mit ihm-“ 
„Habe ich auch nicht“, sagte Anya geduldig. 
Es war ihr in den Sinn gekommen, aber nie notwendig geworden, mit Faure zu schlafen. Und er hätte es vermutlich einfach nur getan, um über sie an Eravier heran zu kommen, ihr wichtige Informationen abzunehmen, so wie sie im Gegenzug ihn ausgehorcht hätte. Wie sagte man so schön: Zwei Dumme, ein Gedanke.

„Ich habe ihm etwas anvertraut, das ich niemand sonst in die Hände geben wollte. Vor allem dir nicht, weil ich damals dachte es wäre zu gefährlich. Es geht um Jadzias Vertrag.“
Gael horchte auf, was gut war, aber er sah auch vorsichtig und nicht gerade begeistert aus. Er streichelte über ihr Haar, langsam und nachdenklich.
„Ich habe mich schon immer gefragt, wie Faure es geschafft hat, ihm damals zuvor zu kommen. Vor mir hat er sich jedenfalls nicht wenig darüber ins Fäustchen gelacht, dass sie seinen Vertrag zuerst unterschrieben hat. Du hast das also eingefädelt“, stellte er fest, und Anya nickte. 
„Ich hatte schon gewisse… Erfahrungen damit gemacht, wie charmant Eravier sein kann. Also habe ich mich an den gewandt, der ihn am meisten zu hassen schien und die beiden zusammen gebracht, bevor sie etwas tat, das sie später bereuen würde.“ „Und jetzt ist dein Plan nicht aufgegangen und du möchtest, dass ich das für dich regle, nicht wahr?“, fragte Gael, und er klang nicht glücklich darüber. Er war immer noch freundlich und aufmerksam, aber sie spürte auch seinen Unwillen, und versuchte ihn zu zerstreuen: „Ich weiß, das ist nicht die beste Lage um dich um so etwas zu bitten und-“

„Nein, wirklich nicht“, unterbrach Gael sie, und richtete sich auf, wobei er sie sanft beiseite schob. Anya knirschte mit den Zähnen, aber sagte nichts. Abstand war nicht gut. Er wollte diese Unterhaltung nicht führen, und weil er keine Konfrontationen mochte, lenkte er ab. Er griff nach einer Karaffe, die neben dem Lager auf einem niedrigen Schemel stand, und schenkte sich einen Becher ein. Zumindest war er Kavalier genug, sie nicht auf dem Trockenen sitzen zu lassen. „Möchtest du auch etwas trinken?“, fragte er, und sie nickte und griff nach dem Becher, den er ihr hin hielt. Sie war eigentlich nicht durstig, aber ihre Zunge fühlte sich schon eine Weile seltsam trocken an, und sie wurde von leichten Kopfschmerzen geplagt. Vermutlich die Anspannung, dachte sie und nahm einen Schluck. Doch der bittere Nachgeschmack, den sie schon früher am Rande bemerkt hatte, stach jetzt noch mehr als zuvor hervor, und unwillig kippte sie den Inhalt auf den Boden, wo er rasch versickerte.

„Liegt das an mir, oder ist etwas mit unseren Vorräten nicht in Ordnung?“, fragte sie, und Gael zuckte mit den Schultern. „Ich schmecke nichts Ungewöhnliches. Aber wenn du möchtest, schicke ich morgen jemand, der das überprüft. Sicher lässt sich-“, begann er zu schwafeln, und Anya erkannte seine Worte als das, was sie waren: Ein verzweifelter Themenwechsel, damit sie ihre Frage von zuvor vergaß. „Lenk nicht ab, Gael“, befahl sie, unwirscher als sie eigentlich wollte, und sie musste sich zwingen sanfter weiter zu sprechen. „Was ist mit Jadzias Vertrag? Du bist der Einzige, der ihr noch helfen kann. Wie entscheidest du dich?“, fragte sie noch einmal. 
Die Antwort war ein langes, langes Schweigen, und Anya glaubte fast, dass sie ihn tatsächlich zu einer Antwort würde zwingen müssen. Aber schließlich rang er sich doch dazu durch, zu antworten. „Tut mir Leid, mein Herz, aber ich kann Jadzia beim besten Willen nicht aufnehmen. Diesen Verlust kann ich mir einfach nicht leisten. Ich weiß, was Faure für sie bezahlt hat, und ich kann nicht verlangen, dass seine Witwe weniger für ihren Vertrag bekommt. Und ich wüsste nicht, wie ich diesen Preis zurück erhalten sollte.“ 

Er bemerkte ihren angespannten Blick und deutete ihn sofort als Wut, deshalb beeilte er sich, beruhigend über ihr Haar zu streichen und redete auf sie ein: „Schlag mich jetzt nicht, aber ich halte sie für denkbar ungeeignet. Ich wüsste nicht, an wen ich sie verkaufen sollte!” „Ich bitte dich, ihr Aussehen ist tadellos, sie ist-”, wandte Anya ein, doch Gael ließ sie gar nicht ausreden. „Das ist es nicht, mein Häschen”, erklärte er milde. „Sie ist sehr unnahbar. Vielleicht nicht zu dir, ich habe gesehen, wie gut ihr befreundet sein. Sie kümmert sich sehr um dich.“ 

Mehr als du denkst, dachte Anya, und völlig unvermittelt dachte sie an den Kuss zurück. Wie gut, dass es so dunkel war, sonst hätte Gael sie vermutlich als nächstes gefragt, warum ihr Gesicht glühte. Stattdessen fuhr er fort: „Aber sonst scheint ihr Herz nichts zu bewegen, und das ist keine gute Eigenschaft für eine Sklavin. Sich zu öffnen, Beziehungen zu knüpfen, einnehmend und freundlich zu sein, das ist wichtig. Ich glaube dir, dass Jadzia eine gute Frau ist. Aber sie wird keine gute Sklavin sein.”
Er irrte sich, das wusste Anya. Jadzia war mitfühlend, liebevoll und wunderschön. Hätte Gael sie gekannt, wie Anya sie kannte, dann hätte er gewusst, dass ihr unnahbares Äußeres nur Fassade war. Es dauerte nur seine Zeit, sie kennen zu lernen und zu verstehen. Aber das würde er wohl nie erfahren; er war sonst nachgiebiger, wenn sie einen Wunsch an ihn hatte, aber diesmal spürte sie, dass er nicht auf sie hören würde. Sie hatte das vage Gefühl, dass er sich um mehr sorgte als nur ihren Verkauf. Als wüsste er etwas über Jadzia, das ihr nicht bewusst war.

Trotzdem wollte sie protestieren, Argumente finden, nicht einsehen, dass sie eine Niederlage erlitten hatte. Aber sie war plötzlich unendlich müde. Vielleicht lag es an der Enttäuschung, dem Wissen, dass sie nichts mehr ausrichten konnte, aber sie fühlte sich bleischwer und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Blick verschwamm, war mit einem Mal unfokusiert.

Auch Gael schien müde zu sein. Er zog sie in seine Arme und murmelte: „Bleibst du heute Nacht trotzdem hier?“ Anya nickte, und es bereitete ihr viel Mühe. Eigentlich wollte sie nicht bleiben, aber die Aufgabe, aus dem Bett aufzustehen, sich anzuziehen und zurück zu gehen, kam ihr plötzlich unlösbar vor. Schlaf. Sie brauchte einfach nur Schlaf. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst.


Als Anya erwachte wusste sie einen Moment lang nicht, wo sie war. Der Gedanke war nicht mit Panik verbunden; sie schlief einfach in zu vielen Betten, um sich immer auf Anhieb zu erinnern, welches gerade aktuell war. Mit geschlossenen Augen lauschte sie in die Dunkelheit. Seltsam, sie hatte sich so müde gefühlt, aber jetzt war sie wieder hell wach, von dumpfen Kopfschmerzen und einen pelzigen Nachgeschmack im Mund abgesehen. Irgendetwas an diesem Wissen beunruhigte sie, ohne dass sie zuordnen konnte, was es war. Eine vage Ahnung, dass etwas nicht stimmte. Aber sie fand den Grund ihrer Beunruhigung nicht, also schob sie das Gefühl beiseite.
Zumindest verriet die Geräuschkulisse ihr auf Anhieb, wo sie war. Seufzend drehte sie sich auf die Seite und lauschte Karvashs Schnarchen. Eine andere Tonlage als gewohnt, eher ein ersticktes Schnaufen als das tiefe Brummen, das sie sonst von Gael kannte. Ob es mit den Ereignissen des Tages zusammenhing? Schwer zu sagen, sie war schließlich kein Scharchorakel. 

Und dann fiel ihr ein, dass Jadzia immer noch auf sie wartete, und blitzartig setzte sie sich auf, auch wenn ihr für einen Moment schwindelig wurde. Verdammt, sie hatte völlig die Zeit vergessen, sich dazu hinreißen lassen, einfach einzuschlafen! Es war unklar, wie viel Zeit sie vertrödelt hatte, aber so oder so ließ sie Jadzia warten! Sie hatte sich diesmal sogar beschwert, dass sie immer so abgestellt wurde. 
Lass mich diesmal nicht zu lange warten.
Die Röte war sofort wieder da, die hilflose Verlegenheit, und Anya schüttelte energisch den Kopf. Sie musste das aus ihrem Kopf bekommen. Sie konnte nicht immer und immer wieder in dieser Erinnerung verloren gehen. Nicht wenn es so viel zu zum gab! Es musste ein neuer Plan her, selbst wenn Anya nicht klar war, wie der aussehen sollte. Nur nicht aufgeben. Nur nicht akzeptieren, dass es so enden würde.

Ohne auf Gael zu achten suchte sie ihre Kleidung zusammen, zog sich an und ordnete zum tausendsten Mal an diesem Tag ihr Haar, das sich schon wieder in einen wilden Wust verwandelt hatte. Aber da war nun mal nichts zu machen. Sorgfältig strich sie ein letztes Mal ihr Kleid glatt und wollte gerade gehen, als sie leise Stimmen hörte, die miteinander sprachen. 

Beinahe instinktiv hielt sie inne und lauschte. Undeutliche Fetzen eines Gesprächs erreichten sie, drangen durch die feuchten Stoffplanen zu ihr herüber.
„-prüfen wir, ob der … wirklich schläft … keine Überraschungen-“
Sie stutzte, weil sie die Stimme kannte, auch wenn sie ihr zuerst überhaupt kein Gesicht zuordnen konnte. Eine weitere Stimme antwortete, und die erkannte sie ebenfalls - Tarn. Was machte er hier, um diese Uhrzeit? Und wer war der andere?

Leise tappte sie auf den Durchgang zu und konzentrierte sich auf die Stimmen. 
„Nein, seine Frauen haben ihn heute Nacht in Ruhe gelassen“, sagte die erste Stimme, und endlich, anhand der Modulation und der ungeduldigen Erklärung, wurde ihr klar, wer sprach. Fourmi. Es gab keinen Zweifel daran. 

Und im selben Moment wusste sie auch, dass das ihre erste und vielleicht einzige Chance war, sein Gesicht zu sehen, wenn sie ihn jetzt überraschte. Sie machte einen Satz nach vorn und schob den Stoff beiseite, und sah sich Fleurie und Tarn gegenüber. „-und Anya ist nicht-“, sagte Fleurie mit Fourmis Stimme, und es war wohl nur Anyas Mundwerk geschuldet, dass sie ihr - oder ihm? - das Wort abschnitt. „Bei ihm? Ich schätze, du hast mich knapp verpasst.“

Fleurie erstarrte und drehte sich langsam zu ihr um, und ja, jetzt gab es endgültig keinen Zweifel mehr, dass sie Fourmi vor sich hatte. Er, oder sie, sah Anya mit erschrockenen, und gleichzeitig resignierten Augen an. Sie war blass und übermüdet, aber ihre Augen funkelten, wissend, intelligent, im Bewusstsein, dass sie enttarnt war. „Hallo Fourmi“, sagte Anya leise.

Einen endlos dauernden Moment starrte Fourmi sie an, und Anyas Triumphgefühl über die Entdeckung seiner Identität verwandelte sich innerhalb von Sekunden in Entsetzen. Er hatte seine Tarnung nicht aus Spaß so lange aufrecht erhalten, und ihr wurde auch klar, was ihm - oder ihr, das wusste sie nicht - die Rolle als einfache Dienerin ermöglichte. Er musste rasend sein, dass sie ihn derartig offenbart hatte, und fast von selbst begann sie beruhigend zu flüstern: „Dein Geheimnis ist bei mir sicher, ich-“ 

Ironischerweise schien sie ihre Situation damit nur verschlechtert zu haben. Fourmis Augen verengten sich, und dann kam so heftig Bewegung in ihn, dass sie hastig einen Schritt zurück trat. Zu spät. 

Er packte sie, was selbst Tarn zu überraschen schien, und schob sie durch den Vorhang in Karvashs Quartier hinein. Sie quiekte erschrocken auf, aber davon ließ sich Fourmi nicht beeindrucken, im Gegenteil, er warf sie herum, drehte ihr mühelos den Arm auf den Rücken und hielt ihr mit dem anderen Arm, der seltsam steif und ungelenkig wirkte, den Mund zu, zerrte sie weiter in die Dunkelheit hinein. Sie wehrte sich, aber er hielt sie eisern fest, drehte ihren Arm so weit nach hinten, dass sie schmerzerfüllt wimmerte. Tarn folgte ihm, völlig perplex, und fragte flüsternd: „Was hast du vor?“, aber Fourmi ignorierte ihn und redete hasserfüllt auf sie ein: „Mit wem arbeitest du zusammen?! Wer hat diesen Hinterhalt geplant?! Woher wusstest du, dass wir hierher kommen?! Du antwortest besser, denn wenn du schreist, bring ich dich um!“ 

Er nahm die Hand von ihrem Mund, und sie holte tief und erschrocken Luft und war tatsächlich kurz davor zu schreien. Im nächsten Moment hatte er ein Messer hervor gezogen und hielt es ihr vors Gesicht, und Anyas Verstand versank in blinder Panik. Ohne nachzudenken rammte sie ihre Ferse auf Fourmis Fuß. Er grunzte schmerzerfüllt auf und kam aus dem Gleichgewicht, aber ließ weder sie noch das Messer los. Das Messer, sie musste ihn dazu bringen das Messer fallen zu lassen, das war das einzige Ziel, das einen Platz in ihrem Verstand fand. Sie nutzte den Moment in dem Fourmi um sein Gleichgewicht kämpfte, um so heftig wie sie konnte nach seinem Arm zu schlagen.

Der Erfolg war durchschlagender, als sie jemals vermutet hätte. Fourmi keuchte schmerzerfüllt auf und ließ sie tatsächlich los; er klappte regelrecht vor ihr zusammen. Sie drehte sich um, um ihn im Auge zu behalten, stolperte zwei Schritte rückwärts, lief direkt in Tarn hinein, der versuchte nach ihr zur greifen, stieß ihn reflexartig zur Seite und lief los. Tarn folgte ihr auf dem Fuß, und er war schneller als sie, aber daran verschwendete sie in diesem Moment keinen Gedanken. Sie musste nur den Ausgang erreichen, um in Sicherheit zu sein! Wächter! Sie brauchte die Wächter!

Sie war fast am Ausgang angelangt, aber nur einen Meter von ihrem Ziel entfernt bekam Tarn sie am Handgelenk zu fassen. Sie sog zischend Luft ein, obwohl sie eigentlich schreien wollte, aber sie fand nicht den Atem dazu. Stattdessen schlug sie nach ihm, und er bekam ihr zweites Handgelenk zu fassen. Zur ihrer Überraschung rang er nicht mit ihr, er hielt sie einfach nur fest. „Still jetzt“, flüsterte er, „Hörst du das?“ 

Und obwohl sie alles wollte, nur nicht still sein, hielt sie trotzdem inne und lauschte, und hörte tatsächlich Schritte, die sich nur Meter entfernt an ihnen vorbei bewegten und kurz inne hielten. 
„Hier?“, flüsterte eine raue Männerstimme, und ein anderer antwortete: „Noch nicht. Erst die anderen.“ 
„Aber-“ 
„Das ist unser Befehl, du Pfeife. Los jetzt.“ 
Die Schritte entfernten sich, während Anya und Tarn sich anstarrten und schwiegen. Erst als überhaupt nichts mehr zu hören war, fragte Anya völlig verwirrt: „Was soll das? Was geht hier vor?“ „Nichts Gutes. Und wenn du jetzt schreist und weg rennst, bringst du uns damit alle um.“

Und obwohl ihr Herz wie verrückt in ihrer Brust hämmerte, obwohl sie um jeden Preis weglaufen wollte, zwang sie sich mit aller Gewalt zur Ruhe. Das hier war ein Missverständnis, musste eines sein. Warum sollte Fourmi sie angreifen? Das ergab keinen Sinn!

„Ich verlange eine Erklärung. Und ich schlage dich, wenn du mir etwas antun willst“, sagte sie leise. Das klang wie eine wirklich dumme und unhaltbare Drohung, aber er nickte nur, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Am Handgelenk führte er sie leise zurück in Karvashs Quartier, wo Fourmi sich gerade auf die Füße kämpfte. Anya sah selbst im Dunkeln, dass Fourmi weiß wie ein Laken war, und siedendheiß fiel ihr ein, dass er einen gebrochenen Arm hatte; sie hatte im Eifer des Gefechts gar nicht daran gedacht! Sie wusste nicht, ob sie Mitleid oder Triumph empfinden sollte, denn beides schien ihr nicht angemessen. Vor allem nicht, da Fourmi in der Sekunde, in der er sie sah, Tarn zur Seite stieß und wieder auf sie losgehen wollte. Tarn packte ihn diesmal gerade noch rechtzeitig an der Schulter und hielt ihn zurück.
 
„Lass das! Sie weiß überhaupt nicht, was hier vor sich geht!“
„Du glaubst ihr natürlich, das war mir klar!“, fauchte Fourmi, aber Anya ließ diese Anschuldigungen nicht auf sich sitzen.
„Ich arbeite mit überhaupt niemand zusammen, und ich habe nichts geplant! Warum auch? Was hätte ich denn davon? Ich dachte wir sind Verbündete?! Und ich wusste ebenso wenig, dass ihr hierher kommt, wie ihr wusstet, dass ich hier bin! Und selbst wenn, wäre ich so dumm gewesen euch eine Gelegenheit zu geben, mich allein und wehrlos zu erwischen, damit ihr mich ermorden könnt?“
„Ich glaube aber nicht an Zufälle, Herzchen“, antwortete Fourmi grimmig. „Wenn ich dich nicht hier haben wollte, dann wollte es jemand anders!“ Er wirkte angestrengt, und Anya begriff, dass er verzweifelt um seine Fassung rang. Er hatte die Situation nicht unter Kontrolle, und deshalb klammerte er sich an die Idee, dass sie der Schlüssel zu allem war. „Wenn es so ist, dann weiß ich nicht, wer! Ich habe jedenfalls nichts damit zu tun! Ich bin auch erst vor ein paar Stunden-“ 

Ihre Stimme war immer lauter geworden, aber es wurde ihr erst bewusst, als Tarn beschwichtigend die Hand hob. „Nicht so laut“, murmelte er und nickte Karvash zu, der wie ein Stein schlief und von dem Tumult in seiner Umgebung überhaupt nichts mitbekam. Noch nicht. „Tut mir Leid“, murmelte Anya, und Tarn zuckte mit den Schultern. „Wir müssen ihn nicht unnötig wecken. Mich wundert nur, dass wir das noch nicht geschafft haben. Schläft er eigentlich immer so tief?“, fragte er nach, und Anya öffnete den Mund um zuzustimmen, als ihr schlagartig etwas klar wurde. Was hatte sie schon die ganze Zeit beunruhigt? Ihre plötzliche Müdigkeit, die leichten Kopfschmerzen, die sie jetzt noch plagten und nur langsam verschwanden.

Ohne ein Wort zu sagen lief sie los, völlig in ihre Entdeckung versunken. Fourmi wollte sie abhalten, aber auch diesmal hielt Tarn ihn zurück. Anya nahm die Weinkaraffe, die immer noch scheinbar unberührt neben der Lagerstatt stand, füllte einen Becher auf und hielt ihn den beiden triumphierend unter die Nase.
Tarn schien zu begreifen was sie von ihm wollte, denn er nahm den Becher entgegen und riskierte einen vorsichtigen Schluck, nur um ihn sofort wieder auszuspucken.
„Leicht bitter. Kaum merklich, aber vermutlich Schlafmittel“, stellte er fest, „Wer auch immer heute Nacht unterwegs ist, er wollte Karvash aus allem heraushalten, und Anya vermutlich auch.“
„Und das würde ich euch bestimmt nicht erzählen, wenn ich an allem beteiligt wäre, oder?“, fragte Anya herausfordernd, und Fourmi knirschte sichtlich mit den Zähnen und wandte den Blick ab. Himmel, der Mann - oder die Frau, das wusste Anya immer noch nicht - steckte es wirklich nicht gut weg, wenn er einmal im Unrecht war.
„Aber wer war es dann?“, fragte Tarn, „Und zu welchem Zweck hat er ausgerechnet die beiden schützen wollen? Woher wusste er, dass Anya hier sein würde?“ „Denkst du nicht, dass ich schon seit Beginn dieser ganzen Sache versuche herauszufinden, wer zum Teufel es auf uns abgesehen hat?!“, antwortete Fourmi beleidigt mit einer Gegenfrage, „Ich habe noch nicht genug Hinweise darauf, um wen es sich handelt!“ „Gehen wir das ganze logisch an; wer hat überhaupt die Möglichkeit dazu? Wer-“

Anya wollte sie gerade mahnen, leiser zu streiten, als jemand anders das für sie erledigte. Das ewige Schnarchen, das in einem stetigen Rhythmus von Karvashs Lager zu ihnen gedrungen war, wurde unregelmäßig und hörte plötzlich auf, und Karvash drehte sich um und öffnete seine Augen einen Spalt weit. 

Er erkannte sie. Sowohl Anya, als auch Fourmi und Tarn erstarrten, als wären sie in Statuen verwandelt worden. Niemand wagte einen Muskel zu bewegen in Erwartung seiner Reaktion.
„Oh nein”, stöhnte er mit einem Blick auf Tarn und schüttelte den Kopf, aber er klang völlig verschlafen und konfus, „nein, nein...”

Anya reagierte als erste, und das war vielleicht auch gut, weil sie ahnte, dass Fourmis Patentlösung für dieses Problem wieder Messer und Mord beinhaltet hätte. Sie trat völlig gelassen zu Karvash heran und strich beruhigend über sein Haar. „Shhh, was ist denn?”, flüsterte sie, und Karvash schloss die Augen, als wollte er auf keinen Fall sehen, was vor ihm war, als könnte und wollte er es nicht glauben.

„Anya?”, murmelte er schlaftrunken, und sie antwortete ihm, so überzeugt und beruhigend wie nur denkbar: „Du träumst, Gael. Schlaf weiter.” Ihre Worte schienen zu wirken, denn so undramatisch, wie er erwacht war, fiel er zurück in den Schlaf, öffnete nicht einmal mehr die Augen. Das letzte Zusammenhängende, das sie von ihm hörten, war ein genuscheltes: „Ich hasse den Kerl...er hat meine Socken...”, dann war er weg. Das Schnarchen setzte wieder ein, genau so gleichmäßig und langsam wie zuvor.

Im ersten Moment wagte niemand etwas zu sagen, sie starrten sich nur gegenseitig an, ungläubig, dass sie dieser Situation so einfach entkommen waren. Dann ergriff Anya das Wort. „Schluss mit den Ratespielen! Wir müssen von hier verschwinden, bevor er wieder aufwacht!“, flüsterte sie drängend, und Fourmi schüttelte den Kopf. „Da draußen wartet die gesamte Wachmannschaft darauf, dass wir uns zeigen!“ „Warum seid ihr dann ausgerechnet hierher gekommen?! Wenn ihr schon was auch immer anrichten musstet, warum habt ihr ausgerechnet mich da mit reinziehen müssen?“, fauchte Anya, und Tarn erklärte: „Es war Fourmis Plan. Und sie hat Recht, jetzt oder nie. Das war unser Warnschuss, einen zweiten bekommen wir vielleicht nicht.“ Er sah jetzt zu ebenso wie Anya erwartungsvoll Fourmi an, und der seufzte resigniert. „Lasst mich das hier einfach schnell erledigen“, sagte er, und zog das Messer. 

Bevor sie fragen konnten was er vor hatte ging er zielstrebig auf Karvashs Lager zu. Er kam nur drei Schritte, dann hatte Tarn seine Überraschung überwunden und zerrte ihn zurück.

„Was zum Teufel soll das werden?“, fragte er, und Fourmi schnaubte abfällig. „Was wohl, ich steche ihn ab!“ „Bist du völlig übergeschnappt? Wie soll uns das denn weiterhelfen?!“, fragte Anya, und Fourmi verlor sichtlich die Geduld. „Begreifst du denn nicht, du dumme Gans? Das Einzige, was uns jetzt noch hilft, ist ein grandioses Ablenkungsmanöver. Ich hatte noch andere Ideen, aber die scheitern alle daran, dass du hier bist. Jetzt wird es eben Plan B. Wenn Karvash von einem Rebellen verletzt wird und seine Magd rennt und den einzigen Arzt holt, haben beide eine Berechtigung hier zu sein! Du setzt dich dazu und heulst überzeugend. Vielleicht sollte ich dir auch eine verpassen, damit es echt aussieht. So oder so, es muss danach aussehen als hätte jemand versucht ihn zu ermorden.“ „Das ist hirnrissig!“, zischte Anya, „und wenn du mich anfasst, schreie ich! Von wegen, du verpasst mir eine!“ „Hast du eine bessere Idee? Nein? Dann halt die Klappe und spiel mit!“ „Ganz zufällig habe ich eine, du Idiot!“, sagte Anya, und brachte Fourmi damit aus dem Konzept. „Du brauchst ein grandioses Ablenkungsmanöver? Hast du jemals daran gedacht, einfach Feuer zu legen?“

Ihre beiden unfreiwilligen Verbündeten starten sie perplex an, und sie wusste nicht, ob sie selbst nicht an diese Möglichkeit gedacht hatten, oder ihr einfach nicht zugetraut hatten, von selbst auf die Idee zu kommen etwas abzufackeln. Aber da kannten sie sie leider schlecht. Angriffslustig fuhr sie fort: „Glotzt nicht wie ein Huhn, wenn es donnert! Habt ihr einen besseren Plan?“ 

Es war Fourmi, der Einwände erhob, ironischerweise nicht gegen die Sache an sich, sondern die Durchführung: „Denkst du, so eine simple Idee hätte ich nicht selbst gehabt?“, fragte er gereizt, „Das wird nicht funktionieren, und wenn, dann dauert es zu lange! Glaubst du ernsthaft, in diesem feuchten Haufen Moder“, er deutete mit einer ausschweifenden Handgeste auf die Gesamtheit des Zeltes, „bringst du überhaupt irgendetwas zum Brennen? Und was willst du bitte anzünden? Eine Decke? Eine Hand voll Stroh? Dein Kleid?“ 

Anya schnaubte, wandte sich kommentarlos um, ging ein paar Schritte. Und dann fischte sie wie ein Zauberer irgendwo aus dem umkoordinierten Durcheinander eine Flasche und hielt sie ihren Verbündeten vor die Nase. Innerlich lächelte sie. Hatten sie denn wirklich gedacht, dass Gaels Unordnung nicht geplant war? Er war vielleicht ein Schwachkopf, aber er hatte zehn Jahre lang in Ansins Schatten existiert, und wenn er eines gelernt hatte, dann das zu verbergen, was andere nicht sehen sollten. „Was ist mit hochprozentigem Alkohol?“

Sie überließen die Ausführung Fourmi, vor allem, weil er sich kommentarlos die Flasche griff und an die Arbeit ging. Er ging das Zelt ab und murmelte vor sich hin, schien abzuwägen, wo er das Feuer legen wollte. Anya hätte eigentlich erwartet, dass er den Alkohol als Grundlage für ein Feuer verwenden würde. Aber er angelte sich nur ein Kleidungsstück aus dem Chaos, zerriss es, öffnete die sorgfältig verkorkte Flasche, tränkte den Lappen und stopfte ihn dann hinein.
Sie wagte es nicht ihn darauf anzusprechen, weil er in einer endlosen Litanei im Flüsterton vor sich hin fluchte, irgendetwas von verfluchter Unordnung und einige Beleidigungen in Karvashs Richtung. Stattdessen flüsterte sie Tarn zu: „Was macht er da?“ 

Tarn zuckte mit den Achseln, und einen Moment musterten sie sich stumm. Seltsam. Sie hatten bisher wenig miteinander zu tun gehabt, und Anya hätte niemals angenommen, dass er etwas mit der Rebellion zu schaffen hatte. Sie schmunzelte, und was auch immer Tarn gerade gedacht hatte, auch er lächelte jetzt ein wenig. „Was ist so komisch?“, fragte er, und sie zuckte mit den Schultern. „Ich dachte nur gerade, dass ich dich nicht im Verdacht hatte, ein Rebell zu sein.“ „Ebenso“, antwortete er knapp, aber nicht unfreundlich, und sie korrigierte ihn nicht. So wie es aussah war ihre Loyalität ab jetzt sowieso einerlei. Sie hatte sich endgültig mit der Rebellion eingelassen.
Trotzdem ließ es sie nicht los, dass ausgerechnet Tarn ein Verräter sein sollte. „Ich meine, warst du es nicht, der ihm den Arm gebrochen hat?“, legte sie nach und nickte in Fourmis Richtung. „Es war Notwehr, aber das sieht Fourmi etwas anders. Was denkst du, warum er so wütend auf mich ist?“, antwortete Tarn resigniert. Das war nur eine rhetorische Frage, aber Anya wagte einen Schuss ins Blaue. „Weil du mit Eravier schläfst?“ Er runzelte die Stirn, und sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich suche nur nach Gemeinsamkeiten“, gab sie zu, und er verstand, was sie damit sagen wollte. „Aber vermutlich muss ich dich gar nicht darauf hinweisen. Du weißt vermutlich, mit wem er es sonst noch treibt.“ Die Antwort war kurzes Schweigen, gefolgt von einem zurückhaltenden: „Ich vermeide es, zu viel darüber zu wissen.“ 

Im gleichen Moment kam Fourmi auf sie zugestürmt, und da Tarn sich zu ihm umwandte, sah er die Überraschung auf Anyas Gesicht nicht, und sie selbst brachte sich schnell unter Kontrolle. „Das ist der Plan“, erklärte Fourmi angespannt, und ein Blick in sein Gesicht sagte Anya, dass er am Rand seiner Kräfte angelangt war. Sie stellte keine Fragen, sondern hörte nur zu und nickte, als er fortfuhr: „Ich lege den Brand und sorge dafür, dass das Feuer nicht sofort aus geht. Anya, du bleibst hier, ich brauche dich, um Karvash hier herauszuholen. Tarn, du kümmerst dich um seine Frauen. Sorg dafür, dass sie nach draußen kommen, möglichst ohne dass sie mitbekommen, wer sie gerettet hat. Danach hast du es in der Hand, zu verschwinden. Niemand wird auf dich warten. Das gilt auch für dich, Anya.“ „Gehen wir es an“, stimmte Tarn zu und verließ Karvashs Quartier ohne ein weiteres Wort. Gewohnt, Befehle zu befolgen, dachte Anya abwesend. Die Rebellion war wohl doch militärischer, als sie zuerst angenommen hatte. Vielleicht sollte sie sich angewöhnen, ebenfalls Befehle zu befolgen. 

Fourmi ließ sie nicht mit ihren Gedanken allein, sondern befahl ihr: „Geh da rüber. Komm nicht zu nahe, ich habe das Feuer unter Kontrolle. Wenn ich dir das Zeichen gebe, schreist du. Nicht vorher und erst recht nicht später.“ Sie nickte und trat einen Schritt zurück, und Fourmi umfasste die Flasche, aus der der hinein gestopfte Lappen hing. Sie wollte ihn gerade fragen, was er nun mit diesem Ding vorhatte, als er den Lappen in Brand setzte. Der mit Alkohol getränkte Stoff fing Feuer wie ein Docht, und Anya trat zurück, zu dem Ort, den Fourmi ihr gezeigt hatte, und wartete.

Für einen Moment stand Fourmi völlig ruhig und still da, die brennende Flasche in der Hand. Bereitete er sich vor? Dachte er nach? 

Oder fürchtete er sich? 

Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber sie war plötzlich überzeugt davon, dass es Letzteres war. Und ohne dass sie es wollte wurde sie von Mitleid ergriffen. Mitleid für sie alle. Was war das für eine verrückte Nacht geworden?

Sie hatte immer geglaubt, dass die Welt in ihrem tiefsten Inneren normal war. Ein ruhiger, sicherer Ort, ohne die Ungeheuer und Drachen, die Geschichten und Sagen heimsuchten. Aber hier stand sie, Teil ihrer eigenen Geschichte, und fürchtete sich vor einem menschlichen Ungeheuer. Was tat sie hier? Sie hatte nicht darüber nachgedacht, warum sie den beiden half, aber letztendlich lief es darauf hinaus, dass sie Eraviers wachsamen Augen auswich. Sie würden viele Menschen in Gefahr zu bringen, in der vagen Hoffnung, dass es sie diesmal nicht erwischte. 

Aber das Schlimmste war, dass ihr Platz trotz aller Bedenken und trotz ihres vorigen Widerstandes eindeutig hier war; vielleicht war ihr das schon lange klar gewesen, schon seit dem Moment, an dem Fourmi zum ersten Mal mit ihr gesprochen und ihr angeboten hatte, Informationen einzutauschen. Warum hatte sie sonst auf Tarn gehört, sich gezwungen Fourmi trotz seines Angriffs erneut zu vertrauen?

Weil sie ihre wahren Verbündeten waren. Weil sie sich zwischen ihnen weitaus besser aufgehoben fühlte als in Gaels Bett oder beschützt durch die Wachen. Die waren machtlos, und sie würden nichts tun, außer ihre Befehle zu befolgen, egal, wohin die sie führten.

Anya gehörte nicht zu ihnen. Sie gehörte zu den Anderen. Sie, die Heimatlose, die sich ihren Platz immer nur erkauft hatte. Sie hatte so viel mehr mit Tarn gemeinsam, dem einzigen Mensch den sie kannte, der so etwas wie echte Gefühle für Eravier aufbrachte. Oder Fourmi, der so verzweifelt versuchte die Oberhand zu behalten, weil er sich davor fürchtete was passieren würde, wenn ihm eine Situation entglitt. Was war ihm zugestoßen? Sie konnte es nicht einmal erahnen. 

„Fourmi?“, fragte sie leise, und er wandte sich zu ihr um. 
„Was?“ Er wartete darauf, endlich seinen Plan auszuführen, und wollte nicht von ihr abgelenkt werden. Aber wenn sie diese Frage jetzt nicht stellte, würde sie es vor sich her schieben. Sie wollte ihre Verbündeten zumindest kennen, bevor sie ihnen ihr Leben anvertraute. 
„Wie soll ich dich ansprechen?“, fragte sie, „Bist du Fourmi… oder Fleurie?“ 
Für einen endlos dauernden Moment schwieg Fourmi. Der Lappen, der aus der Flasche ragte, brannte mit träger Flamme, während er zu überlegen schien. Sie war sich sicher, dass er nicht über die Antwort nachdachte. Nur darüber, ob sie wert war, diese Antwort zu kennen. 
„Beides“, murmelte er schließlich unwirsch, und wandte sich wieder von ihr ab, als sie sah, dass Anya nickte. 

Dann warf Fourmi die Flasche gegen einen der Stützpfosten, die das Zelt aufrecht hielten. Anya war sich nicht sicher gewesen, was sie sehen würde, aber der Effekt überwältigte sie. Die Flasche zerschellte mit einem lauten Splittern an dem Stützpfosten, und flüssiges Feuer regnete herab. Der Alkohol spritzte auseinander, entzündete sich und verwandelte sich in einen gewaltigen, leuchtend orangefarbenen Feuerball. Anya zuckte zusammen, weil sie instinktiv einen Knall erwartete, vielleicht wie das Geräusch einer Waffe, aber das einzige was sie hörte war das Splittern der Flasche und das Lodern der Flammen. 

Die Zeltplanen fingen sofort Feuer, und Anya entfernte sich hastig einige Schritte, aber Fourmi harrte völlig unbeeindruckt an der selben Stelle aus. Brennender Alkohol spritzte vor ihren Füßen zu Boden, aber sie zeigte keine Regung. Das Feuer beleuchtete ihr ernstes, konzentriertes Gesicht und ließ ihre Augen leuchten. Sie öffnete eine Öllampe, die sie sich bereit gestellt hatte, und sorgfältig und gelassen, als würde sie an einem schönen Tag Blumen gießen, nährte sie die Flammen mit dem Öl. Die gelösten Strähnen ihres Haares tanzten im Sog des Feuers, während es immer weiter auf das Zelt übergriff und alles taghell erleuchtete. Funken stoben, als sie entschlossen eine von Karvashs Decken nahm und ebenfalls ins Feuer schleuderte. Karvash schnarchte weiter und verschlief den Untergang seines geliebten Zeltes; und Anya bereitete sich bereits darauf vor, ihn ins Bewusstsein ohrfeigen zu müssen. Aber noch wartete sie, wie ein braver Soldat, auf ihren Befehl.

Sie wartete. Und wartete.

„Ist es nicht bald so weit? Fourmi?“, fragte sie schließlich. Sie wusste, dass nur Sekunden vergangen waren, aber jeder Moment in der Nähe des sich immer weiter ausbreitenden Feuers fühlte sich wie ein Jahrhundert an. Sie spürte die Gefahr, und instinktiv wollte sie laufen. Doch Fourmi schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Feuer zu, beobachtete es genau. Sie wartete mit verschränkten Armen, während die Flammen immer höher schlugen und sich erstickender Qualm ausbreitete und ihnen den Atem nahm. Ihre Miene war wie versteinert, die Augen leer, während sie ihren verletzten Arm fest hielt und immer wieder verhalten hustete. 

Es wurde heiß, so unerträglich, dass sich Anya etwas wünschte um ihre Haut zu schützen, und Fourmi stand umringt von den Flammen und wartete.

Wartete.

Plötzlich wurde Anya klar, dass sie weg war, zumindest für diesen kurzen, wesentlichen Moment. Und auf eine unheimliche Weise erinnerte sie Anya in diesem Moment an Jadzia.

Tränen. Panik. Die Unfähigkeit, zu Atmen. Ich habe von Feuer geträumt.

Sie wusste nicht, ob sie Fourmi vertraute. Sie wusste sicher, dass sie sie bisher nicht mochte. Dass sie zu rücksichtslos und starrsinnig für ihren Geschmack war. Und wäre Anya diejenige gewesen, die völlig weggetreten ins Feuer starrte, hätte Fourmi sich vermutlich umgedreht und das Weite gesucht. Aber trotzdem. Ich lasse dich nicht hier, dachte sie wütend, stapfte auf sie zu und packte ihre Schulter. 

„Fourmi!“, schrie sie sie an, schüttelte sie. „Fourmi!“ Und endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, drehte sie sich zu ihr um. Ihre Augen schwammen; sie war völlig am Ende, und vielleicht hatte sie auch jedes Recht dazu. Sie hielt ihren steifen Arm vor dem Körper, das Gesicht blass, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Ihre Schmerzen mussten ungeheuer sein, und trotzdem hatte sie sich bis zu diesem Punkt durchgekämpft. „Die Welt verbiegt sich nicht so, wie es mir passt, oder?“, fragte sie, und in der Frage lag so viel Schmerz und Resignation, dass es Anya selbst weh tat. 
„Warum eigentlich nicht?“, fragte sie wütend, „Und wenn nicht, dann biegen wir sie eben selbst so zurecht, wie sie uns passt.“ „Denkst du, dass versuche ich nicht schon die ganze Zeit?“, antwortete Fourmi. „Ja, aber ganz offensichtlich versuchst du es ja immer nur allein“, wandte Anya ein, und sog erschrocken die Luft ein, als ein brennender Fetzen der Zeltplanen herab fiel und ihr Kleid ansengte. „Können wir jetzt bitte weg von hier?“, fragte sie, und Fourmi riss sich zusammen und nickte. „Schrei“, sagte er.

 Und Anya gehorchte. Sie holte tief Luft, und dann schrie sie, was ihre Lungen hergaben: „FEUER! FEUER! HILFE!


Es war eine schwierige Nacht, damit hatte Guy wahrscheinlich Recht, und Angst, das wusste Anya inzwischen, war ein starkes Narkotikum. Schreie oder Rufe ließen Menschen normalerweise zusammen laufen, aber in einer Nacht wie dieser würde das Gegenteil der Fall sein. Die Furcht vor den Konsequenzen war zu groß. Selbst Schüsse hätten vermutlich niemand herbei geholt, nicht, wenn die Wächter auf Rebellenjagd waren. 

Aber es gab eine Gefahr, die niemand ignorieren konnte, egal unter welchen Umständen: Feuer. 

Brände waren keine Seltenheit, nicht im Sommer auf offenen Feldern, wenn Lampen, Kochstellen und Wärmequellen benötigt wurden. Anya hatte bereits einen kleineren Brand miterlebt, und das ganze Lager war innerhalb von Sekunden auf den Beinen gewesen. Und genau das geschah auch jetzt. Es dauerte keine Sekunde, bis der Ruf aufgenommen wurde, und sich durch das ganze Lager verbreitete. Innerhalb von Minuten wurde das Prasseln des Feuers von Rufen übertönt, hastigen Schritten, Streitereien, weil die Diener mit den Wachen zusammen stießen, die ihre Blockade so lange aufrecht erhalten hatten und es nun nicht mehr konnten. Und manche der Wächter versperrten nicht einmal mehr den Weg, sondern lösten ihre Reihen auf und liefen selbst, um Wasser zu holen, wo auch immer sie es her bekommen konnten. Niemand durchsuchte irgendjemand. Niemand hielt irgendjemand auf. Die Wächter waren klug genug, um zu erkennen, dass sie die Situation nicht meistern konnten, und irgendwann halfen sie nur noch dabei, zu löschen und die Ordnung wiederherzustellen. Und als alles vorbei war, waren keine Rebellen mehr ausfindig zu machen. Sie waren in der Menge der Diener einfach verschwunden.


„Jadzia?“, fragte Anya leise in die Dunkelheit ihres Quartiers.
Keine Antwort. Das Quartier war Immer noch ein absolutes Chaos, und der Junge hatte sich einfach nur eine Decke genommen und schlief so tief, dass ihn vermutlich nicht einmal eine Fanfare geweckt hätte. Jadzia war nicht da.

Anya seufzte frustriert, aber vermutlich hatte sie einfach Pech. Ihr war zu spät eingefallen, dass Jadzia doch auf sie hatte warten wollen. Und wer wusste schon, ob sie beim Löschen des Feuers geholfen oder sich stattdessen davon fern gehalten hatte? Sie war nicht hier. Mürrisch richtete Anya erst ihr eigenes, dann Jadzias Lager, bevor sie sich hin legte. Sie nahm sich vor, einfach im Dunkeln zu warten, bis Jadzia auftauchen würde. Überhaupt fühlte sie sich so wach wie nie zuvor.

Innerhalb einer Minute war sie eingeschlafen.

„Eine herrliche Nacht“, sinnierte Eravier und klappte das Buch, das er gelesen hatte, mit Schwung zu. „Wärmer als erwartet. Aber dafür mangelt es ihr an Gefangenen, meint ihr nicht auch?“
Seine spöttische Frage hing eine Weile in der Luft, ein offensichtlicher Vorwurf. Doch Jadzia ließ ihn nicht lange unbeantwortet.
„Es ist nicht alles nach Plan verlaufen, aber wir konnten durchaus etwas über ihre Strategie und die Schwächen in unserer Verteidigung herausfinden“, antwortete sie ernst. „Beispielsweise, dass sie klüger als wir sind?“, fragte Eravier, und Jadzia nickte. „Unter anderem.“ 

Wenn sie Angst hatte, war es in ihrem Gesicht nicht zu lesen. Ihre Augen waren starr gerade aus gerichtet, genau wie Guys. Sie waren in Eraviers Wagen angetreten und standen nun bereit, um Bericht zu erstatten und neue Befehle entgegen zu nehmen, Seite an Seite. Soldaten. Und obwohl sie in dieser Nacht versagt hatten, betrachtete Eravier sie doch wohlwollend. Sie hatten ihn bisher selten enttäuscht, ihre Anweisungen immer ohne zu zögern ausgeführt, und außerdem waren sie unerkannt geblieben. Ganz im Gegensatz zu Durand.

„Leider stehen wir jetzt wieder am Anfang“, sinnierte Eravier und erhob sich von seinem Schemel, um näher an Guy und Jadzia heran zu treten. „Und wir haben unseren wichtigsten Köder verspielt. Soll ich mich wirklich damit abfinden, dass wir Durand umsonst erschossen haben?“ „Herr, darf ich sprechen?“, fragte Guy, und Eravier gestattete es ihm mit einer Handgeste. „Herr, ich bin nicht sicher ob es überhaupt klug war, Durand hinzurichten. Gerade jetzt wäre es wichtig gewesen, einen Verbündeten unter den Dienern zu haben. Außerdem haben wir für Unruhe gesorgt. Wenn wir nicht aufpassen, haben wir schnell einen Aufstand am Hals.“ Eravier nickte, zum Zeichen dass er ihn durchaus verstanden hatte, winkte jedoch gleichzeitig ab. „Die Diener haben wir unter Kontrolle. Und dein Mitleid ist rührend, aber Durands Zeit war abgelaufen. Er hat mir einmal zu oft versagt, und außerdem war die Gelegenheit zu günstig. Die Rebellen wissen, dass es mir ernst ist. Sie werden bald aus ihren Löchern gekrochen kommen, ich kann es fühlen.“

„Ein Gefühl bringt uns nicht weiter. Wir sollten langfristiger planen, weniger Zeit und Material auf Schnellschüsse verschwenden“, warf Jadzia ein und ignorierte Guys warnenden Blick. Sie hatte ihn auch nicht nötig, weil Eravier überhaupt nicht auf ihre herausfordernden Worte einging. „Das mag sein“, erklärte er mit einem Schmunzeln und trat noch näher an sie heran. Ihre einzige Reaktion bestand darin, dass sie die Lippen etwas fester zusammen presste. Aber dennoch war es eine Reaktion, und Eravier nahm sie zufrieden in sich auf. „Aber bevor wir uns auf diese Aufgabe stürzen, hast du nicht etwas vergessen?“
 
„Ich vergesse nichts“, antwortete Jadzia kalt, und zog ein mehrfach gefaltetes Dokument hervor. Ein Vertrag. Sie reichte ihm das Schriftstück, ohne auch nur eine Sekunde inne zu halten, und er nahm es entgegen, ohne weitere Fragen zu stellen. Stattdessen entfaltete er es und ging müßig einige Schritte auf und ab, während er den Inhalt überflog. Er nickte, aber aus den Augenwinkeln beobachtete er auch Jadzia. 
„Das ist alles korrekt, und eine angemessene Abtretungssumme. Du gehörst also endlich mir.“
„Ich gehöre niemandem. Ich stelle mich für eine Weile zur Verfügung, gegen die entsprechende Summe“, widersprach Jadzia ihm harsch, aber Eravier lächelte nur. 
„Wie auch immer du es nennen willst, der Vertrag steht. Und wie ich annehme soll Anya es nach wie vor nicht erfahren.“ 
Jadzia zögerte einen Moment, doch dann nickte sie. 
„Es würde sie nur verwirren. Meine Tarnung gefährden.“
„Und vielleicht würde sie dann dir gegenüber ihr wahres Gesicht zeigen, nicht wahr? Das willst du sicher nicht, wenn dir doch so viel an ihr liegt.“ 
„Sie ist meine Freundin.“ 
„Sie sollte dein Feind sein“, erwiderte Eravier scharf, aber das Lächeln wich nicht aus seinem Gesicht, „Immerhin paktiert sie mit den Rebellen.“ 
„Weil es ihr Vorteile bringt, nur deswegen. Sie ködern sie mit einem reichen Käufer, und nur deshalb spielt sie deren Spiele. Du hast es versäumt, ihr die richtigen Anreize zu geben. Du hast sie eingeschüchtert. Ich denke nicht, dass du klug handelst, was sie betrifft. Sie könnte dir gefährlich werden, wenn du nicht darauf achtest, was sie tut.“ 

Guy wollte es nicht, aber obwohl er diese Art der Wortwechsel gewohnt war, hielt er dennoch den Atem an. Dass es überhaupt jemand wagte derartig mit Eravier zu sprechen war ihm anfangs unbegreiflich gewesen. Als er das erste Mal Zeuge geworden war, wie die beiden miteinander stritten, hatte er damit gerechnet, dass Jadzia nur Minuten später tot sein würde. Niemand legte sich derartig mit Eravier an und kam ungestraft davon. Aber wie jede Regel hatte diese wohl Ausnahmen. Inzwischen hatte Jadzia keinerlei Skrupel mehr, Eravier offen zu kritisieren, und trotzdem rechnete Guy jedes Mal aufs Neue damit, dass sie diesmal zu weit gegangen war.

Eravier starrte Jadzia einen Moment lang an ohne eine Miene zu verziehen an, dann lachte er aus vollem Halse. „Da könntest du Recht haben, vielleicht habe ich sie nicht so behandelt, wie es ihr zustehen würde. Aber die Dinge, die wir nicht haben können, erscheinen uns immer kostbarer als sie eigentlich sind, nicht wahr?“ Sein Blick blieb lauernd auf sie gerichtet, abwartend, während er fort fuhr: „Vielleicht ist mir aber auch ihre Art zuwider. Ich hatte noch nie viel für dreckige Huren übrig, wie du weißt. Vor allem, wenn sie ihre Herren hintergehen. Ihr Anblick verursacht mir Übelkeit.“ 

Jadzia starrte weiter geradeaus, und für jeden Unbeteiligten hätte sie gewirkt, als würden seine Worte an ihr abprallen. Aber Guy kannte sie inzwischen etwas besser, und ihre unterdrückte Wut strahlte von ihr ab wie die Hitze eines offenen Kamins. „Dann muss der Blick in den Spiegel eine unangenehme Erfahrung für dich sein, Herr“, antwortete sie, und der Hass in ihrer Stimme hätte jeden, der auch nur ansatzweise bei Verstand war, frösteln lassen. Aber Guy wusste, dass das der Kern des Problems war; Verstand war hier Mangelware. Eravier lachte. Insgeheim glaubte Guy, dass ihre Abscheu genau das war, was Eravier so an ihr gefiel und ihn davon abhielt, ihr den Mund zu verbieten. Sie verachtete ihn, und arbeitete doch für ihn, und er genoss ihre Feindseligkeit wie eine besondere Form der Huldigung. Er schien erst zufrieden zu sein, wenn sie innerlich raste. 

Doch anscheinend hatte Eravier sie fürs Erste genug schikaniert, denn er entließ sie. „Ich habe einige Ideen, wie wir weiter vorgehen können“, erklärte er gelassen, „Aber dafür ist morgen noch Zeit. Geht zu Bett, ruht euch aus. Ich werde euch rufen, wenn ich euch brauche.“ Damit winkte er sie davon, und sie nickten beide zum Zeichen, dass sie verstanden hatten, und verließen sein Quartier.

Guy stapfte voran, und Jadzia folgte ihm. Ihr Weg führte sie beide am Lager der Wächter vorbei, und während sie stumm nebeneinander her gingen, wechselten sie zunächst kein Wort. Vielleicht war das ein Grund, warum sie sich gut verstanden. Sie verschwendeten keine Worte, wenn Gesten genügten. Und Guy hielt sich selbst nicht für den Hellsten, aber gemeinsam entwickelten sie doch, mit kurzen präzisen Erklärungen, die besten Taktiken. Guy hatte Jadzia zu schätzen gelernt, und er glaubte, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte.

Nur deshalb begann er schließlich doch eine Unterhaltung. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass die Feindseligkeiten zwischen Jadzia und Eravier zunahmen, und diese Entwicklung gefiel ihm nicht. 
„Du solltest ihn nicht ständig provozieren“, sagte er unvermittelt. Es war ein gut gemeinter Rat, aber Jadzia lächelte nur kalt. 
„Er ist ein Großmaul, weiter nichts. Er sieht in anderen das, was er selbst an sich nicht ertragen kann. Das ist erbärmlich.“ 
Guy stutzte, widersprach aber nicht. Er war sich nicht sicher, was sie damit meinte, und er hielt es außerdem für gesünder, derartige Aussagen für sich zu behalten. „Keine Ahnung“, brummte er deshalb, „Übertreib es einfach nicht. Solange er nicht das hat was er will…“ „Er wird es bald haben. Sie werden uns die Arbeit abnehmen.“ 

Es gab Momente, in denen Guy sie nicht verstand. Seit sie Eravier ihre Dienste angeboten hatte, war diese Frau ein Rätsel für ihn. Sie war nicht bestechlich, sie hatte keine Laster, und sie war so zugänglich wie ein von Frost eingeschlossenes Gebirge. Er respektierte sie dafür, aber er konnte nicht behaupten, dass er sie durchschaute. Wieso war sie so sicher? 
„Sie haben uns heute an der Nase herum geführt“, sagte er, „Warum sollte das beim nächsten Mal anders sein?“ „Das wirst du schon sehen“, antwortete Jadzia gelassen, und sie schien der Meinung zu sein, dass diese Aussage ausreichte, weil sie danach einfach schwieg. Das war ihre Art; sie verschwendete keine Worte, an niemanden. 

Sie waren vor dem Lager der Wächter angelangt, und ohne ein weiteres Wort ging Jadzia daran vorbei und ließ Guy stehen. Er sah ihr eine Weile nach, bevor er sich kopfschüttelnd abwandte und sich schlafen legte.

Jadzia wiederum ging völlig selbstsicher durch Lager, während sie über ihre Strategie grübelte. Sie fragte sich insgeheim, wie lange Guy ihr noch nützen würde. Er war kein übler Kerl, aber bestimmte Zusammenhänge überstiegen seinen Verstand. Er begriff ihre Taktik rudimenär, aber das war auch schon alles. Was er nicht verstand war die Tatsache, dass sie weit im Voraus plante. Ihre nächste Aktion würde nicht anders verlaufen als die heutige. Vermutlich würde auch ihre nächste Finte ins Leere laufen. Es ging nicht darum zu gewinnen. Es ging darum, ihr Ziel in die Ecke zu drängen, nicht mehr und nicht weniger. Wenn sie dafür Eraviers Stiefel lecken musste, nahm sie das in Kauf. 

Ihr Endziel lag in weiter Ferne, aber doch war es in ihrem wachen Verstand bereits greifbar. 
Am Ende, wenn sie Fourmi in der Hand hatte, würde Jadzia ihre Bedingungen diktieren.

„...lion… Valion!“

Sein geflüsterter Name drang nur bruchstückhaft zu ihm durch, als bedeutungslose Wortfetzen. Er konnte die Stimme nicht einmal zuordnen. Eine Hand rüttelte ihn an der Schulter und zerrte ihn mitleidlos vom Grund des Schlafs hinauf an die Oberfläche; da hatte jemand den festen Vorsatz, ihn aus dem Bett zu werfen. So energisch, wie er durchgeschüttelt wurde, konnte das nur Arinda sein.

Mit einem unwilligen Laut wurde er halb wach, und versuchte gleich darauf sich die Decke über den Kopf zu ziehen. „Lass mich schlafen“, murmelte er und drehte sich weg, vergrub sein Gesicht in seinem Kissen. Es konnte auch noch gar nicht so spät sein, sonst hätte die Sonne durch das Fensters seines Zimmer geschienen und ihn geweckt. 

Die rüttelnde Hand ließ jedoch nicht locker, und im nächsten Moment musste Valion sein Bettzeug festhalten, damit es nicht entführt wurde. Aber darauf war er vorbereitet, und ein schläfriges Grinsen zog über sein Gesicht; warum versuchte Arinda überhaupt noch, ihm die Decke zu stehlen? Inzwischen musste sie ihre Lektion doch gelernt haben. 

Mit geschlossenen Augen und nicht einmal zur Hälfte wach zog er seine Decke mit einem entschlossenen Ruck wieder zu sich heran. Der darauf folgende Laut der Entrüstung wurde abrupt erstickt, als Valion zum Gegenangriff überging. Er packte sein Kissen, zog es unter seinem Kopf hervor und hieb damit geradewegs nach dem Störenfried. Empörtes Schnaufen bestätigte ihm, dass er getroffen hatte, aber wenn er dachte, dass er damit gewonnen hatte, hatte er sich getäuscht. Bevor er sich wieder umdrehen und einfach weiter schlafen konnte, bekam er sein Kissen postwendend zurück, direkt auf den Kopf.

Gleich darauf balgten sie sich; er versuchte sein Kissen zurück zu bekommen, sie stopfte es ihm ins Gesicht, ließ es aber erst recht nicht los, als er es weg zerren wollte. Sie lachte laut und amüsiert auf, während sie sich über ihn beugte und ihn mit seinem Kissen schlug, und obwohl sie wirklich niederträchtig vorging, musste er trotzdem mitlachen. Aber sein schlaftrunkener Verstand registrierte verwirrt, dass das nicht Arinda war, sie war zu groß und die Stimme zu dunkel. Seine Mutter? Nein, noch dunkler.

Schließlich hatte er genug und hob die Hände, um sich zu ergeben. „Ich bin wach“, schnaufte er, und sie ließ das Kissen sinken, sodass er sich endlich aufrichten und ihr ins Gesicht sehen konnte. 

Im nächsten Moment wünschte er, er hätte es nicht getan. Nur, um noch einen Moment länger in dem Glauben zu bleiben, dass er zuhause war, statt unendlich weit davon entfernt.

Er erfasste seine Umgebung mit einem Blick. Er war nicht im Haus seiner Eltern, sondern im Halbdunkel eines Wagens. Das war nicht sein Bett, nur ein Lager. Und die Frau, die neben ihm saß und  sich über ihn beugte war weder seine Mutter noch eine seiner Schwestern, sondern die Dienerin, deren Namen er nicht kannte. 

Sie musste bemerkt haben, dass seine gute Laune mit einem Mal wie weg geblasen war, denn der amüsierte Ausdruck wich aus ihrem Gesicht. Er wurde ersetzt von Verwirrung und Sorge, und Valion sah die unausgesprochene Frage in ihren Augen, auch ohne dass sie sie formulieren musste: Was hast du?

„Es ist nichts“, murmelte er abwehrend und senkte den Blick, „Tut mir Leid wegen dem Kissen.“ 
Das schien das Letzte zu sein, das sie kümmerte, denn sie ging überhaupt nicht darauf ein. Stattdessen sah sie ihn lange und erwartungsvoll an, fast, als würde sie darauf bestehen, dass er seine gedrückte Stimmung erklärte. Aber den Gefallen tat er ihr nicht, und schließlich gab sie mit einem Achselzucken und einem leisen Seufzen auf und wandte ihren forschenden Blick ab.

Stattdessen fiel ihr etwas anderes ins Auge, und sie runzelte die Stirn. Valion folgte ihrem Blick und entdeckte das Bündel mit dem Spiegel und den Scherben, das er vor dem Schlafengehen unter sein Kopfkissen gesteckt hatte. Er hatte bis jetzt überhaupt nicht mehr daran gedacht. Nun lag es offen auf dem Boden, und das Glas schimmerte, trotz des Stoffs, der um den Spiegel und die Scherben gewickelt war, verräterisch im Dunkeln.

Bevor er selbst danach greifen konnte,hatte die Dienerin das Bündel schon aufgehoben. Ihr Blick verdüsterte sich, als sie begriff, was sie in der Hand hatte, und im nächsten Moment hielt sie es Valion  ungehalten unter die Nase. Ihr Gesichtsausdruck war unmissverständlich. Lass das nicht offen liegen. Vermutlich hatte sie jedes Recht verärgert zu sein, denn immerhin hatte sie seine Sachen vor der Entdeckung bewahrt, aber trotzdem regte sich Widerwillen in Valion. „Ich habe noch kein Versteck dafür gefunden“, murmelte er ausweichend, und im Grunde entsprach das ja auch der Wahrheit. Er hätte in der Dunkelheit niemals einen sicheren Ort gefunden, an dem er seine Sachen unterbringen konnte, und er hatte nicht gewagt, wieder Licht zu entzünden. Es war ihm zu auffällig vorgekommen.

Er streckte die Hand aus und wollte ihr das Bündel abnehmen, aber im selben Moment zog sie die Hand weg und machte stattdessen eine wegwerfende Geste. Du solltest es loswerden, sagte sie mit ihrer Mimik, und ließ keinen Zweifel daran, dass sie das todernst meinte. 
„Nein!“, antwortete er ungehalten und hielt ihr die offene Hand hin, als Aufforderung, dass sie seine Sachen zurückgeben sollte, aber noch weigerte sie sich, stur und mit zusammengezogenen Brauen, hob fragend die Schultern. Warum? „Das gehört meiner Schwester! Zufrieden? Also gib her!“

Sie erstarrte, forschte wieder in seinem Gesicht, ob er das ernst meinte. Erst als sie sich darüber sicher war, hielt sie ihm das Bündel hin. Aber ihr Blick blieb darauf fixiert, als könnte sie durch reine Willenskraft durch den Stoff hindurch sehen. Es schien ihr so wichtig, dass er wie automatisch seufzte und fragte: „Willst du es sehen?“ Sie nickte, und fast gleichzeitig hoben sie den Kopf und sahen sich um. Keiner von ihnen lächelte darüber, obwohl sie im gleichen Moment bemerkten, wie reflexhaft der jeweils andere reagiert hatte. Dafür war die Gefahr viel zu groß und die Konsequenzen viel zu ernst.

Erst als sie beide geschwiegen, gelauscht und sich umgesehen hatten, legte Valion sorgfältig die Überreste des Spiegels frei und legte die Scherben sorgfältig beiseite, bevor er ihr den Rahmen reichte, den sie so vorsichtig entgegen nahm wie ein rohes Ei.

Sie betrachtete den Spiegel von allen Seiten, fuhr mit den Fingern die Details in der Struktur der Schnitzerei nach. Winzige Reflexe tanzten über ihr Gesicht, wieder gespiegelt von den letzten, hartnäckigen Glassplittern im Rahmen. 
„Der gehört Mila“, begann Valion wie von selbst, „Sie ist sieben. Wenn du nicht aufpasst, stolpert sie in Gedanken über ihre eigenen Füße. Deshalb hat Mutter ihr den Spiegel weggenommen, damit ich ihn aufbewahre. Weil sie ihn fallen lassen würde. Ich- manchmal hab ich ihn ihr wieder gegeben, und sie hat ihn stundenlang angesehen. Sie mag Vögel… und-“ 

Er brach ab. Plötzlich hatte er schon wieder Tränen in den Augen, aber er schämte sich nicht, als er sie weg wischte, denn seinem Gegenüber schien es nicht besser zu gehen. Sie sah wehmütig aus, als hätte auch sie in diesem Moment jemand vor Augen. Vielleicht sogar ein kleines Mädchen in Arindas oder Milas Alter, mit der gleichen Stupsnase und dem gleichen lockigen schwarzen Haar wie ihre große Schwester. 

„Hast du auch Schwestern?“, fragte er. Sie nickte, legte den Spiegel auf ihren Schoß, schien zu zählen, hob dann beide Hände, und Valion zählte ebenfalls. Sechs, das war viel. „Und Brüder?“ Sie zögerte, hob dann zwei Finger. „Wo sind sie jetzt?“ Sie zuckte nur mit der Achseln, verschloss den Mund mit der Hand, schüttelte den Kopf. Kann ich dir nicht erklären.

„Aber du könntest“, protestierte Valion verzweifelt. Weil es wichtig war. Er wollte mehr über sie wissen, jetzt, da er noch mehr als sonst das Gefühl hatte, dass sie etwas gemeinsam hatten. Dass sie vielleicht beide die selbe Art von Heimweh hatten. „Du kannst sprechen. Warum redest du nicht mit mir?“ Sie zögerte, diese Frage zu beantworten. Als sie sich schließlich äußerte, schien es mehr ein vorgeschobener Grund als alles andere zu sein. Wir könnten belauscht werden, sagte sie schließlich mit einigen Gesten. „Ich weiß“, sagte er und seufzte, „vielleicht werden wir gerade jetzt belauscht. Aber… was ist schon dabei, wenn jemand deine Stimme hört? Du musst mir keine Geheimnisse verraten. Ich kenne nicht mal deinen Namen.“

Sie hob die Hände um zu antworten, und wurde abrupt unterbrochen. „Fleurie?“ 

Die tiefe Männerstimme, die den Namen rief, schien direkt vom Eingang des Wagens zu kommen, und sie zuckten beide zusammen, völlig ertappt. Der Rufende klang nicht zornig, aber doch Ehrfurcht gebietend genug, dass Valion den Drang spürte zu antworten. „Meint er dich?“, flüsterte er hastig, während er sich den Spiegel griff, und Fleurie - endlich kannte er ihren Namen - nickte hastig, sprang auf, wobei sie unmerklich und ohne erkennbaren Grund zusammen zuckte, und bedeutete ihm, zu bleiben wo er war und seine Sachen zu verstecken, bevor sie los hastete.

Valion gehorchte und sammelte schnell und leise alles ein, während er lauschte, wie Fleurie zum Ausgang des Wagens ging. „Hier steckst du“, brummte der Mann; offensichtlich war er ganz gezielt auf der Suche nach ihr gewesen war. „Wo steckst du, Mädchen? Hättest längst zurück sein müssen mit dem Jungen.“ 

Die Antwort war kurze Stille, während Fleurie sich wohl verständlich machte. Valion nutzte die Zeit, um sein Bündel einzuwickeln und schnell wieder unter sein Kissen zu schieben. Hastig legte er seine Decke zusammen und richtete das Kissen, damit hoffentlich niemand auf die Idee kam, sein Lager noch einmal auseinander zu nehmen, vor allem nicht aus dem banalen Grund, dass es unordentlich war. Dann griff er sich seine Jacke und seine Schuhe, das Einzige, das er vor dem Schlafen gehen abgelegt hatte und spurtete zum Ausgang.

Er trat nach draußen und duckte sich instinktiv, als er sah, wer da gekommen war um sie abzuholen. Die meisten Wächter waren schon große und grobe Gestalten, aber dieser Mann überragte sie noch einmal um ein gutes Stück. Er war ein Koloss, ein lebendig gewordener Felsen mit einem Kreuz so breit wie zwei Männer. Valion schätzte ihn auf Jefrems Alter, um die fünfzig. Sein Haar war so unauffällig dunkelblond, dass es auch grau hätte sein können, genau wie sein kurz geschnittener Bart. Valion erinnerte sich vage, ihn schon aus der Entfernung gesehen zu haben, bei den Pferdeknechten.

„Da bist du“, stellte der Mann kurz angebunden, aber nicht unfreundlich fest.  „Komm mit.“ „Wohin?“, fragte Valion, während er in seine Schuhe schlüpfte, aber die einzige Auskunft die er erhielt war ein gebrummtes „Zu Jefrem.“ Das schien alles zu sein, was er an Erklärung für nötig befand, denn im nächsten Moment stapfte er schon los. Valion blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen und sich im Stillen zu fragen, was Jefrem von ihm wollte. Marceus hatte zwar gestern vorgeschlagen, dass er mit ihm reden würde, aber seitdem hatten sie sich nicht mehr gesprochen. Und er hatte auch Anya und Jadzia gesehen, wie sie mit Jefrem gesprochen hatten, also war noch längst nicht sicher, was da auf ihn zu kam.
Wenigstens musste er Fleurie nicht darum bitten, dass sie ihn begleitete - sie beeilte sich ihm zu folgen und blieb wie selbstverständlich an seiner Seite.

Zu dritt bahnten sie sich einen Weg durch das geschäftige Treiben, das heute noch hektischer zu sein schien als sonst. Es konnte kaum an den Durchsuchungen liegen, die rechtfertigten kein Chaos diesen Ausmaßes. Jeder, der nicht irgendetwas durch die Gegend trug oder reparierte, war entweder damit beschäftigt, Listen zu konsultieren oder verärgert den Kopf zu schütteln. Sie schienen die Bestände zu prüfen, aber warum?
Dazu kam der Lärm, der, je näher sie ihrem Ziel rückten, immer stärker anschwoll. Hammerschläge, geschäftiges Sägen, das Brechen von Holz und das Geräusch von Gegenständen, die zu Boden geworfen wurden, manchmal sogar das Splittern von Keramik, ohne dass Valion zuordnen konnte, was es damit auf sich hatte. 

