Storys > Romane > Abenteuer > Sing me to sleep

Sing me to sleep

222
4
29.10.17 23:48
16 Ab 16 Jahren
Workaholic

Damals begann es klein und unscheinbar.

Es fing alles damit an, dass ich einige Wochen nach der letzten Prüfung unseres Abiturs nachts in meine Schule eingebrochen bin. 

Meine Lehrer fanden die Aktion wohl eindrucksvoll, denn am nächsten Morgen stand eine ganze Division der Kriminalpolizei auf dem Schulhof. Sogar in der Tageszeitung wurde davon berichtet, dass ein Unbekannter sich in den Serverraum des Gymnasiums geschlichen und das interne Netzwerk gehackt hatte. 

Meine Mitschüler hingegen haben den Spaß nicht so ganz verstanden, immerhin mussten wir die gesamte Prüfungsreihe nachholen und mit anderen, gleichwertigen Aufgaben noch einmal ablegen, nachdem ich sämtliche Auswertungsdaten unbrauchbar gemacht hatte. 

Für mich war es okay, ich hatte mir tatsächlich noch genügend Zeit verschafft, um mich zumindest körperlich darauf vorzubereiten, mehrere Vormittage lang mehrere Stunden am Stück kognitiv leistungsfähig zu sein. Dass andere hingegen nur ungern noch einmal dasselbe flaue Gefühl im Magen, dieselben zittrigen Nerven und schweißnassen Finger haben wollten, war mir zugegeben nicht egal gewesen.

Um ehrlich zu sein, war genau das Grund dafür gewesen, warum ich die Überwachungskameras der Stadt lahmgelegt und sämtliche Prüfungsergebnisse digital vaporisiert hatte. Es war kein schlechter Scherz oder groß angelegter Streich gewesen.

Es war der Höhepunkt meines Rachefeldzugs nach fünf Jahren Mobbing.

Ich meine, ich war nie ein beliebter Schüler gewesen. Aber nachdem ich die siebte Klasse wiederholen musste, wurde ich in meine persönliche Hölle gesteckt. Die Details diesbezüglich möchte ich euch ersparen, aber wer immer schon einmal Mobbing in irgendeiner Form erlebt hat, wird wissen, wovon ich spreche.

Und um zu feiern, dass ich all diese Menschen nie wiedersehen musste, wollte ich ihnen noch mit auf den Weg geben, dass niemand den unscheinbaren Computerfreak unterschätzen sollte.

Ich bin kein Niemand. Zumindest nicht mehr.

Ich bin ABYSS.

Ich bin einer der meistgesuchten Cyber-Terroristen der Welt. Und das ist meine Geschichte...
 

Mittlerweile bin ich aus solchen Aktionen ganz von allein heraus gewachsen.

Immerhin bin ich kein frisch gebackener Abiturient in der Spätpubertät mehr, sondern fast dreißig. Was allerdings auch wiederum kein Beweis für den geistigen Reifezustand sein sollte, immerhin werden sich manche von euch fragen, wie ich mit fast dreißig immer noch keinen festen Job, keine Frau an meiner Seite und nicht einmal eine eigene Wohnung haben kann.

Ich will es mal so sagen: Jeder hat andere Ziele im Leben. Und für meine wären eine Festanstellung mit Steuernummer, eine neugierige Freundin und eine immer gleich bleibende Adresse eher unpraktisch.

Zwar sehe ich mich nicht als Held, aber eines habe ich mit vielen von eben jenen gemeinsam: Ich bin ein Einzelgänger, ein Heimatloser und ich bin unsichtbar. Zumindest für das System, alles andere wäre auch fatal. Natürlich kann ich morgens auf die Straße gehen und mir meine Brötchen vom Backwaren-Discounter holen, ohne verhaftet zu werden.

Immerhin ist diese äußere Hülle, mein Körper, nicht das, was die Geheimdienste suchen. Niemand kennt meinen Namen, niemand weiß wie ich aussehe. Sie kennen mich nicht, sie suchen nicht den Mann mit dem ausgewaschenen Kapuzenpulli und den durchgelatschten Sneakers.

Sie wollen nicht mich. Sie wollen ABYSS. Und dieser Name hat kein Gesicht.

Ich bin anonym in der realen Welt, also kann ich ohne weitere Probleme in den Supermarkt gehen und mir eine Pepsi light kaufen, ohne dass jemand schreiend mit dem Finger auf mich zeigt und hysterisch die Polizei ruft.

Meistens zumindest.

Heute komme ich tatsächlich in diesen Genuss, von einem kleinen Mädchen angestarrt zu werden, das schockiert den Finger nach mir ausstreckt und mit angsterfüllter Stimme nach ihrer Mutter schreit:

"Mama! Mama! Da ist der Schwarze Mann!"

Die Mutter kommt tatsächlich hektisch angelaufen, aber statt die Polizei zu rufen, greift sie nach der Hand des Kindes und zieht es weiter. Zischend murmelt sie etwas wie:

"Sowas sagt man nicht. Lass den Mann in Ruhe, er kann auch nichts dafür. Komm jetzt!"

Mit einem Schulterzucken ringe ich mir ein Lächeln ab und schnappe mir die letzte Literflasche Pepsi light aus dem Regal. Die größeren Flaschen sind mir zu unhandlich und außerdem ist die Kohlensäure weg, wenn man etwa bei der Hälfte ist.

Manche Dinge ändern sich eben nicht.

Und auch wenn Berlin heutzutage die höchste Ausländerquote in ganz Deutschland und außerdem auch seit der ersten diesbezüglichen Zählung hat, ist Fremdenhass noch immer ein Begriff, der aus dem Alltag nicht wegzudenken ist. Es interessiert auch niemanden, dass ich in Berlin geboren bin, dass sogar meine Urgroßmutter mitten in Kreuzberg auf die Welt kam.

Solche Sachen sehen kleine Mädchen nicht. Kinder sehen nur meine Hautfarbe und wiederholen die Einstellung, die ihnen von den Eltern zuhause eingetrichtert wird. Und so wie alle Menschen automatisch im Ernstfall auf den in ihrem Kopf am meisten präsenten Stereotyp zurückgreifen, sind alle Ausländer heutzutage eben kriminell und alle Dunkelhäutigen logischerweise Ausländer.

Wem sonst würde man die kriminelle Energie denn auch so eindeutig ansehen? Es ist gut, ein Feindbild zu haben. Es stärkt den Gruppenzusammenhalt und das Wir-Gefühl, wenn man auf der anderen Seite steht. Manche Dinge bleiben eben gleich, egal ob wir das Jahr 1933 oder das Jahr 2033 schreiben.

Ich gehe mit meiner heldenhaft erbeuteten Flasche zur Kasse und bezahle wie jeder normale Mensch die Summe aus den Herstellungskosten und den horrenden Qualitätssteuern, die mittlerweile für sämtliche Lebensmittel verlangt werden. Mir geht es besser als vielen anderen, dafür bin ich dankbar. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir jederzeit von jedem beliebigen Konto auf der Welt selbst ein bisschen Geld überweisen, um mir meine Pepsi light leisten zu können.

Als Robin Hood unter den Hackern wähle ich dabei natürlich Konten aus, die korrupten Politikern und Führungskräften von riesigen Konzernen gehören. Diese Publicity kann man sich in meinem Bekanntheitsgrad nicht nehmen lassen.

Vor dem Supermarkt an der Eisdiele treffe ich das Mädchen wieder.

Die Mutter will ihr kein Eis kaufen, die Kleine heult und tobt. Ich bin kein Held. Ich bin ich und ich handle nach meinen eigenen Werten. Ich kaufe mir vor ihren Augen ein großes Softeis mit Schokosoße und lächle das Mädchen freundlich an. Sie schluchzt bitterlich. Die Mutter ist vollkommen entsetzt, als ich zu den beiden laufe und der Kleinen das Eis in die Hand drücke.

Das Mädchen trumphiert und ihre Augen leuchten. Die Mutter wirft mir einen Blick zu, der unter anderen Umständen vielleicht hätte töten können.

Es sind nicht die Kinder, die Angst vor Fremden haben. Es sind die Erwachsenen, die den Hass und die Verständnislosigkeit an die nächste Generation weitergeben. Ich nehme von den Wohlhabenden und gebe es den Bedürftigen. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich mir das zufriedene Grinsen verkneifen, als die Mutter mir ein erzwungenes "Danke" entgegenzischt und das Mädchen schnell von mir wegzieht.

Ich als kleiner Pimpf hätte gern mal ein Eis bekommen. Vielleicht kommen so meine Werte zustande. Immerhin sollte jeder etwas haben, woran er glaubt und woran er festhält. Ansonsten wäre das ganze Leben eher unnötig.

Vermutlich bin ich kein ehrenhafter Samariter. Vielleicht habe ich dem Mädchen auch das Eis geschenkt, um der Mutter eins auszuwischen. Möglicherweise sollte man solche alltäglichen Dinge nicht so kritisch hinterfragen, sondern mal einen Gedanken an die Dinge verschwenden, die jeder für selbstverständlich hinnimmt. Denn nur so kann ein System entstehen, in dem die Menschen schon vor dir selbst wissen, wer du bist und was du tun wirst

Und vielleicht ist genau das der springende Punkt.

Ich will mich nicht einem Algorithmus beugen, der meine Chancen im Leben ausrechnet und mir sagt, was ich zu tun habe. Nennt mich altmodisch, aber irgendwie habe ich das Bedürfnis, mich selbst zu verwirklichen. Und während ich die Pepsiflasche neben der Brötchentüte und meinem alten Netbook in meinem Rucksack verstaue, laufe ich die Straße entlang und summe die Melodie von Indiana Jones.

Der Tag ist noch jung und es gibt viel zu tun. Die Welt wartet nur darauf, von mir gerettet zu werden.

Ich schiebe meine Brille wieder ordentlich auf meine Nase und ziehe die Kapuze tiefer ins Gesicht. Eigentlich führe ich zwei Leben gleichzeitig.

Ja, ich bin ABYSS. Der gefürchtete Kriminelle, der die Cyberwelt in Angst und Schrecken versetzt.

Aber ich bin auch Dominik Bauer, ein ganz normaler Typ, der eventuell dein Nachbar sein könnte. Der Kerl, der dir die Einkufstüten in den vierten Stock trägt und dir sagt, wie schön das Wetter heute ist. 

Und wenn du aus dem Fenster schaust, wo es gerade in Strömen regnet, dann ist er verschwunden und vielleicht siehst du ihn nie wieder.

Wer weiß, ob du ihm nicht vielleicht doch noch mal irgendwann über den Weg laufen wirst.
 

Herzlich Willkommen in meiner Welt.
Einer Welt, die irgendwie auch deine sein könnte, auch wenn du es dir noch nicht vorstellen kannst.
Diese Welt ist zwar nicht mehr genau, wie sie einmal war - so viel habe ich durch den Geschichtsunterricht in der Schule und eigene Recherchen bereits herausgefunden - aber im Grunde sind doch viele Dinge gleich geblieben.
Während ich auf meinem Weg durch unterschiedliche Straßen und verwinkelte Seitengasse laufe, versinke ich wie immer in mehr oder minder trübsinnige, aber doch noch ein hoffnungsvolles bisschen zynische Gedanken. Es ist doch ganz nett hier, wenn man sich zurechtfindet. Und während ich durch die Autoabgase kaum Luft bekomme und mir deswegen mein Halstuch vor den Mund ziehe, muss ich doch wieder meine In-Ear-Kopfhörer in die Ohren stöpseln, um nicht durchzudrehen.
Musik kann heutzutage jeder machen, ich persönlich bevorzuge doch noch die alten Sachen, bei denen die Menschen noch schwitzend auf der Bühne standen und in engen stinkenden Studios auf ihre Schlagzeuge eingeprügelt und die Saiten der elektrischen Gitarre gequält haben. Beinahe Oldschool oder so. Aber wenn ich mich umschaue, dann sieht es doch eigentlich noch so aus wie in den Filmen von vor etwa fünfzig Jahren.
Gewalt an jeder Ecke, Ungerechtigkeit innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsschichten, viel Müll und Dreck in den Städten und immer dieser Lärm. Sirenen, Martinshorn, hupende Autos und schreiende Menschen. Lautsprecherdurchsagen am Bahnsteig, bitte lassen Sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt und das Rauchen ist nur in den dafür gekennzeichneten Raucherbereichen zulässig.
Irgendwann wird es gekennzeichnete Bereiche für jede Art von Menschen geben und wenn man über die gelbe Linie am Boden tritt, wird man verhaftet. Als würde der Rauch nicht über diese aufgezeichnete Grenze treten und am Ende ist es auch nur die Gnade der Obrigkeit, dass es überhaupt einen solchen Bereich mit Aschenbecher in der Mitte noch gibt. Man könnte ja auch einfach gleich alle Raucher verhaften, schließlich fügen sie nicht nur sich selbst, sondern auch sämtlichen Menschen in ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.
Rauchen kann nicht mehr tödlich sein. Rauchen ist tödlich. Und trotzdem haben noch längst nicht alle Menschen aufgehört damit.
Ich meine, ich rauche nicht, soviel steht fest. Aber nicht wegen den erschreckenden Werbespots oder den albernen Bildern auf der Packung. Ich finde lediglich nichts daran, aber manchmal fühle ich doch eine gewisse Verbundenheit mit den Menschen, die mit ihren Zigaretten und E-Zigaretten draußen vor den Lokalen stehen und sich im Winter dumm und dämlich frieren.
Damit es eine Mehrheit gibt, muss es auch Ausnahmen und die dadurch entstehende Minderheit geben. Wären die Armen nicht arm, wären die Reichen nicht reich und umgekehrt. Aber niemand ist dankbar, eigentlich ist doch eh alles selbstverständlich. Ich würde gern sagen, dass meine Heimat Berlin mittlerweile zu einer Stadt der Superlative geworden ist, aber das wäre schlichtweg gelogen.
Stattdessen gibt es hier nichts als Komparative. Besser. Größer. Schneller. Enger. Lauter. Heller. Voller. Hektischer. Mehr. 
Niemand gibt sich mit weniger zufrieden und auch wenn man nicht auf das Beste hoffen kann, so soll doch alles zumindest besser sein als das der anderen. Egal wovon man spricht und auch wenn ich mich an keinem anderen Ort auf dieser Welt lieber aufhalten würde, so hasse ich doch diese dreckige Stadt, deren mühevoll durch billige Arbeitskräfte sauber gehaltene Straßen auch nicht mehr über ihr Image hinwegtäuschen können.
Aber wer gibt sich heutzutage noch mit den analogen Wegen zum Erfolg ab? Wer überhaupt schickt seine Kinder noch auf den Spielplatz oder in den Park, wo es doch von Verbrechern und Kriminalität nur so wimmelt? Niemand lässt die Jugendlichen überhaupt noch allein mit der U-Bahn zur Schule fahren. Eigentlich hat doch sowieso jeder anständige Mensch ein eigenes Auto mit integriertem Navigationssystem, sodass es unmöglich ist, sich zu verfahren.
Das hier ist die Zukunft. Die Autos fahren zum Großteil ganz von selbst, man muss nur das Ziel eingeben, schon wird die Route berechnet. Was vor Jahren noch kühne Träume der Wissenschaftler und Investoren waren, ist heute schon langweilig geworden. Die Realität ist langweilig geworden.
Die virtuelle Welt bestimmt den Alltag. Kinder werden quasi schon kurz nach ihrer Geburt mit dem neusten technischen Schnickschnack ausgestattet. Suchmaschinen wissen die Antwort auf deine Fragen schon, bevor du sie stellst. Riesige Cyber-Konzerne haben mehr Einfluss auf die Politik als deine Wahlstimme es je gehabt hat. Sowieso, wen willst du wählen, wenn sowieso jede sogenannte Partei mit den anderen unter einer Decke steckt? Ist eh nur noch Show, eine Freakshow sondergleichen.
Mein Weg führt mich zu den Gleisen eines stillgelegten Bahnhofs. Weit und breit gibt es nur heruntergekommene, leerstehende Häuser mit eingeschlagenen und verbarrikadierten Fenstern. Man sagt sogar, dass sich dort zum Teil die Anarchisten eingenistet haben sollen. Mir ist es egal, ich steige über das Gestrüpp, das vielleicht das letzte Zeichen von lebendigen Pflanzen außerhalb der Parks und extra angelegten Grünflächen ist. Dorniges Unkraut, aber es strahlt mehr Lebenswillen aus als sämtliche in Form geschnittenen Buchsbäume in den Gärten der Reichen.
Es bohrt seine Triebe durch den Asphalt, stößt zarte Knospen durch die Betondecke und umrankt die eiseren Schienen einer vergangenen Zeit. Und irgendwie wiederholt sich die Geschichte doch nur immer und immer wieder. Brot und Spiele?
Brot gibt es kaum noch, nur billige Kartoffelchips mit Geschmacksverstärker und jeder Menge Fett und Salz. Spiele hingegen gibt es zu Genüge. So ausgeprägt, dass viele Menschen gar nicht mehr zwischen Spiel und Ernst unterscheiden können. Und das müssen sie auch nicht, denn die Industrie nimmt sowieso jede Entschiedung großzügig ab. Du bist kein Mensch mehr, du bist eigentlich nur eine winzige Komponente eines großen Ganzen, das irgendwie von selbst funktioniert, obwohl nur die Reichen und Mächtigen die Fäden ziehen.
Privatsphäre wurde längst abgeschafft. Überwachungskameras sind auch dort, wo man sie nicht einmal sehen kann. Und wenn du Gebrauch von der Technik machst, die mittlerweile wirklich jedem schon zu einfachsten Konditionen und billigsten Preisen zur Verfügung steht, spielst du damit genau den Strippenziehern in die Hände. Es gibt keinen einfacheren Weg, mehr über dich herauszufinden, als über deine Gewohnheiten am Smartphone oder Computer. Alle persönlichen Daten werden gespeichert und ausgewertet, dein digitaler Fingerabdruck gehört nicht mehr dir selbst. Du bist keine Person mehr, du bist eine Ansammlung von den dir zugeordneten Daten.
Und natürlich hält ein solches System dich für einen Verbrecher, wenn du nicht nach den Regeln spielst. Du wirst als Krimineller gesucht, wenn du noch Werte hast und versuchst, diese gültig zu machen. 
Wenn du in der immer skurriler werdenden Realität nichts reißen kannst, dann wirst du eben Hacker. Schaffts dir deine eigenen Regeln, kannst hinter dir sauber machen, wo auch immer du aus Versehen irgendwelche Daten hinterlassen würdest. Mir ist es wichtiger, dass niemand in mein System reinkommt, als dass ich in irgendjemandes System einbrechen kann. Das war der ausschlaggebende Grund für mich, meine Leidenschaft und nicht zuletzt auch meine Begabung zu Beruf und Lebensziel zu machen.
Ich kann mich nur schützen, wenn ich meine Spuren verwische. Ich kann nur überleben, wenn ich unsichtbar bleibe.
Und auch wenn die Überwachungskameras einen vermummten Typen aufzeichnen, der über die Gleise geht und schließlich an einer verlassenen U-Bahn-Station die Treppen runtersteigt, wird das auf keinem Monitor der Stadtwerke angezeigt werden. Das hier ist unser Sperrgebiet. Eine Grauzone, in die sich nicht einmal mehr die Polizei wagt. Dabei gibt es kein Wir, es gibt nur eine Ansammlung von Individuen, die diese Station zum Niemandsland erklärt hat, in dem es keinen Krieg und keine Feinde gibt.
Keinen Frieden, soweit will ich nicht gehen. Aber zumindest einen Waffenstillstand unter denen, die sich trotz ihrer augenscheinlich sogar extrem ausgeprägten Individualiät am Ende darin ähneln, dass sie nicht gleich sein wollen. Kein Teil des Systems, keine Gruppe. Nur eine Minderheit, die beschlossen hat, zumindest untereinander keinen Krieg mehr zu führen.
Willkommen in meiner Welt. Hier nennt man mich Ratte. Auch hier ist sich jeder selbst der Nächste.
Und wenn jemand wissen würde, dass ich ABYSS bin, wäre das trotz des Nichtangriffpaktes mein Todesurteil.

Es ist noch nicht einmal ganz Mittag, als ich mein Stammlokal betrete. Es trägt den illustren Namen "Rabbit Hole", vielleicht um an noch immer als Kult gefeierte Märchen von Alice im Wunderland zu erinnern. Da wir uns nach meiner Überwindung mehrerer stillgelegter Rolltreppen abwärts unter Tage befinden, muss die abgefuckte Spelunke nicht einmal abgedunkelt werden. Wahrscheinlich war das für unsere Verhältnisse doch recht geräumige Lokal mal irgendein überteuertes Vierundzwanzigstunden-Geschäft mit Kaffeeautomat, Kühltheke und Backofen gewesen, wie man sie an tatsächlich betriebenen U-Bahn-Stationen noch findet. 
Es interessiert mich nicht besonders, denn jetzt prangt - gut sichtbar mit der ansonsten im Schacht nur spärlich flackernden Beleuchtung, die wir uns vom Stromnetz der Stadtwerke abspeisen - in neonfarbenen Leuchtbuchstaben der stilisierte Schriftzug "Rabbit Hole" neben einem ebenfalls leuchtenden Schild, auf dem ein weißer Hase mit zwei schwarzen X als Augen abgebildet ist.
Ich erinnere mich noch an damals, als das "t" kaputt war und ich jedes Mal mit einem undefinierbaren Grinsen reinmarschiert bin, während ich mir das Prusten verkneifen musste. Allerdings ist das relativ irrelevant, immerhin können sich nur noch die älteren unter uns überhaupt noch an praktizierte Religion erinnern. Nicht dass es verboten wäre, aber in einer Welt wie heute heißt der einzige Gott Google und wenigstens die meisten klassischen Glaubenskriege haben sich in die anders gearteten Fronten von Apple und Microsoft gewandelt.
Außer mir, der immer sehr interessiert in Geschichte gewesen ist, hat es also wohl herzlich wenige Leute interessiert. Mittlerweile funktioniert das "t" auch wieder, von daher also zucke ich mit den Schultern und ziehe mir das Halstuch vom Gesicht, als ich eintrete. Schon nach wenigen Metern im sogenannten Kaninchenbau bereue ich diese Entscheidung. Hier unten gibt es keine Zeit, es ist nicht gerade erst Mittag, man existiert einfach, so wie man zu jeder Zeit existiert. Und das in einer Atmosphäre, die nicht nur nach U-Bahn-Schacht, sondern vor allem nach Zigarettenqualm und in die Luft gepustetem THC riecht.
Die Luft steht hier drin noch mehr als im eigentlichen Schacht und für einen Augenblick frage ich mich, wieso es noch immer die geschlossenen Fenster und all die dicken, einbruchssicheren Wände gibt. Immerhin gibt es auch keine Türsteher - wozu auch, wir sind unter uns - aber vielleicht ist es genau eben jenes Feeling von eingesperrter Luft, die zum Schneiden dick nach ungewaschenem Mensch, heißgelaufener Hardware und wie schon erwähnt verschieden geartetem Rauch stinkt, die den Charme vom Rabbit Hole ausmachen.
Kurz frage ich mich noch, wieso ausnahmsweise mal gute Musik in dem Schuppen läuft. Aber nachdem die blauhaarige Kellnerin an mir vorbeirempelt und mich dabei erstaunlich tonlos anzupampen scheint, fällt mir auf, dass ich immer noch meine Stöpsel in den Ohren habe. 
Ich ziehe meinen makellosen Musikgeschmack aus meinen Gehörgängen und komme sofort in den Genuss des Originalsoundtracks von Need For Speed Underground 2 - oder zumindest mal einem sehr sehr alten und mir eben dadurch bekannten Hip Hop Song aus der damaligen Gangsterszene irgendwo in den USA.
Aber wenn Patty Schicht hat, ist das immer so. Und wenn man es genau nimmt, hat Patty immer Schicht, denn der Laden gehört zu einem Drittel ihrem großen Bruder und der braucht billige Arbeitskräfte, um die Getränke zu verteilen. Immerhin kann es sich hier keiner erlauben, seinen Platz zu verlassen, nur um wahlweise hydriert zu bleiben oder sich selbst mit wie auch immer gerarteten Alkoholika zu dehydrieren.
Die übliche Gesellschaft tagt schweigend und in der Überzahl mit eigenen Kopfhörern ausgestattet an den einzelnen Sitzplätzen an den lieblos zusammengestellten Tischen. Man sieht eigentlich nur die Schatten auf den hell vom eigenen Bildschirm beleuchteten Gesichtern. Um sich miteinander zu unterhalten, wählen nur die allerwenigsten den direkten Weg und wenden sich vom Bildschirm ab.
Nach dem Motto "Don't ask - don't tell" kann hier jeden machen was er will, solange man niemand anderen dabei stört, stört es auch niemanden.
Die dicke Schicht Beton über uns schirmt mithilfe von unserem vereinten Wissen über Störsender und Firewalls alles ab, was von draußen versucht reinzukommen. Natürlich auch sämtliche Signale, die nicht mehrfacht gefiltert und gesichert durch die riesige Empfängerschüssel an der Oberfläche ausdrücklich durchgelassen werden. Wer hier sein Gerät an den Strom anschließt, ist auch automatisch in unserem Netz. Das bedeutet allerdings keine Verknüpfung untereinander, lediglich nur einen Zugriff auf Energie und genügend eingehende und ausgehende Signale, um hier überhaupt arbeiten zu können.
Nicht einmal die CIA kommt hier rein - und wenn, dann kommt sie nicht mehr unbeschadet raus. Das ist kein angeberisches Statement, sondern eigentlich nur der einzige Grund, warum der Kaninchenbau nicht schon längst entweder ausgeräuchert oder gesprengt wurde. Es ist unser Niemandsland. Und auch wenn es Menschen gibt, die vermuten, dass hier derartige Dinge vonstatten gehen, wird das Thema in der Regierung wohl genauso tot geschwiegen wie bei uns untereinander.
Ich lehne mich gedankenverloren an den Tresen und schaue auf Pattys sehr sehr eng schwarzledern umhüllten Hintern, als sie sich nach unten beugt, um eine Flasche Coca Cola aus dem Kühlschrank zu ziehen. 
"Pepsi ist heute leider aus. Und Lightprodukte gibt's immer noch nicht für Leute, die einen ganzen Schokoladenkuchen innerhalb von vier Stunden verdrücken können!", sagt Patty und schaut mich nicht einmal an, während sie das Glas vollschenkt und über die Theke in meine Richtung schiebt.
Ich kann nicht glauben, dass sie das mit dem Kuchen immer noch so gut in Erinnerung behalten hat. Ist immerhin schon über zwei Jahre her, aber wer kann ahnen, dass tatsächlich so wenig interessante Dinge im Rabbit Hole passieren, dass es ein Highlight ist, jemandem dabei zuzuschauen, wie er an nicht einmal einem ganzen Nachmittag allein eine Schokosahnetorte verdrückt.
"Danke trotzdem", ich grinse und zwinkere ihr zu.
Der Kuchen war verdammt lecker gewesen. Mehr habe ich zu meiner Verteidigung nicht zu sagen, ich schaue die Kellnerin nur einfach erwartungsvoll an.
Patty ist das Urgestein dieser Szene. Ich traue mich nicht einmal, ihr Alter nur still für mich zu schätzen, aber beide ihrer dürren Arme sind bis auf den letzten Flecken Haut volltätowiert und sie hat mehr Metall im Gesicht als gesund sein könnte. Dazu machen auch noch die himmelblauen, arschlangen Dreads ziemlich deutlich klar, wieso sie keinen Job an der Erdoberfläche gefunden hat.
Die heutige Gesellschaft ist bezüglich eigenwilliger Erscheinungen nicht gerade aufgeschlossener geworden.
Sie schaut mich unbeeindruckt an und verdreht die Augen. Ich lächle sie geduldig an und nehme einen großen Schluck Coca Cola mit Zucker. Sie scheint abzuwarten und mit jeder Sekunde genervter zu werden.
"Was gibt's, Ratte?", fragt sie mich dann tonlos, "Du stehst doch nicht zur Dekoration so lange bei mir!"
"Nein, ich glaube, dafür bin ich dann doch nicht ästethisch genug", sage ich mit einem breiten Grinsen und rücke spielerisch zwinkernd meine Brille zurecht.
Sie stöhnt entnervt auf und wirft ihre verfilzten Haare zurück. Ich weiß seit über zwei Jahren, dass sie nicht auf dünne Jungs mit schlechtem Sinn für Humor steht und ich somit keinerlei Chancen bei ihr habe. Vielleicht ist es genau dieser Fakt, der es so interessant für mich macht, diese kleinen freundschaftlichen Flirts aufrechtzuerhalten, die sie nicht einmal erwidert.
"Aber gib's zu, du hast schon weitaus Unästhetischeres als mich gesehen!", lege ich noch nach, dann trinke ich noch einen Schluck und komme tatsächlich ein bisschen zur Sache,
"Nein, eigentlich wollte ich dich fragen, ob du was von Luke gehört hast. Ob du weißt, wann der werte Herr denn gedenkt, sich mal wieder auf einen Besuch hier herabzulassen?"
Patty zieht die Stirn kraus und legt den Kopf schief, "Kommt drauf an, wer das wissen möchte. Was willst du von ihm?"
"Whow whow whow!", Ich trete zwei Schritte zurück und hebe lachend die Hände, "Kein Grund für die Löwin, ihren großen Bruder gleich bis auf's Blut verteidigen zu müssen! Ich würde nur mal gern wieder mit ihm plaudern, das ist alles."
Über Pattys Lippen zuckt ein bitteres Lächeln, "Das kannst du der Telekom erzählen. Ich kenne dich, Ratte!"
Ich muss schmunzeln und zucke mit den Schultern. Während ich mein Glas an mich nehme und mich mit einem angedeuteten Knicks an einen der Tische verabschiede, schüttele ich den Kopf und murmele lächelnd vor mich hin,
"Nein", ich schnaube kaum hörbar und eindeutig amüsiert, 
"Nein, Patty. Das tust du nicht."

Wie immer setze ich mich neben Karl. 
Er ist eine recht angenehme Gesellschaft für Rabbit Hole-Verhältnisse, zumindest sieht er kurz vom Bildschirm auf und nickt mir zum Gruß knapp zu, als ich den Stuhl neben ihm nach hinten schiebe und mich mit meiner Coca Cola darauf fallen lasse. Es ist die perfekte Balance zwischen Ignoranz und Aufdringlichkeit, zudem ist es ein unausgesprochenes Gesetz, dass der Platz neben ihm immer frei ist, wenn ich nicht gerade darauf sitze.
Ich weiß nicht einmal wieso. Vielleicht habe ich mir hier doch mehr Respekt erarbeitet, als ich ahne. Vielleicht aber liegt es mehr an dem Respekt, den man Karl entgegenbringt. Niemand hier weiß mehr von ihm als seinen Vornamen und dass er eigentlich fast immer hier herumlungert. Das ist ein Punkt für ihn, denn die meisten hier sind recht neugierig.
Vielleicht könnte ich etwas über ihn in Erfahrung bringen, aber vermutlich tue ich es absichtlich nicht, um ihm auch ein bisschen Respekt zu zollen. Es ist mir auch schlichtweg egal, wer Karl ist und ob Karl überhaupt sein tatsächlicher Name ist. Ich mag ihn recht gerne, also geht es mich nichts an. Und auch sollte ich niemals vergessen, dass ich hier drin weder Dominik Bauer noch ABYSS, sondern einfach nur Ratte bin.
Während ich mein Netbook auspacke und auf Pattys scharfen Blick hin meine Brötchen und meine Pepsi light wieder in den Rucksack stecke, höre ich nur das gleichmäßige Klackern von Karls Laptop, während seine Finger als einziger beweglicher Punkt seines Körpers über die Tasten tanzen. Es ist beinahe erschreckend, in welcher Geschwindigkeit er seine Tastatur in und auswendig kennt.
Noch spannender finde ich allerdings seinen Gesichtsausdruck dabei, der quasi nicht existent ist. Er hat dieses undurchdringliche Pokerface, das ich mir nur wünschen kann. Dasselbe hat er, wenn er seine Hardware abbaut und mit zur Toilette oder mit zur Theke nimmt. Den gleichen Gesichtsausdruck, wenn wir manchmal zu späteren Stunden an der Bar sitzen und ein paar belanglos fachsimpelnde Worte austauschen. 
Und an genau denselben Ausdruck erinnere ich mich auch, als wir vor ein paar Tagen noch in den frühen Morgenstunden auf den Barhockern gesessen sind und uns wirklich sinnlos betrunken haben. Was wir gesprochen haben weiß ich nicht mehr, wie es zustande gekommen ist genausowenig. Ich erinnere mich an nichts außer an sein ausdrucksloses, fast wächsernes Gesicht mit derselben nicht vorhandenen Mimik wie immer.
Natürlich kann ich mich auch täuschen, aber es ist eben das, was ich mit Karl verbinde. Gut möglich, dass er genauso selten trinkt wie ich und deswegen genausowenig verträgt. Aber es wäre auch möglich, dass er mehr weiß als ich und dass genau deswegen seine Augen immer wieder in fast regelmäßigen Abständen über den Rand des Bildschirms huschen, um ungefähr meinen Haaransatz zu mustern.
Ich schlucke und schaue auf den immer noch unangetasteten Startbildschirm meines Netbooks. Die Sitzplätze im Rabbit Hole sind praktischer- und logischerweise so aufgebaut, dass die allermeisten zu einer Wand zeigen, damit einem niemand über die Schulter in den Bildschirm schauen kann. 
Alle anderen Plätze, die übrig bleiben und trotzdem genutzt werden, sind auch nur dann besetzt, wenn die betreffenden Personen gerade einen Actionfilm oder Pornografie anschauen. Andere Filmgenres habe ich noch nicht mitbekommen, aber so etwas ist auch herzlich langweilig und wird nur selten genutzt. Meist auch nur, wenn die anonymen Sitzplätze gerade alle belegt sind.
Das Publikum wechselt. Öfters mal an einem Tag, schleppend auch im Allgemeinen über die Jahre hinweg. Es werden keine Fragen gestellt, wohin manche Leute verschwinden. Manchmal tauchen sie wieder auf, manchmal auch nicht. Karl war schon hier gesessen, als ich das erste Mal einen Fuß ins Rabbit Hole gesetzt habe. Ich habe ihn sicherlich nie gefragt, wie viele Schichtwechsel er schon miterlebt hat, wie viele Menschen er schon kommen und gehen sah.
Vielleicht interessiert mich das auch mehr als die Frage, ob er wirklich Karl heißt und auch mehr als die Frage, die wievielte Dose Red Bull für heute gerade vor ihm steht. Ich habe ihn nie etwas anderes trinken sehen, nicht einmal Kaffee. Ungefähr einmal in zwei Stunden raucht er eine selbstgedrehte Zigarette. Ansonsten starrt er einfach nur auf seinen Bildschirm und tippt in gefühlter Lichtgeschwindigkeit geräuschvoll auf seiner Tastatur.
Manchmal scheint er auf etwas zu warten. Dann trommelt er mit den Fingern auf dem Tisch, als würde er das gleichmäßige Klackern seiner Tasten vermissen.
Ich schaffe es endlich, mich von Karls Existenz loszureißen, um mich dann tatsächlich meiner eigenen Arbeit zu widmen. Hier drin mache ich nichts Ernsthaftes, sicher ist sicher. Man sagt zwar, es gäbe keinen sicheren Ort für jegliche Art von Daten als das Rabbit Hole, aber ich würde meine Hand dafür nicht ins Feuer legen.
Vorsicht ist mein zweiter Vorname. Bevor ich hier auch nur meinen Fingerabdruck zum Entsperren des Bildschirms meines Netbooks nutze, prüfe ich vom Smartphone aus sämtliche Schwachstellen meiner Hardware und mögliche Verbindungslücken, damit auch wirklich nichts passieren kann. Erst dann widme ich mich meinem für hier eingeplanten Tageswerk. Das ist in erster Linie: offizielle Mails checken und nach Wohnungen in einem anderen Stadtteil suchen.
Meine Zeit in der aktuellen Wohnung ist bald schon wieder abgelaufen, ich habe mir selbst ein Limit von sechzig Tagen gesetzt und reize es ungern aus. Die Umzüge sind zwar meist beschwerlich, aber immerhin braucht jeder Mensch die ein oder andere kleine Macke.
Ich stöpsele mir wieder gute Musik in die Ohren und genau in dem Moment, in dem ich dann wirklich mal vollkommen konzentriert bin, blinkt ein Alarm auf. Ein wichtiger Alarm, der mir sagt, dass mit einem der privateren Codes etwas nicht stimmt - das kann nichts Gutes bedeuten. Privat heißt, dass der Rechner zuhause darin involviert ist und das wiederum heißt, dass es um ein Script geht, das von allein weiterläuft wenn ich nicht zuhause bin, was wiederum heißt, dass es eines der größeren Projekte betriff. All das zusammen heißt im Klartext: Kümmere ich mich nicht darum, bin ich zu großer Wahrscheinlichkeit am Arsch!
Aber wie soll ich mich hier drin darum kümmern, wenn ich mir immer noch nur zu neunundneunzig Komma neunneunneun Prozent sicher bin, dass hier niemand zu mir vordringen kann? Ich rücke meine Brille zurecht und warte einige Augenblicke mit angehaltenem Atem.
Ein zweites und ein drittes globales Alarmfeld wird sichtbar und meine Gesichtszüge entgleisen. Brutal knalle ich die Faust auf den Tisch und fluche laut.
So viel zum Thema Pokerface.
Ich habe keine Wahl. Wenn ich mich nicht jetzt um die Sache kümmere, dann habe ich weitaus größere Probleme als die Möglichkeit, dass irgendjemand hier auf meine eigene persönliche Firewall stoßen könnte. An der soll derjenige erst mal vorbeikommen, dann sehen wir weiter. Bisher hat das noch niemand geschafft und wer der erste ist, befindet sich bestimmt nicht in diesem Raum, der langsam um mich herum verschwimmt, als ich entdecke, wo das Problem liegt.
Kein Fehler im Code. Kein technisches Versagen, kein Defekt in irgendeinem Algorithmus. Kein kleines Problemchen, das irgendwann von selbst auftaucht.
Ich habe zu lange gewartet. Jede Millisekunde ist in so einem Fall kostbar und ich habe nichts besseres zu tun gehabt als mir Gedanken über die Kundschaft dieses Salons hier zu machen! Während meine Finger brutal auf die Tastatur einhämmern, wird mir klar, dass ich nichts mehr daran ändern kann. Ich hab's verkackt!
Bevor ich wirklich verstehe, was gerade vor sich geht und wie sehr ich verkackt habe, wird der Bildschirm schwarz und ich starre entgeistert in mein eigenes, sich leicht im ausgeschalteten Display spiegelndes Gesicht. Das Bild, das ich davor noch einige Sekunden lang darauf gesehen habe, hat sich trotz der kurzen Zeit tief in meine Netzhaut eingebrannt. Die Worte, die groß und breit im Eingabefeld standen, hatten sich hingegen in mein Gehirn eingebrannt.