Trotz der Geschäftigkeit kamen sie gut voran, denn niemand wagte es, ihrem hünenhaften Begleiter im Weg zu stehen, und der schien wiederum sorgsam darauf zu achten, dass seine Schützlinge nicht um gerempelt oder von ihm abgedrängt wurden. Er war gleichzeitig ein menschlicher Pflug, an dem sich die Menge links und rechts teilte, und ein geduldiger Schäfer, der seine zwei Schäfchen durch das allgegenwärtige Durcheinander führte. Wenn ihm niemand Platz machte, dann schuf er ihn mit seinen großen Händen. Zwischendurch, wenn Valion oder Fleurie drohten den Anschluss zu verlieren, hielt er inne und wartete auf sie.

Das, und der Umstand, dass Fleurie ihm ohne Bedenken folgte, ließen Valions Befangenheit ihm gegenüber schnell schwinden. Er war vielleicht groß und einschüchternd, aber nicht ansatzweise so aggressiv oder überheblich wie einige Wächter. Nur deshalb wagte Valion schließlich, ihn trotz seiner Wortkargheit wieder anzusprechen. 
„Warum gehen wir zu Jefrem?“, fragte er, und der Mann wandte sich im Gehen ihm zu, runzelte die Stirn. „Hrmm… hat keiner was gesagt?“, fragte er. „Nein“, gab Valion ehrlich zu, und Fleurie hob die Hände, zu einer Ich konnte es ihm ja schlecht erklären-Geste. 

Der Mann nickte langsam, und erklärte dann, immer noch kurz angebunden: „Weiß auch nicht. Sollte dich nur abholen. Frag’ ihn nachher.“ Anscheinend hatte er damit alles gesagt, denn er schwieg erneut. Gesprächigkeit gehörte wohl einfach nicht zu seiner Art, und bevor Valion sich überlegt hatte, wie er die Unterhaltung weiter führen könnte, waren sie auch schon an ihrem Ziel, dem Zentrum des Chaos.

Es gestaltete sich als schwierig, die Verheerung auf einen Blick zu erfassen. Hauptsächlich, da einfach alles im Umkreis schwarz war und vor Nässe triefte. Valion blickte auf einen Haufen von durchweichten und verkohlten Trümmern, die irgendwann einmal ein Zelt und ein Wagen gewesen sein mussten. Das Feuer musste gewaltig gewesen sein. Was ihn aber offenbar nicht daran gehindert hatte, es in aller Seelenruhe zu verschlafen. Valion hatte keine Ahnung, wie das zugegangen sein konnte, und gleichzeitig seltsam froh, dass er zumindest diese Aufregung verpasst hatte.

Überall waren Diener und Knechte wie Ameisen damit beschäftigt, die Ruinen in ihre Einzelteile zu zerlegen, und damit war auch der Lärm erklärt. Brauchbares wurde von Unbrauchbarem getrennt, Verlorenes anscheinend auf Listen notiert, Dinge demontiert und repariert. Es war unmöglich, den Überblick zu behalten.

Noch während Valion sich umsah und versuchte, bekannte Gesichter zu erkennen, entdeckte er Anya; wie immer zog sie selbst in einer Menschenmenge die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Sie stand bei einer Gruppe von drei Frauen, anscheinend in ein ernstes Gespräch vertieft. Keine der drei war schlicht genug gekleidet, um eine Dienerin sein zu können. Allerdings konnten ihre teuren Kleider und sorgfältig frisierten Haare kaum darüber hinweg täuschen, dass sie alle blass und übermüdet waren. Eine der Frauen, eine dunkelhäutige Frau etwa in Anyas Alter, hustete immer wieder krampfhaft in ein Taschentuch und schwankte leicht.

Anya wiederum war anders gekleidet als sonst, praktisch und ungewöhnlich zurückhaltend. Er sah nur ihren Hinterkopf und ihren Rücken, aber sie hatte ihre langen Locken heute aufgesteckt und geflochten, sodass sie ihr bei der Arbeit nicht in die Quere kamen, und ihr Kleid zeigte Rußflecken. Valion hätte ihr eigentlich nicht zugetraut, dass sie sich selbst die Hände schmutzig machen würde. Empfand sie das nicht als unter ihrer Würde?

Dann legte eine der Frauen vertraulich eine Hand auf Anyas Unterarm und wies in seine Richtung. Sobald Anya ihn sah, verabschiedete sie sich schnell und ging energischen Schrittes auf Valion und Fleurie zu. 
Valion erschrak fast, als er beim Näherkommen die tiefen Ringe unter ihren Augen sah. Auch Anya sah unendlich müde aus, als hätte sie nur eine oder zwei Stunden am Stück geschlafen. Trotzdem schien sie heute seltsam gelassen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht vertiefte sich sogar noch, als sie Fleurie und ihrem Begleiter zu nickte. „Da seid ihr ja. Danke für deine Hilfe, Mischa“, sagte sie und winkte ihren Begleiter fort, bevor sie sich ganz Valion zuwandte.

Obwohl er sich vorgenommen hatte, ihr nicht mehr so misstrauisch zu begegnen, weckte Anyas plötzliche Gelassenheit schon wieder seinen Argwohn. Warum war sie so gut gelaunt? Selbst wenn ihre Ruhe ihrer Müdigkeit geschuldet war, er hätte erwartet, dass sie ihm feindselig begegnen würde. Nach allem, was er getan hatte…
Der Gedanke war unwillkommen, brachte schlagartig sein Schuldbewusstsein zurück, und ließ seine Wange in Erinnerung an Jadzias Ohrfeige glühen. Gestern wolltest du dich noch entschuldigen, und jetzt verdächtigst du sie schon wieder. Was ist denn los mit dir?

 Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vielleicht eine Entschuldigung zu stammeln, aber dazu kam er gar nicht mehr, weil Anya das völlig ignorierte. Stattdessen verkündete sie, gut gelaunt und voller Überzeugung: „Also, Herzchen, ich habe dir Arbeit besorgt!“ 

„Was?“, fragte Valion, jetzt auf völlig neue Art verwirrt. „Arbeit?“ „Ja, davon hat Landvolk wie du doch bestimmt schon gehört“, erklärte Anya, ein amüsiertes Funkeln in den Augen, und fügte, als wäre das völlig selbstverständlich, hinzu: „Nach dem Feuer gestern — das du natürlich komplett verschlafen hast, wie ich bemerkt habe, deinen gesunden Schlaf möchte ich haben — gibt es einige Aufräumarbeiten. Ganz davon abgesehen, dass wir sehen müssen, was noch zu retten ist und wie weit wir unter diesen Umständen überhaupt kommen. Und da du offensichtlich nur Unsinn anstellst, wenn du dich langweilst, habe ich mit Jefrem gesprochen. Du wirst heute unter seiner Aufsicht aushelfen. Vielleicht hast du dann auch weniger Energie für deine zerstörerischen Tendenzen und sonstigen Sperenzchen.“

„Meine was?“, fragte Valion. Langsam kam er sich regelrecht begriffsstutzig vor, und Anya unterstützte dieses Gefühl nach Kräften, indem sie ihn ansah, als wäre er ein bisschen dumm. „Deine Wutanfälle, Dummerchen. Mir ist aufgefallen, dass du ungehalten wirst, wenn du nichts zu tun hast“, sagte sie gehässig. Valion wusste gar nicht, ob er jetzt wütend oder verblüfft sein sollte, weil sie ihm sein Fehlverhalten vom Vortag nicht nur so aufs Brot schmierte, sondern sich gleich noch mit harter Arbeit bei ihm rächte. „Zu deinem Glück, oder Pech, wie man es sehen will“, fuhr sie fort, „brauchen wir gerade jeden Mann… und halbstarken Knaben. Aber keine Sorge, wenn alle mit anpacken, werden wir morgen alle Vorbereitungen für die Abreise getroffen haben.“ 
„Abreise?“, fragte er überrumpelt, und hätte sich danach am liebsten selbst eine verpasst. Anya war anscheinend nicht die Einzige, die zu wenig geschlafen hatte. Er hörte sich an, als hätte man das Innere seines Kopfes mit Quark getauscht. 

Anya lächelte süß, was vermutlich bedeutete, dass sie ihn heimlich auslachte, und schloss mit den Worten: „Frag’ einfach Jefrem, wo du mit anfassen kannst. Vielleicht wirst du dann wach, oder zumindest aufnahmefähig. Es wäre ein Wunder, aber ich bin ein hoffnungsvoller Mensch. Fleurie? Du kommst mit, ich brauche dich.“ 
Und damit rauschte sie auch schon wieder davon. Fleurie runzelte die Stirn, zuckte dann aber gegenüber Valion die Achseln, nickte ihm zu und folgte Anya.

Valion sah ihnen einen Moment nach, unschlüssig, was er tun sollte. Anya kehrte zu ihren vorherigen Gesprächspartnern zurück und nahm offensichtlich ihre Unterhaltung wieder auf, nicht ohne, dass die drei Frauen sich neugierig zu Valion um wandten und ihn aus der Ferne musterten. Die jüngste von ihnen, eine hübsche blonde Frau, fing Valions Blick und zwinkerte ihm zu, warf ihr Haar zurück. Ihr Gebaren war ganz Anya, und er beschloss, lieber das Weite zu suchen und endlich heraus zu finden, wie er behilflich sein konnte. Eine Anya, mit der er zurecht kommen musste, war bei weitem genug.

Es gestaltete sich schwierig, im Gedränge überhaupt jemand zu finden. Niemand wusste genau, wo Jefrem war, und die Auskunft lautete meistens: „Sieh mal da drüben nach.“ Leider war die Auskunft war bei jedem neuen „da drüben“ die gleiche. Und die meisten arbeiteten ohnehin so konzentriert, dass Valion nicht stören wollte. Die Stimmung war immer noch angespannt, und umso energischer schien sich jeder einzelne auf die Arbeit zu stürzen, als ließe sich die Unruhe damit vertreiben. 

Auf seiner Suche umrundete Valion das große, zerstörte Zelt und betrachtete die Verheerung, die das Feuer angerichtet hatte. Obwohl das Skelett, das die Zeltplanen getragen hatte noch mehr oder minder stand, wirkte es instabil. Versengter Stoff flatterte traurig im Wind oder hing immer noch tropfend an verkohltem Holz. Der Boden war von den Massen an Löschwasser schlammig aufgeweicht.

Valion hatte das Zelt gerade halb umrundet, als ihm Marceus ins Auge fiel. Mit in die Seiten gestützten Armen stand er da und rief jemand, der in den Ruinen des Zeltes hantierte einige Worte zu, die über dem allgegenwärtigen Lärm unverständlich waren. Valions Herz machte einen schmerzhaften Satz, als er ihn sah, nur um dann wie verrückt zu schlagen. Er fühlte sich sofort verlegen, und das Schlimmste war, dass er nicht einmal wusste, ob Marceus sich freuen würde ihn zu sehen. Seit gestern hatten sie schließlich kein Wort mehr miteinander wechseln können.

Zaghaft ging er auf Marceus zu, und er konnte nicht anders, als ihn dabei die ganze Zeit anzustarren. Wo hatte er die letzten Tage überhaupt seine Augen gehabt? Immerhin hatte er Marceus noch vor Jan wirklich kennen gelernt, und auch auf Anhieb gemocht. 
Aber anscheinend hatte er bis heute völlig übersehen, wie gut aussehend Marceus wirklich war, selbst in seiner eher abgerissenen Kleidung, die rußig und mit Schlamm bespritzt war. Die breiten Schultern, das dunkle Haar, die starken Arme, die vollen Lippen, die trotz seiner Konzentration ein leichtes Lächeln zeigten… einfach alles an ihm wirkte anziehend auf Valion. Und dieser Anziehung auf dem Fuße folgte das schlechte Gewissen und die Verwirrung, alle noch so stark und frisch wie am vorigen Tag. Fast hätte er sich umgedreht und das Weite gesucht, weil ihm nicht ein sinnvoller Satz einfiel, den er zur Begrüßung hätte sagen können. 

Reiß’ dich zusammen, schalt er sich selbst, du bist hier um beim Arbeiten zu helfen, und für sonst nichts. Sag’ einfach Hallo. Grimmig ignorierte er sein klopfendes Herz.

Marceus rief gerade laut „Ihr könnt anfangen!“ zum Zelt hinüber, als er bemerkte, dass Valion neben ihm aufgetaucht war. Er schien erst überrascht, und dann verlegen zu sein. „Oh, hallo“, sagte er knapp, wandte sich dann aber gleich wieder ab, um konzentriert geradeaus zu starren. Aber dass Valions Auftauchen ihn aus dem Konzept brauchte, konnte er nicht verbergen. Er biss sich unsicher auf die Unterlippe, und die Röte auf seinen Wangen war fast unmerklich - aber eben nur fast.

Die Möglichkeit, sich einfach zusammen zu reißen, rückte für Valion schlagartig in weite Ferne. „He-“, begann er, und seine Stimme war plötzlich so heiser, das er sich räuspern musste. „Ich bin zum Helfen da.“ Marceus nickte, sah ihn aber immer noch nicht an und blickte weiter konzentriert gerade aus. „Gut, es gibt auch einiges zu tun. Aber jetzt ist es gerade-“ „Hör zu, wegen gestern-“, begann Valion unvermittelt, und weil Marceus immer noch gerade aus sah, stellte er sich einfach direkt in sein Blickfeld.

Nur, dass Marceus das gerade gar nicht zu passen schien. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt um-“, begann er nervös, aber Valion wollte sich nicht abwimmeln lassen. „Ich wollte nur sagen, dass-“ — „Ja, aber nicht- pass auf!“

Bevor Valion überhaupt verstand, was passierte, legte sich eine von Marceus Händen auf seinen Rücken und die andere auf seine Schulter, und er zog ihn zwei Schritte mit sich. Völlig überrumpelt stolperte Valion direkt in seine Arme und außer Reichweite. Er spürte nur einen Luftzug in seinem Rücken, hörte Knirschen und Splittern, und dann landete direkt hinter seinen Füßen, genau an dem Fleck, an dem er eben noch gestanden hatte, etwas mit so viel Wucht auf dem Boden, dass Matsch hoch spritzte. „Ich sagte doch, das ist nicht der richtige Zeitpunkt“, sagte Marceus und grinste schief zu ihm herunter. 

„He, alles in Ordnung?“, brüllte eine Stimme hinter ihnen, die Valion vage bekannt vorkam, aber er nahm sie nur am Rande war. Er war viel zu abgelenkt davon, dass Marceus Hand immer noch auf seinen Rücken lag, und er sich immer noch unbeholfen an ihn klammerte. Marceus war warm, und Valion konnte seinen Herzschlag spüren, ein wenig schneller als normal. Vielleicht weil sie sich beide erschrocken hatten. Oder weil sie sich immer noch aneinander fest hielten. Aus der Nähe sah er noch besser aus. Und er roch gut. Wenigstens stand jetzt für Valion außer Frage, warum er ihn gestern geküsst hatte; die Frage war eher, warum er das nicht schon viel eher getan hatte.

Und wenn du ihn nicht gleich los lässt, kannst du auch gleich eine öffentliche Kundgebung abhalten, stellte sein Verstand spöttisch fest, und hastig trat er einen Schritt zurück und wäre fast über den Großteil der Dachkonstruktion gestolpert, die nur wenige Zentimeter hinter ihm zu Boden gestürzt war. Ohne mit der Wimper zu zucken griff Marceus wieder zu und hielt ihn an der Hand fest, sodass er nicht fiel.
 
„Das war knapp“, sagte er halb erschrocken, halb amüsiert über Valions verdutzten Blick. „Du musst aufpassen, hier ist alles instabil, und die Planen sind klatschnass und verdammt schwer. Das da wäre uns beim Abbau vermutlich alles auf den Kopf gefallen.“ „Also habt ihr es einfach gleich einstürzen lassen?“, fragte Valion mit einem skeptischen Blick auf das Wirrwarr von gesplitterten Holz und verkohlten, nassen Stoff. „Ja, und ich sollte verhindern, dass sich jemand direkt drunter stellt. Wie du zum Beispiel.“ „Tut mir leid“, sagte Valion kleinlaut, aber Marceus lächelte nur. „Schon gut.“ 
Einen Moment schwiegen sie. Marceus hielt immer noch Valions Hand fest, und er machte keine Anstalten sie los zu lassen. „Also, wegen gestern…?“, fragte er zaghaft. Und Valion hätte fast, völlig ohne Nachzudenken, angefangen zu reden. Es war ihm plötzlich egal, wer zuhörte, oder wer sie sah, wie sie sich an den Händen hielten, oder irgendwelche Schlüsse daraus zog. 

Im nächsten Moment wurden sie fast von einem der Pferdeknechte über den Haufen gerannt, der wie der Blitz zu ihnen gelaufen war. „Himmel, ich frage, ob ihr in Ordnung seid, und ihr antwortet nicht?“, fragte er gereizt und umrundete die herab gestürzten Dachgerüste mit einem prüfenden Blick, bevor er Marceus fixierte. Der ließ vor Überraschung reflexartig Valions Hand los.
 „Tut mir leid Danilo, ich-“ „Egal. Euch hat nichts erwischt, oder?“, fragte Danilo, und gab sich erst zufrieden, als Marceus den Kopf schüttelte. „Na gottseidank… so was wie damals können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen.“

Valion hätte beinahe zu einer Frage angesetzt, was er damit meinte, aber Marceus schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. Frag nicht. Lange, lange Geschichte.

Die Gewissheit, dass niemand zu Schaden gekommen war, schien Danilo jedenfalls sichtbar zu entspannen. „Schön, dann bauen wir jetzt den Rest ab. Der ist stabiler, da kann weniger schief gehen“, sagte er, bevor sein Blick wieder auf Valion fiel und er ihn kurz und eindringlich musterte, als wollte er ihn einschätzen. Sein Urteil schien nicht besonders positiv auszufallen, denn als er sich wieder an Marceus wandte, klang er wieder gereizt. 

„Und was ist mit ihm?“ „Das ist Valion. Er-“, versuchte Marceus zu erklären, aber er wurde unwirsch unterbrochen: „Ist er nur zum Zuschauen da?“ „Eigentlich soll ich- ich meine, ich wollte helfen“, warf Valion ein. Noch ein kritischer Blick, der abschätzend zwischen ihm und Marceus hin und her wanderte. Valion fragte sich einen Moment lang, woher er diese Art von Musterung kannte, aber zuerst fiel es ihm nicht ein. 

Stattdessen ließ er sich stumm und ein wenig ärgerlich erneut taxieren, als wäre er ein besonders gut verkleideter Verbrecher, der seiner Enttarnung harrte. Er versuchte, möglichst ungerührt zurück zu starren, aber an Danilo gab es nicht viel zu sehen. Er hatte dunkle, kurz geschnittene Haare und war nur ein wenig größer als Marceus, seine Haut eine Nuance heller, und er war eher sehnig als muskulös. Vermutlich war er ein paar Jahre jünger als Jefrem oder Mischa, aber Valion konnte sein Alter schwer einschätzen.

Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit der misstrauischen Musterung, nickte Danilo und sagte: „Na schön. Wir könnten noch jemand gebrauchen, der am Dach arbeitet. Da kommt ein halbes Hemd wie du uns gelegen.“
Sehr schmeichelhaft, dachte Valion sauer, aber er nickte nur, und endlich bedeutete Danilo ihm, dass er ihnen folgen konnte. Sie drängten sich zwischen den anderen Dienern und Knechten hindurch, die inzwischen damit begonnen hatten, das eingestürzte Dach auseinander zu nehmen, und stießen zu zwei anderen Männern, die ihre Ankunft schon erwarteten.

Einen der beiden erkannte Valion sofort: Mischa, der hünenhafte Mann, der ihn erst vorhin abgeholt hatte. Er trug jetzt ein großes Holzbeil, mit dem er vermutlich den maroden Teil des Zeltdaches zum Einsturz gebracht hätte, auch wenn er das vermutlich auch mit einer Hand geschafft hätte; das Beil wirkte in seiner riesigen Faust wie ein Spielzeug.
Der zweite war von Größe und Statur das genaue Gegenteil von Mischa; klein und schlank, mit einem runden Gesicht, wirkte er neben dem riesigen Knecht noch einmal wesentlich jünger, als er vermutlich war. Vielleicht lag das aber auch an seinem breiten, spitzbübischen Grinsen; als er bemerkte, dass Valion zu seinen Kameraden gestoßen war, fragte er amüsiert: „Oha, haben wir Verstärkung bekommen?“ „Das ist Valion“, kam Danilo jeder Erklärung zuvor und wechselte einen Blick mit den beiden Knechten. Valion konnte ihn nicht deuten, vielleicht abgesehen davon, dass er nicht sonderlich begeistert von seiner Anwesenheit war. „Er soll uns bei der Arbeit helfen. Hat Jefrem sich ausgedacht.“ 

Das schien sowohl eine unumstößliche Tatsache als auch ein Grund für weitere Blicke zu sein. Der zweite Mann warf einen Blick zu Mischa, der mit den Schultern zuckte, und grinste dann Valion an. „Gut. Ich bin Viljo. Am besten arbeitest du mit Marceus, ich denke, ihr seid noch am besten eingespielt. Los, wir haben zu tun.“ Und damit schien alles gesagt; vorläufig zumindest.

Sie begannen damit, die andere Hälfte des Zeltdachs, ein Gewirr von Stangen und nassem Stoff, auseinander zu nehmen. Tatsächlich war Valion froh, dass er nicht besonders groß und schwer war, denn die meiste Zeit stand er tatsächlich auf Marceus Schultern, auch wenn der felsenfest behauptete, es würde ihm nichts ausmachen. Die Arbeit war hart, und die triefend nassen Planen schmutzig und schwer, und in ihrem zerrissenen und löchrigen Zustand kaum von ihrem Gestänge zu lösen. 
Neben ihm arbeitete Viljo, der seinerseits die meiste Zeit auf den massigen Schultern von Mischa stand. Was sie vom Dach abbauten, wurde am Boden sofort sortiert, das noch Verwendbare beiseite gelegt, was zu beschädigt war auf einen Haufen geworfen. Um sie herum arbeiteten andere Knechte, sammelten Gegenstände ein, nasse Kleidungsstücke, angesengtes Papier, Gebrauchsgegenstände. Der Haufen, auf dem sich der Abfall sammelte, war deutlich größer. 

„Wenn wir Glück haben, kriegen wie am Ende aus den Resten noch ein sehr niedliches, kleines Zelt raus“, meinte Viljo, als wieder ein Großteil von dem, was er mit Valion abgebaut hatten, sofort beim Abfall landete. „Solange es dann nicht nur halb so hoch ist“, warf Marceus grinsend von unten ein, und Viljo, der die 1,60m nur in Schuhen mit dicken Sohlen und viel gutem Willen erreichte, stieg sofort darauf ein. „Dann wird es mein Zelt“, meinte er, „und ihr dürft euch wie bei Karvash anmelden, um mich in meinen Gemächern zu besuchen.“ „Wie denn besuchen? Auf Knien?“, brummte Mischa, dessen borstige Haare schon jetzt fast die Decke des Zeltes streiften. Er trug Viljo so mühelos auf seinen breiten Schultern, dass er nebenbei mit der anderen Hand das Zelt stützte, um es zu stabilisieren.  Viljo feixte. „Für dich lasse ich mir einen Anbau einfallen.“ „Bau dir lieber ein paar ordentliche Stelzen, da hast du mehr davon“, lästerte Danilo von unten, und wich einem heimtückisch von Viljo geworfenen Stück nasser Plane aus, das neben ihm zu Boden klatschte.

So ging es die ganze Zeit; die drei vertrieben sich die Zeit im Gespräch, damit ihnen die Arbeit nicht langweilig wurde. Valion versuchte am Anfang, irgendwie daran teilzunehmen, aber obwohl er nicht direkt ignoriert wurde, war er doch seltsam ausgeschlossen. Die Gespräche liefen meist an ihm vorbei, auch wenn vor allem Viljo und Marceus sich Mühe gaben, ihn nicht außen vor zu lassen. 
Und er wurde weiterhin genau beobachtet, vor allem, wenn er in Marceus Nähe war, was ihn mit der Zeit immer unsicherer machte. Marceus schien es zu bemerken, aber er war sich anscheinend unschlüssig, was er dagegen tun sollte.

„Mögen sie mich nicht?“, fragte Valion irgendwann, als er und Marceus gerade mit Viljos Erlaubnis eine Pause machten und sich das Gesicht wuschen. Das war auch einer der wenigen Momente, in dem sie fast allein gelassen wurde. 
Marceus zuckte unschlüssig mit den Achseln, strich sich durch das verschwitzte Haar. „Ich denke eigentlich… doch? Ich weiß nicht.“ Er sah, dass Valion etwas geknickt war, und legte eine tröstende Hand auf seine Schulter. „Nimm es dir nicht so zu Herzen. Du machst deine Arbeit, das ist das Wichtigste. Und zwar gut.“ 

Valion nickte, und verschwieg wohlweißlich, dass er mit seiner Schulter zu kämpfen hatte und nicht wirklich das Gefühl hatte, hinterher zu kommen. Erst Recht nicht unter Danilos kritischem Blick. Er schien von den drei am wenigsten von ihm zu halten. Aber er wollte sich davon auch nicht die Laune verderben lassen. „Wenigstens sind wir zusammen“, sagte er, und griff zaghaft nach Marceus Hand. Er zog sie nicht weg; stattdessen lächelte er, und der fast unsichtbare Anflug von Röte war zurück. Valion hätte ihn allein dafür wieder geküsst, um sie aus der Nähe betrachten zu können. Kein Wunder, dass sie dich nicht aus den Augen lassen. Du benimmst dich wie ein Trottel, konstatierte der rationalere Teil seines Verstandes, aber er hatte heute bei weitem nicht die Oberhand. 

Aber gleichzeitig musste er feststellen, dass hinter Marceus Lächeln auch Besorgnis lag. Und eine Spur Zurückhaltung und Unsicherheit. „Val-“, begann er. Und noch bevor sie ein weiteres Wort wechseln konnten, wurden sie wieder einmal unterbrochen. 

„He, hier wird nicht gefaulenzt!“, rief Viljo ihnen zu. Er klang durchaus freundlich, aber auch unnachgiebig. Es gab noch genug zu tun, und sie wurden gebraucht. Marceus seufzte und warf Valion einen entschuldigenden Blick zu. „Die Arbeit ruft“, sagte er, und bevor Valion protestieren konnte, wandte er sich schon ab. Er gehorchte aufs Wort, egal was die anderen drei ihm sagten.

Viljo, der Marceus erwartet hatte und bereits im Gehen neue Anweisungen erteilte, warf Valion einen Blick zu, den er schon wieder nicht deuten konnte. Dann wandte er sich ab, und während er mit Marceus weiter ging, wurde Valion wieder überdeutlich bewusst, dass er ausgeschlossen war. In diesem Moment gehörte er nicht dazu. Und obwohl das Gefühl nicht gerade angenehm war, konnte Valion kaum wütend sein. Viljo sorgte sich um Marceus, das war offensichtlich, genauso wie Danilo oder Mischa. Sie kannten ihn schon eine Weile, sie mochten ihn, und es war unübersehbar, dass Marceus zu ihnen auf sah. Man konnte es kaum Freundschaft nennen, eher…

Und plötzlich begriff er. Familie. 

In seinem Kopf klang es merkwürdig, aber es gab überhaupt keinen Zweifel daran. Sie passten auf ihn auf, als wäre er ein Familienmitglied. Vielleicht nicht direkt wie auf einen Sohn, aber doch einen Neffen oder jüngeren Bruder. Und deshalb fühlte er sich auch so fehl am Platz: er gehörte nicht zu ihrer Familie. Er war nur ein misstrauisch betrachteter Freund, ein Fremder.

Und deshalb hatte er sich auch erinnert; er kannte diese strenge Musterung schließlich von beiden Seiten. Er war schon oft kritisch betrachtet worden, vor allem von Nishas oder Varas Vater, wenn er sie zum Spielen abgeholt hatte. Dafür hatten Gevin und Teron den einen oder anderen zweifelnden Blick eingefangen, wann immer sie Valion nach Hause gebracht hatten, vor allem, wenn sie völlig verdreckt, zerzaust und am besten noch mit blutigen Knien zur Tür herein schneiten. Und dazu die bohrenden Fragen, die ihm schon damals peinlich gewesen waren. Was habt ihr vor? Wohin geht ihr? Wann kommt ihr zurück? Macht ihr keinen Unfug?

In ihren Augen war er jetzt also ein neuer Freund, der sich erst beweisen musste.
Oder der Freund.

Blödsinn!, schalt er sich selbst und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass das Unsinn war, aber der Gedanke war hartnäckig. Verdammt, er musste mit Marceus reden, und zwar bald. Er war dabei, sich völlig in eine Idee zu verrennen, und das-

„Hallo!“ Zwei zarte, schmale Hände legten sich auf seine Schultern, und er zuckte erschrocken zusammen und drehte sich auf dem Absatz herum. Im ersten Moment war er sich sicher, dass Anya ihn angesprochen haben musste; der Tonfall, die Modulation, alles passte aufs Haar genau, auch wenn die Stimme sonst völlig anders klang.

Doch die Frau, die ihn angesprochen hatte und jetzt anlächelte, war deutlich jünger als Anya; sogar nur ein paar Jahre älter als Valion. Ihre teure Kleidung, die gerade Haltung und das aufwendig frisierte Haare ließen sie wirken wie eine Puppe. All das hätte fast darüber hinweg getäuscht, dass auch sie in dieser Nacht vermutlich nicht viel Schlaf bekommen hatte; die dunklen Schatten unter ihren Augen hatten sich nicht vollständig überschminken lassen.

„Hallo“, sagte er völlig perplex, und schwieg, weil er keinen blassen Schimmer hatte, was er sonst sagen sollte. Das musste er allerdings auch nicht, weil die junge Frau vor ihm es ganz genau wusste. „Ich heiße Josce“, erklärte sie heiter, in einem Plauderton, der gut in einen Ballsaal gepasst hätte, aber in den verkohlten Ruinen eines Zeltes eher fehl am Platz wirkte. „Du musst ein neuer Sklave sein. Ich habe dich noch gar nicht zu Gesicht bekommen, also dachte ich, ich stelle mich vor. Ich bin doch immer auf der Suche nach neuen Freunden.“ Sie zwinkerte kokett, trat einen weiteren Schritt an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter. 

Valion hätte lügen müssen, wenn er behauptet hätte, dass sie nicht hübsch war. Aber das erste was ihm in den Sinn kam war, sie mit Anya zu vergleichen. Das war unvermeidlich, wenn sie sich so offensichtlich wie sie verhielt. Und egal ob sie das realisierte oder nicht, Josce reichte kaum an Anyas natürlichen Charme heran, auch wenn sie sich anscheinend redlich bemühte, ihn nachzuahmen. Alles an ihr schrie nach einer verzweifelten Kopie. Er fühlte sich eher versucht, ihr einen Hinweis zu geben, was sie besser machen konnte.

Und dann war da natürlich die Tatsache, dass sie nicht gerade allein waren. Die Hektik und der Trubel waren inzwischen etwas zurück gegangen, und sie standen ein wenig am Rande des Geschehens, aber der eine oder andere warf ihnen bereits neugierige Blicke zu. Verzweifelt sah er sich nach Marceus und Viljo um, aber beide waren aus seinem Blickfeld verschwunden und konnten ihn nicht loseisen.

Notgedrungen versuchte er höflich zu sein. Immerhin wusste er noch nicht, was Josce eigentlich von ihm wollte. „Ich heiße Valion“, sagte er, und Josces Lächeln vertiefte sich. „So ein schöner Name“, zwitscherte sie, und trat einen weiteren Schritt näher. 
Er war fast versucht, zurück zu treten, und gleichzeitig wollte er ihr nicht zeigen, dass ihm diese Nähe unangenehm war. Also stand er nur verkrampft da, während Josce sagte: „Ein schöner Name für einen schönen Mann. Und du hast so aufopferungsvoll mitgeholfen, mein zerstörtes Heim zu retten.“ „Das war dein Zelt?“, fragte er, froh endlich irgendein Gesprächsthema gefunden zu haben, und sie seufzte. „Ja, hier habe ich gewohnt, zusammen mit meinen Freundinnen und meinem… Gefährten.“ Sie drückte sich bewusst vage aus, aber etwas in Valions Gehirn rastete trotzdem ein.

Gael Karvash. Angeblich hat er drei Ehefrauen.

„Du bist eine von Karvashs Frauen“, sagte er, und bevor sie ihr strahlendes Lächeln zu einem niedlichen schmollenden Gesicht verwandelte, zeigte sich nur einen Sekundenbruchteil Wut in ihren Zügen; das äquivalent verräterisch zuckender Mundwinkel, nur nicht annähernd so charmant. „Nun ja, Gael und ich sind nicht wirklich verheiratet“, wich sie aus, „Ich meine, das ist auch nicht, wie sagt man, legal. Und eigentlich bin ich nur bei ihm, weil ich ja sonst nirgendwo anders hin kann.“

„Das tut mir Leid“, sagte Valion, weil er wirklich nicht wusste, was sie von ihm erwartete. Oder besser, er wusste es, er verstand nur nicht, warum. Sie wollte seine Aufmerksamkeit, egal wie, und statt sich auf eine Möglichkeit zu konzentrieren, schien sie einfach alles gleichzeitig auszuprobieren. 

Nur stellte sie sich dabei derartig stümperhaft an, dass er nicht einmal misstrauisch wurde. Anya oder Jadzia waren vielleicht undurchschaubar, aber Josces Ambitionen waren es nicht, und wenn sie versucht hätte ihn irgendwie aufs Kreuz zu legen, hätte er das vermutlich im selben Moment erkannt.  Und das Sonderbare war, dass sie ihm dadurch mit jeder weiteren Minute langweiliger erschien. Er hätte Anyas unberechenbare Gesellschaft jederzeit ihrer vorgezogen. Er sah sogar mit absoluter Klarheit voraus, dass Josce ihre Hand heben und seine Wange streicheln würde. Das wäre das gewesen, was Anya getan hätte, wenn sie wirklich Aufmerksamkeit wollte, also versuchte Josce das ebenso.

Deshalb fing er ihre Hand mitten in der Luft ab, als sie sie erst halb gehoben hatte, und schob sie weg. „Ich sollte jetzt weiter arbeiten“, sagte er, drehte sich um und ging. Er wartete nicht einmal ab, ob sie wütend werden würde.

Nun, das wurde sie nicht, stattdessen folgte sie ihm. „Warte doch! Ich möchte dich besser kennen lernen!“, protestierte sie, während sie hinter ihm her eilte. „Ich dich aber nicht“, murmelte er halb laut und beschleunigte seinen Schritt noch.  Dummerweise schüttelte er sie damit nicht ab, im Gegenteil, sie schien noch entschlossener, ihn nicht entkommen zu lassen. Er betete stumm, dass er Marceus über den Weg laufen würde, Viljo oder sogar Danilo, aber an was sie auch immer jetzt arbeiteten, er bekam sie nicht zu Gesicht.
Immer mehr neugierige Augen konzentrierten sich auf sie, während er vor Josce floh, und fast war er versucht zu glauben, dass sie das beabsichtigte. Aber nein. Sie war sich eindeutig nicht bewusst, was sie da anrichtete.

Fast hätte er sich entschlossen, sich umzudrehen und ihr noch deutlicher zu sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte, als er Anya erspähte. Sie schlenderte gerade mit den beiden anderen Ehefrauen von Karvash über die Baustelle, und sie schienen über die Schäden zu sprechen. Ohne weiter zu zögern steuerte er auf sie zu und platzte in ihr Gespräch, indem er sich direkt vor Anya hin pflanzte.

„Ich muss mit dir reden!“, sagte er mitten in ihr verblüfftes Gesicht, und formulierte danach stumm mit den Lippen und zur Seite verdrehten Augen: „Rette mich!“ 
Ihm hinterdrein folgte Josce, inzwischen ein wenig außer Atem, weil sie nicht annähernd so lange Beine hatte und ihr Rock ihre Geschwindigkeit verringerte. „Ich will doch nur-“, setzte sie gerade an, sah, wem sie da unfreiwillig begegnet war, und verstummte abrupt. „Oh. Anya“, sagte sie schließlich, von einem Moment auf den anderen nicht einmal mehr vorgespielt charmant. Anyas Blick irrte einen Moment unentschlossen zwischen Valion und Josce hin und her, als versuche sie zu verstehen, welches Drama ihr da eben aus heiterem Himmel vor die Füße gefallen war.

„Da bist du ja, Valion“, sagte sie schließlich und zwinkerte ihm zu. „Ich wollte dich gerade rufen, ich habe ebenfalls noch etwas mit dir zu besprechen. Unter vier Augen natürlich, also schlage ich vor, dass du mitkommst.“ „Aber wir haben gerade-“, versuchte Josce gegen zu halten, aber weit kam sie damit nicht, weil sich eine von Karvashs Frauen einmischte. 
„Und ich wüsste gern, wo du gewesen bist, Josce“, sagte sie sehr leise, und hustete wieder krampfhaft in ihr Taschentuch. „Das geht dich überhaupt nichts an, Adaliz!“, fauchte Josce beleidigt, „Ich bin hier keine Gefangene! Ich gehe, wohin ich will!“ - „Ja, aber nicht allein! Es ist gefährlich, das sollte dir nach letzter Nacht doch klar sein!“, mischte sich die andere ein, und nickte Anya auffordernd zu, dass sie gehen konnte. 
„Komm, wir mischen uns hier besser nicht ein“, flüsterte sie Valion leise zu, und er ließ sich sanft von ihr beiseite schieben. Sie machten sich auf den Weg, und das letzte, das Valion von dem Wortgefecht hinter ihnen hörte, war ein wütendes „Ich brauche niemand, der-“ von Josce, dann waren sie außer Reichweite.
 
Ein paar Schritte gingen sie schweigend nebeneinander, bis Anya wieder das Wort ergriff. „Also, was war da los? Was hast du mit Josce zu schaffen?“ Das war eine verblüffend normale und wenig boshafte Frage. Auch sonst schien Anyas aggressive Fröhlichkeit vom Morgen jetzt zu fehlen; vielleicht bedeutete das, dass sie zufrieden damit war, ihm Arbeit aufgehalst zu haben, und die gestrigen Ereignisse damit als ausgeglichen ansah. Aber sicher war Valion sich damit nicht, zumal er keine Ahnung hatte, was sie nun mit ihm besprechen wollte. Bestimmt nicht Josce.

Er zuckte mit den Schultern und antwortete ein wenig säuerlich: „Ich habe nichts mit ihr zu schaffen, ich kenne sie überhaupt nicht!“ „Nun, da schien sie anderer Ansicht zu sein“, wandte Anya ein, und sie musterte ihn aufmerksam, vermutlich um zu erkennen, ob er sie anlog. Nun, das tat er nicht. „Ich habe keine Ahnung, warum“, protestierte er. „Sie war einfach plötzlich da und hat auf mich eingeredet.“ „Hm“, war der nachdenkliche Kommentar von Anya dazu, dann hielt sie vor einem kleinen Zelt inne, das offensichtlich ihr Ziel gewesen war. Sie ging jedoch nicht hinein, sondern wandte sich ihm zu, musterte ihn noch einmal, bevor sie nickte. 

„Gut, ich glaube dir, aber wenn das so ist, solltest du ihr vermutlich aus dem Weg gehen. Wer weiß, was sie vorhat…“ Sie verstummte, aber nicht abrupt - ihre Gedanken schienen einen Moment einfach wegzudriften, und sekundenlang starrte sie nur abwesend ins Leere, an Valion vorbei. Erst in diesem Moment wurde offensichtlich, wie todmüde sie sein musste, und wie überzeugend sie schon die ganze Zeit vor spielte, dass sie wach und aufnahmefähig war. Ihre eiserne Selbstbeherrschung hielt sie aufrecht und ihre Augen offen, und obwohl Valion sich dagegen wehrte, empfand er wieder Respekt für sie. Wenn sie eines war, dann zäh.

Von einem Moment auf den anderen schien sie ihre Konzentration zusammen zu raffen, und als sie sich wieder Valion zu wandte, war sie zurück bei ihrer wachen, aufmerksamen Fassade. „Du solltest generell darauf achten, mit wem du dich hier abgibst. Ich muss dir ja hoffentlich nicht erklären, dass es für einen Sklaven, selbst für dich, keine gute Idee ist, allzu oft mit der jungen Frau eines anderen Mannes gesehen zu werden?“ „Aber mit dem Mann einer anderen Frau schon?“, fragte er schneidend, und ärgerte sich im gleichen Moment, dass er schon wieder so wütend auf sie wurde. Diesmal lag es nicht einmal an ihr; ihre Worte hatten ihn nur gerade schmerzhaft daran erinnert, dass er diese Predigt schon gehört hatte, ganz am Anfang dieser Reise, von Tarn. Und sie hatte ihm einerseits nichts genützt, und andererseits stand er jetzt ausgerechnet mit Anya auf einem besseren Fuß als mit Tarn. Er konnte die aufwallende Enttäuschung nur mühsam herunter schlucken. 

Anya schien etwas davon in seinem Gesicht zu lesen, denn obwohl ihre Mundwinkel wieder zuckten, diesmal nicht zu einem Lächeln, sondern eher in die andere Richtung, ging sie nicht auf die Provokation ein. „Ja, und ich sage dir auch warum: Wenn ich schwanger werde, ist das ganz allein mein Problem. Wenn Josce schwanger wird, hat Gael einen Bastard am Hals. Ganz davon abgesehen, dass er sie verstoßen könnte, könnte er außerdem darauf aus sein, sich an dir zu rächen. Betrogene, wütende Ehemänner sind hässliche Kreaturen, das kann ich dir sagen.“

Etwas an der Art wie sie das sagte ließ ihn aufhorchen. Ihr Blick und ihr Ausdruck waren noch ernster als zuvor, als wüsste sie genau, wovon sie sprach, und er war versucht sie zu fragen, was sie damit meinte. Und gleichzeitig wusste er, dass es ihr nicht bewusst war, dass sie etwas von dieser Gefühlsregung nach außen durchscheinen ließ. Wäre sie ausgeschlafen gewesen hätte er nichts davon bemerkt, sie hätte es verborgen. Und hätte er sie jetzt gefragt, hätte sie wahrscheinlich alles abgestritten.

„Aber genug davon, wir lassen deinen Freund warten“, sagte sie, und trat in das Zelt, und er folgte ihr verwirrt. Wen meinte sie mit-?

Oh.

Das Innere des Zeltes war eher klein und spärlich ausgestattet, aber Valion kam auch gar nicht dazu, sich weiter umzusehen. Einerseits, weil Marceus vor ihm stand und unbehaglich mit den Füßen scharrte. Auf der anderen Seite, weil Jefrem neben ihm stand und eine ernste Mine aufgesetzt hatte. 

Jefrem wandte sich sofort Anya zu, und Valion wartete regelrecht darauf, dass sie anfangen würde, ihn in ihrer gewohnten Art um den Finger zu wickeln, aber er wartete vergebens. Die beides begrüßten sich wie zwei Generäle auf dem Schlachtfeld, ernst und würdevoll, mit einem erkennenden Kopfnicken. „Das sind wir”, sagte Anya, und Jefrem antwortete: „Gut.“ Mit ernster Miene betrachtete er Marceus und Valion, die in düsterer Vorahnung ebenfalls einen Blick tauschten. „Dann reden wir jetzt mal über euch beide.“

Auch das noch.

Etwa eine halbe Stunde später waren Valion und Marceus dem Kreuzverhör entkommen und bewaffnet mit einem sehr späten Mittagessen. Sie hatten die ausdrückliche Anweisung, sich eine Weile auszuruhen und über alles nachzudenken, und obwohl Valion sich innerlich dagegen sperrte, war er doch genauso in Gedanken versunken wie Marceus.

Sie saßen nebeneinander im Schatten eines Wagens, den Rücken bequem angelehnt, abseits des Trubels und unbeobachtet, und kauten jeder stumm auf ihrem Essen. Marceus brachte dem mehr Enthusiasmus entgegen als Valion und vertilgte auch bereitwillig die Reste, die ihm herüber gereicht wurden; Valion hatte kaum Hunger.
Ungefragt hatten sie zu ihrer Ration sogar jeder einen Apfel erhalten, von einer älteren Dienerin. Das eingebrannte E auf ihrem Handgelenk, das Valion schon reflexhaft gesucht hatte, hatte ihm bestätigt, dass sie Marceus vermutlich schon länger kannte und ihm deshalb etwas extra gab. Valion wurde langsam besser darin, zu unterscheiden, wer zu wem gehörte, die kleinen Allianzen zu überblicken. Wer zusammengehörte, schien selbst in der Lagersituation zusammen zu bleiben, selbst wenn Diener bei Dienern und Wächter bei Wächtern blieben.

Unentschlossen drehte Valion den Apfel in Händen, während er überlegte, welche Position die neuen Sklaven in all dem einnahmen. Nicht die Arbeitssklaven der Menschenhändler, die unter den freien Knechten und Dienern nicht auffielen und im Hintergrund verschwanden. Nicht er, oder Jadzia oder Anya, denn sie hatten einen Sonderstatus, und ironischerweise mit den anderen Sklaven nie zu tun. Er dachte an die in den Käfigen zusammen gepferchten Menschen, von denen er sich fern hielt, obwohl er zu ihnen gehörte. Und den unüberbrückbaren Abstand zwischen ihm und den anderen Menschen um ihn herum. Jefrem hatte ihn mehr als deutlich hervor gehoben.


„So… ihr zwei“, hatte er gebrummt, und die massigen Arme verschränkt. Valion kannte diese Geste von seinem Vater, und Marceus war sie wohl von Jefrem gewohnt, denn sie sahen beide betreten auf ihre Füße. Das sah nach einer Standpauke aus, oder zumindest einem ernsten Vortrag. Das ganze wurde nicht besser dadurch, dass Anya sich an seine Seite stellte. Zumindest schien sie an dieser bevorstehenden Moralpredigt nur insoweit beteiligt zu sein, dass sie alles abnickte.

„Na, jetzt schaut nicht drein wie zwei Verbrecher. Wirklich falsch gemacht habt ihr ja bisher noch nichts. Habe mich, was das angeht, schon umgehört“, fuhr Jefrem etwas weniger streng fort, und sah in Anyas Richtung, die nickte. „Ich hielt es für das Beste, ihn alles wissen zu lassen“, sagte sie, und klang dabei erstaunlich ruhig und neutral. „Die Regeln sind für Valion aufgehoben, aber das heißt nicht-“ „-dass ihr keinen Fehler macht, oder euch nicht Ärger einhandeln könntet“, beendete Jefrem ihren Satz. Anscheinend hatten sie sich ganz genau überlegt, was sie sagen wollten, wie Valions Mutter und Vater, wenn sie ihn wegen irgendetwas zur Rede stellten. Die Ähnlichkeit war geradezu unheimlich. Aber zumindest war damit der Anlass ihres Gesprächs vom Vorabend endlich geklärt. Valion war erleichtert, aber gleichzeitig schämte er sich. Er hatte hinter Anyas Verhalten nach einer Verschwörung gesucht, und stattdessen war die ganze Sache absolut banal gewesen. 

„Außerdem erinnere ich mich, ein paar Regeln aufgestellt zu haben“, fuhr Jefrem erneut fort, und jetzt war sein strenger Blick allein auf Marceus gerichtet. „Und ich denke, du weißt auch, von welcher Regel ich spreche, sonst hättest du bestimmt nicht so ein schlechtes Gewissen. Was habe ich dir eingetrichtert?“ „Sklaven sind Tabu“, murmelte Marceus betreten, „Aber-“ „Kein aber“, sagte Jefrem. „Sklaven-“


-sind Tabu, dachte Valion, während er seinen Apfel in den Händen drehte, und der Satz hinterließ auch jetzt noch, nachdem schon alles ausgestanden war, einen bitteren Nachgeschmack.

Er verstand durchaus, warum Jefrem diese Regel aufgestellt hatte. Anya hatte zwar, immerhin in genau der gleichen Lage, durchaus schlüssig argumentiert, dass sie weder jetzt noch später Gefahr liefen, bestraft zu werden. Aber die Kluft war da. Jefrem hatte es nicht ausformuliert, aber das war auch nicht nötig gewesen.

„Wenn du den nicht isst, kann ich ihn haben?“, fragte Marceus unvermittelt, und ohne zu zögern reichte Valion den Apfel weiter. Er hätte ihn sowieso nur so lange in den Händen gedreht, bis er braun wurde. Stattdessen betrachtete er lieber Marceus, wie er herzhaft hinein biss. Vermutlich würde er das ganze Ding mit nur vier Bissen auch noch verschlungen haben.

Egal, was wir tun, sie werden immer versuchen uns zu trennen, dachte er unvermittelt, und das tat weh. Und gleichzeitig hatte er den Verdacht, dass Marceus das schon vom ersten Moment an klar gewesen war.

Ich bin auch nicht diese Art von Sklave, wie du.

Damals hatten diese Worte Valion verletzt. Aber vielleicht verstand er jetzt besser, was damals schon zwischen ihnen gestanden hatte, ohne dass er selbst es begriffen hatte. Die mahnenden Worte von Jefrem, die schon zu diesem Zeitpunkt Marceus Wahrnehmung beherrscht hatten. Die ihn jetzt vorsichtig sein ließen, und unsicher.

Je länger Valion darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass er sich selbst in eine schwierige Lage gebracht hatte. Er konnte sich Freunde wie Tarn oder Marceus suchen, konnte versuchen Jefrems Vertrauen zu gewinnen oder sich mit Marceus Hilfe sicher auch irgendwann Mischa, Viljo und Danilo als Vertraute gewinnen. Sich einreden, dass Fleurie seine Freundin sein konnte, oder dass er Josce vielleicht irgendwann genug abgewinnen würde, um nicht sofort vor ihr davon zu laufen.

Aber die einzigen, an die er wirklich heran kam und die vielleicht auch an ihn heran kommen würden, waren die anderen Sklaven. Die, die er mied und nicht verstehen wollte. Und vielleicht vor allen anderen Anya.

Anya, der er immer noch nicht traute, obwohl sie immer wieder bewies, dass sie nicht so biestig oder durchtrieben war, wie er dachte. Oder zumindest nicht immer. Sie hatte ihn wieder mit Marceus zusammen gebracht, und sie gezwungen, zusammen zu arbeiten. Hatte mit Jefrem gesprochen, ihm alles erklärt, und sich, zur Krönung des ganzen, am Ende ihres Verhörs auch noch bei Marceus entschuldigt. Aber auch zwischen ihnen lag eine Kluft, und selbst wenn er sie hätte überwinden wollen, er wusste überhaupt nicht, wie er das anstellen sollte. Wie er das mangelnde Vertrauen zwischen ihnen ausgleichen konnte, wenn es nötig war.

 „Willst du wirklich nichts mehr?“, fragte Marceus unvermittelt, und hielt ihm im nächsten Moment den kläglichen Rest des Apfels, vielleicht noch zwei Bissen, unter die Nase. Er schien zu spüren, dass Valion grübelte, und das war vermutlich sein Versuch, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Aber Valion winkte nur ab. „Na gut, dein Verlust“, sagte Marceus mit einem Achselzucken und aß den Rest im Ganzen auf. Nichts blieb übrig, nicht einmal die Kerne. 

Dann strich er sich die Hände am Gras unter ihnen ab und seufzte sehnsüchtig. „Schade, dass wir nur zwei bekommen haben.“ Valion musste trotz seiner schwermütigen Stimmung grinsen. Er hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass Marceus so verfressen war. „Soll ich gehen und behaupten, du hättest mir meinen Apfel geklaut? Vielleicht bekomme ich dann noch einen.“ Marceus setzte ein hoffnungsvolles Gesicht auf, und brachte Valion zum Lachen. „Das war nur Spaß“, sagte er, aber sein Lächeln verblasste im nächsten Moment wieder, als er an die großen Apfelbäume zuhause dachte, und wie wahrscheinlich es war, dass diese Äpfel noch von seinem Zuhause stammten. Einfach alles in seiner Umgebung konnte zur Falle werden, zur Tür zu einer weiteren Erinnerung. Würde das jemals aufhören?

Marceus, der seinen Stimmungswechsel genau beobachtet hatte, fragte verwirrt: „Was ist los?“, und nach einigem Zögern antwortete Valion: „Ach nichts… es ist nur, bevor ich-“ Er stockte. Gefangen genommen wurde, hatte er sagen wollen, aber verbiss es sich. Er wollte nicht daran denken. „-bevor ich hierher kam, hat irgendjemand von euch meiner Familie Äpfel abgekauft. Am ersten Tag. Und immer, wenn ich welche sehe…“ „Oh“, sagte Marceus, der genau zu verstehen schien. „Ja... Ist vermutlich Blödsinn. Es sind sicher nicht mal unsere Äpfel. Aber ich frage mich bei jedem den ich sehe, ob ich es bemerken würde. Heraus schmecken woher er kommt, meine ich.“ Marceus seufzte und sah schuldbewusst aus. „Ich hätte ihn dir lassen sollen. Jetzt ist es zu spät.“

Im nächsten Moment hatten sie beide den selben Gedanken, und sie konnten es im Gesicht des jeweils anderen lesen. Valion öffnete als erstes den Mund, und Marceus schüttelte mit einem Grinsen den Kopf, bevor er auch nur ein Wort gesagt hatte. „Man könnte meinen, wir hätten Jefrem gar nicht zugehört“, sagte er, aber er klang kein bisschen vorwurfsvoll. Und weil Valion ihn immer noch anstarrte, ohne zu wissen, was er sagen sollte, nahm er ihm auch das ab: „Na mach schon.“ „Im Ernst?“, fragte Valion leise nach. „Ja.“

Valion sah die Unsicherheit in seinem Blick. Und noch etwas anderes, das er nicht zuordnen konnte. Und doch konnte und wollte er sich davon nicht abhalten lassen. Er wollte Marceus küssen, selbst wenn er dadurch das Chaos nur verschlimmerte und alles ignorierte, was Jefrem ihnen gesagt hatte. 

„Hört zu ihr zwei, dumm bin ich nicht. Ich kann wohl kaum was ausrichten, wenn ihr euren Kopf durchsetzen wollt“, hatte er zum Abschluss gesagt. „Schlimmstenfalls werdet ihr euch sowieso einfach heimlich treffen. Aber wenn ihr auf meinen Rat hören wollt: Hört auf, bevor es ernster wird. Und macht keinen Wind darum. Verstanden?“ 

Und sie hatten beide genickt und damit signalisiert, dass sie ihn verstanden hatten. Aber es war eine Sache, etwas aus dem Kopf heraus zu entscheiden, und eine völlig andere, sich auch daran zu halten. Und wenn es darum ging, sich von Marceus fern zu halten, hatte Valion keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er beugte sich vor, legte seine Hände auf Marceus Schultern und küsste ihn.

Er schmeckte süß, und vertraut. Natürlich hätte er so nie den Unterschied zwischen irgendeinem Apfel und einem von Zuhause heraus geschmeckt. Aber das war egal, weil es nur ein Vorwand war, und das wussten sie beide. 

Und es war so schön wie beim ersten Mal. Einfach, unkompliziert, ohne Bedingungen oder große Erwartungen. Aber es war auch gefährlich, das spürte Valion deutlich. Alles, was er so verzweifelt aus seiner Wahrnehmung verbannt und fast vergessen hatte, war wieder da. Alles, was er wegen Nisha aufgegeben und tief in sich vergraben hatte. Die Sehnsucht nach Berührung, der Hunger nach Zuwendung.  Vielleicht war alles zu schnell gegangen, vielleicht hätte er Jan von sich fern halten müssen. Nicht, weil es falsch war, sondern weil er ohne zu Zögern diesen verbotenen Teil von ihm berührt hatte. Ohne zu wissen, dass es ihn gab, oder wie ausgehungert er wirklich war. 

Dieser Teil von ihm, der ihn ohne zu zögern die Hand heben und in Marceus dunkles Haar greifen ließ. Der ihn näher zu ihm heran rücken ließ, bis er irgendwie auf seinem Schoß saß. Es erschien ihm wie das einzig richtige, das, was er wirklich wollte. Seine Hände glitten über seine Brust, seinen Bauch, schlangen sich um ihn, erfühlten die Wärme seines Körpers und Anspannung seiner Muskeln. Er berührte seine Wangen, die wieder verräterisch gerötet waren, und versank in seinen braunen Augen. Und er wollte mehr, er wollte alles. Er wollte Marceus. Wenn er gestern daran gezweifelt hatte, jetzt zweifelte er nicht mehr. 

Und er spürte, dass es Marceus nicht anders ging. Sein rasender Herzschlag verriet ihn, genau so wie seine schweren Atemzüge. Und doch war er ruhig, so beherrscht und zurückhaltend, wie Jan niemals gewesen war; Valion wollte sie nicht vergleichen, aber er kam nicht umhin, den Unterschied zu fühlen.

Jan hatte ihn gebrauchte, so verzweifelt wie ein Ertrinkender die Luft zum Atmen. Die Intensität ihrer Begegnung war so stark gewesen, dass es fast beängstigend gewesen war. Jans Liebe und das nach Verlangen nach ihm waren wild, stark, wie ein Sommergewitter, schön und unkontrollierbar; dass es schnell geschehen war, war Teil des Reizes und die Natur der Sache. Alles war zu intensiv, zu absolut, um lange anzuhalten.
Marceus hielt ihn einfach, liebevoll, aber nicht fordernd. Seine großen, rauen Hände strichen langsam, beruhigend über seinen Rücken, warm und beschützend. Und Valion konnte nicht anders als sich auszumalen, wie es sein würde, wenn sie sich liebten. Langsam, und zärtlich, eine schiere Unendlichkeit lang. Die Vorstellung hatte ihren eigenen, unwiderstehlichen Reiz. 

Und obwohl sie so unterschiedlich waren, war sein Verlangen nach ihnen beiden gleich stark. Er hätten nicht lieber mit Jan geschlafen als mit Marceus, und Marceus nicht Jan vorgezogen. Er wollte sie beide, jeden für das, was er war; und tief in seinem Inneren, in dem Teil, der noch nicht begraben war unter den tausenden Regeln für Moral und Anstand, und noch nicht erstickt von bitteren Erfahrungen und all dem, was er gelernt hatte, stellte er dieses Verlangen nicht in Frage.

Und dann, mit einem Mal, völlig unvermittelt, schob Marceus ihn zurück, unterbrach ihren Kuss. Verblüfft starrte Valion ihn an, und der Ausdruck, den er in seinen Augen sah, gefiel ihm nicht. Als hätte er einen Entschluss gefasst, der ihn nicht mit einbezog und von dem Marceus wusste, dass er ihm nicht gefallen würde. „Ich kann das nicht“, sagte er.

Valion hielt inne und sah ihn eine Weile nur an, um sich zu versichern, dass er das wirklich ernst meinte. Auch wenn sein eigener Körper sich hartnäckig weigerte, das zu akzeptieren. Nicht jetzt, nicht so. „Aber warum-“, begann er, aber Marceus ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich kann es einfach nicht. Nicht wenn ich weiß, dass er vielleicht irgendwo da draußen ist und keine Ahnung hat, was hier los ist.“ 

Er sprach von Jan, und das versetzte Valion einen Stich. Warum fing er jetzt davon an? Warum so? Einen Moment zuvor war alles noch in Ordnung gewesen, und bevor er sich zurück halten konnte, hatte er diesen Gedanken laut ausgesprochen. „Eben war das noch kein Problem“, murmelte er gereizt, und Marceus seufzte. „Ja, aber dann… mir ist etwas klar geworden. Könntest du-?“ Auch das noch. Widerwillig erhob Valion sich von Marceus Schoß und ließ sich wieder neben ihn fallen. Der Boden war hart und kalt, und er vermisste die Nähe beinahe augenblicklich. 

„Warum?“, fragte er, aufgebrachter als er wollte. „Warum jetzt? Was ist dir klar geworden?“ Marceus seufzte und strich sich nervös durchs Haar, und Valion wusste gleich, dass ihm die Erklärung nicht gefallen würde. „Es ist nur… hör zu, kann ich dir eine Frage stellen? Auch ohne, dass du gleich wütend wirst?“ Ich bin nicht wütend, wollte Valion protestieren, aber das wäre glatt gelogen gewesen. Er war nicht darauf gefasst gewesen, dass die Dinge so ablaufen würden. Sie waren sich so nahe gewesen, und jetzt, von einem Moment auf den anderen, war Marceus distanziert. Er zwang sich dazu, das wusste Valion; oder vielleicht wollte er auch glauben, dass es so war. 

„Frag’ schon“, sagte er ungehalten, und fügte, als er Marceus zweifelnden Blick sah, etwas milder hinzu: „Ich werde nicht wütend.“ Marceus atmete seufzend aus, und dann fragte er, sehr ernst und sehr neutral: „Wenn wir… ich weiß nicht, zusammen sein würden, denkst du, du könntest darauf verzichten mit mir zu schlafen? Bis wir wirklich sicher wissen, was mit Jan ist?“ 

„Was?“ Das war das einzige, das Valion im ersten Moment heraus brachte. Er verstand die Worte, aber er wusste überhaupt nicht, wie er sie sortieren sollte. Wozu?, wollte er fragen. Warum? Wie kam Marceus auf eine derartige Frage? Was hatte das mit dem ganzen Rest zu tun? Und gleichzeitig war ihm klar, dass Marceus alles von seiner Antwort abhängig machte. Und dass er nicht gewinnen konnte. Er wollte mit ihm zusammen sein. Nicht weniger oder anders als mit Jan. 
Und Marceus hielt das für falsch. Wenn er mit einem Nein antworten würde, würde es hier enden. Einfach so, nur, weil er ihm nahe sein wollte. Und gleichzeitig wussten sie beide, dass er gelogen hätte, wenn er dieses Versprechen gegeben hätte. Er wollte ihn nicht einmal jetzt loslassen, wie hätte das mit der Zeit besser werden sollen? Und vermutlich war der Kuss nur dazu da gewesen, um ihnen beiden genau das bewusst zu machen. Nur dafür hatte Marceus sich erlaubt ihn noch einmal so nahe an sich heran zu lassen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass Valion mehr wollte, und er selbst nicht. Etwas in Valions Inneren zuckte schmerzerfüllt zurück, ballte sich furchtsam zusammen, unter der Last dieses Urteils. 

„Muss ich darauf antworten?“, fragte er, und verdammt, er hatte versprochen, nicht wütend zu werden, aber jetzt war er es trotzdem. Er fühlte sich innerlich kalt, und wund. „Nein“, sagte Marceus, und jetzt sah er bekümmert aus. „Hör zu, ich mag dich, aber das hier ist einfach… falsch. So können wir das nicht anfangen.“ „»So«? Wie denn »so«?“, fragte Valion heftig. „So beliebig. Als würdest du nur Jan gegen mich austauschen.“ 

Die Worte hätten nicht so weh tun dürfen. Aber sie trafen Valion mit voller Wucht, und ihnen auf dem Fuß folgten die Erinnerungen. Die ganze Geringschätzung, die Enttäuschung. Genau deshalb hatte er alles fallen lassen, alles in sich vergraben. Hatte aufgehört, sich auch nur Nähe zu wünschen, nur um dieses Gefühl der Scham und der Wertlosigkeit nicht spüren zu müssen. Hatte geschwiegen, alles abgeschnitten.

Sei nicht traurig, du hast ja noch die anderen. Die müssten dir doch genügen.

Da du anscheinend jedem beliebig zu Willen bist…

Aber das war nicht, was er empfand. Seine Gefühle waren nicht beliebig. Er liebte nicht zufällig, oder weniger stark, und die Menschen, die er liebte, waren nicht austauschbar für ihn. Für ihn war das völlig klar. Für den Rest der Welt war es eine Lüge.

Er kam stolpernd auf die Füße. Weg. Er wollte nur weg. Er konnte das nicht alles noch einmal durchstehen; sich noch einmal alles anhören, und im Inneren verzweifeln. Aber bevor er auch nur einen Schritt weit gekommen war, war Marceus schon aufgesprungen, und griff nach seiner Hand. Er zog sie hastig weg. „Lass das!“, fauchte er ihn an, und Marceus ließ seine Hand sinken, aber er stellte sich ihm trotzdem in den Weg. „Warum willst du jetzt abhauen?“, fragte er, und Valion spürte, wie die aufsteigenden Tränen ihm die Luft abschnürten. „Wozu soll ich denn bleiben? Du hast mir gesagt, was du von mir hältst. Ich habe dich verstanden, und das wars.“ „Ich glaube eher, du hast alles falsch verstanden“, sagte Marceus bekümmert, und vorsichtig griff er noch einmal nach Valions Hand. Und diesmal zog er sie nicht weg.

Vielleicht lag es an seinem Blick. Oder auch nur daran, dass Valion ihm bisher immer alles hatte sagen können, egal was es war. Die Worte waren einfach da, in einem einzigen, langen Wortschwall. „Du bist nicht einfach nur ein Ersatz für Jan! Und das wärst du auch nie gewesen! Und ich hab es so satt mich jedes Mal dafür rechtfertigen zu müssen! Ich hab mir das doch nicht ausgesucht!“ 

Er atmete zitternd aus, und er wehrte sich nicht, als Marceus sich ihm näherte, ihn umarmte. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Und so, wie du alles verstanden hast, habe ich es nicht gemeint“, sagte er langsam, und mit ruhiger Stimme. Und Valion glaubte ihm. Zumindest, dass er ihn nicht hatte verletzen wollen. Und er brauchte ihn, das wurde ihm klar. Als Freund noch viel mehr als Geliebten, als Zuhörer und als Halt. Als einzige Person, mit der er über Jan sprechen konnte. 

Jan.

„Ich vermisse ihn“, flüsterte er, „Ich wünschte, ich könnte mit ihm reden. Ihm alles erklären.“ „Ich weiß. Mir wäre es auch lieber, er wäre jetzt hier“, antwortete Marceus. „Ich kenne ihn kaum, und ich kann ihn jetzt schon nicht besonders leiden, aber zumindest könnte ich mich dann entschuldigen.“ „Wofür denn?“, fragte Valion, und Marceus schnaubte leise und amüsiert. „Dass ich ihn angelogen habe. Ich habe ihm immerhin gesagt, ich würde ihm nicht den Freund ausspannen.“ Das war komisch, und gleichzeitig bitter. Obwohl es wehtat, muss Valion trotzdem lächeln.„Denkst du, du würdest uns einfach auseinander bringen?“, fragte er, und bereute es im gleichen Moment, bis Marceus leichthin antwortete: „Ich? Nein. Und das macht mir eigentlich auch gar nichts aus. Nicht der einzige zu sein.“ Er pausierte kurz, und als er weiter sprach, klang er wieder ernst. „Aber ich bin nicht sicher, ob es Jan etwas ausmachen würde, und du bist es doch auch nicht. Wir machen das nicht hinter seinem Rücken aus. Nicht, ohne zu wissen, was er dazu sagt. Alles andere wäre-“ „-falsch. Ich weiß“, beendete Valion den Satz für ihn, und Marceus nickte. „Warte ab. Wir werden sehen, ob wir etwas von Jan hören. Und es würde mich wundern, wenn nicht.“ 

Valion nickte stumm. Letztendlich blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, auch wenn er wünschte, es hätte eine Alternative gegeben. Aber vielleicht war es tatsächlich besser so. Vielleicht brauchte er jetzt dringender einen Freund als alles andere. Und zumindest hatte er trotzdem jemand, der ihn im Arm hielt. 
Er hatte diesen Gedanken kaum zuende gedacht, als Marceus sagte: „Und bis dahin… könntest du aufhören dich an meinem Hintern festzuhalten?“ Valion stutzte, und bemerkte im nächsten Moment, dass er Recht hatte. Fast hätte er sich entschuldigt, aber dann sah er das amüsierte Lächeln in Marceus Gesicht, und wusste, dass er das nicht musste. „Macht man das nicht unter Freunden?“, fragte er betont unschuldig, und Marceus zuckte ebenso betont unschuldig mit den Schultern. „Ich sagte dir doch, ich habe nicht besonders viele Freunde. Sag du’s mir!“ Im nächsten Moment prusteten sie beide vor Lachen.

Marceus brachte ihn bis zu seinem Quartier zurück. Sie sprachen nicht, nicht einmal, als sie sich zum Abschied kurz umarmten; nur als Freunde, fürs erste. Marceus ging zurück an die Arbeit, und Valion trat in das Halbdunkel des Wagens, ein wenig ziellos. 

„Hallo? Ist jemand da?“, fragte er leise in die Stille hinein, aber niemand antwortete. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass er nicht allein war, und als er lauschte, hörte er tiefe, gleichmäßige Atemzüge. Leise, beinahe auf Zehenspitzen, tappte er durch den Wagen und spähte hinter die Trennwand.