FUKK YOU, ABYSS.
DIZZORDER WAS HERE!

Ich will schreien. Ich will toben. Ich will alles kurz und klein schlagen.
Aber ich bin komplett gelähmt und starre wie vollkommen verblödet auf mein eigenes, verschwommenes Abbild auf meinem Display.
In meinem Kopf rasen die Gedanken und ich versuche, zu überschlagen, wie groß der Schaden sein könnte, was alles passiert sein könnte und wie sehr - auf einer Skala von komplett bis vollkommen - ich jetzt am Arsch bin und wie sehr - auf einer Skala von komplett bis vollkommen - ich es verkackt habe. Und für einen Moment bin ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich an den paar Sekunden Warten gelegen hatte.
Für einige Augenblicke lang zweifle ich an meiner ganzen beschissenen Existenz und warum dieser Fall überhaupt hatte eintreten können. Aber wenn ich eins über diese verfluchte Welt weiß, dann dass Selbstzweifel dich zerfressen und dir alles nehmen, was du jemals warst. Darum denke ich nicht weiter darüber nach, dass ich ein Versager sein könnte, sondern beginne, meine grauen Zellen nach irgendeiner Erinnerung abzusuchen, wann mir der Name DIZZORDER schon einmal über den Weg gelaufen ist.
Nichts. Ich finde nichts. DIZZORDER ist mir fremd. Ein unbeschriebenes Blatt. Ein verschissen unschuldiger Name, der mir nichts sagt, der keinerlei Reputation in der Szene hat und gegen den ich nichts in der Hand habe. Ich weiß nur, dass DIZZORDER ein beschissener Name ist. Dass ich den Typen hasse, dass ich ihn umlegen werde, wenn ich ihn jemals in die Finger bekommen werde. Denn scheißegal, wer DIZZORDER auch sein mag - er hat mich gehackt.
Niemand hackt mich.
Davon abgesehen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist, dass eine virtuelle Intelligenz das schaffen könnte, ist die Wahrscheinlichkeit noch geringer, dass ein menschliches Wesen die nötigen Skills haben könnte, um mir überhaupt auch nur nahe zu kommen. Davon abgesehen:
Niemand hackt mich!
Abgesehen von DIZZORDER, aber für's Protokoll: Niemand hackt mich. 
Zumindest nicht ungestraft. Ehe ich aber noch weiter meinem Groll verfallen kann und meinen Rachefeldzug auch nur in seinen Grundzügen planen könnte, höre ich ein leises klickendes Geräusch und mit einem sanften Aufsummen des Lüfters blitzt es auf meinem Display, ehe es schwarzes Licht ausstrahlt und mein Netbook beginnt, sich wieder hochzufahren.
Entgeistert starre ich in die Richtung meines eben noch dagewesenen verkniffenen Gesichts, dann wische ich mir den Schweiß von der Stirn und schiebe meine Brille zurück in eine ordentliche Position auf meiner Nase. Und während ich prüfend meine Systeme hochzufahren versuche, werde ich immer ungläubiger. Das kann nicht sein. Das kann doch wirklich nichts sein.
Alles in Ordnung. Nichts fehlt meiner Hardware, sämtliche Scripts laufen noch und jeder Code ist noch an Ort und Stelle. Ich schnappe keuchend nach Luft und sinke erschöpft gegen die Lehne des Stuhls. Einen großen Schluck Coca Cola später atme ich wieder tief und ruhig und bin mir sicher:
DIZZORDER ist ein beknackter Hurensohn!
Ich weiß nicht, was er getan hat. Ich weiß nicht, wie er es getan hat. Ich weiß nur, dass dieses kleine Spielchen nicht unbeantwortet bleiben wird.
Wenn es eine Herausforderung gewesen sein soll: Sehr gern! Wenn es eine Warnung war: Von mir aus auch das! 
Eins steht jedoch fest: Das bedeutet Krieg!
Neben mir schnauft Karl geräuschvoll und trommelt unruhig mit den Fingern auf den Tisch. Ich habe ganz vergessen, dass ich nicht alleine bin. Patty wirft mir einen fragenden Blick zu, aber ich weiche aus. Auf Karls Stirn stehen Schweißtropfen. Ein unwahrscheinlicher, aber wirklich gnadenloser Gedanke durchzuckt meinen Kopf, und ich schiebe ihn absichtlich weit weit weg. Ich mag Karl ganz gern. Ich sollte nicht solche Sachen denken. Wahrscheinlich schaut er sich gerade einfach nur Pornografie an. Ich stocke kurz und schließe die Augen, zähle innerlich bis zehn.
Dann beiße ich die Zähne aufeinander und hacke gnadenlos auf meine Tastatur ein, um sämtliche Spuren, die DIZZORDER möglicherweise hinterlassen haben könnte, ausfindig zu machen. Und tatsächlich gibt es winzige Hinweise auf seinen Angriff, bei dem nichts in meinem System zu Schaden gekommen ist, bis auf den Kurzschluss, der mir scheinbar zu denken geben sollte.
Meine Augen rasen hoch und runter, von einer Seite zur anderen, als mein Blick den Inhalt des Protokolls scannt und mir wieder die Luft wegbleibt. Nicht nur von DIZZORDER sind eindeutige und offiziell mit eben jenem Namen unterzeichnete Spuren zu sehen. Eine zweite Person war an diesem Hackerangriff beteiligt.
Eine zweite bis dato unbekannte Person, deren Spuren in meinem System lediglich darin bestehen, dass der Namenlose verhindern konnte, dass DIZZORDER weiteren Schaden angerichtet hat. Ich lese mir das Protokoll mehrere Male durch.
Karls Fuß wippt auf und ab und er ballt seine Hände zu Fäusten, öffnet sie wieder, schließt sie wieder und macht einen ganz und gar verdächtigen Eindruck. Sein Atem geht unregelmäßig und ich versuche noch einmal die Fakten mit meinen Vermutungen zu vergleichen. Person XY, die wohl mein Schutzengel in diesem Moment gewesen ist, hat schlimmeres verhindert und auch keinerlei Änderungen an meinem System vorgenommen.
Weitere Nachprüfungen ergeben, dass Person XY nicht einmal in die Innereien meiner Arbeit vorgedrungen ist, sondern von relativer Entfernung dieser Kackbratze namens DIZZORDER die Leviten gelesen hat. Warum auch immer die beiden ihren Streit in meinem System austragen müssen, ich bin mir nicht ganz sicher, dass ich nur zufällig die Plattform habe spielen dürfen.
Dafür - und das sage ich nicht, um mich besonders zu profilieren - bin ich eindeutig zu bekannt. Und dafür stand auch mein Name viel zu deutlich in der kleinen Message, die mir DIZZORDER hinterlassen hat. Wer auch immer DIZZORDER ist, das scheint mir gerade eher unwichtig. Ich habe nicht nur einen neuen Erzfeind. Ich habe auch einen unbekannten Schutzengel, der mir nichts als seine momentane IP hinterlassen hat.
Und mit den augenscheinlichen Fähigkeiten, die der Engel haben muss, um überhaupt dieses Werk hat vollbringen zu können, bin ich mir zu neunundneunzig Komma Periode neun Prozent sicher, dass das kein Versehen war.
Verärgert knalle ich die Hand auf den Tisch und Patty ruft mir ein hysterisches "Jetzt reicht's, Mann!" zu, aber ich ignoriere sie.
Ich packe meine Sachen zusammen, in den Rucksack, kippe mir beim Aufstehen fast die Coca Cola samt der Unmengen von enthaltenem Zucker über die Hose und baue mich mit vor der Brust verschränkten Armen vor Karl auf.
"Du- Ich- Raus. Jetzt!", ist alles, was ich schnaufend herausbringe und Karls Mimik zuckt sogar kurz, ehe das Pokerface wieder in Kraft tritt. Er nickt knapp und wischt sich den Schweiß von der Stirn, ehe er langsam und akribisch seine Sachen packt. Ich schnaube.
"Jetzt!", wiederhole ich, aber Karl lässt sich nicht beirren.
Kurze Zeit - gefühlt aber eine halbe Ewigkeit - später, stehen wir im Hinterhof des Rabbit Hole und rauchen jeder eine von Karls selbstgedrehten Zigaretten. Ich huste und halte mir die Brust. Ich hasse Zigaretten.
"Das war knapp", sagt Karl.
Ich nicke nur.
Wir schweigen und rauchen und ich huste. Dann gebe ich auf und trete den Rest der Kippe auf sem Boden aus.
Karl nippt an seiner Red Bull Dose. Er schaut mich nicht an. Ab und zu huschen seine Augen zu meinem Haaransatz, ansonsten starrt er Löcher in die Luft und wippt von einem Bein auf das andere. Er scheint doppelt so verstört zu sein wie ich und ich empfinde für einen Moment Mitleid.
Noch immer ist mir schleierhaft, was eben passiert ist. Seine Motive sind mir unbekannt, ich kann nicht einmal anfangen darüber nachzudenken, was das alles zu bedeuten hat. Aber Tatsache ist, dass es hätte schlimmer kommen können.
"Hätte schlimmer kommen können", sage ich lächelnd und zucke mit den Schultern, "Ich muss dir danken, Mann! Echt knorke, die Aktion. Danke, echt."
"Nichts zu danken", murmelt Karl tonlos.
Ich muss schmunzeln und klopfe ihm kumpelhaft auf die Schulter. Das heißt, ich versuche es, greife aber ins Leere, weil er auf halbem Weg meiner Hand zusammenzuckt und geistesgegenwärtig einen halben Schritt zur Seite macht, sodass ich mit meiner Hand nur seinen Pullover streife. Blinzeldn schüttele ich den Kopf und versuche, mich nicht beirren zu lassen.
"Nun komm schon, natürlich danke ich dir! Du hast mir echt den Arsch gerettet! Das hätte echt schief gehen können, aber dank deiner Hilfe ist nichts passiert", versuche ich, irgendwie ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern.
Jetzt wo wir schon irgendwie Partner sind, soll er sich ja auch über seinen Triumph freuen können.
"Ich meine es ernst. Du sollst mir nicht danken", sagt Karl und fast fühle ich mich versucht, einen Vortrag über falsche Bescheidenheit zu halten.
Zumindest solange, bis er weiterspricht und mir das Blut in den Adern gefriert:
"Es tut mir leid. Ich konnte ihn nicht davon abhalten, eine Backdoor zu installieren."

Ich starre Karl an.
Er weicht meinem Blick auf und sieht auf den Boden, während er noch immer gleichmäßig das Gewicht vom einen Bein aufs andere verlagert, was mich zugegebenermaßen extrem nervös macht, je länger ich es mitansehen muss.
"Er hat was?", frage ich und hoffe, dass ich mich verhört habe oder dass Karl einen schlechten Scherz gemacht hat.
Karl schaut irgendwo an den Kragen meines Kapuzenpullovers und sagt: "Er hat eine Backdoor installiert."
Einfach so sagt er das, mir nichts, dir nichts, ist ja nicht so schlimm. Nicht so schlimm, dass DIZZORDER jederzeit, er müsse nur wollen, einfach wieder in mein System hineinmarschieren kann, wann immer es ihm beliebt! Ich stampfe wütend mit dem Fuß auf den Boden, auch wenn der mit zerbröckelten Fliesen bedeckte Beton streng genommen nichts dafür kann und mir auch einfach nur das ganze Bein wehtut, statt dass ich mich besser fühle.
"Und du hast nichts dagegen unternommen?", herrsche ich Karl an, als wäre das alles seine Schuld.
Karl sagt seelenruhig, "Ich habe versucht, es zu verhindern. Er war zu schnell, ich hatte keine Chance mehr."
Ach, ist doch nicht schlimm, jetzt raff dich mal. Ist doch nur irgendeiner im Schatten stehender Hacker aus dem geheimen Untergrund, der als allerersten Auftritt auf der Bildfläche zuerst einmal die Datenbanken eines berühmten Terroristen infiltriert und dessen Verschlüsselungen zu seinem neuen Spielplatz erklärt! Wirklich, Dom, stell dich nicht so an!
Ich fange an, eine ambivalente Mischung zwischen tiefster Dankbarkeit und unbändiger Wut für Karl zu empfinden. Der schaut allerdings immer noch mit glasigen Augen und dem üblichen Pokerface an mir vorbei und wischt sich noch einmal den Schweiß vom Gesicht.
"Scheiße!", mache ich meinem Ärger Luft und fluche laut,
"Scheiße Scheiße und nochmals Scheiße!"
Karl blinzelt. 
"Es tut mir leid", sagt er mit einem seltsamen Unterton in der Stimme, den ich nicht ganz deuten kann.
Ich widerstehe dem Drang, ihm freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen. Hat beim letzten Mal ja auch nicht geklappt. Dann ringe ich mir ein Lächeln ab, schnaufe tief durch und fasse mich langsam wieder.
"Schon gut", versuche ich Karl zu beruhigen, "Es ist nicht deine Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen. Du hast zumindest das Allerschlimmste verhindern können. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich muss dir trotz allem danken, Karl!"
"Gern geschehen, Dom", sagt er und während ich mich schon umdrehe, um wieder ins Rabbit Hole zu marschieren, mich auf meinen Platz zu pflanzen und um DIZZORDER mal gehörig den Marsch zu blasen, erstarre ich inmitten meiner eleganten Drehung auf dem Absatz kehrt.
Ich starre Karl an, aber dessen Mundwinkel zucken nur ein bisschen.
"Wie hast du mich gerade genannt?", will ich wissen.
Karl antwortet mir wenig informativ, aber dafür umso emotionsloser: "Ich war nicht aus Zufall in deinem System, um dich zu schützen und deine Verschlüsselung zu unterstützen."
"Du hast gewusst, dass DIZZORDER es auf mich abgesehen hat?", ich schnappe nach Luft, aber die Spucke bleibt mir so schnell nicht weg.
"Nein", sagt Karl, "Und nochmal nein. Ich habe es nicht gewusst und DIZZORDER hat es nicht auf dich abgesehen."
Ich schnaube aufgeregt und raufe mir die Haare unter meiner Kapuze, "Mann, das darf doch alles nicht wahr sein! Könntest du dir bitte nicht alles aus der Nase ziehen lasse, sondern mir erklären, was hier vorgeht?"
Karl schaut mich an. 
"Natürlich kann ich es dir erklären", sagt er ruhig, "Aber an meine Nase lasse ich dich nicht!"
Für einen Moment weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich entscheide mich für ein gequältes Lächeln und ein Kratzen an meinem Dreitagebart. Dann schiebe ich meine Brille zurück auf ihre Position und bemühe mich um Contenance.
Nicht genug damit, dass Karl mehr weiß als ich. Er hat auch noch einen unheimlich schlechten Sinn für Humor. Und während ich beginne, nachdenklich hin und her zu laufen, die Hand am Kinn, um wie ein großer Denker auszusehen, wird mir klar, dass mir nicht einmal bewusst ist, WIE wenig ich von all dem weiß, was hier abzugehen scheint.
Vielleicht wäre es klug gewesen, wenn ich hier einen Rückzieher gemacht hätte. Wenn ich an diesem Punkt meiner Karriere Lebewohl gesagt hätte und den Schlussstrich unter meine Hacker-Aktivitäten gezogen hätte. Aus und vorbei der Traum, aber zumindest noch am Leben und halbwegs sicher vor unangenehmen Menschen, die mehr über dich wissen als du selbst.
Aber ich bin kein kluger Mensch. Ich bin Dominik Bauer und zu diesem Zeitpunkt begann die längste Nacht meines Lebens. Und auch wenn ich nicht Jack heiße und dieser Spruch in abgewandelter Form aus einem uralten TV-Format geklaut ist, bleibe ich abrupt stehen und lasse meine Fingerknöchel knacksen. Ich schaue Karl an und hebe das Kinn heldenhaft nach oben.
Er schaut mich einfach nur an, als wäre ich gerade im Begriff eine falsche Entscheidung zu treffen. Aber ich habe gelernt, dass jede noch so falsche Entscheidung besser ist als gar keine Entscheidung und so denke ich im Traum nicht daran, meine Hacker-Karriere an den Nagel zu hängen.
"Ok Karl", sage ich also und lächele, "Lass uns reingehen und das alles bei ein paar Wodka Bull bequatschen!"
Er nickt zögerlich und starrt meine Hand skeptisch an, als ich sie im entgegenstrecke.
"DIZZORDER will Krieg? DIZZORDER bekommt Krieg!", beginne ich meine Motivationsrede, "Schlag ein Kumpel, wir sind ab jetzt Verbündete! Zusammen kriegen wir diesen Kerl klein, oder was sagst du?"
Karls Mundwinkel zucken und sein Pokerface wandelt sich zu einem kleinen, aber feinen Lächeln.
"Ich hatte vorhin schon einige Ideen, wie ich seine Backdoor unbrauchbar machen kann", sagt er leise, "Vielleicht nicht alles entfernen, aber doch zumindest verhindern, dass er wieder reinkommt. Einen Alarm habe ich eben schon eingerichtet, du wirst sofort benachrichtigt, wenn er es versucht."
Ich grinse bis über beide Ohren. Das ist der Esprit, den ich hier brauche!
Meine Hand streckt sich Karl noch penetranter entgegen und ehe ich ihn am Arm antippen kann, scheint er sich ein Herz zu fassen und lässt sich auf einen erstaunlich festen, aber dennoch sehr knappen Händedruck ein.
"Super, Kumpel. Wir schaffen das!"
Und trotz des Reflexes, ihm meinen Arm um die hängenden Schultern zu legen, lasse ich die Finger von Karl und gestikuliere nur theatralisch in die Luft in Richtung der nicht einmal erkennbaren Betondecke über uns, "Das hier ist der Beginn der Allianz! Hast du einen Namen für uns?"
"Nope", sagt Karl und ich meine, in seinem Pokerface leichte Skepsis erkennen zu können.
Ich lasse meine Hand sinken und schnaube amüsiert schmunzelnd, schüttele nur den Kopf, "Sorry, da ging wohl irgendwas mit mir durch. Lass uns reingehen."
Trotzdem kann ich mir nicht verkneifen, auf dem kurzen Weg nach innen, die Titelmelodie von Indiana Jones zu summen. Karl folgt mir und wenige Zeit später sitzen wir tatsächlich an der Bar. Ich mit einem Bier, er mit einem Glas Wodka Bull und während Karl akribisch DIZZORDERs Vorgehensweise noch einmal nachvollzieht und mir alles im Detail erklärt, habe ich doch das Gefühl, dass ich etwas Entscheidendes übersehen habe.
Und während das Pokerface vor meinen Augen immer mehr und immer weiter zu verschwimmen scheint, meine ich sogar, mich daran zu erinnern, diese Sache selbst ins Rollen gebracht zu haben. Das letzte Mal, als wir hier saßen, habe ich Karl in meinem Suff von ABYSS erzählt. Dass ich ihn persönlich kenne und dass er mal ein guter Kumpel von mir war, ehe ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen ist.
Ich habe in meinem Vollrausch von seinen wichtigsten und bekanntesten Hacks geschwärmt, um Karl ein bisschen auszuhorchen, und natürlich auch nur, weil es wieder einmal emotional mit mir durchgegangen ist. Es liegt auf der Hand, dass Karl diese Informationen danach überprüft hat. Dass er sich nicht hat vorstellen können, dass ausgerechnet Ratte aus dem Kaninchenbau diesen berühmten Cyber-Terroristen kennen könnte.
Und ich, ich habe Karl unterschätzt. Denn ich hätte niemals gedacht, dass er die kleine aber feine Verbindung zwischen Ratte und ABYSS in Erfahrung bringen konnte. Wir stoßen an, ich weiß nicht mehr auf was.
Wahrscheinlich trinken wir so lange, bis Patty uns verärgert rauswirft. Was passiert ist, nachdem sie uns keifend vor die Tür gesetzt hat, kann ich beim besten Willen nicht rekapitulieren. Denn in diesem Moment erinnere ich mich nur noch schemenhaft an ein immer kleiner werdendes Blickfeld meiner Augen - trotz meiner Brille mit den dicken Gläsern - und dann wird alles schwarz.