Er war nicht überrascht, Anya zu sehen, die ohne Decke, aber mit dem Kopf in ihr Kissen vergraben da lag und tief und fest schlief. Was ihn allerdings überraschte war, dass Fleurie ebenfalls anwesend war. Auch sie schlief, auf dem Boden sitzend, die Knie an den Körper gezogen und mit dem Kopf an eine Verstrebung gelehnt.

Leise ging er näher und betrachtete sie, das lange, gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbs, und wie ihr Atem die feinen, gekräuselten Strähnen ihres Haars in Bewegung versetzte. Sie sah unschuldig aus, aber auch unendlich erschöpft; noch abgekämpfter als Anya an diesem Morgen gewirkt hatte, auch wenn ihm überhaupt nichts an ihr aufgefallen war. Vermutlich war sie noch besser als Anya darin, ihr Aussehen zu verändern und ihre Umgebung zu täuschen.
Aber das war nicht das einzige, das ihn beschäftigte. Je länger er sie betrachtete, desto mehr fiel ihm auf, wie steif ihr einer Arm an ihrer Seite lag. Sein Blick glitt von einem Arm zum anderen, zu der linken zurück zur rechten Hand. Letztere war angeschwollen, genauso wie der Arm. Er erinnerte sich vage an ihr Zusammenzucken, als sie aufgesprungen war. 

War der Arm gebrochen, oder nur verstaucht? Und wenn ja, wer hatte das getan? Oder war es nur ein Unfall gewesen? Irgendwie bezweifelte Valion das. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass Fleurie diese Verletzung aus einem bestimmten Grund verborgen hatte.

Wer war sie? Er hatte keine Ahnung. Er kannte nur ihren Namen, und dass sie ihre Stimme nicht verraten wollte. Er wusste, dass sie eine Sklavin war, und dass sie ihm nie aufgefallen war, bis sie völlig von sich aus beschlossen hatte, in seinem Leben aufzutauchen. Und dass er ihr aus irgendeinem unerklärlichen Grund vertraute, ohne ihre Motive zu durchschauen. Unwillkürlich dachte Valion an Tarn, seine Warnungen. Vermutlich hätte er sich die Haare gerauft, wenn Valion ihm jemals von ihr erzählt hätte, und wie bereitwillig er ihr Dinge anvertraut hatte, die niemand wissen durfte. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln, und er lächelte noch, als Fleurie plötzlich zusammen zuckte und die Augen auf schlug.

Er hatte noch nie etwas ähnliches gesehen: Sie war innerhalb eines Sekundenbruchteils nicht nur wach, sondern aufmerksam. Ihre Augen zuckten schnell hin und her, und sie erfasste jedes Detail ihrer Umgebung augenblicklich. Sie sah ihn, aber ihre Aufmerksamkeit wandte sich erst in dem Moment ihm zu, als sie sicher war, dass sie allein waren. 

Oh, hallo, sagte sie mit einer ihrer Gesten, und Valion lächelte. „Ich bin gerade erst zurück gekommen“, erklärte er, „Ich wollte dich nicht wecken.“ Nicht so schlimm, teilte sie ihm mit, während sie sich aufrichtete und vorsichtig ihren Körper lockerte. Sie musste furchtbar steif sein, nachdem sie im Sitzen geschlafen hatte, aber sie ließ es sich nicht anmerken. „Aber warum schläfst du überhaupt hier?“, wollte Valion wissen, und sie zuckte mit den Schultern, wies auf Anya, die immer noch tief und fest schlief. Ihretwegen.

„Sie hat dich eingeladen, hier zu schlafen?“, fragte er misstrauisch, und sie nickte. Dann griff sie fürsorglich nach einer Decke und breitete sie über Anya aus. Der Blick, den sie ihr zu warf, gefiel ihm nicht. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er nicht begriff, warum Anya ausgerechnet irgendeiner Dienerin erlauben sollte, hier zu schlafen. Vielleicht wurde er paranoid, aber im ersten Moment fielen ihm nur zwei Möglichkeiten ein: Entweder, dass Anya und sie sich schon länger kannten, und Anya einfach gelogen hatte, als Valion sie nach Fleurie gefragt hatte. Oder dass, ohne dass er es bemerkt hatte, irgendetwas zwischen ihnen vorgefallen war. Etwas, das er nicht einordnen konnte.

So oder so, es gefiel ihm nicht. Selbst, wenn er eigentlich gerade beschlossen hatte, Anya nicht mehr so misstrauisch zu betrachten. Es war albern, aber er hatte das Gefühl, Fleurie beschützen zu müssen vor Anyas manchmal schwieriger Art. „Du solltest vorsichtig sein, was sie betrifft. Sie…“ Er stockte, weil er nicht wusste, was er ausdrücken wollte. Wovor sollte er Fleurie warnen? Dass Anya in ungünstigen Momenten Wasser auf andere schüttete? Dass sie mit Eravier schlief, weil sie das vermutlich musste? Dass sie ihm verzieh, dass er sie eingeschüchtert und angeschrien hatte? Dass sie sich tatsächlich direkt bei Marceus entschuldigt hatte? Er fühlte sich immer mehr wie ein Idiot. 

Aber sie war feindselig ihm gegenüber gewesen. Sie hatte ihm gedroht, Marceus verjagt und hinter seinem Rücken Pläne geschmiedet. Sie war unehrlich.

Und das ist das Schlimmste, das dir einfällt? Sie war unehrlich? Du bist ein Idiot.

Fleurie schüttelte den Kopf, und es war deutlich, was sie meinte: Du spinnst. „Magst du sie?“, fragte er verwundert nach, und Fleurie schüttelte noch einmal den Kopf. Nein. „Warum tust du das dann?“, fragte er und deutete auf die fürsorglich ausgebreitete Decke.

Sie hielt ihm ihr Handgelenk hin, das kleine, eingebrannte E. Es drückte alles aus.

Wir sind Sklaven. 
Wir teilen das gleiche Schicksal. 
Wenn wir untereinander nicht loyal sind, zu wem sonst?

Und unbewusst legte Valion seine Hand auf seine eigene Schulter. Spürte den Schmerz der heilenden Brandmarkung, die er so oft vergaß. Die er noch überhaupt nicht verinnerlicht hatte. 

Wir sind Sklaven.


Fleurie verabschiedete sich bald; sie teilte ihm mit, dass sie noch Arbeit zu tun hatte, und marschierte entschlossen davon. Er beobachtete sie, wie sie im Gedränge verschwand, den Arm völlig natürlich an ihrer Seite, obwohl er wusste, dass er verletzt war. 
Anya wiederum schlief den ganzen Nachmittag und den Abend hindurch. Valion weckte sie nicht, während er in dem immer noch verwüsteten Wagen etwas Ordnung schuf, nur um etwas zu tun zu haben. Jadzia ließ sich nur kurz blicken, sah, dass Anya schlief, nickte Valion knapp zu und verschwand wieder ohne ein Wort. Er hatte das Gefühl, dass sie sich in Zukunft von ihm fern halten würde, aber damit würde er wohl leben müssen.

Er verließ den Wagen nur, um den Sonnenuntergang vom Rand des Lagers aus zu betrachten, und blieb so lange er konnte. Aber er hatte seine Verhaltensregeln nicht vergessen, und mit dem letzten Sonnenstrahl war er zurück.
Zuerst dachte er, Anya wäre aufgewacht, denn er hörte ihre Stimme, als er eintrat, und das Rascheln von Stoff. Aber als er nach ihr sah, schlief sie immer noch, allerdings unruhig. Sie drehte sich hin und her, und ihr Atem ging hastig und flach. Sie träumte, und vermutlich waren es keine schönen Träume. Ihr rotes Haar war verschwitzt und verworren, ihre Haut im Halbdunkel farblos. „Nein“, murmelte sie im Schlaf, und als Valion ihre Stirn fühlen wollte, zuckte sie selbst im Traum zurück, als hätte er sie geschlagen. „Nein…“

Ich kann ein Licht anzünden, wenn du willst. Oder… soll ich kurz deine Hand halten?

Sanft griff er ihre Hand, und jetzt zuckte sie nicht zurück. Reflexartig schloss sie ihre Finger um seine. Und wie von selbst begann er zu summen. Die Melodie, die ihn selbst in den Schlaf begleitet hatte. Und mit jedem Ton ließ die Spannung in ihrem Körper nach, lockerte sich der Griff um seine Hand, bis ihre Hand völlig erschlaffte. Die Träume verblassten.

Es war Anya gewesen, die in der Dunkelheit der Nacht seine Hand ergriffen hatte. Warum hatte er sich so lange gegen diese Erkenntnis gesperrt?

Du bist ein Idiot.

Das erste, das er nach der langen Dunkelheit wahr nahm, war Gurren und aufgeregtes Flattern. 

Tauben.

Das Echo der schwirrenden Flügel hallte in dem großen, kühlen Gebäude wieder. Seine Hände zuckten, krochen unter der Decke hervor, unter der er lag, ertasteten Steinfliesen, Sand, Moos. Eine einzelne Feder.

Wo bin ich?

Stöhnend öffnete er die Augen und traute ihnen zuerst nicht, weil sie Dinge sahen, die nicht existieren konnten. Bunte Lichtreflexe erhellten den Boden um ihn, rot, grün, blau, geisterhafte Schatten von Farben. Sein Rücken schmerzte, seine Arme, Hände und sein Bauch brannten wie Feuer, und seine Augen waren verklebt. Am liebsten hätte er nur still da gelegen und keinen Muskel bewegt. 

Trotzdem wälzte er sich herum und blickte zur Decke hinauf, die bestimmt fünf Meter über ihm schwebte. Risse zogen sich darüber, und dunkle, moosige Flecken zeigten, wo Wasser durch das Dach gedrungen war. Eine Reihe Taubennester ruhte auf dem Geländer einer kleinen Empore, weiß verschmutzt und voller Federn, und das allgegenwärtige Gurren hallte von den Wänden wieder. Alle Fenster waren zerbrochen und teilweise mit Latten vernagelt oder zugemauert, die leuchtenden Motive aus Buntglas, die sie früher gezeigt haben mochten, zerstört. Auch das Fenster, durch das die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Tages auf ihn fielen, war zertrümmert und warf nur eine traurige, blasse Erinnerung der brillanten Farben vor ihm auf den Boden.
 Ein Gotteshaus. Er befand sich in einer alten, verfallenen Kirche.

Seine Augen wanderten weiter, zu einer kleinen Kanzel, die vermutlich schon lange als Festmahl für Holzwürmer diente. Efeu rankte daran hinauf, schlängelte sich aus dem gesplitterten Boden über die ganze Wand und bis hinauf zu dem Flügelaltar, der kein Altartuch mehr trug. Die traurigen, ernsten Gesichter auf den nachgedunkelten Ölgemälden sahen zu ihm herunter. Christus eindringlicher Blick durchbohrte ihn, das Gesicht leidverzerrt, ein Speer in seiner Seite. 

Fast ohne Nachzudenken tastete er nach seiner eigenen Verletzung; die Schmerzen, zuerst nur ein dumpfes Brennen, waren allein dadurch dass er sich auf den Rücken gedreht hatte stärker geworden. Und er erinnerte sich wieder, woher er diese Wunde hatte. Wer sie ihm zugefügt hatte. Es schien ihm nur Stunden her zu sein.

Weißt du, irgendwie dachte ich du hättest es ernst gemeint, als du sagtest, du würdest mich nicht verlassen.

Alles in ihm krümmte sich bei der Erinnerung. Warum hatte er das gesagt? Warum hatte er Valion nieder geschlagen? 

Verzweifelt verbarg Jan sein Gesicht in den Händen, aber er sah trotzdem alles vor seinem inneren Auge. Valions entsetztes Gesicht. Tarns entschlossene Miene, als der Bastard sie gegeneinander ausgespielt hatte, so wie Jan es die ganze Zeit befürchtet hatte. Er hätte es im ersten Moment wissen müssen, vorhersehen müssen, was dieses Arschloch plante. Und doch war er im ersten Moment völlig darauf herein gefallen, hatte nur aus Instinkt gehandelt. Weil er gezweifelt hatte, weil er Valion nicht geglaubt hatte. Weil er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie sehr Valion diesem Mistkerl vertraute, auf ihn hörte.

Und hatte er nicht verstanden, warum es so war? Warum Tarn zu dieser Lösung gegriffen hatte?

Nein. Nein.

Um Valion zu retten. Vor dir. Vor dem, was du vor hattest.

Nein. Er hatte ihn nicht verraten wollen. Nicht mehr. Ganz sicher. Ihre Flucht wäre gelungen, ganz sicher auch ohne, dass einer von ihnen dabei auf der Strecke blieb. Alles war Tarns Schuld. Seine verdammte Loyalität Eravier gegenüber, die verdammte Anmaßung, bestimmen zu wollen, was mit Valion geschah, das hatte sie zu Fall gebracht. Aber wenn sie dachten, dass er Valion einfach so zurück lassen würde

Aber hast du das nicht vorgehabt?

Wenn sie das dachten, dann hatten sie sich geirrt. Selbst wenn er letztendlich mitgespielt hatte. Seine Lügen waren für Valion gewesen, um ihn zu beschützen

Du bist weggelaufen.

Um ihn zu beschützen vor Eravier. Das war ein taktischer Rückzug gewesen, nicht die endgültige Niederlage. Eine Möglichkeit, sie in Sicherheit zu wiegen, bis er zurück schlagen konnte. 

Du willst immer noch weglaufen.

Und zurückschlagen würde er, und gnade Gott, wer sich ihm dann noch in den Weg stellen würde. Er schwor sich, dass er das nächste Mal keine Rücksicht mehr auf irgendjemand nehmen würde. Wenn das hieß, Tarn aus dem Weg zu räumen, umso besser.

Mit jedem weiteren, verwirrten und hasserfüllten Gedanken steigerte steigerte sich seine Wut, und ohne dass er es selbst wahr nahm kehrte der gleichgültige, steinerne Ausdruck in sein Gesicht zurück. Aber gleichzeitig half es ihm, die Verwirrung und Desorientierung endlich abzuschütteln.
 
Jan ließ die Hände sinken und rappelte sich in den Sitz auf, jetzt wesentlich wacher und konzentrierter. Als erstes musste er sich umsehen. Er hatte keine Ahnung, wie er an diesen Ort gelangt war, diese verlassene, halb verfallene Kirche, in der statt Gott jetzt die Tauben hausten. Das einzige, woran er sich dunkel erinnerte, war der Ritt auf dem Pferd, so weit weg, wie er nur fliehen konnte, und irgendwann war ihm schwarz vor Augen geworden. Jemand hatte ihn gefunden; Er musste heraus finden, wer ihn hierher gebracht hatte, und wo er jetzt war, in welchem Ort oder welcher Stadt.

Eine unmittelbare Antwort auf diese Frage bekam er jedoch nicht. Er war allein, der Altarraum und das Kirchenschiff lagen verlassen und verrottet vor ihm. Das einzige brauchbare, das in direkter Reichweite war, war ein völlig verbeulter Becher aus Zinn, der irgendwann einmal Wasser enthalten haben musste. Er kam ihm vage bekannt vor, als hätte er ihn in der Hand gehabt. Vielleicht hatte er das; vielleicht hatte er halb bewusstlos Wasser getrunken und erinnerte sich nur nicht daran.
Unter ihm war nur eine grobe Decke und der nackte Fliesenboden, auf ihm eine dickere Flickendecke. Aber jemand hatte ihn angezogen, regelrecht eingepackt in mehrere Schichten von Kleidung. Alte, schäbige Lumpen, die ihn trotz ihres räudigen Zustandes warm gehalten hatten. Nur der Verband über seinem Bauch, den er schließlich freilegte, sah neu und sauber aus, auch wenn sein Blut ihn getränkt hatte. Fesseln, Fuß- oder Handschellen trug er keine, also war er anscheinend kein Gefangener. Vorerst.

 Oder war das ein Trugschluss? Während Jans Augen rastlos über die verfallene Einrichtung der kleinen Kirche glitten, arbeitete sein Verstand. Wer hätte ihn ausgerechnet an diesen alten, verlassenen Ort gebracht, wenn nicht, um ihn vom Rest der Welt abzuschneiden? Wenn ja, war das seinem Retter Sicherheit genug gewesen, und er selbst wirklich unbewacht? Irgendwie bezweifelte Jan das, trotz allem. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass irgendjemand in nächster Nähe bereit stand, um ihn im Zweifelsfall in Schach zu halten.

Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als er Schritte hörte, die sich ihm näherten. Sie schienen aus der kleinen Sakristei zu kommen, die gleich neben dem Altarraum lag und durch eine verzogene Holztür von diesem getrennt wurde. Sie öffnete sich gleich darauf, und ein rundlicher Junge mit brauner Haut und dunklem krausen Haar, dem Aussehen nach etwas jünger als Jan, trat hindurch. Er schien darauf bedacht, seine Arbeit zu verrichten, ohne seinen Gefangenen unnötig zu wecken, hielt jedoch inne, als er bemerkte, dass eben jener inzwischen hellwach war. 

Jan sprang instinktiv auf, ein dummer Fehler, weil sich sofort alles um ihn drehte; Er hatte zu lange gelegen, zu wenig gegessen und zu viel Blut verloren. Trotzdem stolperte er auf den Fremden zu und ballte die Fäuste. Der Junge war kräftiger, gesünder und wog vermutlich einiges mehr, aber wenn es sein musste, würde er ihn auch in diesem Zustand noch überwältigen.
Allerdings war das gar nicht nötig. Der Fremde duckte sich furchtsam, und sein rundes Gesicht zeigte nur Überraschung, als er aufgeregt stammelte: „W-warte, ich- ich bin nur hier um auf dich aufzupassen! Ich tue dir nichts!“ „Und das soll ich dir abkaufen?“, knurrte Jan wütend und trat noch einen weiteren Schritt auf ihn zu, aber sein Gegenüber wich nur weiter vor ihm zurück, setzte sich nicht einmal zur Wehr. Harmlos, das war er, mehr Beobachter als Wächter, das gestand sich Jan im nächsten Moment ein. Und damit vielleicht auch völlig nutzlos für ihn.

Trotzdem versuchte Jan, etwas aus ihm heraus zu bekommen. „Gut, dann sagst du mir jetzt deinen Namen und wer mich her gebracht hat, sonst werde ich ungemütlich!“, drohte er, nur um beinahe über seine eigenen Füße zu stolpern. Wäre der Junge nicht so arglos gewesen, hätte er ihn jetzt ausgelacht. Stattdessen sah er besorgt aus und griff nach ihm, und verhinderte damit, dass er zu Boden stürzte. „Du bist noch schwach, du solltest dich hinlegen!“, sagte er, und obwohl Jan sich sofort los riss, gab er seine Drohungen zähneknirschend auf und taumelte zurück zu den Decken, um sich vorsichtig zu setzen. Eigentlich wollte er sich einen letzten Rest Würde bewahren und aufrecht sitzen bleiben, aber letztendlich kippte er einfach nur um und blieb schlaff liegen, während sich alles um ihn drehte.

„So ein Mist“, murmelte er verärgert, und der Junge kniete sich neben ihn und musterte ihn mit einem besorgten Blick. Er wollte sogar Jans Stirn fühlen, aber der wedelte seine Hand ärgerlich weg. „Lass das, ich komm alleine zurecht!“, knurrte er. „Sag mir lieber wer du bist und was ich hier soll!“ „Flocon heiße ich“, sagte der Fremde nach einem kurzen Zögern und ging nicht auf seine Feindseligkeit ein. „Aber alle nennen mich »Flo«.“ Jan notierte sich das gedanklich unter »offensichtlicher Deckname«, hielt aber den Mund. „Du musst dir keine Sorgen machen, hier tut dir niemand etwas“, fuhr Flo fort. „Und niemand kennt dieses Versteck, Eravier wird dich hier nicht aufspüren.“ 

Die Erwähnung des Namens sagte Jan alles, was er wissen musste. „Also hat mich die Rebellion hierher geschleppt?!“, fragte er heftig und wollte sich aufrappeln, aber Flo hielt ihn zurück. Er brauchte dafür nicht einmal Kraft aufzuwenden, er hielt Jans geschwächten Körper so mühelos nieder wie den eines Kindes. Er sprach auch mit der selben freundlichen Nachsicht, mit der man ein Kind besänftigt hätte, als er erklärte: „Sie haben dich her gebracht, weil du kurz davor warst zu sterben.“ „Und wozu? Was wollen sie mit einem halbtoten geflohenen Sklaven?“, protestierte Jan und versuchte vergeblich, sich doch noch einmal aufzurichten, aber mit seinem einen, wütenden Ausbruch schien er sämtliche Kraft verbraucht zu haben. 
Flo sah ihn nur mit absolut leerem Gesicht an und zuckte mit den Schultern. „Das hat er mir nicht gesagt. Nur, dass ich auf dich aufpassen soll, bis er zurück kommt. Bis dahin solltest du dich ausruhen.“ 

„Wer er »er«?“, versuchte Jan nach zu bohren, aber Flo antwortete ihm nicht, schüttelte nur langsam den Kopf. Sein Gesicht verschwamm dabei vor Jans Augen, und er blinzelte mühsam, aber er konnte die lähmende Müdigkeit, die ihn befiel, nicht vertreiben. Er kämpfte gleichzeitig um sein Bewusstsein und darum, Antworten zu erhalten. „Weißt du wenigstens etwas über… über meinen Freund? Wir wurden getrennt“, murmelte er, doch Flo schüttelte nur noch einmal den Kopf. Seine Stimme klang seltsam dumpf in Jans Ohren, als er sagte: „Schlaf noch ein bisschen.“ 

Obwohl Jan widersprechen wollte, kam nur noch ein undeutliches Flüstern über seine Lippen. Die farbigen Lichtflecken auf dem Fußboden vor ihm schienen zu tanzen, und er schloss die Augen. Dann hatte die Dunkelheit ihn wieder zu sich geholt.

Er träumte von Valion. Er hatte immer von ihm geträumt, ganz von Anfang an. Selbst, als er ihn noch für einen naiven Idioten gehalten hatte. Selbst, als er schon fest vorgehabt hatte ihn auszuliefern und sich alle Zweifel daran verboten hatte. Vielleicht waren die verdammten Träume sogar daran Schuld, dass er sich letztendlich doch Hals über Kopf umentschieden und in diesen ganzen Irrsinn hinein gestürzt hatte. 
Aber ganz am Anfang hatte er sie nur als verzweifelte Signale seines Körpers und Verstandes gesehen, dass er in seiner winzigen, dunklen Zelle langsam aber sicher verrückt wurde. 

Der erste Traum, in dem Valion eine Rolle spielte war beunruhigend, denn er sah nur eine schattenhafte Gestalt, ohne erkennbares Gesicht, die mit seiner Stimme sprach. Später erinnerte er sich nicht mehr, worüber sie eigentlich gesprochen hatten; irgendetwas Belangloses vermutlich. Doch beim Aufwachen hatte sein Herz hektisch in seiner Brust geschlagen, und er hatte mit den Augen jede Ecke seiner Zelle nach einer schattenhaften Gestalt abgesucht. Die Anwesenheit einer anderen Person war ihm mitten in der Nach, hoch geschreckt aus dem Schlaf, plötzlich nicht nur völlig plausibel, sondern auch absolut bedrohlich erschienen.
Das war der Grund gewesen, warum er nach dem ersten Traum all seine Zeit und all seine Energie darauf verwendet hatte, diesen verdammten Spalt in der Wand zu verbreitern, auch wenn er Valion nichts davon erzählt hatte. Wenn er schon davon träumte, dass jemand bei ihm war, dann irgendeine greifbare Gestalt, ein Gesicht, das er zuordnen konnte.

Besonders viel sah er nicht von Valion, zu keiner Zeit. Nicht, bevor sie sich wirklich gegenüber standen. Aber als er den Spalt heimlich so verbreitert hatte, dass er hindurch sehen konnte, hatte er mehrmals einen Blick auf sein Gesicht erhascht, während sie mit einander sprachen. Damit nahmen seine Träume Gestalt an, erst subtil, dann deutlicher. Und vielleicht lag es daran, dass er vorher nie seine Mimik gesehen hatte, aber seine Wahrnehmung von Valion änderte sich. 

Zuerst hatte er ihn für naiv und simpel gehalten. Wenn man der Litanei an absolut banalen Ereignissen lauschte, die sein Leben bestimmten, hätte man meinen können, dass sie allesamt aus einem Märchenbuch stammten. Und eine Weile hatte Jan ihn darum genauso heimlich wie bitter beneidet. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sein Gesicht beim Sprechen beobachtet hatte. 
Vielleicht lag es nur daran, dass Valion sich unbeobachtet fühlte und sich deshalb keine Mühe gab, seine Gesichtsausdruck zu beherrschen. Aber die Art, wie er manchmal die Stirn runzelte, oder konzentriert geradeaus starrte, obwohl er etwas völlig Harmloses sagte, strafte seine Worte Lügen. 

Irgendwann glaubte Jan zu wissen, dass Valion ein noch viel besserer Lügner war als er selbst. Seine Stimme gab keinen Aufschluss darüber wann er log und worüber, aber im Grunde war das Jan sogar egal; ihm reichte das Wissen, dass auch Valion etwas zu verbergen hatte. Ein Kratzer in der so makellosen Fassade. Als Jan diese Tatsache das erste Mal aufgegangen war, hatte er lächeln müssen, ohne dass er wusste wieso.

Vielleicht hatte er sich in diesem Moment das erste Mal zu Valion hingezogen gefühlt. Er musste geahnt haben, dass hinter dem langweiligen Äußeren irgendetwas Komplizierteres lag, etwas weniger schlichtes, als das sommersprossige Gesicht, das straßenköterblonde Haar und die farblosen Augen verhießen.

Irgendetwas; Er hatte nicht einmal gewusst was. Er hatte nicht danach gesucht, nichts davon gewollt. Nur beobachtet, und weiter geträumt. Valion war bei ihm, ob er wach war oder schlief, er sprach immer mit ihm. Und in der Dunkelheit vervollständigte sich das Bild in Jans Gedanken; wenn er die Augen schloss, konnte er Valions Gesicht sehen. Er hatte die Form in Holz graviert, damit er sie nicht ständig vor Augen hatte. 

Das hat alles nur schlimmer gemacht.

Wenn du das liest, werde ich nicht mehr hier sein, hatte er in die Wand seine Zelle geritzt, der Beginn eines langen, bitteren Geständnisses. Eine Nachricht, die Valion vielleicht irgendwann finden würde, wenn alles so ablief wie Jan es geplant hatte. Wenn ein Wunder geschah und sie beide überlebten. Aber wie wahrscheinlich war das? Wenn er sich seinen Platz zurück gekauft hatte, so wie Eravier es versprochen hatte, wer sagte, dass Valion nicht beiseite geschafft wurde? Wie wahrscheinlich war, dass er selbst wieder gesund wurde?
Aber hatte er denn eine Wahl? Hatte er wirklich all diese Qualen auf sich genommen und so lange in dieser Zelle gesessen, gefroren, gefiebert und beim Husten Blut gespuckt, um alles hin zu werfen? Für irgendjemand, den er kaum kannte? 

Für irgendjemand, der ihm zuhörte? Der sich Sorgen um ihn zu machen schien? Sich ihm immer weiter öffnete?

Manchmal hatte er gewusst was Valion sagen würde, bevor er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Das war unheimlich. Genauso wie die Tatsache, dass Jan ihn immer häufiger beobachtet hatte, sich geradezu danach sehnte, ihn zu sehen. Eigentlich hatte er nur sein Bild vervollständigt, Details hinzugefügt, ausgebessert, zumindest hatte er sich das eingeredet. Das Dumme war, dass es manche dieser Details eigentlich nicht gab. Nur er sah sie, und nur in seinen Träumen.

Träume wie der, den er auf dem kalten Boden der Kirche träumte. Er lag irgendwo in der Mitte zwischen dem Wachsein und den wirren Traumbildern, die er nicht mehr enträtseln konnte. In diesen Träumen schien alles um ihn seltsam real, und doch verworren.

Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke der Kirche hinauf. Wasser lief durch das Dach, regnete in silbernen Tropfen auf ihn herunter, aber er spürte kaum etwas davon. Valion anscheinend auch nicht. Er lag neben ihm und hatte die Augen geschlossen, öffnete sie aber, als Jan ihn ansah. Bunte Lichtreflexe spiegelten sich in ihnen, Blau, Rot, Gelb. Sie reflektierten auch auf den scharfen Kanten bunter Glasscherben, ein ganzes Meer von ihnen, das sich bis zu den verfallenen Wänden der Kirche erstreckte. Es gab keine Lücke in diesem funkelnden Teppich, keine einziger Zentimeter an dem man sich nicht verletzen konnte.

Jan runzelte die Stirn, weil er glaubte, etwas Wichtiges vergessen zu haben. „Du bist hier“, sagte er langsam, und Valion schmunzelte darüber. „Ja“, antwortete er nur, „für eine Weile.“ Etwas an der Art, wie er das sagte, störte Jan auf, und er drehte sich zu Valion um, legte seinen Arm um ihn, aber das schmerzte. Er sah hinab zu seiner Bauchwunde, die wieder angefangen hatte zu bluten. Rote Flüssigkeit sickerte durch seine Kleidung, tränkte den Stoff und die Decke unter ihnen. Valion bemerkte es auch, und sein Blick war so besorgt, dass Jan einfach darüber scherzen musste. Nur, um ihn zu beruhigen, ihm das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung war. 

„Keine Angst, dein Plan, mich in einem Bratspieß zu verwandeln ist nicht aufgegangen“, sagte er, und Valions Gesicht zeigte die Andeutung eines Lächelns. Seine warmen Hände schoben sich unter sein Hemd, berührten seine nackten Seiten, rahmten die klaffende Wunde ein, als könnte sie dadurch geheilt werden. „Es tut mir Leid. Ich hätte ihm nicht vertrauen dürfen. Ich hab es vermasselt. Das ist alles meine Schuld“, gab er zu. 
Die Worte waren so ehrlich und überzeugt vorgetragen wie alles, was Valion zu ihm gesagt hatte. Und das war auch das ganze Problem, nicht wahr? Der Grund, warum Jan verzweifelt nach Worten suchte, ihm zu widersprechen, und sagte: „Es war nicht nur deine Schuld. Ich hätte ja auch nicht- Ich meine, ich wollte eigentlich…“ Er brach hilflos ab. Die Wahrheit tat weh, und Valions offener, ehrlicher Blick war noch schlimmer. „Ich wollte dich ausliefern“, gab er zu, nicht ohne hastig hinzu zu fügen: „Aber nur anfangs! Nicht mehr, nachdem-“ 

Und wieder stockte er, weil er nicht wusste, was er sagen wollte. Sein Entschluss war mehrmals ins Wanken geraten, das erste Mal, als er Valion gegenüber gestanden hatte. Und als er auf seinem Schoß gesessen hatte waren all seine verwirrenden, sehnsüchtigen Träume wahr geworden. Träume, aus denen er schweißgebadet erwachte und neben sich tastete, nur um mit den Händen gegen die unnachgiebige Holzwand zu stoßen. Und das hatte er trotzdem nur darauf geschoben, dass er so verdammt allein war, und dass er so tun musste, als würde er Valions Gefühle erwidern. Er schauspielerte nur. Denn hätte er sich eingestanden, dass das Feuer, das Valions Berührungen in ihm entzündeten echt war, wie hätte er ihn dann jemals verraten können?

Er hatte er sich gezwungen, Eraviers Spiel mit zu spielen. Und doch die verdammte Spiegelscherbe immer bei sich behalten, unschlüssig, was er mit ihr tun sollte. Er hatte sie mit seinen Kleidern zu Boden geworfen, unter seinem Fuß verborgen, wieder aufgehoben, als er sich zur Ablenkung am Knöchel gekratzt hatte, und dann bei Husten in den Mund geschoben und genau so wieder hervor geholt. Warum? Das ganze war Irrsinn gewesen, die gefährlichste Täuschung, die er jemals zustande gebracht hatte. Trotzdem hatte er nicht gezögert und all seine Taschenspielertricks benutzt, bis er Eravier hatte, wo er ihn haben wollte. 

Wozu? Um sich bis zur letzten Sekunde alles offen zu halten? Um sich zu beweisen, dass er nicht wirklich so ein Mistkerl war, der 

seinen Geliebten

der seinen einzigen Freund einfach verriet? 

Und letztendlich war sein Entschluss nur aus einem Grund ins Wanken geraten. Oder vielleicht aus zwei Gründen. Da waren die Blicke, die von Valion ausgingen und ihn fassungslos verfolgten, weil er mit allem gerechnet hatte, aber nicht mit seinem Verrat. Er hatte nie gezweifelt, und das Schreckliche war, dass Jan sich wünschte, ihn nicht enttäuschen zu müssen.

Und da war der wütende, eiskalte Blick von Tarn, der vermutlich fieberhaft darüber nachgedacht hatte, wie er Jan schnell und einfach umbringen konnte, ohne dabei selbst ins Kreuzfeuer zu geraten. Und unter seinem Blick hatte sich Jan nicht nur wie ein Dreckschwein gefühlt, er hatte verstanden, dass Tarn genau das von ihm erwartet hatte. Tarn hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass er Valion nur in falscher Sicherheit gewogen hatte. Und das hatte Jan auf eine völlig neue Art gekränkt.

Tu nicht so, als wäre ich der einzige Verräter, hatte er wütend gedacht. Mich hast du schließlich nicht beschützt! Womit hat Valion verdient, dass du alles von ihm fern hältst? Warum er, und nicht ich? Warum hast du Eravier nicht gesagt, dass ich gesund werde, dass ich bleiben kann? Das hier ist auch deine Schuld!

Und zur Krönung des Ganzen? Hatte Tarn auch noch versucht, ihn zu erschießen. Zweimal! Wer war hier das Dreckschwein? Er selbst bestimmt nicht.

Aber seit diesem Augenblick war er hin und her gerissen gewesen. 
Er hätte Valion als Köder voraus zu schicken und die Aufregung nutzen können, um sich aus dem Staub zu machen. 
Valion einfach mit seinem Freund ziehen lassen können. 
Aber eigentlich wollte er ihn auf gar keinen Fall irgendjemand anders überlassen, obwohl das das Gegenteil von all dem gewesen war, was er geplant hatte. 
Gehörte Valion jetzt nicht ihm? Er hatte ihn sich erkämpft, er hätte Eravier dafür die Kehle durch geschnitten und wäre fast erschossen worden. All das nur, um am Ende nichts mehr davon zu haben?

Nur, dass er Valion nicht besitzen wollte. Er wollte wirklich geliebt werden, und das war verwirrender als alles andere. Warum musste er sich mit all diesen verrückten Gefühlen herum schlagen? 

Er beendete seinen angefangenen Satz nicht, stattdessen flüsterte er nur: „Du hast alles durcheinander gebracht“, und zog Valion enger an sich. Er mochte seine Sommersprossen, daran dachte er, als er ihn küsste. Er mochte seine idiotische absolute Ehrlichkeit, die alle in Schwierigkeiten brachte, sogar ihn, obwohl er doch nur so lange überlebt hatte, weil er so ein guter Lügner war. Valion streifte ihre Kleidung ab, als wäre sie gar nicht da, und im nächsten Moment war er schon über Jan. Die Lichtreflexe, die vom bunten Glas zurück geworfen wurden, geisterten über seine schmalen Schultern und die wirren blonden, fast kinnlangen Haare

denn in seinen Träumen hatte ihm niemand die Haare geschnitten, er mochte es lieber so

die Jans Gesicht kitzelten. Er mochte Valions Körper, auch wenn er anders war, als er ihn sich in seinen Träumen vorgestellt hatte. Aber was hätte er unter der an ihm schlackernden, abgetragenen Kleidung schon erkennen können?

Eigentlich hatte er gehofft, dass er der größere, stärkere, selbstsicherere von ihnen beiden sein würde, weil er das so gewohnt war. Er war nicht darauf vorbereitet, auf einer Augenhöhe zu sein. Vielleicht hatte Valion das verstanden, als er die Initiative ergriffen hatte, so wie das jetzt tat. Er drehte ihn herum, auf den Bauch, und Jan schauderte wohlig, als er ihn an der Hüfte griff, zu sich zog.
Seine Hände glitten auf den Scherben aus, versuchten auf dem Boden Halt zu finden, er schnitt sich, und merkte es kaum. Seine Wunde brannte, aber er ignorierte sie, bog den Rücken durch. Er stöhnte auf, sein ganzer Körper spannte sich an, sein Herz hämmerte, und doch war das Gefühl kaum greifbar, seltsam losgelöst von seinem Empfinden. Er spürte Erregung, aber nichts von dem, was Valion tat

weil es natürlich ein Traum war, weil Valion unendlich weit weg war

aber in diesem Moment war das völlig egal, weil-

Er wurde abrupt aus seinem Traum gerissen. Jemand griff ihn an der Schulter, drehte ihn herum, und Jan erwachte mit solcher Gewalt, dass er hoch zuckte und sich noch im Aufwachen in den Sitz aufrichtete. Gleich darauf schrie er heiser auf, weil der Verband über seinem Bauch heftig einschnitt und quälende Schmerzen durch seinen Körper jagte. 

Zumindest war er zwar völlig desorientiert, aber auch wach, als er wütend in das unbeeindruckte Gesicht eines großen stämmigen Fremden starrte, der ihn geweckt hatte. „Was?!“, brachte er aggressiv hervor, und er erwartete fast, dass sein Gegenüber zurück zucken würde, aber das war nicht der Fall. Er hockte mit einem gleichmütigen Gesichtsausdruck vor ihm, ein Knie auf dem Boden abgestützt. Seine braune Haut und die welligen, schwarzen Haare waren fast vollständig unter seiner Kapuze verborgen, sodass das Licht der brennenden Lampen es kaum zu erhellen vermochte. Irritiert bemerkte Jan, dass es  dunkel um ihn war, dass kein Licht mehr durch die wenigen, unverschlossenen Fenster der Kirche fiel und die einzige Helligkeit von Lampen stammte. Er hatte bis zum Abend, vielleicht bis in die Nacht durch geschlafen.

Der Mann vor ihm lächelte nicht, als er leise, aber deutlich sagte: „Ah, du bist wach.“ „Ach, sag’ bloß“, knurrte Jan defensiv, aber seine Konzentration lag in diesem Moment an ganz anderer Stelle. Sein Blick ging an seinem Gegenüber vorbei, fiel auf das Dutzend wachsamer Menschen, die ihn stumm umringten. Sein Herz setzte aus, nur um im nächsten Moment doppelt so schnell zu schlagen. Vorher hatte er vielleicht noch die Möglichkeit zur Flucht gehabt, aber jetzt anscheinend nicht mehr. Er war umzingelt.  

Alle waren Rebellen, dessen war er sich sofort sicher, als sein Blick hastig über die Fremden schweifte. Jeder und jede von ihnen, Männer, Frauen und einige, die er nicht einordnen konnte, waren in dunkle Kapuzenmäntel gehüllt, die Jan inzwischen kannte. An dem Abend, an dem Valion gefangen genommen worden war, hatte er mehrere von ihnen gesehen, auch wenn er damals noch nicht gewusst hatte, was es mit ihnen auf sich hatte. 
Flo schien eine Ausnahme zu bilden. Er stand zwischen den anderen, wenn auch ein wenig abseits, und betrachtete Jan ruhig. Er war deutlich der Jüngste unter ihnen, und er wurde subtil, aber sichtbar abgeschirmt.

Jans Aufmerksamkeit wurde zurück auf den Mann vor ihm gelenkt, als dieser sich erhob und von ihm abwandte. Einmal sicher, dass Jan tatsächlich wach und aufnahmefähig war, schien er seine Gegenwart völlig zu ignorieren. Seine ruhigen, knappen Anweisungen schienen seine Kameraden schon gewohnt zu sein, weil niemand etwas sagte, um ihm zu widersprechen. Wer mit seinem Namen, oder wohl eher Decknamen, angesprochen wurde, nickte nur stumm. Anscheinend war er eine Art Anführer.
 
„Gut. Lezard, du siehst dir seine Verletzung an. Poulet, Carlin, wir brauchen etwas zu essen, und er vermutlich auch. Wenn er versorgt ist, gebt ihm so viel er will, er muss auf die Beine kommen. Ich übernehme mit Flo die erste Wache auf dem Turm. Bringt ihn zu mir, wenn ihr fertig seid. Wer ins Dorf zurück will, seid vorsichtig.“ Bei diesen Worten nickte er drei Gestalten zu, die nah beieinander standen, die ihm mit einer Handgeste zustimmten. 
Der Anführer wartete kaum die Zustimmung aller ab, und wandte sich schon zum Gehen, als Jan aufsprang und ihm nach setzte.

Der folgende Aufruhr war interessant. Jan erinnerte sich nicht, jemals so schnell und gründlich von allen Seiten eingekesselt und festgehalten worden zu sein. Jeder einzelne der Rebellen hatte in Sekundenbruchteilen eine Waffe in der Hand, hauptsächlich ein uneinheitliches Sammelsurium an Messern, aber ein Mann hatte auch eine Steinschlosspistole gezogen. In der Hektik war einigen die Kapuze vom Kopf gerutscht, beim Ziehen ihrer Waffen kam die Kleidung zum Vorschein, die sie unter ihren Mänteln trugen. 

Es war fast komisch, wie schnell Jan anhand dessen analysieren konnte, von welcher Herkunft die einzelnen Rebellionsmitglieder waren. Als Dieb hatte er schließlich wissen müssen, wer möglicherweise Geld bei sich trug und wer nicht. Mit ihren Kapuzen waren sie vielleicht die Rebellion, aber unter denen waren sie auch nur einfache Leute. Bauern, eine Hand voll Städter, deren ehemalige Berufe er nicht erraten konnte, ein wohlhabender Händler, kein Menschenhändler, aber reich genug, dass er sich eine Handfeuerwaffe leisten konnte. Und entflohene Sklaven; er sah die eingebrannten Zeichen auf mehreren Handgelenken. Auf anderen sah er sie vielleicht nur nicht, weil die Rebellen ihre Messer niedrig hielten und ihre Ärmel nicht nach oben gerutscht waren.

Und obwohl Jan sich inmitten einer Horde von Attentätern befand, vermutlich jeder einzelne in der Lage, ihn schnell und sauber zu erledigen, fühlte er sich plötzlich zum ersten Mal wieder wohl, und ein Grinsen zog über sein Gesicht. Er erkannte die Gefahr, aber die Möglichkeit innerhalb eines Sekundenbruchteils zu sterben weckte in ihm nur ungläubiges Lachen, wenn er vor Angst starr hätte sein müssen. Wie sonst hätte er Eravier gegenüber stehen und ihn beleidigen können? Er war schließlich nicht dumm; er wollte eigentlich auch nicht sterben. Aber irgendein irrationaler Teil seiner selbst konnte die Gefahr nicht verstehen, sah sie nur als großen, grotesken Witz. Der Teil, der direkt mit seiner großen Klappe verbunden war, die einfach nicht geschlossen bleiben wollte.

Auch der Anführer hatte sich ruckartig zu ihm umgedreht, und obwohl er unter seinem Mantel ebenfalls eine Waffe hielt, hatte er sie nicht gezogen. Schlau. Nicht so leicht zu durchschauen. Hätte Jan sich auf ihn gestürzt, hätte er bis zum letzten Moment nicht gewusst, wie er sich verteidigen würde.
Er musterte Jan mit dem selben, kühlen Blick wie zuvor, ohne ein Wort zu sagen, und wenn das keine Einladung war, selbst etwas zum Besten zu geben, wusste Jan auch nicht, was sonst. „Oh, tut mir Leid, es kribbelt mir immer so in den Füßen, wenn Leute über mich sprechen als wäre ich nicht da“, sagte er spöttisch und grinste. „Und du sagtest doch, ich soll auf die Beine kommen. Macht mir, wie du siehst, jetzt schon keine Probleme.“ 

Irgendjemand in der Schar der Rebellen schnaubte amüsiert, und einige Messer wurden weniger fest umklammert, die Pistole sank ein wenig herab. Der Anführer jedoch schien kein bisschen erheitert von Jans Darbietung, im Gegenteil. „Ich glaube, du hast noch nicht begriffen, wo du hier bist und mit wem du es zu tun hast“, sagte er. Der Ton seiner Stimme war nicht drohend, aber auf dem besten Weg dahin. „Wie auch?“, schoss Jan zurück, und schaffte es nicht ganz, die Wut in seiner Stimme zu unterdrücken. „Ich wurde gegen meinen Willen hierher geschleppt, und bisher hat niemand gesagt, was ich hier soll und wer zum Teufel ihr überhaupt seid. Ja, ich weiß, ihr seid eine Art Rebellion“, unterbrach er den Anführer dreist, als er erneut den Mund öffnen wollte, schnitt ihm das Wort ab. „Das ist aber nicht gerade selbst erklärend. Und vor allem frage ich mich, ob ich euer Gefangener bin. Und wenn wir schon dabei sind, ein Name wär nicht schlecht.“

Seine Antwort war langes Schweigen, bis der Mann die Hand hob und seinen Kameraden so zu bedeuten schien, dass sie ihn loslassen konnten. Sie kamen seinem wortlosen Befehl vorsichtig nach, immer bereit, sofort wieder zu zu greifen, bis sich jeder von ihnen mindestens einen Schritt von Jan entfernt hatte. Einige von ihnen schienen wütend auf Jan, andere schmunzelten leise. Eine ältere Frau, deren Gesicht nicht mehr von ihrer losen Kapuze verborgen wurde, zwinkerte ihm kurz zu, bevor sie ihm mit den Augen bedeutete, nach vorn zu blicken statt sich umzusehen.
„Du bist kein Gefangener“, sagte der Anführer schließlich, und diesmal unterbrach er Jans Frage, indem er hinzufügte: „Aber das heißt nicht, dass du dich frei bewegen kannst. Noch nicht. Nicht, bis wir uns unterhalten haben. Und mein Name ist Agneau.“ Jan musste grinsen, aber er verbiss sich einen Kommentar. Warum nicht gleich Poussin? Aber so grimmig, wie ihn Agneau musterte, war es vermutlich besser, jetzt nicht auf ihren Decknamen herum zu reiten.

„Und jetzt, lass dich untersuchen, und iss. Dann reden wir weiter. Ist das akzeptabel?“ Jan hätte am liebsten widersprochen, aber das war wohl nicht der geeignete Zeitpunkt, weiter zu widersprechen. Er nickte, und ohne weiteren Kommentar wandte Agneau sich um und ging davon.

Eine Weile harrte Jan auf seinem Lager aus und beobachtete die Rebellen, die die Kirche nicht verlassen hatten, nachdem Agneau gegangen war. Er überlegte, ob er in der Lage gewesen wäre zu fliehen, wenn er einfach los lief, und den Gedanke verworfen. Seine Bewacher waren immer noch in der Überzahl. Sie waren jetzt allerdings nur noch zu acht, Flo und Agneau eingeschlossen, obwohl Agneau sich nicht blicken ließ. Wenn Jan richtig verstanden hatte, hielt er auf dem Kirchturm Wache. Zwei der anderen, anscheinend Poulet und Carlin, waren mit Flo in der kleinen Sakristei, hatten dort ein Feuer im Kamin entzündet und kochten wohl. Sie schienen leise miteinander zu sprechen, und dann und wann hörte Jan verhaltenes Gelächter.
 
Drei weitere Rebellen, die zu keiner Zeit ihr Gesicht gezeigt hatten, nicht einmal, als sie ihre Waffen gezogen hatte, saßen etwas abseits zusammen und ließen ihn nicht aus den Augen. Er hatte den Verdacht, dass sie die erfahrensten unter den Rebellen waren, Agneau vielleicht nicht eingeschlossen. Einer spielte beständig mit seinem Messer und schien oberflächlich abgelenkt, aber Jan fühlte sich trotzdem von allen dreien beobachtet. Er sah nur ihre Hände, und sie waren alle dunkelhäutig, genauso wie alle ein Brandzeichen am Handgelenk trugen. Nur, dass diese Brandzeichen so verblasst waren, dass die Buchstaben kaum noch zu erkennen waren. Einer trug eine Tättowierung auf dem Arm, die sein Brandmal sogar überlagerte. Kein »E«. Hätte Jan raten müssen, hätte er darauf getippt, dass sie als Kinder zu Sklaven geworden waren, vielleicht sogar in die Sklaverei hinein geboren. Und dass sie schon lange frei waren, da niemand ihr Brandzeichen erneuert hatte und niemand sich scherte, wenn sie verdeckt wurden.

Die Person, die schließlich als erstes auf Jan zutrat, entpuppte sich als die ältere Frau, die ihm schon zuvor zugezwinkert hatte. Sie hatte eine vollgestopfte Tasche bei sich, die Jan stark an Tarn und seine Utensilien erinnerte, und noch bevor er irgendetwas sagen konnte, war sie ohne Scheu an ihn heran getreten, kniete sich vor ihn, griff nach ihm und schob seine Kleidung hoch. Er zuckte überrascht zurück und rief: „He!“, und ärgerte sich gleich darauf, als seine drei vermummten Beobachter leise lachten. 

„Sei nicht so scheu, kleiner Träumer. Ich habe dich schon die ganze Zeit versorgt, während du geschlafen hast. Und einen Mann sehe ich auch nicht das erste Mal in meinem Leben“, sagte die alte Frau und lachte. Ihre Stimme war rauchig und dunkel, und die Falten in ihren Gesicht vertieften sich bei ihrem Gelächter. Ihr schwarzes, zurück geflochtenes Haar kontrastierte mit den ergrauten Strähnen darin und ihrer blassen Haut. Ihre braunen, vergnügt funkelnden Augen gaben ihr einen freundlichen Anstrich, aber Jan war trotzdem unangenehm, wie unbekümmert sie ihn anfasste. 

„Normalerweise stellen sich meine Mädchen erst vor, bevor sie mir an die Wäsche wollen“, entgegnete er ohne Nachzudenken, und sie lachte laut und amüsiert darüber. „Soso, deine Mädchen! Von denen hast du aber nicht im Schlaf gesprochen!“, lästerte sie frohgemut. „Lezard nennt man mich, und wehe, ich erwische dich dabei, wie du jetzt lachst. Dann erzähle ich Agneau, was du von seinem Namen hältst!“ „Fiele mir im Traum nicht ein, gute Frau“, entgegnete Jan, und obwohl sie ihn mit ihrer Offenheit überrumpelte, mochte er sie und ihre unverschämte Art doch auf Anhieb.

Bereitwillig zog er sich jetzt doch seine vielen Schichten Kleidung über den Kopf, während Lezard aus den Tiefen ihrer Tasche neue Verbände, eine Schere und eine zerkratzte Flasche aus dickem, milchigen Glas fischte. Dann wandte sie sich seiner Bauchwunde zu und schnalzte mit der Zunge. „Da hat sich wohl wieder jemand im Schlaf hin und her geworfen“, sagte sie mit einem tadelnden Blick auf den Verband. Er sah nicht anders aus als zuvor, aber Jan vermutete fast, dass er überhaupt nicht durchgeblutet sein sollte. „Man müsste meinen, so langsam sollte sich die Wunde schließen“, sagte sie, und begann die Binden langsam zu lösen. Sie war so vorsichtig, dass Jan kaum Schmerzen spürte, aber ihr besorgter Blick sprach Bände. 

„Wie lange blute ich schon?“, fragte er leise, und sie seufzte. „So lange wie du geschlafen hast. Heute Abend sind es drei Tage.“ Sie bemerkte seinen überraschten Blick, und nickte bestätigend. „Ja, glaub es ruhig, du hast drei Tage geschlafen. Du bist zwischendurch aufgewacht, hast Wasser getrunken, aber vermutlich erinnerst du dich nicht daran, du hast danach sofort weiter geschlafen. Dein Körper war am Ende seiner Kräfte. Ist er noch, du fühlst dich kalt an. Wir haben dich so dick eingepackt, um deine Temperatur wenigstens ein bisschen zu erhöhen. Aber ich denke fast, wenn du wieder etwas isst, wird sich das geben. Du hast Blut verloren, das hat deinen Körper zusätzlich geschwächt. Immerhin, du hast die ersten beiden Nächte noch gehustet, aber das habe ich mit Wickeln und Medizin wieder in den Griff bekommen. So, lass uns das ansehen.“ 

Vorsichtig zog sie die letzte Lage Verband von seiner Wunde, immer darauf bedacht, ihm nicht weh zu tun. Aber Jans Bauch schmerzte, und obwohl ihm nicht so leicht schlecht wurde, war der tiefe, blutrote Kratzer auf seinem Bauch ein übler Anblick, der ihn innerlich ins Schwanken brachte. Er wandte den Blick ab und ließ Lezard ihre Arbeit tun, und sie tupfte seine Wunde sorgfältig ab und verband sie neu. 

„So“, sagte sie schließlich. „Hoffen wir, dass du jetzt, wenn du wach bist, ein bisschen vorsichtiger bist.“ „Noch vorsichtiger, als nur herum zu liegen und zu schlafen?“, fragte er scherzhaft, und sie lachte. „Oh, daran erinnerst du dich vielleicht nicht, aber du warst alles andere als ruhig“, sagte sie, und jetzt war ihr Grinsen regelrecht süffisant. „Du hast im Schlaf gesprochen, dich herum gewälzt, vor allem wenn du gefiebert hast. Und hätte ich nicht schon einiges gehört, hätte mich das als arme, alte Frau sicher sehr schockiert. Unser kleiner Flo durfte jedenfalls nicht hier sein, wenn du fantasiert hast.“

Eigentlich hätte Jan vor Scham im Boden versinken müssen, so offenherzig und mitleidlos, wie sie diese Tatsache vor ihm ausbreitete. Aber stattdessen stand ihm Valions Gesicht plötzlich wieder deutlich und eindrücklich vor Augen. Valion, der jetzt nicht hier war. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm geschehen war, und selbst wenn…
Im Traum hatte Valion die Schuld auf sich genommen, aber das war nur seine Wunschvorstellung gewesen. Was war mit dem echten Valion? Der, den er im Stich gelassen hatte? Würde er ihm jemals verzeihen können, dass er im entscheidenden Moment an ihm gezweifelt hatte?
Er wünschte, er wäre jetzt hier gewesen. Er wünschte, die Rebellion hätte sie beide aufgesammelt, egal, wie sehr er sich gerade in die Ecke gedrängt fühlte.

Sein plötzlich trauriger Gesichtsausdruck blieb nicht unbemerkt, denn aller Spott wich plötzlich aus Lezards Gesicht. „Was ist? Hast du Schmerzen?“, fragte sie sofort, griff nach seiner Schulter und war drauf und dran, ihn zum Liegen zu zwingen. Er schob ihre Hand weg. „Nein. Keine, bei denen du helfen kannst“, murmelte er, aber Lezard schien gleich darauf ein Licht aufzugehen, weil sie jetzt mitleidig drein sah.
„Wegen dem Jungen? Ach, mein kleiner Träumer, sei doch deswegen nicht so traurig. Er ist in Sicherheit, ihm ist nichts geschehen. Wir hatten ein Auge auf ihn. Und nichts geschieht grundlos, alles hat einen Zweck“, sagte sie sanft und griff nach seiner Hand, drückte sie. Sie schien halb zu sich selbst zu sprechen, als sie sagte: „Du warst sehr mutig, und das wird belohnt werden, zur rechten Zeit, und dann kannst du das alles vergessen. Dann werden dich nur noch deine Narben daran erinnern.“

Ihre faltigen Finger strichen beruhigend über seine Hand, über die schmerzenden Schnitte in seinen Fingern, da, wo er die Scherbe umklammert hatte, mit der er Eravier bedroht hatte. Wenigstens die schienen sich normal zu schließen, waren verschorft und nur leicht gerötet. Ihre Augen ruhten darauf, und ihr Blick war für einen Moment reine Bewunderung. 

„Ja, mutig warst du, sehr mutig. Du hast dich ihm entgegen gestellt. Wie war es, ihn so in deiner Gewalt zu haben?“, fragte sie völlig unvermittelt. „Wen?“, fragte Jan, aber er hatte bereits eine Ahnung, was sie meinte. Ihr Blick hatte plötzlich eine brennende, grimmige Intensität gewonnen, vor der er am liebsten zurück gezuckt hätte. Ihre Stimme klang ruhig, zu ruhig, als sie antwortete: „Eravier. Wie war es, ihm diese Scherbe an die Kehle zu halten? Ihn zittern und flehen zu sehen?“ Sie hob ihre Hand, hielt ihre Finger gegen ihren Hals, als würde sie selbst eine unsichtbare Waffe halten. Ihre Stimme war immer noch sanft, aber der Hass darin ließ ihn schaudern. „Wie konntest du dich nur beherrschen? Wie schwer mir das gefallen wäre, wenn ich ihn in dieser Position gehabt hätte!“, sagte sie, und Jan zuckte tatsächlich zurück, als sie mit ihrer Hand zur Seite ruckte, einen imaginären Schnitt an ihrer eigenen Kehle zeigte. 

Und als wäre der Moment nicht bizarr genug gewesen, wurde ihm plötzlich bewusst, dass ihre Handhaltung falsch war, aber die Position ihrer Hand nicht. Sie wusste genau, an welcher Stelle er Eraviers Kehle den Schnitt beigebracht hatte, so tief, dass er blutete, aber nicht tief genug, um ihn schwerer zu verletzen.  Sie wusste sogar, wie lang er gewesen war, denn ihre Handbewegung hatte die selbe Länge beschrieben. 
Woher wusste sie das? Sah er schon Gespenster?

„Lezard? Hast du Hunger?“, tönte plötzlich Flos Stimme zu ihnen herüber, und im Bruchteil einer Sekunde zog das alte, freundliche Lächeln über Lezards Gesicht, als sie sich ihm zu wandte. „Aber natürlich, Hunger wie ein Bär! Wir sind gleich da!“, rief sie fröhlich, bevor sie energisch ihre Habseligkeiten aufsammelte und in ihrer Tasche verstaute. Sie war wie ausgewechselt, und nachdem sie aufgeräumt hatte, erhob sie sich und sah Jan lächelnd an. „Los, zieh dich an, du Hungerhaken!“, befahl sie. „Du kannst es dir wirklich nicht leisten, noch irgendeine Mahlzeit zu verpassen!“ Und weil Jan überhaupt nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen, nickte er verwirrt und folgte ihr. 

Agneau blieb dem Essen fern, dafür erhob sich Flo eher als die anderen und brachte ihm vermutlich etwas zu seinem Wachtposten. Jan ignorierte es, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, Brot, Suppe und geschmortes Fleisch in sich hinein zu schaufeln. Erst als das Essen vor ihm gestanden hatte war ihm bewusst geworden, wie hungrig er wirklich gewesen war. 
So kam er auch nicht wirklich zum Sprechen, und er war froh darüber. Die drei, die ihn zuvor beobachtetet hatten, aßen allein, und so saß er nur mit Carlin, Poulet und Lezard am Tisch, die sich rege unterhielten. Aber selbst wenn es nur um belanglose Themen ging, er wusste nicht, ob seine innere Unruhe merklich gewesen wäre. Und wenn Lezard sich von ihm abwandte, betrachtete er sie heimlich. Unbehaglich lauerte er darauf, dass sie ihre fröhliche Maske erneut fallen ließ. Aber einen Beweis dafür, dass irgendetwas an ihr nicht stimmte, bekam er an diesem Abend nicht mehr.


Der Weg nach oben zog sich, und Jan verlor langsam, aber sicher die Geduld. „Geh rauf auf den Turm! Du bist ja nur halb tot und sollst dich ausruhen! Die Kälte und die Spinnenweben werden dir gut tun!“, murrte er vor sich hin, während er sich die enge Wendeltreppe zur Spitze des Kirchturms hinauf kämpfte. Warum musste er sich nach allem, was er durchgemacht hatte, jetzt auch noch das antun?

Anscheinend war er so geschwächt, dass er nicht einmal ein paar Stufen bewältigen konnte, denn nach etwa der Hälfte des Aufstiegs war er außer Atem und musste pausieren. Und außerdem hatte er den Verdacht, dass der dritte Teller Suppe noch sein Verhängnis sein würde. Er hatte eher das Gefühl zu rollen als zu gehen. Aber Agneau hatte sich nun einmal deutlich ausgedrückt: Jan sollte zu seinem Wachtposten kommen und dort mit ihm sprechen, also musste er sich dorthin bequemen. Vorher würde ihn niemand gehen lassen, erst Recht nicht, nachdem er ihnen ihr ganzes Brot weg gegessen hatte, wie Lezard augenzwinkernd gesagt hatte.

Leider war eine uralte, schiefe Treppe der einzige Weg auf den Turm, und der kalte Nachtwind pfiff inzwischen heulend durch die unverschlossenen Turmfenster. Jan durfte nicht einmal eine Fackel mitnehmen, die hätte man weithin leuchten sehen, und außerdem hätte der Wind sie vermutlich sowieso gelöscht. Also stieg er die unebenen Stufen auch noch im Dunkeln hinauf.

Endlich, nach einer halben Ewigkeit, hatte er die Spitze erreicht, und durch einen winzigen Durchgang trat er hinaus auf den kleinen, gemauerten Rundgang und sah hinunter in die Nacht. Keine Laterne brannte hier oben, der Wind heulte um die Ecken des Turms, und die einzigen Lichtquellen waren der Mond und ein paar winzige Lichter in der Ferne, die zu einem kleinen Dorf gehörten. Die verfallene Kirche war auf einem Hügel gebaut, der mit langem, üppigen Gras bewachsen war, das im Nachtwind wild wogte. Rings um die Kirche machte Jan in der Dunkelheit drei kleine Gebäude und einen Friedhof aus.

„Das hier war früher ein Kloster. Aber die Fürstenfamilie, die es gestiftet hat, wandte sich vom Glauben ab, und die Mönche sind weiter gezogen. Es ist einsam hier. Für uns ist es perfekt.“ Jan wäre vor Schreck beinahe vom Turm gesprungen, als Agneaus ruhige Stimme direkt neben ihm erklang. Er war vielleicht groß und stämmig, aber er war auch leise wie eine Katze, und um nicht gesehen zu werden hatte er sich im Schatten der Turmmauer verborgen. Behutsam zog er Jan jetzt an einer Schulter mit sich, nahe an die Mauer heran und weg von dem bröckeligen Geländer des Rundgangs, und reichte ihm eine Decke, die Jan sich ohne Protest über warf. Es war eisig hier oben, und sowohl Agneau als auch Flo, den er jetzt ebenfalls im Schatten erspähte, waren gegen die Kälte dick eingepackt.

„Warum wolltest du ausgerechnet hier mit mir reden?“, fragte Jan, während er es Agneau gleich tat und sich an die Mauer lehnte, und der zuckte mit den Achseln. „Es ist ruhig hier. Und der Wind verhindert, dass wir gehört werden. Die Treppen verhindern, dass sich jemand von außerhalb anschleicht“, erklärte er leise und ruhig. Und für einen Moment war Jan versucht zu fragen, ob er sich damit auch vor den anderen Rebellen schützte. Aber das verbiss er sich.
„Und warum sind wir hier? Ich meine, warum eine Kirche? Wie habt ihr den Ort hier überhaupt gefunden?“, fragte Jan nach. „Ich habe ihn gefunden. Ich bin Kerzenmacher-“, erklärte Agneau geduldig. „Und ich bin Erzbischof“, unterbrach Jan ihn prompt und ziemlich ungläubig, und brachte Agneau damit vielleicht das erste Mal zum Schmunzeln, auch wenn das im Dunkeln kaum zu erkennen war. 

„Ich spreche von echten Wachskerzen. Die Sorte, die niemand von uns sich leisten könnte, nicht die billigen aus Talg. Eine Tradition meiner Familie. Die Herstellung benötigt Sorgfalt, und ich lerne gern mehr darüber. Ich finde Restbestände in alten Kirchen und lerne etwas darüber, wie sie früher hergestellt wurden. 
So fand ich diesen Ort. Wir sind nur zeitweise hier. Nur, solange Eraviers Weg an den Dörfern dort, dort und dort vorbeiführt.“ Er deutete in die Schwärze, aber wenn er auf Siedlungen in der Ferne zeigte, sah Jan nur die ihnen am nächsten gelegene.

„Ihr verfolgt ihn“, stellte Jan fest, und in der Dunkelheit nickte Agneau. „Ja, wir folgen ihm.“ „Warum?“ „Er hat etwas, das wir wieder haben müssen“, warf Flo ein, aber Agneau brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Vielleicht hatte er gerade schon zu viel gesagt, aber gerade deshalb ließ Jan das nicht auf sich beruhen. „Was hat er? Einen Gegenstand, irgendetwas wertvolles?“ „Etwas sehr wertvolles“, stimmte Agneau zu, aber er ließ Jan dennoch nicht weiter in sich dringen. „Aber du wirst nicht erfahren, was es ist, also erspare uns das. Es geht dich nichts an. Es gibt andere Probleme. Eines dieser Probleme bist du, und was du verursacht hast.“ „Und wieso das?“, fragte Jan, und fühlte sich gleichzeitig etwas unbehaglich. Ihm ging gerade erst auf, dass Agneau lästige Probleme möglicherweise löste, indem er sie einfach vom Turm warf. Selbst, wenn er gerade die Arme verschränkte und nicht so aussah, als könnte er irgendjemand gefährlich werden.

„Wir hatten gerade beschlossen, Eravier in Sicherheit zu wiegen. Er sollte davon ausgehen, dass wir aufgeben haben ihm zu folgen. Dann hast du ihm fast die Kehle durchgeschnitten, eine Hetzjagd veranstaltet und am Ende heraus posaunt, dass du im Auftrag der Rebellion gehandelt hast. Kannst du dir vorstellen, was das für unsere Pläne bedeutet?“ 
Seine Stimme war trügerisch ruhig, aber Jan spürte, dass darunter Ärger brodelte. Trotzdem hatte er nicht vor, sich deshalb einschüchtern zu lassen. „Keine Ahnung. Ich bin nur abgehauen, als es brenzlig wurde, das ist alles“, wich er aus. „Aber nicht allein“, sagte Agneau scharf, und jetzt zeigte er seine Wut offen. „Du hast etwas mitgenommen, das uns gehörte. Du hast jemand mit hinein gezogen, den wir außen vor lassen wollten.“ 

Ah, da war sie wieder, die alte Leier. Der selbe Unterton, den Jan bei Tarn verabscheut hatte, die absolute Überzeugung, dass sie über Valions und sein Schicksal bestimmten konnten. „Valion gehört euch nicht“, fauchte er. „Und er ist freiwillig mitgekommen, ich habe ihn zu nichts gezwungen! Er hatte auch kein Halsband, auf dem sein Besitzer stand!“ Agneau ließ sich von seinen Worten nicht beunruhigen, aber gerade das fachte Jans Wut nur weiter an: „Und hast du vielleicht mal daran gedacht, dass Eravier längst weiß, was ihr mit ihm vorhabt? Eravier hat schon vorher geahnt, dass Valion mit der Rebellion zusammen arbeitet! Er war wohl doch nicht der perfekte Spion, für den ihr ihn-“ 

„Spion? Ts…“, unterbrach ihn Agneau, und jetzt lächelte er tatsächlich leise. „Das war er nie. Aber es ist vielleicht besser so, dass du nicht verstanden hast, was wir mit ihm vorhaben. Wenn du es nicht weißt, weiß Eravier es vermutlich auch nicht. Auf der anderen Seite hätte er Valion dann vielleicht laufen lassen und uns eine ganze Menge Ärger erspart.“ „Was wolltet ihr dann mit ihm? Was soll das alles?“, bohrte Jan, aber er bekam nur einen wissenden Blick aus den dunklen Augen zurück. Agneau war nicht dumm, er ließ sich nicht aushorchen. „Ich habe schon zu viel gesagt. Du weißt genug, um dir ein Bild davon zu machen, in welcher Lage wir uns befinden.“

„Gut, du willst nichts dazu sagen?“, fragte Jan aufgebracht. „Dann etwas Einfacheres: Was zum Teufel wollt ihr mit mir? Was soll ich hier?“ „Ach, das ist dir noch nicht aufgegangen?“, fragte Agneau, und jetzt wurde er auch noch spöttisch. Jans Wut, seine Verwirrung, all das war für ihn völlig unbedeutend, das verstand Jan in diesem Moment nur zu gut. Er hatte kein Mitleid mit ihm, keine Sympathie für ihn abgesehen von einem Rest Höflichkeit und Anstand. Für ihn war Jan nur ein nützliches Werkzeug, und er fröstelte plötzlich.