Als ich es nach mehreren missglückten Versuchen schließlich schaffe, meine Augen zu öffnen, will ich den Vorgang am liebsten wieder rückgängig machen. Selbst wenn das bedeutet, dass die Mühe der gefühlten letzten Stunden dahin ist, aber es ist zu hell. Viel zu hell.
Ich kneife meine Augenlider sofort wieder zusammen, und schirme mit meiner Hand, die ich auf einmal wie den Rest meines Körpers wieder schmerzhaft spüre, sogar gleich noch das ganze Gesicht vor der gleißenden, tief steheneden Abendsonne ab, die direkt durch mein Wohnzimmerfenster scheint. Und während sich alles um mich herum rasant zu drehen scheint, will ich die flauschige Wolldecke fester um mich ziehen und mich auf meinem Sofa herumwälzen, um den Kater auszuschlafen.
Aber je länger ich meinen steifen Muskeln absolut nichts effektiv befehlen kann, fällt mir auf, dass ich verdammt hart und ungemütlich liege. Eigentlich fühlt es sich sogar an, als würde ich bäuchlings auf dem Küchenboden liegen, denn meine stoppelige Wange schmiegt sich unsanft auf die kalten Fliesen.
Ich schaffe es zwar nicht, wirklich verwundert oder schockiert zu sein - dafür sind die Kopfschmerzen eindeutig zu dröhenden - aber doch zwinge ich mich, mich zumindest halbwegs aufzurappeln und mich zu fragen, wieso die Tür zum Wohnzimmer offen steht. Wieso ich die Jalousien nicht runtergelassen habe, wieso es so intensiv nach frischem Kaffee riecht und zu guter Letzt, wieso ich auf dem Küchenboden liege.
Als ich fast sitze, überkommt mich aber eine derartige Welle von Übelkeit und Schwindel, dass ich sofort in meine missliche Position zurücksinke und leidend eine Mischung aus Stöhnen und Wimmern von mir gebe. Hören kann es ja eh niemand, ich habe keine Freundin, keine Katze, nicht einmal einen Goldfisch. Als die erste Welle an mir vorübergeschwappt ist, drehe ich mich mit noch immer zusammengekniffenen Augen auf den Rücken und verfluche lautlos sämtliche Alkoholika auf dieser Welt. Nie nie nie wieder werde ich auch nur einen Tropfen davon anrühren.
Kurz beschäftige ich mich mit der Frage, wieso ich nur noch genau einen Socken inklusive dem Schuh anhabe und wieso ich weder T-Shirt noch Pulli, aber dafür noch Schal und Jeans trage, während meine Brille in greifbarer Nähe direkt unter mir gelegen hat. Zumindest vermute ich das, als ich nach dem schwarzen Rahmen in meinem verschwommenen Blickfeld greife und nur ein knirschendes Geräusch zu hören ist.
Ich beschließe, dass ich nichts davon wissen will, wie das alles geschehen ist. Es zählt nur, dass ich irgendwie ins Badezimmer komme, ehe ich die Überreste des vergangenen Tages auf meinem Küchenboden ausbreite. Bei mir ist aber auch wirklich nichts so wie beim Durchschnitt der Menschheit, denke ich, während ich mich im Türrahmen abstütze und es gerade noch über die Kloschüssel schaffe.
Andere wachen morgens verkatert auf, weil sie abends getrunken haben. Ich leide abends, weil ich schon ein bisschen früher angefangen habe - zum Glück, denn hätte ich die ganze Nacht verpennt, hätte es mich noch mehr aufgeregt. Elendig fühle ich mich, aber ich schaffe es, mich gänzlich zu entkleiden und unter die warme Dusche zu stellen, wo zumindest der harte Kern meiner Lebensgeister wieder ein bisschen zu sich kommt.
Nach dem üblichen Hygieneritual fühle ich mich schon fast wieder wie ein Mensch. Die ganze Wohnung duftet verlockend nach Kaffee und ich wickele mir nur ein kleines Handtuch um die Hüften, bevor ich aus der Dusche steige und in meinem Allibert sogar noch an Ort und Stelle meine Ersatzbrille finde.
Ich setze sie auf, begutachte aus blutunterlaufenen Augen kurz die kleine Platzwunde an meiner Schläfe und verzichte darauf, mich zu rasieren, weil ich schlichtweg keine Lust habe. Kaffee. Ich brauche jetzt einen Kaffee, ein Glas Pepsi light und mindestens zwei frische Brötchen!
Gähnend trete ich zu meinem kleinen Esstisch im vom Abendrot romantisch beleuchteten Wohnzimmer und schenke mir schon fast wieder zufrieden eine Tasse Kaffee ein.
"Morgen, Karl!", begrüße ich den am Tisch sitzenden und strecke mich genüßlich, trinke einen großen Schluck und--
spucke ihn fast einem plötzlich Sprühregen über mein schönes, helles Sofa.
"Was um alles in der Welt", entfährt es mir und ich starre Karl an, der ein bisschen benommen wirkt, während er auf meinem Stuhl sitzt und sich an seiner Kaffeetasse festklammert, während er überall hinschaut nur nicht zu mir und nervös mit beiden Beinen auf und ab wippt, "Was zur Hölle machst du hier?"
Karl schaut mit seinem Pokerface etwas höher als zu meinem Haaransatz - tiefer traut er sich in meinem momentanen Outfit wohl nicht - und beißt sich scheinbar peinlich berührt auf die Unterlippe. Trotzdem ist es wirklich Karl.
"Ich trinke Kaffee", antwortet er mir wahrheitsgemäß.
"Das sehe ich!", herrsche ich ihn an, "Aber was-- was machst du HIER?!"
Karl schaut verständnislos die Deckenlampe an.
"Ich trinke hier Kaffee", wiederholt er leise.
Langsam wundert mich gar nichts mehr. Ich schnaufe tief durch und gebe auf. Während ich mein Handtuch vorsichtshalber festhalte, setze ich mich Karl gegenüber, schlage die Tageszeitung auf und trinke über dem Sportteil meinen Kaffee.
Man muss die Dinge nehmen wie sie sind. Ist doch nicht so schlimm, dass Karl meinen Wohnort kennt, wo er ja auch schon weiß, dass ich ABYSS bin. Ist doch ok, plötzlich jemanden zu haben, der frühs - Pardon, ich meine abends! - schon mal Kaffee kocht und den Frühstückstisch deckt. Wie das alles zustande gekommen ist, will ich mit meinen aktuellen Kopfschmerzen gar nicht wissen. Ich kann mir nur meinen Teil dazu denken, dass die Kopfschmerzen zumindest ein Indikator dafür sein könnten, was diese Ereignisse ausgelöst hat.
Nie wieder Alkohol.
Als ich mir schlürfend die Ergebnisse der letzten Fifa-Weltmeisterschaft zu Gemüte geführt habe, fällt mir auf, dass ich mein heiliges Smartphone gar nicht in meiner Hose ertastet habe. Plötzliche Panik überkommt mich und ich springe hastig auf, wobei Karl leichenblass wird und zusammenfährt, als hätte man ihn geschlagen. Ich klaube hastig mein Handtuch vom Boden auf und springe zurück ins Badezimmer, um meine Hose noch einmal zu durchsuchen.
Wo ist mein Handy? Davon abgesehen, dass es mich interessieren würde, ob Luke mir vielleicht geschrieben haben könnte - falls Patty ihm erzählt hat, dass ich nach ihm gefragt habe - sind auf meinem Smartphone empfindliche Daten zwar nicht zugänglich, aber immerhin enthalten und ehe ich dieses Teil aus der Hand gebe, muss normalerweise die Erde untergehen.
Oder ich muss einige Bier an Pattys Bar trinken, während Karl mich informativ in seiner monotonen Stimme über Backdoors vollquasselt und-- Moment! Als ich mir schnell meinen Bademantel überziehe, weil ich in der Eile keine andere Hose finde, und hysterisch durch die Wohnung hüpfe, um irgendwo mein verloren geglaubtes Handy aufzuspüren, kommen langsam zumindest teilweise die Erinnerungen an vorhin in mein Gedächtnis eingetrudelt.
Ich hab's verkackt. Und zwar gehörig und wenn ich jetzt nicht gleich wieder mein Heiligtum in den Händen halten kann, dann passiert vielleicht noch schlimmeres. Immehrin hat Karl den Alarm mit meinem Smartphone verknüpft und wenn DIZZORDER gerade jetzt auf die Idee kommen würde, durch seine Backdoor in mein System zu marschieren, hätte ich nicht einmal die Chance, etwas dagegen zu unternehmen.
Zähneknirschend durchwühle ich sogar meinen Kleiderschrank, ehe mir einfällt, dass ich das Teil ja noch dabeigehabt habe und mich seitdem nicht mehr umgezogen - geschweige denn nach dem Duschen angezogen - habe. Wo ist eigentlich mein Rucksack mit den Brötchen, der Pepsi light und nicht zuletzt meinem Netbook, das ast genauso hoch wie das Smartphone in seiner Heiligkeit eingestuft ist?
"Karl!", schreie ich aus dem kleinen Hinterzimmerchen, in dem meine Waschmaschine steht, "Hast du meinen Rucksack gesehen?"
Ich werde still, um zu lauschen und schlurfe über den Flur, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass Karl zurückbrüllen wird. Tatsächlich sagt er erstaunlich ruhig, aber klar und deutlich:
"Ja."
Kurz zähle ich innerlich bis drei und stampfe dann verärgert zurück zum Frühstückstisch, hinter dem man den Sonnenuntergang über Berlin beobachten kann.
"Hättest du vielleicht auch die Güte, mir zu sagen, WO du ihn gesehen hast?", frage ich so liebenswert wie möglich mit dem letzten bisschen Geduld, das ich aufmustern kann, während ich wild mit meinen Armen gestikuliere.
Karl vergräbt das Gesicht in den Händen und sieht ganz und gar verzweifelt aus.
"Sag nicht, dass du ihn zuletzt auf meinem Rücken gesehen hast!", herrsche ich ihn an.
"Nein", sagt Karl und seine Stimme klingt, als würde er leiden.
Dann klärt er mich auf:
"Ich habe ihn vorsichtig auf das Sofa gelegt, als du in der Küche ohnmächtig geworden bist. Da liegt er immer noch. Aber könntest du dir bitte eine Hose anziehen?"

Kurze Zeit später sitzen wir gemeinsam in meinem Computerzimmer.
Und wenn ich Computerzimmer sage, dann meine ich auch Computerzimmer. Eigentlich ist es mein Arbeitszimmer, aber da ich grundsätzlich am Computer arbeite, ist dieses Zimmer voll von unzähligen Rechnern und Monitoren, die nicht eins zu eins aufeinander verteilt und haushaltsgenormt aufgebaut sind, weil das erstens komplett unnötig für mich alleine wäre und zweitens nicht nur platztechnisch total unpraktisch.
Stattdessen sind alle Rechner miteinander zu meinem heimischen Supercomputer verbunden, der fast einer Serverfarm gleicht, und die Monitore stehen ebenfalls geballt an einer einzigen Seite des Raumes. Genauer gesagt hängen auch einige an der Wand, weil ich sie dort mit einer unheimlich innovativen Methode befestigt habe. Kabelbinder und Nägel und viel Tape. Aber das genaue Rezept verrate ich nicht.
Es wäre ein bisschen zu riskant für mich, tatsächlich ebenbürtige Hardware an einem Stück aus dem Versandhaus zu bestellen. Würde vielleicht auffallen und natürlich würde sich keiner fragen, was der Ottonormalverbraucher mit solchen Sachen will. Außerdem sind die Sachen, die es zu kaufen gibt, nicht einmal halb so sehr auf meine persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten, wie mein kleiner Retro-Raum.
Karl und ich sitzen in Winterjacken da. Ich auf meinem schwarzen Chefsessel aus Leder, er auf einer umgedrehten orangefarbenen Tonne mit einem Loch im Boden, die in der Theorie eigentlich mal für die Altkleidersammlung gedacht war. Auf dem Loch liegt ein buntes Sitzkissen und in der Praxis lege ich darauf immer meine Beine ab, wenn ich gemütlich hier sitze.
Aber als zusätzliche Sitzgelegenheit für Karl taugt es wohl auch. Die Temperatur hier drin schwankt je nach Rechentätigkeit meiner mehrstöckigen Computerwand innerhalb von minus zwölf und etwa fünf Grad, weil ich es mit der Kühlung ein bisschen übertrieben habe und noch keine bessere Möglichkeit gefunden habe, eine Balance zwischen dem Schutz meiner Hardware und dem Wohlbefinden meines eigenen Körpers zu finden.
Aber bevor meine Babys hier drin auch nur daran denken, irgendwie zu überhitzen, leide ich lieber und sitze schlotternd und mit klappernden Zähnen auf meinem Stuhl, während ich die wichtigsten Komponente und alle Abläufe koordiniere. Vielleicht kann man nach dieser Sache nun ein bisschen erraten, weswegen ich die meisten administrativen Arbeiten auf die massentauglichen Geräte wie Netbook und Smartphone verlege.
Verknüpft ist eh alles miteinander, aber manchmal muss man einer Sache vielleicht doch auch physisch auf den Grund gehen.
Übrigens trage ich mittlerweile eine Hose und Karl scheint nachhaltig traumatisiert davon zu sein, dass ich zwar meinen Bademantel übergezogen habe, den Gürtel für eben jenen aber schon seit ein paar Jahren nicht mehr auftreiben kann. Während er nämlich mit der Pinzette, die ich normalerweise für meine Augenbrauen benutze, an einer kleinen Platine aus der Alarmanlage meiner Wohnung herumbastelt, hat er noch keinen Ton gesagt.
Da Karl aber eh nicht so der gesprächigste Mensch unter der Sonne ist, mache ich mir wenig Sorgen, dass es auffallen wird.
Meine Finger huschen nicht halb so schnell über Tastatur wie es Karls Finger gewohnt sind, aber ich komme trotzdem ganz gut voran und prüfe sämtliche Details noch einmal nach, um mir ein umfassendes Bild von der aktuellen Situation machen zu können. Die Protokolle von zuhause sagen mir, dass die anfängliche Fehlermeldung, durch die ich überhaupt erst aufmerksam geworden bin, mitnichten von DIZZORDER verursacht wurde.
Und als ich weiter nachbohre, stelle ich fest, dass sie der Grund war, warum das alles überhaupt passieren konnte - allerdings auch, und darüber kann ich froh sein, der Grund, warum Karl es geschafft hat, in mein unhackbares System einzudringen, um mir den Arsch zu retten. Warum auch immer er das eigentlich getan hat, aber sicherlich hat er es mir schon im Suff erklärt und ich habe es nur vergessen.
Kurz verschwende ich einen Gedanken an den Drang, Karl in ein klärendes Gespräch zu verwickeln, damit wir uns mal wieder auf demselben Wissensstand befinden, aber Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und ich muss noch einige Codes auffrischen, einige Lücken in meiner Verschlüsselung schließen und nicht zuletzt noch sämtliche Scanner in Betrieb nehmen, bevor ich schließlich mit einem lauten "KLACK" auf die Entertaste schlage und mich empört zu dem Kerl drehe, der in sich zusammengesunken auf meinem orangenen Fußableger hockt und die Platine wieder in die Kamera einbaut.
"Karl", sage ich.
"Ja", sagt Karl.
"Hast du auch einen Filmriss oder kannst du dich noch an alles erinnern?", frage ich vorsichtig.
"Prinzipiell kann ich nicht wissen, ob ich etwas vergessen habe", murmelt er, während er meine Winterjacke öffnet, in der seine schmalen Schulter geradezu versinken, "Aber ich bin mir sicher, dass der Alkohol bei mir nicht exakt dieselbe Wirkung wie bei dir gezeigt hat."
Karl kramt in der Tasche seines Pullovers, den er unter meiner Jacke noch trägt, nach seinem Tabak, den Filtern und den Papierchen, zieht alles miteinander heraus und beginnt, sich eine Zigarette zu drehen. 
"Aus dem Grund, dass du nach dem zweiten Bier und fünf Schlücken von meinem Mischgetränk aus Red Bull Energy Drink und billigem Wodka angefangen hast, immer mehr für uns beide zu bestellen, kannst du dich wohl an wichtige Details nicht erinnern", erklärt er mir monoton und seelenruhig, während ich fasziniert auf seine Finnger starre, die aus den eben genannten Komponenten auf geschickte Weise eine perfekt geformte Zigarette zaubern.
Er hebt kurz den Blick, schaut auf meinen Bildschirm und kratzt sich am Ohr, ehe er seine Erläuterungen fortsetzt.
"Und da du mein Getränk jedes Mal leer getrunken hattest, ehe ich es überhaupt berühren konnte, bin ich von diesem Zustand verschont geblieben."
Kurz wundere ich mich über mich selbst. Kurz wundere ich mich über Karl. Dann höre ich damit auf, denn es bringt nichts. Anscheinend kann man durchaus mit Karl sprechen, wenn man es versteht, die richtigen Fragen zu stellen. Bis darauf, dass das eben ein Glücksgriff gewesen sein muss, immerhin bin ich jetzt auch nicht s
chlauer, durch welche Art von Fragestellung und Formulierung man Karl dazu bringen kann, mehr als einsilbige Antworten zu geben.
Ich seufze leise auf, aber ich lächle ehrlich amüsiert: "Ich wüsste gern, was ich alles nicht mehr mitbekommen habe. Zum Beispiel wie wir hierher gekommen sind und wieso du immer noch hier bist. Kannst du mich da mal updaten? Oder gibt es für meine veraltete Version keine standardmäßigen Updates mehr?"
Karl starrt mit offen stehendem Mund direkt auf meine Nasenspitze, "Bitte was? Welche deiner Software ist veraltet?"
Grinsend zwinkere ich ihm zu, "Das war ein Witz. Ich meinte-- ach, egal. Ich fand's lustig! Kannst du mir weiterhelfen?"
"Du warst so betrunken, dass ich es riskant fand, wenn du allein nach Hause gehst", sagt Karl tonlos, klemmt sich die Zigarette hinter sein Ohr und reibt mit den Handflächen gleichmäßig über seine eigenen Oberschenkel, "Und weil du auf dem Küchenboden ohnmächtig geworden bist, dachte ich, ich sollte noch bleiben falls du Hilfe benötigst."
Ich muss schmunzeln. Eigentlich ist er doch ein ganz feiner Kerl. Etwas seltsam manchmal, ja, aber dann schlussendlich: Wer ist das nicht?
"Außerdem bin ich davon ausgegangen, du würdest dich zumindest an unsere Abmachung noch erinnern", fährt er fort und all meine innerlichen Alarmglocken läuten, "Hast du mal Feuer?"
Ich schnaube und springe auf, verschränke bestimmt die Arme vor der Brust und baue mich so vor dem Häufchen Elend auf, "Du wirst hier drin ganz sicher nicht qualmen! Was für eine Abmachung? Worüber haben wir gesprochen?"
Karl lässt sich tatsächlich dazu herab, das menschliche Protokoll zu spielen und mir noch einmal von vorn alles haarklein zu erläutern, was am Mittag wohl über die Bühne gegangen sein muss. Und meine Augen werden immer größer, die Kälte ist vollkommen vergessen, als wir schließlich beide am Fenster stehen, damit Karl sich zum Rauchen ein bisschen zur frischen Luft beugen kann. Zwischen den Zügen erklärt er und führt die Geschichte von heute Mittag weiter aus und ich kann das alles nicht fassen.
Es ist nicht so schlimm wie gedacht, sondern noch viel schlimmer. 
Ich bin nicht ganz so glimpflich wie vermutet weggekommen.

Nicht nur mein System wurde gehackt, sondern: Auch mein Ego wurde angekratzt! 
Und für rivalisierende Hacker ist das vielleicht noch schlimmer, denn in solchen Fällen bin ich eine Gefahr.
Ich will nicht lügen: Ich bin niemand von den Menschen, die sich selbst hassen. Wie man sicherlich schon erraten konnte, finde ich mich selbst sogar ziemlich cool und empfehle diese Vorgehensweise eigentlich jedem, den ich leiden kann. War nicht immer so, aber seitdem ich mit mir selbst im Reinen bin, lebt es sich viel leichter und schöner. Allerdings sollten viel mehr Leute aus meinem Umfeld meinen Wert genauso anerkennen wie ich.
Und wenn sie es nicht tun, werde ich unausstehlich. Vielleicht ist das der Grund gewesen, warum ich vorhin begonnen habe, verschiedene Alkoholika in mich hineinzuschütten als könne es meine Probleme lösen, aber in jedem Fall habe ich wohl etwas sehr wichtiges verpasst. Das stellt sich in meinem der Länge wegen nicht komplett ausgeführten Gespräch mit Karl heraus, das ich aber für's Protokoll kurz zusammenfassen möchte:
Meinem System fehlt nicht viel bis auf die Backdoor, die lausige Miesepeter mir hinterlassen hat, als er vor Karl geflüchtet ist. Dafür ist hier eine ganz andere Sache am Laufen und dabei ist die Kacke richtig am Dampfen!
DIZZORDER ist kein unbeschriebenes Blatt. 
DIZZORDER ist ein Name, den der Hacker von heute kennen sollte. Den also respektive auch ich kennen sollte. Natürlich ist der noch nicht lange auf der Bildfläche, sonst hätte ich ja was von ihm gehört, aber er hat sich wohl doch schon rasant schnell einen gefürchteten Namen im Untergrund gemacht. Ich führe nun keine Liste an, warum mir diese wichtige Information entgangen sein könnte, weil sich dies schlichtweg meiner Kenntnis entzieht, aber egal.
Die Sache mit DIZZORDER ist eine andere. Zwar kennen ihn manche durchaus schon etwas näher in unserem Metier, aber leiden kann ihn keiner und bis darauf, dass er technisch ordentlich etwas auf dem Kasten haben muss, gibt es wohl keinen Grund, mit ihm zu sympathisieren.
Er hat scheinbar keine Werte, aber verdammt viele Skills. Der Kerl ist scheinbar überall, handelt aber nicht innerhalb der Interessen der üblichen Hackergesellschaft, sondern verfolgt eine ganz lausige Absicht: Er will sich anscheinend bloß einen Namen machen - egal ob mit einer positiven oder einer negativen Reputation, darauf scheint er keinen Wert zu legen.
Statt dass er sich selbst Vorteile mit seiner Intelligenz verschafft, scheint er es einzig und allein darauf anzulegen, anderen Probleme zu bereiten. Sicherlich nicht, weil er ein schlechter Mensch ist und nur Boshaftigkeit im Sinn hat. Die Sache ist bestimmt komplizierter, aber was bleibt ist die Tatsache, dass man in der Szene schnell bekannt wird, wenn man den großen Fischen auf den Sack geht. Und das will er wohl: Bekannt werden.
Ich triumphiere, denn ich habe ihm bislang diesen Gefallen nicht getan, seinen Namen zu kennen. Vielleicht kann ich mich damit brüsten, dass zumindest er ABYSS kennt und für gut genug befindet, sich mit ihm anzulegen, damit er noch berühmter wird. Aber die Sache hat einen entscheidenden Haken:
DIZZORDER hat sich nicht nur mit mir angelegt. Meine Kriegserklärung an ihn war nicht die erste. Scheinbar war dieser kleine Angriff auf mein System nicht mehr als popelige Werbung und ein kleiner, unbedeutender und zufälliger Teil seiner laut Karl doch recht offiziell bekannten Fehde mit "N0PE". 
Ich ziehe eine leidende Grimasse und verdrehe die Augen. Seit wann auch immer irgendjemand wieder was von N0PE wissen will, die eine ganze Weile zwar ganz oben in der Szene standen, aber dann durch einige pikante Ereignisse nichts mehr weiter als ein Schatten ihrer selbst wurden. Selbst ich habe N0PE seit Monaten nicht mehr verfolgt, denn für mich sind diese Leute doch eher uninteressant geworden.
DIZZORDER allerdings fand sie wichtig genug für die Szene, um mit ihnen einen Cyberwar zu beginnen.
Und das schlimme ist - wie ich zähneknirschend feststelle - dass somit auf dem niemals geschriebenen Ranking unserer Szene dieser Zusammenschluss aus einer unbekannten Anzahl von namenlosen Hackern, die sich als Gruppe N0PE nennen und schon seit über zwei Jahren im Geschäft sind, wohl wieder höher geklettert ist, ohne dass ich es mitbekommen habe. Aber das schlimmste ist:
Wenn DIZZORDER mir einen Streich spielt, während er mit N0PE im Krieg ist - dann bedeutet das, dass er es für seine Publicity relevanter findet, N0PE auf den Sack zu gehen als ABYSS. Und das ist etwas, was ich keinenfalls auf mir sitzen lassen kann.
Immerhin war meine Beziehung zu N0PE nicht immer ganz einfach. Eigentlich gab es auch einige unschöne Szenen und die vorhin erwähnten pikanten Ereignisse könnten möglicherweise auch auf diese Auseinandersetzung mit einem gewissen ABYSS zurückzuführen gewesen sein, aber das ist jetzt ja nicht so wichtig. Genauso irrelevant ist es eigentlich, dass diese beschissenen Script Kiddies eine Zeit lang meine allergrößten Rivalen im Geschäft waren und nun aus der wohlverdienten Versenkung wieder auferstanden sind, nur weil ein beknackter famegeiler Idiot mein System als Plattform für einen Rosenkrieg nimmt?!
"Nein, ich bin nicht wütend", herrsche ich Karl an, als er mich das fragt.
Mit jeder einer heißen Tasse Kaffee sitzen wir auf meinem Sofa nebeneinander und wärmen uns wieder auf. Draußen ist es mittlerweile stockfinster und ich hadere kurz mit meiner Existenz. Aber hey, das habe ich hinter mir gelassen und so!
"Karl", sage ich.
"Ja", sagt Karl.
"Warum hast du mir eigentlich geholfen?", frage ich.
Karl schweigt. Ich raufe mir die Haare. Er starrt in seine dampfende Tasse und wirkt für einige Momente, die mir wie Stunden vorkommen, sehr sehr nachdenklich.
Schließlich seufzt er kaum hörbar und schaut meinen Haaransatz wieder an:
"Du musst eins über mich wissen, Dom", sagt er schließlich sehr ernst.
"Ich kann nicht, überhaupt nicht und unter keinen Umständen, auch nur in irgendeiner Form lügen. Das ist oft ein Nachteil, vor allem als Hacker."
Mir steht der Mund offen und ich starre Karl an, "Wie-- du kannst nicht lügen? Nicht flunkern, nicht schwindeln, nicht mal eine winzig kleine Notlüge?!"
Karl wendet den Blick wieder ab und zuckt mit den Schultern, 
"Ich schätze nicht. Sonst würde mir sicherlich was Besseres einfallen als die Wahrheit. Das ist manchmal ziemlich peinlich. Aber vielleicht bin ich nicht kreativ genug für eine ordentliche Lüge und mit meinem Gewissen kann ich es auch nicht vereinbaren."
Ich schnaube amüsiert und lege grinsend meinen Arm über die Sofalehne hinter Karls Rücken, "Das heißt, was auch immer ich dich frage, du sagst mir immer genau das, was du denkst?"
"Nein", sagt Karl, "Auch das wäre vielleicht eine Lüge."
Ich hebe eine Augenbraue. Dann fährt er fort: 
"Ich sage nur, was ich weiß. Nicht was ich denke."
Kurz starre ich ihn wieder an, er schaut wie immer partout nicht in meine Augen und ich meine, dass das irgendwie mit dieser Lügensache zusammen hängen muss. Aber wenn er mir nicht in die Augen schaut, stimmt diese Info dann überhaupt? Oder erzählt er mir gerade was vom Pferd und diese Lügengeschichte ist am Ende eine komplette Lüge, um mich wahnsinnig zu trollen?
Dann breche ich in schallendes Gelächter aus.
"Alter!", keuche ich zwischen zwei Atemzügen meines Lachanfalls, "Fast hätte ich dir den Scheiß geglaubt!"
Aber Karl lacht nicht mit. Ich beruhige mich langsam wieder, als ich bemerke, dass er sehr angespannt scheint, während er die Tasse abstellt, um sich wieder mit den Handflächen über seine Schenkel zu reiben. Er wirkt viel zu nervös, als dass ich davon ausgehen könnte, dass ihm sein Geständnis nicht peinlich ist. Und ich beschließe, das Risiko einzugehen und ihm zu glauben.
Ich schnaufe tief durch und schaue Karl mit einem schiefen Grinsen an.
"Sorry, Mann. Also du kannst nicht lügen, ok. Dann sag mir doch mal"--
Karl unterbricht mich sofort, anscheinend kann selbst er ahnen, was ich nun versuchen werde:
"Dom!"
Ich warte kurz, dann muss ich wieder grinsen, aber:
"Dom. Dom. Dom. Bitte nicht. Ich helfe dir gern, aber bitte versuche nicht, diese Sache jetzt auszunutzen. Bitte."
Kurz schnaufe ich und wäge ab, bevor ich mich dafür entscheide, besser nicht in meine helfende Hand zu beißen. Stattdessen versuche ich, wieder ernst zu werden.
"Ok", sage ich, immer noch etwas atemlos vom Lachflash, "Warum hast du mir geholfen?"
Karl lässt die hängenden Schultern noch mehr als sonst hängen und seufzt tief.
"Eigentlich wollte ich das nicht", sagt er, "Aber ich musste DIZZORDER stoppen. Das gehört zu meinen Aufgaben. Du warst nur zufällig daran beteiligt."
"Ja, aber wieso DU?", frage ich verständnislos, "Wieso sitzt du im Rabbit Hole und wartest rein zufällig darauf, DIZZORDER eins auszuwischen? Woher wusstest du davon und was hast du mit der ganzen Sache überhaupt zu tun?"
Dann durchzuckt mich ein Gedanke und ich schweige.
Karl sieht aus, als würde er leiden. Dann aber beweist er mir, dass er nicht gelogen hat:
"Es ist kein Zufall. Ich hänge da mit drin, weil ich Kontakte zu N0PE habe."

Ich atme ein. Ich atme aus. Ich atme tief durch. Dann schaue ich Karl an, den ich die letzten etwa vier Minuten keines Blickes mehr gewürdigt habe.
"Und das hättest du mir nicht früher sagen können?", frage ich schnaubend.
Karl zuckt mit den Schultern und rührt klirrend mit dem Löffel Zucker in seinen Kaffee, "Du hast nicht danach gefragt. Ich wusste nicht, dass das für dich relevant sein könnte."
Mit einem Seufzen reibe ich mir die Schläfen, dann trinke ich den letzten Schluck Kaffee aus und stelle meine Tasse extra laut auf das schicke Beistelltischchen an meinem Sofa. Karl zuckt zusammen. Ich mustere ihn, wie seine umherhuschenden Augen meinem Blick ausweichen.
"Ok Chef", sage ich schließlich, ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, dass die Leute von N0PE mich wohl noch schlecht in Erinnerung behalten haben und vielleicht nicht so ganz erfreut darüber sein werden, wenn Karl ausgerechnet ihrem ehemaligen Erzfeind den Arsch rettet, "Wie lautet der Plan?"
Karl räuspert sich geräuschvoll und stellt die leere Kaffeetasse ebenfalls auf dem Tisch ab.
"Wenn man davon ausgeht, dass die Backdoor überbrückt werden kann, damit er sie nicht mehr ohne weiteres benutzen kann, brauchen wir keinen Plan. Dann müssen wir uns einfach nur an die Arbeit machen. Nach meinem aktuellen Wissensstand ist DIZZORDER aber nicht dumm und falls er wirklich an deinen Daten interessiert ist, was ich momentan nicht annehme, sonst wäre er längst wieder da, dann hätte ich eine Idee!", sagt er.
Anstatt "Was für eine Idee?" frage ich aufgebracht: "Wie, er ist nicht an meinen Daten interessiert? Wie kann irgendjemand an irgendwelchen anderen Daten als an meinen interessiert sein?!"
Karl zuckt mit den Schultern, "Die Frage ist eher, ob wir nicht die Chance haben, ihn zu schnappen, wenn wir uns seine Backdoor zu nutzen machen und ihn in eine Falle locken. Das heißt, wir brauchen nur noch einen Weg, dass er sich für deine Daten interessiert und sobald er dann zurückgekrochen kommt, machen wir seinen Standort ausfindig und räumen ihn aus der Bahn."
"Bist du vom Wachhund zum Informanten befördert worden oder wieso bist du so scharf darauf, N0PE zu helfen?", ich lege meine Stirn in Falten.
Das macht doch alles überhaupt keinen Sinn!
"In diesem Fall hat es nichts mit N0PE zu tun", sagt Karl aber, "Ich will nicht denen helfen - ich will dir helfen. Wenn du DIZZORDER vor N0PE stellen könntest, läge die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein weiterer Krieg ausbricht und am Ende wieder irgendein Underground-Hacker wie DIZZORDER auf den Plan treten kann. Wenn wir die Szene aber frei von solchen Trollen halten wollen, sehe ich keinen anderen Ausweg, als dass DU Kontakt mit N0PE aufnimmst!"
"Nur über meine Leiche!", entfährt es mir, "Nicht in diesem Leben, in tausend kalten Wintern nicht, niemals mache ich gemeinsame Sache mit DIESEN Trollen! Da musst du dir schon was besseres einfallen lassen. Es war ja echt ganz lustig, Karl. Aber ich halte es für besser, wenn du jetzt gehst."
Und damit stehe ich ohne weiteren Blick auf die zusammengesunkene Gestalt auf und kehre ihm den Rücken zu.
"Nicht interessiert!", schnaube ich noch immer, "An meinen Daten nicht interessiert! Pah, der hat keine Ahnung, wen er da vor sich hat!"
Karl steht ebenfalls auf und bringt beide Kaffeetassen in die Spülmaschine. Auf dem Weg zur Garderobe bleibt er kurz noch einmal stehen und schaut in meine Richtung. Ich weiche seinem Blick auffällig aus und schalte auf stur. Wenn Karl meint, dass er alles besser weiß - nur zu!
Ich komme schon allein klar. Ich bin vor Karl allein klar gekommen, ich werde auch nach ihm allein klarkommen. Er soll sich bloß nichts drauf einbilden, dass ich einen einzigen Moment lang unachtsam war. Er scheint vielleihct zwar auch ein bisschen was auf dem Kasten zu haben, ja. Aber es ist Karl, ein namenloser Niemand, der einer Größe wie ABYSS nichts zu sagen hat! Trotzdem maßt er sich an, mich noch einmal anzusprechen, als ich ihm die Tür zeige und er betont langsam seine Schuhe anzieht.
"Dom", sagt er leise, "Das hier ist eine ziemlich heikle Situation. DIZZORDER ist gefährlicher als du denkst. Du solltest aufpassen, dass dein Ego nicht größer wird als deine Fähigkeiten. Wenn du beleidigt bist, kannst du deine Intelligenz nicht nutzen. Falls du mich brauchst - du weißt, wo du mich findest. Pass auf dich auf, Dom."
Ich schweige und knalle die Tür hinter ihm zu.
Erst nachdem ich fluchend und vor Wut schäumend eine ganze Weile lang durch meine Wohnung gestapft bin und gegen einen Türrahmen getreten habe, wovon mir jetzt das ganze Bein weh tut, bemerke ich, dass ich nicht einmal genau weiß, auf wen ich wütend bin. Auf Karl? Eher nicht. Immerhin hat er mir den Arsch gerettet. Ist extra geblieben, weil ich doch ein bisschen zu viel abbekommen habe und hat Kaffee gekocht, meine Alarmanlage repariert und mir wertvolle Tipps gegeben.
Auf DIZZORDER? Natürlich, aber sicherlich nicht so sehr, wie ich mich gerade verhalten habe. Schnaufend und schwitzend sinke ich auf mein Sofa und schalte die Glotze samt meiner PS7 an. Ich will ein bisschen im Boden versinken und ein bisschen schlafen, aber vor allem will ich meinen PS4-Emulator anschmeißen und eine Runde Watch Dogs zocken. Das Spiel, das ich als kleiner Junge in die Hände bekommen habe und das Spiel, das mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin. Vielleicht bin ich wütend auf DIZZORDER.
Vielleicht aber auch auf N0PE? Diese Flachpfeifen, die mir schon immer hatten die Show stehlen wollen und nun im Begriff sind, es tatsächlich auch zu tun? Ja, schon. Aber vielleicht auch nur ein bisschen. Und während ich Aiden Pearce mit einer schnieken Retro-Karre durch Chicago heizen lasse, bricht irgendwo in mir ein Damm ein und eine große Mauer reißt auseinander, um Platz für längst vergessene Gefühle zu machen.
Ja, ich bin wütend. Nicht nur ein bisschen. Und nicht auf Karl, nicht auf DIZZORDER, nicht auf N0PE. Nicht einmal auf Luke, obwohl er sich immer noch nicht gemeldet hat. Ich bin wütend auf mich selbst. Weil ich einfach immer und immer wieder alles verkacken muss, wenn ich einmal kurz davor stehe, zu einem Menschen eine tiefere Bindung als "Hallo" und "Tschüss" aufzubauen.
Karl hat mir geholfen. Wir hätten Partner sein können, die Sache gemeinsam durchziehen, uns gegenseitig unterstützen. Scheiß darauf, dass er Kontakte zu N0PE hat; er hätte die Mistkerle - und vielleicht auch Mistweiber, wer weiß schon? - zumindest mal schlecht von mir grüßen können. Scheiß drauf, dass er ein ziemlicher Freak ist, das bin ich auch.
Wir hätten Freunde werden können.
Davon bin ich jetzt, wo ich ausgestreckt auf meinem Sofa liege und Aiden Pearce viel zu schnell durch die Straßen fahren lasse, felsenfest überzeugt. Aber ich hab's verbockt. So wie immer, wenn ich versuche, mir im echten Leben Freunde zu machen. Und diese längst vergessen geglaubten Gefühle, da sind sie wieder. Selbstzweifel. Der Hass auf mich selbst, wenn ich so abartig cool tue und dabei doch nur ein übergroßes, trotziges Kind bin, das nicht verlieren kann.
Aiden Pearce rast frontal in einen Lastwagen. Halt. Stop. Weg mit diesen Gedanken!
Da bin ich drüber hinweg. Die Sirenen ertönen und die Polizei fährt ran. Aiden Pearce öffnet die Autotür, steigt aus und läuft weg. Klar, er kann sich ja jederzeit ein neues Auto hacken. Die Polizei bekommt ihn nicht, aber dann schalte ich aus und schmeiße den Kontroller auf den Boden, ehe ich stöhnend mein Gesicht im Polster des Sofas vergrabe und meine Ersatzbrille dabei gnadenlos verbiege.
Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid, Dominik! Es gibt immer etwas zu tun.
Und bevor ich irgendetwas anderes mache, werde ich mir frische Brötchen in meinem Vierundzwanzigstunden-Discounter holen! Mit denen von heute Morgen kann man sicherlich mit einem Schlaf auf den Kopf jemanden töten. Danach kann ich veilleicht wieder klar denken.
Ich packe mein Smartphone in die Tasche meiner schwarzen Lederjacke, räume meinen Rucksack bis auf das Netbook und einige andere kleine technische Spielereien aus und schlüpfe nur schnell in meine Slipper für den kurzen Weg. Mein Halstuch, meine Kapuze, fingerlose Handschuhe - jetzt sehe ich endlich wieder aus wie ein Verbrecher und nicht mehr wie ein Trauerkloß. Und während ich meine Alarmanlage scharf schalte, schreibe ich mir noch eine mentale Notiz, mir dann doch noch die Überwachungsvideos von vorhin anzusehen. Schließe die Tür ab, schaue noch kurz, ob mich jemand aus irgendeiner anderen Wohnung beobachten könnte.
Dann springe ich scheinbar wieder quicklebendig die Stufen ins Erdgeschoss nach unten und mache mich auf den Weg.