„Du bist zuallererst unser Druckmittel gegen Valion. Unsere Rückversicherung, dass er uns nicht noch einmal so bloß stellt. Dass er in Zukunft das tut, was wir wollen, zu unserer Sicherheit, und seiner“, bestätigte Agneau Jans Verdacht gleichmütig, und dessen Hände verkrampften sich augenblicklich zu Fäusten. „Ich dachte er wäre kein Spion“, flüsterte er, und Agneau schenkte ihm einen langen, nachdenklichen Blick, als wäge er alle Konsequenzen ab, bevor er preisgab: „Nur weil er kein Spion ist, heißt das nicht, dass er nicht wichtig ist. Dass er nicht jemand wichtig ist.“ 

Das ergab auf unheimliche Art Sinn. Jemand hielt die Hand über Valion, von Anfang an. „Dann hat Tarn-“ Ihn beschützt, wollte er sagen, doch Agneau warf ihm einen so finsteren Blick zu, dass er seinen Satz gar nicht beendete. „Er hat eigenmächtig gehandelt, selbst wenn er Valion beschützt hat. Er hat jemand von uns verletzt. Er hat seinen Rang und Namen verspielt, wir haben nichts mehr mit ihm zu schaffen. Das solltest du im Gedächtnis behalten, falls du ihm jemals wieder begegnest.“ 

Aber es war seine Aufgabe, Valion zu beschützen. Deshalb hat er ihm geholfen. Deshalb wollte er mich erschießen. Ich wäre nur ein Opfer gewesen, dachte Jan. Dieser Gedankengang war logisch, aber er war trotzdem bitter. Jan erkannte immer mehr, dass er nur in einen von langer Hand geplanten Schachzug hinein gestolpert war. Was auch immer die Absicht der Rebellion gewesen war, oder immer noch war, er und Valion hatten unabsichtlich das Blatt neu gemischt.

„Das ist nicht der einzige Grund, warum ich hier bin, oder?“, fragte Jan noch einmal, und Agneau schwieg wieder lange, bevor er antwortete: „Es gibt verschiedene Fakten zu betrachten. Erstens, dass wir dich auch noch als Druckmittel verwenden können, wenn du tot bist. Valion würde niemals erfahren, dass du nicht mehr lebst. Aber da ist noch etwas anderes…“ „Du hast Eravier fast die Kehle durchgeschnitten“, sagte Flo, der bisher ruhig geblieben war. „Du hattest keine Angst vor ihm!“  Bewunderung klang in seiner Stimme mit. Das, und kaum verhohlene Freude an Eraviers Unglück, und schaudernd dachte Jan an Lezards Blick. Die Rebellen verabscheuten Eravier nicht nur, sie hassten ihn mit einer Intensität, die ihm Angst machte. 

„Was Flo sagen will ist, dass du mutig bist“, warf Agneau ein. „ Und ein Händchen für Waffen hast. Und du hasst Eravier, genau wie wir. Wir könnten dich loswerden, aber wir würden dich vielleicht lieber dazu gewinnen. Du weißt sowieso nicht, wo du hin willst, oder?“

Jans Kopf schwirrte, und verwirrt lachte er auf. „Ihr… ihr bietet mir an, bei euch mit zu machen? Für euch zu arbeiten, für euren…“, fragte er, und für einen Moment fand er nicht einmal das richtige Wort dafür. „Rebellionsscheiß? Mit Kapuze im Gesicht herum laufen und ein paar Leute abstechen?“

Einerseits schien ihm das wie Irrsinn, ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Er wollte seine Gefangenschaft, Eravier, all das hinter sich lassen. Und da war noch etwas, das er nicht wagte auszusprechen. Er hasste Eravier nicht so sehr wie sie. Er wusste nicht einmal, wie er das fertig gebracht hätte, was Eravier ihm hätte antun müssen, damit er ihn derartig hasste. Was natürlich die Frage aufwarf: Was hatte Eravier getan? Denn wenn es so schrecklich war, wie er dachte… dann wollte er vielleicht nicht die Wahrheit erfahren.

Aber andererseits hatte Agneau recht. Jan wusste beim besten Willen nicht, wohin er sich wenden würde, wenn die Rebellen ihn gehen ließen. In welche Richtung würde er gehen, ohne Valion? Nein, er musste zurück. Er musste ihm helfen, irgendwie.

Aber wollte er dafür wirklich einen Krieg führen, der ihn gar nicht betraf?

Vielleicht. Wenn der Preis stimmte.

 Und als hätte Agneau seine Gedanken gelesen, sagte er: „Du könntest frei sein, wenn alles vorbei ist. Du, und Valion.“ „Das ist doch bestimmt eine nette Lüge“, murmelte Jan. „Er ist für euch nur ein Werkzeug. Euch ist doch egal, ob er lebt oder stirbt. Genauso, wie dir egal ist, auf welchem Weg ich diesen Turm wieder runter komme, wenn ich mich gegen euch entscheide. Deshalb stehen wir hier, oder?“ 

„Vielleicht“, antwortete Agneau gelassen. Sein Blick war kalt, seine Stimme war kalt, so eisig wie das fahle Mondlicht. Er lächelte nicht, zumindest das hatte er Eravier voraus. Aber das hieß nicht, dass er weniger skrupellos war. Was Eravier getan hatte? Wer wusste das schon. Was Jan wusste war, dass er den Nebenschauplatz eines Krieges zu sich geholt hatte. Und das Schlimmste daran? Dass ihn das vermutlich sogar amüsiert hätte, wenn er es gewusst hätte.

„Wir wollen euch nicht unbedingt sterben sehen“, sagte Agneau, und zumindest das kaufte Jan ihm ab. „Und wenn Valion erst seinen Auftrag erledigt hat… wir wären dankbar. Wir arbeiten daran, ihn auf diesen Auftrag vorzubereiten, aber vermutlich ließe er sich eher von dir als jemand anders überzeugen.“ „Und wenn ich etwas ganz Verrücktes tue? Wenn ich zu Eravier gehe und ihm erzähle, was ich weiß?“, fragte Jan, und kannte die Antwort. „Dann wirst du sterben, in dem Moment, in dem du das erste verräterische Wort ausgesprochen hast. Aber das war dir längst klar, oder? Also, was ist deine Entscheidung?“

Der Wind frischte auf, heulte um den verlassenen, bröckelnden Kirchturm. Er war kalt, so kalt wie Jan sich fühlte. Hatte er denn eine Wahl?

Natürlich. Aber wenn Tarns eins über ihn gewusst hatte, dann, dass er und Valion sich immer einander zuwenden würden. So hatte er sie auseinander gebracht. So würde die Rebellion sie wieder zusammen bringen.

Der Nachtwind wehte seine Antwort fort.

Das Feuer ließ sich Zeit. Das dürre Reisig brannte knisternd, krümmte sich und stob Funken, aber die Flammen griffen nur langsam auf die zwei am Boden liegenden Bündel über. 

Das dauerte alles zu lange. Ansell griff bereits nach weiteren dünnen Zweigen, um das Feuer weiter anzufachen, als er abgehalten wurde.
„Lass gut sein. Es wird gleich richtig brennen.“
Ansell hob abwehrend die Hände und trat einen Schritt zurück. „Wollte nur sicher sein“, murmelte er. Der andere, einer von Karvashs Dienern, nickte, der dritte zuckte gleich darauf mit den Schultern. „Wird so oder so seine Zeit brauchen, bis alles verbrannt ist. Ich meine, so ‘ne… weißt schon… ist feucht, oder? Das ganze Blut, und so…“
Er schwieg, wollte nicht weiter sprechen. Er hatte sich nicht einmal dazu durch gerungen, das Wort »Leiche« auszusprechen. Die Aufgabe war so schon schwer genug.

Sie standen zu fünft um den eher kläglichen Scheiterhaufen: drei Diener, darunter Ansell, und zwei Wächter, die das Vorgehen aufmerksam beobachteten, sich aber sonst im Hintergrund hielten. Alle von ihnen vermieden es genauer hinzusehen, was sie da verbrannten, und sie fröstelten nicht nur wegen der kühlen Morgenluft. Der Horizont färbte sich gerade erst; der schmale Streifen Licht am Horizont war heute nicht freundlich hell und orange, sondern anthrazitfarben, rot und kupfern, wie Blut und Metall. 

Sie hatten Durands und Faures Leichen eher verbrennen wollen, die letzten Ereignisse hatten ihnen nur keine Zeit dazu gelassen. Doch manches ließ sich nicht ewig aufschieben; sie konnten die Leichen nicht mitnehmen, und sie anständig zu begraben war ihnen verboten worden. Also mussten sie ihre Entsorgung auf diese Weise hinter sich bringen.
Holz und Reisig hatten sie sammeln müssen, um das Feuer anzufachen, aber auch angekohlte, nicht mehr brauchbare Planen von dem zerstörten Zelt hatten sie genommen. Damit hatten sie die Leichen eingewickelt, nicht aus Anstand, sondern für sich selbst. Sie hätten noch viel mehr getan, um nicht zusehen zu müssen, wie das Fleisch schmorte, das Fett schmolz und das Haar sich in der Hitze kräuselte und verglühte. Den Stoff hatten sie außerdem mit Öl übergossen, aus Sorge, dass das Feuer sonst nicht übergreifen würde. 

Noch brannte der Scheiterhaufen widerstrebend, doch die Flammen fanden nun Nahrung und breiteten sich aus. Wenn das Feuer die Leichen vollständig eingehüllt hatte würden sie gehen, das hatten die Diener sich abgemacht; dass ihre Aufgabe damit abgeschlossen war. Sollten die Wächter warten, bis selbst die Knochen der beiden unglückseligen Toten nur noch Asche waren; sollten sie den Gestank von brennendem Fleisch einatmen.

Wenn es denn stinken würde. Ansell war sich da nicht sicher. Was, wenn der Geruch an bratendes Fleisch erinnern würden, wie Schwein, das am Spieß geröstet wurde? Die Vorstellung befiel ihn, während er mit zusammen gekniffenen Lippen in die Flammen starrte, und sie war so alptraumhaft, dass er keine Minute länger aushielt. „Das reicht jetzt“, sagte er und wandte sich ab. Seine Beine zitterten und wollten ihm kaum gehorchen, als er davon ging.

 Er war sich nicht sicher gewesen, was die anderen beiden Diener tun würden, aber sie folgten ihm kommentarlos, und die Wächter hielten sie nicht auf. Dicht aneinander gedrängt gingen sie vom Rand des Lagers zurück zu ihrer eigentlichen Arbeit, mit hängenden Köpfen und unsicheren Schritten. Obwohl ihre Schwermut hauptsächlich von ihrer schrecklichen Tat herrührte, glaubte Ansell, dass sie auch einen anderen Grund hatte. Die unausgesprochene Furcht, die den ganzen Wagenzug ergriffen hatte, lag an diesem Morgen auch über ihnen. Und obwohl sie sich kaum kannten, rückten sie doch näher zusammen und gingen ihren Weg gemeinsam, und begannen irgendwann, wie zum Trost, ein Gespräch. 

„Das alles gefällt mir nicht“, murmelte der eine, ein kleiner, dürrer Mann mit ergrautem Haar und vielen Sorgenfalten. Er hieß Pierre und war Karvash unterstellt. Seine Weggefährten nickten mit bekümmerter Miene. „Kannst’e laut sagen“, stimmte der andere zu, ein kräftiger Kerl um die dreißig, der, soweit Ansell sich richtig erinnerte, Michel hieß und zu Faures Dienern gehörte. Ansell konnte nicht umhin, ärgerlich zu antworten: „Bloß nicht. Dann sacken sie dich ein und verhören dich. Bringen dich vielleicht zu Eravier, und du siehst ja, was du davon hast.“ 

Sie schauderten und dachten alle an die verhüllten Bündel. Ansell bedauerte fast, dass er Michel zurecht gewiesen hatte, aber Pierre nickte traurig und stimmte zu. „Er hat Recht, das wäre nicht klug. Die halten sich nicht mehr zurück. Ein falsches Wort, und sie graben alles um.“ „Oder geben dir eine aufs Maul, wie Gilbert, als sie dieses Buch bei ihm gefunden haben“, brummte Michel wütend und spuckte aus. „Und andere hat’s auch erwischt. Kann gar nicht mehr zählen, wie viele ich kenne, die eins aufs Dach gekriegt haben. Und die haben die Frauen angegrabscht, und kommen damit durch. Wie lange sollen wir das noch mitmachen?“ 
Pierre schwieg, bevor er leise sagte: „Vielleicht brauchen wir die Durchsuchungen ja deshalb. Es heißt, bei euch proben sie den Aufstand wegen Faures Tod…“ Michel hielt sofort wütend dagegen: „Was?! Bei uns hieß es, Karvash hat die Hosen voll und hetzt seine Leute auf! Und das glaube ich gerne, bei den-“ 

„Das sind alles nur Gerüchte“, unterbrach Ansell sie schroff. „Fragt euch doch mal, wer was davon hat, wenn wir uns alle nicht über den Weg trauen. Wer hat was davon, wenn jeder gegen jeden ist?“

Die Antwort war für ihn selbst klar. Eravier streute Gerüchte, mit der Hilfe einiger Wächter. Wenn die Diener uneins waren, konnte jeder sie bequem gegeneinander ausspielen; einen Aufstand würde es dann niemals geben. Aber Ansell sah an den verwunderten Blicken der beiden Männer, dass sie das nicht verstanden, und er wollte nicht mehr sagen. Das konnte er schon deshalb nicht, weil zu viel auf dem Spiel stand, um sich in einem unbedachten Moment zu verraten.

Er setzte gerade an das Thema zu wechseln, als eine Dienerin ihren Weg kreuzte. Sie trug zwei Wassereimer, und mühte sich furchtbar mit ihnen ab; anscheinend hatte sie ihre Kräfte völlig überschätzt. Ihre Miene zeigte grimmige Entschlossenheit, als sie die Eimer absetzte und mit einigen schnellen Bewegungen ihre Hände lockerte, die gerötet waren von ihrer Last. Sie schien so in ihrem Tun versunken, dass sie die Männer scheinbar gar nicht bemerkte, die an ihr vorüber gingen. 
Doch Ansell hielt dennoch inne und berührte sie sanft an der Schulter. „Kann ich dir helfen?“, fragte er, als sie zu ihm aufgesehen hatte. Sie nickte, schenkte ihm ein warmherziges Lächeln, händigte ihm einen der Eimer aus und winkte ihn weiter.

Ansell wandte sich noch einmal zu seinen zwei Wegbegleitern um und zuckte entschuldigend mit den Achseln, aber er musste kein weiteres Wort der Erklärung oder des Abschieds verlieren. Michel hielt kaum inne, sondern kommentierte im Vorbeigehen nur anzüglich: „Halt das Mädel nicht zu lange vom Arbeiten ab! Man sieht sich.“ Pierre, ein paar Jahre älter und ein wenig weiser, verdrehte die Augen und nickte der Dienerin freundlich zu, bevor er ebenfalls davon ging. Dann folgte Ansell dem Mädchen durch das Lager. 

Sie blieben nicht lange auf ihrem ursprünglichen Weg. Das Mädchen bog nach nur wenigen Schritten ab, und ab diesem Moment wandelten sie auf einem seltsam gewundenen Pfad, durch Nischen zwischen den Zelten und Wagen, durch die sonst niemand ging, manchmal im Kreis, immer im Schatten, dort, wo noch keine Feuer oder Lampen brannten. Und so umgingen sie heimlich, still und leise alle anderen Diener und Wächter, die zu dieser Zeit wach waren, und wurden kaum bemerkt. Sie waren unsichtbar für alle Unaufmerksamen.

Ansell wusste nicht, woher das Mädchen die Fähigkeit hatte, derartig ungesehen zu bleiben, aber sie verblüffte ihn jedes Mal aufs Neue. Er hatte sie nicht einmal wahr genommen oder gewusst, dass sie im Wagenzug mit reiste, bis sie ihm eines Tages ganz bewusst über den Weg gelaufen war. Vielleicht war das der Grund, warum Fourmi sie als seine Botin ausgewählt hatte. Und Ansell wusste, dass er jetzt, in ihrem Windschatten, auf dem Weg zu dem Ort war, an dem Fourmi sich aufhalten musste.

Fourmi, diese schattenhafte, kaum greifbare Gestalt, die er niemals gesehen hatte und der er sich doch mehr als jedem anderen hier verpflichtet fühlte, einschließlich seinem eigenen Herrn. Er konnte nicht einmal benennen, worauf dieses Vertrauen gründete, außer dem vagen Wissen, dass jemand eine schützende Hand über ihn gehalten hatte, seit er begonnen hatte unbequeme Fragen zu stellen. Zum Beispiel, warum Karvash sie in diesem Jahr begleitete, oder was Eravier sich dabei dachte, einen gigantischen Aufruhr anzuzetteln, nur um eine einzelne Sklavin zu erbeuten. Fragen, die ihm böse Blicke von seinen Kameraden und die wenig subtile Aufmerksamkeit von Eraviers Spitzeln eingebracht hatten, bis eines Tages ein stummes Mädchen vor ihm stand und ihm bedeutete, dass er ihr folgen sollte.
An diesem Tag hatte er Fourmi kennen gelernt. Oder besser, er hatte seine Stimme gehört, denn zu Gesicht bekommen hatte er ihn nie. Aber das störte ihn nicht sonderlich; Er hatte nur wissen wollen, woran er war, was Eravier im Geheimen plante, was überhaupt vor sich ging, und Fourmi hatte diese Neugier mehr als befriedigt. Und ein Angebot unterbreitet, das er niemals abgeschlagen hätte; frei zu sein. Das war eine ungeheuerliche Versprechung, aber aus Fourmis Mund hatte er ihr Glauben geschenkt. Und wann immer die Botin ihn gerufen hatte, war er gefolgt und hatte seine Augen und Ohren der Rebellion geliehen. 

Deshalb stellte er auch keine Fragen, als die Dienerin ihm plötzlich Einhalt gebot und ihn nur stumm ansah, statt sich schnell zu entfernen. Sie waren jetzt in einer Nische zwischen zwei Wagen, abgeschirmt von allen neugierigen Augen. „Soll ich hier warten?“, fragte Ansell, und sie schüttelte den Kopf, fixierte ihn stattdessen, sodass er wusste, dass er seine Aufmerksamkeit ganz ihr schenken musste. Dann zeigte sie ihm langsam und mit größter Konzentration ein Handzeichen.

Es gab eine vereinbarte Anzahl dieser Zeichen. „Wir sind sicherer, wenn wir uns nicht allzu oft begegnen“, hatte Fourmi ihm bei einem ihrer wenigen Treffen erklärt. Die Zeichen waren leicht zu überbringen, für Außenstehende nicht zu deuten, und nicht schwer zu merken, da es nicht zu viele von ihnen gab. Genauer gesagt nur vier, und nur drei davon hatte Ansell bisher überhaupt überbracht bekommen. 
Das erste lautete »Erhalte Anweisungen« - das Zeichen, das die Dienerin ihm heimlich überbracht hatte, als sie ihre Hände gelockert hatte und Ansell bedeutete, dass er ihr folgen und mit Fourmi sprechen musste, um einen Auftrag zu erhalten. Meistens musste er beobachten, lauschen oder Dinge beschaffen. Hatte er getan, was ihm aufgetragen worden war, erhielt er irgendwann das zweite Zeichen: »Berichte«. Und dann war da ein simples »Warte«, das bedeutete, dass er sich nur still verhalten und keinen Verdacht auf sich ziehen sollte.

Sie gab ihm keines dieser drei Zeichen, sondern das letzte. Das einzige Zeichen, das alle anderen unbedeutend machte.

»Flieh«

Ansell schluckte trocken, und plötzlich kribbelte seine Haut, als würden Insekten darüber kriechen. Ameisen vielleicht. „Wirklich?“, fragte er leise, und das Mädchen nickte. Flieh, formulierte sie noch einmal stumm mit den Lippen, über die, so lange er sie kannte, nie ein Ton gekommen war.
Und obwohl er nicht fragen durfte, obwohl er nicht einmal eine weitere Sekunde inne halten durfte, wenn er dieses Zeichen erhielt, fragte er leise: „Ist es wirklich so schlimm? Bin ich in so großer Gefahr?“ 

Das Mädchen zögerte, dann griff sie sanft seine Hand, drückte sie kurz, und nickte ihm anerkennend zu. Du hast getan was du konntest. Geh jetzt. Es ist genug, sagte ihr Blick. Dankbarkeit lag darin, und obwohl Ansell nie erwartet hatte, seine Mühen in irgendeiner Weise vergolten zu bekommen, fühlte er doch in diesem Moment, dass sein Einsatz nicht vergebens gewesen war. Und er war unendlich erleichtert. „Gut, ich breche sofort auf. Sei vorsichtig! Und Fourmi soll es auch sein!“ Sie lächelte, nickte, und winkte ihn fort, und er nahm tatsächlich die Beine in die Hand.

Fourmi atmete tief ein und dann lang aus, und strich gedankenverloren ihr Kleid glatt.

Das war der erste. Fehlten ein paar weitere. Aber Ansell war lange Zeit ihr wichtigster und loyalster Helfer gewesen, und es war ihre Schuldigkeit, dass er als erster entkam. Und entkommen würde er, dafür würden ihre Verbündeten sorgen. Aber jetzt musste sie schnell handeln und zügig alle anderen ihrer Spitzel kontaktieren, die wichtigen wie die unwichtigen. Das Fehlen eines Einzelnen würde schon Verdacht erregen, das Verschwinden weiterer würde dann endgültig alles zum Einsturz bringen.

Und dann, wenn alle Spione entkommen und alle Spuren getilgt waren… vielleicht würde sie dann selbst gehen. Das, was sie suchte, wollte nicht gefunden werden. Zeit. Was sie brauchte war Zeit, um nachzudenken und neu anzusetzen.

Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, nicht wahr? Bis dahin musst du all deine Helfer durch eine zähe, aber unerfahrene Frau und einen Jungen ersetzen.

Fourmi schüttelte den Gedanken ab. Nicht jetzt. Er wandte sich um und griff die Wassereimer, wobei er schwer ausatmete, um gegen den Schmerz in den Armen an zu kämpfen. Die Eimer hatte er schließlich nicht nur zur Tarnung mitgenommen. Sein Ziel waren die niederen Sklaven, und schwerfällig mühte er sich mit seiner Last quer durch das Lager.

Jetzt, in den frühen Morgenstunden, war vielleicht die einzige Zeit des Tages, zu der man wirklich unbeobachtet sein konnte - wenn die Wachen müde waren, und die meisten Diener noch nicht wach. Deshalb suchte sich Fourmi diese Zeit aus, um mit den niederen Sklaven zu sprechen. Sie schliefen unruhiger, zusammengepfercht, wie sie waren, wachten länger, beobachteten vieles, was vor sich ging. 
Die Dinge, die er zu ihnen schmuggelte, waren immer nur Kleinigkeiten. Nicht mehr als zusätzliches Wasch- und Trinkwasser, Verbände, die er aus den Kleidungsbeständen abzweigte, Decken, falls er irgendwo ungenutzte sah. Aber dafür revanchierten sie sich mit kleinen Diensten, und das war nicht zu verachten.

Fourmi schlich am Lager der Wächter vorbei, und sah nur einige wenige von ihnen, gähnend und bereit, ihre wenigen Stunden Schlaf einzufordern. Gegen Mittag sollte der Zug die erste Etappe nehmen, bis dahin würden sie schlafen, und das kam Fourmi zu Pass.
Er hatte diesen Abschnitt gerade hinter sich gelassen und wollte zu den zwei vergitterten Wagen weiter huschen, als ihm plötzlich eine Gestalt ins Auge fiel, die bereits dort stand und in ein Gespräch vertieft war. Noch jemand, der die frühe Morgenstunde nutzte. Im ersten Moment rechnete Fourmi mit Tarn, der ganzen Verkörperung seines Ärgers. Aber der zweite Blick enthüllte, dass es sich um jemand anders handeln musste: die Haare waren zu lockig, der Hautton selbst im schwachen Licht des anbrechenden Tages auffällig dunkler. 

Fourmi wich zurück, gerade noch rechtzeitig, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Instinktiv wollte er ausweichen, aber dann entschied er sich dagegen. Wer war da bei den Sklaven, und warum? Vielleicht war es nicht wichtig, aber er wollte trotzdem einen Blick auf diesen Störenfried werfen. 
Kurz entschlossen ließ er seine Last stehen, hastete zu dem am nächsten gelegenen Wagen und zog sich lautlos daran hoch. Innerhalb von Sekunden lag er flach auf dem Wagendach, eine kaum sichtbare Erhebung im Zwielicht des anbrechenden Tages, und beobachtete konzentriert, was sich weiter unten abspielte.

„Ihr habt Kontakt zu irgend jemand“, sagte der junge Mann. Der Wind trug seine leisen Worte direkt in Fourmis Richtung, und endlich erkannte er, um wen es sich handelte, sowohl an der Stimme als auch am Ausdruck seines Gesichts. Marceus. 
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du dir das vorstellst, Kleiner. Wir sind immer hier, uns lädt niemand zum Dorftanz ein“, gab eine der Sklavinnen zurück und lachte leise, und einige andere stimmten mit ein. „Ich weiß, was ihr zu Valion gesagt habt. Ihr habt ihm eine Botschaft überbracht“, beharrte Marceus, und Fourmi fluchte leise in sich hinein. Er hatte damit gerechnet, dass Valion seine Erlebnisse weiter geben würde, aber nicht, dass sein Freund es darauf anlegen würde, dem weiter nachzugehen.
„Ich überbring’ dir jetzt mal ne’ Botschaft, du kleiner Scheißer“, knurrte einer der Männer und trat einen aggressiven Schritt auf ihn zu, eine stumme Drohung, die er nicht wahr machen konnte. „Dein Gequatsche bringt uns nur Ärger.“ „Wir haben ihn vorgeführt, das war alles“, ergänzte ein anderer Mann wesentlich milder. „Ihn ausgelacht. Alles andere war Einbildung.“ „Ihr habt über Jan gesprochen. Wie hättet ihr sonst von ihm wissen sollen?“ „Der Junge ist tot“, spie eine ältere Frau, doch Marceus ließ sich davon nicht überzeugen. „Ihr habt gesagt, dass die Rebellion ihn hat. Was haben die mit ihm vor? Was wollen sie von Val?“ „Denkst du, das wissen wir?“, gab einer zurück, und Marceus stieg sofort darauf ein. „Wenn nicht ihr, wer dann? Mit wem muss ich reden?“ 

Einen Moment herrschte Schweigen, und die Sklaven wechselten Blicke. Unentschlossen.  Dann sagte eine jüngere Frau leise: „Mit niemand. Wenn sie mit dir sprechen will, wird sie dich finden.“ 
Marceus schien einen Moment perplex. „Sie? Der Spion ist eine Frau?“ „Aber dass du hinter ihm her bist und Fragen stellst, wird ihm nicht gefallen“, antwortete jetzt einer der Männer, und Fourmi grinste. Das war gut. Sowohl die Wahrheit, als auch eine Ablenkung, und Marceus schien mit jeder Minute verwirrter. „Ihr versucht mich auf eine falsche Fährte zu locken“, stellte er düster fest, und erntete dafür nur Gelächter. „Lass gut sein“, sagte eine der älteren Frauen mitleidig. „Bist noch weniger wert als wir. Misch’ dich nicht ein, bevor dir was passiert.“ „Was soll das heißen?“, fragte Marceus scharf, und sie schnitt sich pantomimisch die Kehle durch und lächelte unangenehm. „Sie schafft die beiseite, die ihm in die Quere kommen.“ 

Marceus verschränkte nur unbehaglich die Arme bei dieser Drohung, und er schien zum ersten Mal wirklich unschlüssig, was er noch sagen sollte. Vermutlich würde er jetzt gehen, in dem Wissen, dass er an dieser Stelle nicht mit seiner Suche weiter kam, und Fourmi entspannte sich bei diesem Gedanken.

Genau in diesem Moment schallte ein unverständlicher Ruf durch das Lager, und Fourmi zuckte zusammen und richtete sich instinktiv auf. Sie sah drei Wächter auf Pferden, die das Lager verließen, in Eile und ohne sich umzusehen. Was zum Teufel ging da vor? Wer hatte das befohlen, so kurz vor ihrer Abreise? Und wohin waren sie unterwegs? Kalte Furcht griff nach ihr, und sie musste sich mit Macht daran erinnern, dass sie immer noch exponiert war. Sie nahm sich nicht die Zeit, nachzusehen, ob Marceus sie bemerkt hatte. So schnell sie konnte, warf Fourmi sich herum, schwang sich an ihrem gesunden Arm hinab, hastete im Laufschritt zu einem weiteren Wagen und rollte sich darunter.

Marceus hatte sie gesehen, natürlich. Sie hörte seine hastigen Schritte, als er versuchte ihr zu folgen, nur um langsamer zu werden und irritiert stehen zu bleiben, als er sie im nächsten Moment nicht entdeckte. Fourmi beobachtete ihn, wie er sich misstrauisch umsah, auf der Suche nach der Person, die er eben noch hatte weglaufen sehen. Sein Blick zuckte in Fourmis Richtung, glitt dann aber über sein Versteck hinweg, irrte durch die Umgebung. 
Nein, er hatte ihn verloren. 

Andere hätten sich abgewandt; vielleicht geflucht, oder eine hektische Suche begonnen. Aber Marceus stand einfach nur ruhig da, lauschte. Dann lächelte er vage, zu gleichen Teilen amüsiert und tief besorgt. Als er zu sprechen begann, drohte er nicht. Er stellte auch nicht die dumme Frage, wer da sei, oder wo Fourmi sich versteckte. Er wusste, dass Fourmi ihm zuhörte, dass er in diesem Moment seine Aufmerksamkeit hatte. Und dass es völlig sinnlos war, ihn aus seinem Versteck zu locken.

„Ich will nur helfen“, sagte er leise, aber deutlich. „Und ihr könnt euch eure Freunde nicht gerade aussuchen, oder? Redet mit mir. Helft mir, Val und Jan zu helfen. Den anderen Sklaven. Und euch. Es wird immer schlimmer, das wisst ihr doch auch.“

Und Fourmi musste sich zwingen, ihm nicht zu antworten. Denn einen Moment lang war ein Ausdruck in Marceus Augen, den Fourmi schon einmal gesehen hatte. Sie waren sich im Wald begegnet, und sie hatten beide auf ihre Weise daran gearbeitet, Valion zu retten. Und ja, schon damals hatte er bedauert, dass er Marceus nicht weiter verwenden konnte. Auch wegen Jefrem, und dem, was er gesagt hatte, als Fourmi ihm verkündet hatte, dass er sich dem Zug anschließen würde; diese Mitteilung war nur eine Höflichkeit einem alten Verbündeten gegenüber, und so hatte Jefrem sie auch verstanden.

Ich werd’ den Teufel tun und dir Steine in den Weg legen. Was das angeht, bleib ich euch treu, da geb’ ich mein Wort drauf. Aber lasst mich und meine Jungs in Ruhe. Tarn habe ich euch überlassen, das war ein Fehler. Haltet uns ‘raus, ist das klar?

Und Marceus war, so oder so, ganz und gar nutzlos, hatte Fourmi sich das nicht selbst eingeschärft? Wie hätte er nützlich sein können, wenn er aus jeder Menschenmasse heraus stach? Er war zu groß, das Gesicht zu markant, die dunklen Augen zu klug; er fiel auf. Er war Eravier aufgefallen, auch wenn er das sorgfältig verbarg, und Jefrem, der sehr wohl wusste, was in ihm steckte. Selbst Valion, der sonst praktisch nichts bemerkte, das sich vor seiner Nase abspielte, hatte Marceus irgendwann bemerkt. Und wenn das kein Indiz war, was dann?

Vor allem den Jungen. Der hat schon genug durch gemacht.
Ich rekrutiere keine Kinder
, hatte sie abfällig geantwortet.
Dann behalt’ das im Kopf, wenn du ihn etwas besser kennst, hatte er nur vage lächelnd gesagt.

Marceus wartete auf eine Antwort, eine lange, lange Zeit. Dann schüttelte er langsam den Kopf, und sagte leise, wie zu sich selbst: „Wenn ihr mir überhaupt zuhört. Vielleicht ist es euch ja auch einfach egal.“ Er harrte noch einen Moment unschlüssig aus, dann zuckte er mit den Achseln, wandte sich schließlich doch ab und trabte davon.

Erst als Fourmi sicher war, dass Marceus verschwunden war und niemand sonst in der Nähe, wagte er sich hervor, und stand dann selbst wortlos da. Unschlüssig, was zu tun war.

Es wird immer schlimmer, das wisst ihr doch auch.

Ja, damit hatte er Recht. Marceus war nicht dumm, er spürte die Unruhe und die Gefahr. Er wollte helfen, und wie gern hätte Fourmi ihn einbezogen.
Aber nein, das konnte er nicht riskieren. Valion und Anya mussten genügen. Anya, die ihr nahe stand, und Valion, der ihm nahe stand. Letztendlich würde sich so eine nutzbare Verbindung ergeben, wenn erst alles an seinem Platz war. Wenn Anya Valion vertraute, und er ihr. Sie mussten sich dazu durchringen, irgendwie. Denn es gab sonst nichts, was Fourmi tun konnte. Nicht jetzt. Nicht allein. 

Der nächste Schritt lag in Anyas Hand.

Valion schlief lange an diesem Morgen. Oder war es schon Mittag? Während er manchmal träumend, manchmal an der Grenze zum Wachen da lag, hatte er keinerlei Zeitgefühl. Um ihn herum erwachte das Lager zum Leben, und irgendwann fielen Sonnenstrahlen durch die Planen und schweren Vorhänge herein. Aber er zog sich das Kissen über den Kopf, dämpfte das Licht und den Lärm, und schlief wieder ein. Er träumte wirr, und vergaß alles, wenn er zwischendurch erwachte.

Vage nahm er wahr, wie Anya neben ihm schlief. In den frühen Morgenstunden hatten ihre Alpträume nachgelassen, oder er hatte zu tief geschlafen, um sie noch zu bemerken. Zuerst hatte sie sich herum geworfen, und oft hatte sie Worte und Satzfetzen gemurmelt. Das war das erste Mal, dass ihm das aufgefallen war, oder dass er deswegen erwachte. Hatte Jadzia sonst ihre Hand gehalten und sie dadurch beruhigt? 
Jadzia war nicht da. Valions schlaftrunkener Verstand war nicht in der Lage, sich daraus einen Reim zu machen. Sie konnte nicht fort sein, aber das war sie. Er war zu müde, um darüber nachzudenken.
Also hatte er stattdessen Anyas Hand gehalten, und sie hatte sich beruhigt. Einmal wachte er auf, und sie lag bei ihm und schmiegte sich nahe an ihn, und er hatte eine Wange auf ihre Schulter gebettet. Ihr Haar war weich und duftete schwach nach Seife und Lavendel. Als er das nächste Mal erwachte, schlief sie von ihm abgewandt. Vielleicht hatte er das auch nur geträumt.

Er driftete gerade vom Schlaf ins Halbwache, als er das Rascheln von Stoff hörte und ein verirrter Windzug ihn traf. Dann kamen schwere Schritte auf seinen Schlafplatz zu. Vielleicht war Jadzia zurück gekehrt? Valions schläfrigen Verstand schien das plausibel, bis ihm einfiel, dass eine einzelne, schmale Frau vermutlich nicht solch einen Lärm gemacht hätte.
Dann wurde er ohne Vorwarnung grob am Arm gepackt und hoch gezerrt.

Reflexartig spannte er sich an und riss die Augen auf, wehrte sich gegen wen auch immer, und wurde mit Wucht zurückgestoßen. Hätte kein Kissen unter ihm gelegen, hätte er sich heftig den Kopf angeschlagen; stattdessen keuchte er auf und fühlte im nächsten Moment etwas kaltes, das sich um seinen Arm schloss. Völlig perplex starrte er auf die eiserne Handfessel, dann auf die Wächter, die grimmig ihre Arbeit verrichteten und die dazugehörige Kette am Wagengerüst befestigten, bevor sie sich Anya zu wandten.

„Wartet!“, wollte er protestieren, Anya zumindest wecken, aber ohne inne zu halten packten einer der beiden, so grob wie zuvor, auch ihrem Arm. Sie schrie leise auf und kroch, noch während sie erwachte, von ihren Angreifern fort, bevor sie begriff, was überhaupt vorging. Ihre Augen zuckten zu den Wächtern, zu Valion, dann wandte sie sich hektisch zu Jadzias Schlafplatz um, tastete nach ihr… und fand sie nicht. Ihr Gesicht wurde von ihrem wirren Haar verdeckt, aber ihr Körper versteifte sich, als sie begriff, dass Jadzia nicht zurück gekehrt war in dieser Nacht.

Bevor Valion auch nur den Mund öffnen konnte, warf Anya ihre Decke beiseite und sprang auf. „Wo ist sie?“, fragte sie schrill und stellte sich den Wachen in voller Größe entgegen. „Wo ist Jadzia?! Antwortet mir, ihr verdammten Dreckskerle!“„Halt dein Maul!“, knurrte einer der Wächter und versetzte ihr einen so heftigen Stoß gegen die Schulter, dass Anya stolpernd ihr Gleichgewicht zurück gewinnen musste. „Sie ist auf Eraviers Befehl draußen, und mehr hat dich nicht zu interessieren!“, antwortete der andere, während er sie voller Verachtung musterte. Valion versuchte, die Gesichter der beiden einzuordnen, und konnte es nicht; er hatte sie, wenn, dann nur flüchtig gesehen. Wo war Guy, der sich sonst um Anya kümmerte?
„Das hat mich sehr wohl zu interessieren, wenn sie dem selben Wagen zugeteilt ist!“, tobte Anya. „Was meint ihr mit »draußen«?! Antwortet gefälligst! Wo habt ihr sie hingebracht, ihr hirnloses Pack?!“ „Bleibt einfach hier und verhaltet euch still, bevor ihr euch Ärger einhandelt“, grollte der zweite Wächter und nickte dann dem ersten zu, und damit wandten sie sich ab und stapften davon. Nur, dass Anya keineswegs gewillt war, still zu bleiben oder sie einfach so davon kommen zu lassen. „Bleibt sofort stehen!“, schimpfte sie und folgte ihnen, „Ich verlange, dass ihr mir sagt, was mit ihr-“ 

Weiter kam sie nicht; das Ende ihrer Kette, die sie in ihrer Wut und Verwirrung völlig vergessen hatte, war erreicht, und beinahe hätte sie sich mit ihrem Versuch voran zu kommen selbst umgerissen. Erschrocken sog sie die Luft durch die Zähne, und ihre Augen zuckten zu ihrem Handgelenk, dann zurück zu den Wachen, die den Wagen gerade durch den Vorhang verließen, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Sie hatten sie einfach stehen gelassen. 

„So eine gottverdammte Scheiße“, flüsterte sie. 

Einen Moment stand sie nur da, erstarrt vor Wut, mit wirrem Haar und geballten Fäusten, und Valion wusste überhaupt nicht, was er sagen sollte. Er hatte Anya nie so aus der Bahn geworfen gesehen. Gleichzeitig schien sie erhaben über allen Trost; sie wandte sich ihm nicht zu, sah ihn nicht an. Vielleicht nahm sie ihn in diesem Moment nicht einmal wahr.

Irgendwann riss sie sich selbst gewaltsam aus ihrer Starre, ging zu ihrem kleinen Tischchen hinüber, ließ sich auf einen Schemel fallen und begann, ihre Haare zu bürsten, so wie jeden Morgen. Der Anblick hätte gewohnt sein müssen, das Zeichen, dass sie die Fassung zurück gewann; aber nicht heute. Es hätte kaum Furcht erregender sein können, wenn sie mit einem Messer gefuchtelt hätte. Sie bearbeitete ihr Haar so grimmig, als wäre es ihr Feind, und Valion konnte ihre Kopfhaut fast kreischen hören.

Der Anblick war so schmerzhaft, dass er es schließlich nicht mehr aushielt. „Es geht ihr bestimmt gut“, sagte er leise und näherte sich Anya, sorgfältig darauf bedacht, wie weit seine eigene Kette reichte, die klirrend hinter ihm her schleifte.
„Natürlich geht es ihr gut. Wir sprechen von Jadzia. Wer ihr etwas antun will, bereut das immer schnell“, antwortete sie gereizt, ohne von ihrem Haar abzulassen. „Aber du machst dir Sorgen“, stellte er leise fest, und wurde mit einem wütenden Blick gestraft. „Was kümmert dich das auf einmal, hm?“
Das war einfach ungerecht, und instinktiv wollte Valion sich von ihr abwenden. Anscheinend war all der gute Wille, den sie noch am Vortag aufgebracht hatte, schon wieder dahin. Warum musste sie gerade jetzt, wenn er sie trösten, sich sogar mit ihr versöhnen wollte, schon wieder so abweisend sein?

„Es tut mir Leid.“ Er murmelte die Worte nur, weil es ihm so widerstrebte, ihre Launen einfach so zu akzeptieren. Aber hatte er sich nicht vorgenommen, nicht mehr so ein Idiot zu sein? Er musste nachgeben, wenn er jemals ihr Vertrauen gewinnen wollte.

Anya schien jedenfalls überrascht; sie sah ihn nicht an, aber sie ließ die Haarbürste gedankenverloren sinken. „Was tut dir Leid?“, fragte sie, und ihre Verwirrung war so echt, dass Valion fast einen Rückzieher gemacht hätte. Alles, nur keine Schuld eingestehen. Er starrte auf den Boden und scharrte unbehaglich mit den Füßen, als er antwortete: „Alles. Was ich gesagt habe. Dass ich… dich erschreckt habe. Ich habe gedacht… dass du mich loswerden willst. Mir das Leben schwer machen.“ 

Einen Moment lang hingen diese Worte nur im Raum, und keiner von ihnen wusste, wie sie von diesem Punkt aus fortfahren sollten. Vielleicht gab es überhaupt keinen Weg, alles, was zwischen ihnen vom ersten Augenblick an schief gelaufen war, einfach so weg zu wischen. Vielleicht waren sie zu unterschiedlich, um jemals Freunde zu werden.

Dann seufzte Anya und sagte leise: „Ich weiß. Aber die Schuld liegt nicht nur bei dir. Ich habe versucht, dich von mir fern zu halten. Den Eimer kaltes Wasser hätte ich mir sonst gespart. Ich weiß, du fragst dich warum“, kam sie seiner Frage zuvor, und dann wandte sie sich tatsächlich zu ihm um, suchte seinen Blick. Vielleicht sollte er nur begreifen, dass sie nicht scherzte, als sie langsam und deutlich sagte: „Ich wollte, dass du mir nicht vertraust, damit ich dir nicht näher kommen muss. Ich wollte dich nicht verführen müssen. Vor allem nicht auf Befehl.“

Valions Gesichtszüge entglitten ihm, und er starrte sie mit offenen Mund an, bis er hervor brachte: „Was?!“ Er kam sich vor, als hätte er irgendetwas Wichtiges verpasst, oder als wäre er wirklich zu dumm, um die Zusammenhänge zu begreifen. Wovon redete sie da? Wie kam sie überhaupt dazu?
Es sei denn, er hatte Recht gehabt. Vielleicht hatte Eravier wirklich einen Plan verfolgt, als er Valion zu Jadzia und Anya geschickt hatte. Nicht, um ihn auszuhorchen, sondern… dafür.

„War es-“, setzte er an, und Anya unterbrach ihn: „Ja, Eravier hat mir diesen Auftrag gegeben.“ Erstaunt bemerkte Valion, dass sie jetzt nicht mehr seinen Vornamen verwendete, wie ein heimliches Eingeständnis. „Er wollte nicht abwarten, bis du eigene Erfahrungen machst, und deshalb hat er mich auf dich angesetzt. Schon bevor du in die Wälder davon gelaufen bist… eigentlich vom ersten Tag an. Und damals habe ich ihn schon vertröstet, ihm gesagt, dass ich dich nicht anfasse, bevor du aus dem Pestwagen hinaus bist. Nimm es mir nicht übel, aber ich musste zumindest versuchen, aus dieser Sache heraus zu kommen.“ 
Sie lächelte, und jetzt sah sie wieder schön aus, gelassen und überhaupt nicht mehr verschlossen und arrogant. Valion konnte nicht anders, als erleichtert zurück zu lächeln, und er war selten so froh gewesen, sich in jemand getäuscht zu haben. Er hätte Anya niemals übel nehmen können, dass sie ihm keine Liebe oder Zuneigung vorgespielt hatte. Auf eine verrückte Art hatte sie versucht, ihn zu beschützen.

Fast wie von selbst kamen die Worte, die er vorher nur unter Zwang gesagt hatte, jetzt völlig frei über seine Lippen: „Es tut mir Leid, dass ich-“ „Ich weiß. Und es ist schon gut“, winkte Anya ab, und griff wieder nach ihrer Bürste. Während sie ihre Arbeit etwas ruhiger wieder aufnahm, fuhr sie fort: „Letztendlich hatte das Alles auch etwas Gutes. Du warst ein wenig auf dich gestellt, und hast dadurch anscheinend ein paar Kontakte geknüpft. Und das ist wichtig, denn so oder so wirst du Erfahrungen sammeln müssen. Aber es wäre mir wirklich lieber, wenn du das auf eigene Faust tust, ohne dass ich mich daran beteiligen muss. Was ist nun eigentlich mit deinem Freund, Marceus, ist er- was hast du?“
Anya hatte sich von Valion abgewandt, doch als sie wieder zu ihm sah, hatte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig wieder verdüstert. „Und was, wenn ich das überhaupt nicht will?“, fragte er zornig.

Dann haben wir beide ein Problem; du mit Eravier, und ich mit Fourmi. Und das wollen wir beide nicht, dachte Anya, aber sie riss sich zusammen. Das war nicht der richtige Moment, ihn mit Eravier, der Rebellion oder mit ihren eigenen, egoistischen Plänen zu konfrontieren. Das letzte, was sie jetzt brauchte, war ein weiterer Streit. 
„Dann würde ich dich fragen, was der Grund dafür ist. Du hast schon mit jemand geschlafen, nicht wahr? Was hindert dich daran, das noch einmal zu tun?“, fragte sie deshalb ruhig. „Das- das geht dich nichts an“, murmelte Valion zur Antwort. Er sah sie nicht an, starrte mit verschränkten Armen vor sich auf den Boden. Sie hätte erwartet, dass er rot wurde, sich schämte wegen dem, was sie besprachen, aber davon zeigte sich überhaupt nichts. Er war einfach nur trotzig. Das verwirrte sie, passte nicht zu dem, was sie bisher von ihm gesehen hatte, und nicht zu dem, was sie sich an Argumenten zurecht gelegt hatte. 

„Nun, du kannst alles ein bisschen heraus zögern, das sei dir gegönnt“, versuchte sie ihre Worte abzuschwächen, „Aber letztendlich wirst du keine Wahl haben. Du bist jetzt ein Sklave; das ist der Zweck, zu dem du gekauft wurdest, und-“ „Ich wurde nicht gekauft, ich wurde verschleppt!“, unterbrach er sie, noch wütender als zuvor, und diese fehlgeleitete Wut auf sie begann Anya auf die Nerven zu gehen. 
Er verhielt sich wie ein störrisches Kind, das die Schuld für irgendein Ärgernis bei seiner Mutter suchte. Nur, dass Valion kein Kind war, und es besser wissen musste. Was erhoffte er sich davon, sich so zu verhalten? Anya hatte keine Ahnung, aber sie wusste, dass sie Kinder genau deshalb noch nie hatte ausstehen können; diese Unfähigkeit, ja, sogar strikte Weigerung, die Realität als das zu sehen, was sie war. Und hatte nicht gerade das den Gedanke, mit ihm schlafen zu müssen, so unerträglich gemacht hatte? Dass er in ihren Augen immer noch ein Kind war, weil er sich so trotzig und egoistisch verhielt?
„Das spielt aber keine-!“, wollte sie ihm entgegnen, aber er ließ sie nicht einmal ausreden. „Es spielt sehr wohl eine Rolle! Ich habe hier nichts verloren, und ich bleibe auch nicht hier, und bis ich hier heraus komme, werde ich einfach so tun als ob!“ „Und wie willst du das anstellen?“, gab Anya zurück, und der Ton ihrer Stimme war jetzt schneidend, ohne dass sie das verhindern konnte. „Was glaubst du denn, wo du hier bist? Auf dem Weg in die Freiheit?“ 

Im hintersten Winkel ihres Verstandes wusste sie, dass sie jetzt doch wieder stritten und den gerade erst geschlossenen Frieden zerstörten. Aber sein Tonfall, die pure, fehlgeleitete Rechtschaffenheit seines Zorns, die schiere Naivität, mit der er an sein Schicksal heran ging, legte all ihre Vernunft lahm. 
„In spätestens zwei Wochen wirst du in einem Bordell sitzen und entweder verkauft werden, oder bezahlt werden, um mit jemand zu schlafen! Und wenn du dich dann noch widersetzt, wird Eravier dich mit Freude dazu zwingen! Du kannst nicht derartig naiv sein, dass dir das nicht klar ist!“ „Dann lasse ich mir eben etwas einfallen! Es gibt immer irgendeinen Ausweg! So einfach gebe ich nicht auf!“

Anya lachte ungläubig auf. Was für dummes Gerede! Der Junge hatte keine blassen Schimmer, wie er irgendetwas bewerkstelligen sollte, und dass er das nicht endlich selbst zugab, gab den Ausschlag, dass sie scharf erwiderte: „So einfach wie wer? Wie wir anderen? Herzchen, du bist nicht der erste Sklave auf der ganzen Welt! Wir versuchen hier alle, irgendwie zurecht zu kommen, wir hatten auch andere Träume! Oder denkst du, dass wir uns alle darum gerissen haben, hier zu sein?“ „Wenn nicht, warum seid ihr dann überhaupt hier? Warum habt ihr euch denn verkauft?! Wozu, wenn ihr nicht hier sein wolltet?!“, herrschte Valion sie an, „Ist mir auch egal, wie ihr euch rechtfertigt! Ich bin nicht so wie ihr, egal was ihr mir einreden wollt! Mich hat man hierher gezwungen! Ich bin kein Sklave, und erst recht keine Hure!“

Erst als die Worte verhallt waren verstand er, was er gerade gesagt hatte. Mehr noch, er konnte es in Anyas Gesicht lesen; eine Andeutung von Wut und Schmerz, bevor ihre Miene steinern und gleichgültig wurde. Sie schluckte schwer; vielleicht, weil sie wusste, dass man einmal gesagte Worte nicht zurück nehmen konnte. So wie die, die Valion in diesem Moment gern zurück genommen hätte.
 
„Ich glaube, du bist einem Irrtum aufgesessen“, sagte sie langsam, und als er den Mund öffnen wollte, eine Entschuldigung stammeln, irgendetwas erwidern, hob sie nur die Hand und brachte ihn zum Schweigen. „Du glaubst, du wärst anders als wir, weil du deine eigene Entscheidung nachvollziehen kannst, und unsere nicht. Du redest dir ein, deine Vergangenheit würde dich zu etwas Besserem machen.“ Sie pausierte, durchbohrte ihn nur mit ihrem Blick, bevor sie sagte: „Aber du irrst dich. Dich unterscheidet nichts von uns. Du bist nicht weniger eine »Hure« als wir alle, denn sonst wärst auch du nicht hier. Du hast etwas, das du nicht verlieren wolltest, gegen deine Freiheit getauscht. Du hast dich anketten und mitnehmen lassen, so wie wir alle.“

Das ist nicht wahr, wollte Valion sie anschreien. Ich bin nicht freiwillig hier! Ich gehöre nicht hierher! Ich habe nichts getan, ich wollte das nicht, ich-

Aber er konnte die Erinnerung nicht auslöschen. Wie er vor Eravier gestanden hatte, wie er die Worte gesagt hatte, die ihn zu diesem Moment geführt hatte; Im vollen Bewusstsein, worüber er verhandelte.

Ich werde freiwillig mitgehen. Ich werde ein Sklave.

„Du bist ein Heuchler, und ein Lügner“, sagte sie, und jetzt war ihre Stimme eisig, kein Funken Freundlichkeit mehr darin. „Und solange du dich weigerst, endlich zu verstehen, warum du hier bist, kann dir niemand helfen. Nicht einmal ich.“
Damit wandte sie sich von ihm ab, griff nach ihrer Bürste und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Ab diesem Moment war er für Anya nur noch ein weiterer Einrichtungsgegenstand.

Nur, dass Valion sich nicht einmal wie ein Gegenstand fühlte, sondern nur wie der letzte Dreck. Und zornig auf Anya, auf sich selbst, auf alles um ihn. Er stand nur da und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war. Aber er kam nicht damit zurecht, weder mit dem, was von ihm verlangt wurde, noch dem, was er gerade getan hatte, schon wieder.
„Anya“, sagte er leise. Sie musste ihm zuhören, sie musste verstehen, dass er das nicht so gemeint hatte, dass er sie nicht hatte verletzen wollen, dass er einfach nicht wusste, was er tun sollte. Dass sie ihn in die Ecke drängte, ihn zwang über Dinge nachzudenken, über die er einfach nicht nachdenken konnte. Dass der Gedanke an Flucht alles war, was ihn noch zusammen hielt.

Aber nein, sie reagierte nicht mehr auf ihn. Einfach so, weil sie es konnte, und das fachte Valions Wut nur weiter an. 
Vielleicht hatten sie sich beide auf irgendeine Weise verkauft, aber er hatte trotzdem mehr durchgemacht als sie! Warum hackte sie schon wieder auf ihm herum? Sie hatte einfach voraus gesetzt, dass er mit Marceus oder sonst wem schlafen würde, dass er sich dazu durchringen konnte, all das zu tun, was Eravier von ihm verlangte. Wie konnte sie so sicher sein, dass er das fertig brachte? Wie konnte sie seinen Widerstand so untergraben, ihm alle Hoffnung auf einen Ausweg zunichte machen? 

Sie behandelte ihn wie ein dummes Kind, wie einen Tor, und das hasste er aus tiefster Seele. Sie stocherte in offenen Wunden, traf ihn so, dass er nicht ausweichen konnte. Und vielleicht war das der andere Grund, warum Anya ihm von Anfang an missfallen hatte, noch bevor sie ihm einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet hatte: dass er instinktiv gewusst hatte, dass sie so in ihn hinein sehen konnte. So, wie ihn sonst nur ein Mensch in seinem Leben durchschaut hatte.

Der Gedanke tat weh; er konnte fast Nishas Stimme hören, wie sie ihn aufzog. Ihr halb amüsiertes, halb bitteres Lächeln, mit dem sie auf ihn herab sah. Jede Schwäche offen legte.

Sei nicht so dramatisch. Ist doch alles halb so schlimm.
    Für dich vielleicht.
Für dich auch nicht. Du bist nur zu sehr daran gewöhnt, dass es dir die anderen leicht machen. Du erwartest immer, dass es nach deinem Willen geht. Dafür würdest du doch alles tun.

Und hatte sie ihm damit nicht das selbe wie Anya gesagt?

Du bist ein Heuchler, und ein Lügner.

Er hatte sie nie wirklich verstanden, so wenig wie Anya. Aber in diesem Moment sehnte er sich nach ihr, egal wie unnahbar sie ihm manchmal erschienen war. Warum hatten sie sich so voneinander entfernt? War es sein Fehler gewesen? Und wenn ja, durfte er ihn dann noch einmal machen?

„Anya“, sagte er leise, fast flehend, und ging unsicher einen Schritt in ihre Richtung. „Es tut mir Leid. Du hast Recht, und es tut mir Leid. Hörst du?“

Sie hörte ihn, denn sie hielt inne. Vielleicht bemerkte sie die Veränderung in seiner Stimme. Vielleicht konnte sie ihn wirklich so lesen wie sonst kaum ein anderer Mensch auf der Welt. In dem Moment, in dem sie sich wieder zu ihm um wandte und ihn musterte, wurde ihm klar, dass er sie niemals hätte täuschen können. Dass er das vermutlich niemals gekonnt hatte.
„Nein, das tut es nicht. Noch nicht“, sagte sie leise und nüchtern. „Aber ich gebe die Hoffnung noch nicht auf. Ich habe ja auch gar keine andere Wahl. Denn was Eravier mit mir tut, wenn ich versage… nein, darüber hast du nicht nachgedacht. Keine Sekunde lang.“ Und sie hatte recht, natürlich hatte sie recht, sie musste dazu nicht einmal Valions entsetzten Gesichtsausdruck ansehen. Ohne ihn noch weiter zu Wort kommen zu lassen, hob sie die Bürste und drückte sie ihm in die Hand. „Da. Mach dich nützlich.“

Der plötzliche Themenwechsel, der Befehlston und die Aufgabe verwirrten Valion eine Sekunde lang. Aber dann gehorchte er einfach und fragte nicht mehr nach, tat nur das, was sie ihm aufgetragen hatte. Vielleicht als Schuldeingeständnis, vielleicht auch, weil ihm diese Aufgabe vertraut war. 
Wie oft hatte er Mila oder Arinda vor sich sitzen gehabt, auf seinem Bett, oder auf der Bank vorm Esstisch, unruhig mit den Füßen schlenkernd oder gedankenverloren in die Gegend starrend? Er hatte sich immer um sie gekümmert, erst unter Protest, dann klaglos, schließlich mit Freude. Fast jeden Tag hatte er das dünne blonde Haar seiner Schwestern gebürstet und geflochten. Milas wirres Haar, das immer ein wenig am Hinterkopf ab stand, und Arindas spröderes Haar, das sich in den Längen kräuselte. Seine Hände, auch wenn die Fessel schwer an ihnen zog, wussten von selbst, was sie tun mussten, ließen ihm Zeit, sich zu beruhigen, nachzudenken.

Auch wenn ihm die Arbeit nichts ausmachte, verstand er doch nicht, warum Anya sich von ihm helfen ließ, gerade in diesem Moment, nach allem, was er gesagt hatte. War er jetzt nur ein bequemer Ersatz für Jadzia, weil sie nicht da war? Ein besserer Diener? Irgendwie glaubte er das nicht. Während er geduldig Anyas lange, schwere Locken bändigte, und sie stumm und mit geradem Rücken vor ihm saß, dachte er darüber nach. Er erinnerte sich daran, wie Jadzia Anya beim Waschen ihres Haars geholfen hatte, und wie er gedacht hatte, dass Anya auf sie herab sah. Zu diesem Schluss war er gekommen, weil Anya selten um irgendetwas bat; sie forderte. Aber Jadzia selbst hatte weder widersprochen, noch den Eindruck gemacht hatte, dass sie Anya widerwillig half.
Langsam, während Valion Partie um Partie ihres Haars ausbürstete, fragte er sich, ob Anya nicht vielmehr auf sie beide angewiesen war. Er hätte ihr so einfach weh tun können, so wie Eravier, der ihre Haare gepackt, sie einfach daran zurück gezerrt hatte. Ob die Dienerinnen ihr vielleicht schon Schmerzen zugefügt hatten, in einem unbeobachteten Moment? Vielleicht sogar immer wieder, so lange, bis Anya keine Wahl hatte, als niemand anderen an sich heran zu lassen? Sie hatte etwas derartiges gesagt, auch wenn er ihr damals nicht geglaubt hatte. Aber er hatte schon damals gewusst, dass sie den Hass der Dienerinnen auf sich zog.

Völlig ohne nachzudenken begann er nach dem Bürsten damit, Anyas Haar zu flechten. Störrisch war es, und schwer, viel dicker und länger als Milas oder Arindas Haar. Beide hatten kaum abwarten wollen, bis er ihre Haare gebürstet hatte, geschweige denn, bis er mit dem Flechten fertig war. Die Erinnerung lag schwer auf ihm, und er vermisste sogar Arindas ungeduldiges Gezappel. 
Anya schien zu spüren, dass er mit den Gedanken weit weg war, und brach endlich ihr langes Schweigen. „Du kannst das gut“, sagte sie versöhnlich. Er hörte das Lächeln aus ihrer Stimme, das Friedensangebot, und auch das beruhigte ihn ein wenig. „Ich hatte viel Gelegenheit zum Üben.“ „Wem hast du sonst die Haare geflochten?“ „Meinen Schwestern.“ „Wie viele?“ „Zwei.“ „Wie alt sind sie?“ „Sechs und Neun. Arinda wird bald zehn Jahre alt.“ „Und, sehen sie ihrem großen Bruder ähnlich? Sind sie wie er zarte kleine Trotzköpfe mit großen blauen Augen und einer Menge dummer Ideen?“ 
Sie ärgerte ihn, aber Valion konnte nicht anders, er musste lächeln. Wie treffend das schon wieder war, wie herausfordernd und persönlich. Fast glaubte er, dass Anya einfach nicht anders konnte, dass sie immer in andere vordringen musste. Sehen, wo es weh tat.
 „Ich bin nicht zart“, antwortete er, und sie lachte leise. „Lügner.“ „Ich bin fertig“, entgegnete er nur und steckte die letzte Locken mit Haarnadeln fest, die er ohne nachzudenken von dem Tischchen klaubte.

Dann trat er ein Stück von ihr zurück, und sie betastete vorsichtig sein Werk. Der geflochtene Knoten sah schwer aus, viel mächtiger als bei Mila oder Arinda, zu groß, um unter einer Haube versteckt zu werden. Aber er hatte Anya nie eine tragen sehen, also ging er davon aus, dass das egal war. Anstand hatte für sie keine Bedeutung mehr, das ging ihm plötzlich auf. Und für ihn selbst auch nicht. Er vertrieb den Gedanken.
Anya lächelte, während ihre Finger vorsichtig über die geflochtenen Strähnen fuhren, die Struktur des Flechtmusters erfühlten. „Das fühlt sich wirklich gut gemacht an. Zu schade, dass ich mir dein Kunstwerk nicht anschauen kann.“ Sie seufzte und starrte wehmütig auf die Fessel an ihrem Arm. „Ich kann nicht einmal Gael überfallen und seinen Spiegel borgen. Oder nach Jadzia suchen. So schnell geht es, dass man wieder da sitzt und sich nicht zu helfen weiß.“

Ihre plötzliche Niedergeschlagenheit traf Valion unvorbereitet, aber er konnte sie nachfühlen. Ging es ihm anders, wenn er an Jan dachte? Er wünschte nur, er hätte sie irgendwie aufheitern können, bis ihm klar wurde, dass er das natürlich konnte. Er hatte einen Spiegel. Er konnte ihr damit sogar beweisen, dass er ihr vertraute.
„Warte“, sagte er nur, ging zu ihrem Lager zurück und zog das Bündel mit dem zerbrochenen Spiegel hervor, wickelte ihn aus, wobei er den restlichen Inhalt sorgfältig beiseite legte, und kehrte zu ihr zurück, hielt ihr den Rahmen bereitwillig entgegen.

Anya, die ihm verwirrt mit den Augen gefolgt war, warf einen Blick darauf und runzelte die Stirn. Sie war alles, aber nicht begriffsstutzig, und erkannte auf den ersten Blick, was sie vor sich hatte. „Das hast du noch? Damit hast du doch-“, setzte sie an, und Valion unterbrach sie: „Nicht ich!“ Fast wäre er schon wieder vorwurfsvoll geworden, deshalb zwang er sich, wesentlich ruhiger zu sagen: „Ich habe nur… ich habe ihm eine Scherbe gegeben. Ich wusste nicht, was er damit tun würde. Ich wollte nicht, dass er-“ Er brach ab, weil der Gedanke an Jan schon wieder schmerzte. Anya musterte ihn prüfend, aber dann nickte sie. „Ja, das glaube ich dir. Na gut, dann zeig her.“ 

Sie nahm den Spiegel vorsichtig von ihm entgegen und betrachtete sich in den kläglichen, gesplitterten Resten des Glases, drehte und wendete ihn. Valion sah ihr zu, beobachtete ihre Reflektion; unregelmäßig, von Rissen durchzogen. Ein zerbrochenes Bild, aber trotzdem schön. 
Sie betrachtete sich aufmerksam, drehte ihren Kopf, neigte ihn auch nach vorn, bevor sie feststellte: „Hübsch. Ein bisschen gewöhnlich, aber dafür sehr gelungen.“ „Gewöhnlich?“, fragte er unsicher nach, weil er sich keinen Reim darauf machen konnte, und sie lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie lieferte ihm keine Erklärung, und fast schien es, als spräche sie zu sich selbst, als sie sagte: „Ja. Aber ich beginne, mich damit zu arrangieren. Mit dem hier, damit, mit allem.“ Sie wies auf den Wagen, auf ihre Handfessel, aber vielleicht meinte sie einfach: Damit, eine Sklavin zu sein. „Etwas anderes bleibt mir wohl nicht übrig. Es war so viel einfacher, als ich ein Mädchen hatte, das mir half. Ach, wir haben Stunden allein damit zugebracht, meine Haare zu frisieren. Aber das ist jetzt vorbei, wie so vieles.“ 
Sie wandte sich zu ihm um, und jetzt war ihr Lächeln wieder traurig. „Du bist nicht der Einzige, weißt du? Der bis zuletzt darum gekämpft hat, sich seine kleine Welt aufrecht zu erhalten. Der sich gesträubt hat, es so weit kommen zu lassen.“

Valion verstand nur vage, dass sie von ihrem Streit sprach, von dem, was er gesagt hatte, und hastig stammelte er: „Ich wollte nicht-“ „Ich weiß“, unterbrach Anya ihn milde. „Weißt du, jeder von uns versteht, was du durch machst. Weil wir das selbe erleben, und viele noch viel schlimmer als wir beide. Da draußen, in den vergitterten Wagen, dort werden die Nächte lang und kalt; vorher ich das weiß? Weil sie das bereitwillig erzählen, wenn du einen Moment mit ihnen redest, als wären sie Menschen und keine eingesperrten Tiere. Und wir kommen uns alle verlassen vor. Wir wollen alle die Augen schließen und glauben, dass alles nur ein böser Traum war. Aber wenn du dich vor dem verschließt, was hier passiert, wirst du eines Tages davon überrascht werden. Du wirst dich fragen, warum du dein Herz nicht besser geschützt hast. Und das wird ein bitterer, bitterer Tag für dich sein.“ 

Sie sah jetzt müde aus, traurig, und älter. Er hatte nie gewusst, wie er sie einschätzen sollte, aber plötzlich war ihm klar, dass sie fast so alt wie seine eigene Mutter sein musste. Die Falten in den Augenwinkeln und um den Mund, die ersten grauen Haare, die er beim Flechten bemerkt hatte, sie sprachen ihre eigene Sprache. Was hatte sie erlebt? Warum war sie hier? Er wollte gern die Hand heben, ihr tröstend über die Wange streichen, wie seiner Mutter, wenn sie traurig war. Und konnte es doch nicht, weil er wusste, dass er dafür viel stärker hätte sein müssen. So stark wie Jadzia vielleicht.

Und dann, als hätte es diesen kurzen Moment niemals gegeben, zwang Anya sich zu einem Lächeln und erhob sich. „So, jetzt bist du dran. Setz’ dich. Schauen wir, was wir mit dir anstellen können, und vor allem mit diesem Vogelnest da“, befahl sie, auf einmal energisch und gezwungen gut gelaunt, und schob ihn zu ihrem Sitzplatz. Verwirrt ließ Valion sich fallen und ließ zu, dass sie ihrerseits begann, seine Haare zu bürsten. Vielleicht hatte er aus den Augenwinkel gesehen, dass sie sich die Augen wischte. Vielleicht hatte sie aber auch nur eine Haarsträhne hinter ihr Ohr gestrichen, die sich gelöst hatte.

Eine Weile arbeitete Anya schweigend, kämmte sein Haar erst glatt und dann mal in die eine, dann die andere Richtung. Oft runzelte sie die Stirn, wenn sie das Ergebnis begutachtete. „Warum haben sie das nur so kurz geschnitten“, murmelte sie zwischendurch unwillig. „Wieso?“, fragte er perplex, und sie seufzte. „So macht das nichts her. Aber ich habe deinen Zottelkopf gesehen, vielleicht blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig, als alles gerade abzuschneiden. Wer hat sich nur um mein Haar gekümmert?“ „Meine Mutter. Aber sie hat es gehasst“, gab Valion zu und zuckte mit den Schultern. „Sie hat ihre Haare auch immer nur irgendwie geschnitten. Milas und Arindas Haar zu flechten hat sie auch furchtbar gelangweilt. Irgendwann hat sie mich das machen lassen.“ „Sie hätte dir auch dein eigenes Haar überlassen sollen. Vielleicht hättest du das selbst besser hin gekriegt. Na egal, das ist das Beste, was ich daraus machen kann“, sagte Anya und legte die Bürste beiseite. 