Vielleicht ist die größte Errungenschaft dieser schönen neuen Welt, dass es den ganzen Tag lang nur ein paar Meter vor meiner Haustür entfernt frische Brötchen zu kaufen gibt. Ich habe vergessen, wie tatsächlich frische Backwaren von einer tatsächlich noch Handwerk betreibenden Bäckerei schmecken, deswegen mag ich die Brötchen von "Baked To Go" so gern. 
Dieser kleine Backwaren-Discounter direkt um die Ecke ist zwar einer derer, die immer nur schlechte Bewertungen auf Google bekommen, aber ich liebe schon allein den Duft, wenn ich hineinkomme. Man könnte nun anführen, dass es dann vielleicht bei einem Laden, der bessere Bewertungen hat, noch besser duften würde, aber alle, die das behaupten, vergessen einen entscheidenden Punkt: Alle anderen Backshops sind nicht direkt bei mir um die Ecke!
Irgendwie überkommt mich immer ein wohlig-warmes Gefühl, wenn ich bei "BTG" durch die Glastür trete.
Es ist wie ein Stückchen einer mir niemals bewusst gewesenen Heimat, wenn mich das grelle Licht und die schweißtreibende Wärme des kleinen Geschäfts verschlucken. Ich nehme mir ein Tablett, lege ein angeknittertess Papier darauf, stelle mich höflich hinter einem konsequent auf sein Handy starrenden, koreanisch aussehenden Teenager an und hole mit der Zange drei Brötchen aus der Auslage, ehe mich schon von weitem die mir am besten bekannte Aushilfskraft des Geschäfts begrüßt.
Belinda ist so ein bisschen meine heimliche Traumfrau, auch wenn das BTG-Uniform-Poloshirt, auf dem ihr Namensschild befestigt ist, kreisrunde Schweißflecken mit einem Radius von geschätzt fünfzehn Zentimetern unter ihren Achseln aufweist. Das heißt, sie wäre es vielleicht, wenn ich einer anderen Generation angehören würde. Die tiefen Furchen auf ihrem Gesicht erzählen ihre eigene Geschichte, die filigranen Lachfältchen um ihre Augen strahlen wie die Sonne und irgendwie sieht sie gar nicht mal so übel aus mit ihrer kinnlangen, aschgrauen Dauerwelle.
"Willkommen bei Baked To Go", knurrt sie unfreundlich und setzt nicht mal ein gespieltes Lächeln auf, "Wollen Sie eine Tüte?"
"Nein, danke. Nur die Brötchen hier", sage ich grinsend und schnappe mir selbst eine Papierverpackung, die sowieso neben der Kasse zur Selbstbedienung gestapelt sind; ein kurzer Blick noch hinter dem Jungen her, der mit einer ebenfalls nicht ganz vollen Tüte aus der Tür huscht, den Blick immer noch nicht von seinem Display abwendend.
Wahrscheinlich hat er Google Maps an und muss sich nicht einmal umschauen, um zu wissen, wo er lang geht. Die Jugend von heute!
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich Belinda dem lustigen Zusammenhang zwischen ihrer Standardfrage und dem schlechten Denglisch des Geschäftsgründers bewusst ist. Aber am Ende sollte ich sie vielleicht nicht unterschätzen, wer weiß ob sie nicht früher mal Mitglied bei N0PE war oder so.
"Sie bekommen noch was raus!", blafft sie mir hinterher, als ich schon halb aus dem Laden bin.
Ich drehe mich grinsend noch einmal um und laufe rückwärts weiter, um besonders cool zu wirken, "Sehen Sie es als Trinkgeld!" - und schwupps, weg bin ich.
Belinda hat es sicher nicht einfach. Wenn man in einem solch stattlichen Alter noch bei BTG hinter der schlecht gewischten Theke steht, muss man es nötig haben. Vielleicht ist sie doch nicht ganz meine Traumfrau, aber sie ist mir zumindest sehr sympathisch, was ich nicht von allen Mitarbeitern aus Backshops behaupten kann.
Sie ist authentisch - mit Sicherheit will sie nicht freundlich zu jedem dahergelaufenen Kunden sein, darum ist sie es auch nicht. Ganz einfach, und der sprichwörtliche Kittel ist geflickt. Ich trage stolz meine Brötchentüte nach Hause und springe mit neu gewonnener Energie die Treppen nach oben in den sechsten Stock.
Oben angekommen schließe ich nicht mehr energisch, sondern eher keuchend und schnaufend, meine Tür auf und verschwinde ungesehen wieder in meiner Wohnung. Und während ich mir die letzte Tasse Kaffee aus Karls Kanne eingieße und gedankenverlorend auf einem Brötchen herumkaue, wische ich mich auf meinem Netbook durch die letzten vierundzwanzig Stunden meiner Überwachungskamera.
Die meiste Zeit ist alles still und leer. Manchmal huschen namenlose Gesichter durchs Bild auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Ein dunkelhaariger Postbote legt die kostenlose Tageszeitung vor jede Haustür und schaut für einen Sekundenbruchteil zufällig in die Richtung meiner Außenkamera. Ich wische genervt die Warnung weg, die ich bei jedem noch so weit entfernt an eine verdächtige Aktivität erinnernde Aufzeichnung eingeblendet bekomme. 
Erst als der Zeitstempel gegen Nachmittag anzeigt, kommt die nächste Warnung und die Aufzeichnungen sind umso interessanter: Zwei vermummte, offensichtlich geistig beschränkte Gestalten stolpern vor meine Tür und der, den der andere zu stützen versucht, scheitert an dem Versuch, einen Schlüssel ins Schloss zu stecken. Ich schalte den Ton an.
"Lass mich das machen", murmelt Karl.
Der betrunkene Dominik in der Aufzeichnung deutet auf die Kamera und lallt: "Die Alarmanlage springt an, wenn du das machst!"
Ich zoome näher an Karls Pokerface und sehe ein Zucken seiner Augen, während mein ebenbürtiges Abbild sich an ihm festklammert und trotzdem mit den Knien auf dem Fußabtreter landet. Weil ich mich schäme, spule ich die nächsten Minuten vor, ehe tatsächlich das Bild komplett rot eingefärbt ist, weil die Tür aufgeht und die Aufzeichnung wechselt automatisch zur Innenansicht.
Ich drücke wieder auf Play und die nachfolgenden Minuten lassen mich mit einem immer größer werdenden Schmerz in meiner Brust das Geschehen auf sämtlichen Innenkameras verfolgen. Eigentlich kann ich es nicht glauben, aber die Aufzeichnungen sind mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln geprüft.
Die erste Kamera fällt aus, als ich sie mit einem wütenden Gesicht manuell ausschalte. Die zweite wird schwarz, weil ich beim gescheiterten Versuch mich auszuziehen meinen Schuh dagegen schleudere. Gegen die dritte fällt Karl, weil er mich noch immer stützt, während ich mich nicht mehr auf den Beinen halten kann.
Ich höre mich noch alle Beleidigungen aus der untersten Schublade gegen Karl verwenden, aber Karl bleibt ruhig und lässt nicht locker beim Versuch, mich zu stützen. Die Kamera an der Küchedecke ist noch betriebstauglich, als ich meine Brille verliere, während Karl mich zum Sofa schleppt und eine Decke über mich breitet, nachdem ich meinen Rucksack neben mich gestellt und anklagend gelallt habe:
"Finger weg von meiner Hardware!"
Dann falle ich vom Sofa und erkläre laut und deutlich, dass ich pissen müsse.
Karl zieht mich nach oben und schleppt mich in einer halbwegs aufrechten Position wieder näher an die Kamera, aber weiter als bis in die Küche kommen wir nicht. 
"Dom!", entfährt es Karl, als ich wie ein nasser Sack zusammenbreche und bäuchlings auf den Fliesen lande.
Ich sage nichts mehr und will schon beschämt abschalten, als ich noch sehe, wie sich Karl zu mir beugt und sich hilfesuchend umschaut. Dann lässt er sich neben mich sinken, fühlt meinen Puls, begutachtet meine Stirn und tupft mit einer billgeren Version von Zewa-Papier das Blut von der Platzwunde.
Er sieht ganz und gar verzweifelt aus, als er kurz über meinen Rücken streicht und dann aufsteht, um unruhig hin und her zu laufen. Seine Hände ballt er zu Fäusten, öffnet und schließt sie mehrmals abwechselnd, ehe er sich an meinem reglosen Körper zu schaffen macht und versucht, den nassen Sack vom Boden aufzuheben. Es misslingt ihm trotz sichtbarer Anstrengung und ein undefinierbarer Knoten bildet sich in meinem Hals, als er aufgibt und beginnt, die Wohnung wieder in einen halbwegs ordentlichen Zustand zu versetzen.
Er räumt alles wieder ordentlich auf, verwischt die Spuren meiner Randale und öffnet die Jalousien, dann kocht er Kaffee.
Den Rest kenne ich noch aus meiner tatsächlichen Erfahrung, also schalte ich still und leise ab. Ich starre noch immer auf den Bildschirm, als er sich wegen zu langer Inaktivität sperrt und wieder sehe ich mein, diesmal noch viel fertiger aussehendes, eigenes Gesicht vor mir.
Ich klappe das Netbook verärgert zu, um mich dem Anblick meiner dümmlich glotzenden Fresse zu entziehen: Diesen undankbaren Hurensohn will ich so schnell erst mal nicht mehr sehen!
Mit einem tiefen Seufzen lege ich den Rest des Brötchens zurück in die Tüte und schließe kurz meine Augen. Der Hunger ist mir vergangen. Mein schlechtes Gewissen meldet sich zurück, doppelt so stark wie zuvor, nachdem ich nun mit eigenen Augen gesehen habe, warum Karl meine Alarmanlage reparieren musste. Und so wütend ich ihn auch vor die Tür geschickt habe, so wehmütig wird mir jetzt um's Herz.
Habe ich in vollem Ernst vorhin die einzige Person aus meiner Wohnung rausgeworfen, die sich so rührend um mich kümmert und tatsächlich das Potenzial hätte, zu einem guten Freund zu werden? Kurz versinke ich wieder fast in den alten, fremden und unerwünschten Gedanken, ehe mir ein Geistesblitz durch's Hirn huscht.
Moment mal. 
Karl weiß, wo ich wohne. Er weiß, dass ich ABYSS bin. Er hat Kontakte zu N0PE und ich habe ihn verärgert. Davon abgesehen, dass er mir wirklich zuckersüß geholfen hat und ich meinen ersten und einzigen Freund verloren habe, ehe wir überhaupt soweit waren-- es war auch auf taktischer Ebene extrem unklug, genau diesen Typen zu verärgern, der meine größten Geheimnisse kennt.