Wenn Valion gedacht hatte, dass sie nun mit ihm fertig war, hatte er sich aber getäuscht. Stattdessen griff sie nach einer silbern glänzende Dose, öffnete sie und entnahm ihr eine Puderquaste. „Moment mal“, sagte er, aber sein Protest wurde ignoriert; im nächsten Moment wurde er von einer weißen Wolke eingehüllt. „Gewöhn’ es dir lieber früher als später an“, predigte Anya, „Wenn ich Eravier richtig verstanden habe, wirst du in die feine Gesellschaft eingeführt. Dort reichen Wasser und Seife nicht aus. Du wirst mehr lernen müssen, als dich regelmäßig zu rasieren. Die richtige Kleidung, das richtige Auftreten, die richtige Sprache.“ „Meinetwegen“, murmelte Valion unwillig durch seine nur spaltbreit geöffneten Lippen, weil er das Gefühl hatte, sonst einen Mund voll weißen Staub einatmen zu müssen. „So, damit kannst du dich also abfinden, aber nicht mit dem Rest?“, fragte sie, und verstummte dann, als sich Valion schon versteifte, um im nächsten Moment einzulenken: „Verzeih. Ich sollte nicht schon wieder damit anfangen.“

Sie schwieg eine Weile, während sie weiter an seinem Gesicht arbeitete, was auch immer sie da tat, Valion hatte keine Ahnung. Aber ihr Schweigen war lauernd, als hätte sie nicht vor, das Thema ruhen zu lassen, sondern suchte nur nach einem anderen Weg, erneut zu beginnen. „Eines verstehe ich aber nicht“, setzte sie irgendwann wieder an, „und werde nicht gleich wieder trotzig, es ist nur eine Frage.“ „Was?“, murmelte Valion gottergeben, mit dem festen Vorsatz, gar nicht erst zu antworten, wenn ihm die Frage nicht gefiel. „Ich verstehe nicht, warum du dich so sträubst. Ich weiß, dass du zumindest mit einem Menschen geschlafen hast. Und wenn ich richtig liege, hast du es bei einem weiteren in Erwägung gezogen? Und damals schien dich das nicht zu ängstigen oder anzuekeln.“
 
Sie formulierte jeden Satz mit solcher Vorsicht und konzentrierte sich so sehr darauf, ihn nicht zu verletzen, dass plötzlich etwas völlig anderes durch ihre Sprache hindurch schimmerte. Der Ausdruck ihrer Stimme war plötzlich so nobel und gewählt wie der von Eravier, jede Silbe so akkurat und korrekt, als hätte sie geübt sie auszusprechen. Nicht, weil sie sich darauf konzentrierte, sondern gerade, weil sie nicht darauf achtete.
Und ihre Vorsicht war auch entwaffnend; sie schien akzeptiert zu haben, dass sie ihn nicht drängen konnte. Außerdem schien ihre Frage jetzt einen völlig anderen Zweck zu verfolgen, und das stürzte ihn plötzlich in Verlegenheit. Wie sollte er darüber sprechen, ausgerechnet mit ihr?
Um seine Verlegenheit zu überspielen wich er schnell in eine andere Richtung aus: „Gibt es das überhaupt? Dass man sich… ekelt?“ „Natürlich“, antwortete Anya überraschend freimütig, und jetzt lächelte sie vage. „Du würdest staunen, wie viele sich überhaupt nicht wohl damit fühlen, mit jemandem das Bett zu teilen. Manche davon lieben so wie du und ich, andere graut es selbst vor einer zarten Romanze. Und dann gibt es die, die sich selbst genug sind, Einsiedler, die ihre Zeit lieber in Einsamkeit verbringen. Daran ist nichts falsch. Menschen sind verschieden.“ „Was ist mit dir?“, warf Valion schnell ein, damit sie nicht wieder auf ihn zu sprechen kam. „Mit mir? Nun, wie du vielleicht bemerkt hast, habe ich, was sowohl das eine als auch das andere betrifft, keine Scheu“, antwortete sie genau so ehrlich. „Aber… du bist mit vielen Männern zusammen, oder? Tust du das gern?“ 

Jetzt zögerte sie tatsächlich einen Moment, ließ sogar von ihm ab, und überraschte Valion damit. Es war, als würde sie sich diese Frage in diesem Moment selbst stellen. Als wäre sie sich bis zu diesem Zeitpunkt selbst nicht sicher gewesen.
„Ja“, sagte sie schließlich leise, während sie ihre Arbeit wieder aufnahm. „Ja, ich denke schon. Es ist… nicht viel Liebe im Spiel. Manchmal fehlt mir das. Oft sogar. Aber ich zwinge mich nicht dazu, mit jemand zu schlafen. Es hinterlässt keine schlechten Gefühle; es tut nicht weh.“ „Auch wenn dich andere dafür verurteilen? Das muss doch weh tun.“

Anya hielt inne. Etwas an dieser Frage ließ sie aufhorchen, und Valions Schultern waren jetzt versteift; als erwarte er etwas von ihrer Antwort. „Was ist mit dir? Hat dich jemand verurteilt?“, fragte sie gerade heraus, und bereute es im nächsten Moment. Zu direkt, wie immer. Immer traf sie bei anderen den wunden Punkt. „Niemand“, murmelte er, aber sein Körper sprach eine ganz andere Sprache. 
Jemand, der ihm wichtig war. Vielleicht sogar jemand, den er sehr geliebt hatte. Und wie gut kannte Anya selbst diesen Schmerz? Nichts war zerstörerischer als die Ablehnung eines Menschen, von dem man um jeden Preis geliebt werden wollte. Vielleicht sogar so mächtig, dass er sich von Dingen abgewendet hatte, die sonst selbstverständlich für ihn gewesen wären; Liebe, Körperlichkeit, Hingabe.

Wer hat dich so verletzt?, dachte Anya. Und womit?

Aber das fragte sie nicht. Stattdessen ließ sie von ihm ab, legte die Puderquaste zurück und gab ihm den Spiegel. „Da. Das ist natürlich nur ein Anfang. Aber vielleicht gefällt es dir ja sogar.“
Valion nahm den Spiegel misstrauisch entgegen und starrte hinein. Er blieb stumm, aber Anya sah die Verwunderung in seiner Miene. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Tortur irgendetwas bringen würde, geschweige denn, dass er ihm sein Anblick gefallen würde. Er fuhr durch sein Haar, berührte seine Haut, die durch den Puder jetzt blass, aber viel ebenmäßiger wirkte.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte er, völlig erstaunt, und sie musste schmunzeln. „Das ist nicht schwer, wenn man einmal weiß, wie. Ich kann es dir gern beibringen“, sagte sie, und er nickte zaghaft. Er warf noch einen Blick in den Spiegel, und sah dann zu ihr auf. Seine Augen wirkten größer, unschuldiger in seinem blassen Gesicht, als er leise fragte: „Anya? Wenn… also, nur wenn ich wirklich länger hier bleiben muss, und… wenn ich keine Wahl hätte, und niemand anderen habe… würdest du mir helfen?“ 

Anya glaubte sich verhört zu haben, aber er sah sie immer noch mit dem gleichen, ernsten Blick an. Er hatte nicht ausgesprochen, was er wirklich meinte, aber das musste er auch nicht; er wollte, dass sie mit ihm schlief, wenn er keinen anderen Ausweg mehr sah. Natürlich nur, um Eraviers Strafe zu entgehen. Weil er sich sicher bei ihr fühlte, und weil sie beide wussten, dass eine Vereinigung zwischen ihnen niemals irgendeine Bedeutung gewonnen hätte. Ein Freundschaftsdienst, sonst nichts.

Du lieber Himmel. Was sollte sie darauf erwidern? Natürlich passte dieser Wunsch mehr als perfekt in ihre Pläne, und sie würde sowohl Fourmi als auch Eravier damit zufrieden stellen. Sie hatte ihn so weit gebracht, das Unvermeidliche endlich anzunehmen. Warum war der Beigeschmack dann so bitter?
Er war so ein Küken. So völlig verloren, unfähig zu verstehen, was er selbst wollte oder wie er sich mit dem zurecht finden sollte, was die Welt ihm aufgebürdet hatte. 
Und das erinnerte sie an sich selbst; an die junge Frau ganz in schwarz, ohne einen Mann, ein Kind oder eine Zukunft. Wann hatte sie zum ersten Mal begreifen müssen, dass Verweigerung sie niemals retten konnte? Sie war älter als Valion jetzt gewesen. Oh ja, sie war in seinem Alter genauso kindisch gewesen, vielleicht noch ein wenig naiver. Und sie bemitleidete sie beide; ihn, und ihr altes ich, die sich in so vielem so erschreckend glichen.

Sie streckte ihre Hand aus, strich über seine Wange. Sein Gesicht war jetzt so blass und ebenmäßig, die Sommersprossen und kleinen Rötungen versteckt. Hübsch war er, zart und unschuldig, selbst wenn er das nicht wahrhaben wollte; gewiss keine Eigenschaften, die die Welt an einem jungen Mann forderte oder belohnte. Und nichts, das sie mit Macht oder durch Nachlässigkeit zerstören durfte. Aber natürlich konnte sie ihm alles beibringen, wenn er das wirklich wollte. Sie hatte doch selbst gesagt, dass ihr das nicht weh tat.

„Gut, ich bin einverstanden, unter einer Bedingung: Du wirst es nicht nur dabei belassen. Du kannst deine Frist nur hinaus zögern, wenn du in anderen Bereichen glänzt. Du musst lernen, wie du dich zu verhalten hast. Wenn du Eravier das zeigst, was er sehen will, wird er dir vielleicht mehr Zeit geben.“ An seinen zusammengepressten Lippen sah sie, dass ihm das nicht gefiel, dass er schon wieder ausweichen wollte… aber dann nickte er. Er rang sich dazu durch, in der Hoffnung, dass er diesen einen, entscheidenden letzten Schritt nicht gehen musste.
„Womit fangen wir an?“, fragte er leise und tonlos. „Mit den einfachen Dingen“, antwortete sie sanft. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter. Er zuckte zuerst zurück, aber dann ließ er sie gewähren, ließ zu, dass sie ihn auf den Mund küsste. Er hob die Hand, und seine schmalen Finger strichen über ihr Haar, das er selbst geflochten hatte, ihre Wangen, auf ihre Schulter. Vorsichtig war er, zurückhaltend, weder grob noch fordernd, das war gut. Und es gab keine Anziehung zwischen ihnen, genau wie Anya gedacht hatte, zumindest keine romantische. Ihr Kuss war eine Formalität, eine Übung.
 Dann schob Valion sie von sich, wenn auch sanft. „Na, war das so schlimm?“, fragte sie, und er zuckte mit den Schultern. „Nein. Da war einfach… nichts.“ Seine Stimme klang erleichtert, als hätte er gerade die Entdeckung gemacht, dass es völlig ungefährlich war jemand zu küssen, den man nicht liebte. Anya lächelte über sein Erstaunen. Das hätte sie ihm sagen können, aber vermutlich hatte er das am eigenen Leib erfahren müssen. „Vielleicht wirst du ja irgendwann feststellen, dass du völlig unbegründet Angst hattest.“

Valion wollte etwas erwidern, aber dann hörten sie das Schlagen von Pferdehufen, laute Stimmen, Aufruhr, und sie wechselten einen unbehaglichen Blick. „Was ist jetzt schon wieder…?“, flüsterte Anya und richtete sich unsicher auf. „Kann es denn nicht einen Tag lang ruhig sein?“ „Was denkst du, geht da draußen vor?“, fragte Valion sie, aber sie konnte nur mit den Schultern zucken. „Ich weiß es nicht. Aber vermutlich nichts Gutes“, antwortete sie leise. Ihr Blick blieb auf den Eingang ihres Wagens fixiert. „Hier passiert schon lange nichts Gutes mehr. Eravier spielt ein gefährliches Spiel mit uns…“
Aber heimlich war ihr ganz egal, was Eravier schon wieder plante. Ihre Gedanken kreisten um etwas völlig anderes.

Jadzia… wo bist du nur?


Guy hatte alle Hände voll zu tun. Während er durch das sich auflösende Lager stapfte und anderen Wächtern im Vorbeigehen zunickte, verfluchte er sein Pech. Warum musste er gerade jetzt nach einer einzelnen Person suchen, und das in diesem Chaos? Er konnte auch niemand von seinem Posten abziehen, um ihm zu helfen, dafür hatte keiner Zeit.
Das Lager war angreifbar, wenn sie aufbrachen oder in Bewegung waren. Gute Wächter ließen sich davon nicht beeindrucken, und Guy hatte in den letzten Jahren genug Erfahrungen gesammelt, um zu wissen, wo ihre Schwächen lagen. Worauf es an kam war, den Außenring des Lagers nicht brechen lassen, Angriffspunkte zu erkennen und mit mehr Männern zu besetzen, und vor allem nichts auf das Gezeter und die Hektik zu geben. Zum Glück hatten sie einen guten Hauptmann, der sich mit diesen Belangen aus kannte: Gerard Oury war ein Wächter vom alten Schlag, ein Respekt gebietender Ochse mit nur einem Auge. Er war schon bei vielen Reisen dabei gewesen, und er begegnete jedem Problem mit der gleichen, bewährten Taktik: Mehr Männer.

Warum hatte Guy dann trotzdem so viel zu tun? Die Antwort war natürlich: Eraviers verdammte Launen. Er hatte Guy ausgewählt, und nur der Teufel, mit dem dieser finstere Bastard im Bunde sein musste, wusste wohl, warum. Diese Meinung behielt Guy aber für sich, lebensmüde war er nicht. Was er wusste war, dass sein Herr längst nicht mehr mit Oury zufrieden war, erst recht nicht, seitdem er seine Pläne von Jadzia und Guy ausführen ließ. Eravier wollte einen neuen Hauptmann, und Guy bemerkte schnell, dass er plötzlich immer mehr Macht hatte. Er konnte Befehle geben, Aufgaben verteilen, entschied plötzlich über Fragen, die Ourys Sache waren. Das war einerseits gut, und kam ihm andererseits wie ein finsterer Pakt vor.

Und es raubte ihm Zeit. Er hatte Jadzia gesucht, und dann über Umwege erfahren, dass sie nicht in ihrem Wagen war; Niemand hatte sie gesehen. Dabei hatte sie doch darauf bestanden, dabei zu sein, wenn die ausgesandten Wachen mit ihrer Beute zurück kehrten. Das alles war schließlich ihr Plan gewesen. Aber nein, die Frau war einfach nicht fassbar.

Ungehalten stapfte Guy zum Lager der Wächter zurück, das selbst gerade in Hektik versank. Natürlich bauten die Wachen ihre Zelte nicht selbst auf und ab, sie waren im Dienst. Deshalb sammelten sie nur ihre wenigen Habseligkeiten ein, Tuch und Gestänge wurde von den Dienern in den anderen Wägen sicher verstaut. Die Zelte nahmen nicht viel Platz weg; die Planen waren dünn, das Gestänge niedrig, und da die Wächter in Schichten schliefen, war ein Zelt immer drei von ihnen zugeteilt. Das einzige, das dauerhaft darin aufbewahrt wurde, waren die eigenen Decken und das wenige an Kleidung, das die Wächter überhaupt besaßen. Sonst nichts, denn Diebstahl untereinander war nicht selten, abgesehen von den Decken - wer die mitgehen ließ, hatte bald ein Messer im Bauch und einen Hauptmann, der dazu gelangweilt mit den Achseln zuckte und noch einen Schlag ins Gesicht hinterher gab. Bei Stiefeln und Decken verstanden Wächter und Soldaten keinen Spaß.

Guy selbst wollte auch nur seine Decken einsammeln und sicher verstauen, und schnell prüfen, ob er irgendetwas liegen gelassen hatte. Er bückte sich und kroch in sein Zelt, nur um perplex inne zu halten. Wäre er ein weniger praktischer Mensch gewesen, hätte er sich vielleicht die Augen gerieben und sich gefragt, ob er träumte. Doch Guy runzelte einfach nur die Stirn. 

Jadzia. Sie lag schlafend vor ihm.

Das Zelt war sonst leer, stellte Guy fest; die anderen zwei Männer, die auch hier geschlafen hatte, hatten nichts hinterlassen. Vielleicht hatten sie ihre Sachen schon vor Stunden ausgeräumt. Jadzia jedenfalls schlief tief und fest, das hieß, sie musste schon eine Weile hier sein. Sie hatte sich in seine Decken eingehüllt, die Knie an den Körper gezogen, die Arme zur Stütze und als Kopfkissen. Guy sah seine Kleidung, gefaltet und so weit wie möglich beiseite gelegt. Vermutlich hatte Jadzia sich Sorgen gemacht, dass sie sie sonst im Schlaf berühren würde.
 
Einen Moment betrachtete Guy sie nur, wie sie da lag und schlief, obwohl das sonst nicht seine Art war. Irgendetwas an ihrem Anblick passte nicht ins Bild, nicht zu dem, was er von ihr kannte. Schließlich verstand er; das war das erste Mal, dass sie wirklich friedlich aussah. Im Schlaf wirkte sie harmlos; schutzbedürftig statt hartherzig und gewissenlos. Und Guy begriff plötzlich, wie viel Respekt er wirklich vor ihr hatte, wie sehr ihre reine Anwesenheit ihn sonst einschüchterte. War es ein Wunder, dass selbst Eravier sie nicht klein kriegte? Ihre Ausstrahlung war bei weitem nicht die gleiche, doch sie war sich in ihrer Wirkung durchaus ebenbürtig.

Doch nicht jetzt. Im Schlaf sah Jadzia nur friedlich aus, unschuldig. Er dachte daran, wie oft Anya davon sprach, dass Jadzia eine ruhige und sanfte Person war, dass niemand sie richtig einschätzte. Vielleicht verstand er jetzt. Hätte er sie jemals so gesehen, wäre er auch zu diesem Schluss gekommen.
Eine Sekunde lang fragte Guy sich, welche Jadzia die echte war. Die abgebrühte, skrupellose Jägerin, die ihn bei seinen Aufträgen für Eravier begleitete? Oder die sanfte, warmherzige Frau, die Anya glaubte zu kennen? Aber er war kein großer Philosoph, und letztlich ging ihn das auch gar nichts an. Er griff nach Jadzias Schulter und rüttelte sie ein wenig; nicht zu unsanft, um sie nicht zu erschrecken. Doch die Wirkung war selbst für ihn verblüffend; Jadzia öffnete sofort die Augen und setzte sich auf.

„Ah, Guy. Haben sie ihn aufgegriffen?“, fragte sie nach nur einer Sekunde Bedenkzeit. Von einem Moment auf den anderen war sie wach, aufnahmefähig und musterte ihn. Guy kannte Menschen, die zu diesem Kunststück in der Lage waren; er hatte in seinem Leben genug alte Soldaten gekannt. Viele, die des Schlachtfelds müde waren, wurden zu Wächtern, und behielten doch ihre alten Instinkte. Nur, dass Jadzia nicht alt genug war, um irgendein Schlachtfeld gesehen zu haben.
Doch wenn Guy eines gut konnte, dann war es, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Stattdessen antwortete er knapp: „Wird bald soweit sein.“ Jadzia nickte, streckte sich noch einmal, warf die Decke von sich und machte Anstalten, sich zu erheben. Sie sah Guy sogar erwartungsvoll an, damit er begriff, dass er ebenfalls aufstehen und aus dem Zelteingang verschwinden sollte. Aber damit würde er sie nicht so einfach davon kommen lassen. 

Statt ihr Platz zu machen, stützte er ein Knie auf und ließ das andere angewinkelt, eine Haltung, in der er halbwegs bequem kniete und nur leicht die niedrige Zeltdecke streifte, und sah sie streng an. „Halt mal. Ich hab das ganze Lager wegen dir auf den Kopf gestellt. Du gehörst in deinen Wagen. Was soll das?“ 
Jadzia lächelte schmal und zuckte mit den Schultern, eine bemerkenswert gelassene Geste dafür, dass sie einfach alle Regeln brach. „Ich habe dort gerade nichts zu suchen“, antwortete sie völlig ruhig. „Ich behindere andere bei ihren Aufgaben, bin eine Ablenkung. Deshalb habe ich mich zurück gezogen und versucht, niemand im Weg zu stehen. Du weißt ja, wie das ist.“ „Du kannst nicht einfach hier schlafen. Eravier macht dich einen Kopf kürzer.“ „Das wird er nicht, weil ich Anya helfe, seine Befehle auszuführen. Und weil er mich braucht, besonders jetzt“, sagte sie leichthin und lächelte bitter.
Und in gewisser Weise hatte sie damit Recht. Hätte Eravier gewollt, dass sie wie Anya oder der Junge angekettet wurde, hätte er das Lager nach ihr durchsuchen und sie zu ihrem Platz zurück schleifen lassen können. Das hatte er aber nicht getan. Guy runzelte dennoch besorgt die Stirn. Er hatte schon früher gedacht, das Jadzia es mit ihrer Herausforderung gegenüber Eravier übertrieb. Sie wurde immer sorgloser. Oder selbstmörderischer. Langsam schüttelte er den Kopf. „Du solltest ihn nicht reizen. Auf lange Sicht-“ „Auf lange Sicht? Oh bitte, Guy, bring mich nicht zum Lachen“, antwortete sie bitter, und jetzt schien sie regelrecht wütend. „Auf lange Sicht werde ich im Haus irgendeines reichen Freiers enden. Für mich gibt es keine lange Sicht! Und jetzt lass mich vorbei!“

Ihr offener Zorn war überraschend für Guy, bis ihm plötzlich klar wurde, was er gerade darstellte: ein großes, massives Hindernis zwischen ihr und dem einzigen möglichen Ausweg aus dem Zelt. Er hatte sie in die Ecke getrieben, ohne das selbst zu bemerken. Außerdem hatte sie anscheinend nicht damit gerechnet, von ihm gefunden zu werden. Hatte sie gewusst, dass sie auf seinem Lager schlief? Oder hatte sie sich nur für irgendein Zelt entschieden, das verlassen wirkte? Er glaubte eher, dass Letzteres zutraf.
Und noch etwas bemerkte er, und das war, dass ihre linke Hand unter seiner Decke verborgen war, und um einen Gegenstand geschlossen. „Ah… schon gut“, brummte er und wandte sich von ihr ab. „Werde nicht weiter im Weg stehen. Du musst nicht mit einem Messer auf mich los.“

Selbst aus den Augenwinkeln sah er, dass sie zusammen zuckte. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass er das bemerken würde. Aber das war so oder so gleichgültig. Guy richtete sich auf, wollte die Enge des kleinen Zeltes schon verlassen, als Jadzia leise sagte: „Warte.“

Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Und er tat, was sie ihm befahl; ein guter Wächter hörte im entscheidenden Moment auf seinen Hauptmann, egal wie er aussah oder was seine Anweisung war. Er verharrte stumm, wartete darauf, was sie sagen würde, und sie schien sich zu sammeln.
„Wie ist die Stimmung da draußen, Guy?“, fragte sie schließlich, und schien ein wenig ihrer Sicherheit zurück gewonnen zu haben. „Gereizt. Karvashs Leute sind besonders unruhig“, berichtete er pflichtbewusst. „Der Brand hat sie durchgeschüttelt, sie sind müde, es fehlt an Vielem. Faures Diener tun, was ihre Herrin ihnen sagt, aber das muss nicht so bleiben. Besnard duckt sich, und das macht den anderen Angst. Sie wissen, wenn ein Feigling den Schwanz einzieht, dann hat er einen guten Grund dazu.“ „Dann geht unsere Strategie auf“, sagte Jadzia leise. „Ja.“ „Gut. Dann lass uns jetzt gehen. Wir müssen die nächste Hürde nehmen. Sie müssen noch mehr Angst haben, nur so werden sie uns die anderen Rebellen ausliefern.“ 

Ihre Stimme klang gleichgültig, als sie das sagte. Sie hatte, im Gegensatz zu Eravier, keine Freude an dem Chaos, das sie stiftete. Einerseits war das beruhigend für Guy. Andererseits warf es eine Frage auf, die er nie gewagt hatte zu stellen. Er wusste nicht einmal, warum es jetzt anders war. Vielleicht, weil er die andere Seite seines Hauptmannes gesehen hatte. Das friedlich schlafende Gesicht eines Menschen, der nicht furchteinflößend oder kaltherzig war.

„Jadzia? Warum tun wir das?“ 

Sie musterte ihn einen Moment nur stumm. Er meinte, ihre Überraschung zu sehen, auch wenn sie eigentlich zu gut maskiert war durch Gleichgültigkeit. Einer der wenigen Momente, in denen er tatsächlich in ihrem Gesicht lesen konnte, was sie dachte. „Warum tun wir »was«?“ „Warum bringen wir unsere eigenen Leute gegen uns auf? Wir haben einen sehr gefährlichen Weg eingeschlagen“, antwortete er leise. Er wusste, das seine Worte Eravier in Frage stellten; er hätte niemals gewagt, ihm selbst diese Fragen zu stellen. Nur Jadzia.
Sie schwieg, seufzte dann, und pflichtete ihm sogar bei: „Ich weiß. Aber anders werden wir die Rebellion nicht hervor locken können.“ Aber das wusste Guy längst. Was er nicht verstand, war der Grund. „Wozu? Was will Eravier von ihnen?“ „Von der Rebellion? Nichts“, erklärte Jadzia ohne jede Regung, „Für ihn ist das nur ein Spiel.“ 

Guy hatte geglaubt, auf die Wahrheit vorbereitet zu sein, aber Jadzias Worte jagten ihm trotzdem einen Schauer über den Rücken.  Er hatte in diesem Moment Eraviers Lächeln vor Augen. Seinen eiskalten Blick, mit dem er im Gesicht eines gepeinigten jungen Mannes nach dem Ausdruck seines Schmerzes suchte, um sich darüber zu amüsieren. Er kannte Eravier zu gut, um nicht zu wissen, was für eine Art von Herr er war. Seine ganzen Untergebenen in einen Kleinkrieg hinein zu ziehen, nur, um zu sehen, was geschehen würde? Ja, das klang nach ihm.
„Das ist alles?“, fragte er tonlos, und Jadzia nickte. „Ja. Ich fürchte, so ist es.“ Ihr Blick schweifte ab, und für einen Moment schien sie nachdenklich. „Wäre er ein besserer Mensch, würde er vielleicht für jemand kämpfen, den er liebt. Vielleicht redet er sich das auch ein; dass er alles rückgängig machen kann. Aber wenn, dann hängt Herz sein Herz nicht wirklich daran. Ist das nicht traurig?“

Guy runzelte die Stirn; der plötzliche Wechsel ihrer Stimmung verwirrte ihn, und er verstand auch nicht, was Jadzia ihm damit sagen wollte. Es war, als fehle ihm ein wichtiges Verbindungsstück zwischen dem, was sie sagte, und dem, was sie meinte. Er versuchte einen Moment, den Zusammenhang zu konstruieren, und gab dann frustriert auf.
„Hm“, brummte er defensiv und zuckte mit den Schultern, und Jadzia lächelte verhalten. . „Ach, ich vergaß - das war für dich nicht offensichtlich. Diese Art von Liebe ist dir fremd.“ „Das mag wohl stimmen“, gab er nach kurzem Zögern widerwillig zu. Er fragte nicht, woher sie das wusste, und wusste selbst nicht, warum er das Preis gab. „Das muss es“, sagte Jadzia, und jetzt klang ihre Stimme hart. „Sonst würde ich dich nicht in Anyas Nähe dulden.“

Ja, auch das wusste er. Es gab kaum etwas, das Jadzia berührte… außer diese eine Sache. Anya. Wenn es um Anya ging, kannte sie weder Mitleid, noch machte sie Scherze. In diesen Momenten reichte ihre Besessenheit an die von Eravier heran. Guy verstand, woher diese Gefühle wohl rührten. Er mochte Anya selbst, ihre selbstsichere Art, wie offen sie war, und wie einfach sie sich auf andere einließ, wenn sie das nur wollte. Und gerade deshalb schien es ihm nicht richtig. Weder, wie Eravier sie behandelte, noch was Jadzia von ihr verlangte. Sie war weder ein Spielzeug, noch ein zu hütender Schatz, den niemand berühren durfte. 
„Was auch immer du sagst. Aber ich meine doch-“ „Was?“, unterbrach sie ihn unwirsch und verschränkte die Arme, als fordere sie ihn heraus. „-dass man einen Menschen nicht so besitzen kann“, schloss er vorsichtig. Er wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte, und wusste gar nicht, wie er überhaupt in dieses Gespräch hinein geraten war. Was ging es ihn schon an?
Aber er war nun einmal ein guter Wächter. Etwas von seinem Hauptmann zu halten hieß auch, ihm einen Wink zu geben, wenn er falsch lag. Was der daraus machte… das war nicht die Sache seiner Soldaten.

 Jadzia lächelte. Aber dieses Lächeln erreichte diesmal nicht die Augen, und er wusste sicher, dass ihre Geduld gerade zur Neige ging. „Wenn du so denkst, arbeitest du für den falschen Mann“, sagte sie, und der Spott in ihrer Stimme war jetzt so schneidend wie Anyas. Sei vorsichtig, sagte ihre Stimme. Du überschreitest gerade eine Grenze. „Das glaube ich nicht“, murmelte er und sah sie ernst an. 
Sie erwiderte seinen Blick. Und ja, sie verstand. Warum hätte sie sonst langsam den Kopf schütteln sollen, nachdem sie ihn eine lange, lange Zeit gemustert hatte? Warum sagte sie schließlich: „Eravier ist dein Herr, und mein Besitzer. Vergiss das niemals“, wenn nicht, um ihn zu warnen? „Und jetzt mach Platz. Wir haben Arbeit zu tun.“ „Zu Befehl“, antwortete er. Aber heimlich widersprach er ihr; es gab einen Unterschied zwischen einem Herren und einem Hauptmann. 


Die ausgerittenen Wächter kehrten zurück, als die Sonne ihren Zenit überschritten hatte und der Wagenzug sich gerade zum Aufbruch formierte, unruhiger und chaotischer als jemals zuvor. Mehrere Diener sahen die Reiter von Weitem kommen, und sie waren so erschrocken über ihr Auftauchen, dass es fast zu einer Panik gekommen wäre. Als würde die Gemeinschaft nur auf einen Angriff von außen warten; einen Angriff, den sie herausgefordert hatten. Allein die Ruhe der Wächter, die ihre ungewöhnlich sorgfältige Verteidigung öffneten, verhinderte, dass die Angst um sich griff. Die zurück kehrenden Männer konnten in die Mitte des formierten Zuges reiten.

Sie waren nicht allein; sie hatten einen Gefangenen bei sich, gefesselt, geknebelt und mit einem Sack über dem Kopf. Noch während sie mit grimmigen Gesichtern abstiegen und den sich windenden Mann vom Rücken eines der Tiere herunter zerrten, sammelte sich ein Kreis von tuschelnden Beobachtern um sie. Niemand jagte die Gaffer fort oder herrschte sie an, dass sie an ihre Arbeit gehen sollten, weder die Wächter, noch andere Diener. Der Gefangene wurde auch nicht abgeführt; er wehrte sich und zerrte an seinen Fesseln, aber niemand machte sich daran, ihn außer Sicht zu schaffen. Und als hätte Eravier sie erwartet, verließ er seinen Wagen und ging seinen Männern mit einem gelassenen Lächeln entgegen. Er wollte seine Beute nicht heimlich, still und leise beiseite schaffen; er wollte eine öffentliche Hinrichtung.

„Was haben wir denn hier?“, fragte er amüsiert in die Runde. Er fixierte niemand bestimmten, ließ seinen Blick nur schweifen. Er erspähte Besnard, der sich mit seiner grimmig blickenden Frau hinter anderen Dienern zu verstecken schien, und Karvash, der indigniert zu dem Treiben stieß. Karvash wagte es nicht einmal, die Stimme vor allen anderen zu erheben. Unsicher näherte er sich zu Eravier, neigte sich zu ihm und stellte eine geflüsterte Frage. Eraviers Antwort war ein wölfisches Grinsen.

„Mein werter Freund Gael fragte mich gerade, was dieses Schauspiel hier zu bedeuten hat“, sagte er laut an die Diener gewandt, die wie ein Mann zurück zuckten. In diesem Moment wünschte vermutlich jeder der Anwesenden, an einem anderen Ort zu sein.
Selbst Fourmi fühlte sich unbehaglich. Er hielt den Kopf gesenkt, zwischen anderen niederen Dienerinnen verborgen, und ließ sich von der Reaktion der Menge treiben; das musste er, denn so nahe an Eravier war die Gefahr enttarnt zu werden größer als jemals zuvor. Aber er musste wissen, was vor sich ging; er hatte keine andere Wahl. Unauffällig schweiften seine Augen über alle Anwesenden, und sein Herz hämmerte in seiner Brust. 

„Da das eine Frage ist, die euch alle angeht, werde ich sie auch beantworten. Wir haben-“, erklärte Eravier und gab den Wachen einen Wink, bevor er fort fuhr: „-einige Abtrünnige in unseren Reihen. Feige Ratten, die sich aus unserem Lager schleichen wollten, um uns zu verraten!“ 
Der gefesselte Mann knurrte protestierend durch seinen Knebel hindurch und lehnte sich noch einmal heftig gegen seine Gefangenschaft auf, doch er wurde von den Wächtern fest gehalten. Sie rissen ihm den Sack vom Kopf, aber Fourmi wusste schon, wer der Gefangene war. Sie erkannte die Stimme, und ihr Herz zog sich so sehr zusammen, dass es schmerzte. 

Ansell. Sie hatten ihn übel zugerichtet, eines seiner Augen war zu geschwollen, und Blut war aus seinem Mundwinkel geflossen und auf seinem Kinn geronnen. Vermutlich hatten sie ihm Zähne ausgeschlagen.
Fourmis Hände verkrampften sich zu Fäusten. Gottverdammt, was war passiert? Sie war sicher gewesen, dass er entkommen würde. Alles war vorbereitet gewesen, alles abgesprochen, Rebellen waren nur für diesen Moment dem Zug gefolgt und hatten auf ihren Einsatz gewartet. Nichts hätte schief gehen dürfen, es sei denn-

Es sei denn, du wurdest verraten.

Eine andere Möglichkeit gab es nicht, und diese Erkenntnis war bitter. Eravier, oder wer auch immer ihm half, war schlauer als die Rebellion. Er musste Spitzel direkt in ihre Reihen geschickt haben. Sie sah zu Eravier, der Ansell mit höhnischem Lächeln musterte, und dann hob er den Blick, und seine Augen schweiften über die Diener. Suchten und bohrten, um die Reaktionen zu sehen, die ihn befriedigten. Angst. Hass. Unterwerfung. Und Widerstand, um ihn zu finden und auszumerzen. Und obwohl Fourmi ihn so sehr hasste wie noch nie in ihrem Leben, zwang sie sich, besorgt und eingeschüchtert auszusehen. Und seine Augen glitten über sie hinweg, bevor er sich erneut Ansell zu wandte. Der Knebel wurde ihm abgenommen, und er spuckte angewidert aus. 

„Was soll das?! Was wollt ihr mit mir?!“, schrie er. Eravier nickte den Wächtern zu, die ihn hielten, und ohne auch nur inne zu halten schlugen sie ihrem Gefangenen ins Gesicht. Ein Flüstern ging durch die Menge, wie Wind durch die toten Zweigen eines kahlen Baumes. „Ich stelle hier die Fragen“, stellte Eravier amüsiert fest, und sein groteskes Lächeln zeigte deutlich, was diese ganze Situation für ihn war: ein amüsantes Spiel, dessen Regeln er selbst bestimmten konnte und in dem jeder andere ein Verlierer war.

„Aber du hast noch eine Chance: Sag mir, wer deine Mitverschwörer sind, dann bin ich vielleicht gnädig.“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Ansell mit belegter Stimme. „Ich habe nur Anweisungen erhalten.“ Frisches Blut lief aus seinem Mundwinkel und sein Kinn hinab, und er schaffte es, nicht nur zerschlagen und verängstigt auszusehen, sondern auch nachgiebig zu klingen. Dabei war seine Antwort nur fehlerfrei aus dem Gedächtnis zitiert; das, was er im Ernstfall zu sagen hatte, für den Fall, dass er jemals gefangen genommen wurde. Auch das hatte Fourmi mit ihm besprochen.
„Aber deine Kontakte, die kennst du. Jemand hat dir Aufgaben überbracht. Ich will Namen“, forderte Eravier, und jetzt war er schon weniger heiter.
„Nein, ich habe ihre Namen nicht-“, versuchte zu Ansell zu antworten, und Eravier hob erneut die Hand. Ansell kassierte von den Wächtern einen weiteren Schlag ins Gesicht, aber er schüttelte nur den Kopf. „Ich weiß nichts! Ich wei-“, sagte er, und der nächste Schlag traf ihn in den Magen. Die Stimme versagte ihm, und hätten die Wächter ihn nicht festgehalten, wäre er gestürzt. Aber selbst in seinem erbarmungswürdigen Zustand schüttelte er den Kopf, und jetzt war Eraviers Gesicht vor Wut verzerrt. Er ging auf ihn zu, packte ihn am Kragen und riss ihn mühelos hoch, zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen.
„Du willst keine Namen nennen? Du würdest lieber sterben? Hast du dir das gut überlegt?“, zischte er wütend. „Du verteidigst das feige Pack, das dich lieber leiden sehen würde, als sich ihrem gerechten Urteil zu stellen. Warum nicht die Chance ergreifen, zu leben?“

Ansell starrte ihn an, keuchend, blutend, am Ende. Er öffnete den Mund, und…
Fourmi hätte Ansell viel zugetraut, aber nicht, dass er lachte. Ein ersticktes Kichern, das sich zu schallendem Gelächter ausweitete. „Die Chance zu leben?“, fragte er lachend. „Ich bin doch schon tot! So tot wie Faure war, in dem Moment, in dem er sich hier eingemischt hat. Ich bin doch-“ 
Im nächsten Moment rissen seine Worte ab, weil Eravier ihn herum zerrte und zu Boden schleuderte. Er wehrte sich nicht einmal, bremste seinen Sturz nicht ab; Ansell schrie auf, dann fiel er in sich zusammen wie ein Bündel Lumpen. Keuchend vor Schmerzen lag er im Staub, umringt von fassungslos starrenden Augen. 

„Das ist alles, was du sagen willst?“, fragte Eravier drohend, aber Ansell konnte ihm zunächst nicht antworten. Er lachte wieder, ein ersticktes, schmerzverzerrtes Winseln, dann brachte er hervor: „Oh… oh doch, da… gibt’s etwas, das ich… sagen will.“ Er holte tief Luft. Das todesmutige Grinsen auf seinem Gesicht hätte Eravier darauf vorbereiten müssen, was er als nächstes tat. 

Er sang.
„Singend öffnet der Sieg uns das Tor! Die Freiheit lenkt unsere Schritte! Und-“

Eravier holte aus, und Fourmi schloss die Augen. Ein Schlag, ein Aufseufzen der Menge. Stille.

Und Fourmi gestand sich endlich ein, was sich seit dem Moment, in dem Tarn ihm den Arm gebrochen hatte, abgezeichnet hatte. Er brauchte jede Hilfe, die er bekommen konnte.

Am nächsten Morgen, später als gewöhnlich, brach der Wagenzug in Richtung Hauptstadt auf. In der Nacht hatte es keine weiteren Zwischenfälle gegeben, und die Pferde waren ausgeruht, sodass sie gut Fahrt machten. Das mochte auch daran liegen, dass der Zug einen Gutteil der Last eingebüßt hatte. Vor allem Karvash reiste jetzt notgedrungen mit leichterem Gepäck - das meiste seiner Habe war auf einem verkohlten Haufen am Wegesrand zurückgeblieben.

Die folgenden Tage kamen sie gut voran. Das Wetter war angenehm, der Himmel immer leicht bedeckt, und die Temperaturen blieben mild, wie ein Vorgeschmack auf den nahenden Herbst. Die Nächte unter dem klaren Sternenhimmel wurden umso kälter.
Doch der schöne Spätsommer vermochte niemand aufzuheitern. Die Stimmung im Wagenzug blieb gedrückt und die Diener blieben unter sich. Die meisten legten den Weg schweigend zurück, verrichteten ihre Arbeit mit gesenktem Kopf. Wenn sie sich unbeobachtet fühlten, führten sie geflüsterte Gespräche, die abrupt verstummten, wenn die Wachen oder die Händler in ihre Nähe kamen. Eine tief greifende Veränderung war eingetreten, und selbst, wenn niemand sie benannte, so war sie doch überall bemerkbar.

Auch Valion und Anya bekamen sie zu spüren; sie blieben, trotz ihrer Privilegien, den ganzen Tag angekettet, egal, wie sehr sich Anya dagegen auflehnte. Und obwohl sie mehrmals forderte, zu erfahren, wo Jadzia sich aufhielt und wann sie zurückkommen würde, blieb sie spurlos verschwunden.
Es war schwer zu sagen, was Anya mehr zusetzte. Valion sah sie oft gedankenverloren da sitzen, mit einem besorgten Gesichtsausdruck, oder rastlos von einem Ende des Wagens zum anderen wandernd, im Kreis gehend wie ein angeleinter Hund. Dann wieder saß sie grübelnd da, starrte auf Jadzias Lager, auf dem seit Tagen niemand geschlafen hatte, oder auf die wenigen Dinge, die sie zurückgelassen hatte.
Irgendwann, mit einer grimmigen Miene und zusammen gezogenen Augenbrauen, hatte sie Jadzias wenige Habseligkeiten schließlich in der Kleidertruhe verstaut, und dort blieben sie. Jadzia kam nicht zurück, um sie zu holen, und sie wurden auch nicht von einem Diener oder einer Wache eingefordert.

Nicht, dass es überhaupt einen Grund dafür gegeben hätte. Aus Neugier hatte sich Valion Jadzias Besitztümer einmal angesehen, und anscheinend hatte sie praktisch nichts besessen, als sie zur Sklavin geworden war. Ein paar zusammen gesammelte Gebrauchsgegenstände, ein sauberer Stapel Wäsche, ein Kleid, das aussah, als hätte es vorher einer Dienerin gehört, das war alles, was von ihr zurückgeblieben war. Nichts davon wirkte, als hätte es ihr viel bedeutet oder gar von ihr selbst gestammt, und Anya schien sie auch nicht zu vermissen.
Und doch fehlte Jadzias Präsenz. Sie hatte eine Lücke hinterlassen, und ohne darüber nachzudenken versuchte Valion, diese Leere zu füllen. Aber natürlich konnte er das nicht.

Vielleicht versuchte Anya gerade deshalb, ihre gemeinsame Zeit so gut es ging zu nutzen. Sie lenkte sich und Valion ab.
Begonnen hatte sie damit schon am ersten Morgen ihrer Weiterreise. Valion hatte verschlafen vor der Waschschüssel gestanden und nach draußen gelauscht. Anya, etwas wacher, aber auch wesentlich mürrischer, hatte gerade ihre Kleidung gerichtet, dann missbilligend auf ihn geblickt.
„Du musst dir angewöhnen, gerade zu stehen.“
„Ich stehe gerade“, hatte Valion protestierend gemurmelt, aber das hätte er sich auch sparen können.
„Du stehst da wie ein Bauer auf dem Rübenfeld. Gut, da kommst du ja auch her“, hatte sie schnippisch erwidert. „Aber wenn du jemals irgendjemand davon überzeugen willst, dich zu kaufen, musst du ein wenig mehr können, als nur dein hübsches Gesicht zu zeigen.“
Er hatte sie grimmig angesehen, und sie hatte ernst zurück gestarrt. Aber an dem Funkeln in ihren Augen hatte er sehr wohl gesehen, dass sie es nicht ganz so ernst meinte, wie sie vorgab.
„Wir hatten doch eine Abmachung, oder?“
„Aber-“
„Kein aber. Hör zu und lerne!“
Und so hatte sie ihm einen Vormittag lang beigebracht, wie er elegant stehen und gehen sollte, und das Ganze die nächsten Tage mehrmals wiederholt. Er gewöhnte sich daran, dass sie ihn, egal was er gerade tat, zur Ordnung rief. Irgendwann verfolgte ihn ihr tadelndes „Gerade stehen!“ bis in seine Träume.

Das blieb nicht die einzige Ermahnung, die er zu hören bekam. Als Nächstes widmete sich Anya seiner Kleidung und wie er sie trug: natürlich falsch. Auf dem Fuße dieser Lektionen lernte er, wie er pfleglich mit seinen Sachen umzugehen hatte und vor allem, was er tunlichst vermeiden sollte. Dazu gehörte anscheinend auch, sich nach dem Essen den Mund mit dem Ärmel abzuwischen. Überhaupt hatte Anya so viele Benimmregeln über das Essen, dass Valion irgendwann vor jeder Mahlzeit in grübelnde Stille verfiel. Nicht, dass es ihm genützt hätte: Anya hatte immer etwas auszusetzen.
Weil Valions Haar laut Anya zurzeit ein „unrettbares Durcheinander“ war, zeigte sie ihm lediglich, wie er es glätten konnte, und ging zügig zu allgemeinen Regeln der Etikette über. Allein die Erläuterungen, welche Regeln beim Begrüßen eines beliebigen Gastes anzuwenden waren, dauerten einen ganzen Nachmittag. Ihre Lektionen nahmen einfach kein Ende.

Dennoch stritten sie weniger, mit jedem Tag. Als die Tage begannen ineinanderzufließen, zu Wochen wurden, erst zwei, schließlich drei, ertappte Valion sich dabei, dass er Anyas Nähe suchte. Er brachte ihr Wasser, half ihr beim Ankleiden, flocht ihre Haare. Sie brachte ihm dafür andere Frisuren bei. Zunächst nur die einfachsten, die er bei seinen Schwestern gebrauchen konnte, danach die komplizierteren, die manchmal Stunden dauerten. Aber etwas anderes hatten sie ohnehin nicht zu tun; weder Wächter noch Diener blieben lange genug, um ihnen die Einsamkeit zu vertreiben. Weder Marceus noch Tarn, nicht einmal die stumme Dienerin oder Guy besuchten sie.
Manchmal kam sich Valion regelrecht vereinsamt vor, wie ganz am Anfang seiner Reise. Dann musste er an Jan denken, ihre Gespräche, die ihm damals die Zeit vertrieben hatte, und er musste sich ablenken, um nicht all seinen Mut zu verlieren.

Anya schien es zu bemerken; sie begann dann oft wie von selbst mit einer Geschichte. Über die Landstriche, die sie bereits besucht hatte, und ihre wenigen Reisen zur Hauptstadt. Aber dann und wann auch Märchen und Geschichten, die sie kannte, oder nur Anekdoten aus ihrer Kindheit. Nur über ihre Familie selbst, oder wie sie an Eravier geraten war, darüber sprach sie nie, und Valion wagte nicht, ihr dazu Fragen zu stellen. Er machte es mit der Neugier über den Rest des Landes wett, und beantwortete ihr im Gegenzug ihre Fragen zu seiner Heimat. Dass er sich dabei angewöhnte, wie sie zu sprechen, gewählter und wortreicher, bemerkte er erst, als Anya ihn dafür lobte.
„Wenn du dir weiter Mühe gibst, wirst du Eravier damit schon bald beeindrucken können.“ Sie hatte gelächelt, aber er hatte ihr angesehen, dass sie nicht wirklich froh darüber war. Noch etwas, das er in ihrer gemeinsamen Zeit lernte: sie besser einzuschätzen.

Oft betrachtete er Anya heimlich, wenn sie ihn, in Gedanken versunken, nicht beachtete. Er studierte ihre Mimik, die feinen Anzeichen in ihrem Gesicht, die verrieten, wenn sie nervös war, oder wütend, oder heimlich amüsiert. Er sah es ihr an, wenn sie wie so oft an Jadzia dachte. Und er sah, dass sie begann, ihn zu mögen. Dann dachte er daran, worum er sie gebeten hatte, und die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht, und er musste eine Weile Abstand gewinnen.

Nicht, dass das einfach war. Selbst wenn Anya schlief und er sich zumindest zeitweise allein wähnte, er konnte nie sicher sein, dass nicht plötzlich jemand hereinplatzte. Die Diener blieben nicht lange, aber sie gingen auch ein und aus, wie es ihnen gefiel. Erst recht jetzt, da sie ständig unterwegs waren und in Schichten schliefen und arbeiteten.
Das hatte allerdings auch den Vorteil, dass Valion zum ersten Mal dazu kam, Gespräche mit ihnen zu führen. Weniger mit den Dienern mittleren Alters, die wortkarg und immer in Eile waren, sondern mit den jüngsten und den wenigen älteren. Vor allem die Mägde, manche sogar noch einige Jahre jünger als Valion, wurden nach einer Weile sehr gesprächig.

„Die werden den ganzen Tag herum gescheucht und davon abgesehen ignoriert. Natürlich freuen sie sich, wenn ihnen plötzlich ein junger Mann ein bisschen Aufmerksamkeit schenkt“, hatte Anya süffisant lächelnd gesagt, als Valion eines Morgens einen winzigen Strauß Wildblumen neben seiner Waschschüssel vorfand. „Vor allem, wenn er hübsch ist und ihnen schöne Augen macht.“
„Ich rede doch nur mit ihnen“, hatte er protestiert.
Anya hatte ihn lange angesehen und spöttisch lächelnd den Kopf geschüttelt.
„Darüber unterhalten wir uns noch. Bis dahin, denk daran, was Jefrem gesagt hat.“

Valion hatte Jefrems Ermahnung nicht vergessen. Aber hatte er eine Wahl? Selbst Anya musste zugeben, dass er irgendwann durchgedreht wäre, wenn sie der einzige Mensch gewesen wäre, mit dem er überhaupt sprechen durfte. Sie ließ ihn gewähren, gab ihm nur hin und wieder einen Rippenstoß oder einen spitzen Einwurf zum Besten, wenn er zu vertraulich wurde. Widerwillig musste er ihr zugestehen, dass sie meistens recht hatte. Sein Eingeständnis an sie war, dass er versuchte, freundlich zu sein, aber Distanz zu wahren. Keine einfache Aufgabe, denn einmal eingeschlichen ließ sich die Vertraulichkeit schwer rückgängig machen.

So kam es, dass eine der jungen Dienerinnen ihm eines Tages mehr als eine Schüssel Haferbrei und einen Krug frischen Wassers anvertraute.
„Es verschwinden Leute“, hatte sie hastig geflüstert, und ihre Augen waren nervös zwischen ihm und dem Eingang des Wagens hin und her gehuscht. Sie hatten in diesem Moment keine Zuhörer. Selbst Anya hatte sich in ihren Schlafbereich zurückgezogen, um sich auszuruhen.
„Verschwinden?“, fragte er leise nach, und sie nickte.
„Nicht viele ... nicht so, dass es den Herrschaften auffallen würde. Sie kümmern sich ja die meiste Zeit kaum um uns. Aber bestimmt ... fünf oder sechs Menschen.“
„Irgendjemand Bestimmtes?“, fragte Valion, und seine Kehle fühlte sich trocken an. Er dachte an Marceus, an Jefrem und die anderen Pferdeknechte. Die stumme Dienerin, die er schon so lange nicht gesehen hatte. An Jadzia, über deren Aufenthaltsort niemand Bescheid wusste. Und, so sehr ihm das missfiel, auch an Tarn.
„Naja... es sind nicht Herr Eraviers Diener aus der Hauptstadt. Von ihnen kenne ich die meisten“, sagte sie und beugte sich verschwörerisch näher. Ihre Augen ruhten sehr konzentriert auf Valion. „Ich glaube fast, dass-“
„Aber es gab doch keinen Aufruhr mehr?“, unterbrach Anya sie. Müde, das Haar ein wenig zerzaust, war sie hinter der Trennwand hervorgetreten. „Wir haben jedenfalls nichts davon gehört. Das letzte Mal, als jemand verschwand, stand doch alles Kopf!“
Die junge Dienerin zuckte zurück und musterte sie pikiert, als wollte sie fragen, warum sie einfach so auftauchte und sich in ihr Gespräch einmischte.
„Nein!“, flüsterte sie erbost, „das ist es ja gerade! Keiner hat etwas bemerkt! Nicht die Wachen, und auch Herr Eravier nicht! Aber niemand traut sich, etwas zu sagen!“ Sie warf Anya einen abschätzigen Blick zu und zischte: „Und ihr tut auch gut daran, nichts zu sagen, zu keiner Menschenseele!“
„Bette! Wie lange brauchst du denn?“, ertönte ein Ruf von außerhalb des Wagens, und das Mädchen fuhr erneut zusammen und wollte davon huschen. Valion schaffte es gerade noch, sie am Arm zu packen, bevor sie auf und davon war.
„Warte! Wessen Leute? Du wolltest etwas sagen!“
„Bette!“
Das Mädchen zögerte, dann beugte sie sich nahe an Valion heran und flüsterte ihm zu: „Karvash!“ Sie riss sich los, und war im nächsten Augenblick verschwunden.

„Was denkst du, bedeutet das? Dass sie verschwinden?“, fragte Valion später, als er und Anya sich zum Schlafen gelegt und beide eine Weile wortlos in die Dunkelheit gestarrt hatten.
„Vermutlich nichts“, sagte Anya.
Aber er kannte sie mittlerweile besser, hörte die Besorgnis in ihrer Stimme.
„Aber wenn doch ... dann sind sie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen“, fuhr sie fort, leiser als zuvor. „Gael hat ein Gespür dafür, wann es gefährlich wird. Vielleicht hat er auch einen Wink bekommen. Möglich, dass er rettet, was zu retten ist. Wenn ich nur zu ihm könnte ... eine Stunde, ein bisschen Wein und ein paar Schmeicheleien, und ich wüsste wieder, was vorgeht.“
Eine Kette rasselte in der Finsternis. Anya musste frustriert daran gezogen haben. Um sie auf andere Gedanken zu bringen sagte Valion: „Ich hab bisher noch nicht viel von Karvash gesehen. Oder den anderen Händlern.“
Abgesehen von Eravier. Er sprach den Gedanken nicht aus; nichts wäre schlimmer gewesen, als hier, im Dunkeln, ausgerechnet über ihn zu sprechen.
„Sie reisen mit uns, aber natürlich halten sie Abstand“, antwortete Anya, „Was sollten sie auch sonst tun? Es ist nicht klug, sich zu sehr mit uns einzulassen. Wir sind Ware. Freundschaften, Liebeleien, das macht alles nur komplizierter. Sie wollen uns nicht behalten, sie wollen uns verkaufen.“
„Schien mir nicht so, als hätte Karvash besonders viel Abstand zu dir gehalten.“
Anya schnaubte, halb bitter, halb amüsiert.
„Da täuschst du dich. Er war mir nur so nah, wie es ihm nützte. Er taktiert nicht mehr oder weniger als Eravier. Vielleicht sogar noch mehr.“
„Wirklich?“, fragte Valion. Er rief Karvashs Bild in sich wach, das wenige, was er von ihm gesehen hatte. Alles, was vor seinem inneren Auge auftauchte, war ein gezierter Angeber, der sich mit Frauen schmückte. „Er erschien mir nicht besonders-“
„Klug?“, unterbrach Anya ihn. „Ja, den Eindruck erweckt er. Davon solltest du etwas lernen. Wenn man es mit gerissenen Menschen zu tun hat, ist es manchmal von Vorteil, sich den Anschein von Einfachheit zu geben. Männer wie Eravier wittern überall Feinde und Verrat. Es lebt sich leichter, wenn man ihnen das Gefühl gibt, vor ihnen zu kriechen. Stolz, Würde, das sind schöne Worte, aber sie helfen dir nicht, zu überleben. Zumindest nicht hier.“

Ihre Worte waren bitter und doch seltsam abgeklärt. Unwillkommen erinnerten sie Valion daran, dass er Anya mit Eravier gesehen hatte, und dass sie vermutlich darüber sprach. Das Bild stand ihm immer noch deutlich vor Augen, viel klarer, als er wollte. Das über ihren Rücken fließende Haar, die geröteten Wangen. Ihn befiel so heftige Scham, dass er sein Gesicht am liebsten in seinem Kissen vergraben hätte. Nur gut, dass es dunkel war und Anya sein Gesicht nicht sehen konnte.
Und dann lachte sie leise.
„Ich weiß, dass du es weißt. Dass auch ich mit ihm schlafe.“
Hatte er wieder einmal geglaubt, Anya irgendwie täuschen zu können? Während Valion mit glühendem Gesicht in die Dunkelheit starrte und gar nichts erwidern konnte, ärgerte er sich gleichzeitig darüber, dass er das nicht vorher gesehen hatte.
„Woher-“, wollte er fragen, aber Anya lachte nur wieder.
„Du weißt besser als ich, was für ein Schwein er ist. Ich kann es mir nicht leisten, unachtsam zu sein. Ich halte immer die Augen offen, wenn ich bei ihm bin.“
Das ergab Sinn, sogar so viel, dass Valion sich fragte, warum er nicht selbst darauf gekommen war.
„Aber warum hast du nichts gesagt? Dass du mich gesehen hast?“, fragte er.
Anya zuckte mit den Schultern.
„Es schien dir unangenehm zu sein. Wie so vieles.“
Der leise Tadel in ihren Worten stachelte Valion zu einer unwirschen Antwort an, bevor er sich davon abhalten konnte.
„Damit hat das nichts zu tun! Ich hatte einfach nicht- ich meine, ausgerechnet mit Eravier?“
Anyas darauf folgendes frustriertes Seufzen hatte er vermutlich verdient.
„Hast du nicht zugehört?“, erwiderte sie scharf, „Du glaubst doch nicht, dass ihm irgendetwas an mir liegt, oder mir etwas an ihm? Es ging ihm nur darum, mich zwingen zu können. Er hat bekommen was er wollte, wenn er es wollte, und geglaubt, dass er mich in der Hand hat. Das ist es, was er will: unsere Unterwerfung. Und wenn du nicht ein Auge oder gar dein Leben verlieren willst wie Faure, dann solltest du anfangen, dir das zu Herzen zu nehmen!“

Anscheinend hatte er sie wieder einmal verärgert. Vielleicht war sie auch zu Recht auf ihn wütend, denn er wusste nichts einzuwenden.
„Tut mir leid“, murmelte er schließlich.
„Schon gut. Sieh es als letzte Lektion für heute“, erwiderte Anya, und jetzt klang sie versöhnlich.
„So kurz vorm Einschlafen?“, erwiderte Valion und seufzte, gespielt frustriert. Anya lachte leise.
„Es ist nie zu spät am Tage, um etwas dazu zu lernen. Vor allem etwas so Wichtiges. Wenn du es geschickt anstellst, wirst du dafür sorgen, dass andere dich unterschätzen. Das wird dir immer nur zum Vorteil gereichen, besonders-“
„-als Sklave“, beendete Valion trocken ihren Satz.

Seltsam. Der Gedanke schmerzte zum ersten Mal nicht mehr, hatte seinen Schrecken eingebüßt. Als hätte sich ein Stück seines Wesens gewandelt. Sein Herz war immer noch schwer, aber zum ersten Mal spürte Valion, dass dieses Wort jetzt auf ihn zutraf. Er war tatsächlich im Begriff, ein Sklave zu werden. Jede Lektion, die er von Anya erhielt, führte ihn weiter auf diesem Weg. Er veränderte sich, hatte sich bereits verändert. Vielleicht unwiderruflich.
Aber das war nicht alles. Während er schweigend in die Dunkelheit starrte, spürte er in sich nach, und nicht alles daran war ihm fremd. Das Gefühl war alt, halb verschüttet, aber er erinnerte sich an erschreckend viel. Manche der Dinge, die Anya ihm nahe brachte, kamen ihm unheimlich bekannt vor. Wie eine ferne Erinnerung, die zurückkehrte, oder ein Lied, dessen Melodie ihm plötzlich wieder einfiel. Manches verstand er instinktiv, wie in diesem Moment.

Er hat bekommen, was er wollte, wenn er es wollte.

Er beherrschte das besser als alles andere. Die Beschwichtigung. Die Unterwerfung. Nisha hatte ihn einen Lügner dafür genannt. Hatte er damals begriffen, was er tat? Nein. Und doch hatte er die Wahrheit verbogen, so weit er konnte, ohne alles zu zerbrechen. Alles, um ihr das zu geben, was sie wollte.

Aber was sagte das über ihn aus? War es das, was Eravier in ihm gesehen hatte?
Der Gedanke ließ ihn schaudern.

Dann war da Anyas Hand. Sie streifte in der Dunkelheit seinen Arm, strich beruhigend darüber, besorgt über sein Schweigen.
„Quäl dich nicht damit“, sagte sie. „Morgen ist auch noch ein Tag. Und irgendwann wird dir alles leichter fallen, glaub mir.“
„Was, wenn es mir schon zu leicht fällt?“
Anya stutzte, richtete sich ein wenig auf.
„Du hast nichts falsch gemacht“, sagte sie ernst. Es lag kein Tadel in ihren Worten und auch kein Spott. Sie glaubte, was sie sagte, und gerade deshalb schnürte es Valion die Kehle zu.
Du bist ein Lügner.
„Vielleicht doch“, antwortete er mit rauer Stimme. Und er wusste, dass Anya ihn beobachtete, darauf wartete, dass er mehr sagen würde. Ihr erzählen würde, was ihn beschäftigte. Aber er konnte es nicht. Noch nicht.
Schließlich ließ sie sich zurücksinken.
„Du schuldest mir natürlich keine Erklärung, aber ich verspreche dir, du kannst mir vertrauen. Ich bin der letzte Mensch, der irgendjemand für irgendetwas verurteilen kann.
Gute Nacht, Valion.“
„Gute Nacht“, flüsterte er. Aber seine Gedanken kamen lange nicht zur Ruhe, selbst dann nicht, als Anyas gleichmäßige Atemzüge neben ihm verrieten, dass sie eingeschlafen war.

Sag mir die Wahrheit. Ich war nicht der erste, oder?

Er wollte nicht daran denken. Er schloss die Augen.

Sag mir die Wahrheit.

 

Er fühlte das Gewitter, bevor er es hörte; die feuchte Luft, die wie ein Gewicht auf ihm lastete. Über ihm grollte Donner. Und da war der Duft der Scheune: Heu und Holz und feuchte Erde. Darunter der Geruch des Regens, erstickend und schwer, süß und bedeutsam. Er sah hinauf in die Dunkelheit, wandte sich dann ab und glaubte einen Moment, Nisha müsste bei ihm sein.
Wie gut er ihr Bild immer noch herauf beschwören konnte. Die weiße Haut leuchtend in der Schwärze, die dunklen Brustwarzen wie hinein gebrannt. Die Kurve der Hüften, die in ihm eine Sehnsucht auslöste, die er schwer begreifen konnte, und in Nisha nur Hass.
Aber Nisha war nicht da. Das Heu neben ihm war leer, nur eine sachte Vertiefung in den Halmen verriet, dass dort jemand gewesen war.
Dennoch war er nicht allein. Eine Hand lag auf seinem Bauch, ein Arm schlang sich um ihn. Warm, fest. Atem in seinem Nacken, der ihn erschaudern ließ. Er musste sich nicht umdrehen, er erkannte ihn auch so.
Hast du mir verziehen?
„Ja“, murmelte er, wandte sich um, verbarg sein Gesicht an seiner Brust. Wie vertraut das war, und wie fremd.
Wirklich?
Sein Lachen war rau, tief. Valion hatte nur erahnt, dass er so lachen konnte. So anders als Jan.
Denk jetzt nicht an ihn.
Er hob Valions Kinn, küsste ihn. Seine Lippen fühlten sich sanft an, aber seltsam kühl, das Gefühl nur undeutlich. Und doch war es sehr vertraut. Eine Heimkehr zu etwas, das Valion nur vage erahnt und sich doch heimlich herbei gesehnt hatte.
Würde Jan das verstehen? Marceus?
Mach dir keine Sorgen. Du träumst nur.
„Nein. Ich will nicht.“ Er schüttelte den Kopf, hielt ihn fest. Das durfte kein Traum sein. Auf eine bizarre Art war es das Einzige, das in diesem Chaos irgendeine Art von Sinn ergab. Der rote Faden, der sich durch alles zog. Ein Brandmal, das sich tief in seine Haut gefressen hatte. Schicksal.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. „Bitte-“

Ein lauter Donnerschlag riss Valion aus dem Schlaf. Er erwachte schweißgebadet, halb auf dem Bauch liegend, sein hartes, pochendes Glied zwischen seinem Körper und dem harten Boden unter ihm eingeklemmt. Noch im Aufwachen wälzte er sich auf den Rücken, weil das Gefühl unerträglich war.

Er ließ die Augen geschlossen und versuchte sich zu entspannen, aber sein hämmerndes Herz und sein schwerer Atem wollten nicht zur Ruhe kommen. Am liebsten hätte er geflucht. Warum war er gerade jetzt aufgewacht?
Zumindest wusste er im nächsten Moment, warum es gerade dieser Traum gewesen war. Regen prasselte auf die Planen des Wagens, und die Luft war schwer von Feuchtigkeit und dem Geruch nach Gras und Schlamm. Ein Blitz zuckte, ein unirdisches Flackern über dem Planendach. Das Krachen und der grollende Donner folgten kurz danach; das Gewitter musste sehr nahe sein. Die Luft stand in dem kleinen, abgetrennten Schlafbereich, und ohne nachzudenken rappelte Valion sich auf. Er zog sich das feucht geschwitzte Hemd über den Kopf und trabte im Halbdunkel zum Eingang, so weit, wie es seine Kette zuließ. Der Luftzug, der hereindrang, war schwach, aber zumindest kühlte er ein wenig, und Valion ließ sich benommen auf den Boden sinken. Das fahle Licht gab ihm keine Auskunft über die Uhrzeit. Der Mangel an Frühstück und frischem Wasser sowie die Tatsache, dass der Wagen gerade stand, sprachen jedoch dafür, dass es sehr früh am Morgen war.

Eine Weile saß er nur da und lauschte dem Regen, während der Schweiß auf seiner Haut trocknete und seine Schläfrigkeit langsam abebbte. Leider konnte er das von seiner Erregung nicht behaupten: Die hielt sich hartnäckig, egal, wie lange er still sitzend ausharrte. Nach einer Weile begann seine Erektion regelrecht zu schmerzen. Er strich zaghaft mit der Hand darüber und wäre fast zusammen gefahren. Er war empfindlich. Kein Wunder, nach all der Zeit.
Zögernd wandte er sich um, blickte zurück in Richtung seines Lagers. Anya schien weiterhin tief und fest zu schlafen. Er beneidete sie heftig darum; er hätte sich lieber wieder hingelegt, als hier zu sitzen und nichts mit sich anzufangen zu wissen.
Natürlich gab es eine einfache Lösung für sein Problem, aber etwas in Valion sperrte sich dagegen. Was, wenn Anya aufwachte? Oder eine Dienerin hereinplatzte und ihn fand?

Missmutig rappelte er sich auf, sah nach, ob noch kaltes Wasser vom Vortag da war, doch nichts war übrig. Er dachte darüber nach, in den Regen zu kommen, aber seine Kette war dafür zu kurz, das wusste er mittlerweile.
Frustriert setzte Valion sich wieder, ließ sich zurückfallen, sodass er unbequem auf dem harten Holzboden lag, der Schmerz in seiner Brandwunde ein kurzes Aufflackern, das er kaum registrierte. Er versuchte, an etwas Belangloses zu denken, das, was er die letzten Tage gelernt hatte im Kopf zu wiederholen, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Stattdessen kam ihm nur Nisha in den Sinn. Der Sturm, vor dem sie Unterschlupf in der Scheune gesucht hatten, und der ihm nach seinem Traum wieder so deutlich vor Augen stand. Er wollte nicht daran denken, nicht nach dem gestrigen Abend. Aber er konnte ihr Bild schwer abschütteln.
Und war das nicht letztendlich der Grund, warum er aufgehört hatte, sich selbst zu befriedigen? Er hatte so lange an sie gedacht, dass er nicht einfach damit aufhören konnte, nachdem sie ihm die Freundschaft gekündigt hatte. Unmöglich, ihr Bild aus seinem Kopf zu verbannen. So lächerlich das auch war, es war einfacher, sich abzulenken. Am Ende hatte er es nicht einmal mehr vermisst.

Schweigend starrte Valion an das Planendach, allein mit dem Rauschen des Regens und den Schmerzen im Rücken. Wenn er lange genug liegen blieb, würde er darüber hinweg kommen.
Im nächsten Moment fragte er sich, warum er das sollte, warum er sich überhaupt damit quälte. Nisha war endlos weit weg, und er dachte die meiste Zeit nicht einmal an sie; wenn seine Träume ihm eins bewiesen, dann das.
Trotzdem blieb das Unbehagen. Ein schmales, bitteres Lächeln legte sich auf seine Lippen. Egal, wie sehr es ihm missfiel, Anya hatte Recht gehabt, wie immer: Er vermied, über sich selbst nachzudenken. Über sein Verlangen, und das anderer. Aber den Grund hatte Anya nicht erraten, dabei war es so einfach. Sie hatte ihn doch mit Marceus zusammen gesehen. Sogar gemaßregelt, mit Jefrems Unterstützung.
Die Wahrheit war, dass sein Verstand aussetze. Er dachte nicht mehr nach, er wollte etwas, und handelte, ohne nachzudenken. Die Folgen daraus hatten ihm nicht gerade das Leben erleichtert. Er hatte sich und Jan bloßgestellt, Marceus in Verlegenheit gebracht. Nisha verletzt, selbst wenn er das nie gewollt hatte. Aber das Schlimmste war, dass er es nicht einmal bereute, oder nicht so sehr, wie er es hätte bereuen müssen. Selbst jetzt, während die Momente an seinem inneren Auge vorbei zogen, hatte seine Sehnsucht die Überhand über die Scham und die Gewissensbisse.

Valion stöhnte leise auf und ärgerte sich über sich selbst. Er hatte sich beruhigen wollen, und genau das Gegenteil erreicht. Jetzt hatte er an Jan und Marceus gedacht, und seine Hand war unbewusst weiter gewandert, strich über seine Erektion. Auf die Art würde er noch Stunden frustriert hier herum liegen, wenn er nicht endlich etwas unternahm. Also, warum schob er es noch auf?
Er zog sich nicht aus, seine Hand glitt nur unter seine Kleidung. Wenigstens würde er nicht nackt sein, wenn Anya aufwachte oder ihn doch eine Dienerin störte. Die Vorstellung wollte sich festsetzen und die alte Scham wachrufen, aber er schob sie grob beiseite. Dann würde er sich eben beeilen. Unsicher griff er nach seinem Glied, ließ seine Hand darüber gleiten. Das Gefühl war vertraut. Er verbiss sich das Stöhnen, das ihm auf den Lippen lag, und konzentrierte sich, blendete alles andere aus.

Zuerst fiel es ihm schwer zu beginnen, eine Fantasie herauf zu beschwören. In seinem Traum war alles leicht gewesen, ohne Scham, ohne Schuldgefühle. Notgedrungen versuchte er, genau dorthin zurückzufinden, sich an die schemenhaften Bilder zu erinnern, die Empfindungen in sich wach zu rufen.
Jemand war bei ihm gewesen. Älter als er selbst. Nicht so breitschultrig wie Guy oder Marceus, sondern schmaler, wendiger. An mehr konnte er sich im ersten Moment nicht erinnern, aber letztendlich war das nicht wichtig. Er musste nur die Gefühle zurückholen, nicht die Details. Warme Hände, die auf seinem Bauch ruhten. Ein Atemhauch, der seinen Nacken streifte. Das Gefühl von Lippen auf seinen. Das war vertraut, und er wollte mehr davon.
In seiner Fantasie streckte er die Hände aus, strich durch das Haar des anderen, kurz und dunkel, wie Marceus Haar. Hörte sein tiefes Lachen, und verwandelte es in ein Stöhnen. Erkundete seinen Körper, sah in seine braunen Augen. Verkrallte sich in seine breiten Schultern, ließ sich von seinen schlanken Händen berühren, die sein Glied umschlossen. Unbewusst nahm er einen Takt auf, langsamer, als er es gewohnt war, aber auch intensiver, fordernder. In seiner Fantasie lag kein Zögern in dieser Berührung, sondern Erfahrung, das Wissen, was zu tun war. Seine andere Hand fuhr unter sein Hemd, rieb über seine Brustwarzen, ohne dass er es richtig wahrnahm.
Ich liebe dich, hatte er geflüstert, sich an ihn geklammert. Bitte bleib bei mir. In seinem Traum hatte er keine Antwort erhalten, aber er erhielt sie jetzt. Genau die, die er sich gewünscht hatte, nicht weniger erregt, aber doch Herr der Lage.
Keine Angst. Ich verlasse dich nicht. Egal, was passiert.
In seiner Vorstellung sah Valion ihn direkt vor sich, sah in seine Augen, die ihn sanft, verständnisvoll anblickten. Müde, aber liebevoll. Valion atmete keuchend ein, fühlte seinen Höhepunkt nahen, und wollte seinen Namen sagen. Aber er war knapp außerhalb seiner Reichweite, und bevor er ihn greifen konnte, war es vorbei. Im nächsten Moment kam er, und alle Gedanken verließen ihn. Er ließ sich erschöpft zurückfallen, mit hämmerndem Herzen, und schloss die Augen.

Valion musste eingenickt sein. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich das hereinfallende Licht subtil verändert, und das Prasseln des Regens war schwächer geworden. Er lauschte, doch er vernahm nichts sonst. Anya schlief weiterhin; niemand hatte bemerkt, was er getan hatte.

Benommen richtete er sich auf und hätte sich beinahe gedankenverloren die Hand an der Hose abgewischt. Sein Zurückzucken verdankte er nur Anyas ständigen Ermahnungen, bevor sein Verstand sich einschaltete und ihm vor Augen führte, in welche peinliche Lage er sich fast gebracht hätte. Hastig suchte er nach seinem zweiten Unterhemd, das er zum Waschen beiseitegelegt hatte und rieb sich stattdessen damit die Hand ab. 

Seine Gedanken drifteten gerade zu den Dienerinnen ab und ob sie bemerken würden, was sie da aus seiner Kleidung wuschen, da schreckte ihn etwas auf. Irgendetwas hatte er aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Valion hielt inne und lauschte, aber es gab nichts zu sehen und keine ungewöhnlichen Geräusche. Sicher, da war das leise Rieseln des Regens, das ferne Grollen von Donner. Dazwischen Windböen, die an den Planen zerrten. 
Dann kristallisierten sich die leisen Schritte einer Wache heraus. Der Schatten des Mannes war vage im Zwielicht sichtbar, während er am Wagen vorbei schritt. Langsam, bedacht, als hätte auch er etwas bemerkt und wäre sich unsicher, was es gewesen war. Kurz hielt er inne, lauschte wohl selbst auf Geräusche, und Valion hielt unbewusst die Luft an. Dann setzte er seinen Weg fort und entfernte sich.
Im selben Moment sah Valion, was ihn aufgeschreckt hatte: der Schatten einer geduckten Gestalt. Er schien Deckung auf der gegenüberliegenden Seite des Wagens gesucht zu haben. Jetzt, da er sich in Sicherheit wähnte, hatte er sich wieder erhoben. Kurz hielt er inne, schien nachzudenken, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Sein Ziel schien der Eingang des Wagens an dessen Ende zu sein.
So leise es ging, trat Valion zum Waschtisch und griff nach dem schweren Wasserkrug. Er wünschte in diesem Moment, er hätte Zeit gehabt, seine Glasscherben zu holen. Seine schlecht improvisierte Waffe in den Händen schlich er zum Eingang des Wagens und postierte sich daneben, sodass er nicht sofort ins Blickfeld des Fremden geraten würde. Er hörte seinen Atem, bevor er ihn sah, ein leicht angestrengtes Schnaufen. Dann teilten sich die Planen, und ein Kopf, verhüllt durch einen dunklen Kapuzenumhang, schob sich vor.
Ein Rebell? Valion wusste nicht, was er davon halten sollte. Was wollte er hier? Oder wollte er am Ende etwas von Anya? Und war es derjenige, der Valion bedroht hatte?
 Nun, es gab einen einfach Weg, das herauszufinden. Ohne länger darüber nachzudenken schnellte Valion vor, griff nach der Kapuze und riss sie dem Fremden vom Kopf herunter. Der war so überrumpelt, dass er mit einem unterdrückten Aufschrei vorwärts stolperte, in den Wagen hinein.

Valion erkannte ihn, bevor er sich fing und zu ihm umwandte. Bevor sich ein tiefes, ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, und seine Hände, die sich zur Verteidigung gehoben hatten, herab sanken. Seine blonden Locken hatten ihn sofort verraten. Valion hätte sie immer und überall wiedererkannt.
„Jan?“, würgte er hervor, und hörte seine eigene Stimme nur wie von fern. 
Jan. Erst jetzt wurde Valion bewusst, wie wenig Hoffnung er gehabt hatte, dass er noch lebte, dass sie sich jemals wiedersehen würden. Und plötzlich stand er wieder da. Es war wirklich Jan. Blass, hohlwangig, noch dünner, als Valion ihn in Erinnerung hatte. Aber lebendig. Wirklich da.
„Na? Störe ich gerade?“, fragte er, blickte auf den Krug in Valions Hand, und fügte grinsend hinzu: „Vielleicht beim Blumen gießen?“
Valion wollte etwas Schlagfertiges antworten, aus Reflex, aber er konnte nicht. Jans alberner Witz hatte ihm unvermittelt den Rest gegeben. Er ließ seine improvisierte Waffe fallen, und zum Glück zerbrach das Gefäß nicht, sondern prallte nur dumpf auf dem Holzboden auf. Valion nahm es kaum wahr, er griff nach Jan, schlang seine Arme um ihn und begrub ihn in einer Umarmung. 
Jan keuchte überrascht auf, aber er wich nicht zurück, protestierte nicht einmal, obwohl Valion wusste, dass er ihn viel zu fest an sich drückte, aber er konnte nicht anders. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, aber nichts kam ihm über die Lippen. All die angestaute Angst, die Zweifel, ihr schrecklicher Abschied, alles brach mit einem Mal auf ihn herein und riss ihn fast entzwei. Er konnte nur schluchzen, unartikuliert, und dann heulte er los.
„Schhhhhh ... ist schon gut“, murmelte Jan, seine Stimme selbst unstet. Er lachte, schniefte, aber irgendwie brachte er es fertig, die Fassung zu bewahren. Beruhigend hielt er Valions zitternden Körper fest, strich über seinen Rücken, seine Arme, redete sanft auf ihn ein. „Alles gut. Keine Angst. Alles ist gut.“

Eine kleine Ewigkeit verstrich, in der sie sich nur aneinanderklammerten, bis es Valion gelang, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Er wischte sich das Gesicht, sah zu Jan auf, der immer noch liebevoll auf ihn herunter sah.
„Wo zur Hölle warst du?! Ich hab schon gedacht, ich seh dich nie wieder!“, brach es aus Valion heraus. Er wusste nicht, ob er wütend sein sollte, oder nur erleichtert.
Jan lachte leise auf. „Ich hätte eher was von mir hören lassen sollen, was?“, antwortete er, aber seine Stimme brach mitten im Satz. Er wischte sich heftig die Augen, und einen Moment lang glaubte Valion, jetzt würde auch er weinen. Aber er fing sich zum zweiten Mal, atmete tief durch, und lächelte tapfer weiter. Erschöpft, traurig, aber so humorvoll und herzlich wie in Valions Erinnerung. „Wenigstens brauch ich dich nicht zu fragen, ob du mich vermisst hast. Ich war mir nicht sicher, nachdem ich-“ Er brach ab, suchte nach Worten, und jetzt sah er elend aus. „-nachdem ich dich so hab hängen lassen“, brachte er schließlich heraus. „Ich hab- Sachen gesagt, die ich nicht sagen wollte. Und dir mächtig eine verpasst. Das war falsch. Ich war am Ende, und ich hab erst später verstanden, was passiert ist. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, wie ich das wieder gutmachen kann, aber-“
„Ich hab dich fast umgebracht“, widersprach Valion, „Wenn sich einer entschuldigen muss, dann ich. Ich dachte- ich dachte, deshalb bist du nicht zurückgekommen.“
„Wegen dem bisschen?“, wehrte Jan ab, und jetzt grinste er schief. „Hat mich nicht umgehauen, wie du siehst. Wenn du mich das nächste Mal abmurksen willst, musst du etwas gründlicher sein!“ Er hielt inne, als er Valions unglücklichen Gesichtsausdruck sah. „He, das war ein Witz!“, fügte er wesentlich sanfter hinzu und drückte Valion kurz an sich. „Scheint, als hätten wir uns beide sinnlos den Kopf zerbrochen, oder?“
„Scheint so“, stimmte Valion zu, und er sah Jan an, dass er genauso erleichtert war wie er selbst. Irgendwie war es beruhigend, dass er sich mit denselben Zweifeln herum geplagt hatte, mit denselben sinnlosen Schuldgefühlen. Dabei hatten sie einander schon verziehen.
„Wollen wir‘s dann einfach vergessen? Noch mal von vorn anfangen?“, fragte Jan. Er suchte Valions Blick, und er wirkte ungewöhnlich ernst. 
Etwas hatte sich an ihm gewandelt, während sie voneinander getrennt gewesen waren, das begriff Valion jetzt. Und einen Moment lang bedrückte ihn das. Was hatte sich zwischen ihnen verändert in dieser kurzen Zeit? Er konnte es noch nicht sagen. Aber je mehr er darüber nachdachte, je länger er Jans Blick erwiderte, desto sicherer war er sich auch, dass er es heraus finden musste. Er wollte diese zweite Chance nicht verspielen.
Er nickte ernst. „Versuchen wir‘s“, sagte er, und brachte Jan damit zum Lächeln.
„Du wirst es nicht bereuen.“
Valion grinste zurück. „Wenn doch, dann versuche ich es einfach noch mal mit dem Abmurksen.“
Jan schnaufte amüsiert, und legte eine Hand unter Valions Kinn. „Damit das klar ist, für die dummen Witze bin immer noch ich zuständig“, sagte er, und dann küsste er ihn. Ein warmer Schauer durchlief Valion, und er hob die Arme, zog ihn näher zu sich. Wie fremd sich das anfühlte, und gleichzeitig vertraut. Er erinnerte sich an ihre letzten Umarmungen, die viel zu kurze Zeit, die sie zusammen verbracht hatten. Hätte er ihn nur festhalten können, bei sich behalten; sie hatten einiges nachzuholen. Er sah an Jans leicht geröteten Wangen, dass er vermutlich dasselbe dachte. Aber die Zeit hatten sie vermutlich nicht.

„Wie lange kannst du bleiben?“, fragte Valion. Jan seufzte.
„Nicht lange“, antwortete er und löste sich sanft von Valion, und seine Miene wurde wieder ernst, genauso wie der Tonfall seiner Stimme. „Eigentlich müsste ich schon wieder weg sein. Meine neuen Freunde waren sowieso nicht so begeistert von der Idee, dass ausgerechnet ich her komme und mit dir rede. Wird das beste sein, wenn ich keine Zeit mehr vertrödele.“ 
Sorgsam hob er den Krug auf, der immer noch auf dem Boden lag, und stellte ihn beiseite, bevor er sich die Kapuze wieder überzog und die blonden Locken, die darunter hervor fielen, sorgfältig zurückschob. 
„Rebellen?“, fragte Valion, und Jan nickte.
„Sie haben mich aufgesammelt und mich wieder aufgepäppelt. Leider heißt das, dass ich ihnen was schulde, und glaub mir, mit ihnen anlegen willst du dich nicht. Also unterstütze ich sie eine Weile. Und ehrlich gesagt habe ich ihnen versprochen, dass ich dich auch dazu überrede, ihnen zu helfen.“
Noch während er sprach, zog er Valion sanft von der Mitte des Eingangs weiter an die Seite, postierte sich in der Ecke, in der Valion ihm zuvor aufgelauert hatte. In Valion keimte der Verdacht, dass die Rebellen mehr getan hatten, als nur seine Verletzung zu versorgen. Noch mehr von der subtilen Veränderung, die er an Jan bemerkt hatte. Er schien vorsichtiger, und er entspannte sich erst, als er stumm nach draußen gelauscht hatte und sich sicher schien, dass sie weiterhin ungestört waren.
„Tut mir leid“, sagte er, als er Valions prüfenden Blick bemerkte. „Sie haben mich ziemlich getriezt, bevor ich hierher kommen durfte. Ein Wunder, dass sie‘s überhaupt erlaubt haben. Aber wir hatten ja einiges zu bereden.“ Er lächelte bei diesen Worten. „Und ich dachte mir, wenn plötzlich irgendjemand vor dir gestanden und behauptet hätte, ich wäre am Leben und hätte eine Botschaft für dich, dann hättest du es nicht geglaubt. Ich hätt‘s zumindest nicht geglaubt.“
„Ich wohl auch nicht“, stimmte Valion zu.
„Dachte ich mir. Aber versuch mal, denen das zu erklären. Ihre Strategie hier, Eravier da, die Wachen, die Lage, wann, wo, warum, blablabla“, murrte Jan. „Fast alles, was ich ihnen vorgeschlagen habe, hat ihnen nicht gepasst. Sie wollen strikt nach ihrem Plan vorgehen. Und der sieht leider vor, dass du noch eine Weile den Kopf unten behältst und tust, was Eravier will.“ Er neigte sich näher zu Valion heran, der das perplex geschehen ließ, und flüsterte direkt in sein Ohr: „Das, was ich dir jetzt sage, darfst du wirklich keiner Menschenseele verraten, verstanden? Die Rebellion plant von langer Hand einen Angriff, und dann werden sie dich hier raus holen. Bei eurer nächsten Rast wirst du mehr hören.“
„Ein Angriff?“, flüsterte Valion zurück. „Wozu?“
Jan seufzte leise. „So genau weiß ich das auch nicht. Anscheinend wollen sie irgendetwas haben, das sich Eravier unter den Nagel gerissen hat.“
„Und was?“
„Keine Ahnung, sie halten dicht, was das angeht. Aber sie sind ziemlich sauer. Kann auch nur Eravier einfallen, ausgerechnet einem Haufen Rebellen etwas unter dem Hintern weg zu klauen.
Jedenfalls, wenn wir unsere Rolle gespielt haben, und alles gut gelaufen ist, sind wir raus. Frei. Wir können gehen, wohin wir wollen. Und ... ich kann nichts versprechen, aber wenn wir Glück haben, ist Eravier danach Geschichte.“
Er hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, und Valion lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken.
„Du meinst-?“
Jan deutete mit einer stummen Geste an seinem Hals das an, was Valion vermutet hatte.
„Glaubst du, das werden sie wirklich tun?“
Jan zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Mir wäre es nur recht. Niemand mehr, der uns verfolgen kann. Aber letztendlich soll es mir egal sein, solange sie ihren Teil der Abmachung einhalten.
Aber ganz ehrlich, was meinst du? Denkst du, du kommst so lange allein klar?“
„Heißt das, ich sehe dich jetzt eine Weile nicht mehr?“
Jan stutzte, dann schmunzelte er plötzlich.
„Was ist?“, fragte Valion, und Jan schüttelte leicht den Kopf.
„Wenn das deine größte Sorge ist, dann kann es dir ja hier nicht so schlecht gehen.“
„Das ist nicht-“, murrte Valion, aber Jan küsste ihn kurzerhand, zog ihn wieder zu sich, deutlich energischer als zuvor, und Valion ließ es nur zu gern geschehen. Er atmete heftig ein, als Jan seine Lippen zu seinem Hals gleiten ließ, Küsse darauf hauchte, den Geruch seines Haars einatmete. Schlagartig war sein Verlangen wieder da, so heftig und unkontrolliert wie beim ersten Mal. Einige Dinge zwischen ihnen würden sich wohl nie ändern.
Es war Jan, der innehielt, und frustriert seufzte. Zärtlich strich er über Valions Wange, sah ihn voller Liebe an.
„Scheiße, ich würde so gern bleiben“, flüsterte er ihm zu. „Aber ich muss weg. Du wartest ab, ja?“
„Ja“, sagte Valion, obwohl er ihn am liebsten angebettelt hätte, nicht zu gehen. Aber was hätte das schon genützt?
„Halt dich aus allen Schwierigkeiten raus, verstanden?“, fuhr Jan fort. „Spiel mit, aber nicht zu sehr. Und verplapper dich nicht, das sollte ich dir von unseren Freunden mitgeben. Sie meinen, du bist ein bisschen zu vertrauensselig. Nicht, dass du an falsche Freunde gerätst.“
„Komisch, als ich dich getroffen habe, fandest du das noch in Ordnung“, gab Valion lächelnd zurück.
„Die Zeiten ändern sich. Sei einfach vorsichtig.“ Jan zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, ging zum Eingang und warf einen schnellen Blick nach draußen. Anscheinend war er bereit, zu gehen. Nur, dass Valion das Gefühl hatte, etwas Wichtiges vergessen zu haben, auch wenn es ihm beim besten Willen nicht einfiel. Irgendetwas, das er vergessen hatte zu fragen.

„Warte kurz“, bat er, und Jan hielt inne. „Was ist mit denen, die ich schon kenne? Woher weiß ich, wem davon ich trauen kann? Anya zum Beispiel?“ Valion nickte in Richtung des Schlafbereichs. „Ich kann ihr schwer aus dem Weg gehen. Und sie wird merken, wenn ich plötzlich nicht mehr mit ihr rede.“
„Mach dir darüber keiner Sorgen, sie ist in Ordnung. Die Rebellen haben eine Art Abmachung mit ihr“, antwortete Jan knapp.
„Und Tarn?“
Das war die falsche Frage gewesen. Jans Miene verfinsterte sich, und er schwieg eine Weile, als wüsste er nicht, was er antworten sollte. Oder er suchte nach den richtigen Worten, weil er sonst nur geflucht hätte. 
„Die Rebellion ist nicht gut auf ihn zu sprechen“, sagte er schließlich. „Frag mich nicht, was genau er ausgefressen hat, das weiß ich selbst nicht. Aber wenn ich du wäre, würde ich den Kerl abschreiben.“
Valions bedrückter Gesichtsausdruck sagte ihm wohl alles, was er wissen musste, und er seufzte. 
„Ich weiß, du magst ihn, aber geh ihm bitte aus dem Weg. Niemand will mir genau sagen, warum, aber sie betrachten ihn als Gefahr. Nimm dir ein Beispiel an ihnen. Und er hat uns ziemlich übel ausgespielt, das darfst du nicht vergessen.“
„Ich weiß, aber-“
„Versprich mir, dass du dich von ihm fernhältst. Wenn du alle Stricke reißen, dann halt dich an Marceus.“

Bevor Valion etwas erwidern konnte, hörte er plötzlich in der Nähe das Zwitschern einer Lerche. Es klang täuschend echt, und hätte Jan nicht sofort darauf reagiert, wäre es ihm vermutlich nicht einmal aufgefallen.
„Das war mein Zeichen. Wenn ich mich jetzt nicht aus dem Staub mache, wird es ernst.“
Jan lächelte wehmütig, und ein letztes Mal streckte er die Hand nach Valion aus, zog ihn zu sich und umarmte ihn.
„Weißt du, ich bleib dabei: Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Pass auf dich auf!“, flüsterte er ihm zu. Dann verließ er, ohne zu zögern, den Wagen und huschte er davon. Sein Schatten war das Letzte, was Valion von ihm sah.

Erst nachdem Jan ihn verlassen hatte, fiel Valion endlich ein, was er vergessen hatte: Er hatte Jan erzählen wollen, was zwischen ihm und Marceus vorgefallen war.

Im ersten Moment schien es nicht einmal schlimm zu sein, aber dann schlichen sich Zweifel ein. Warum hatte er nichts gesagt? Ausgerechnet dieses Detail vergessen? Jan hatte ihm sogar das Stichwort geliefert. Und trotzdem hatte er nicht einmal den Versuch unternommen.

Du bist ein Lügner.

Hatte er es wieder getan? Etwas verheimlicht, von dem er wusste, dass es Jan nicht gefallen würde? Nicht absichtlich, sondern einfach nur unterbewusst? Valion war sich nicht sicher, und das war schlimmer als die Gewissheit. Er konnte sich selbst nicht über den Weg trauen.

 

„Verdammt“, murmelte Valion niedergeschlagen und ließ sich auf den Hocker vor dem Waschtisch fallen.

„Am frühen Morgen schon so ein loses Mundwerk! Lektion Nummer eins für heute: Gewöhn‘ dir das Fluchen ab.“

Valion schreckte nicht auf; er hatte schon so eine Ahnung gehabt, dass Anya seit geraumer Zeit wach war und nur zu höflich gewesen war, auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt war sie hinter der Trennwand hervorgetreten, zerzaust vom Schlafen, aber ihre Augen hellwach.

„Wie lange hast du gelauscht?“, fragte Valion müde. 

„Unfreiwillig zugehört“, korrigierte sie, „Und leider von Anfang an.“ Sie trat neben Valion und griff sich ihre Bürste, schlug sie gegen den Krug, der einen dumpfen Ton von sich gab. „Der hat gereicht, um mich zu wecken. Aber keine Sorge, das war das einzige laute Geräusch. Ich glaube nicht, dass irgendjemand auf euch aufmerksam geworden ist.“

„Hm.“

„Was hat dir denn jetzt wieder die Laune ruiniert?“, fragte Anya und begann, ihr Haar auszubürsten. „Ich dachte, du würdest dich freuen. Er ist gesund, er ist zu dir zurückgekommen, und wie ich höre, immer noch völlig vernarrt in dich. Was in aller Welt kann dir daran nicht gefallen?“

„Dass du eine Abmachung mit der Rebellion hast, von der ich nichts weiß, zum Beispiel?“, konterte Valion missgelaunt. Natürlich war das nicht der Grund, aber zumindest war es nicht so persönlich wie das, was ihn wirklich beschäftigte.

Anya seufzte. „Glaub mir, da gibt es keine großen Intrigen. Betrachte mich nicht als ihr Mitglied oder etwas in dieser Art. Ich wüsste nicht einmal, wie ich sie rufen sollte, wenn ich sie brauche. Ich soll nur auf dich aufpassen. Deine Ausbildung überwachen. Dafür sorgen, dass du nicht in Schwierigkeiten gerätst. Im Grunde dasselbe, was Eravier mir aufgetragen hat.“

„Wie beruhigend“, murrte Valion, aber Anya ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie griff in sein Haar und verstrubbelte es demonstrativ. 

„He!“

„Werde nicht schon wieder trotzig! Im Gegensatz zu Eravier will ich das Beste für dich, nicht das, was mir den größten Profit heraus schlägt. Und so ungern ich es zugebe, du bist mir ans Herz gewachsen. Also schmoll jetzt nicht wie ein Kind!“

Sie hatte es leichthin gesagt, aber trotzdem trafen ihre Worte Valion unvorbereitet. Sie mochte ihn. Selbst, wenn er das im Grunde gewusst hatte, rührte es ihn unerwartet stark. Er konnte nicht anders, er musste lächeln, und Anya lächelte zurück. „Da, schon besser. Und jetzt mach Platz, mein Haar ist in einem furchtbaren Zustand. Diese schreckliche Feuchtigkeit ist Schuld.“

„Soll ich dir helfen?“

„Ich bitte darum.“

 

Anya hatte nicht gelogen, ihr Haar war störrisch an diesem Morgen. Valion half ihr, es zu bändigen, während sie auf ihr Frühstück warteten, aber als sie mit dem Frisieren fertig waren, war noch niemand bei ihnen aufgetaucht. Es dauerte eine weitere Stunde, bis sich jemand um sie kümmerte, und Anya war nicht begeistert davon.

„Das wurde auch Zeit! Was hat so lange gedauert?!“, murrte sie, als endlich ein Diener eintraf und sie mit dem Nötigsten versorgte. Der Mann zuckte nur mit den Achseln; anscheinend war Anyas Zorn nicht das Schlimmste, was ihm heute begegnet war.

„Die Pferde sind uns im Gewitter scheu geworden, ein Wagen stürzte um“, berichtete er gelassen. „Wir mussten deshalb eine Weile rasten.“

„Ist jemand verletzt?“, fragte Valion, aber der Diener schüttelte den Kopf.

„Nein, alle sind wohlauf, mit dem Schrecken davon gekommen. Wir dachten erst-“ Er unterbrach sich plötzlich, als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, dass er sich fast verraten hätte, und fuhr hastig fort: „Wie auch immer, Herr Eravier wünscht, euch beide zu sehen. Ihr sollt euch frisch machen und ihn dann aufsuchen. Ein Wächter wird euch dorthin begleiten.“

„Hat er dir mitgeteilt, warum er uns sehen will?“, fragte Anya, aber der Diener schüttelte erneut den Kopf. Er löste ihre Kette, damit sie sich waschen und ankleiden konnten, dann verließ er sie auch schon.

Valion und Anya tauschten einen Blick; sie waren beide nicht begeistert von der Aussicht, vor Eravier antreten zu müssen. „Was meinst du, will er von uns?“, fragte Valion.

Anya seufzte und verschränkte die Arme. „Vermutlich einen Lagebericht. Immerhin ist etwas Zeit vergangen. Sicher will er deinen Fortschritt prüfen.“

„Ich werde mir Mühe geben“, versprach Valion, aber Anya schnaubte nur amüsiert.

„Ich hatte auch nicht angenommen, dass du es darauf anlegst, mich in Schwierigkeiten zu bringen“, sagte sie, und fügte mit einem spöttischen Lächeln hinzu: „Zumindest jetzt nicht mehr. Und jetzt an die Arbeit, wir müssen dich heute besonders vorzeigbar machen.“

 

Nachdem sich Valion gewaschen, angekleidet und unter Anyas Beihilfe frisiert hatte, trafen auch schon zwei Wächter ein. Sie waren wegen des Regenwetters schlecht gelaunt und knurrten nur gereizt, als Anya ihnen mitteilte, dass sie sich noch gedulden mussten.

„Sind wir nicht fertig?“, fragte Valion irritiert, aber Anya reicht ihm kommentarlos das Gesichtspuder. Anscheinend war es ihr ernst damit gewesen, ihn heute besonders herauszuputzen. Zaghaft trug er unter Anyas Mithilfe eine Schicht auf, diesmal ohne Spiegel. Anya schien trotzdem überzeugt von ihrem Ergebnis.

„Gar nicht so schlecht. Es fehlt dir an Übung, aber für den Augenblick genügt das. Jetzt komm.“

Sie verließen gemeinsam den Wagen, und die Wächter nahmen sie in ihre Mitte und führten sie zu Eravier.

 

Mittlerweile erkannte Valion, ob der Wagenzug gerade lagerte oder nur eine Rast einlegte. Es herrschte die gleiche Betriebsamkeit, aber da nach wie vor das Meiste in den Wagen verstaut war, wirkte alles übersichtlicher. Die Luft war frisch, rein gewaschen durch den Regen, der mittlerweile zu einem schwachen Nieseln zurückgegangen war. Die Wolkendecke zerriss bereits zu einzelnen Fetzen, und die Mittagssonne schien durch die Lücken. Nur am Horizont türmten sich immer noch dunkle Wolkenwände. Das schwache Grollen in der Ferne, letzte Nachwehen des Gewitters, wurde vom Gewirr der Stimmen und den Geräuschen der Arbeit fast übertönt. Einige eilig entzündete Feuer brannten, und das feuchte Holz erzeugte eine Menge Qualm. 

Das Gedränge konzentrierte sich heute um einen der Wagen, der, reichlich mit Schlamm bedeckt, an der Seite des Zuges stand. Vermutlich der, der umgestürzt war. Reparaturen gingen vor sich, Material wurde gesichtet, teilweise entsorgt. Die Stimmung war unterschwellig gereizt. Einige beobachteten Valion und Anya länger als nötig, während sie vorbei gingen.

„Warum starren sie uns so an?“, flüsterte Valion Anya zu. Anya schmunzelte.

„Oh, sie starren nicht uns an, sie wissen, wie ich normalerweise aussehe“, flüsterte sie zurück. „Sie starren dich an, und das aus gutem Grund.“

 

Sie lieferte keine weitere Erklärung dazu ab, denn etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Abrupt hielt sie inne und winkte einer Frau in einiger Entfernung zu.

„Sophie!“

Einer der Wächter packte sie an der Schulter und wollte sie anraunzen, doch im nächsten Moment war die junge Frau auf sie aufmerksam geworden. Valion erkannte sie, er hatte sie schon einmal mit Anya zusammen gesehen; eine von Karvashs Frauen. Sie hob die Hand und gebot den Wächtern mit einer Geste, Anya zu ihr zu lassen. Valion dachte, sie würden ein Gespräch beginnen, aber sie umarmten einander nur lange und herzlich, dann kehrte Anya zu den Wächtern zurück, die fast ebenso verwirrt waren wie Valion.

„Ich bin fertig“, sagte Anya gelassen, und ging voran, sodass die Wachen ein wenig hinter ihr zurück fielen. „Wir sind wohl nicht die Einzigen, die so lange eingesperrt waren“, flüsterte sie Valion zu, sobald ihre Bewacher außer Hörweite waren. „Zur Zeit ist es praktisch niemand gestattet, sich länger bei den Sklaven aufzuhalten, und jeder, der zur falschen Zeit am falschen Ort ist, wird verhört. Eravier meint es anscheinend ernst mit seiner Rebellenjagd.“

„Hört auf zu tratschen“, knurrte der Wächter und gab seinem Kamerad einen Wink. Sie holten auf und nahmen Anya und Valion erneut in ihre Mitte. Anya lächelte nur spöttisch und verstummte.

 

Schließlich erreichten sie Eraviers Wagen, der erneut ein wenig abseits vom Rest der Kolonne stand. Ein Knecht kümmerte sich um die Pferde, die direkt daneben angebunden waren und Heu fraßen. Dass sie nicht zu den anderen Pferden geführt worden waren sagte Valion, dass ihre ungeplante Rast von kurzer Dauer sein sollte.

Obwohl Valion nur ein einziges Mal in Eraviers Quartier gewesen war, schauderte er. Er erinnerte sich nur zu gut daran, hier gewesen zu sein, von Eravier begutachtet zu werden. Zumindest waren auch die Wächter nicht erpicht darauf, ihrem Herren zu begegnen. Sie blieben vor dem Eingang stehen und winkten Valion und Anya lediglich weiter. Anya ging vor, schob die Planen beiseite und hielt sie für Valion, damit er ebenfalls eintreten konnte. 

 

Sie gelangten in den schmalen, düsteren Bereich, der vom Rest des Wagens abgeschirmt war, und Anya gebot Valion, stehen zu bleiben. Unvermittelt befiel ihn ein unheimliches Gefühl des Wiedererkennens; kein Déjà-vu, denn er war ja schon einmal hier gewesen, aber es fühlte sich doch ähnlich an. Seine Gefühle von damals waren ihm unheimlich gegenwärtig. Wie sehr er Anya misstraut hatte. Sie war ihm damals so fremd gewesen, obwohl er jetzt das Gefühl hatte, sie schon ewig zu kennen.

Anya schien es ähnlich zu gehen. „Da sind wir nun wieder, nicht wahr?“, fragte sie. Valion nickte nervös. „Keine Angst, du bist diesmal viel besser vorbereitet. Bleib direkt hinter mir; ich werde erst einmal sehen, ob wir überhaupt erwünscht sind. Und denk daran: Immer lächeln.“

 Valion sah ihr die Anspannung an, aber ihr ruhiger, heiterer Ausdruck blieb derselbe, gefror auf ihrem Gesicht zu einer undurchdringlichen Maske. Ohne weiter zu zögern wandte sie sich um, schob den zweiten Vorhang beiseite und trat in Eraviers Quartier.

 

Sie fanden Eravier nicht allein vor, im Gegenteil schien er sehr beschäftigt. Neben ihm standen Karvash und Besnard, über eine Landkarte gebeugt. Beide hatten Aufzeichnungen mitgebracht; sie hielten Papiere in den Händen, und noch viel mehr davon türmte sich auf dem Tisch und bildete Stapel. Notizblätter lagen direkt neben der Karte verstreut, hastig vollgekritzelt, geändert, ganze Passagen durchgestrichen. Valion erkannte hinter Anyas Rücken hervor keine Details, aber die Männer schienen mit Listen und Berechnungen ihre weitere Reise zu planen.

„-sage doch, unsere Verluste sind zu groß, um auf unserem geplanten Weg zu bleiben. Wenn wir nicht bald Vorräte fassen, werden wir den Gürtel alle enger schnallen müssen“, erklärte Besnard gerade. Eraviers Augen huschten über die Liste, die er in der Hand hielt, bevor er sie beiseitelegte und eine hastige Berechnung auf einem weiteren Papier durchführte.

„Wir würden unsere Reise um ... weitere achtzehn Tage verlängern. Das müssen wir mindestens auf zehn verkürzen. Ich werde meine bereits vereinbarten Geschäfte in der Hauptstadt nicht warten lassen.“

„Ich verstehe deinen Groll, Ansin, auch ich habe unsere Rückkehr eher erwartet“, unterbrach Karvash ihn, bemüht um einen besänftigenden Tonfall. „Dennoch scheint es mir, dass wir diesen Aufschub dringend benötigen werden. Bedenke meine missliche Lage! Ich brauche dringend einen Ersatz für mein Zelt!“

„Deine Lage ist durchaus akzeptabel“, antwortete Eravier desinteressiert. „Sollte dein neuer Schlafplatz deinen Huren zu beengt sein, dann schick sie zu den Wachen, das wird den Männern die Zeit vertreiben und die Moral heben.“

Karvash kniff die Lippen zusammen, aber er erwiderte wohlweislich nichts.

„Es geht nicht nur um Lebensmittel und ein paar Gebrauchsgegenstände“, warf Besnard ein. Er rang regelrecht die Hände, so nervös war er, dass er widersprechen musste. „Wenn du meine Aufzeichnungen prüfst, wirst du sehen, dass uns kaum noch etwas für die Reparatur der Wagen zur Verfügung steht. Wachs wird uns knapp, und Seife. Und dein Berater wird dir berichten können, dass ihm die medizinischen Versorgungsgüter ebenfalls ausgegangen sind. Wir werden auf dem Zahnfleisch kriechen, wenn wir Luteija erreichen!“

 

Eravier sah auf, wollte etwas erwidern, und bemerkte, dass Anya im Eingang stand. „Ach, ist es schon so weit?“, fragte er und rieb sich die Stirn, als müsste er Kopfschmerzen vertreiben. Er wandte sich an Karvash und Besnard. „Ich werde eure Vorschläge in Betracht ziehen und eure Rechnungen prüfen. Meine Entscheidung wird euch von Tarn mitgeteilt, ich erwarte seinen Bericht. Geht jetzt, ich habe noch andere Dinge zu tun.“

 

Die beiden Männer beeilten sich, fortzukommen, und drängten sich mit einem hastig gemurmelten Gruß an Anya und Valion vorbei. Eravier ließ den Blick wieder sinken, starrte auf die Karte, die Berechnungen.

Und dann, mit einer einzigen, zornigen Armbewegung, fegte er alles vom Tisch. Anya zuckte heftig zurück und hätte beinahe Valion um gerempelt, der immer noch hinter ihr stand, abgeschirmt von Eraviers Wut.

„Ein einziges Mal möchte ich erleben, dass diese Kretins ihre Zahlen in Ordnung halten“, murmelte er übellaunig, erhob sich und ging langsam, bedrohlich, auf Anya zu.

„Wo ist Valion? Ich dachte, ich hätte mich klar-“

Valion trat einen hastigen Schritt nach vorn, direkt neben Anya, und Eravier hielt inne; anscheinend hatte er ihn in Anyas Schatten tatsächlich nicht bemerkt. Der Ausdruck seines Gesichtes änderte sich plötzlich, seine Wut verrauchte, machte einem völlig neutralen Ausdruck Platz. Hätte Valion es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, dass er erstaunt war und es hastig zu verbergen suchte. Einen Moment lang stand er da, betrachtete ihn. Dann winkte er ihn heran.

 

Valion schluckte seine Nervosität herunter und ging auf ihn zu, blieb dann in angemessenem Abstand zu ihm stehen. Leicht verbeugte er sich, so, wie Anya es ihm gezeigt hatte, und nahm dann wieder seine gerade Haltung ein.

Eravier beobachtete ihn, nickte schließlich. „Das ist nicht schlecht.“ Er trat näher an Valion heran, und Valion musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Eravier hob die Hand, ließ sie über seine Schulter gleiten, und umrundete ihn. Wie ein Raubtier, das seine Beute betrachtete. Seine Hand glitt Valions Rücken hinab, die Wirbelsäule entlang, als prüfe er seinen Stand. 

„Dein Aussehen ist verbesserungsbedürftig, aber ein Anfang, durchaus. Deine neue Haltung gefällt mir. Und wir werden in Luteija wohl einen Schneider finden, der deine Vorzüge besser zu Geltung bringt, als es dieser Haufen Lumpen vermag.“ Damit schloss er seinen Rundgang um Valion ab, trat wieder vor ihn. „Nun, sag mir: Wie hast du die letzten Wochen verlebt?“

„I-Ich-“ Beinahe wäre Valion über seine eigenen Worte gestolpert. Fragte Eravier ihn ernsthaft danach, wie er sich fühlte? Mühsam beherrscht brachte er heraus: „Ich habe sie gut verlebt, auch wenn die Tage recht eintönig waren.“

„Du scheinst sie jedoch gut genutzt zu haben.“

„Ja. Ich habe unter Anyas Anleitung Verhaltensregeln erlernt.“

„Das ist kaum zu übersehen. Welche Themen habt ihr angeschnitten?“

„Grundregeln der Etikette und der Tischmanieren. Wie ich mich kleiden soll, und meine Haltung.“

„Anscheinend hat Anya auch deine Konversationskünste erweitert.“ Eravier lächelte spöttisch. An Anya gewandt sagte er: „Er spricht durchaus nicht mehr gänzlich wie ein Bauerntölpel. Es fehlt an Schliff und Charme, aber mehr kann man in der kurzen Zeit wohl nicht erwarten.“

Dann, bevor Anya antworten konnte, packte er plötzlich Valions Kinn, brachte sein Gesicht nahe an seines. Sein Griff war eisern, ließ keinen Widerstand zu. 

Valion wollte schreien, aber kein Muskel in seinem Gesicht zuckte. Wenn Anya mit diesem Scheusal schlafen konnte, dann konnte er ihm in die Augen sehen.

Lächle. Lächle. Lächle.

Eravier studierte seine Haut, nickte dann. „Auch das sollte sich mit etwas Übung geben.“ Zu Valions Erleichterung ließ er ihn daraufhin los und kehrte zu seinem Arbeitsplatz zurück, ließ sich auf seinen Stuhl sinken. „Ich muss dich loben, meine Teure, du leistest gute Arbeit mit ihm. Wenn wir die Hauptstadt erreichen, werde ich wohl erste Interessenten für ihn gewinnen können.“

„Vielen Dank, Ansin“, sagte Anya lächelnd und neigte den Kopf zu einer angedeuteten Verbeugung. Aber Valion sah, dass ihre Mundwinkel zuckten; sie musste sich beherrschen, um ihn nicht auszulachen.

„Gibt es noch etwas, das du dir wünschst?“, fragte Eravier, jetzt wieder an Valion gewandt. „Ich bin geneigt, dich für deine Folgsamkeit zu belohnen.“

Valion sah zu Anya, und dachte daran, wie sie sich verzweifelt gewünscht hatte, ihr Haar betrachten zu können, und seine Antwort folgte ohne langes Nachdenken.

„Könnte ich einen Spiegel bekommen?“

Im nächsten Moment begriff er, worum er gerade gebeten hatte: Die Waffe, mit der Jan Eravier fast umgebracht hatte. Anyas Augen weiteten sich vor Entsetzen, und auf Eraviers Gesicht erschien ein unangenehmes Lächeln. Scheinbar unbewusst richtete er den Kragen seines Hemdes. Valion war sicher, dass der darunter verborgene Schnitt immer noch sichtbar sein musste.

„Ich- ich- ich meine, um meine Übungen fortsetzen zu können“, stammelte er hastig, und seine Panik schien Eravier nur noch mehr zu amüsieren. Sein Grinsen verbreiterte sich, so wölfisch, dass sich Valions Magen umdrehte. 

„Natürlich. Ich nehme an, du hast deine Lektion gelernt, was zerbrochene Spiegel betrifft.

Geh jetzt. Ich möchte allein mit Anya sprechen.“

Valion warf Anya einen entsetzten Blick zu, aber sie winkte ihn fort. Und da er keine Wahl hatte, verließ er den Wagen nach kurzem Zögern und ließ sie allein zurück.

 

~

 

„Verzeih ihm. Er ist ein dummer Junge, er wollte mir nur eine Freude machen“, sagte Anya schnell, sobald Valion außer Hörweite war.

„Er ist ein wahres Unschuldslamm. Ich werde es ihm nicht nachtragen“, antwortete Eravier. Das Lächeln war nicht aus seinem Gesicht gewichen, aber Anya glaubte ihm kein Wort; seine Augen blickten kalt, misstrauisch. Sie wäre fast zurück gezuckt, als er die Hand ausstreckte, ihr bedeutete, zu ihm zu kommen. „Genug von ihm. Wie ist es dir ergangen, meine Liebe? Komm und erzähl mir davon.“

Anya lächelte zurück, obwohl sie am liebsten auf dem Absatz kehrt gemacht hätte. Jeder ihrer Instinkte warnte sie davor, hier zu bleiben, egal, wie ruhig und schmeichelnd sein Tonfall gerade war. Dennoch ging sie zu ihm, ließ zu, dass er einen Arm um ihre Hüfte legte. 

„Ich vertreibe mir die Zeit, etwas anderes bleibt mir wohl kaum übrig“, sagte sie, und gab vor, die Karte zu studieren, um einen Blick auf die Aufzeichnungen zu erhaschen. „Und ich erfülle meine Aufgabe, wie du siehst. Er wird langsam zutraulicher, aber er sträubt sich noch ein wenig gegen körperliche Zuwendung. Wir arbeiten daran.“

„Die Zeit muss dir sehr lang geworden sein, ohne deine sonstige Gesellschaft.“ Eraviers Ton war lauernd. Irgendetwas bezweckte er mit seinen Worten, aber Anya wusste nicht, was.

„Ich habe mich damit arrangiert“, antwortete sie und sah wieder zu ihm auf, ihr ständiges Lächeln eingefroren auf ihrem Gesicht. Hoffentlich hatte sie das gesagt, was er hören wollte.

„Oder du hast die Gelegenheit genutzt, dich mit deinen neusten Freunden auszutauschen.“ Von einem Moment auf den anderen war Eraviers Tonfall nicht länger freundlich, sondern eisig. Er erhob sich, und seine Hand, die auf ihrer Hüfte gelegen hatte, packte Anya und zerrte sie näher an sich heran.

Das hatte er also gewollt. Anyas Herz schlug auf einmal bis zum Hals. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte sie, aber Eravier grinste nur.

„Ach wirklich? Eine Sekunde lasse ich dich wieder aus deinem Käfig, und schon plauderst du mit Karvashs Huren! Ganz zu schweigen davon, dass ich die Wachen um deinen Wagen verdoppeln durfte, um ungebetenen Besuch fern zu halten.“

„Das ist lächerlich!“, erwiderte Anya wütend und gab ihm einen Stoß, der sie aus seinem Griff befreite. Nur, dass es nicht so lächerlich war, wie sie vorgab. Die Rebellion hatte also ein Auge auf sie gehabt, aber sich ihr nicht gezeigt. Wie typisch von ihnen; sie hatten damit mehr Schaden angerichtet, als sie ihr je genützt hatten. Wenn sie klug war, machte sie, dass sie aus Eraviers Reichweite kam.

 

Demonstrativ richtete sie ihr Haar und heuchelte Entrüstung. „Ich habe auf deinen Befehl hin mehrere Wochen allein mit diesem Jungen verbracht und ihm so viel beigebracht, wie ich konnte! Ich weiß nicht, was die Rebellen von ihm oder mir wollen, aber ich habe keine Menschenseele zu Gesicht bekommen! Ich werde mir von dir keine Verschwörung andichten lassen!“

Mit diesen Worten wandte sie sich um und wollte aus der Tür stolzieren, aber sie hatte die Rechnung ohne Eravier gemacht. Mit einem Satz war er hinter ihr, packte ihren Arm, drehte in ihr auf den Rücken und zerrte sie zurück.

„Du bleibst hier und wirst mir zuhören, meine Teure!“, zischte er in ihr Ohr. Sein Griff war so grob, dass Anya gequält keuchte. Hatte sie geglaubt, dass er sie einfach so gehen lassen würde? Dazu war er viel zu wütend.

„Was willst du?“, würgte sie hervor.

„Ich will dir einen wohlmeinenden Rat geben. Komm mir nicht in die Quere. Denk an Faure... er wusste nicht, wann er den Mund halten und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. Oder willst du wie er ein Auge verlieren?“ 

Im nächsten Moment sah Anya aus dem Augenwinkel etwas silbernes aufblitzen, und sie reagierte, ohne nachzudenken. Ihr Körper zuckte heftig zurück, weg von dem Messer, das Eravier gezogen hatte. Mit aller Macht riss sie sich selbst herum. Ihre Schulter knirschte grotesk und wollte fast nachgeben, aber sie hatte keine Zeit, Schmerz zu fühlen. Ihre freie Hand schnellte vor, packte sein Handgelenk. Schmerz flammte in ihrer Wange auf, und etwas warmes, flüssiges, lief daran hinab.

 

Eine hysterische Stimme in ihrem Verstand kreischte sie an, ihn sofort loszulassen, um Gnade zu betteln. Dein Gesicht!, jaulte sie, Dein Gesicht! Anya würgte sie ab und erwartete mehr Schmerz als nur eine halb ausgekugelte Schulter, aber er ließ auf sich warten. Eravier konnte sein Handgelenk nicht mehr bewegen, sie hatte ihn so fest gepackt, dass er nicht gegen sie ankam, und er war außer sich vor Wut darüber. Anya sah es in seinen Augen. Noch nie war der Impuls so groß gewesen, ihn auszulachen. Aber sie lachte nicht.

Ihre Stimme erschien ihr kratzig, und seltsam weit entfernt, als sie völlig gelassen sagte: „Ich will dir auch einen wohlmeinenden Rat geben, mein Bester: Hör auf, mir zu drohen.“

„Oder was?“, spie Eravier.

Vielleicht war er im Begriff, wahnsinnig zu werden. Der Gedanke war Anya in diesem Moment schrecklich plausibel. Die Fehde mit der Rebellion, die Verräter, seine eigene Paranoia, dieses ganze Wagnis, in das er sich mutwillig hinein begeben hatte, zerrten an seinem Verstand. Noch hatte er die Schwelle nicht überschritten; er war sich voll bewusst, dass Anya eine ernstzunehmende Gegnerin war, und er sich vorsehen musste. Aber wie lange noch? Wann würde er die Realität hinter sich zurücklassen?

„Oder du wirst es bereuen“, erwiderte sie. „Hüte deine Zunge, oder du bist sie schneller los, als dir lieb ist. Du bist nicht unverwundbar; niemand ist das. Das hättest du lernen sollen, als der kleine Jan dir fast die Kehle durchgeschnitten hat. Wenn du weißt, was gut für dich ist, wirst du aufhören, mich zu behelligen, bis wir die Hauptstadt erreichen.“

Damit riss sie sich von ihm los, befreite ihren Arm aus seinem Griff, und versetzte ihm einen Stoß. Heftig genug, um sich aus seiner Reichweite zu bringen, aber nicht genug, um ihn von den Füßen zu werfen. Hätte sie ihn zu Fall gebracht, er hätte sie wieder angegriffen. Sie wusste nicht, warum sie sich dessen so sicher war, aber sie war es. Er hätte ihr diese Demütigung heim gezahlt. 

Eravier fing sich, erstaunlich leichtfüßig, und er ließ das Messer leicht sinken. Von einem Moment auf den anderen machte seine haltlose Rage kühler Kalkulation Platz, und noch nie war Anya dafür so dankbar gewesen. Er war immer noch wütend, aber jetzt überlegte er tatsächlich, ob es ihm etwas bringen würde, ihr die Kehle durchzuschneiden, statt es nur tun zu wollen.

Wie absurd das war; Anya fühlte, wie sich ein breites, grimmiges Lächeln auf ihr Gesicht legte. Ihr Herz raste immer noch, und ihre Schulter pochte. Aber seltsamerweise hatte sie keine Angst mehr. Sollte er kommen. Sollte er versuchen, ihr weh zu tun. Sie rechnete nicht mit Hilfe, weder von den Wachen, noch von der Rebellion. Aber sie hatte sich selbst. Wer wusste schon, wie viel von seiner Haut sie ihm abziehen konnte, bevor er die Oberhand gewann? Falls er sie gewann.

Eravier sah sie lächeln, und zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatte, sah sie echte Zweifel in seinen Zügen. Er verstand nicht, warum sie keine Angst hatte.

„Und wenn nicht, was dann?!“, spie er. „Deine Rebellenfreunde sind weit weg! Wer wird dich beschützen, wenn meine Geduld mit dir am Ende ist? Wer wird verhindern, dass ich dich heraus zerren und vor allen Augen hinrichten lasse? Valion? Gael? Eine seiner Huren?“ Er lachte. „Sieh es ein, du bist völlig allein.“

„Glaub das ruhig“, erwiderte Anya kalt. „Glaub ruhig, dass du alles weißt. Das macht es so viel einfacher.“

Und endlich sah sie einen echten Riss in der Fassade seiner Überheblichkeit. Er wusste nicht mehr, ob sie ihn in die Irre führte, oder die Wahrheit sagte. Wilder Triumph erfüllte sie, und diesmal hätte sie wirklich gern gelacht.

Du feiger Dreckskerl. Daran wirst du eine Weile zu kauen haben, nicht wahr?

„Sieh es ein, Ansin: Du hast nicht alles in der Hand“, sagte sie und wischte sich mit einer wütenden Geste das Blut von der Wange. Dann wandte sie sich zum Gehen. Sie wusste, dass sie ihm den Rücken zudrehte, aber sie glaubte nicht, dass er sie jetzt noch töten würde. Nicht, bevor er herausgefunden hatte, was sie vorgab, zu wissen.

 

Aber er wäre nicht Eravier gewesen, wenn er nicht zu einem letzten Schlag ausgeholt hätte. 

„Nein, nicht alles. Aber das, was dir am liebsten ist.“

Anya erstarrte in der Bewegung. 

Nein. Nein, das durfte nicht sein.

Aber er hätte nicht damit geprahlt, nicht auf diese Art, wenn es nicht die Wahrheit gewesen wäre. Das war der Grund, warum Jadzia nicht zurück gekehrt war. Er hatte Ihr Jadzia weggenommen. 

„Wo ist sie?“, fragte sie, aber Eravier lachte nur.

„Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, meine Hübsche. Du wolltest doch nicht mehr behelligt werden! Ich erfülle dir deinen Wunsch, ganz, wie du es wolltest. Also mach dir die Haare, halt dein Maul und warte ab. Du wirst sie früh genug wiedersehen. Ich frage mich nur, ob du sie dann noch haben willst.“

Anya hätte sich am liebsten auf ihn gestürzt. Aber das hätte ihm nur die Genugtuung gegeben, dass er sie verwundet hatte. Sie straffte sich, und ohne ihn noch eines einzigen Blickes zu würdigen, verließ sie sein Quartier.

 

Anya rauschte nach draußen und war so außer sich, dass sie in den nächsten hinein rannte, der gerade auf dem Weg zu Eravier war. Fast hätte sie den Mann angeschnauzt, doch dann erkannte sie, dass es sich um Tarn handelte.

„Oh, du. Verzeih“, sagte sie benebelt.

Tarn bemerkte ihren Zustand sofort und hielt sie fest. „Du blutest! Was ist passiert? Alles in Ordnung?“, fragte er, so ehrlich besorgt und erschüttert, dass Anya in Tränen ausbrechen wollte. Was war da eben passiert? War sie gerade dem Tod von der Schippe gesprungen?

„Ich- Es-“, stammelte sie, und atmete schluchzend ein. Sie wollte alles erklären, aber plötzlich wurde ihr übel. Die Welt drehte sich um sie. Jadzia. Wo war sie jetzt? Sie brauchte sie so dringend in diesem Moment, und gleichzeitig gingen ihr tausend schreckliche Dinge durch den Kopf, die Eravier ihr vielleicht angetan hatte. Sie bekam keine Luft mehr. In Panik griff Anya nach Tarns Hand, krächzte: „Mir ist schwindlig ...“

 

Tarn benötigte keine weitere Erklärung, er legte einen Arm um Anya und stützte sie. „Komm. Gehen wir dorthin“, sagte er und führte sie ein Stück weiter, weg von Eraviers Wagen und hin zu einem anderen. Der Eingang war mit einer einfachen Holzstufe versehen, und Tarn half Anya, sich darauf niederzulassen. „Ganz ruhig. Atme tief durch. Ich bin da.“ Er fühlte Anyas Puls, dann ihre Stirn, strich beruhigend über ihren Rücken. Jeden anderen hätte Anya von sich gestoßen, aber Tarn schaffte es, dass sie sich tatsächlich ruhiger fühlte, gut aufgehoben. Ganz langsam legten sich der Schwindel und die Panik, das Atmen fiel ihr leichter. Sie schniefte immer wieder, aber die Tränen blieben aus, und irgendwann hatte sie das Gefühl, die Kontrolle wiedererlangt zu haben.

„Tut mir leid“, sagte sie leise und wischte sich die Augen. „Ich habe dich ja völlig überfallen.“

„Mach dir darüber keine Gedanken. Lass mich deine Verletzung behandeln“, antwortete Tarn besänftigend. Er stellte die Tasche ab, die er schon die ganze Zeit bei sich trug, und entnahm ihr sauberen Stoff und eine Flasche.

„Musst du nicht zu Eravier? Er wird wütend sein, wenn du nicht auftauchst“, fragte Anya, aber Tarn schüttelte nur den Kopf.

„Das hat Zeit, bis ich dich versorgt habe. Und so, wie du aussiehst, wird er sowieso eine Weile nicht ansprechbar sein. In dieser Stimmung hält man sich besser von ihm fern.“ Er tränkte den Stoff mit dem Inhalt der Flasche, und begann dann, sanft und sehr sorgfältig, Anyas Wange abzutupfen.

Anya lachte unkontrolliert auf, aber sie ließ ihn gewähren. „Stimmung! Ja, so kann man es auch nennen. Er hatte ein Messer. Ich dachte, er ermordet mich.“

Tarns Reaktion darauf sagte Anya mehr als tausend Worte: Er seufzte resigniert.

„Das tut mir so leid. Ich rede mit ihm. Er muss aufhören, allen das Leben zur Hölle zu machen.“

„Denkst du wirklich, dass er auf dich hören wird?“

„Ich-“ Tarns Stimme brach, er hielt inne, ließ das Tuch sinken, rang sichtlich um Fassung. „Ich weiß es nicht. Aber was soll ich sonst tun?“, brachte er schließlich hervor. Er war sichtlich am Ende seiner Kräfte, und in diesem Moment tat er Anya schrecklich leid. Sie wusste, wie es sich anfühlte, in seiner Situation zu sein, hin und her gerissen zwischen dem, was richtig war, und dem Mann, den man eigentlich liebte. Er versuchte immer noch, etwas Gutes in Eravier am Leben zu erhalten, ihn nicht völlig abstürzen zu lassen. Wann würde er bereit sein, zu akzeptieren, dass das hoffnungslos war?

„Tut mir leid, ich wollte dich nicht angreifen“, sagte sie sanft. „Ich weiß, du fühlst dich für ihn verantwortlich. Aber Worte reichen hier nicht mehr.“

„Wahrscheinlich hast du recht“, stimmte er zu. Aber Anya sah ihm an, dass er diese Wahrheit nicht annehmen konnte, zumindest noch nicht. Seine Hände zitterten leicht, als er das Tuch erneut tränkte und seine Arbeit ohne weitere Worte fortsetzte. Vermutlich quälte er sich schon lange damit, und Anya stand ihm einfach nicht nahe genug, um ihn wirklich zu erreichen. Selbst wenn, sie hätte das nicht auf sich nehmen können. Sie hatte schon einen Schützling, der seine eigenen Sorgen und schlechten Erinnerungen mit sich herum trug.

 

Siedendheiß fiel ihr plötzlich ein, dass sie Valion ganz vergessen hatte. 

„Eine ganz andere Frage: Ist dir Valion über den Weg gelaufen? Er müsste dir beim Hinausgehen eigentlich begegnet sein“, fragte sie schnell, und Tarn lächelte vage. 

„Durchaus. Er sah mich kommen und ging in Deckung.“

Anya konnte nicht anders, sie lachte prustend auf. „Wirklich?! Meine Güte, er ist so ein Kind! Ich rede mit ihm, so kann das nicht weiter gehen. Er kann nicht jedes Mal weglaufen, wenn ihm jemand begegnet, den er nicht leiden kann.“

Aber Tarn zuckte nur mit den Schultern. „Sieh es ihm nach; er hat es nicht leicht. Und es ist seine Entscheidung. So, fertig.“ Er verschloss die Flasche, steckte sie zurück in seinen Beutel und das blutige Tuch in seine Hosentasche. „Ich würde lügen, wenn ich sage, dass du so gut wie neu bist, aber du wirst vermutlich keine Narbe zurück behalten.“

„Wie schmeichelhaft“, spottete Anya, und vermied es, das verschmutzte Tuch anzusehen. Ihr Blut. Nicht, dass ihr der Anblick unbekannt war, aber ihr Magen schlingerte trotzdem. „Wenn wir schon dabei sind, du siehst auch nicht besser aus. Wann hast du das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen? Oder eine ordentliche Mahlzeit gegessen?“

Tarn schmunzelte tatsächlich. „Warum nur habe ich das Gefühl, gerade Jefrem zuzuhören?“

„Ein schmeichelhafter Vergleich, mein Lieber, aber das liegt auf der Hand: Wir lassen uns beide nicht hinters Licht führen“, konterte Anya.

„Wenn dir wirklich nach Plaudern ist, dann sag mir lieber, wie es Valion geht. Da ich ihn nicht gesehen habe, weiß ich nicht, wie es um seine Schulter bestellt ist.“

„Seine Schulter? Nun, ich kann dir zumindest eine Beschreibung liefern-“

 

~

 

Valion beobachtete Tarn und Anya aus der Deckung eines weiteren Wagens heraus. 

 

Beim Hinausgehen hatte er eigentlich damit gerechnet, dass ihn Wachen vor Eraviers Quartier abfangen würden. Aber anscheinend hatte man nicht so schnell mit ihm gerechnet. Unschlüssig hatte er eine Weile herum gestanden, bis er plötzlich Tarn aus der Ferne heran kommen sah. Und dann, einem völlig unsinnigen Reflex folgend, war er in die entgegengesetzte Richtung gegangen und hinter einem der Wagen verschwunden. 

 

Es kam ihm schon in der Sekunde albern vor, in der er sich vorsichtig nach vorn beugte und um die Ecke spähte, um Tarns weiteren Weg zu beobachten. Tarn hatte ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gesehen, so unaufmerksam war er nicht. Er würde also wissen, dass Valion ihn absichtlich gemieden hatte. Und wenn Eravier Anya gehen ließ, würde sie feststellen, dass Valion nicht mehr vor dem Wagen stand. Schlimmer noch, wenn die Wachen kamen und ihn nicht vorfanden, würde er Ärger bekommen. Was zum Teufel hatte ihn geritten, etwas derartig Kindisches zu tun? Stumm betete er, dass Tarn seinen Weg fortsetzen und Eraviers Quartier betreten würde. Dann konnte Valion dorthin zurück kehren, ohne sich mit ihm unterhalten zu müssen. 

 

Zuerst sah es auch so aus, als würde sein Wunsch erfüllt werden. Tarn ging geradewegs zum Eingang des Wagens, sah sich nicht um und hielt auch nicht inne. Dann, zu seiner und Valions Überraschung, wäre er fast von Anya umgerannt worden, die Hals über Kopf nach draußen stürzte.

Valion wurde kalt, sobald er Anya sah. Da stimmte etwas nicht, sie war völlig außer sich. Dann entdeckte er das Blut auf ihrem Gesicht. Er war drauf und dran, zu ihr zu laufen. Aber dann griff sie nach Tarns Hand, und er nahm sie in den Arm, führte sie ein Stück weiter und half ihr, sich zu setzen. Er blieb bei ihr, strich ihr über den Rücken, redete auf sie ein. Widerwillig blieb Valion stehen, beobachtete sie, und entschloss sich schließlich, nicht dazu zu stoßen. Er wollte Anya jetzt nicht bedrängen, und Tarn schien sich gut um sie zu kümmern. Sie beruhigte sich langsam, und ihr Gesicht hatte wieder etwas an Farbe gewonnen.

Wie erwartet versorgte Tarn auch Anyas Wunde. Sie unterhielten sich dabei, und jede Minute schien Anya sich mehr zu entspannen. Warum auch nicht? Valion wusste selbst, wie viel Ruhe ihm Tarns Gegenwart immer gegeben hatte. Schließlich lächelte Anya wieder, lachte wegen etwas, das Tarn zu ihr gesagt hatte. Anscheinend zog sie ihn sogar ein wenig auf. Tarn ließ es zu, schmunzelte. Ein ungewohnter Anblick. Sein Lächeln stand ihm gut zu Gesicht, ließ ihn jünger und weniger müde wirken. Er schien sich in Anyas Nähe sichtlich wohl zu fühlen. Wenn Valion Anya richtig einschätzte, beruhte das auf Gegenseitigkeit.

 

Sie passen gut zusammen, dachte Valion plötzlich, und diese Erkenntnis versetzte ihm einen unerwarteten Stich. Mehr noch, sie waren so vertraut miteinander, dass er sich fragte, ob er etwas Entscheidendes übersehen hatte. Aber selbst wenn nicht, wer sagte, dass sie nicht Interesse aneinander entwickeln würden? Der Gedanke war schrecklich plausibel. Warum sollte ausgerechnet Tarn unbeeindruckt von Anyas Schönheit sein? Und warum sollte Anya sich nicht von Tarn angezogen fühlen, wenn er so fürsorglich zu ihr war? 

 

Woher kam dieses dumpfe Unbehagen? Valion konnte es sich nicht erklären, aber er hatte sich lange nicht mehr so unbeholfen gefühlt. Warum hatte er so wenig mit ihnen gemein? 

Valion dachte an seine Freunde zu Hause, vor allem an Teron, der bei seinem Vater Schmieden lernte und schon immer älter als er ausgesehen hatte, größer und kräftiger. Aber selbst er hätte neben Tarn jung gewirkt, irgendwie kindlich. Alles an Tarn, die Gestik, die sichere Haltung, unterschied ihn von den Jungen in Valions Alter. Und Anya behandelte ihn nicht wie ein Kind. Sie war zu Valion nicht wirklich schroff, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie ihn nicht so betrachtete, wie sie Tarn betrachtete. Sie öffnete sich ihm, vertraute ihm.

 

Warum fühlte er sich jetzt so unterlegen? Er war hin und her gerissen. Einerseits wollte er sich zu ihnen gesellen, ein Teil ihres Gesprächs sein. Andererseits wollte er sie auseinanderbringen, ihre Aufmerksamkeit füreinander durchbrechen. Warum hatte er sich so kindisch versteckt? Jetzt stand er abseits, und kam sich wie ein riesengroßer Trottel vor. Und das Schlimmste war: Er war zu stolz, jetzt noch zu ihnen zu stoßen. Oder vielleicht war es nur Trotz, so wie Anya es ihm immer unterstellte.

 

Dann, ganz unvermittelt, hatten die beiden ihr Gespräch beendet, umarmten einander kurz. Valion hatte noch nie gesehen, dass Tarn irgendjemand umarmt hatte. Das bestätigte seinen Verdacht nur. Im nächsten Moment ging er hastig in Deckung, denn Tarn hatte nicht den Weg zu Eraviers Wagen eingeschlagen. Stattdessen steuerte er genau auf Valion zu. Würde er ihn jetzt zur Rede stellen?

 

Seine Schritte näherten sich immer weiter, doch dann hielten sie inne. Warteten, so lange, dass Valion fast versucht war, aus seinem Versteck zu kommen.

„Ich weiß, dass du nicht mit mir reden willst, Valion“, sagte Tarn schließlich. Er klang nicht wütend oder anklagend. Nur erschöpft, und ein wenig traurig. „Es tut mir leid, was passiert ist. Ich weiß, das es dir schwer fallen muss, mir jetzt noch zu vertrauen. Ich erwarte auch nicht, dass du mir verzeihst. Aber wenn du Hilfe brauchst, oder einfach nur reden willst, werde ich da sein. Egal, wie du entscheidest, ich werde es dir nicht nachtragen.“

Er hielt kurz inne, fügte dann hinzu: „Und vielleicht kannst du mich wissen lassen, wie es deiner Schulter geht. Ich würde ungern sehen, dass du Probleme bekommst. Im Notfall kann ich auch Anya beibringen, wie sie dich versorgen kann, falls dir das lieber ist. Denk einfach mal darüber nach.“

Er wartete ab, ob Valion sich dazu durchringen würde, mit ihm zu sprechen. Erst als nichts geschah machte er kehrt, und seine Schritte entfernten sich.