Ich überlege nicht lange, wie ich aus dieser Misere wieder herauskomme.
Eigentlich ist Karl nicht das Problem. Und N0PE auch nicht. Das Problem ist DIZZORDER und erst wenn ich diese Sache aus der Welt geschafft habe, kann ich mich wieder meinen eigentlichen Projekten widmen und zurück zu meinen alltäglichen Abläufen kehren. Ich würge kurz noch den Rest des Brötchens hinunter, weil ich eine Stärkung brauche, ehe ich mich an dieses Script setze. Das mache ich im Computerraum, da geht es am schnellsten.
Dass ich die Backdoor nutzen kann, um DIZZORDER mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, wäre mir natürlich auch ohne Karl eingefallen, da muss der sich gar nichts drauf einbilden. Es wird Zeit, dass ich handle, statt mich aufzuregen. Ich optimiere Karls nette Versuche und leite alle empfindlichen Stellen auf meinen Vernichtungsserver um. Während ich also benachrichtigt werde, wenn DIZZORDER irgendwelche Schritte einleitet, wird er in diesem fall erst mal selbst in den Fleischwolf kommen, um mir wiederum die Zeit zu verschaffen, in sein System einzudringen.
Eigentlich nicht mehr als ein Kleiner-Jungen-Streich, verglichen mit dem, was ich ansonsten schon geschafft habe.
Nun, da ich meinen Feind kenne, ist es ein Klacks. Ein Kinderspiel, das ich aus dem Ärmel schüttle, nur ein bisschen zeitaufwendig, weil ich alles von Hand eintippen muss. Die Grundzüge sind klar in meinem Kopf fertig, der Rest ist wie immer learning by doing und sollte ich wider Erwarten auf Probleme stoßen, bin ich mir sicher, dass ich sie lösen kann.
Es liegt auf der Hand, wie die Sache ausgehen wird. DIZZORDER wird früher oder später, aus welchen Gründen auch immer, wieder zurückkommen und dann habe ich ihn. Und weil er an mir ja scheinbar nicht interessiert ist laut Karl, habe ich zumindest noch genügend Zeit, um mir zu überlegen, was ich dann mit ihm machen werde. Da kann ich durchaus kreativ werden, wenn es um unerwünschte Parasiten geht!
Ich kremple meine Pulloverärmel nach oben, lasse meine Fingerknöchel knacken und mache mich an die Arbeit. Ich bin gut im Flow und meine Finger holen Karls Geschwindigkeit aus neu gewonnenem Elan fast ein, ich bin gut dabei und wenn alles weiterhin so läuft, bin ich fertig, bevor es draußen hell wird. Karl ist ja ganz niedlich, aber er hat wohl vergessen, dass er eigentlich weiß, mit wem er es zu tun hat.
Dass er mir gefährlich werden könnte, habe ich nicht länger als eine halbe Sekunde geglaubt. Es ist immerhin Karl. Er sitzt seit Ewigkeiten im Rabbit Hole herum, macht nichts außer Energy Drinks zu saufen und am Ende schreibt er ein Buch über sein langweiliges Leben oder irgendwelche Groschenromane, anstatt dass er sich irgendwelchen Codes widmet. Dass er mir helfen konnte, war purer Zufall.
Und wenn er mich an N0PE verpetzt, dann soll er das eben tun. Streitigkeiten mit N0PE wären jetzt vielleicht sogar ganz witzig, immerhin habe ich einen Ruf zu verteidigen! Ich muss grinsen und trinke einen großen Schluck Pepsi light, dann tippe ich weiter und mir fallen währendessen noch so viele kleine Spielereien ein, dass ich sogar richtig stolz auf mich bin.
Vielleicht sollte ich öfters trinken. Anscheinend beflügelt es mich!
Auf einmal wird mein Bildschirm aus dem Nichts heraus wieder schwarz und meine Augen rollen fast bis in meinen Hinterkopf zurück. Aber ehe ich mich überhaupt darüber aufregen kann, dass ich gestört werde, wird in strahlendem Grün eine Nachricht auf meinem Display angezeigt:
INCOMING MESSAGE!
...loading...
ACCESS DENIED. SYSTEM IS SHUTTING DOWN.
Ich schnaufe schwer, weil ich auf den ersten Blick erkenne, dass es ein Video ist, das automatisch abgespielt wird. Genervt klicke ich es weg. Das heißt, ich versuche es. Während ich bemerke, dass ich es auch mit all meinen Tricks nicht von meiner Mattscheibe weg bekomme, fällt mir auch wieder ein, dass ich solche Werbeanzeigen längst mehrfach geblockt habe.
Schnaubend raufe ich mir die Haare, als der Bildschirm in ein gleißendes Grün getaucht wird und darauf in schwarzen und weißen Riesenpixeln eine künstlerisch wertvoll stilisierte Ratte mit zwei "X" als Augen abgebildet wird. Die Ratte zeigt mir einen viel zu groß animierten und sehr menschlichen Stinkefinger und auf den Knöcheln sind drei Buchstaben und eine Ziffer zu sehen: N0PE.
War ja klar.
Ich verdrehe die Augen, schaue mir dann aber trotzdem das Video zu Ende, weil ich keine andere Wahl habe. Kurz wünsche ich mir Popcorn, drehe den Ton lauter, ein verzerrtes tiefes Lachen ertönt; dann lehne ich mich zähneknirschend zurück und verschränke die Arme vor der Brust und starre die blöde Ratte wütend an. Die kann zwar auch nichts dafür, dass sie von N0PE für die üblichen Rekrutierungsvideos missbraucht wird, aber dennoch ist sie zu einem längst vergessenen Hassobjekt geworden. Auch wenn sie ja eigentlich ganz niedlich dargestellt ist.
"FATAL ERROR."
Die Stimme klingt blechern und würde es mich interessieren, wäre es kaum ein Problem, mit ein paar Spielereien den natürlichen Klang derselben wiederherzustellen, so schlecht sind die Effekte drübergelegt. Interessiert mich aber nicht und so bleibt die PR-Person von N0PE unerkannt, während sie gequirlte Scheiße labert.
Die mit Pixel-Art animierte Ratte hüpft wie in einem alten Retro-Konsolenspiel über die realistisch als tatsächliches Foto dargestellten Dächer von Berlin, ehe eine krakelig gemalte Rakete auf sie abgefeuert wird. Die Ratte fällt zu Boden, blinkt, verschwindet und erscheint wieder am linken Bildschirmrand, oben rechts wird ein Leben weniger angezeigt. Während dieser ultra schlechten Animation läuft ungefähr folgende Ansage, wobei immer mal wieder einzelne Schlagwörter im Vollbild auf dem Bildschirm eingeblendet werden:
"Ihr habt lange genug zugesehen, dass die Reichen und Mächtigen alle Fäden ziehen, während der einzelne Mensch als solcher nichts mehr wert ist. Ihr wollt etwas ändern? Ihr wollt euch die Willkür des Systems nicht länger bieten lassen?
Die Welt ist nicht mehr, was sie einmal war. Wir sind nur kleine Bauern auf dem Schachbrett der Großen. Doch stellt euch vor, was passieren kann, wenn all diese Bauern nicht mehr mitspielen. Wenn du denkst, du als einzelner kannst nichts bewegen: Hast du schon einmal versucht, zu schlafen, wenn eine Fliege im Raum war?
Was auch immer du machst, was auch immer du kannst, wenn du es für die richtigen Zwecke einsetzt, bist du eine Hilfe für die Menschheit, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Die Welt ist dem Untergang geweiht, wenn es so weitergeht wie bisher.
Wir müssen umdenken. Willkommen in einem neuen Zeitalter.
Aber wieso bekriegen sich in einer solchen Welt die vermeintlich Guten untereinander und bringen es nicht zustande, sich gegen die vermeintlich Bösen zusammenzuschließen?
Wenn das System das Problem ist, wieso ziehen wir nicht einfach alle an einem Strang und wehren uns, anstatt uns gegenseitig Steine in den Weg zu legen?
Schließ dich uns an und bring mit N0PE die Sache ins Rollen.
DU kannst mehr bewegen, als du denkst.
Join us."
Die letzten beiden Worte blinken noch einige Sekunden lang in voller Größe auf meinem Bildschirm, dann kann ich endlich wieder auf die ganz normalen Abläufe zugreifen. Es stimmt wohl also doch. Karl hat mir N0PE auf den Hals gehetzt und scheinbar bin ich nicht wichtig genug, mir eine eigene Message zukommen zu lassen, statt mir einfach nur das aktuelle Rekrutierungsvideo einzuschleusen.
Resigniert scrolle ich durch sämtliche Protokolle, lösche den ganzen Mist, den diese Bastarde versucht haben, mir zu übertragen und überlege noch mit einm Anflug von Wut, ob ich meinerseits eine kleine Message verfassen soll. Ich kann die Deppen besser zurückverfolgen, als ich gedacht hätte. Scheinbar haben sie es nicht für nötig gehalten, auch nur die gröbste Spuren zu verwischen.
Ich schnaube dezent angepisst, weil ich hier scheinbar komplett unterschätzt werde. Diese beknackten Hurensöhne werden noch ihr blaues Wunder erleben! Ich frage mich kurz, wie tief die Szene gesunken sein muss, dass irgendwelche dahergelaufen Script Kiddies keinen Respekt mehr vor Größen wie ABYSS haben, nur weil sie irgendeine komische Sache mit einem dahergelaufenen Niemand wie DIZZORDER am Laufen haben.
Dann überlege ich, ob ich ein Video aufnehmen sollte, das ungefähr genauso albern daherkommt, und es ihnen als Antwort zukommen lasse. Ist mir aber zu kindisch. Ich denke nicht weiter über die eigentliche Botschaft der schlecht verzerrten Worte nach, sondern stehe auf und fahre sämtlichte Systeme in den am besten geschützten Modus.
Wer auch immer von diesen Kindergartenkindern mit das Video eingespielt hat, ist dümmer als erwartet. Mit Leichtigkeit konnte ich die Spuren bis auf die genauen Koordinaten zurückverfolgen und dieser leichtsinnige und äußert unvorsichtige Jemand sitzt sich gerade nicht einmal drei Kilometer von mir entfernt den blöden Arsch platt und hält sich vermutlich für ganz schlau.
Dass ich aber nicht dumm bin und die Verschlüsselung seiner Daten innerhalb von Minuten habe knacken können, weiß er erst in einer halben Stunde. Der Countdown läuft auf meinem Smartphone und wenn er abgelaufen ist, wird mein Hauptrechner sämtliche Daten in seinem kleinen System vaporisieren. Mal schauen, wie das N0PE schmecken wird!
Diese Penner werden den Tag nicht vergessen, an dem sie ABYSS unterschätzt haben. Und weil ich mich mit dieser Scheiße nicht länger zufriedengeben möchte, werde ich auch noch einmal persönlich hinfahren, um diesem einen besonders hohlen Arschloch im echten Leben einen kleinen Besuch abzustatten. Wer so dumm ist, muss damit rechnen, dass er hinter seinem Rechner nicht sicher ist.
Es ist lange her, dass ABYSS seinen analogen Fußsoldaten Dominik Bauer beauftragt hat, in der analogen Welt nach dem rechten zu sehen. Umso schöner, dass ich endlich mal wieder jemandem auf die Fresse geben kann. Immerhin bin ich nicht umsonst ein gesuchter Verbrecher!
N0PE hat die Rechnung ohne mein Ego gemacht.

Die Kapuze meines Pullovers tief ins Gesicht gezogen und das Halstuch fast bis zur Nase hochgeschoben verlasse ich meinen Wohnblock.
In meiner Tasche nur mein Smartphone, in meinem Rucksack nichts weiter als eine halbleere Flasche Pepsi light, das letzte Brötchen, mein altbekanntes Netbook samt Ladezubehör und noch eine kleine technische Spielerei, auf die ich bei dieser Mission nicht verzichten wollte:
Vor ein paar Monaten habe ich mir eine billige Drohne bestellt und in schweißtreibender Arbeit mehrere Wochen lang umgebaut, sodass sie meinen Ansprüchen genügt, für meine Zwecke geeignet ist und meine kühnsten Vorhaben in die Tat umsetzen kann. Ich habe sie in einem Anflug von geistiger Umnachtung - oder doch eher Sentimentalität? - auf den Namen "Sarah" getauft, aber fragt mich nicht, wieso. Vielleicht hänge ich immer noch an meiner Ex, auch wenn die Sache schon mindestens seit fünf Jahren komplett der Vergangenheit angehört.
Um von diesen pikanten Details, die niemanden etwas angehen, abzulenken, bleibt mir noch für alle, die noch nicht eingeschlafen sind, die letzte Komponente meines Outfits zu erwähnen:
An meinem Gürtel habe ich, nicht sichtbar unter meinem T-Shirt und dem schlabbrigen Pullover, eine altmodische aber nichts desto trotz ziemlich furchteinflößende Walther P99 befestigt. Nur für alle Fälle und auch nur, um meinem Image alle Ehre zu machen. Immerhin bin ich Terrorist, ich muss manche Standards schon wahren, um glaubhaft zu bleiben.
Als ich frohen Mutes und überhaupt nicht zwielichtig aussehend am BTG vorbeimarschiere und noch einen Blick auf die leckeren Brötchen in der Auslage werfe, rempelt mich noch eine hastig vorbeilaufende, schmale Gestalt an. Und auch nur, weil ich mir fast in die Hose geschissen hätte vor Schreck, starre ich dieser Person noch ungläubig hinterher, als sie im Laufschritt um die nächste Ecke biegt.
Scheinbar gibt es noch krassere Kriminelle als mich um diese Uhrzeit an diesem Ort. Ich sollte aufpassen, dass ich nicht fälschlicherweise als Mörder aufgegriffen werde, weil ich nun hier stehe und vermutlich dunklere Haut habe als der Typ, der an mir vorbeigerannt ist.
Ich nehme die Abkürzung über einige Seitengassen und halte mir schnaufend die Seite, nachdem ich über eine nicht wirklich hohe Mauer in einem Hinterhof geklettert bin. Das mit dem Parkour muss ich vielleicht noch besser trainieren! Tatsächlich bin ich vielleicht der unsportlichste Mensch in meiner BMI-Klasse, aber wer interessiert sich für solche Dinge schon? Ich muss weiter.
Ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass ich schon neuneinhalb wertvolle Minuten vergeudet habe und mich sputen muss, um rechtzeitig zum großen Knall als Wow-Effekt bei meinem kleine N0PE-Kumpel in der Bude zu stehen. Ich habe zwar noch keinen blassen Schimmer, in welchem Stock er wohnt und ob ich das überhaupt durchziehen kann mit meinen nicht vorhandenen akrobatischen Fähigkeiten, aber die Hoffnung stirbt zuletzt und zur Not habe ich ja noch Sarah.
Die nächsten knapp fünfzehn Minuten vergehen ohne weitere Vorkommnisse. Für's Protokoll sind lediglich drei Autos und ein Ziehharmonikabus an mir vorbeigerauscht, selbst die Straßen dieser Stadt sind gegen vier Uhr morgens relativ leer - zumindest in dem Teil, in dem ich mich zur Zeit aufhalte. Meine Route führt allerdings in die weniger angenehmen Stadtteile und fröstelnd kommt mir der Gedanke, dass ich mich hätte wärmer anziehen sollen.
Ich brauche einen Soundtrack für diese epische Mission und anstatt zu pfeifen, stöpsle ich mir meine Kopfhörer in die Ohren und stelle die Titelmusik von Indiana Jones in Endlosschleife an. Irgendein Laster braucht der Mensch ja bekanntlich und für mich sind es eindeutig alte Klassiker der populären Kultur! Unter anderem, aber ich schweife wieder ab und checke noch einmal meinen Countdown.
Fast bin ich da, wie mir mein selbst erstelltes und mehrfach streng gesichertes Navigationssystem mitteilt. Mir bleiben noch ungefähr sechs Minuten, um die genauen Koordinaten zu finden und die richtige Höhe zu finden, aber Hochhäuser sind in dieser Gegend glücklicherweise eher selten. Ich schalte schweren Herzens den Soundtrack ab und bereite mich in Windeseile vor. Gutes Timing gehörte nie zu meinen Stärken.
Erst als ich einsatzbereit bin und wieder wertvolle Sekunden verstrichen sind, komme ich auf die Idee, mich auch in der analogen Welt genauer umzusehen. Neben einem McDonald's, der eindeutig noch geöffnet hat, sticht mir ein großes Werbedisplay ins Auge, auf dem gerade ein Spot für die Sicherheitspolitik läuft.
Fokus! Ich kann mir keine Ablenkung mehr leisten. Aber während ich noch einmal meine Koordinaten überprüfe und die Zeit unaufhörlich weitertickt, habe ich plötzlich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Langsam und bedacht lasse ich den Rucksack von meinen Schultern gleiten, um den Reißverschluss zu öffnen und Sarah noch in der Tasche drin in die Hand zu nehmen.
Es müssten mittlerweile nur noch ein paar hundert Meter sein, vielleicht über die große Kreuzung, deren Ampel orange blinkt. Die digitale Reklame flackert und blendet das Gesicht von unserem Bundespräsidenten ein. 
Darunter steht irgendein schmieriges Slogan, auf den ich nicht achte, weil der Kerl schmierig genug ist. Und während ich Sarah mit meinem Smartphone verbinde, dabei feststelle, dass bei McDoof noch einiges los zu sein scheint und ich mitnichten unbeobachtet bin, gleitet mein Blick noch einmal in die Richtung meiner festgelegten Koordinaten.
Kurz bevor mein Countdown nur noch eine Minute anzeigt, lese ich die pinkfarbene Leuchtreklame auf dem Gebäude auf der anderen Straßenseite.
"NETZWERK - dein Internetcafé"
Und während ich hysterisch nach Luft schnappe, dabei Sarah wieder in die Tasche gleiten lasse und die Träger des Rucksacks fest umklammere, fällt mir fast mein Handy aus der Hand. An meinem Gürtel noch die gesicherte und ungeladene Walther, mein Puls rast wie wild.
Wieso bin ich eigentlich so?
Ich bin so dumm. So unfassbar dumm.
Was für eine beschissene Aktion ist das überhaupt?
Wieso muss ich immer jeden blöden Gedanken sofort in die Tat umsetzen, ohne alles genau durchzuplanen und mir über eventuelle Komplikationen und Konsequenzen im Klaren zu werden?
Ich hab zwar echt coole Ideen, aber manche sind ein bisschen über den Zaun gebrochen. Verdammte Kacke!
Wie kann ich so unbedacht und naiv sein und direkt in diese beschissene Falle tappen?!
Aber das ist nicht der Zeitpunkt für Grundsatzdiskussionen mit mir selbst.
In den letzten zehn Sekunden habe ich noch genügend Zeit, mich unfassbar panisch zu fühlen, mein Handy zu sperren und den Reißverschluss vom Rucksack zu schleißen. Dabei fällt mein Blick auf das nun leuchtend grüne Werbedisplay, von dem aus mich höhnisch eine verpixelte Ratte anglotzt.
Und als mein Countdown sicherlich schon zuende ist, will ich einfach nur hier weg.
Allerdings hätte ich mir das früher überlegen sollen.
Ich höre nicht einmal Schritte, keine Alarmsirenen, nichts. Es geht einfach nur ein dumpfer Ruck durch meinen Körper, ich fühle einen unsanften Schlag in meinen Magen und mir entweicht sämtliche Luft aus den Lungen. Ich spüre ein Gewicht in meinem Rücken, vor meinen Augen wird es schwarz, aber ich schlage noch um mich ins Leere.
Am Gürtel hängt schwer die Waffe, aber ich schaffe es nicht einmal, nach ihr zu fassen. Als ich gegen irgendetwas Weiches trete, verliere ich das Gleichgewicht, kann mich blind und taub gerade noch fangen, aber komme nicht von der Stelle. Panisch will ich nach Luft schnappen, weil es um meinen Hals echt eng wird, aber neben dem feuchten Lappen nehme ich nur noch einen stechenden Geruch wahr, dann ist erst mal Schicht im Schacht und mein Bewusstsein verabschiedet sich auf ungewisse Zeit.
"Scheiße!"
Das ist der letzte in meinem Kopf noch irgendwie präsente Gedanke, ehe ich keine ausreichende Gelegenheit mehr dazu habe, noch bessere Schimpfwörter zu finden. Ich schaffe es nicht einmal mehr, mich selbst zu verfluchen, dann gehen die Lichter aus.
Aus.