 

Valion sah ihm nicht nach, weil er wusste, dass Tarn sich nicht nach ihm umsehen würde. Er hatte doch selbst gesagt, dass er seinen Wunsch respektierte, nicht mit Tarn zu sprechen. Das hätte Valion beruhigen müssen, aber stattdessen fühlte er sich nur schlecht. Schäbig, dickköpfig, kindisch. Wozu hielt er seinen Groll aufrecht, wenn er nicht einmal wusste, worauf er wirklich wütend war? Einen Schachzug, der ihm und Jan letztendlich das Leben gerettet hatte? Ihnen letztendlich sogar Freiheit versprechen würde?

Wenn er Jan vergeben konnte, dass er ihn getäuscht hatte, in so vielen Dingen, warum nicht Tarn? Wogen seine Lügen mehr als Jans? Die Antwort aus seinem Inneren war: Ja. Das verwirrte ihn mehr als alles andere. Vielleicht war der Grund, dass er Tarn von Anfang an mehr als jedem anderen vertraut hatte. Er war sein einziger Anhaltspunkt gewesen, ein Funken Verbundenheit und Halt, als er ihn am nötigsten brauchte. Ein Versprechen auf Sicherheit.

Ich weiß, du magst ihn. Versprich mir, dass du dich von ihm fernhältst.

Er hatte es nicht versprochen, und er gestand sich ein, warum: Weil er im tiefsten Inneren nicht glauben konnte, dass die Rebellion recht hatte und Tarn gefährlich für sie war. Er konnte dieses Gefühl nicht begründen, aber nichtsdestotrotz war es da.

Es gab wohl nur ein Mittel gegen seine widerstreitenden Gefühle: Er musste Klarheit schaffen, herausfinden, was wirklich passiert war. Das konnte er nur, wenn er beiden Seiten zuhörte, und zwar nicht nur durch Hörensagen und Andeutungen. Er würde mit Tarn sprechen, und mit den Rebellen, sobald er Kontakt zu ihnen fand.

 

Seine Grübeleien wurden unterbrochen, als Anya neben ihm auftauchte. Zwei Wachen in ihrem Rücken blickten grimmig auf sie und Valion herunter, aber Anya flötete nur: „Ich sagte doch, dass er sich nur ein wenig ausruht. Warum seid ihr nur immer so misstrauisch?“

„Es ist euch nicht erlaubt, euch zu entfernen“, knurrte einer der beiden, „Los, kommt. Wir bringen euch zurück.“

 

Ihr Rückweg verlief lange schweigend. Valion betrachtete Anya von der Seite, denn der Schnitt auf ihrer Wange lenkte seine Aufmerksamkeit immer wieder auf sich. Er war nicht breit, aber er sah tief aus und musste ihr Schmerzen bereiten. Dennoch war sie seltsam heiter, fast gelassen.

„Geht es dir besser?“, flüsterte er ihr schließlich zu, und sie lächelte schmal.

„Ja, ist schon in Ordnung.“

„Was ist passiert?“

„Nichts besonderes.“ Sie sah Valions ungläubigen Blick und zuckte mit den Achseln. „Er wollte mir Angst einjagen, aber das hat er nicht geschafft. Sorg‘ dich nicht darum. Was dich angeht, ist alles in Ordnung, Eravier ist immer noch vernarrt in dich.“

„Das ist nicht komisch“, murrte Valion, aber Anyas Lächeln erstarb.

„Ich wünschte, ich würde scherzen“, sagte sie. Dann erhielt sie einen groben Stoß, und hielt wohlweislich den Mund.

 

Erst, als sie wieder zurück in ihrem Quartier angelangt waren, setzten sie ihr Gespräch fort. Kaum angekettet, hatte Valion als erstes sein Gesicht gewaschen. Er rechtfertigte sich innerlich damit, dass das Puder sich fremd anfühlte, trocken und irgendwie maskenhaft. Aber da gab es auch noch die Tatsache, dass Eravier ihn am Kinn gegriffen hatte, und er fühlte sich dreckig. 

Anya wiederum hatte angekündigt, etwas lesen zu wollen, und sich mit einem Buch niedergelassen. Doch plötzlich stand sie wieder neben ihm und schüttelte den Kopf.

„So schnell ist der Zauber vorbei. Für etwa eine Stunde warst du wirklich sehr adrett, aber anscheinend sträubt sich dein ganzes Wesen dagegen“, sagte sie und strich durch sein zerzaustes Haar. Das schien ihre neue Lieblingsbeschäftigung zu sein.

„Hm“, brummte Valion, aber er hörte nur halb hin. 

„Worüber zerbrichst du dir denn jetzt schon wieder den Kopf?“

Wie sollte er das nur erklären? Valion starrte in die Waschschüssel und fragte sich, wie er an Tarn heran kommen würde, und wie lange es bis zum Angriff der Rebellion dauern würde. Würde er Anya bis dahin beschützen müssen vor Eravier? Und wie zum Teufel würde er das anstellen? Was würde überhaupt mit ihr passieren, wenn die Rebellen angriffen? Oder mit Jadzia? Aber Anya hatte angeblich eine Abmachung mit der Rebellion. Würde ihr das nützen? Und er musste immer noch herausfinden, warum die Rebellen nicht gut auf Tarn zu sprechen waren. Anya hatte gesagt, sie wüsste nicht, wie sie die Rebellion rufen sollte, wie würde er diese also dann kontaktieren? Andererseits hatte Jan versprochen, dass die Rebellen sich bei ihm melden würden, wenn sie das nächste Mal rasteten. Wann würde das sein?

Er hatte wieder einmal so viele ungelöste Fragen und Probleme, dass ihm fast der Kopf davon platzte. Und er hatte keine Ahnung, wie er diesen Wust von Gedanken erklären sollte.

„Dinge“, sagte er, gleichzeitig hilflos und genervt. Dummerweise bewirkte er damit das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte: Er machte Anya neugieriger.

„Sorgst du dich wegen Eravier?“

„Auch“, antwortete er seufzend und wandte sich Anya zu, studierte den Schnitt in ihrem Gesicht. „Hat er das schon mal getan?“

„Nein, das war das erste Mal. Aber mach dir darüber keine Gedanken. Wir sind uns einig gewesen, dass wir uns in Zukunft aus dem Weg gehen sollten.“ Sie lächelte, aber diesmal lächelten ihre Augen nicht mit. Valion glaubte nicht, dass sie Angst hatte; sie schien viel mehr wütend. Und genau deshalb hatte er selbst Angst, um sie.

„Wäre ich noch da gewesen-“, sagte er, doch Anya schnitt ihm das Wort ab.

„-hättest du überhaupt nichts ausrichten können. Er hätte dich vielleicht noch übler zugerichtet. Glaub mir, es geht mir gut. Tarn hat mich versorgt, und in ein paar Tagen wird alles verheilt sein.“

„Aber-“

„Nichts aber“, sagte sie schroff, „Vergiss es! 

Aber wenn wir gerade von Tarn sprechen, du hättest ruhig mit ihm reden können. Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber es kann nicht so schlimm sein, dass du dich vor ihm verstecken musst! Er ist besorgt um dich.“

Hatte sie das Gespräch ausgerechnet auf Tarn bringen müssen? Valion hatte immer noch nicht verkraftet, wie unerwartet nahe sie ihm stand. „Du musst es ja wissen“, murrte er und wandte sich ab. Er trabte zu seinem Lager und ließ sich darauf sinken, streckte sich aus. 

Das war allerdings sein zweiter Fehler gewesen: Er hätte nicht eine derartig vage Antwort geben sollen. 

Natürlich folgte Anya ihm, stemmte die Hände in die Hüften und fragte: „Moment mal! Was soll das bitte bedeuten?“

Valion seufzte abgrundtief. „Ihr habt euch anscheinend gut verstanden.“

„Ja, natürlich“, erwiderte Anya. „Er ist ein guter Gesprächspartner, und wir haben tatsächlich einige Gemeinsamkeiten. Wir brauchten beide ein wenig Aufmunterung.“

„Wen willst du denn noch alles aufmuntern? Wird dir das nicht langsam zu viel?“, ätzte Valion zurück, und endlich verstand Anya. 

„Du denkst doch nicht etwa-!“ Sie sah ihn an, als könnte sie gar nicht glauben, was sie da hörte. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Diesmal lachte sie ihn wirklich aus, und das kratzte gehörig an seinem Stolz.

„Das ist nicht komisch!“, sagte er, aber Anya schüttelte nur den Kopf.

„Oh doch, Herzchen, das ist es! Und wie! Es gibt zwar mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können, aber ich und Tarn? Das gehört ganz gewiss nicht dazu!“

„Wieso?“

Sie schüttelte immer noch den Kopf, und schenkte ihm wieder diesen Blick. Sie wusste etwas, und sie konnte nicht glauben, dass er selbst nicht darauf gekommen war. Das machte ihn rasend.

„Was?!“, knurrte er, und endlich gab sie ihm eine brauchbare Antwort.

„Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ausgerechnet du derartig begriffsstutzig bist. Um Himmels Willen, seit ich dich kenne, habe ich dich nur mit jungen Männern zusammen gesehen! Ist dir nie der Gedanke gekommen, dass Tarn vielleicht gar kein Interesse an Frauen hat?“

 

Valion wollte reflexhaft etwas erwidern, aber stattdessen setzte jeder Gedanke aus, verdrängt von der fundamentalen Erkenntnis, die er gerade gewonnen hatte. Sie traf ihn mit der Wucht eines Hammers.

Wie naiv war er eigentlich? Wie hatte er das übersehen können? Warum hatte er, von allen Menschen, ausgerechnet bei Tarn als letztes daran gedacht?

Sein Herz schlug plötzlich schneller, so schnell, dass er glaubte, es müsste reißen, und seine Kehle fühlte sich eng an. Er konnte fühlen, wie das Blut in seine Wangen stieg und er tiefrot wurde, ein Vorgang, der Anya halb zu amüsieren und halb zu besorgen schien.

„Brauchst du Wasser?“, fragte sie fürsorglich, aber ihre Mundwinkel zuckten. Sie lachte innerlich.

„Es geht schon“, antwortete er unwirsch. Aber das war eine dreiste Lüge. Er dachte an die vielen Momente, in denen er Tarn völlig unverhohlen gemustert hatte. In denen Tarn ihn berührt hatte, um seine Verletzungen zu versorgen, um ihm Trost zu spenden. Ihre Gespräche, die so persönlich waren. Alles in der Vorstellung, dass er Tarn damit nicht zu nahe gekommen war.

Plötzlich stellte er sich selbst infrage, er schämte sich, und obendrein war er noch verwirrt.

 

Im nächsten Moment zuckte er zusammen, weil etwas kaltes sein Gesicht berührte. Er blickte auf zu Anya, die ihm ein mit kaltem Wasser getränktes Tuch, charmant wie üblich, auf die Stirn geklatscht hatte.

„Da. Und jetzt reg dich nicht auf“, sagte sie, immer noch schmunzelnd. „Tarn hat sich um dich gekümmert, weil er es für das Richtige hielt, nicht, weil er sich dir aufdrängen wollte. Das solltest du nicht vergessen.“

Du verstehst das nicht, wollte er sagen, aber die Wahrheit war, dass er es selbst nicht verstand. Warum war es ihm so wichtig? War es überhaupt wichtig? Er wusste es nicht. Er ließ sich wieder zurück sinken, und eine Weile lang starrte er nur an die Decke, grübelnd.

 

Anya ließ ihn in Frieden, las in Ruhe in einem Buch, bis Valion sie wieder ansprach.

„Anya? Kannst du dir meine Schulter ansehen?“

„Deine Brandmarkung?“, fragte sie und klappte das Buch zu, einen Finger zwischen den Seiten.

„Ja. Tarn möchte- ich meine, er hat danach gefragt, wie sie aussieht. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe ... er wird wohl Bescheid wissen wollen.“

„Natürlich. Ihr könnt euer Gespräch ja darüber beginnen“, sagte sie sanft, aber das Zucken in ihren Mundwinkeln war zurück. Sie wusste sehr gut, dass sie über noch ganz andere Dinge sprechen würden. Vielleicht über das, was sie gemeinsam hatten.

„Lach nicht“, sagte er, aber sie schüttelte nur den Kopf.

„Tut mir leid, aber das ist zu viel verlangt. Du bist und bleibst ein Kindskopf.“

 

Sie sah ihn an, ein schiefes Lächeln auf den Lippen. In diesem Moment erinnerte sie ihn unheimlich an seine Mutter. Mutig, klug, und ein wenig gefährlich. Aber voller Liebe zu ihm. Sie zog ihn auf, aber sie meinte es nicht böse, und sie verurteilte ihn nicht. Er vertraute ihr, das spürte er. Sie hatte ihm nie das Gefühl gegeben, dass etwas grundsätzlich nicht mit ihm in Ordnung war. Oder dass er die Dinge, die ihn noch zurück hielten, unveränderlich waren. Mit einem Mal war er froh darüber, dass Anya ihn manchmal herausforderte. Sie wusste, dass er damit fertig wurde. Und er musste sie nicht belügen, um vor ihr gut dazustehen. Das war überhaupt nicht nötig. Die Vorstellung war seltsam befreiend. Irgendwann würde er ihr alles erzählen, im richtigen Moment. Er freute sich fast darauf.

„Ja. Vielleicht“, sagte er, und fügte stumm, nur für sich, hinzu: Aber kein Lügner.

Es dauerte fast drei Wochen, bis der Wagenzug das nächste mal rastete, und sie wurden für Valion die schlimmsten seit Beginn der Reise. Das Wetter schlug um, und von einem Tag auf den anderen regnete es sintflutartig, und dass über eine Woche lang. Zuerst hielten die Planen der Wagen stand, aber irgendwann begann das Wasser durchzusickern, bis sich ihr Quartier in eine tropfende, klamme Höhle verwandelt hatte. Es wurde tagsüber nicht mehr richtig hell, die Wolkendecke war zu dicht, und dazu blieb es kühl. Die Diener wateten kontinuierlich durch Schlamm, und sie waren immer nass, niedergeschlagen und völlig verdreckt, wenn sie vorbei kamen. Mehrere erkälteten sich und steckten die anderen an, bis es keinen mehr gab, der nicht hustete oder schniefte. Valion und Anya blieben, wie durch ein Wunder, davon verschont.

Als wäre das nicht genug gewesen, bekamen sie immer weniger zu essen. Anscheinend hatte sich das, was Besnard angekündigt hatte, bewahrheitet: Ihre Vorräte gingen zur Neige. 

 

Anya schimpfte und drohte zuerst, hörte aber bald damit auf. Niemand konnte die Situation ändern, in der sie sich befanden, und sie wurde sehr nachgiebig, was die Bediensteten anging. Immer mehr von ihnen wurden so krank, dass sie eine Weile nicht mehr arbeiten konnten. Anyas Bitte, von ihrer Kette befreit zu werden, um sich selbst versorgen zu können, wurde jedoch rundheraus abgelehnt, mit besten Grüßen von Eravier. Danach war sie einen halben Tag lang so wütend, dass selbst Valion ihr aus dem Weg ging.

 

Von diesen Zwischenfällen abgesehen verlief ihre Weiterreise so eintönig wie eh und je. Von den Rebellen hörten weder Valion noch Anya in dieser Zeit etwas. Valion lernte weiterhin Regeln der Etikette. Zusätzlich begann Anya, ihm Lesen beizubringen.

„Wir sollten die Bücher nutzen, so lange sie noch nicht fortgeschwommen sind“, hatte sie die Situation säuerlich kommentiert, als die zweite Woche nur noch mehr Regen brachte, jetzt in Form von beharrlichem Landregen.

 

Sie übte mit ihm gerade das Alphabet, als die endlose Wolkendecke am Ende der zweiten Woche über Nacht aufriss. Valion erwachte am ersten dieser klaren Morgen schlotternd und hörte ein seltsames, leises Knirschen und Klirren vom Dach des Wagens. Erst, als er aufgestanden war und die Planen begutachtet hatte, verstand er, was passiert war: Die mit Wasser durchtränkten Bahnen waren über Nacht steif gefroren und so hart wie Bretter. Über drei Tage hinweg war es nachts so kalt, dass Valion seinen Krug Wasser immer mit Eissplittern garniert erhielt.

 

Immerhin brachte dieses neue Wetter auch einige Vorteile: Ihre Habseligkeiten trockneten endlich, und die Stimmung der Diener hob sich langsam wieder. Das lag allerdings auch daran, dass sie angeblich auf ihr nächstes Ziel zusteuerten: Ein Dorf abseits ihrer geplanten Route. Das sollte sie endlich wieder mit Vorräten versorgen, und wenn nötig, auch mit einigen zusätzlichen Kleidungsstücken, um ihre Zeit bis zur Hauptstadt zu überbrücken. Die Verzögerung in ihrer Reise bedeutete, dass sie nicht mehr lange mit stabilem Wetter rechnen durften. Nach all der Zeit hatte sie der Herbst nun endlich eingeholt. Die ersten gelben und roten Blätter hingen an den Bäumen, und der Wind nahm deutlich zu. Er rüttelte an den Planen der Wagen, und mehr als einmal raubte das Valion den Schlaf.

 

Wenn er wach lag, grübelte er darüber nach, wie er weitermachen sollte. Manchmal erschien es ihm völlig sinnlos, weiterhin von Anya ausgebildet zu werden. Wenn Jan die Wahrheit gesagt hatte, dann würde er frei sein. Da, wo er hinging, würde ihn niemand danach fragen, in welcher Reihenfolge man adlige Gäste begrüßte und was eine Dessertgabel war. 

Aber nicht alles, was Anya ihm beibrachte, war langweilig oder nutzlos. Sie sprachen über Geschichte, über das Land. Valion verstand auf einmal, dass er nichts über seine eigene Heimat wusste, nicht einmal erahnt hatte, wie groß Galia war, wie das Land überhaupt geführt wurde. Und dann waren da die Bücher, die Anya ihm vorlas und aus denen er mit größter Mühe immer mehr Wörter klaubte. Gedichte, die seinen Kopf mit Bildern füllten, wie es früher Märchen und Geschichten getan hatten.

 

Manchmal, wenn er im Dunkel der Nacht ins Leere starrte und dem Wind lauschte, fragte er sich, wie er all das aufgeben sollte. Dann schlichen sich Eraviers Worte ungebeten an ihn heran, und er schauderte, weil er sie endlich verstand.

Sag mir, Valion, willst du wirklich in diesem Dorf leben, wenn es eine Welt der Schönheit und des Reichtums gibt, an der du teilhaben könntest? Du könntest ein viel besseres Leben führen.

Die Wahrheit war, dass er zweifelte. Er wusste, dass er Eravier auf jeden Fall entkommen wollte. Aber das Leben, das Anya gelebt hatte, umgeben von Büchern, von Wissen, von Kunst und schönen Dingen ... Er hätte gelogen, wenn er gesagt hätte, dass er nicht davon angezogen war. Aber wie, wenn nicht durch Eravier, hätte er daran teilhaben können?

Der Gedanke raubte ihm den Schlaf.

 

An einem klaren, milden Nachmittag hielt der Wagenzug schließlich an, und die Diener begannen, das Lager aufzuschlagen. 

 

Valion erinnerte sich nur verschwommen an den ersten Aufbau, zwei Wochen, nachdem er ein Sklave geworden war. Er war im Pestwagen eingeschlossen gewesen und hatte, weit abseits vom Geschehen, wenig gesehen und gehört. Jetzt waren sie jedoch mitten im Getümmel, und die hektische Betriebsamkeit um sie hielt bis in die späten Abendstunden an. 

Anya war sichtlich aufgeregt. „Es wird Zeit, dass wir wieder unter Menschen kommen. Spätestens morgen sollten wir diese Dinger hier los sein“, sagte sie mit einem Nicken zu ihrer verhassten Kette.

 

Wie sehr sie sich damit getäuscht hatte, begriff sie nach und nach. Der nächste Tag kam, und damit der erste Klatsch. In nicht allzu großer Entfernung sollte es einen kleinen Fluss geben, und das Dorf war glücklich über die Gelegenheit, zu handeln. Einige wilde Apfelbäume bescherten ihnen Obst, der Fluss ein paar Fische. Doch Valion und Anya blieben angekettet. Am Tag danach begannen die Verhandlungen mit dem Dorf, und am Abend bekamen sie praktisch ein Festmahl serviert, Suppe, frisches Brot, ein Stück gegrilltes Fleisch, Äpfel. Ihr Lagerplatz war wohl günstig gelegen, berichtete einer der Diener, auf einem flachen Hügel, umgeben von Wiesen und Weiden. Die Wachen konnten sich bequem einrichten, da jede Bedrohung sofort von weither ersichtlich war. Die Stimmung war gut, die Rebellen fast vergessen. Doch Anya und Valion blieben angekettet.

 

Der dritte Tag versprach bestes Wetter. Schon am frühen Vormittag herrschten sommerlich warme Temperaturen, ideal, um einen Spaziergang zu unternehmen. Trotzdem war niemand gekommen, um Anya und Valion zu befreien, nicht einmal für eine Stunde, und Anya riss endgültig der Geduldsfaden. 

 

Als eines der jungen Dienstmädchen vorbei kam, um ihre Kleidung zum Waschen abzuholen, fragte sie rundheraus: „Meutern die anderen Sklaven nicht langsam? Wir rasten seit Tagen, und wir bleiben trotzdem angekettet?“

Das Mädchen schwieg betreten und sah zu Boden, und das war es wohl, was Anya eins und eins zusammen zählen ließ. 

„Warte, lass mich raten. Wir sind die Einzigen, die noch ständig hier sind, nicht wahr?“

Das Mädchen duckte sich, als erwarte sie ein Donnerwetter, aber sie nickte.

„Und lass mich noch einmal raten: Der Befehl stammt von Eravier?“, fragte Anya weiter, ihre Stimme ausdruckslos. Mittlerweile wusste Valion, dass das kein gutes Zeichen war; sie war wirklich, wirklich wütend.

„Er hat sich sehr deutlich ausgedrückt, Herrin.“

„Und ich wette, er hat sich dabei mächtig ins Fäustchen gelacht!“, spie Anya, stapfte wütend zu ihrem Waschtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie schien mit aller Macht ihre Wut zurückzuhalten, und die Magd sammelte schnell die Wäsche ein und warf Valion einen unsicheren Blick zu.

„Tut mir leid“, flüsterte sie. „Jeder weiß es, aber niemand hat uns gesagt, warum.“ Doch bevor sie vor Anyas Zorn flüchten konnte, hielt die sie zurück.

„Halt! Du bleibst hier!“, sagte sie, und erhob sich wieder. „Du wirst Eravier etwas ausrichten“, kommandierte sie, ging zu dem Mädchen, und flüsterte ihr etwas zu. Sie sah Anya perplex an, blickte dann zu Valion, und von einem Moment auf den anderen errötete sie bis unter die Haarspitzen.

„D-d-das kann ich unmöglich-“

„Oh doch, das wirst du. Wenn du es dir nicht zutraust, dann soll es jemand anders tun, aber wenn diese Nachricht nicht bei Eravier ankommt, werde ich sehr ungemütlich werden.“

Man sah dem Mädchen deutlich an, dass sie nicht wusste, was sie mehr fürchten sollte: Anyas Wut, oder die Aussicht, Eravier eine Nachricht von ihr zu überbringen. Trotzdem knickste sie eilig und verließ den Wagen.

 

„Das wird jetzt wohl eine Stunde dauern, in der er sich einredet, dass er nicht auf mich hören will. Und dann werden wir einen Spaziergang zum Fluss unternehmen“, sagte Anya geschäftsmäßig und setzte sich erneut an den Waschtisch. „Komm, hilf mir. Der Anlass verlangt nach einer praktischen Frisur.“

Verwirrt trat Valion zu ihr und half ihr, ihr Haar zu lösen. „Du glaubst wirklich, dass er einfach so nachgeben wird?“

Anya zuckte mit den Achseln. „Das wird er. Verzeih mir diesen Ausdruck, aber du bist das perfekte Druckmittel dafür. Und sieh mich nicht so skeptisch an“, fügte sie hinzu, „Ich muss hier raus. Wenn ich noch einen Tag länger hierbleibe, werde ich schreien und etwas Unvernünftiges tun. 

Jedenfalls möchte ich nicht, dass mein Haar nass wird. Gott weiß, wie lange es dauern wird, bis es getrocknet ist, und wie es danach aussieht, bei diesem wechselhaften Wetter.“

Valion hatte keine Lust, einem Monolog über ihr Haar zuzuhören und unterbrach sie: „Ich verstehe immer noch nicht, was du ihr gesagt hast. Was habe ich damit zu tun, ob Eravier dir erlaubt, Baden zu gehen?“

Anya schnaubte nur. „Liegt das nicht auf der Hand? Ich werde dir natürlich etwas beibringen, Dummerchen. Dafür bist du schließlich mit mir eingesperrt: damit ich deine Ausbildung voranbringe.“ Sie hielt inne, und fügte dann säuerlich hinzu: „Mittlerweile ist das vermutlich der einzige Wert, den er mir noch beimisst.“

„Schön, aber was willst du mir ausgerechnet beim Baden beibringen? Gibt es eine festgelegte Reihenfolge, in der ich die Fische grüßen muss?“

Anyas Mundwinkel zuckte nach oben, doch ihre Antwort fiel trocken und gänzlich ohne Mitgefühl aus. „Ich werde dir beibringen, wie du deine Scham ablegst.“ Sie beobachtete ihn, ob er jetzt endlich darauf gekommen war, was sie von ihm verlangen würde. Je länger sie ihn erwartungsvoll ansah, desto mehr begriff er.

„Auf keinen Fall!“, platzte es aus ihm heraus, aber Anya ließ keinen Widerspruch gelten.

„Oh doch. Wir werden nackt sein.“

 

„Ich kann nicht glauben, dass das funktioniert hat“, murrte Valion, auch wenn es ihm schwerfiel, im strahlenden Sonnenschein an seiner schlechten Laune festzuhalten.

„Nimm es als Lektion, wie man Menschen beeinflusst“, gab Anya gleichmütig zurück. Sie hatte ihr Gesicht dem Licht zugewandt, die Augen geschlossen und genoss die lange vermisste Wärme der Sonne. Es hatte fast zwei Stunden statt nur einer gedauert, aber am Ende hatte Anya ihren Willen bekommen. Eine Wache war ohne Ankündigung in ihr Quartier gestapft, hatte ihre Ketten gelöst und sie nach draußen geschickt. Dort warteten sie seitdem darauf, dass sie abgeholt werden würden, wie die Wache es ihnen mit einem missgelaunten Halbsatz angekündigt hatte.

 

Valion nickte einem Diener zu, den er flüchtig kannte und der an ihm vorbei hastete, und ließ den Trubel des Lagers auf sich wirken. Er hätte froh sein sollen, aber irgendwie hatte er ein flaues Gefühl in der Magengrube. Sie wurden immer wieder aus den Augenwinkeln beobachtet, als wären sie Verbrecher. Jeder wusste, dass Eravier sie länger als nötig gefangen gehalten hatte. Welche wilden Gerüchte über sie machten wohl gerade die Runde? Alle, die Valion einfielen, waren nicht besonders schmeichelhaft, und einige davon nur allzu wahr. Verschwörung mit der Rebellion zum Beispiel. Die meisten der Diener wichen seinen Blicken aus, und die Wachen, die vorbei trabten, musterten sie lange, bevor sie ihren Weg fortsetzten.

 

„Denkst du nicht, dass die Sache einen Haken hat? Dass Eravier uns jetzt doch gehen lässt?“, fragte er an Anya gewandt. Sie seufzte.

„Natürlich gibt es, wie du dich so blumig ausdrückst, einen Haken. So wie ich Eravier kenne, wird er uns die widerlichsten Bewacher geben, die er finden kann. Und sei dir sicher, dass er nach Ablauf unserer Zeit ganz zufällig anwesend sein wird, um uns zu überwachen. Oder besser gesagt, dich.“

Valion verzog das Gesicht. Er hatte eine völlig nackte Musterung durch Eravier hinter sich; er hatte gehofft, sein Lebtag keine zweite mehr durchmachen zu müssen. Bevor er sich darüber beklagen konnte, sah er jedoch zwei Wächter auf sie zu kommen, die nicht einfach nur eine Runde drehten. Der eine entpuppte sich zu seiner Freude als Guy, aber der andere als Levin. 

„Ich schätze, du hattest zumindest halb recht. Wir haben einen widerlichen Bewacher.“

Anya öffnete die Augen, um zu sehen, was er meinte, und verzog das Gesicht. „Ausgerechnet dieser schmierige Wurm“, flüsterte sie, und setzte ein gekünsteltes Lächeln auf.

 

„Wir sind hier, um euch abzuholen“, sagte Levin mit einem dreckigen Grinsen, als sie herangekommen waren.

„Habt ihr alles, was ihr benötigt?“, fragte Guy, in seiner Ruhe ein wohltuender Kontrast. Anya nickte und klopfte auf den Stapel Wäsche neben sich, zwei Abtrockentücher und ein neues Stück Seife.

„Wir sind bereit, wie du siehst. Ich habe sogar mein Haar zurückgesteckt, damit es nicht nass wird. Gefällt es dir?“, fragte sie an Guy gewandt und legte eine Hand auf seine Brust.

Valion hätte es nicht für möglich gehalten, aber Levins dreckiges Grinsen wurde noch breiter. „Warum zeigst du es uns nicht irgendwo, wo wir ungestört sind?“, fragte er. 

Anya rollte nur mit den Augen. „Dich hat niemand gefragt“, zischte sie unfreundlich zurück und brachte sich aus seiner Reichweite.

„Gehen wir jetzt besser. Ihr habt nicht unbegrenzt Zeit“, sagte Guy unbeeindruckt und schenkte Levin einen mürrischen Blick. 

Valion seufzte innerlich. Das konnte ja heiter werden.

 

Die Landschaft um sie war geradezu malerisch. Valion hatte einen Vorgeschmack davon bekommen, als er das Quartier verlassen hatte. Aber erst, als sie das Lager hinter sich ließen und in Richtung des Flusses spazierten, konnte er die Schönheit des Ortes wirklich in sich aufnehmen.

Sie lagerten auf einer grünen Hügelkuppe, die in alle Richtungen sanft abfiel. In einiger Entfernung, nördlich des Lagers, sah man eine Ansammlung Häuser, durch die eine Straße führte. Ein hübsches Dorf, das Valion sehr an seine Heimat erinnerte, auch wenn es ein ganzes Stück größer war. Mehr Häuser machte er rings um ihr Lager aus, jedoch in einiger Entfernung; kleine Bauerngüter, die wohl noch zum Dorf gehörten, aber ihre Felder außerhalb angelegt hatten. 

 

Aus der erhöhten Position des Lagers konnte man bereits erahnen, dass sie der Stadt näher kamen; in der Ferne, im Westen, entdeckte Valion noch mehr Dörfer. Anscheinend hatten sie eine Route gewählt, die sie jetzt durch dichter besiedelte Gebiete führen würde. Die Straße, die sie gekommen waren, hatte einen weiten Bogen gemacht, aber in ihrem weiteren Verlauf führte sie ziemlich genau von Osten nach Westen und verbreiterte sich stetig.

Jetzt waren sie allerdings in südliche Richtung unterwegs. Dort schlängelte sich ein kleiner Fluss durch ein breites, üppig grünes Tal. Seine Ufer waren grasig und flach, und an einigen Stellen hatten sich kleine Sandbänke gebildet. Nach Westen hin fiel er jedoch deutlich ab, und die Strömung schien stark zu sein. Valion vermutete, dass seine Mitte recht tief sein musste, und nicht ganz ungefährlich. Weiter stromabwärts, jedoch in einiger Entfernung, war das Flussufer für eine Wassermühle begradigt. Dort führten auch einige Stege ins Wasser. Valion zählte sechs Boote, bevor sie zu weit hinab gestiegen waren und er den weiteren Flussverlauf aus den Augen verlor.

 

Etwas anderes erregte dafür seine Aufmerksamkeit: Anscheinend waren sie nicht die Einzigen, die das schöne Wetter nutzten. Eine Gruppe Männer schien weiter flussabwärts zu baden. Durch das Weiß ihrer Unterbekleidung, die sie anbehalten hatten, waren sie deutlich sichtbar. Obwohl sie einige hundert Meter entfernt waren, schallten ihr Gelächter und ihre Rufe dennoch zu Valion und den anderen hinüber. Auch Anya bemerkte sie und warf Guy einen fragenden Blick zu.

„Die Pferdeknechte haben heute einen halben Tag freibekommen“, erklärte Guy.

„Eravier gibt sich großzügig, was?“, sagte Anya spöttisch.

Guys Gesicht blieb völlig neutral, aber seine Augen huschten zu Levin hinüber. „Darüber erlaube ich mir kein Urteil. Und das solltest du auch nicht.“

„Lass das Püppchen doch ruhig ein bisschen reden“, sagte Levin und lachte. „Sieh dir an, mit was für einem blassen Bürschchen sie sich die letzten Wochen abgeben musste. Kein Wunder, dass ihr nach Gesellschaft ist.“

Anya verdrehte nur die Augen und beschleunigte ihren Schritt. 

 

Sie erreichten kurz darauf das Ufer. Ein Streifen Sand zwischen Gras und Wasser schuf einen kleinen Strand, auf dem sich Blätter, kleine Stöcke und Steine angesammelt hatten. Im Wasser machte Valion einige silberne Schemen aus, die davon glitten, sobald sie näher kamen. 

Anya streckte sich zufrieden im Sonnenlicht und sah über den Fluss hinweg. „Schön ist es hier. Was meinst du? Wollen wir uns ins Wasser wagen?“

Valion zuckte mit den Achseln. „Dazu sind wir schließlich hier, oder?“ 

Anya nickte. Sie hatten wohl kaum eine Wahl. Guy hätte Valion vielleicht nicht verraten. Aber Levin war schäbig genug, sie auflaufen zu lassen. Seine Anwesenheit war eine wahre Strafe.

„Tretet zurück“, sagte Anya an Guy und Levin gewandt. „Ihr habt hier nichts zu bewachen, also stört mich wenigstens nicht.“ 

Levin öffnete den Mund und wollte etwas erwidern, vermutlich etwas Anzügliches, aber Guy packte ihn an der Schulter und schenkte ihm einen warnenden Blick. 

„Natürlich. Aber entfernt euch nicht zu weit“, sagte er, und schob Levin einige Meter weiter zu einer Bodenwelle, auf der sie sich, leicht erhöht, zur Wacht aufstellten. Für sie war dieser Ausflug keine Erholung, sondern nur eine weitere Aufgabe. Valion hätte fast Mitleid mit ihnen gehabt, wenn es sich nicht ausgerechnet um Levin gehandelt hätte.

 

Anya berührte Valion leicht an der Schulter. „Komm. Lass uns anfangen.“

„Schon gut.“ Er wandte sich wieder Anya zu und hoffte, dass sie ihm sagen würde, was er zu tun hatte. Wenn es möglich war, seine Gabel falsch zu halten oder falsch dazustehen, dann hatte er sich vermutlich auch sein Leben lang falsch aus- und angezogen. Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln, und Anya lächelte zurück.

„Dann das Wichtigste zuerst: Versuch, dich zu entspannen. Denk nicht zu viel darüber nach, dass du Zuschauer hast. Aber vergiss sie auch nicht, du sollst deine Kleidung nicht einfach loswerden. Du willst deinen Körper offenbaren, Stück für Stück. Wer auch immer dir dabei zusieht, soll das gern tun.“

 

Sie öffnete die Jacke über ihrem Kleid, ruhig und sehr bedacht. Valion bemerkte vom ersten Moment an, dass sie jetzt anders vorging als sonst; wenn sie allein waren, war sie viel effizienter, schnell und gründlich. Ihre Langsamkeit war spielerisch. Sie streifte nicht jeden Ärmel einzeln ab, sondern ließ ihre Jacke eher von ihren Schultern gleiten und fing sie mit einer Hand, bevor sie sie ins Gras legte. Ihr Oberkleid folgte, und dann ihr Rock. Sie ließ ihn simpel über ihre Hüfte hinab gleiten und stieg elegant aus dem Kreis von Stoff, bevor sie ihn zum Rest ihrer Kleidung legte. Jetzt trug sie nur noch ihre Schnürbrust über ihrem langen Unterhemd, das ihr bis knapp über die Knie reichte.

 

Ihre Augen blieben die ganze Zeit auf Valion gerichtet, und es war schwer, sich ihrem Blick zu entziehen. Er war nicht gewohnt, dass sie ihn so ansah, und fühlte, wie er errötete. Peinlich berührt sah er zu Levin und Guy, die sie beobachteten. Guy trug immer noch den gleichen, neutralen Gesichtsausdruck, aber Levin stand grinsend mit verschränkten Armen da. Er genoss die Darbietung, selbst wenn sie nicht für ihn war.

„Konzentrier dich.“ Anyas tadelnde Stimme lenkte Valions Aufmerksamkeit zurück zu ihr. Sie war seinem Blick nicht gefolgt, immer noch ganz auf ihn fokussiert. Bemerkte sie nicht, was vorging, oder ignorierte sie Levin?

„Er glotzt dich an“, sagte Valion, aber Anya schien es egal zu sein.

„Natürlich tut er das. Und er wird dich genauso anglotzen; du wirst dich damit arrangieren müssen. Wenn du dich erst für einen Kunden ausziehen musst, wird es keine Rolle spielen, ob du ihm etwas abgewinnen kannst. Im Gegenteil, du musst genauso elegant und charmant sein, wie du es sonst auch wärst. Egal, ob vollständig bekleidet oder splitterfasernackt. Also los, du bist dran.“

 

Valion seufzte, aber er tat, was sie wollte und ahmte sie, so gut er es konnte, nach. Er entledigte sich seiner Jacke, bückte sich und wollte seine Schuhe öffnen. Anya sah ihm einen Moment lang zu und verbarg dann ihr Gesicht in ihrer Handfläche. 

„Nicht so, du meine Güte. Du hast Zuschauer! Mit Eleganz! Hast du dich noch nie- Vergiss es, falsche Frage. Setz dich.“

Valion verdrehte die Augen und gehorchte. Zumindest hatte sie daran nichts auszusetzen, das hatten sie schon geübt.

„Gut, jetzt streck dein Bein aus“, dozierte Anya weiter. „Beug dich vor, aber lass den Rücken gerade, und dann kannst du dir den Schuh ausziehen. Gut so.“

In dieser Art ging es weiter, und obwohl Valion sich fühlte, als würde er ein Theaterstück aufführen, war er doch irgendwie froh. Er musste nicht darüber nachdenken, was er tat, er musste nur Befehle ausführen und sich einprägen, was er zu tun hatte. So legte er nach und nach seine Schuhe, Strümpfe, die Weste und seine Hosen ab, bis ihm nur noch Unterhemd und Unterhose blieben.

 

„Schön, das war ein Anfang“, kommentierte Anya. „Jetzt wird es interessant, es sei denn, du warst aufgrund außergewöhnlicher Umstände ohne Unterwäsche unterwegs.“ Valion lachte auf, und Anya musste selbst schmunzeln. „Sollte es dazu kommen, ist das letzte Kleidungsstück, das du trägst, ausschlaggebend. Denk daran, spätestens jetzt solltest du alle Aufmerksamkeit haben, und es hat keinen Sinn mehr, noch irgendetwas hinauszuzögern. Werde den Rest möglichst schnell los, und ohne viel daran herum zu zupfen. Ich würde dir ja gern eine praktische Anleitung geben. Aber wie du siehst“, sie zeigte auf ihre Schnürbrust, „tragen wir dazu zu unterschiedliche Unterwäsche.“

„Was für ein Zufall“, gab Valion mit einem schrägen Grinsen zurück, und Anyas Mundwinkel zuckten. Trotzdem blieb sie ernst und fuhr fort: „Was dein Unterhemd angeht, zieh es dir möglichst mit einem Mal über den Kopf.“

„Und wie?“

„Kreuz am besten die Arme vor dem Körper und zieh es am Saum nach oben, dann sparst du dir den Ärger mit den Ärmeln. Versuch es einmal.“

 

Valion runzelte die Stirn und versuchte sich vorzustellen, wie er das bewerkstelligen würde, was Anya ihm gerade erklärt hatte. Er war so in Gedanken versunken, dass Levins gehässige Stimme ihn zusammenfahren ließ.

„He, meine Schöne, wann machst du weiter?“, rief er zu Anya herüber. „Bekommen wir noch was von dir zu sehen statt nur von dem hageren Bübchen?“ 

Anya fuhr wütend zu ihm herum, und hätten Blicke töten können, wäre Levin nicht nur niedergesunken, sondern auf der Stelle zu Staub zerfallen. Stattdessen grinste er nur und verschränkte die Arme. 

„Beachte ihn gar nicht“, zischte Anya und wandte sich wieder Valion zu. „Mach einfach weiter.“

 

Das war leichter gesagt als getan. Valion versuchte, seine Konzentration wiederzufinden, starrte auf sein Hemd. Er verstand durchaus, was Anya von ihm verlangte, aber er fand nicht mehr zu der vorherigen Ruhe zurück. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sich nicht abschütteln und blockierte ihn. Levin stand immer noch mit verschränkten Armen neben Guy, aber er hätte Valion genausogut ins Genick atmen können. Valion fühlte seinen höhnischen Blick, sah vor seinem inneren Auge sein dreckiges Grinsen.

Hageres Bübchen.

Er durfte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er musste lernen, und er durfte Anya nicht im Stich lassen. Aber es war sinnlos; er hätte auch versuchen können, einen Ameisenhaufen direkt unter seinem Hintern zu ignorieren. Der Wille allein half nicht. 

 

Valion ballte die Fäuste. Musste er sich schon wieder diesem Dreckskerl geschlagen geben? Eingestehen, dass er sich von ihm beeinflussen ließ? Nein, nicht diesmal. Levin hatte es einmal geschafft, ihn so lange zu bearbeiten, bis er fast nachgegeben hatte. Diesmal würde er den Spieß umdrehen. Aber wie?

Die Antwort lag nahe: mit denselben schmutzigen Methoden, mit denen Levin selbst arbeitete. Denn er musste eine Schwachstelle haben, so wie jeder andere auch. Etwas, das gegen ihn verwendbar war. 

Valions Wut verschwand nicht, aber jetzt fühlte er sich gefasster. Er hob den Kopf, und statt Levin nur mit seinem Blick zu streifen, fixierte er ihn, sah ihm direkt in die Augen.

Wovor hatte er Angst? An welcher Wunde konnte Valion kratzen? 

Levin erwiderte seinen Blick unbesorgt, aber dann veränderte sich seine Miene subtil. Sah er verunsichert aus? Ja, ein wenig. Er schien nicht zu begreifen, warum er plötzlich beachtet wurde. Er war es gewohnt, dass man ihm auswich. Legte er es nicht sogar darauf an? Lenkte die Aufmerksamkeit von sich ab? Je länger Valion ihn anstarrte, desto unsicherer wurde er. Valion hatte eine Ahnung, warum, hatte sie vielleicht von Anfang am gehabt. So wie Anya ein Gespür dafür hatte, ob ein Mann an ihr interessiert war oder nicht.

Das war verwirrend. Einen Moment lang wollte Valion an seinem Gefühl zweifeln. Ausgerechnet Levin? So wie er Jadzia in die Ecke gedrängt hatte? Oder Anya begafft hatte wie ein Stück Fleisch?

Wenn das nicht seine Art ist, sich zu schützen.

Und spielte es letztendlich eine Rolle? Valion würde seine Ahnung ausspielen, nur um zu sehen, was passierte. 

 

Levin war mittlerweile so beunruhigt, dass er drauf und dran war, den Blick abzuwenden. Aber das würde er nicht zulassen, das schwor sich Valion in diesem Moment. Er hatte zusehen wollen; Das konnte er haben.

Valion griff nach dem Saum seines Hemdes, und wie Anya gesagt hatte, zog er es sich mit einem Mal über den Kopf und warf es achtlos neben sich. Ließ nicht zu, dass Levin ihn nur einen Moment aus den Augen ließ. Er hätte fast gelacht, als er sah, dass Levin jetzt tatsächlich zurückgewichen war. Irgendetwas machte ihn schrecklich nervös. 

Nicht irgendetwas. Du.

Sehr gut.

Valion griff nach dem Bund seiner Unterhosen und schob ihn gerade so weit herunter, dass die Schwerkraft den Rest erledigte, so wie Anya es mit ihrem Rock getan hatte. Sie fielen zu Boden, und achtlos stieg er aus dem Bündel Stoff. Einem Impuls folgend ging er auf Levin zu. Der wand sich regelrecht vor ihm.

 

Ein spöttisches Lächeln legte sich auf Valions Lippen. Er sah plötzlich Anya vor sich, wie sie eine Hand auf die Brust eines Mannes legte, dessen Aufmerksamkeit sie wollte. Eine unschuldige Berührung, die doch so viel bewirkte. Valion überwand den Abstand zu Levin, hob den Arm, legte eine Hand auf seine Brust. Levin schluckte trocken.

Aus der Nähe sah er gar nicht so schrecklich aus. So eingeschüchtert, wie er gerade war, brachte er nicht einmal einen Ton heraus. Und jetzt würde Valion ihm den Gnadenstoß geben. Er näherte sich ihm noch weiter, so nah, dass Levin sich furchtsam versteifte, und flüsterte ihm zu: „Na? Hast du jetzt was zu sehen bekommen?“

 

Er hatte ins Schwarze getroffen, er sah es, und Levin sah, dass er es sah. Er hatte jetzt Angst; nicht vor Valion, sondern vor dem, was er gerade über Levin herausgefunden hatte. In diesem Moment wollte Valion ihn auslachen, sein Selbstbewusstsein zerschmettern. Ihm zeigen, wer der Stärkere war.

Dann legte sich eine große Hand auf Valions Schulter und zog ihn sacht, aber mit deutlichem Nachdruck, von Levin weg.

„Ich glaube, das reicht jetzt“, sagte Guy. „Du hast ihm eine Lektion erteilt; lass es gut sein.“

Valion sah zu ihm auf, und er war versucht, sein Glück auch bei ihm zu versuchen. Zu sehen, ob er diesen neu entdeckten Hebel nicht auch bei ihm ansetzen konnte. Aber ein Blick in Guys funkelnde Augen sagte ihm, dass das sinnlos war. Er amüsierte sich vielleicht darüber, was Valion gerade getan hatte, aber er war absolut nicht beeindruckt davon.

 

Also hob Valion die Hände und trat einen Schritt zurück, aus Levins Reichweite. „Tut mir leid. Ich bin schon weg.“

Guy sah ihn mit dem gleichen, ruhigen Blick an, der ihm zu verstehen gab, dass er kein Wort seiner Entschuldigung glaubte, aber ihn auch nicht verpfeifen würde. Er nickte in Anyas Richtung, zum Zeichen, dass er zu ihr zurückgehen sollte. Levin versuchte, etwas zu krächzen, aber er brachte kein Wort heraus, und Valion war auch nicht daran interessiert. Er würde eine Rechtfertigung stammeln, versuchen, wieder Boden zu gewinnen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Als Dreingabe durfte er jetzt Valions nackten Hintern anstarren, während er gemächlich zum Flussufer zurück spazierte. 

 

Anya hatte die Gelegenheit genutzt, ihre Kleidung abzulegen, und war jetzt so nackt wie er. Sie lächelte breit, aber nicht aus Häme. „Gut gemacht“, sagte sie schlicht, „Was meinst du? Wollen wir ins Wasser?“

Valion nickte, und Anya ging leichtfüßig voraus. Nichts an ihrer Haltung deutete darauf hin, dass ihre Nacktheit ihr etwas ausmachte, und Valion bewunderte sie dafür. Dann begriff er, dass sie ihm gerade auch nichts ausmachte. Levin hatte ihn tatsächlich wütend genug gemacht, dass er seine Scham einfach vergessen hatte. 

 

Valion wandte sich zu ihm um, um zu sehen, wie er mit seiner Niederlage umging. Aber Levin stand nicht mehr neben Guy. Er war auf dem Rückweg zum Lager; er lief buchstäblich davon.

 

Sehr gut, dachte Valion. Aber irgendwie war er sich sicher, dass das nicht das letzte Mal gewesen war, dass sie aneinandergerieten. Sie waren noch nicht fertig miteinander.

Das Wasser fühlte sich eisig an Valions Füßen an, und der Grund am Ufer war unerwartet steinig. Unsicher stakte er in den Fluss hinein und hoffte, dass er sich schnell an die Kälte gewöhnen würde. Anya war ihm voraus und bereits bis zum Ansatz ihrer Brüste im Wasser, doch dann schien ihr etwas einzufallen, und sie wandte sich hastig zu Valion um.

„Warte! Kannst du überhaupt schwimmen?“

„Das fällt dir ja früh ein“, erwiderte Valion patzig. „Und ja, kann ich.“

Anya schenkte ihm einen langen Blick, auf den er schon aus Prinzip nicht reagierte, aber das stellte sich als Fehler heraus. Als Nächstes holte sie aus, spritzte einen Schwall kaltes Wasser in Valions Richtung und traf seine nackte Brust. Er schrie auf, stolperte rückwärts und hatte das Gefühl, sein Herz würde aussetzen.

„Das war schon beim letzten Mal nicht witzig, verdammt noch mal!“, schimpfte er und schüttelte sich, aber Anya lachte ihn nur aus.

„Aber es hat sich gelohnt, du hast genau dasselbe Gesicht gemacht!“, spottete sie, und sprang leichtfüßig zurück, als er Wasser in ihre Richtung spritzte. Sie revanchierte sich umgehend, und traf Valion zum zweiten Mal unvorbereitet, diesmal direkt ins Gesicht. Wasser geriet in seine Augen und lief aus seinen Haaren, und jetzt hatte er die Nase voll.

„Das kriegst du zurück!“ Valion achtete nicht mehr auf die spitzen Steine unter seinen Füßen, rannte los und machte einen Hechtsprung ins Wasser, direkt auf Anya zu. Sie quietschte vergnügt auf und brachte sich schwimmend vor ihm in Sicherheit, aber sie war nicht schnell genug für ihn. Er folgte ihr in tieferes Wasser und verlor den Grund unter den Füßen, aber dann hatte er sie schon. Er bekam im aufgewühlten Nass ihren Knöchel zu fassen, zog sie daran zurück. An Land hätte er es nicht leicht mit ihr gehabt, aber jetzt schien sie nichts zu wiegen. Er packte sie an der Hüfte, was gar nicht so einfach war, weil er nur knapp herum reichte, und setzte sie damit fest, da half auch kein Zappeln. Sie lachte immer noch aus vollem Hals. 

„Und jetzt?“, fragte sie frech.

„Sagst du, dass es dir leidtut!“

„Auf keinen Fall!“

Sie stieß sich von Valion ab, aber nicht vorwärts, sondern nach unten, und weg war sie, verschwunden unter der Wasseroberfläche; sie tauchte einfach unter ihm hinweg. Sollte er ihr folgen? Bevor er eine Entscheidung fällen konnte, wurde sie ihm abgenommen: Eine Hand aus der Tiefe griff seine Wade und zerrte ihn nach unten. Valion schaffte es gerade noch, Luft zu holen, dann schloss sich das Wasser über ihm.

Der Fluss war recht klar, und als er die Augen öffnete, entdeckte er Anya auf Anhieb. Sie grinste immer noch, und dann deutete sie mit einer Hand in Richtung Flussmitte. Sonnenstrahlen tanzten auf der Oberfläche, und nicht weit darunter wogten die glänzenden Schemen einer Schar Fische. Anmutig, so zielgerichtet wie nur ein einziger Körper, bewegte sich der Schwarm durch sein Flussreich. Der Anblick war wunderschön, und Valion hielt bis zu letztmöglichen Sekunde durch.

 

Keuchend tauchte er schließlich wieder auf, direkt neben Anya, die eher als er aufgegeben hatte. 

„Bezaubernd, oder? Ich musste sie dir einfach zeigen!“, sagte sie und lächelte glücklich, so begeistert wie er über ihre Entdeckung. 

Du bist bezaubernd, dachte Valion, ein Gedanke aus dem Nichts. Keine Phrase, denn er fühlte wirklich so. Ihr Lachen, ihre Aufregung, ihre Freude am Wasser und ihrem kleinen Kampf, alles daran war liebenswert. Die Erkenntnis kam plötzlich, und sie war verwirrend. Anya war attraktiv, und schlimmer noch: Sie war nackt, sie war direkt vor ihm, und sie hatte ihm gesagt, dass sie ihn gern hatte. Das alles wurde ihm schlagartig bewusst, und dem Rest seines Körpers leider auch. Er konnte fühlen, wie sein Gesicht heiß wurde.

Er sah nur einen Ausweg: Er tauchte wieder unter, weg von Anya, flussabwärts. Alles, damit sie es ihm nicht direkt ansah.

 

Valion tauchte so weit, wie er konnte, hob nur einmal den Kopf, um Luft zu schnappen. Seine Lunge protestierte gegen die ungewohnte Belastung, aber dafür hatte er wenigstens eine Ablenkung. In einiger Entfernung erspähte er einen Felsen, flach und rund, der knapp unter der Oberfläche lag, und wählte ihn als Ziel. Grüne Wasserpflanzen wuchsen von der Mitte abwärts bis zum Grund wie ein in der Strömung treibender Rock. Einige Fische, die sich darin verborgen hatten, nahmen Reißaus, als Valion sich näherte.

Mit einiger Mühe schaffte er es, sich auf den Felsen zu hieven, und setzte sich dann darauf. Das Wasser reichte ihm jetzt nur noch bis zum Bauchnabel, und durch seine erhöhte Position konnte er sich sogar ein wenig umsehen.

Weiter stromaufwärts wanderten Guy und ein anderer Mann, vermutlich der Vertreter für Levin, ihm und Anya hinterher. Anya schwamm gemütlich auf ihn zu, ließ sich aber Zeit. 

Flussabwärts badeten immer noch die Knechte. Von seinem Posten aus konnte Valion sie recht gut überblicken; er war nah genug, um die Silhouetten auseinanderzuhalten, aber zu fern, als dass sie seine Gegenwart bemerkt hätten. Vermutlich hätten sie ihn, selbst wenn sie zu ihm geblickt hätten, für einen Wasservogel oder ein Stück treibendes Holz gehalten. So mussten sich wohl Wassernixen fühlen, wenn sie aus der Ferne die Menschenwelt beobachteten.

Anya tauchte neben ihm auf. Sie machte sich nicht die Mühe, den Felsen zu erklettern, sondern hielt sich lediglich an ihm fest, damit die Strömung sie nicht davon trieb. Valion sah ihr an, dass sie wusste, warum er vor ihr geflohen war. Glücklicherweise zog sie ihn diesmal nicht damit auf, sondern folgte seinen Blicken, hinab zu den Knechten.

 

Irgendetwas schien bei ihnen vorzugehen, denn sie hatten sich wie Zuschauer in einem großen Halbkreis aufgestellt. Ihre Rufe waren noch lauter als zuvor, und einen davon verstand Valion: 

„Los, du schaffst das!“

„Was da unten wohl vor sich geht? Sie scheinen ja eine Menge Spaß zu haben“, sagte Anya.

„Gute Frage“, antwortete Valion achselzuckend.

„Wollen wir zu ihnen schwimmen und nachsehen, was sie so beschäftigt?“

Er konnte nicht glauben, dass sie das ernst meinte, aber ein Blick in ihr Gesicht überzeugte ihn vom Gegenteil. Anyas gute Laune beflügelte sie heute anscheinend zu besonderem Schabernack: Sie wollte tatsächlich nackt vor einer ganzen Gruppe Männer erscheinen und dachte sich nichts weiter dabei.

„Und dann?!“, fragte Valion perplex, „Sagen wir einfach Hallo und warten ab, was passiert?!“

Anya zuckte mit den Schultern, immer noch grinsend. Die Vorstellung war für sie anscheinend ein großer Spaß. „Was soll schon passieren? Was sollen sie tun?“

Schlimmstenfalls in Ohnmacht fallen, wegen Blutmangel, wollte Valion erwidern, aber er verkniff es sich. Stattdessen nickte er in Richtung ihrer Bewacher, die fast zu ihnen aufgeschlossen hatten.

„Werden sie uns nicht aufhalten?“

„Warum sollten sie? Du sollst lernen, vor anderen nackt zu sein. Wer wäre besser geeignet als eine Gruppe von Knechten, die kein Blatt vor den Mund nimmt?“

 

Valion seufzte. Worauf hatte er sich nur eingelassen, als er heute Morgen aus dem Bett gekrochen war?

Dann wiederum: Er hatte heute schon absonderlichere Dinge getan, als nackt vor Zuschauern herumzulaufen. Wie schlimm konnte es werden? Würde ihn überhaupt jemand bemerken, wenn Anya die Gelegenheit bekam, eine ganze Horde Männer auf einmal zu bezirzen? Vermutlich konnte er sich bequem ins Gras legen und warten, bis das Spektakel vorbei war.

Oder du könntest jemand über den Weg laufen, den du kennst.

„Meinetwegen“, murrte er und erhob sich, um vorsichtig von seinem Sitzplatz herunter zu steigen.

„Sieh es als Gelegenheit, kleiner Meermann“, erwiderte Anya, und bewies damit ein für alle mal, dass sie Valion besser kannte, als ihm lieb war. „Du könntest deinem Freund Marceus über den Weg laufen. Und wenn du ihm etwas Hübsches vorsingst, kannst du ihn vielleicht sogar mitnehmen.“

 

Irgendwie hatte Valion damit gerechnet, dass er und Anya schon von Weitem bemerkt werden würden. Aber das Gegenteil war der Fall: Sie schwammen völlig unbeachtet flussabwärts, niemand drehte sich auch nur in ihre Richtung um. Bei den Knechten schien irgendetwas vorzugehen und beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Sie lachten, klatschten und feuerten sich immer wieder gegenseitig an. Anscheinend war irgendeine Art Wettbewerb im Gange.

 

Selbst als Anya im flacheren Wasser die Füße auf Grund stellte und der Gruppe Männer entgegenging, blieb sie völlig unbemerkt. Valion war es nur recht; er wurde langsam nervös, ein dumpfes Gefühl der Unruhe in der Magengegend, das mit jedem Schritt stärker wurde. Trotzdem folgte er Anya durch das hüfthohe Wasser. Am Rand der Gruppe hielten sie schließlich inne und spähten zwischen den breiten Rücken hindurch.

 

Zuerst konnte Valion das Geschehen überhaupt nicht einordnen. Alle schienen auf die Wasseroberfläche fixiert, und einige wetteten auf einen Sieger, aber von den Kontrahenten war keine Spur. Dann durchbrach mit einem Mal ein Mann die Oberfläche und rang keuchend nach Atem. Er war im Unterhemd, das vollgesogen mit Wasser an seinem hageren Körper klebte. Hustend und schnaufend erhob er sich und wischte sich die Augen. Endlich erkannte Valion ihn: Es war Tarn. Er begann zu lachen, sobald er genug Atem geschöpft hatte. 

„Verdammt noch mal, ist er immer noch unten?“, rief er gerade in die Menge, und dann, als hätte er ihn herauf beschworen, brach ein weiterer Mann durch die Wasseroberfläche, fast drei Meter von ihm entfernt, und sog gierig Luft in die Lungen. Marceus. 

„Hab ... ich ... ihn besiegt?“, keuchte er, und die Knechte brachen in lautes Gejohle aus. Mehrere Männer schlugen ihm anerkennend auf die Schulter. Marceus grinste breit und zufrieden und sah sich dann nach Tarn um, der auf ihn zu watete und ihm die Hand reichte. Marceus packte sie kräftig und schüttelte sie. 

„Du hast mich fair geschlagen!“, sagte Tarn und lachte, und der Stolz darüber stand Marceus ins Gesicht geschrieben.

„Ich dachte, es zerreißt mir die Lunge! Ich glaube, so weit bin ich noch nie getaucht!“

„Pass auf, dass dir nicht bald Kiemen wachsen!“, gab einer der Knechte zum Besten, und ein anderer fügte hinzu: „Dafür muss dir Jefrem heute Abend einen ausgeben!“ Sie ernteten Gelächter und zustimmendes Johlen.

 

Valions Blick blieb an Tarn und Marceus hängen. Sie spekulierten anscheinend darüber, welche Distanz sie nun wirklich zurückgelegt hatten, und lachten viel, ihre Haltung völlig entspannt. Valion hatte sie noch nie so gesehen; glücklich, sorglos. Sie waren hier unter Freunden, weit weg von ihrer Arbeit und Eraviers wachsamen Blick, und am liebsten wäre Valion sofort umgekehrt. 

Er gehörte nicht hierher, genauso wenig wie Anya. Sie waren Eindringlinge, Außenstehende, und das lag nicht nur daran, dass sie die einzigen ohne Kleidung waren. Für diesen halben Tag waren die Männer einmal keine Bediensteten, mussten keine Autorität fürchten und niemandes Befehle befolgen. Welches Recht hatte Anya, hatte er selbst, hereinzuplatzen und sie zu stören?

 

„Wir sollten gehen“, flüsterte er Anya zu.

„Wir sind doch gerade erst angekommen!“.

„Ich denke wirklich-“, setzte Valion an, aber in diesem Moment hatte Anya schon dem nächststehenden Mann auf die Schulter getippt. Er drehte sich irritiert um, und fand sich einer nackten Frau gegenüber, die ihn selbstbewusst von unten herauf anstarrte. 

„Hallo“, sagte Anya mit einem Lächeln.

 

Es war faszinierend, die Wirkung ihrer Begrüßung zu beobachten. Valion vergaß für einen Moment sogar seine Nervosität. Der Angesprochene zuckte vor Überraschung zusammen, als er Anya vor sich stehen sah, und verfiel in verwirrtes Schweigen. Die absurde Situation hatte ihn prompt schachmatt gesetzt. Ein weiterer Mann, vermutlich ein Freund, drehte sich zu ihm um, wollte wohl etwas sagen, und erstarrte ebenfalls. Er rieb sich sogar die Augen, aber Anya stellte sich nicht als Trugbild heraus. Er schlug dem Mann neben sich auf den Arm, der sich ebenfalls verwundert zu ihm umdrehte, und so ging es weiter. 

Wie eine Welle breitete sich die lautlose Botschaft von Anyas Ankunft aus, und das nur mit einem einzigen Wort. Am Ende gab es niemand, der sie nicht anstarrte.

 

Valions Blick schweifte über die Menge und blieb dann wieder bei Marceus und Tarn hängen, die sich ebenfalls zu ihnen umdrehten. Marceus sah zuerst nur Anya, aber dann erkannte er Valion, und ihm fiel fast die Kinnlade herunter. Sein Gesicht war innerhalb von Sekunden rot. Tarn, der sowohl Anya als auch Valion zunickte, bemerkte es im selben Moment. Er grinste, so amüsiert, wie Valion es noch nie gesehen hatte, nicht einmal geglaubt hatte, dass er dazu in der Lage war. Sein Blick wanderte zwischen Marceus und Valion hin und her. Valion machte sich keine Illusionen darüber, dass er nicht genau durchschaute, was vor sich ging. Dann legte Tarn eine Hand auf Marceus Schulter, drückte kurz zu, und flüsterte etwas. Marceus schreckte auf und sah aus, als wäre er vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. 

 

Jetzt, nachdem die Verwunderung abgeklungen war, brandete Gemurmel auf: das betretene Beratschlagen von Männern, die nicht wussten, was sie tun sollten, und ob sie nicht gleich einen Kopf kürzer gemacht werden würden. Das hätte noch eine Weile so weitergehen können, aber dann teilte sich die Menge, zurückgetrieben von zwei kräftigen Händen und einer gehörigen Portion Autorität. Triefnass und rund, wie ein gut gelaunter Wassergott, kam Jefrem heran und bahnte sich einen Weg zu Anya und Valion. Er war der Einzige, der über seinem Unterhemd eine einfache Leinenweste trug, was ihm eine seltsame Autorität verlieh. Die Knechte wichen hinter ihn zurück wie eine Schar sehr großer Küken hinter eine dicke Henne, sodass er schon einen Moment später die Speerspitze der Gruppe bildete.

„Sei gegrüßt, Herrin! Tag, Valion“, sagte er und deutete eine Verbeugung an. „Mir scheint, ihr habt euch ein wenig verlaufen!“

„Ach ja? Wie kommst du darauf?“, fragte Anya gespielt verwundert zurück und stützte eine Hand in die üppigen Hüften. Ihr ganzer Körper geriet dabei in Bewegung, ihr Busen wogte, und der Anblick genügte, dass sich mehrere Männer verlegen und fluchtartig abwandten. Selbst Jefrem schien nicht unbeeindruckt, auch wenn er besser die Fassung wahrte.

„Ich erinnere mich da an ein paar Regeln, was den Kontakt von Sklaven und Knechten betrifft. Die sollten dir eigentlich geläufig sein!“, konterte er frohgemut und verschränkte die kräftigen Arme vor der breiten Brust. 

„Kann mich gerade gar nicht daran entsinnen“, sagte Anya mit einem spöttischen Lächeln. „Aber selbst wenn: Warst du schon einmal mehrere Wochen zu zweit eingesperrt? Die Gesprächsthemen erschöpfen sich irgendwann!“

„Dann ist dir also nach einer Unterhaltung?“

Anya zuckte mit den Schultern, eine erneute Provokation, und ging langsam und elegant auf Jefrem zu. „Ich hätte zumindest nichts dagegen einzuwenden, wenn du mir sonst nichts anzubieten hast“, erwiderte sie, und ihr Lächeln verwandelte vermutlich ein Dutzend Knie zu Pudding.

Jefrem seufzte; er erkannte wohl selbst, dass er gegen Anyas Charmeoffensive nicht ankam. „Dann kommt“, sagte er und bot Anya galant den Arm, den sie auch ergriff. „Ich nehme zwar an, eure Wächter werden gleich hier aufkreuzen und euch abführen, aber so lange seid ihr unsere Gäste.“

„Sehr liebenswürdig“, flötete Anya und ließ sich von Jefrem ans Ufer führen.

 

Valion blieb im Wasser zurück, praktisch unbeachtet. Anya war wie immer das Zentrum der Aufmerksamkeit, und ihr folgten eine Menge verlangende Blicke. Valion schüttelte lächelnd den Kopf, aber er gönnte es ihr. Sollte sie sich ein wenig amüsieren; Jefrem würde schon darauf achten, dass ihr nichts passierte.

Während er noch da stand und sich fehl am Platz vorkam, steuerte Marceus auf ihn zu, immer noch ein wenig rot im Gesicht, und stellte sich neben ihn. Einen Moment lang betrachteten sie beide Anya, die sich lebhaft mit Jefrem unterhielt. 

„Wenn sie nicht so charmant wäre, könnte man sie glatt für unverschämt halten“, sagte Marceus, und Valion schnaubte amüsiert.

„Oh, glaub mir, sie ist beides.“

Marceus musterte ihn von der Seite, fragte schließlich: „Wie geht‘s dir? Ich hab mir ein bisschen Sorgen gemacht. Aber Jefrem war sehr deutlich, was Besuche anging.“

Valion zuckte die Achseln. „Es geht mir gut, und Anya hat keine Langeweile aufkommen lassen. Ich lerne gerade von ihr, wie du siehst.“

„Schwimmen?“

Valion sah zu Marceus auf, der seinen Blick nervös erwiderte und anscheinend fürchtete, etwas Falsches zu sagen. Er war mit der Situation so überfordert, wie Valion sich zuerst gefühlt hatte. Irgendetwas von Anya musste wohl auf ihn abfärben, denn es kam Valion längst nicht mehr so schlimm vor, nackt vor Marceus zu stehen. Im Gegenteil, es verschaffte ihm einen unerwarteten Vorteil, verunsicherte sein Gegenüber. Anscheinend wirkte seine Nacktheit nicht nur auf Levin einschüchternd. Nur, dass er Marceus gar nicht einschüchtern wollte.

„Nein, mich nicht vor anderen zu schämen“, erwiderte er ruhig, blickte an sich herunter, dann wieder zu Marceus. „Du weißt schon.“ 

Marceus war seinem Blick gefolgt, und die Röte in seinem Gesicht war schlagartig zurück.

„Oh. Verstehe“, brachte er gerade so heraus. Dann entdeckte er scheinbar etwas Hochinteressantes irgendwo am anderen Flussufer, das er für einen langen Moment anstarrte. Valion verkniff sich das Lachen und sah sich um, ob irgendjemand ihn und Marceus bei ihrem Gespräch beobachtete. Aber nein, niemand schien es darauf anzulegen, vielleicht aus Respekt vor Marceus. Selbst Tarn hatte sich abgewandt, unterhielt sich mit Mischa und Viljo.

„Du schlägst dich jedenfalls besser, als ich gedacht hätte“, sagte Marceus. Anscheinend hatte er seine Fassung wiedergewonnen. „Ich wäre vermutlich schon vor Scham gestorben.“

„Hm“, antwortete Valion, aber er hörte nicht wirklich zu. Etwas an Tarn hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er stand halb abgewandt, und für einen Moment sah Valion durch sein nasses Hemd etwas auf seinem Rücken durchschimmern, das er sich nicht erklären konnte: Schwarze Linien, die eine Art Muster zu bilden schienen.

Vielleicht konnte er ihn danach fragen. So ein Gespräch beginnen. Er hatte nicht geplant, dass sie sich heute so treffen würden, aber warum sollte er die Gelegenheit nicht nutzen? Wer wusste schon, wann er wieder dazu kam.

Während er darüber nachdachte, hatte Marceus etwas gesagt, und Valion hatte kein Wort davon verstanden.

„Tut mir leid, ich hab gerade nicht zugehört.“

„Schien mir auch so“, antwortete Marceus, und Valion überhörte den gekränkten Unterton konsequent. Er brauchte nicht noch jemand, der ihm vorhielt, dass er Tarn mochte.

„Hör zu, es war gut, dich zu sehen“, sagte er, wieder an Marceus gewandt, „Aber ich glaube, ich muss mit Tarn reden.“

Marceus nickte, wenn auch sichtlich enttäuscht. „In Ordnung, ich will dich nicht aufhalten.“

Valion ergriff seine Hand, hielt sie einen Moment fest. „Tust du nicht. Wirklich nicht“, sagte er, und Marceus lächelte versöhnt.

„Ist vielleicht auch besser, wenn du gehst. Ich weiß gerade gar nicht, wohin ich schauen soll“, sagte er verlegen, und erlaubte sich einen weiteren Blick auf Valions Körper, der gefährlich tief ging.

„Wie wär‘s mit meinem Gesicht?“, fragte Valion zurück. Marceus hob ruckartig den Kopf, auf frischer Tat ertappt, und sah Valion hastig in die Augen. Dann mussten sie beide lachen.

 

Tarn unterhielt sich noch mit Mischa, als Valion ihn erreichte, aber Valion blieb einfach geduldig stehen und wartete ab. Er hatte es nicht eilig, und es gab genug zu sehen. Unauffällig erlaubte er sich einen Blick auf Mischas beeindruckend muskulöse Brust; Mischa hatte sein Unterhemd zum Schwimmen abgelegt. Ohne seine weite Kleidung wirkte er weniger wie ein Schrank und mehr wie der Held einer Sage, groß, kraftstrotzend und ein wenig einschüchternd. Selbst Tarn, der nicht gerade klein war, wirkte neben ihm eher mickrig. Mischa hätte Valion vermutlich aus einer Laune heraus in zwei Hälften brechen können, und irgendetwas an dieser Vorstellung war weniger bedrohlich als vielmehr interessant. 

Valion musste über sich selbst den Kopf schütteln; Anya färbte noch mehr auf ihn ab, als er gedacht hatte. Oder er hatte unterschätzt, was es bedeutete, mit einer ganzen Schar halb nackter Männer konfrontiert zu werden.

 

Mischa hatte seine Blicke wohl bemerkt, denn er nickte in Valions Richtung und sagte an Tarn gewandt: „Ich glaube, dich will jemand sprechen.“ 

„Ja?“ Tarn wandte sich etwas überrascht um. „Ach, du.“

„Wir reden später weiter“, sagte Mischa. Er zwinkerte Valion kurz zu und stapfte dann davon.

„Tut mir leid, ich habe dich gar nicht gesehen“, sagte Tarn an Valion gewandt. Valion hob die Augenbrauen zum Zeichen, dass er das nun wirklich nicht glauben konnte, und brachte Tarn damit tatsächlich zum Lachen.

„Ich meinte, eben gerade nicht. Deine und Anyas Ankunft war kaum zu übersehen. Also, was gibt es?“

Jetzt, im entscheidenden Moment, versagte Valions Stimme. Es gab zu viel zu sagen. Zu viele Fragen. Und er konnte sie nicht hier stellen, umgeben von anderen Menschen. 

„Können wir reden? Allein, wenn möglich?“ Tarn sah überrascht aus, und zaghaft fügte Valion hinzu: „Wenn jetzt keine gute Gelegenheit ist-“

„Doch, natürlich“, unterbrach Tarn ihn. „Komm. Setzen wir uns ans Ufer.“

 

Tarn führte Valion flussaufwärts ein Stück am Ufer entlang, zu einer sandigen kleinen Bucht. Ein schmales Rinnsal vereinte sich hier mit dem Fluss. Das Gras war hoch und undurchdringlich und schirmte sie vor neugierigen Blicken ab. 

Valion ließ sich auf dem Sand nieder und wollte sich unbewusst in den Schneidersitz setzen. Er erkannte rechtzeitig, dass das keine gute Idee war. Wie setzte man sich völlig nackt neben jemand, der es nicht war? Er wünschte, Anya hätte ihm in diesem Moment sagen können, was er tun sollte. Er löste das Problem, indem er ein Bein ausstreckte und das andere, Tarn zugewandte anwinkelte. Das war nicht perfekt, aber besser als nichts.

Tarn beobachtete sein Dilemma und lächelte dabei. In diesem Moment erinnerte er Valion sehr an Anya; er amüsierte sich darüber, wie unbeholfen Valion sich anstellte. Anders als Anya hatte er jedoch Mitleid.

„Fühlst du dich auch nicht zu unwohl? Ich könnte dir mein Hemd holen“, bot er an. „Das wäre trocken, und du musst nicht frieren.“ 

Das war nett gemeint, und die Vorstellung war tröstlich. Valion würde in seinem sonnenwarmen, trocknen Hemd versinken, das nach Gras und Seife roch. Es würde ihm viel zu groß sein und ihn vermutlich komplett verhüllen. Aber gerade deshalb durfte er es nicht annehmen.

„Nein, danke. Ich muss mich daran gewöhnen. Und die Sonne ist warm genug.“

Tarn schmunzelte und sagte nichts.

„Was ist daran komisch?“

„Nichts. Es erscheint mir nur untypisch für dich. Anscheinend bist du mittlerweile recht selbstsicher geworden. Und du trägst Anyas Eskapaden mit Fassung. Als ich dich traf, warst du unsteter. Und unglücklicher. Vielleicht war es gut, dass du eine Weile Abstand von mir hattest. Dich auf eigene Füße gestellt hast.“

Vielleicht hatte er Recht damit. Warum sträubte sich dann alles in Valion dagegen?

„Nein, war es nicht“, widersprach er. „Ich hätte darauf verzichten können! Ich-“

Er verstummte, weil er sich, ganz unvermittelt, in Rage geredet hätte. Da war er wieder, dieser Stachel, der immer noch tief im Fleisch steckte. Da war das Gefühl des Verrats, und des Verlassenseins. Es war zu schwer gewesen, mit diesen Gefühlen umzugehen. Also hatte er sich von Tarn ferngehalten und vermieden, darüber nachzudenken. Bis heute.

 

Er atmete tief durch, begann von Neuem. 

„Weißt du, wie ich aufgewacht bin, nach meinem Fluchtversuch? Nachdem alles vorbei war? Im Dunkeln, angekettet, ohne jemand, den ich kannte. Es gab niemand, der mir sagen konnte, was passiert war. Mit Jan, mit mir. Wie es weitergehen würde. Ich musste selbst sehen, wie ich zurechtkomme. Nenn es, wie du willst, Abstand, was auch immer. Ich hätte darauf verzichten können. Wenn du mich schon belogen hast, hättest du mir wenigstens später die Wahrheit sagen können. Du hättest da sein können.“

 

Er sah zu Tarn auf, der auf den Fluss hinaus blickte. Er wandte sich Valion zu, erwiderte seinen Blick, aber sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte. Er nickte nur, zum Zeichen, dass er zuhörte, und dass Valion weitersprechen sollte.

 

„Aber ich habe auch gesagt, dass ich dir vertrauen will. Und ich verstehe immer noch nicht alles, und ohne Hilfe werde ich das wohl auch nie“, fuhr er fort. „Du hast gesagt, egal wie ich entscheide, du wirst es mir nicht nachtragen. Aber ich weiß nicht mal, wie ich mich entscheiden soll. Ich weiß überhaupt nichts. Deshalb bin ich wohl hier.“ 

Tarn nickte. „Wie kann ich dir dabei helfen?“

Valion schwieg einen Moment, sammelte seine Gedanken. „Ich muss über etwas die Wahrheit erfahren“, sagte er ernst. „Ich habe Fragen, und ich brauche Antworten. Ehrliche Antworten.“

„Ich werde versuchen, sie dir zu geben“, sagte Tarn, aber jetzt war er angespannt. Er griff nach einem flachen Stein, begann ihn in der Hand zu drehen. Was erwartete er? Valion wusste es nicht, aber er würde nicht locker lassen.

 

„Die Rebellen ...“, begann er, und Tarn zuckte zusammen, hob die Hand. Seine Augen huschten reflexhaft hin und her, als vergewissere er sich, dass sie wirklich allein waren. Erst dann nickte er Valion zu, zum Zeichen, dass er sprechen konnte.

„Sie haben mich kontaktiert, vor einer Weile schon. Und sie haben mich vor dir gewarnt. Mir sogar geraten, dich zu ignorieren. Sie meinen, dass du nicht mehr auf ihrer Seite bist. Aber ich verstehe nicht, wieso. Was hast du getan?“

Tarn atmete seufzend aus, und das Unbehagen war deutlich in seinem Gesicht abzulesen.

„Das ist nicht ganz einfach erklärt.“

Valion zuckte mit den Schultern. „Ich habe Zeit.“

 

Tarn überlegte eine Weile. Der Stein drehte sich in seiner Hand, Runde um Runde. Schließlich begann er, leise und zaghaft, zu sprechen:

„Ich bin ... schon sehr lange in Eraviers Dienst. Länger, als ich der Rebellion geholfen habe, sogar viel länger. Ich ging nicht zur Rebellion, um gegen ihn zu arbeiten, ich wollte lediglich etwas Gutes tun. Aber recht bald verlangten sie von mir, dass ich mich entscheide. Dass ich meine Loyalität unter Beweis stelle, indem ich Eravier hintergehe. Ich verstand die Notwendigkeit nicht, und ich wehrte mich dagegen.

Ich weiß, was du jetzt denkst. Du fragst dich, warum ich ihn verteidigen sollte. Warum ich es immer noch tue. Aber damals war er ganz anders, als er jetzt ist. Und ich wollte unsere gute Beziehung nicht aufs Spiel setzen.“

Valion nickte. Etwas in der Art hatte er erwartet. Das erklärte nur zu gut, warum Tarn eine Sonderstellung zukam. Selbst ein Monster wie Eravier hatte also Vertraute. Oder hatte sie zumindest einmal gehabt.

„Ihr wart Freunde?“, fragte er. Ein undeutbarer Ausdruck huschte über Tarns Gesicht. Aber dann nickte er, mit einem traurigen Lächeln.

„Sehr gute. Vielleicht war ich naiv, aber ich wollte ihn beschützen, um jeden Preis. Ich weigerte mich, ihn ans Messer zu liefern, selbst wenn ich ihm über die Jahre wohl trotzdem beträchtlich geschadet habe. Aber das war nicht genug. Es ging bergab mit dem gegenseitigen Vertrauen zwischen der Rebellion und mir, und über die Jahre wurde es schlimmer.

Ich weiß nicht warum, aber all die Jahre haben sie mich nie ganz aufgegeben. Und sie zogen mich dazu, als es um dich ging, vermutlich, weil sie wussten, wie nützlich ich dir sein kann.

Aber dann, in dem Moment, in dem du geflohen bist, habe ich einen entscheidenden Fehler gemacht.“

Valions Herz schlug schneller. Jetzt waren sie der Wahrheit nahe; dem Moment, der ihn schon so lange verfolgte.

„Du hast uns abgehalten, zu fliehen?“, fragte er, und erwartete, dass Tarn nicken würde. Es eingestehen. 

Stattdessen schüttelte er langsam den Kopf.

„Nein. Ich habe es euch ermöglicht. So lange ich konnte, bis Fourmi mich im Auftrag der Rebellion aufspürte und mich dazu zwang, euch zurückzubringen. Ich hätte sonst mit meinem Leben bezahlt.“

 

Ein Stück von Valions Weltbild brach für ihn zusammen. Er hatte die ganze Zeit die Schuld bei der völlig falschen Person gesucht. Tarn hatte ihm helfen wollen, die ganze Zeit über. Die Rebellion selbst hatte ihn verraten. Hatte Jan verraten. Hatte Tarn dazu gezwungen, ihn zu hintergehen.

„Warum?“, fragte er tonlos, „Warum verdammt noch mal wollten sie mich unbedingt hier haben?“

Tarn seufzte erneut. Er warf den Stein, den er in der Hand gedreht hatte, schwungvoll Richtung Fluss, und er sprang zweimal von der Wasseroberfläche auf, bevor er versank.

„Soweit ich es sagen kann, wollten sie niemals dich persönlich hier haben. Es war nicht geplant, dass du Eravier auffällst, dass er ausgerechnet dich aussucht. Jemand anderes sollte an deiner Stelle seine Aufmerksamkeit erregen und mit ihm kommen. Jemand, der ihn davon ablenken würde, dass er Spione in den eigenen Reihen hat, und dass ein Angriff auf ihn geplant ist. 

Ich hätte dir davon erzählt, aber ich wurde überstimmt. Man kam überein, dass du sicherer wärst, wenn du nicht Bescheid wüsstest. Dass das ein Trugschluss war, haben sie ja am eigenen Leib erfahren. Unwissentlich hast du aufgedeckt, dass du unter dem Schutz der Rebellion stehst, und dass sie Eravier unterwandert haben.

Ich war der Überzeugung, dass es von diesem Moment an kein Zurück mehr gab; dass Eravier zu misstrauisch sein würde, um dich noch bei sich zu behalten. Deshalb glaubte ich, die Flucht wäre das Einzige, was dir bliebe. Die Rebellion war anderer Ansicht.“

 

Valion schwieg, starrte hinaus auf die glitzernden Reflexionen des Wassers und schlang die Arme um die Knie. Plötzlich war ihm kalt, selbst im Sonnenschein. Er war ausgespielt worden, von Anfang an. Und jetzt brauchten sie ihn, und fütterten ihm nur die nötigsten Informationen. Hielten ihn von Tarn fern, weil sie ihn nicht kontrollieren konnten; weil er seinem Gewissen folgte statt nur einem Plan. Schoben Jan und ihn herum wie eine Spielfigur, um zu sehen, wo sie den meisten Nutzen brachten. Und wenn sie Tarn mit dem Leben bedroht hatten, was beinhaltete dann ihr „Abkommen“ mit Anya? Oder mit Jan?

Nicht zu sterben?

„Haben sie dir gesagt, dass du dich von mir fernhalten sollst?“, fragte Valion. Tarn nickte. „Also war es nicht deine Schuld. Dass ich von Jan getrennt wurde. Dass du mich allein gelassen hast. Dass ich immer noch hier bin.“ 

Doch zu seiner Überraschung widersprach Tarn ihm. „So gern ich das sagen würde, das wäre zu einfach. Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt, obwohl ich wusste, welche Rolle du zu spielen hast. Ich hätte dir von Anfang an nichts vorenthalten sollen. Und auch wenn Fourmi mir gedroht hat: Ich hätte mich eher mit dir aussprechen können. 

Letztendlich haben wir wohl alle Fehler gemacht. Die Rebellen sind nicht grundschlecht. Sie haben getan, was sie konnten, um dich zu schützen. Und sie hatten recht, was Eravier betraf: Du bist hier sicherer, als du es auf der Flucht vor ihm gewesen wärst. Ich wünschte, ihre Methoden wären weniger radikal, aber sie haben dich und Jan gerettet.“

Valion glaubte nicht, was er da hörte. „Warum verteidigst du sie noch?!“, spie er, „Sie wollten dich töten! Sie sind so skrupellos wie Eravier!“ 

„Weil ich ihnen dafür zu ähnlich bin. Ich habe Fourmi den Arm gebrochen, als er mich angriff; das hätte ich nicht tun müssen. Ich hätte selbst fliehen können, statt meine Sicherheit gegen deine einzutauschen. Und ich habe in Erwägung gezogen, Jan zu erschießen, um dich zu retten. Ich wäre nicht stolz darauf gewesen, aber ich hätte es getan.“

 

Tarn hatte die Worte sehr ruhig ausgesprochen, sehr beherrscht. Und als Valion sich ihm zuwandte, in seinem Gesicht forschte, lag dieselbe Ruhe in seinem Blick. Aber darunter lauerte etwas, das Valion schon lange gesehen hatte, wenn auch nie so deutlich. Bitterkeit. Bedauern. Eine Traurigkeit, die in jeder Faser seines Wesens zu stecken schien. Eine Andeutung von Finsternis, die alles durchdrang.

 

Er ist kein guter Mensch, Val. Ich weiß nicht warum, aber an seinen Händen klebt Blut. Ich sehe es. Was das angeht, ist er nicht besser als Eravier.

 

Jan hatte nicht gelogen, und Valion hatte ihm im tiefsten Inneren geglaubt. Er wusste, dass Tarn die Wahrheit sagte; er wäre dazu imstande gewesen, Jan zu töten. Genauso wie Jan Marceus im Wald getötet hätte, wenn es notwendig gewesen wäre. 

Deshalb wusste er auch, was kommen würde, bevor Tarn weitersprach. Weil er und Jan sich in manchen Dingen erschreckend glichen. Weil sie lieber eine Mauer um sich aufbauten, als andere an sich heranzulassen.

 

Ich weiß nicht einmal, warum du nicht aufspringst und abhaust. Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass du es tust. Ich würde es an deiner Stelle tun.

 

„Ich kann verstehen, wenn du diese Unterhaltung nicht fortführen möchtest“, sagte Tarn. „Denn mittlerweile dürftest du genug wissen, um eine Entscheidung getroffen zu haben.“

Wie sehr sich diese Gespräche glichen. Valion wünschte, Tarn hätte es gewusst. Vielleicht hätte er ihn nicht instinktiv zurückgestoßen, diese Distanz zwischen ihnen aufgebaut. Was er nicht wissen konnte war, dass Valion diese Entscheidung schon einmal getroffen hatte, und dass sie gültig blieb. Wie hätte Valion dem einen vergeben können, und dem anderen nicht? Wie hätte er Jans Taten akzeptieren können, und Tarn von sich weisen? Dazu waren sie sich zu ähnlich.

„Ja, habe ich. Und ich habe mich entschieden, dir weiter zu vertrauen.“ Er hielt Tarns überraschtem Blick stand. „Ich wollte die Wahrheit hören. Jetzt kenne ich sie. Was ich damit anfange, ist meine Sache.“

„Aber-“

„Vielleicht hättest du Jan erschossen, vielleicht auch nicht. Aber es ist nicht passiert. Er lebt. Was mich betrifft, ist das das Einzige, was zählt.“

Tarn öffnete den Mund, wollte widersprechen. Doch dann besann er sich eines Besseren.

„Vermutlich schon“, sagte er stattdessen. Ein schmales Lächeln erschien auf seinem Gesicht, aber es war zweifelnd. „Du bist vertrauensseliger, als gut für dich ist. Ich will nicht sagen, dass das nicht auch etwas Gutes sein kann, aber-“

„Ich weiß gar nicht, wie oft ich das schon gehört habe“, unterbrach Valion ihn. „Aber das ist auch meine Sache.“ 

 

Valion lächelte, und es fühlte sich anders an als sonst. Er selbst fühlte sich anders. Gefasster. Ein Stück erwachsener als zuvor. Er konnte für sich selbst entscheiden, selbst bestimmen, wie es weitergehen würde. Und mehr als alles andere war er froh, dass er sich mit Tarn ausgesprochen hatte. Etwas von dieser Erleichterung sah er auch in Tarns Gesicht. Noch zweifelte er vielleicht an Valions Vertrauen, aber das hatte Zeit.

„Gut, dann lassen wir das hinter uns“, sagte Tarn. „Beginnen wir von Neuen. Nachdem du nun die Wahrheit kennst, was hast du vor?“

„Das, was ich schon vorher vorhatte: Ich will mit den Rebellen reden. Ich will ihre Seite der Geschichte hören. Du sagst, sie sind nicht ganz schlecht. Vielleicht werden wir uns einig.“

„Ein guter Plan. Aber sie werden vermutlich nicht besonders erfreut darüber sein, dass du mich ins Vertrauen gezogen hast.“

Valion zuckte mit den Achseln. „Damit müssen sie zurechtkommen, wenn sie wollen, dass ich ihnen helfe.“

Tarn schmunzelte. „Eigne dir nur nicht zu viel von Anyas Übermut an. Du kannst viel von ihr lernen, aber nicht alles.“

Eine Idee entstand in Valions Kopf. Ein Weg, wie er die Rebellion vielleicht sogar wieder auf Tarns Seite bringen konnte. Oder zumindest eine Allianz schaffen, solange es nötig war. 

„Ich weiß“, sagte er, „Deshalb brauche ich deine Hilfe.“

Das überraschte Tarn sichtlich. „Und wobei?“

„Ich muss lernen, mich zu verteidigen. Wenn ich das nächste Mal ein Messer in der Hand habe, will ich nicht noch jemand aus Versehen verletzen. Ich will kämpfen können, wenn es sein muss, statt nur wegzulaufen. Anya kann mir dabei nicht weiterhelfen.“

Tarn sah nachdenklich aus, aber er nickte. „Eigentlich keine schlechte Idee. Selbst wenn dir im entscheidenden Moment keine Waffe in die Hände fällt, könntest du dich vermutlich besser gegen einen bewaffneten Angreifer verteidigen. Aber dir ist klar, dass wir damit ein großes Risiko eingehen? Du darfst nicht mit einer Waffe gesehen werden, und Eravier darf nie erfahren, dass du dich so zur Wehr setzen kannst. Er hält dich immer noch für harmlos. Wüsste er, dass du ihm gefährlich werden könntest, würdest du bis zur Hauptstadt keinen Finger mehr rühren können.“

 

Etwas kränkte Valion an der Vorstellung, dass Eravier ihn für ungefährlich hielt. Das war absurd, weil es ihm eigentlich zu Pass kam, aber vermutlich hatte Eravier nicht einmal unrecht. Valion hatte in letzter Zeit mitgespielt, sich wenig gewehrt. Es wurde Zeit, dass sich das änderte; nicht so, wie Jan es angegangen war, mit einem frontalen Angriff. Und auch nicht so, wie Anya vorging, mit zähneknirschender Zusammenarbeit. Sondern mit heimlichem Widerstand.

„Ich werde vorsichtig sein“, versprach Valion. „Heißt das, wir haben eine Abmachung?“

Er hob die Hand, hielt sie Tarn entgegen. Aber Tarn antwortete eine Weile nicht, sah ihn nur an. 

 

Womöglich durchschaute er Valions Plan. Vielleicht war er sich nicht sicher, worauf er sich einließ. Oder er versuchte immer noch, Distanz zu halten; keine Freundschaft zuzulassen, egal, wie zaghaft sie war.

Sklaven sind Tabu.

Hatte Jefrem ihm das ebenso eingeschärft wie Marceus? Wahrscheinlich. Das wäre seine Art gewesen. Aber Tarn unterschied sich von den anderen Knechten. Valion hätte nicht den Finger darauf legen können, wieso. Aber er war anders, und deshalb brauchte Valion seine Unterstützung besonders.

Schließlich ergriff Tarn Valions Hand. Valion hatte erwartet, dass er kräftig zupacken würde; ein Handschlag unter Männern, so wie er ihn Marceus gegeben hatte. Stattdessen ergriff er sie sanft. Sie trafen eine Abmachung, aber es war eine andere, als Valion gedacht hatte. Vielleicht das Versprechen, das Tarn ihm gegeben hatte, als sie sich kennengelernt hatten.

Keine Sorge, ich habe ein Auge auf dich.

 

Dann zog Tarn seine Hand zurück und erhob sich. 

„Ich fürchte, wir müssen zurückgehen“, sagte er. „Ich bin nicht sicher, ob man uns vermisst hat, aber wir sollten kein Risiko eingehen.“ Valion nickte und stand selbst auf, streckte sich. Sie hatten lange gesessen, und sein Hintern war mittlerweile kalt und sehr sandig.

„Das mache ich auch nicht noch mal“, murrte er, während er die gefühlte Hälfte der Bucht von seiner Kehrseite und der Rückseite seiner Oberschenkel abbürstete. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Tarn grinste, bevor er sich abwandte und flussaufwärts blickte.

In diesem Moment sah Valion zum zweiten Mal die schwarzen Schemen auf seinem Rücken.

 

„Tarn?“

„Ja?“, antwortete er und wandte sich zu Valion um. Im selben Moment wurde Valion klar, dass Tarn sein Hemd vielleicht nicht grundlos anbehalten hatte. Vielleicht wollte er keine Erklärung abgeben, oder dass jemand einen Blick darauf warf.

„Ist nicht so wichtig“, murmelte er, aber Tarn schien erraten zu haben, was ihn beschäftigte.

„Ah. Ich dachte mir schon, dass dir das aufgefallen sein muss.“ Er griff, ohne zu zögern, nach dem Saum seines Hemdes. 

„Tut mir leid, du musst es mir nicht zeigen, ich war nur neugierig, aber-“, sagte Valion hastig, aber Tarn zuckte nur mit den Schultern.

„Schon gut. Es ist kein Geheimnis. Im Gegenteil: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass du etwas Ähnliches erhältst. Deine Brandmarkung heilt, aber sie ist nicht wirklich deutlich. Vielleicht wird Eravier das korrigieren lassen.“

 

Tarn zog sich das Unterhemd über den Kopf und legte es sorgsam ausgebreitet auf den Boden. Valion konnte den Blick nicht abwenden. Er wusste nicht, was er in diesem Moment fühlen sollte. Tarn war dünn, viel zu dünn. Er war schlank gewesen, als Valion ihn das erste Mal getroffen hatte. Jetzt waren seine Rippenbögen sichtbar, und die Kanten seiner Hüftknochen ragten deutlich hervor. Er sah abgemagert aus, und blass. Valion sorgte sich um ihn, und das passte überhaupt nicht zu seinen Gefühlen der Bewunderung.

Tarn war attraktiv, das konnte man nicht leugnen. Seine Schultern waren breit, aber er war nicht so muskulös wie Mischa, nicht einmal wie Marceus. Er wirkte sehniger, eher beweglich, gewandt. Dunkles, aber glattes Haar zog sich über seinen Bauch, seine Brust hinauf, bis knapp unter die Schlüsselbeine. Seine Haut war selbst jetzt eine Spur dunkler als Valions. Einige verheilte Narben darauf zeigten, dass er schon öfter in Kämpfe geraten sein musste. Auf Höhe des Bauchnabels sah Valion einen großen Bluterguss, der fast verblasst war.

Das alles erfasste Valion in den Sekundenbruchteilen, bevor er sich umdrehte und Valion seinen Rücken zeigte. Doch auch hier war das Erste, was Valion ins Auge fiel, die hervorstehenden Schulter- und Brustwirbel und die spitzen Kanten der Schulterblätter. Er musste sich zwingen, sie auszublenden und sich auf die Tätowierungen zu konzentrieren. Das war es, was Tarn ihm zeigen wollte.

 

Eraviers Brandzeichen stach deutlich hervor, und Valion erkannte erstaunt, dass es nicht nur eingebrannt war: Die Umrisse waren auch in Tarns Haut tätowiert, umgeben von unendlich vielen verworrenen Zierelementen. Linien, Punkte, Spiralen. Sie schienen sich quer über seinen Rücken aufzubäumen wie eine Welle. Valion glaubte, die Silhouetten von Pferden darin erkennen zu können. Aber sie verschwammen immer wieder vor seinen Augen, wenn er sich auf ein einzelnes fokussieren wollte; das Gewirr war einfach zu abstrakt. 

 

Valion erhob sich, trat näher heran, um die Muster zu studieren, und hielt plötzlich inne. Ihm war etwas ins Auge gefallen, dass sich direkt unter den schwarzen Linien verbarg. Die Tätowierung hob Eraviers Brandzeichen hervor, aber sie verbarg auch etwas anderes, das nur von Nahem sichtbar war: die narbigen, groben, wie hinein gefetzten Umrisse eines anderen Buchstabens. Ohne nachzudenken hob Valion die Hand, fuhr sie mit dem Finger nach.

 

K.

 

Karvash. Valion war sich seltsam sicher, und verstand doch nicht, welche Schlüsse er daraus ziehen sollte. Tarn war Sklave unter jemand anderem gewesen, bevor er zu Eraviers Besitz geworden war. Eravier hatte versucht, die Spuren dieser Vergangenheit zu tilgen. Warum?

Ich wollte ihn beschützen. Um jeden Preis.

Im selben Moment wandte sich Tarn um, ergriff seine Hand und hielt sie fest. Nicht grob, aber unnachgiebig.

„Nicht“, sagte er schlicht. Valion blickte zu ihm auf, und einen Moment lang sahen sie sich direkt in die Augen. Tarns Augen waren braun, und sie blickten seltsam traurig. Woran erinnerte ihn das? Er hatte irgendetwas vergessen, etwas Wichtiges. Eine Erinnerung, derer er nicht mehr habhaft werden konnte.

Er wollte sich entschuldigen, aber Tarn lächelte nur. „Schon gut.“ Er ließ ihn los, bückte sich nach seinem Hemd und zog es sich wieder an. „Wollen wir gehen?“, fragte er, und Valion nickte. 

Seltsamerweise schien es ihm, dass er einen wichtigen Moment hatte vorbei ziehen lassen.

Dass Anya auf ihn gewartet hatte, fiel Valion erst ein, als er und Tarn zu den Knechten zurückkehrten. Anscheinend war aber auch niemand aufgefallen, dass sie eine Weile weg gewesen waren; irgendetwas anderes beanspruchte gerade die Aufmerksamkeit der Männer. 

Die Knechte hatten sich am Ufer des Flusses im Kreis versammelt und starrten fasziniert auf einen Punkt in ihrer Mitte. In Anbetracht der Tatsache, dass Valion Anya mit einem Haufen Männer allein gelassen hatte, gingen ihm seltsame Gedanken durch den Kopf. Was er schließlich sah, als er sich nach vorn durchgedrängelt hatte, verblüffte ihn jedoch auf andere Art.

 

Im Zentrum des Kreises saßen Jefrem und Anya, zwischen ihnen ein großer, flacher Stein, der ihnen als Tisch diente. Sie konzentrierten sich beide auf die Karten in ihren Händen, und einige davon hatten sie bereits abgelegt. 

Jefrem zog gerade eine weitere Karte, dann lachte er triumphierend auf. „Das kannst du nicht schlagen!“, rief er, in einem Tonfall, der von absoluter Sicherheit kündete, und schmetterte seine Karten auf den improvisierten Tisch. Irgendwo in der Menge sog jemand ehrfürchtig die Luft ein. Anya sah auf sein Blatt hinab, dann auf ihr eigenes und seufzte abgrundtief. Mehrere Männer in ihrem Rücken schüttelten ebenfalls den Kopf. Aussichtslos.

„Du hast völlig recht“, antwortete sie und legte ihre Karten offen, und einige Knechte nickten wissend. Sofort begann eine Diskussion über die Partie, getroffene Wetten wurden ausgewertet. Jemand fluchte laut darüber, dass Jefrem nicht so hoch gewonnen hatte, wie er es prophezeit hatte. 

Anya wiederum lehnte sich zurück und lächelte nachgiebig, ganz die duldsame Verliererin. „Du beherrschst dieses Spiel eindeutig besser als ich.“

„Man kann nicht in allen Disziplinen glänzen“, sagte Jefrem und sammelte die Karten sorgfältig wieder ein, um sie in einer kleinen ledernen Tasche zu verstauen. „Bestimmt gibt es auch einige Gebiete, in denen du unschlagbar bist.“

„Einige behaupten, ich kenne mich ganz gut mit Männern aus.“ Anya zwinkerte ihm zu.

„Tut mir leid, Herrin, aber was das angeht, bin ich dir ebenfalls voraus!“, erwiderte Jefrem, und die Knechte lachten dröhnend darüber.

 

Die gute Stimmung wurde jäh unterbrochen, als sich jemand durch die Menge drängelte und genau auf Jefrem und Anya zu hielt. Es war Danilo, und er sah besorgt aus. 

„Wir haben Besuch“, sagte er und deutete hinter sich. Seiner angespannten Miene nach zu urteilen war es kein willkommener. Es gab keinen, der sich nicht in die gezeigte Richtung umwandte, und gemeinsam blickten sie den Hang hinauf.

Auf halber Strecke zum Lager schien eine kleine Schar Männer zu stehen, Wächter, und wenn Valion es richtig sah, auch ein paar Diener. Und neben ihnen, unübersehbar durch das blonde Haar und die edle Kleidung, Eravier. Anya hatte wie immer recht behalten: Er war gekommen, um sie zu überprüfen.

Zwei seiner Wachen hatten sich gerade von der Gruppe gelöst, und sie waren eindeutig auf dem Weg zum Flussufer.

„Ich schätze, die sind wegen euch hier“, sagte Jefrem leise zu Anya, und obwohl er gefasst wirkte, war auch seine gute Laune verflogen.

„Das denke ich auch. Es wird das Beste sein, wenn wir uns jetzt verabschieden.“

Sie sah sich um, erspähte Valion und winkte ihn zu sich. 

 

Valion seufzte und wandte sich schweren Herzens Tarn zu. Der schien zu verstehen, was in ihm vorging, denn er lächelte und legte Valion kurz eine Hand auf die Schulter.

„Keine Sorge, ich werde nicht weit sein. Immerhin haben wir eine Abmachung.“ 

Das allein genügte, dass Valion sich nicht mehr ganz so schwermütig fühlte.

„Danke für heute. Für alles.“

Valion winkte Marceus noch einmal aus der Ferne zu und stieß dann zu Anya. „Meinetwegen können wir los.“

„Sehr schön“, erwiderte sie. Doch statt voranzugehen, wandte sie sich noch einmal Jefrem zu. Sie beugte sich zu ihm hinüber und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Danke für den Nachmittag. Ich habe ihn sehr genossen.“ 

Valion hätte schwören können, dass sich Jefrems Wangen tatsächlich ein wenig röteten, und irgendein Spaßvogel ließ es sich nicht nehmen, zu pfeifen. „Das Vergnügen war ganz meinerseits“, brummte er leicht verlegen, und mehrere Männer grinsten. „Nun macht euch aber davon.“

 

„Wenn dieser Mann nur zu haben wäre!“, murmelte Anya, als sie außer Hörweite der Knechte waren und den Wachen entgegengingen.

„Meinst du das ernst?“, fragte Valion zweifelnd. Er mochte Jefrem, aus mehreren Gründen, aber in Anyas sonstiges Beuteschema passte er eigentlich nicht. Selbst als Anführer der Knechte konnte er nicht viel besitzen, und eine so imposante Erscheinung wie Guy war er auch nicht.

Anya schnaubte nur amüsiert. „Natürlich, warum auch nicht? Aber mich wundert nicht, dass du davon keine Ahnung hast, in deinem Alter war für mich auch jeder über 25 ein alter Mann.“

Valion verbiss sich den Protest, weil er sinnlos gewesen wäre. Hätte er gesagt, dass er sie oder Tarn überhaupt nicht alt fand, hätte sie ihn eben damit aufgezogen. „Klär mich eben auf“, sagte er stattdessen. „Ich soll ja schließlich von dir lernen, oder?“

„Na schön, wenn du darauf bestehst: Ältere Männer sind in der Regel geschickter, was die Liebe betrifft. Sie können warten, und sie wissen, was sie wollen. Und wenn jemand weiß, was er will“, sagte sie und zwinkerte Valion zu, „dann ist es Jefrem.“

Das ergab erstaunlich viel Sinn. Trotzdem konnte sich Valion nicht verkneifen, zu erwidern: „In dem Fall aber wohl nicht dich.“

Anya griff ihm wieder einmal ins Haar und verwuschelte es zu einem Vogelnest. „Reibe mir nur Salz in meine Wunde!“, sagte sie, nur gespielt beleidigt.

„Du wirst es verkraften. Du hast ja-“

 

Du hast ja noch die anderen. Die müssten dir doch genügen.

 

Valion verschluckte sich an seinen Worten. Hatte er wirklich dasselbe sagen wollen wie Nisha damals? Obwohl es ihn so tief getroffen hatte?

„Alles in Ordnung?“, fragte Anya, verwundert über sein plötzliches Schweigen. Und in diesem Moment wollte er ihr alles erzählen.

 

Doch dann hatten die Wächter sie erreicht, und der richtige Moment war schon wieder verstrichen. Die Männer waren in Eile und nicht in der Stimmung, irgendwelche Privatgespräche abzuwarten. Einer hielt schon eine Kette und Handfesseln bereit, griff grob nach Anyas Armen und legte sie ihr an, so wie man einen Hund an die Leine legte. Valion hob gottergeben die Hände, bereit für dieselbe Behandlung, aber der andere Wächter schüttelte den Kopf. 

„Du nicht, du wirst erwartet. Mach dich besser gleich auf den Weg.“ Er deutete weiter den Hang hinauf, in Eraviers Richtung.

„Wozu werde ich denn-“, wollte Valion erwidern, und verstummte ungläubig.

 

Was wäre typischer gewesen für Eravier, als etwas Derartiges zu tun? Er hatte, in Sichtweite seiner Knechte, eine Decke auf dem weichen Gras ausbreiten lassen. Dort saß er, trank Wein und hielt ein Picknick, umstellt von Wachen und umsorgt von nicht weniger als drei Bediensteten. Ein vornehmer Beobachtungsposten, um seinen Untergebenen begreiflich zu machen, dass er sie nicht aus den Augen ließ.

„Ich soll allein gehen?“, fragte Valion, und der Wächter nickte.  

„Geh schon, du kommst auch ohne mich zurecht“, sagte Anya sanft, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Und denk daran: Lächeln.“

 

Valion bemühte sich, Haltung zu wahren, während er den Hang weiter hinauf stieg, auf Eravier und seine Begleitung zu. Ganz gelang es ihm nicht, und er wünschte, Anya wäre bei ihm gewesen. Sie hatten sich derartig lange nicht voneinander getrennt, dass sie ihm ganz plötzlich fehlte. Und ohne sie vor Eravier zu stehen? Valions Herz zog sich bei dem Gedanken zusammen.

Was würde ihn jetzt erwarten? Ein Verhör? Oder Schlimmeres?

 

Doch je näher er herankam, desto mehr gewann er den Eindruck, dass Eravier in ungewöhnlich guter Stimmung war. Seine Erscheinung war noch eindrucksvoller als sonst, beinahe königlich. Sein Haar war sorgfältig zurück frisiert und im Nacken zusammen gebunden. Gekleidet war er in sanftes Grün, das in der orangefarbenen Nachmittagssonne beinahe weiß wirkte. Weiße Handschuhe und ein Spazierstock, den er beiseitegelegt hatte, vervollständigten das Bild des wohlhabenden Gastes einer Gartenparty. Er trank in absoluter Ruhe seinen Wein und beobachtete Valions Ankunft völlig unverhohlen.

 

Selbst, als Valion unentschlossen kurz vor ihm zum Stehen kam, setzte er seine Musterung fort. Valion hatte sich schon fast daran gewöhnt, nackt herum zu laufen. Aber jetzt fühlte er sich noch unwohler als zuerst vor Levin. Eravier schien etwas an ihm zu suchen oder zu erwarten. Valion wusste nicht, was das sein sollte, und je länger Eravier es nicht fand, desto nervöser wurde er. Er fühlte sich wie ein Kaninchen vor der Schlange. 

 

Schließlich schien Eravier seine Musterung abgeschlossen zu haben. 

„Sehr schön, du hast deinen kleinen Ausflug also wohlbehalten überstanden“, sagte er. „Jetzt lass dich ankleiden, und dann setz dich. Es sei denn, du ziehst es vor, nackt zu essen.“

Valion schüttelte hastig den Kopf, was Eravier köstlich zu amüsieren schien. Er gab zwei der Diener einen Wink, und einer der beiden trat mit einem Eimer und einem Lappen vor, der andere mit einem Bündel Stoff in den Händen. 

„Das sind aber nicht meine Sachen.“ Die Worte waren Valion heraus gerutscht, bevor er sie zurückhalten konnte, doch Eravier lächelte nur spöttisch.

„Ich habe während meiner Besorgungen auch einige Erwerbungen für dich getätigt. Ein Ensemble, das deiner Erscheinung etwas mehr Stil verleihen sollte. Und jetzt verschwende nicht unser beider Zeit.“

 

Valion nickte nur unbehaglich und sparte sich jeden Protest. Er wurde noch einmal gewaschen und abgetrocknet. Danach half man ihm in seine Kleidung, obwohl es ihm eher vorkam, als würde er hinein gestopft. Die Diener waren grob, und ihnen war kein Lächeln abzuringen. Valion vergab ihnen, weil sie vermutlich den ganzen Tag mit Eravier verbracht hatten.

 

Zuerst merkte Valion nicht viel davon, dass seine Kleidung angeblich für ihn ausgesucht war: Seine Unterwäsche war jedenfalls nichts Besonderes. Aber das Hemd, das er danach gereicht bekam, war sehr weich und glatt. Es passte ihm genau, und einen Moment lang war dieser Umstand Valion fast unheimlich. Dann erinnerte er sich daran, dass Diener seine Maße genommen hatten, ganz am Anfang seiner Reise. Es musste in Windeseile geändert worden sein. Auch der Rest der neuen Kleidung, die ihm hastig übergeworfen wurde, saß wie eine zweite Haut.

Als Letztes half man ihm in seine Jacke, die in einem satten, dunklen Blauton gehalten war, und einer der Diener hätte ihn beinahe noch gekämmt. Valion zog ihm sein Werkzeug rechtzeitig aus der Hand. 

„Das schaffe ich gerade noch selbst.“

Der Mann sah hilfesuchend zu Eravier, aber der nickte nur, zum Zeichen, dass es Valion gestattet war. Erleichtert kämmte Valion sein Haar selbst glatt und genoss, dass man ihn endlich in Frieden ließ. Nach der langen Zeit ohne Kleidung fühlte er sich eingeengt und warm, und sein nasses Haar trieb ihm nur noch mehr den Schweiß auf die Stirn. 

 

Zu allem Überfluss war das noch nicht das Ende seiner Tortur. Eravier wies Valion mit einer Handgeste an, sich neben ihn zu setzen. Valion gehorchte, aber er hielt so viel Abstand, wie er sich getraute, ohne Eravier ganz offensichtlich zu meiden.

Wenigstens konnte er jetzt in Augenschein nehmen, was die Diener zubereitet hatten. Kalter Braten, kleine Kuchen, ein großes Stück Käse, liebevoll drapierte Birnenspalten, die Auswahl war reichlich und drehte ihm vor Hunger den Magen um. Dann gab es allerdings noch andere Gebäckstücke, die er nicht identifizieren konnte, die aber mit Fleisch gefüllt zu sein schienen. Dazu einige Dreiecke aus hellem Teig, die er endlich als Brot identifizierte, als er verstand, dass jemand die Krusten abgeschnitten hatte. Das kam Valion beinahe barbarisch vor. Etwas Grünes ragte zwischen den Brotscheiben hervor, das nach Kresse aussah. Eine Flasche mit dunkelrotem Wein rundete das Festmahl ab.

 

Es gab nur ein Problem an der ganzen Sache: Valion sah nirgendwo Besteck. Wozu zum Teufel hatte er die Reihenfolge von Messern, Gabeln und Löffeln gelernt, wenn es jetzt, in der vornehmsten Gesellschaft, in die er jemals geraten war, nichts davon gab? Das einzige Besteckteil in Sichtweite war ein kleines Messer neben dem Stück Käse. Sollte er die Hände benutzen? Oder wäre das unangebracht gewesen? Gab es eine Reihenfolge, die er einhalten musste?

Eravier bemerkte Valions Zögern. „Du darfst dich bedienen“, sagte er und griff nach dem kleinen Messer. Valions Herz machte einen Satz, und reflexhaft wollte er Eraviers Handgelenk packen. Mühsam beherrschte er sich, verkrallte seine Finger stattdessen in die Decke unter sich und sah dabei zu, wie Eravier ein Stück Käse abschnitt.

„Hier, koste das. Ich habe mir sagen lassen, er wäre in dieser Gegend ganz ausgezeichnet.“

Fordernd hielt er Valion das Stück entgegen. Der wusste im ersten Moment nicht einmal, wie er reagieren sollte. Erwartete Eravier ernsthaft-?

„Na los, Mund auf“, kommandierte er. Ja, er meinte es ernst; er wollte Valion damit füttern.

Vergiss es, dachte Valion. Aber hatte es irgendeinen Sinn, sich ihm zu widersetzen? Ihn am Ende zu kränken? Resignierend beugte Valion sich vor und ließ sich den Bissen direkt in den Mund schieben, wie ein kleines Kind. 

„Brav. Nun, ist er nach deinem Geschmack?“ Eravier lächelte zufrieden, und dazu hatte er wohl auch allen Grund. Sein Sklave hatte ein weiteres Kunststück für ihn aufgeführt, wie ein dressierter Hund. 

 

Valion begann zu kauen, weil es von ihm erwartet wurde, aber zugegebenermaßen schmeckte es sehr gut. Würzig, nicht zu trocken, genau das, was er gerade brauchte. 

„Mh-hm“, nuschelte er zustimmend durch seinen Mund voll Käse hindurch, und hätte sich gern den Rest im Ganzen einverleibt, davon abgebissen wie von einem reifen Apfel. Wie lange hatte er nichts mehr gegessen? Zu lange, sagte sein Magen ihm, und knurrte prompt so laut, dass er erschrocken zusammen fuhr.

„Verzeihung.“

Eravier lachte tatsächlich auf.

„Du musst dich nicht entschuldigen. Du hast das Mittagessen verpasst, nicht wahr? Mir erging es nicht besser.“

„Die Besorgungen?“, fragte Valion zaghaft. Eravier nickte, griff nach einer Birnenspalte und aß sie in zwei Bissen auf.

„Ich musste mich durch mühselige Verhandlungen quälen mit einem besseren Bauern, der glaubte, der Bürgermeister eines Kuhdorfs zu sein gäbe ihm Autorität. Dubois ist sein Name, und er ist ein Holzkopf.“

„Nomen est omen, schätze ich“, antwortete Valion; den Spruch hatte er bei seiner Mutter aufgeschnappt. Dann griff er aufs Geratewohl nach einem der dreieckigen belegten Brote, in der Hoffnung, dass Eravier keine weitere Konversation von ihm erwarten würde, wenn er den Mund voll hatte.

 

„Präzise“, erwiderte Eravier. Aus den Augenwinkeln sah Valion, dass er schmunzelte, aber auch er gab die Unterhaltung zugunsten eines belegten Brotes auf. Eine Weile lang aßen sie schweigend, jeder mit seinen Gedanken allein. Valion nahm sich auch einen Becher mit Wein, weil sein Mund trocken wurde, aber er trank ihn langsam. Nichts wäre schlimmer gewesen, als ausgerechnet vor Eravier betrunken zu werden. Trotzdem spürte er angenehme Schwere und Müdigkeit, und als er satt war, lehnte er sich nur zurück und sah schläfrig über die grünen Hänge hinweg. Ein friedlicher Anblick, der ihn fast seine Gesellschaft vergessen ließ.

 

Eravier aß langsamer als er, und er sprach dem Wein mehr zu. Allerdings schien er deutlich mehr davon zu vertragen; er blieb wachsam, zeigte kein Anzeichen von Rausch. Als die erste Flasche leer war, ließ er sich, ohne zu zögern, eine zweite bringen.

Nachdem er sein spätes Mittagessen mit einem letzten Stück Käse gekrönt hatte, fragte er: „Du hast deine Mahlzeit beendet?“

Valion nickte, und Eravier gab den Dienern einen Wink. Sie beeilten sich, die Reste des Essens zusammen zu raffen, und verschwanden ohne ein weiteres Wort in Richtung des Lagers. Valion und Eravier blieben allein mit den Wachen zurück.

Eravier beachtete sie gar nicht weiter, streifte sich die Handschuhe ab und legte sie beiseite. Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte er sich dann zurück, streckte sich auf dem Rücken aus, faltete die Hände unter dem Kopf und schloss die Augen.

 

Valion blieb unschlüssig sitzen, auch wenn er sich gern hingelegt hätte. Die Versuchung war groß, denn Eravier hatte ihn die ganze Zeit über in Frieden gelassen, war beinahe umgänglich gewesen.

Unwillkürlich wanderte Valions Blick zu ihm. Er sah friedlich aus, wie er da lag. Eine Brise spielte mit Strähnen seines Haars, und das erste Mal, seit Valion ihn kannte, schien er tatsächlich ruhig, gelöst. Ein schmales Lächeln lag auf seinen Lippen, das weder spöttisch noch grausam war.

In diesem Moment erschien er Valion seltsam fremd. Wie ein anderer Mensch. Einer, der nicht jeden von sich fernhielt, der Vertraute haben mochte. Dessen Gesellschaft vielleicht jemand suchen würde.

Damals war er ganz anders, als er jetzt ist. Wir waren gute Freunde.

Er verstand Tarn, und seine eigene, nachgiebige Seite hätte ihm zu gern eingeredet, dass Eravier vielleicht nicht so schlecht war, wie er dachte. Aber sie gewann nicht die Oberhand, diesmal nicht. Etwas an dieser ganzen Situation war faul. Bis jetzt war jede Sekunde, die Valion in Eraviers Gegenwart verbracht hatte, bedrohlich gewesen. Doch jetzt, mit einem Mal, war dieses Gefühl verschwunden, und gerade dadurch wurde Valion bewusst, wie allgegenwärtig es gewesen war. Das ließ ihm keine Ruhe.

Warum wog Eravier ihn jetzt in Sicherheit? Was wollte er?

Eravier ist vernarrt in dich.

Valion schauderte bei der Erinnerung an Anyas Worte. 

 

Mitten hinein in seine Grübeleien öffnete Eravier die Augen, und Valion schrak zusammen. Er hatte Eravier abwesend angestarrt, und verlegen wandte er den Blick ab. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Eravier wieder lächelte, aber etwas an diesem Lächeln war falsch. 

„Ah, wo bleiben meine Manieren?“, sagte er und richtete sich auf, strich sich die Haare aus der Stirn. „Du willst dich nach deinem anstrengenden Tag sicher auch ausruhen. Komm.“ Und er wies Valion mit einer Handgeste an, seinen Kopf auf seinen Schoß zu legen.

 

Valions Gesicht fror ein, und diesmal konnte er nicht verhindern, dass Eravier es sah. Was sollte das? Wollte er sehen, wie weit er es treiben konnte, bevor Valion sich wehrte?

Ja, es musste etwas in der Art sein. Jeder andere Gedanke war zu widerlich, um ihn zu Ende zu denken.

„Danke, aber ich bin nicht-“, versuchte Valion abzuwiegeln, doch Eravier ließ ihn nicht ausreden.

„Ich bestehe darauf“, sagte er, und das genügte. Er drohte nicht, aber das musste er nicht; der Tonfall dieser drei Worte sagte Valion genug. Er konnte seinen Kopf auf Eraviers Schoß betten, oder er konnte mit den Konsequenzen leben.

 

Valions ganzer Körper verkrampfte sich, aber er zwang sich dazu, sich auf den Boden sinken zu lassen, hin zu Eravier. Vorsichtig, mit hämmerndem Herzen, legte er seinen Kopf auf Eraviers Oberschenkel, und drehte sich dann auf den Rücken. Er wollte eigentlich nicht zu ihm aufsehen, aber er würde auch nicht riskieren, einen seiner Arme unbrauchbar zu machen.

Eravier lächelte hämisch auf ihn herab.

„Warum so schüchtern? Entspann dich. Schließ die Augen.“

So sterbe ich also, dachte Valion säuerlich, und er fühlte dasselbe Zucken in den Mundwinkeln, das so charakteristisch für Anya war. Er verstand sie in diesem Moment sehr gut; wenn er nicht über die Situation gelacht hätte, dann hätte er vermutlich geschrien. Aber er schloss pflichtschuldig die Augen und konzentrierte all seine Aufmerksamkeit auf die Geräusche und Bewegungen um ihn.

 

Ein lauer Wind rauschte, und die Sonne auf seinem Gesicht war warm. In der Ferne hörte er immer noch Gesprächsfetzen der Männer am Flußufer. Dann und wann Vogelrufe, und wenn er sich konzentrierte, Eraviers Atem, der ruhig und gleichmäßig war. Zumindest das war Valion ein Trost. Was auch immer Eravier vorhatte, er war gelassen. Er legte eine Hand an Valions Schläfe, strich sein Haar zurück, und dann mit langsamen, regelmäßigen Bewegungen darüber. Die Berührung war angenehm, aber Valion wusste nicht, wie er sich dabei entspannen sollte. Er rechnete jede Sekunde damit, dass Eraviers Hand vorschnellen, ihn an der Kehle packen würde.

 

Unvermittelt begann Eravier ein Gespräch.

„Du hast dich in letzter Zeit sehr darum bemüht, mir zu gefallen.“

Valion war viel zu überrascht, um eine gute Antwort darauf zu geben.

„Äh- ja?“, stotterte er und verfluchte sich im selben Moment dafür. Fiel ihm nichts Schlagfertigeres ein, oder wenigstens ein ganzer Satz? „Ich meine: Wie kommst du darauf, Herr?“

„Du hast dein Erscheinungsbild deutlich verbessert. Und du eignest dir in beeindruckender Geschwindigkeit neues Wissen an. Wie ich höre, lernst du jetzt Schreiben und Lesen. Und heute hast du dich redlich bemüht, deine Scham zu überwinden. Ich würde sagen: mit nicht unerheblichem Erfolg. 

Ehrlich gesagt war ich zuerst ein wenig besorgt.“

„Ja, Herr?“, fragte Valion möglichst neutral. Er verstand nicht, worauf Eravier hinaus wollte.

„Du schienst deinen Kampfgeist verloren zu haben“, antwortete er. Seine Hand glitt jetzt über Valions Gesicht, seine Wange hinunter, zog die Linie seines Kinns nach. „Ich vermisste den jungen Mann, dem ich fast das Schlüsselbein zertreten musste, damit er mit mir kommt. Du bist so farblos herum geschlichen. Du erschienst mir beinahe eingeschüchtert.“

 

Valion verbiss sich einen Kommentar, obwohl ihm in diesem Moment das Bild seiner Mutter vor Augen stand; ihr blutüberströmtes Gesicht, die gebrochene Nase. Der Tag, an dem er gefangen genommen worden war, schien ihm unendlich fern, aber dieses Bild war ihm sehr nah. Seine Mutter hatte Kampfgeist bewiesen, und Eravier war er zuwider gewesen. Warum heuchelte er Bewunderung?

„Jetzt allerdings“, fuhr Eravier fort, „scheint es mir, dass du ein wenig zu übermütig geworden bist. Vielleicht hast du dir ein wenig zu viel von dieser alten Hure abgeschaut. Oder von anderen, noch unwürdigeren Spielkameraden.“

„Ich-“ Valion wollte antworten, doch in diesem Moment bohrte sich etwas Spitzes in seinen Hals, und er zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen und riss die Augen auf. Eraviers andere Hand packte seine Schulter und drückte ihn eisern nach unten, sodass er sich nicht aufrappeln konnte, obwohl er sich im nächsten Moment mit all seiner Kraft gegen ihn stemmte. Valions Herz raste, er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. Entsetzt starrte er hinauf zu Eravier, der tödlich amüsiert auf ihn herab blickte, und dann zu der Glasscherbe, deren Reflexionen er schemenhaft ausmachen konnte, und deren scharfe Kanten sich in seinen Hals bohrten. Spiegelglas ... er hätte es ahnen können.

 

„Shhh. Man fällt seinem Herren nicht ins Wort“, sagte er und grinste. „Daran sieht man, dass du noch viel lernen musst. Und jetzt hör mir gut zu. Ich habe dir einige Freiheiten gegeben, und dir deinen Spaß mit dem niederen Gesindel gelassen. Ich habe sogar deinen kleinen Ausflug erlaubt, obwohl diese alte, verbrauchte Hure mich darum gebeten hat. Aber zum Spaß deinen Platz verlassen, meinen engsten Vertrauten nach mir auszufragen ... du nimmst dir ein wenig zu viel heraus.“

„Ich- ich h-habe nicht-“, stammelte Valion angestrengt, aber Eravier drückte die Scherbe nur tiefer in seinen Hals, und er verstummte hastig.

„Glaub mir, ich habe meine Quellen. Du bist Tarn schnurstracks in die Arme gelaufen, hast selbst deinen kleinen Freund für ihn links liegen lassen. Und versuch nicht, mir einzureden, dass das deiner Ausbildung diente; unter ihm gelegen hast du ja offensichtlich nicht.“

Zwei Dinge wurden Valion in diesem Moment klar.

Dass irgendeiner der Knechte für Eravier spionierte; jemand, den nicht einmal Tarn verdächtigte. Er hatte nicht nur alles beobachtet, er hatte auch fetzenweise ihre Unterhaltung aufgeschnappt.

Und er verstand endlich, was Eravier an ihm gesucht hatte: einen Hinweis darauf, dass er mit Tarn geschlafen hatte.

Warum?

Er fand keine Antwort darauf. Was kümmerte es ihn?

 

Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Eravier hielt in seinem Monolog nicht inne. „Ich hätte dir diese Scherze durchgehen lassen; was ist schon ein wenig Geplauder unter Freunden? Aber um deinen Willen zu bekommen hast du ja ein wenig Vorarbeit geleistet, nicht wahr? Du hast dich dabei nicht sehr nobel verhalten. Einen Wachmann einzuschüchtern, ihm einen Schnitt beizubringen ... diese Art von Spielen wirst du in Zukunft unterlassen.“

Valion wusste im ersten Moment nicht einmal, wovon er sprach, aber dann begriff er.

„Levin?“, fragte er irritiert, und Eravier hob eine Braue.

„Das ist sein Name. Warum-“ Irritiert hielt er inne, und Valion konnte es ihm nicht verdenken. Aber er konnte sich genauso wenig das irre Lachen verkneifen, das aus seinem Mund quoll. Er lachte und lachte, weil es so absurd war.

Levin. Dieser elende Feigling.

„Hat er das wirklich gesagt?“, fragte er erstickt, als er sich ein wenig beruhigt hatte, „Dass ich ihn geschnitten habe?“

„Ja. Aber es scheint, als müsste ich mir eine zweite Meinung einholen“, antwortete Eravier ruhig. Die Erkenntnis, dass er belogen worden war, hatte seine Stimmung gewandelt. Er war unheimlich ruhig, und Valion ahnte, dass er unter seiner gefassten Fassade raste. Allerdings kümmerte es ihn gerade herzlich wenig; das Ziel seines Zorns war schließlich nur Levin. Sollte der sehen, was er davon hatte.

„Ich nehme an, wenn ich Guy danach frage, wird er mir bestätigen, dass du Levin nicht angerührt hast?“

Valion hätte fast zugestimmt, aber das hätte bedeutet, dass er gelogen hätte. Und wozu hätte er das tun sollen? Er hatte nichts falsch gemacht. Er dachte an Levins eingeschüchterte Miene, wie er davon gelaufen war, und er konnte nicht verhindern, dass sich ein hämisches Lächeln auf sein Gesicht legte.

„Nein, würde er nicht. Ich bin ihm zu nahe gekommen. Aber ich habe ihn nicht geschnitten. Das Einzige, was verletzt wurde, war sein Stolz“, sagte er, und fügte grimmig hinzu: „Er hatte es verdient.“

Eravier war bei seinen Worten hellhörig geworden, und jetzt lächelte er wieder, beinahe amüsiert.

„Hatte er das? Sollte ich die Geschichte hinter eurer kleinen Fehde kennen?“

Valion fühlte sich ertappt, wandte den Blick ab. Das Letzte, was er wollte, war Eravier davon zu erzählen.

„Es gibt keine. Er hat versucht, mich einzuschüchtern. Mich verspottet. Also habe ich es ihm zurückgezahlt.“

Doch Eraviers Hand legte sich sanft an sein Kinn und zwang ihn zurück in seine vorherige Position. Er sah auf Valion hinab, wohlwollend, mit einem Lächeln, das beinahe freundlich war. Und Valion sah zu ihm auf, weil er keine andere Wahl hatte.

„Wozu?“, fragte er milde.

Valion überlegte einen Moment lang.

„Damit er sich nur einen Moment lang genau so klein und schwach fühlt, wie ich mich gefühlt habe.“ Der Hass in seiner eigenen Stimme beunruhigte ihn; er war ihm fremd. Aber er kam auch nicht dagegen an. Er hatte Levin verletzen wollen, und er wollte ihn immer noch verletzen. 

Eraviers Lächeln vertiefte sich nur. Er sah liebevoll auf Valion hinab, strich wieder über sein Haar.

„So einschüchternd. So wild. Das ist der Blick, den ich sehen will. Genau so will ich dich haben.“

Bevor Valion ihn davon abhalten konnte, hatte er sich vorgebeugt, und einen Kuss auf seine Stirn gehaucht. Valion erduldete ihn stumm, denn die Spiegelscherbe bohrte sich immer noch in seinen Hals, als warnende Erinnerung; er hatte sich nicht zu widersetzen. 

Dennoch, trotz allem, fühlte er unwillkommenen Stolz. Er schmeckte bitter, fühlte sich fremd an, aber er war da. Es lag an Eravier; sein Wohlwollen war so rar, so schwer zu erringen, dass es kostbar wirkte. Selbst Valion konnte sich dem nicht entziehen.

 

Im nächsten Moment war der stechende Schmerz an Valions Kehle verschwunden, und Eraviers Hand, die immer noch eisern auf seiner Schulter lag, schob ihn in sitzende Haltung. 

Eravier selbst erhob sich. Anscheinend erklärte er ihre Auseinandersetzung damit für beendet. Die Scherbe, die er in den Händen gehalten hatte, war im nächsten Moment wie durch Zauberhand verschwunden, vielleicht in einer Tasche, vielleicht in seinem Ärmel.

Von einer der Wachen ließ er sich einen grob in Stoff eingeschlagenen Gegenstand aushändigen, der in etwa so groß wie ein Buch war.

„Ich habe ein Geschenk für dich vorbereitet“, sagte er und bedeutete Valion, zu ihm zu kommen. „Da du dich in letzter Zeit so unerwartet gut benommen hast, und sich deine kleine Eskapade als nichtig heraus gestellt hat, bin ich gewillt, es dir jetzt zu überreichen.“ 

Valion gehorchte, aber ihm war jetzt schon klar, dass dieses Geschenk, was auch immer es war, ihm nicht gefallen würde. Er sah es in Eraviers Augen. Währenddessen löste Eravier den groben Stoff des Bündels. Darunter kam ein Gegenstand zum Vorschein, der Valion unheimlich bekannt vorkam. Einen Moment lang betrachtete Eravier ihn selbst, dann reichte er ihn Valion.

„Sieh es als Ansporn, deine Ausbildung voran zu treiben“, sagte er, aber Valion hörte ihm kaum zu. Was er in den Händen hielt, war sein Spiegel. Nicht mehr zerbrochen, sondern mit neuem Spiegelglas versehen. 

 

Tausend Gedanken rasten durch Valions Kopf. Er hatte die letzten Tage nicht nachgesehen, ob der Spiegel noch an seinem Platz lag; das war ein Fehler gewesen. Aber was bedeutete das? 

Dass Eravier Bescheid wusste, und das vermutlich schon sehr lange. Dass selbst die Dinge, von denen er geglaubt hatte, sie seien ein Geheimnis, ihm offen lagen.

Valion fuhr mit dem Finger die Schnitzereien des Rahmens nach, die sanft geglättet worden waren, vielleicht geölt oder gewachst. Sie wirkten dunkler, noch schöner als zuvor. Aber nicht so schön wie das Bild, das sich ihm im Spiegel zeigte, und das war vielleicht beängstigender als alles andere.

Er erkannte sich nicht wieder. Das sorgfältig frisierte Haar, das nur ein wenig zerzaust war. Das elegante Hemd, die dunkle Jacke. Alles war ihm fremd. Besonders aber sein Blick. Er war seltsam intensiv, herausfordernd; dahinter lauerte etwas, das ihm nicht gefiel. Etwas, das ihn zu sehr an Eravier erinnerte. 

 

Eravier riss ihn nicht aus seiner Betrachtung, aber er trat hinter Valion, legte eine Hand auf seine Brust. In der Reflexion des Spiegels sah Valion, dass Eravier sich ihm zuneigte, sein Mund direkt neben Valions Ohr.

„Du weißt, was ich dir damit sagen will, nicht wahr?“, fragte er leise, und Valion konnte nur stumm nicken. „Ja, du weißt es, und ich weiß es. Sieh dich vor, Valion. Ich sehe jeden deiner Schritte. Und wenn du neue Freunde suchst statt deiner alten ... ich könnte dir sehr vieles verzeihen. 

Mein Angebot ist nach wie vor gültig. Folge mir, und ich werde dich unsterblich machen. Du hast alles dazu, was du brauchst. Außer die Entschlossenheit, dein Schicksal in die Hand zu nehmen. Und wer sonst, wenn nicht ich, kann dir deine Wünsche erfüllen? Deine Sicherheit garantieren?“

 

Seine Worte waren ruhig und sanft vorgetragen, aber Valion entging die Drohung in ihnen nicht. Einen Moment lang fragte er sich, ob er auf Eravier eingehen sollte, zum Schein. Andeuten, dass er etwas wusste, nur um zu sehen, ob Eravier ihm im Gegenzug etwas verraten würde. Vielleicht konnte er herausfinden, wie weit sein Wissen wirklich reichte.

Aber wenn Eravier mehr gewusst hätte, hätte er seine Karten dann nicht anders gespielt? Wozu dann die Finte, die Andeutungen? Nein, er konnte nicht Bescheid wissen. Er ahnte vielleicht, dass Valion mit der Rebellion verbunden war, aber er hatte keine Beweise. 

Der Gedanke gab Valion neuen Mut. Eravier spekulierte darauf, dass er nervös wurde, dass er sich verriet. Valion wusste nicht, ob er gut genug war, Eravier wirklich zu täuschen. Aber er musste es zumindest versuchen. 

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Herr“, sagte er, und Eraviers Abbild im Spiegel grinste wölfisch.

„Natürlich nicht. Aber eines Tages wirst du vielleicht an meine Worte zurückdenken.“

 

Damit ließ er Valion los, und gab den Wachen erneut einen Wink. Einer nahm Valion den Spiegel ab, der andere näherte sich ihm mit Fesseln. Valion hob ergeben die Hände; die Aussicht, Ketten zu tragen, war in diesem Moment fast erleichternd. Er würde von Eravier wegkommen, endlich. Es kam ihm wie Stunden vor, dass er in diesen Albtraum hinein gestolpert war.

 

Doch bevor Valion abgeführt wurde, hielt Eravier ihn ein letztes Mal auf.

„Warte. Sieh mich an“, sagte er, und trat an Valion heran. Sorgfältig richtete er seinen Hemdkragen und die Schultern seiner Jacke. 

Er erinnerte Valion dabei unheimlich an Anya; konzentriert, auf Formen bedacht, und sehr akribisch. Genau wie Anya strich er zum Abschluss noch einmal über Valions Schultern, trat einen Schritt zurück, nickte dann.

„Sehr schön. Geh nun. Und vergiss nicht: Ich erwarte von dir nur das Beste.“

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Kapitel: 28
Sätze: 16.385
Wörter: 251.576
Zeichen: 1.460.708

Kurzbeschreibung

Die Welt ist tief gespalten - in die Wehr- und Mittellosen, und jene, die sich das Elend zu nutze machen. Als Eravier, ein skrupelloser Menschenhändler, den Bauernsohn Valion in den Sklavenstand zwingt, nimmt er ihm alles: seine Familie, seine Freunde, sein Zuhause. Hilfe erhält er unerwartet von der Rebellion, die im Geheimen plant, die Welt neu zu ordnen… und Feuer mit Feuer zu bekämpfen ❖ MxM ❖  FxF ❖ MxF ❖ Erotik/Abenteuer/Fantasy

Kategorisierung

Diese Story wird neben Abenteuer auch in den Genres Drama, Entwicklung und Erotik gelistet.