An. Aus. An. Aus. An.
Dann höre ich eine bekannte Stimme von weit, weit weg.
"Du hättest wirklich nicht so grob mit ihm umgehen müssen!"
Eine etwas blechern und unbeholfen artikulierende Frauenstimme sagt: "Er wacht auf!"
Aber ich denke im Traum nicht daran, wirklich wach zu werden. Dafür schmerzt mein Schädel viel zu sehr, alles ist dunkel und ich weiß nicht, ob meine Augen geöffnet oder geschlossen sind. Ich kann mich nicht bewege und habe keine Ahnung, woran das liegen könnte. Der Boden bebt unter mir. Mir ist schlecht, aber ich schaffe es nicht einmal, mich zu übergeben.
Eine weitere Männerstimme meldet sich zu Wort:
"Ach, der kann das schon ab! Wenn ich schon Rambo für dich spiele, dann wenigstens richtig!"
Ich bin kurz davor, mich zu beschweren, dass diese seltsamen Personen doch bitte ein bisschen leiser sein sollten. Oder wenigstens zu fragen, ob man das Wackeln abstellen könnte, aber ich finde weder meine Stimme, noch bin ich mir zu hundert Prozent sicher, ob ich noch eine Zunge habe.
Und als von noch viel weiterer Entfernung irgendjemand noch irgendetwas zu irgendwem anderen sagt, kann ich es nicht einmal mehr verstehen und die dunkle Welt verschwimmt zu kryptischen Farben und Mustern und als ich wieder wach werde, schrecke ich panisch hoch und bin wieder ganz da.
Anscheinend kann ich mich bewegen. Und während ich das tue, bemerke ich, dass ich auf einem versifften Sofa liege, über mir eine kratzige Filzdecke und neben mir mein Rucksack. Obwohl mir sterbensschlecht und komplett schwindlig ist, raffe ich mich sofort auf, um den Rucksack zu schnappen, mit zittrigen Fingern zu öffnen und zu checken, was alles fehlt.
Erstaunlicherweise liegen alle Sachen, von denen ich noch weiß, sie mitgenommen zu haben, darin. Plus der Sachen, die ich am Körper getragen habe, minus meinem T-Shirt, meiner Hose und meinen Socken, die ich noch am Leib trage. Verwundert stelle ich fest, dass sogar meine Brille wenngleich auch komplett verdreckt und ziemlich verbogen noch auf meiner Nase sitzt.
Ich kann mir keinen Reim aus der Sache machen, aber ehe ich mich überhaupt frage, wo ich bin und was ich hier mache, grabsche ich nach meinem Handy und entsperre es ohne Umschweife. Der Countdown steht noch auf Null im Hintergrund, darüber ist ein kleines Fenster eingeblendet, auf dem ich gefragt werde:
"Try again?"
Dann erst komme ich auf den Gedanken, mich im Raum umzusehen.
Es ist eine ziemlich mickrige Bude, die noch dazu unglaublich lieblos eingerichtet und vollkommen zugemüllt ist. Das ist mir ziemlich egal, denn die Rolläden am Fenster sind noch zur Hälfte geöffnet und draußen geht gerade höhnisch die Sonne auf, als wolle sie mich verspotten.
Nichts in diesem Zimmer gibt mir einen Hinweis darauf, wo ich gelandet sein könnte. Ich bin nur noch immer im Stillen darüber schockiert, wie pfleglich meine Entführer mich scheinbar behandelt haben. Neben mir auf einem Stuhl liegen säuberlich zusammengefaltet mein Pullover und mein Halstuch, darunter stehen stum meine Schuhe und irgendwie leuchtet mir die ganze Sache nicht zu hundert Prozent ein.
Glücklicherweise ist niemand hier, also habe ich genügend Zeit zu bemerken, dass ich nicht verletzt, nicht gefesselt und scheinbar auch nicht tot bin. Es ist einfach nur alles beschissen, weil mich der scheinbar so einfältige Kerl von N0PE bis aufs Mieseste verarscht hat. Ich bin aber auch übergeschnappt.
Wie komme ich überhaupt auf die Idee, dass ein Mitglied dieser doch schon recht etablierten - was ich natürlich nicht wahrhaben möchte - und gut situierten Gruppe sich so einfach schnappen lässt? Warum war nicht der allererste Gedanke bei so viel Leichtsinnigkeit, dass ich derjenige sein könnte, der total motiviert und überschwänglich in eine so fiese Falle springt?
Ich liege zwar nicht verkatert auf meinem Küchenboden, aber es riecht eher nach Schimmel in den Wänden als nach Kaffee und kurz wünschte ich mir, dass ich in der Zeit zurückreisen, den Reset-Knopf drücken und diese vergangene Nacht nochmal von vorn leben könnte, nachdem ich meine Dummheit zu Genüge analysiert habe.
Leider gibt es im echten Leben keinen Reset-Knopf. Nix mit Neustart oder Try again. Schnaubend stoße ich Luft zur Nase aus und lasse mich zurück aufs Polster des Sofas sinken. Ich schließe die Augen und reibe mir meine Schläfen. Was für ein beschissener Tag! Die letzten vierundzwanzig Stunden waren einfach mal für den Mülleimer und ich glaube, ich muss meinen Namen doch ändern lassen.
Jack Bauer ist einfach viel besser als ich.
Mir fällt noch ein, dass ich vielleicht dankbar sein sollte, noch am Leben zu sein. Aber in meiner momentanen Lage ist es recht schwer, noch für irgendetwas Dankbarkeit zu empfinden. Kurz bevor ich gänzlich in meinem Selbstmitleid versinke, höre ich Schritte und bemerke die Holztür an der anderen Seite des Raums.
Ein Schlüssel wird geräuschvoll ins Schloss geschoben, quietschen umgedreht und ich mache mich darauf gefasst, mein blaues Wunder zu erleben. Zumindest ist der Auftritt sicherlich ganz filmreif, immerhin hat mein lustiger Entführer jetzt die perfekte Bühne dafür geschaffen. Also versuche ich, betont gelangweilt zu wirken, um ihn ja nicht zu beflügeln, als die Tür knarrend aufschwingt--
Und mir fällt fast die Kinnlade auf den Boden, so weit klappt mein Mund in purem Schock auf, als könne ich meine Kiefermuskulatur nicht mehr kontrollieren. Unkoordiniert halte ich mich an der Sofalehne fest, als würde ich in meiner Verwunderung ertrinken, aber vor mir steht die Person, mit der ich als allerletztes auf dieser ganzen großen verfluchten Welt gerechnet habe.
"LUKE!"
Mein entrüsteter Schrei wird zu einem erstickten Keuchen.
Der Mann im Türrahmen grinst nur kopfschüttelnd und ich kann es nicht fassen, ich schnappe nach Luft. In seinen Pranken trägt der Hüne ein hellblaues, reichlich gedecktes Frühstückstablett und mit einem Mal weht mir tatsächlich Kaffeeduft um die Nase, aber ich kann nicht mehr tun, als verzweifelt seiner Stimme zu lauschen:
"Du bist zwar nicht mein Vater, aber die Tonlage hast du schon mal ganz gut drauf, Bauer!"
Nur für das längst überfällige Protokoll: Der - zu einem Drittel zumindest - Besitzer des Rabbit Holes, also auch Pattys Bruder und zufällig zu allem Überfluss auch noch mein alter Kumpel Andrzej Krzysztof Łukasiewicz ist nicht nur am Leben und steht leibhaftig nach so langer Funkstille vor mir. Er scheint übrigens noch mein Entführer, ein Mitglied von dem Kasperverein N0PE und ein komplettes Arschloch zu sein!
Wobei ich das letztere schon wusste. Aber am schlimmsten ist der Gedanke, dass ausgerechnet dieses Urgestein der Szene, dieser ehrenwerte und von mir immer immer als bewunderswert eingestufte Bastard sich dieser unbekannten Anzahl von hirnrissen Deppen angeschlossen hat. Ich falle von meinem nicht vorhandenen Glauben ab und zusätzlich noch fast von der Couch.
Das kann und will ich nicht so stehen lassen.
Luke, der Typ mit dem unaussprechlichen Namen. Der Held meiner Jugend, den ich in der Vergangenheit dann endlich habe kennen lernen dürfen, zu meinen Vertrauten gezählt habe. Er war immer so etwas wie das eheste, was jemals einem Vaterersatz hätte nahe kommen können. Denn Luke ist alt genug, dass er sich den Spitznamen "Swordfish" in seiner Anfangszeit als Hacker-Pionier damals noch hat leisten können, ohne dass überhaupt jemand auf den Gedanken gekommen ist, amüsiert die Augen zu verdrehen.
Ein wagemutiger Vorreiter einer neuen Generation, zu der er selbst gar nicht einmal mehr gehört. Ein verdammter Superheld!
Weil er aber mittlerweile nur noch ein abgehalfteter Schatten seiner Selbst ist und dermaßen zum alten Eisen gehört, nennt man ihn heute "ST33L" - was mir allerdings ziemlich Latte ist in diesem Moment, in dem ich mir überlege, dass seine hinterfotzige Verhaltensweisen absolut keinen Stil haben.
Kurz verschwende ich einen Gedanken an Karl, den namenlosen Niemand, der wohl einfach nur als Lukes Schoßhündchen fungiert und bei ihm als Informant stets vor Ort hockt, um die Besten der Besten - wie zum Beispiel mich alias ABYSS - zu rekrutieren für diesen Saftladen von Vereinigung namens N0PE!
"Wir haben einiges zu besprechen!", brummt Luke, während er mir mit einem Augenzwinkern das Tablett reicht, auf dem ich in erster Linie frische Brötchen entdecke.
Oh ja. Davon bin ich überzeugt!

Es ist eigentlich ja ganz nett hier. Zumindest habe ich wieder ein bisschen Gesellschaft.
Eigentlich sogar mehr Gesellschaft als ansonsten in einem ganzen Jahr, wenn alles normal läuft - aber wann läuft schon was normal?
Während ich heißen Kaffee gegen Kopfschmerzen und Müdigkeit trinke und ein nacktes Brötchen gegen den flauen Magen verschlinge, redet Luke aber erstaunlich wenig dafür, dass wir einiges zu besprechen haben. Ich kann nicht viel sagen, immerhin frühstücke ich und frage mich für einen Moment, wieso ich hier eigentlich so gut umsorgt werde. Immerhin hat Luke mich entführt, nachdem ich festgestellt habe, dass er das N0PE-Video mir von einem popeligen Internetcafé aus gesendet hat.
Warum, das werde ich hoffentlich bald erfahren. Momentan hat er sich ein bisschen in einer halbgaren Entschuldigungsgeschichte verstrickt, warum er sich so lange nicht mehr hat blicken lassen. Das Rabbit Hole laufe ja auch ohne ihn ganz gut und er hatte wirklich viel zu tun.
Ja ne, is klar. Zu tun, wahrscheinlich mit N0PE und deren Streit mit DIZZORDER, aber ich schaffe es nicht ganz, richtig wütend zu werden.
Dafür bin ich viel zu erleichtert, dass ich keinem Psychopathen oder Killer in die Hände gefallen bin - es hätte schlimmer ausgehen können! Jetzt fragt sich nur, was Luke mit dem Schrecken bezweckt hat, den er mir eingejagt hat.
"Ich wollte dich eigentlich gar nicht umlegen und mitnehmen", erklärt mir der riesige Endvierziger mit dem unglaublich breiten Kreuz, das er nur in ein öliges Tanktop gekleidet hat.
Scheinbar schraubt er immer noch ganz gern an seinen Maschinen herum.
"Aber du hast mir keine andere Wahl gelassen, so wie du auf dem Schlachtfeld rumgelaufen bist! Hättest du dich nicht wenigstens wie ein normaler Mensch kleiden können, wenn du schon ne Knarre dabei hast?", beschwert er sich halb grinsend, halb entrüstet, "Du hast nicht die blasseste Ahnung, was alles hätte passieren können, Bauer!"
"Schlachtfeld?", frage ich zwischen zwei Bissen kauend nach und schlucke runter, "Das sah ziemlich verlassen aus für ein Schlachtfeld!"
Luke streicht sich das gegelte, schon etwas lichter werdende Haar zurück und schüttelt schmunzelnd den Kopf:
"Ich bin mir zu mehr als fünfundneunzig Prozent sicher, dass dich jemand eiskalt umgelegt hätte, wenn ich dich nicht eingesammelt hätte. Und das fällt dann schon unter meine Definition von Schlachtfeld - und der andere Kerl hätte dir sicherlich kein Frühstück ans Bett gebracht!"
Ich schlucke hart.
"Dann warst es gar nicht du, der mich in die Falle gelockt hat?", frage ich vorsichtig.
"Was für ne Falle?", fragt Luke und wirkt ehrlich verwirrt, "Wovon redest du? Hab ich dich aus Versehen am Kopf erwischt?"
Ich reiße die Augen auf und lege den Rest meines zweiten Brötchens zur Seite, um die letzten Krümel in meinem Mund mit Kaffee runterzuspülen. Währenddessen frage ich mich, ob er mich verarscht und muss an Karls seltsames Geständnis denken, dass er scheinbar nicht lügen kann. Bei Luke vermute ich manchmal das komplette Gegenteil.
"Du gehörst also nicht zu N0PE?", frage ich und meine Stimme klingt etwas höher als sonst.
Luke bekommt einen heiseren Lachanfall und schlägt mir mit seiner riesenhaften Pranke auf den Oberschenkel, dass es fetzt, "Geiler Witz! Was soll ich mit N0PE? Du kennst mich aber schlecht, Bauer! Dir ist schon bewusst, dass ich noch immer das gleiche Arschloch bin wie früher? Ich bin ein Lone Wolf! Für mich gibt's keine Kooperationen."
"Das heißt, du warst nur zufällig da?", meine Hand zittert, als ich die Tasse erneut zum Mund führe.
Irgendwie kann und will ich das nicht glauben. Es wäre zwar sehr skurril gewesen, aber zumindest entspannender als der Gedanke, dass in der Nähe vom NETZWERK mindestens drei Parteien sich einen Krieg liefern, wenn Luke schon "Schlachtfeld" sagt.
Es wird immer komplizierter, diese ganze Scheiße!
"Und was ist mit DIZZORDER?", frage ich schnell.
Luke hebt desinteressiert eine Augenbraue, "Solche Leute kommen und gehen. Ich finde den Hype um diese Person ein bisschen übertrieben. Am Ende ist es ein kleines Mädchen, das zu viele Filme gesehen hat!"
"Mädchen sind keine Hacker", sage ich bestimmt.
Luke verdreht die Augen und steht auf, um sein Handy aus der Hosentasche zu ziehen und mir die Anzeige eines wohl ihn betreffenden Protokolls vor die Nase zu drücken, "DIZZORDER ist bei mir ebenfalls reingekommen. Hier bist du also nicht sicher."
"Hier!", schnaube ich und freue mich insgeheim darüber, dass selbst Luke anscheinend nicht mehr besser ist als ich, "Wo sind wir hier überhaupt?"
"Bei mir zuhause", sagt Luke.
Ich schaue mich noch einmal leidend in der schmutzigen Unordnung um und zucke mit den Schultern, "Und wohin soll ich jetzt gehen?"
"Ins N0PE-Hauptquartier. Wohin sonst?", sagt Luke und ich starre ihn an, als wäre er das Christkind.
"Ich dachte, du"-- beginne ich, aber er unterbricht mich:
"Ich mache keine gemeinsame Sache mit N0PE. Aber du solltest das, immerhin sind die wohl die einzigen, die dir helfen können, soweit ich die Lage gecheckt habe. Sie bieten dir sogar Hilfe an und wenn du magst, begleite ich dich zum HQ."
"Du weißt natürlich, wo das ist, ohne dass du was mit denen zu tun hast!", spotte ich und fühle mich wieder vollkommen verarscht.
Luke streicht sich durch die Haare, "Bauer, du gehst mir auf die Nerven! Glaub einem alten Bock wie mir. Ich bin nicht bei N0PE, ich habe lediglich gewisse Kontakte, die dir den kleinen Arsch retten können! Stell meine Tipps nicht infrage. Frag dich lieber mal, wieso du so unachtsam bist in letzter Zeit! Ich kann nicht immer auf dich aufpassen, Junge!"
Diese Worte geben mir zu denken, als Luke sich verabschiedet, nicht ohne mir ein paar muffelige Handtücher dazulassen und mir den Weg zum Badezimmer zu zeigen. Ich beende mein Frühstück nach dem Kaffee, trinke noch einen großen Schluck Pepsi light hinterher und verzichte auf die Dusche. Immerhin ist das letzte Mal noch gar nicht so lange her, der soll sich mal nicht so anstellen.
Stattdessen baue ich alles, was ich an Hardware dabei habe, vor mir auf und versuche, irgendwie ausfindig zu machen, wer im NETZWERK war, bevor ich mich auf den Weg gemacht habe. Die Bemühungen scheitern daran, dass ich das System des Internetcafés bis auf die letzte Faser lahmgelegt habe mit meiner kleinen Rache-Attacke.
Zähneknirschend spiele ich Sarah noch einige wichtige Updates auf, bevor ich alles wieder einpacke und meinen Rucksack schultere, um Luke aufzusuchen.
Ich finde ihn in seiner Werkstatt, wo er an einem monströsen Motorrad herumschraubt.
"Das ist also dein neues Baby?", frage ich ihn mit einem schiefen Grinsen, "Der Grund, warum du dich nicht mehr hast blicken lassen, nehme ich an?"
"Na ja", Luke klemmt sich einen Schraubenschlüssel zwischen die silbernen Ersatzzähne und nuschelt:
"Nicht der Grund, aber eine schöne Ablenkung."
Ich verschränke die Arme vor der Brust und beobachte ihn eindringlich.
"Ok Luke", sage ich schließlich und zucke mit den Schultern, "War echt nett von dir, dass du mich aufgesammelt hast. Aber ich werde ganz sicher nicht zu N0PE gehen. Ich bedanke mich für deine Gastfreundschaft. Wollen wir uns morgen im Rabbit Hole treffen? Ich bin mir sicher, Patty würde sich auch freuen, dich zu sehen!"
Luke spuckt den Schraubenschlüssel auf den Boden und klopft sich zumindest den gröbsten Staub vom Tanktop.
"Mein Gott, Bauer!", flucht er und schmiert sich aus Versehen Motorenöl in die Haare, "Hast du es immer noch nicht kapiert? Du bist am Ende! Du hast keine andere Chance, als dich an N0PE zu wenden! Scheiß auf deine Prinzipien - es geht hier nicht um deine Ehre. Es geht um dein Leben!"
Ich verdrehe die Augen, sodass sie mir fast in den Hinterkopf rollen.
Luke gibt allerdings nicht auf.
"Dir ist bewusst, dass DIZZORDER auch schon weiß, dass N0PE an dir interessiert ist? Du bist nicht der einzige, der aus dem Verhalten der anderen Schlüsse zieht, und andere haben die Nase scheinbar weiter vorn! Du bist nirgendwo sicher, in keinem System, das DIZZORDER gehackt hat. Du kannst auswandern, ja. Aber du kannst auch ein mal in deinem Leben vernünftig sein und dich von deinem jetzigen zuhause fern halten!"
"Ja ne, ist klar", ich wende mich von Luke ab und winke ihm noch einmal halbherzig zu, "War echt lustig mit dir, aber diese Apokalypsenstimmung wird mir langsam zu viel. Ich wünsch dir was, man sieht sich!"
In dem Moment, in dem ich aus der Garagentür treten will, dröhnt ein unheimlich nerviges und nicht zu überhörendes Piepsen aus meiner Jackentasche.
Wäre es biologisch gewesen möglich, würde ich sicherlich kreidebleich werden, denn ich erkenne das Piepsen und erinnere mich, warum ich ausgerechnet diesen Ton gewählt habe. Es ist mein Alarm.
DER Alarm.

Feedback

Logge Dich ein oder registriere Dich um Storys kommentieren zu können!

0
Klugscheissers Profilbild
Klugscheisser Am 05.10.2024 um 19:09 Uhr
Tolle Story, gut geschrieben und, danke, orthographisch einwandfrei.

Hast Du die Geschichte veröffentlicht ?

Hast Du mit dem Schreiben aufgehört oder warum kam nichts mehr danach ?
0
TamSangs Profilbild
TamSang Am 13.10.2017 um 14:02 Uhr
Fertig und nun?

Erst mal vielen Dank für die gute und spannende Unterhaltung.
Nun heißt es, ich muss mich in Geduld üben.
Bin echt gespannt, wohin Deine Geschichte geht, obs ein Cyberkrimi wird, oder eher was dystopisches...

Bis dann
Tam
0
TamSangs Profilbild
TamSang Am 13.10.2017 um 11:58 Uhr
Hallo!
Ich noch mal. Bin bei Kapitel 3 und bin ehrlich beeidruckt... Du hast ein unglaubliches Gespür für Beschreibungen und Umschreibungen. Irgendwie triffst Du den Nagel auf den Kopf. Deine Story könnte auch heute spielen, hier, in einer anderen großen Stadt... Mich jedenfalls hast du nachdenklich gemacht, denn auch ich denke ab und zu über die Zukunft und die Technisierung nach und auch darüber, wie offen die Jugend und die Kinder heute damit umgehen, dass sie beinah ihr ganzes Leben öffentlich machen...
Grüße
Tam
Mehr anzeigen
0
TamSangs Profilbild
TamSang Am 13.10.2017 um 10:57 Uhr
Hallo Sikkness!
Gelungener Auftakt... Mich hast du gerade angefixt... (Sorry für den Ausdruck)
Ich mag Deinen klaren Stil... und ich mag die Ich-Perspektive... Dein Stil entspricht genau dem, den ich gerne lese und gerade freue ich mich auf Kapitel 2...
Muss los, muss weiterlesen...
Grüße und einen entspannten Freitag, den 13ten
Tami

Autor

Pestdoktors Profilbild Pestdoktor

Bewertung

2 Bewertungen

Statistik

Kapitel: 16
Sätze: 928
Wörter: 22.131
Zeichen: 130.222

Kurzbeschreibung

Berlin, 2033. Gar nicht mal so weit entfernt von der heutigen Stadt, einfach nur ein bisschen mehr. Größer. Schneller. Enger. Lauter. Heller. Voller. Hektischer. Mehr. Die virtuelle Welt ist zum Alltag geworden. Suchmaschinen wissen die Antwort auf deine Fragen schon, bevor du sie stellst. Riesige Cyber-Konzerne haben mehr Einfluss auf die Politik als deine Wahlstimme es je gehabt hat. Überwachungskameras sind auch dort, wo man sie nicht einmal sehen kann. Alle persönlichen Daten werden gespeichert und ausgewertet, dein digitaler Fingerabdruck gehört nicht mehr dir selbst. Du bist keine Person mehr, du bist eine Ansammlung von den dir zugeordneten Daten.